Klein-Eva

Im Spiel hatte Hansl begonnen, auf seinem Karren den Ziegen Futter zu bringen, und im Ernst wurde es seine tägliche Pflicht. Je öfter er die Ziegen versorgte, um so lieber gewann er sie. Er war entsetzt und traurig, als eines Tages ein Bartgeier sich mitten aus der Herde ein Zicklein holte und das klagende Tierchen in seinen Fängen in die Lüfte trug. Von Hansls Geschrei herbeigerufen, sah Peter den Raubvogel gegen die Klammwände zu abstreichen, ohne ihm einen Pfeil nachschicken zu können. Da er weder Zeit noch Lust hatte, sich mit Pfeil und Bogen im Geißengarten auf die Lauer zu legen, einigte er sich mit Eva, daß Hansl jeden Morgen als Hüter mit seinem Lieblingshund in den Geißengarten ging, versorgt mit Nahrung und ausgerüstet mit der alten Bratpfanne, auf der er Lärm schlagen sollte, wenn ein Geier zu nahe käme. Und Hansl wurde ein gewissenhafter Geißbub.

Peter baute wieder an der langen Mauer. Zur Zeit der Sommersonnenwende brachte er drei honigschwere Waben heim. Zwei Waben überließ er Eva zum Süßen des braunen Eicheltrankes, den sie mit Milch zu mischen pflegte; aus der dritten drückte er den Honig in einen großen Topf und verdünnte ihn reichlich mit Wasser. Dieser Trank schmeckte ihm besser als »leeres« Wasser. Den Topf trug er in die Bärenhöhle, die Eva nie mehr aufräumte. Er trank nur sparsam von diesem Gemisch. Nach einigen Tagen merkte er, daß es trübe wurde. Es bekam einen prickelnden Geschmack und einen fast widerlichen Geruch. Wieder nach einigen Tagen versuchte er, müde vom Steineführen, von neuem den sonderbaren Trank und fand ihn geklärt. Etwas von seiner ursprünglichen Süße war wieder zu spüren, ein kräftiger, gar nicht mehr widerlicher Geruch stieg aus dem Gefäß. Kaum hatte er ein paarmal tüchtig geschluckt, da wich die Müdigkeit von ihm wie durch einen Zauber. Und Peter staunte, wie leicht ihm danach die Steine vorkamen. In allen seinen Bewegungen war mehr Schwung als nötig, bald aber war er wieder müde. Da stärkte er sich von neuem. Beim Abendessen war er ungewöhnlich gesprächig.

Als Eva ihn darauf aufmerksam machte, daß sich die Stubendecke wieder ein wenig gesenkt hatte, lachte er überlaut und fuhr mit der Rechten großartig durch die Luft: »Ach geh, wenn das Dach so schwere Steintrümmer tragen kann, wie ich ihm aufgeladen habe, dann widersteht’s auch dem Wind; es hält schon noch!« Staunend beobachtete Eva das Getue und Gerede ihres sonst so klugen Mannes, sagte aber noch nichts, sondern legte Hansl schlafen. Doch das Dach ließ ihr keine Ruhe, sie wollte ihrem Mann noch einmal begreiflich machen, daß er es erneuern müsse, bevor der Winter seine Schneelasten darauf legte; aber als sie zurückkam, hatte Peter seinen Kopf auf die Tischfläche gelegt und schlief schnarchend mit offenem Munde.

Verstohlen und sparsam trank Peter weiter. Und immer stellte sich die gleiche wunderbare Wirkung ein. Sooft Eva abends vom Dach anfing, begegnete sie Peters unbegreiflicher Sorglosigkeit.

Wenn sie Hansl im Geißengarten aufsuchte, wanderte sie mit ihm Hand in Hand durch das weite Gehege, gefolgt von den Lieblingsziegen, umhüpft von den Zicklein, die nicht müde wurden.

Je weiter der Spätsommer vorrückte, desto seltener besuchte Eva den Geißengarten. Peter machte sich verdrossen an die zweite Heuernte. Sein Labetrank war ausgegangen. Da suchte er eines Tages Eva in der Vorratskammer auf und verlangte den Honig, den er ihr gegeben hatte. Vergeblich sagte sie ihm, sie habe ihn für den Winter bestimmt, der gesüßte heiße Eicheltrank werde dann jedem von ihnen wohltun. Doch Peter beharrte auf seiner Forderung, bei seiner schweren Arbeit brauche er den stärkenden Trank.

