Dem Gewitterregen folgte ein sonniger Morgen. Wallende Nebel stiegen von der Talsohle an den Hängen empor. Durch die klare Luft drang der vielstimmige Gesang der Ringdrosseln, Wasserschmätzer, Bergfinken, Girlitze und Grünlinge. Peter erwachte. Er rieb sich die Augen und sah die Sonnenpracht um sich her. Dann fiel sein Blick auf Eva, sie lag noch in tiefem Schlafe, eng hingeschmiegt an die Ahnl. Ein quälendes Hungergefühl trieb den Jungen zum Aufstehen. Seine Blicke prüften den reichen Pflanzenwuchs der Umgebung. Im Talgrunde blühten stachelige Männertreustauden und Wegwarten. Waren die Wurzeln auch mager, genießbar waren sie doch. Schon wollte Peter aufstehen, als er eine Rehgeiß gewahrte, die aus dem Jungholz ins freie Grasland trat. Ihr folgten zwei Kitze, deren hellrotbraunes Fell noch weiß getüpfelt war. Sorglos näherten sie sich dem Beobachter. Jetzt bemerkte auch die Ricke den Jungen; sie äugte neugierig herüber, ohne Angst.

Peter durchfuhr der Gedanke: Beschleichen, fangen, töten, essen! Ohne zu überlegen, wie das Wild zubereitet werden könnte, ließ er sich auf Hände und Knie nieder und begann sich anzuschleichen. Er hatte Hunger, wütenden Hunger.

Unter ihm knackte dürres Reisig. Die Ricke sicherte mißtrauisch. Nur ihre nach vorn gerichteten Lauscher verrieten, daß sie aufmerksam geworden war. Klopfenden Herzens und mit angehaltenem Atem kroch Peter näher. Kaum fünf Schritte vor der Ricke duckte er sich zum Ansprung. Da hörte er sie heftig aufstampfen. Plötzlich schnellte sie empor – schon flog sie in langen, bogenförmigen Sprüngen über das Steinfeld und setzte über den Bach, ihr nach die beiden Kitze und hinterher der Jäger. Die Entfernung zwischen ihm und dem Wild wurde größer. Unmöglich, diese Tiere mit den Händen zu fangen! Einen Stein, einen Stein sollte man haben … Da lagen ja faustgroße Steine genug auf dem Boden! Im Laufen hob er einen auf und stürzte dem Wilde nach. Er rannte sich heiß, nur von einem Gedanken beseelt: töten, töten und essen. Das Wild war im Vorteil. Vertraut mit seinem Revier, schlankbeinig und gelenkig, flog es über den Boden dahin, dem Dickicht zu, das am Waldesrand die Talsohle säumte. Reiser knickten, Zweige rauschten, und fort war es, den Blicken des Verfolgers entschwunden. Peter stürzte in das Dickicht und prallte mit einem Aufschrei zurück. Eine Brombeerranke hatte ihm das Gesicht zerkratzt, und von der tiefen Schramme, die über Nase und Wangen führte, rann das Blut. Der Stein entfiel seiner Hand, Peter wandte sich zum Gehen.

Mit hängendem Kopf kehrte der Jäger auf seinen Spuren zurück. Unterwegs wusch er seine Wunde im Bach und schlenderte mißmutig zwischen den hohen Königskerzen und Weidenröschen dahin, deren Blüten sich in der warmen Vormittagssonne erschlossen hatten. Trotz der schmerzenden Wunde begann er seine Umgebung aufmerksam zu mustern. Der knurrende Magen schärfte seine Augen. Auf dem feuchten Hang über dem Fels entdeckte er reichtragende Heidelbeerstauden; mit beiden Händen stopfte er sich die herbsüßen Früchte in den Mund.

Als der ärgste Hunger gestillt war, begann Peter für Eva und die Großmutter zu sammeln. Aber worin sollte er die Beeren fortbringen? In die hohle Hand ging nicht viel. Vor ihm stand eine Klettenstaude. Rasch pflückte er eines der großen Blätter, steckte die Blattränder mit einem Zweig zu einer Tüte zusammen und füllte sie bis zum Rande.

