Neuntes Kapitel.
Bemitleidet die Lebenden, beneidet die Toten.
Querkopf Wilsons Kalender.
15. September abends. – Jetzt sind wir dicht an Australien. Sydney ist nur noch fünfzig Meilen entfernt.
Das hatte ich eben geschrieben, als die Passagiere auf Deck gerufen wurden, wo es etwas Schönes zu sehen gab. Es war sehr dunkel; das Auge konnte kaum fünfzig Meter in der Runde über die Meeresfläche schweifen, weiterhin verdüsterte sich alles und entschwand dem Blick. Wer aber eine Weile geduldig in die Finsternis hineinschaute, wurde reich belohnt. Nicht lange da erschien eine Viertelmeile entfernt ein blendend heller Schein oder Strahl auf dem Wasser, so plötzlich und mit so wundervollem Glanz, daß man unwillkürlich den Atem anhielt. Die Lichtmasse dehnte sich rasch im Zickzack bis zur ungeheuern Länge der fabelhaften Seeschlange aus; man glaubte jeder Bewegung ihres Körpers folgen zu können. Sowohl das Kielwasser hinter dem Schweif, als auch die Wellen, die vor dem Kopf dahinschossen, waren wie in Feuersglut getaucht. Und mit welcher blitzartigen Geschwindigkeit das Ungetüm daherkam! Ehe man sich’s versah, war der fünfzig Fuß lange, feurige Drache vorbeigestürmt und im Nu verschwunden. Aber auf demselben Fleck, von wo er gekommen war, leuchtete es wieder auf; es folgte ein zweiter Strahl, ein dritter, ein vierter, die sich mit rasender Eile in Seeschlangen verwandelten. Einmal sahen wir sechzehn zu gleicher Zeit aufblitzen und auf uns zuschießen. Die sich in zahllosen Windungen schlängelnden Feuerströme boten einen Anblick von zauberhafter Schönheit, ein Schauspiel so voller Glut und Glanz, wie es die meisten jener Zuschauer wohl erst nach ihrem Tode wieder zu sehen bekommen werden.
Und was war es? – Nichts anderes als zahlreiche Scharen von Delphinen, die sich im phosphoreszierenden Meere tummelten. Sie vereinigten sich gleich darauf zu einem prächtigen, wilden, verworrenen Knäuel unter dem Bug des Schiffes, wo sie wohl eine Stunde lang ihr munteres Spiel trieben. Bald schnellten sie in die Höhe, hüpften und vergnügten sich auf allerlei Weise, bald schossen sie Purzelbäume vor dem Schiffsschnabel und darüber hinweg ohne sich je zu stoßen oder den Vordersteven zu berühren, obgleich sie sich ihm stets auf Zollweite näherten. Es waren Delphine von gewöhnlicher Größe, 8–10 Fuß lang, aber bei jeder Bewegung ihres Körpers schlängelten sich feurige Schneckenwindungen weithin nach rückwärts über das Wasser. Dies glänzende Gewirre bot einen geradezu entzückenden Anblick, auch rührten wir uns nicht von der Stelle, bis das Schauspiel zu Ende war; dergleichen bekommt man im Leben schwerlich ein zweitesmal zu sehen. Die Delphine sind zwar stets voller Lust und Beweglichkeit und haben nichts als Possen im Kopf wie die Spielkätzchen, aber so ausgelassen wie an jenem Abend hatte ich sie noch nie gesehen, sie waren förmlich wie betrunken.
Als wir uns Sydney bis auf dreißig Meilen genähert hatten, kam das große elektrische Licht zum Vorschein, das auf einem der hohen Wälle angebracht ist. Aus dem winzigen Lichtfunken wurde allmählich eine Riesensonne, die das dunkle Firmament wie mit einem fernhin leuchtenden Schwert zerteilte.
Der Hafen von Sydney ist durch eine steile Felswand abgeschlossen, an welcher der neue Ankömmling auch nicht die kleinste Oeffnung bemerken kann. Der richtige Eingang liegt in der Mitte, ist aber so leicht zu übersehen, daß selbst Kapitän Cook vorübersegelte, ohne ihn zu finden; dicht daneben ist ein falscher, der jenem gleicht und ehemals bei Nacht dem Schiffer oft gefährlich geworden ist, als die Einfahrt noch keine Beleuchtung hatte. Auch eins der schrecklichsten Trauerspiele auf dem wilden, ruchlosen Meer, der denkwürdige Schiffbruch des ›Duncan Dunbar‹ entsprang aus dieser Ursache. Es war ein prächtiges und sehr beliebtes Segelschiff, welches von einem Kapitän befehligt wurde, der bei den Passagieren in hoher Gunst stand und sich des besten Rufes erfreute. In Sydney erwartete man die Rückkunft des Schiffes von England und zählte die Stunden bis zu seinem Eintreffen, denn es hatte eine große Menge Mütter und Töchter an Bord, die wegen der Erziehung der letzteren lange von den Ihrigen getrennt gewesen waren, und nun Freude und Leben in die verwaisten Heimstätten Sydneys zurückbringen sollten. In Australien und Indien, wo die Beziehungen zu dem Mutterlande so zahlreich sind, weiß man mehr als sonstwo was es heißt, wenn der Mensch Schiffe mit dem Liebsten, das er auf Erden hat, befrachtet und sie von den tückischen Winden – nicht vom Dampf – befördern lassen muß. Nur dort erfahren die Menschen, wie angstvoll das Warten ist und wie groß das Entzücken, wenn das Fahrzeug mit ihren Kleinodien in den sicheren Hafen einläuft und Furcht und Qual vorüber ist.