Und ohne Evas Wissen nahm er ihren Honig an sich, und bald hatte er wieder den ersehnten Met. Und wenn er beim Mauern an das baufällige Dach denken mußte, schob er den Gedanken beiseite: Ach was, hat nächstes Jahr Zeit; wird schon noch den Winter aushalten! Hansl staunte, wie hoch der Vater diesmal die Heuschober baute und fragte sich, ob er selbst je so stark sein würde wie der Vater. Eva hütete das Haus; seltener und seltener ging sie über die Schwelle. Bei Gewittern, die sich in den letzten Sommerwochen häuften, fuhr sie nach jedem Blitz zusammen, der rollende Donner brachte sie zum Weinen.

Die Herbstfruchternte kam, Peter arbeitete allein im Walde, wieder vom Morgengrauen bis in die sinkende Nacht; Hansl durfte die Ziegen nicht verlassen. Für den Sonnleitner war es eine ungeheure Aufgabe, für Menschen und Haustiere genügend Fruchtvorräte für den Winter herbeizuschaffen. Der Labetrank war längst ausgetrunken.

Eines Nachmittags mußte er so stark an Eva denken, daß er mitten in der Arbeit aufhörte und nach Hause rannte, als ob sie ihn gerufen hätte.

Er fand sie im Bett. Sie lächelte ihm entgegen. Neben ihr lag ein überzartes, flachsblondes Kind. Und als Peter die Mutter küßte, flüsterte sie: »Eva soll sie heißen.«

Zu spät!

Unerwartet früh setzte starker Schneefall ein und machte der Sammelarbeit Peters ein Ende. Ruhig und stetig schneite und schneite es, zwei Tage, drei Tage. Auf dem Dach des Steinhauses lag der Schnee kniehoch, breiig zusammengeschmolzen vom lauen Wind, der an ihm leckte. Und tiefer senkte sich die Stubendecke. Everl verschlief die Tage im Bett neben der Mutter, mitten in der Nacht aber begehrte sie laut weinend zu trinken. Dann konnte Peter nicht mehr einschlafen. Und die Nacht war so lang! Er hörte, wie das Schmelzwasser vom Dachrand tropfte, er vernahm ein verdächtiges Knistern im Deckengebälk. In Gedanken sah er etwas Furchtbares geschehen. Nach einer durchwachten Nacht eilte er mit Beil und Säge in den Wald, fällte eine schenkeldicke Fichte und klemmte den auf Stubenhöhe gekürzten Stamm zwischen den mittleren Deckenbalken und den Fußboden. Dann sammelte er Brennholz, das er an der Hausmauer aufschichtete. Sein Nachtschlaf war wieder tief, das Weinen seiner kleinen Tochter hörte er kaum mehr. Auch Eva war wieder beruhigt.

Eines Tages machte der Winter Ernst. Der Klammwind drückte die Schneewolken tief in den Talkessel. Sie ließen ihre Eisnadeln an den Südwänden niederwirbeln, und ehe der Abend kam, lagen Wald, Moor und Steinfeld unter einer blendendweißen Decke. Es wurde still, die Luft war klar. Aber ein Sonnenuntergang, dessen flammende Röte das dünne Gewölk des Himmels durchleuchtete, kündete nahen Sturm.

Hansl schlief längst, da saß Peter noch auf dem Bettrand bei Eva und kündigte ihr an, im nächsten Sommer müsse sie in der Bärenhöhle hausen, bis er das Dach abgetragen und durch ein besseres ersetzt habe. Vor Mitternacht stillte Eva noch ihr Kind. Dann schliefen alle.