Als er damit unter dem Felsendach anlangte, fand er Eva noch schlafend an der Seite der Großmutter, die mit blassem Gesicht und mit offenen, seltsam starren Augen dalag. Ihr Kinn war herabgesunken. »Ahnl, schau, Heidelbeeren!« Sie gab keine Antwort und sah an ihm vorbei ins Leere. »Sie wird noch müd sein«, murmelte er vor sich hin.

Er berührte Eva an der Schulter. Die fuhr erschrocken auf. Dann sah sie Peters zerschundenes Gesicht. »Ja, Peterl, wie schaust denn du aus?«

»Die Brombeerstauden haben mich so hergericht’t, ein Reh wollt‘ ich fangen.« Und er reichte ihr die Tüte mit den Beeren. Gierig aß sie davon, dann erhob sie sich.

»Ich geh‘ mit dir, wo gibt’s denn die?«

»Schon recht«, sagte der Bub zögernd, während er mit steigendem Befremden die Großmutter beobachtete. Sie regte sich noch immer nicht.

Daß die Frau, die Peter noch nie krank gesehen hatte, erkranken oder gar sterben könnte, daran hatte er nicht gedacht. Und doch kam ihm jetzt der Gedanke: Am End‘ ist sie tot? Auch Eva betrachtete ängstlich das starre Gesicht der Ahnl.

Beide begannen, die Leblose zu rütteln, versuchten vergeblich, ihre krampfhaft geschlossenen Hände zu öffnen. Eva legte ihren Arm um den Hals der alten Frau. »Ahnl! – Ahnl!« rief sie bittend. Die Großmutter aber hörte sie nicht. Da kauerten sich die Kinder neben sie und weinten.

In der Klamm war der Ähnl erschlagen und begraben, und vor ihnen lag tot die liebe, gute Ahnl.

Peter faßte sich zuerst. Für Eva mußte nun er sorgen, das wußte er. Eine Wohnung mußte er finden, für sich und für sie, und auch für die Nahrung mußte er sorgen. Vor allem aber durfte er die Tote nicht den Raubtieren überlassen.

Ohne sich um Eva zu kümmern, die zusammengesunken neben der Toten kauerte, machte er sich an die Arbeit. Er kam nicht weit damit. Seine Hände waren zu schwach, der Geröllboden zu hart. Er erinnerte sich seines Messers. Aber das hatte er ja nicht mehr, das war in der Joppe, und die war in der Klamm geblieben.

Da entschloß er sich, die Ahnl dort zu bestatten, wo sie lag, wie sie lag. Er begann Steine herbeizutragen und schichtete sie um den Leichnam auf.

»Was tust du denn?« fragte Eva verstört.

»Die Ahnl begraben.«

Wieder begann Eva zu weinen, sie versuchte, ihm zu wehren. Erst als Peter sie auf die Geier, diese Leichenfresser, hinwies, war sie bereit, ihm bei der traurigen Arbeit zu helfen. Aus Heidelbeerlaub und einem halbverblühten Almrauschzweig machten die beiden ein Sträußlein und steckten es der Toten zwischen die starren Finger; die Augen, deren leerer Ausdruck sie ängstigte, deckte Eva mit Vergißmeinnicht und Weidenröschen zu. Peter nahm einen Stein und grub damit eine Siegwurz aus, er legte sie auf die Herzgegend der Toten, auf daß ihr die bösen Geister nichts anhaben könnten. Den Leib deckten die Kinder mit Moos, Heidekraut und Rasenstücken, dann legten sie noch Steine herum und darauf. Peter sprach leise: »Ahnl, ich dank‘ recht schön für alles Gute, das du mir getan hast. Mußt dir keine Sorg‘ machen um Eva. Zum Essen find‘ ich genug. Die Geißen werd‘ ich auch finden – und die Höhlen auch. Und für’n Winter werd‘ ich vorsorgen, wie wir’s mitsammen gemacht haben. Und wir bleiben da, die Eva und ich, wir bleiben bei dir. Gelt, du …« Seine Stimme versagte. Ganz behutsam legten er und Eva weiche Moospolster und flache Steine auf das Gesicht der Verstorbenen. Stumm kauerten sie noch eine Weile am Grab, dann nahm Peter das Mädchen bei der Hand und führte es hinweg von der heilig gewordenen Stätte.