An Bord des ›Duncan Dunbar‹ waren die Heimkehrenden eifrig mit Vorbereitungen beschäftigt, als es zu dämmern begann, denn sie sollten ja, noch ehe der Tag zu Ende ging, mit ihren Lieben vereint sein. Frauen und Mädchen legten die Kleider ab, die sie unterwegs getragen hatten, und schmückten sich aufs beste – die armen Bräute des Todes! Aber, sei es nun, daß der Wind sich gelegt hatte oder die Entfernung falsch berechnet war – noch kam die Landzunge nicht in Sicht, als schon das Dunkel hereinbrach. Unter gewöhnlichen Verhältnissen würde der Kapitän wohl auf offener See geblieben sein, um erst den Morgen zu erwarten; aber da er die vielen flehenden Blicke sah und auf allen Gesichtern sich die bitterste Enttäuschung malte, mag ihn sein Mitgefühl bewogen haben, die schwierige Einfahrt trotz der Finsternis zu wagen. Schon siebzehnmahl war er in den Hafen von Sydney eingelaufen und glaubte seiner Sache ganz sicher zu sein. So steuerte er denn in gerader Linie auf die falsche Oeffnung los, die er für die richtige hielt. Als er seinen Irrtum erkannte, war es bereits zu spät. Das Schiff war rettungslos verloren, die hochgehende See riß es mit sich fort und schleuderte es auf die spitzen Klippen am Fuß der Felswand, daß es mit Krachen zerbarst und zersplitterte. Von der ganzen holden Schar liebreizender Frauen und Mädchen blieb auch nicht eine am Leben.
Jeder Fremde, welcher an der Unglücksstätte vorbeifährt, bekommt diese traurige Geschichte zu hören. Sie wird niemals veralten, wie vielen künftigen Geschlechtern man sie auch noch erzählen mag. Der namenlose Jammer, welchen sie in sich schließt, muß jedes Herz erschüttern.
Zweihundert Personen befanden sich an Bord, aber nur ein Matrose entging dem Tode. Eine ungeheure Woge warf ihn an die Felswand, wo er in halber Höhe auf einem schmalen Klippenvorsprung die Nacht über liegen blieb. Unter andern Umständen wäre er dort elend verschmachtet, da seine Auffindung undenkbar schien. Allein, als sich am andern Morgen die entsetzliche Nachricht verbreitete, daß der ›Duncan Dunbar‹ angesichts der Heimat gescheitert sei, strömten die Bewohner der Stadt scharenweise hinaus und spähten von der Felswand ins Meer. Da sah einer, der sich weit vorbeugte, den Mann, welcher durch ein Wunder dem Tode entronnen war. Man brachte Stricke herbei und das schier unmögliche Rettungswerk gelang. Der Matrose war ein Mensch mit praktischen Anlagen; er mietete einen Saal in Sydney und stellte sich dort für ein kleines Eintrittsgeld so lange dem Publikum aus, bis seine Einnahme den Ertrag der Goldfelder in jenem Jahre überstiegen hatte.
Wir fuhren ein, gingen vor Anker und schifften am andern Morgen unter manchem Ach und Oh der Bewunderung durch die Buchten und Krümmungen des schönen, geräumigen Hafens, der ein Wunder der Welt und das Herzblatt von Sydney ist. Daß die Bewohner stolz auf ihren Hafen sind und kaum Worte finden können, um ihrer Begeisterung Luft zu machen, ist sehr begreiflich. Ein heimgekehrter Bürger wollte wissen, was ich dazu sagte, und ich sprach ihm meine Gefühle nach besten Kräften aus, in der Hoffnung es würde ihm genügen. Herrlich, rief ich, wunderschön! Dann aber gab ich unwillkürlich Gott die Ehre. Der Bürger schien jedoch nicht zufrieden.
»Natürlich ist der Hafen schön,« sagte er, »allein damit ist noch nicht alles gesagt; Sydney gehört auch dazu, um die Schönheit vollkommen zu machen, beide zusammen vollenden erst das Ganze. Den Hafen hat Gott geschaffen, dagegen läßt sich nichts einwenden, aber Sydney ist ein Werk des Teufels.«
Ich hatte diesem, seinem Freunde, nicht zu nahe treten wollen und stammelte eine Entschuldigung. Daß Sydney dazu gehörte war ganz richtig; der Hafen an sich wäre nur halb so schön ohne die Stadt. Er hat etwa die Form eines Eichenblatts – in der Mitte eine breite Fläche des herrlichsten blauen Wassers und rechts und links schmale, tiefeinschneidende Buchten zwischen hohen, bewaldeten Landzungen, welche nach beiden Seiten abfallen wie Grabhügel. Auf dem Rücken ihrer Berge stehen hier und da prächtige Villen, halb im Laubwerk versteckt, die man mit Entzücken betrachtet, während das Schiff sich der Stadt nähert. Sydney erhebt sich auf einer Hügelgruppe und deren Ausläufern in wellenförmigen Linien, welche überall durch Türme, Kirchen und Prachtgebäude unterbrochen werden, die aus der Häusermasse hervorragen. Dadurch erhält erst der Gesamteindruck seinen großen malerischen Reiz.
Die schmalen Buchten, die sich, wie gesagt, sehr tief ins Land hineinerstrecken, winden sich hierhin und dorthin, bis in die verborgensten Winkel und wimmeln fortwährend von Vergnügungsbooten mit Gesellschaften, die auf Entdeckungsreisen aus sind, oder irgendwo Picknicks halten wollen. Zuverlässige Leute sagen, daß, wer diese Buchten alle durchschiffen will, eine Wasserfahrt von mindestens siebenhundert Meilen machen muß. Aber, es gibt hier zu Lande auch viele Lügner, die, wenn sie einmal im Zuge sind zu übertreiben, sich nicht scheuen, die Behauptung aufzustellen, daß die Meilenzahl doppelt so groß ist.