Als der Morgen graute, hörten sie draußen ein pfeifendes Jaulen, ein an- und abschwellendes Heulen. Ein jäher Sturmstoß fegte durch das Rauchloch und blies Asche und glühende Kohlensplitter den Hunden in den Pelz, daß sie scharf kläffend aufsprangen. Da erwachte Eva, deckte ihr Kind sorgfältig zu und verließ ihr Lager. Sie kleidete sich notdürftig an und trat vor den Herd. Wie stets bei Föhngefahr, schob sie den Feuerbock beiseite, fegte die Glutreste auf ein Häufchen und stülpte eine Tonschüssel darüber. In der Stube wurde es dämmerig. Die Ampel vor den Ahnenbildern brannte trüb und winzig. Da stand auch Hansl auf und hielt sich an Evas Rockfalte. »Mutter, ich fürcht‘ mich.« Der Sturm warf sich von vorn auf das Haus. Die Tür ächzte und quietschte. Eva begann laut das Stoßgebet der Ahnl: »Gott und alle guten Geister, steht uns bei!« Peter erwachte, lehnte den umgestürzten Tisch gegen die Tür und verspreizte ihn von innen mit seinem Jagdspeer gegen den Boden. Der Sturm ließ nach, als hole er Atem für einen neuen Ansprung. Dann wuchtete eine schwere Luftwoge auf das Dach des Steinhauses. Ein Ächzen im berstenden Dachgebälk … Holz, Steine, Schilf, Moos und Schnee alles krachte herab!

Schreckensstarr stand Eva im Schutz des Herdgemäuers, über dem die Balkentrümmer schräg zur Stubenmitte niederhingen. Wo die Stubendecke gewesen war, flutete der morgende Tag herein. Dünne, sturmgepeitschte Wolken jagten über den Himmel. Da löste sich Eva aus ihrer Starre, und mit gellender Stimme schrie sie in das Toben sturmzerwühlter Schneemassen hinein: »Everl! Das Kind!« Peter, der zwischen der Vorderwand und den schräg niederhängenden Balkentrümmern unverletzt geblieben war, zwängte sich zur Herdmauer vor, tastete über Evas Bett hin, wühlte in Schnee und Moder, hob sorgfältig die auf die Bettdecke gefallenen Steine ab und fand Everl regungslos. Das Kind war warm und schien unverletzt… Er legte es der Mutter in die ausgestreckten Arme. Everl weinte nicht. Die Mutter horchte an des Kindes Mund. Everl atmete nicht! Everls Herz pochte nicht! Everl war tot.

Verwaiste Katzen

Der Sturm hatte sein Werk getan. Der Ziegenstall, die Vorratskammer, der Herdraum, den Peter durch Bruchstücke des Dachgebälks gegen die verwüstete Stube zu abgeschlossen hatte, das war nun die Behausung der Sonnleitnerleute.

Im Garten, nahe bei dem Rosenstrauch, wurde die kleine Tochter begraben. Still weinte sich die Mutter aus, kein Wort des Vorwurfs kam über ihre Lippen, aber der Grabhügel des Kindes sprach unerbittlich von Versäumnis und Schuld. Kein Honigtrank gab barmherziges Vergessen.

Am Tage nach dem Begräbnis stieg Peter zum Ufer des unteren Moorbachs hinunter und begann Fichten zu schlagen. Er kürzte die Bäume an Ort und Stelle. Da er auf seinem zweirädrigen Karren die Langhölzer nicht fortschaffen konnte und auch nicht jeden Baum einzeln schleppen wollte, baute er in aller Eile einen starken Hilfskarren, vorerst ohne die Radscheiben mit Eisen zu beschlagen. Beide Karren verband er zu einem vierrädrigen Wagen und lud so viele Langhölzer auf, daß er ihn schweißtriefend gerade noch ans Haus ziehen konnte. Nach schwerem Tagewerk verzehrte er stumpfsinnig vor Müdigkeit sein Essen und schlief am Tisch ein. Aber nachts wurde er von Alpträumen heimgesucht.

Als die gröbsten Spuren des Unglücks beseitigt waren und das neue, mit Rasenflözen und Steinen gedeckte Notdach den Wind von der Stube abhielt, war Peter der alleinige Bewohner des einst so vertrauten Raumes. Eva, die sich in der Sturmnacht erkältet hatte, war krank und schlief mit Hansl im warmen Ziegenstall.

In den Blicken seiner gebrochenen Frau las Peter den Groll, dem sie keine Worte gab. Dahin war Hansls sorglose Kindlichkeit. Ernst las er der blassen Mutter jeden Wunsch von den Augen ab und tat für sie, was er konnte. Ob er die Haustiere fütterte oder bei der Zubereitung der Mahlzeiten half – sein Tun war nicht mehr Spiel, sondern Arbeit.