Oberhalb des Grabhügels stiegen sie die Lehne hinauf und aßen Heidelbeeren. Doch bald mußten sie weiter und die Höhle suchen, in der einst die Ahnl gewohnt hatte. Inzwischen sank die Sonne, die Schatten der Bäume wurden länger, und Peter beschäftigte die Frage nach der Unterkunft. Er dachte zurück an den Morgen und erinnerte sich, daß die Ahnl erst bachaufwärts hatte gehen wollen. Dort irgendwo mußten die Höhlen liegen.

Bachaufwärts also stolperten sie über klobiges Geröll und drangen in dichtes Buschwerk. Nur langsam kamen sie voran zwischen Hasel-, Weiden- und Weißdornbüschen, die stellenweise von Waldreben dicht umsponnen waren.

Als Peter mit den Armen das Rankenwerk lockerte, scheuchte er eine gelbbäuchige Bachstelze vom Nest, das samt vier braunscheckigen Eiern ins Gras fiel. Das war eine unverhoffte Mahlzeit; die Eier waren noch frisch, aber viel zu winzig.

Zwei Ringdrosseln, wunderlich anzusehen mit ihren weißen Halsbinden im braunen Gefieder, begleiteten mit scheltendem Schnalzen die Eindringlinge von Busch zu Busch und flogen schließlich auf einen hohen Felsblock, der dort, wo sich der Bach in zwei Arme teilte, baumhoch zum Himmel ragte. Sein grobkörniges, mit Glimmerplättchen durchsetztes Gestein glitzerte in der untergehenden Sonne. Eine alte, hochstämmige Wetterfichte überragte den Fels, an dessen sonnenwarmem Fuß üppige Stauden von Kornelkirschen, Brombeeren und Himbeeren wucherten.

»Den sonnigen Stein wollen wir uns merken«, meinte Peter und zeigte auf den Felsen.

Eva wies auf die Brombeerstauden, die den feuchten Bachrand säumten. In großen Trauben hingen die blau bereiften Beeren zum Wasser nieder, und eine Fülle von rotgrünen, unreifen Früchten und weißen, rosig angehauchten Blüten versprachen noch für lange Zeit reiche Ernte. Das Wasser der beiden Bacharme war um den Sonnstein so seicht, daß die Kinder auf die andere Seite waten konnten, wo der spärlich bewachsene Boden eines Steinfeldes das Weiterkommen erleichterte. Ein Rascheln im dürren Laub des Ufergebüsches erschreckte sie, entsetzt sahen sie eine fast schwarze Schlange durch das kurze Gras gleiten. Sie flohen waldwärts. So vom Bach abgedrängt, betraten die beiden einen uralten Nadelwald, der düster und weitgedehnt den Ausblick auf die dahinter aufsteigenden Felswände nahm. Zwischen starken Fichtenstämmen lagen gestürzte Baumriesen, morsch, von Moos überwuchert.

Die Füße der Vorwärtsstapfenden versanken im feuchten Moder und schwellenden Torfmoos, während ihre Wangen an die üppigen Wedel mannshoher Adlerfarne streiften.

Totenstille ringsum, kein Vogelgezwitscher tönte aus den hohen Baumkronen. Das Dämmern des nahenden Abends wurde im Walde zur schauervollen Finsternis, aus der ein atembeklemmender Modergeruch drang. An ein Übernachten in einem solchen Walde war nicht zu denken.