*

Lang war der Winter, aber eines Tages war seine Herrschaft vorüber. Die Maßliebchen- und Löwenzahnbeete standen in Blüte, und Eva bepflanzte den Grabhügel ihrer Tochter mit Goldprimeln, Bergnelken und Immergrün. Mit der Zeit milderte sich Evas Leid. Unter dem Einfluß der Sonne und der Frühlingslüfte wurde sie kräftiger, so daß sie einen Teil der Hausarbeiten wieder selbst übernehmen und Hansl sich mehr um die Ziegen kümmern konnte, die im Geißengarten ihre Jungen zur Welt bringen sollten. Eva sah, wie ihr Mann sich härmte und in harter Arbeit abquälte. Je weiter seine Vorbereitungsarbeiten für das neue Dach fortschritten, um so mehr verschwand der Groll aus Evas Zügen. Als Peter jedoch, ermutigt durch ihr verändertes Wesen, mit seiner schweren Hand liebkosend ihre Schulter streicheln wollte, wies sie ihn ab. Da ging er wortlos.

Nach der ersten Heuernte waren die entrindeten und angekohlten Bauhölzer von der Sonne übertrocknet, aber nicht trocken genug. Da hieß es noch warten. Peter machte sich an andere Vorarbeiten. Das Dach sollte steiler werden, damit der Schnee besser abgleiten konnte. Die einzelnen Balken sollten durch Eisenklammern miteinander verhängt und fest ins Mauerwerk gemörtelt werden. So holte er denn einige Karren Raseneisenerz von der Goldbachmündung, heizte den Schmelzofen, verwandelte das Gußeisen in Schmiedeeisen und machte Eisenstäbe von halber Armlänge. Ihre Spitzen bog er um; die eine sollte gut eingemörtelt in der Mauer sitzen, die andere als Kralle das Holz halten. Als das Schwadenkorn reifte, war das neue Dach fertig. Peter baute noch einen flachen Zwischenboden unter dem schrägen Dach ein, der nach unten die Stubendecke, nach oben einen luftigen Tragboden für die Fruchtvorräte abgeben konnte. Erst als die Stube mit einem Gemisch von Kalkmilch und Lehm freundlich gestrichen war, zog Eva ein und brachte das Heim in Ordnung. Der Winter vermochte den Sonnleitnerleuten nichts mehr anzuhaben.

Wieder war der Frühling ins Land gezogen. Nach einer mondhellen Nacht brachte Peter vom Moorsee eine gefesselte Wildente mit ihren acht Küken, die als gelbliche Flaumbälle Eva und Hansl entzückten. Mit der Klemmschere kürzte Peter die Schwingen der Mutterente und setzte sie in den Hausteich, an dessen oberen Rand er einen niederen Stall baute. Gleich am zweiten Tag ihrer Gefangenschaft fraßen die neuen Ankömmlinge gierig alles, was ihnen gestreut wurde, sie gründelten im kleinen Teich und durchstöberten alle Winkel des eingezäunten Platzes.

Auch die Ziegen und die Fuchshunde bekamen wieder Junge, und ein Schwalbenpaar stellte sich ein. Die unzähligen Fliegen, die den Abfallhaufen neben dem Stall an der Südwand umschwirrten, zogen sie an. Hier gab es Nahrung in Hülle und Fülle, und so dauerte es auch nicht lange, bis sich die Gäste unter dem Dachrand ihr Nest aus feuchten Lehmklümpchen bauten, die sie durch eingezogene Grashalme verbanden. Und ehe eine Woche vergangen war, saß das Weibchen im gemauerten Nest auf ihren Eiern.

Nach weiteren zwei Wochen steckten die fast nackten Jungen abwechselnd ihre unförmigen Köpfe aus dem runden Flugloch der Nestkammer, rissen bettelnd und einander stoßend die Schnäbel auf, sooft eines der Alten Futter brachte. Die Zahl der Fliegen im Stall nahm zusehends ab, die gefräßigen Schwalbenjungen bekamen Federn und machten bald ihre Flugübungen über dem Hof.

Eines Morgens kam Peter, munter pfeifend, vom Neuen Steinschlag herüber. Hoch in seiner Rechten hielt er ein graues, schwarzgezeichnetes Tier, an dem der Hund ungeduldig emporsprang. Er legte Eva eine Wildkatze in die Hände und begann zu erzählen. Er hatte das Raubtier mit einem Pfeil angeschossen, weil es in den Hausfrieden eingebrochen war und sich vom Hof eine Taube geholt hatte. Den Blutspuren folgend, hatte er mit Schnapps Hilfe die verwundete Katze vor einer hohlen Fichte des Urwaldes erschlagen, ehe sie in ihr Nest eindringen konnte, aus dem drei Junge miauend herausgeguckt hatten.

Eva preßte die Lippen zusammen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit. Das Schicksal der toten Taube hatte auf sie wenig Eindruck gemacht. Lebten nicht auch sie, ihr Mann und ihr Kind vielfach vom Fleisch getöteter Tiere? Aber der qualvolle Tod der Katzenmutter, der Hunger der verwaisten Kätzchen griffen ihr ans Herz. Wortlos starrte sie vor sich hin.

Peter, der Dank erwartete, weil er ein Raubtier erlegt hatte, das auch das Leben Hansls hätte bedrohen können, deutete den Ausdruck der Trauer auf Evas Gesicht falsch, er hielt ihn für Mißbilligung seiner Tat, hatte er doch einst gelobt, kein Muttertier zu töten. Er nahm Eva die Beute ab und hängte die Katze verdrossen an den Zaun; später wollte er sie abbalgen.

Unterdessen zog Eva sich und Hansl die schweinsledernen Schuhe an und füllte einen Henkeltopf mit frischgemolkener Milch. Als sie sich zum Fortgehen anschickte, fragte Hansl, dem ihr gedrücktes Wesen auffiel: »Mutter, was hast du denn?« Da zog sie den Kleinen an sich und sagte erregt: »Die große Katze war eine Mutter, so wie ich deine Mutter bin. Der hohle Baum im großen Wald da unten ist ihr Haus, dort hat sie drei Kinder, weißt du? Und die Kinder haben Hunger, essen möchten sie, sie weinen vor Hunger. Da hat sie ihnen was zu essen bringen wollen, hat uns eine Taube genommen, und dafür ist sie erschlagen worden … Und jetzt gehen wir zu den Katzenkindern!« In der Linken den Milchtopf, an der Rechten ihren Sohn, die Augen auf die Spuren ihres Mannes geheftet, strebte die Sonnleitnerin vorwärts durch Jungholz und Gestrüpp, bemerkte da und dort Blut und drang in den Urwald ein. Über vermoderte Baumleichen und niedergetretenes Farndickicht gelangte sie zum Wohnbaum des Raubtieres, an dessen Fuß in einer Blutlache die tote Taube lag. In der Baumhöhle, weit über Evas Kopfhöhe, im Stamm der alten Fichte, zeigten sich die runden Köpfchen dreier Jungkatzen und verschwanden blitzschnell.

An ein Erklettern des Baumriesen, den zwei erwachsene Menschen kaum umspannt hätten, war nicht zu denken. Da hob Eva den Buben auf ihre Schultern. Er tastete sich am Stamm empor zu voller Höhe, griff beherzt ins Innere der Höhlung, zog ein Kätzchen nach dem anderen heraus und reichte sie der Mutter hinab, die ohne Scheu die weichbepelzten Tierchen zwischen Brust und Hemd barg.

Dann stellte sie Hansl wieder auf den Boden, hieß ihn den Milchtopf aufnehmen und beeilte sich, aus dem unheimlichen Dunkel des Urwaldes zu kommen.

Behutsam streichelte sie die vor Angst zitternden Jungtiere. Als der düstere Wald hinter ihr lag, ließ sie sich am Fuß eines Baumes nieder und legte die Kätzchen in ihren Schoß. Und Hansl, der vor ihr auf den Fersen kauerte, übernahm es, den Tieren die Atzung anzubieten. War es die längst abgekühlte Milch oder das ungewohnte Gefäß? Jedes zog den Kopf zurück, sooft ihm Hansl das Schnäuzchen in den Topf steckte.

Da tauchte Eva den Zeigefinger in die Milch und führte ihn einem der Kätzchen in den Mund. Und siehe da – es begann zu lecken und leckte fort, als Hansl seiner Mutter die Milch in die hohle Hand goß. Das Schmatzen des einen lockte die anderen an, und bald drängten sich drei runde Köpfe in Evas hohle Hand. Bald war der Topf leer, und die drolligen Kerlchen begannen ihre winzigen Pfoten zu lecken und sich zu waschen.