Erleichtert atmeten sie auf, als sie den Bach wieder erreichten, auf dessen bewegter Fläche die Abendröte einen zarten Schimmer legte. Und schon sahen sie vor sich die Felswand, von deren hellem Gestein sich zackig die Umrisse dunkler Bäume abhoben.

Das Bachbett wurde steiler, der Bach lauter. Noch wenige Schritte, und die Kinder standen gebannt: Vor ihnen wölbte sich im hellen Kalkfels ein dunkles, niederes Felsentor, der Ausgang einer Grotte. Und die ganze Breite des Höhlentors nahm eine spiegelglatte Wasserfläche ein, deren tiefes Grün zum Hintergrund hin in Schwarz überging. Stille war’s drinnen im Berg, als dehnte sich die regungslose Wasserfläche weit ins Erdinnere. Da war nun eine Höhle, da wäre eine Wohnung gewesen, aber die gehörte dem Bach.

Peter wagte nicht, in der Dämmerung weiterzuforschen. Die Ahnl hatte von Bären erzählt, die da in Höhlen hausten. Schon war die Sonne hinter den Klammwänden verschwunden. Die Kinder sahen einander verzagt an. Sie mußten doch irgendwo übernachten, wo sie vor der Kälte geschützt waren; sie kannten die Nächte im Gebirge. Und Peter sah Evas Augen feucht glänzen vor Bangigkeit. Da wandte er sich dem Walde zu. Ohne lange zu suchen, fand er in der Nähe der Felswand eine riesige Buche, deren Stamm über dem Boden eine Höhlung zeigte, groß genug für Eva, daß sie sich darin zum Schlafe zusammenkauern konnte. Aus Laub und Gras machte er ihr ein Nest und forderte sie auf, sich in die Höhlung zu ducken. Zögernd gehorchte Eva.

Er selbst kroch unter ein Gebüsch am Fuße der Buche, über dessen Zweige sich ein dichtes Gewinde von Waldreben gesponnen hatte. Hier häufte er dürres Laub als Lager und Decke für sich auf. Das war für Eva eine Beruhigung. Lange flüsterte er noch zu ihr hinüber und versprach ihr, morgen ganz gewiß eine schöne Höhle im Gefels zu finden. Als er Eva endlich in Schlaf geplaudert hatte, überfiel ihn wieder die Sorge. Obwohl er sich tief in das Laub eingewühlt hatte, hielt ihn die zunehmende Nachtkälte wach. Er horchte den unerklärlichen Geräuschen und Stimmen des Waldes nach. Ganz nahe bei ihm krabbelte allerlei im Laubwerk, und aus dem Walde drangen von Zeit zu Zeit, das Raunen der Baumkronen und das Rauschen des Baches übertönend, unheimliche Rufe, bald ein tiefes »Pu-hu!«, bald ein hohles, gedehntes »Hu-hu! Hu-hu-huu!« –, das in ein Weinen, Wiehern, Lachen und Jauchzen überging. Peter standen die Haare zu Berge. Er kannte nicht das Locklied der Waldohreule, und seine Phantasie bevölkerte den Wald mit märchenhaften Unholden. Dazu kam seine nicht unberechtigte Angst vor Bären.

Peter tastete den Boden ab und fand bald einen scharfkantigen Stein, den er als Waffe gebrauchen wollte. Mit dem wollte er den Bären mitten auf die Schnauze schlagen. Doch je mehr er sich in den ungleichen Kampf hineindachte, um so geringer wurde seine Zuversicht – ja, er begann am ganzen Leibe zu zittern, als vom Walde herüber das Knistern zerbrechenden Reisigs zu ihm herüberdrang.

Nie im Leben hatte er solche Angst ausgestanden. Sooft er auch mit der Ahnl im Wald übernachtet hatte, in ihrer Nähe war ihm immer sicher zumute gewesen. Er dachte an die Tote und wurde ruhiger, und als sich das Geräusch in der Ferne verlor, löste sich die Angst.