Zuhause machte Eva ihnen in einem Korb ein warmes Nest. Sie wollte ihnen die Mutter ersetzen.

Salzkammer

Der Winter kehrte sich nicht daran, daß die Sonne schon ihre Frühlingsreise angetreten hatte. Fröste und Schneestürme hatten den Heimlichen Grund in ihrer Gewalt.

Den Höhlensiedlern war der Tag immer zu kurz. Eva, die nicht nur das Essen kochte, sondern auch die Vorräte pflegen mußte, nützte die hellsten Stunden zum Nähen und Flicken der Kleider und Schuhe. Peter hatte, um der hereindringenden Kälte zu wehren, die Licht- und Luftlöcher in der unteren Höhle verkleinert, und so war Eva gezwungen, den Arbeitsplatz in ihrer Kammer vor der nahezu vermauerten Lichtluke einzurichten. Sie hatte aus Waldreben einen Rahmen geflochten, eine Tierblase darübergespannt, das Ganze in die Luke geklemmt und die Ritzen ringsherum mit Moos abgedichtet. Nur gedämpft drang das Tageslicht in das Höhleninnere. Eva, die für ihre Arbeit Licht brauchte, setzte sich damit dicht unter die Luke. Es half nicht viel – am Fußboden war und blieb es dämmerig. Während sie dasaß und sann, wie dem abzuhelfen wäre, fiel ihr ein Gitter ein, das sie vor einiger Zeit aus Weidenruten geflochten und als Dörrplatte für Beeren benutzt hatte. Das kramte sie hervor, verkeilte die eine Längsseite unter der Luke in den Mauerspalten, stützte die andere mit zwei in den Boden eingelassenen Stäben und hatte nun einen erhöhten, gut beleuchteten Arbeitstisch. Ein Baumstrunk davor diente als Sitz. Rechts davon, zwischen Lichtluke und Hausaltar, stand ihr Webrahmen.

Auch Peter hatte seinen Sitzstrunk nahe vor seine Lichtluke geschoben und den höheren Werkstrunk davorgestellt. Um sein mit unsagbarer Mühe durchlochtes Steinbeil beim Schärfen nicht zu gefährden, hatte er in eine Grube des Höhlenbodens einen flachen, harten, feinkörnigen Quarzsandstein fest eingelassen. Mit leichtem Druck führte er den Beilstein unermüdlich über den Schleifstein hin und her, her und hin. Und siehe da: er wurde schärfer und schärfer! Angefeuert vom Erfolg schliff Peter aus Stein- und Knochensplittern Dolche, Grabmesser, Pfriemen, grobe Nadeln und Vorstecher. In abgesägte Zinken des Hirschgeweihes schäftete er Steinmesser, Meißel und Bohrer.

Die Behaglichkeit und Lebensfreude der Höhlensiedler wurde zeitweise durch ein unheimliches Glucksen gestört, das aus dem Berginnern kam. Jetzt, wo die Höhlenstuben gegen die Geräusche der Außenwelt abgeschirmt waren, fielen diese seltsamen Geräusche besonders nachts auf.

Peter war fest entschlossen, der Ursache auf die Spur zu kommen. Er nahm sich vor, ins Berginnere einzudringen. Er flocht aus Reisig zwei Fackeln, die er gut pichte. Dann brach er die Vermauerung des oberen Höhlenganges heraus, die Evas Stube nach dem Berginnern hin abschloß, schlug die vorspringenden Felskanten ab und erweiterte so den Spalt. Klopfenden Herzens drang er ein. Die Luft im Berginnern war feucht und kalt. Ein scharfer Zugwind trieb ihm den Rauch des rußenden Leuchtbrandes ins Gesicht. Über seinem Kopf hingen in den Nischen unzählige Fledermäuse, die hier ihren Winterschlaf hielten.

Der Lehmboden fiel ab. In scharfem Winkel bog der Gang nach rechts. Die ruhiger brennende Fackel erleuchtete weithin den Raum. Von der Decke hingen weiß- und gelblichschimmernde Zapfen herab, die mit anderen, vom Boden aufstrebenden, vielfach zu Säulen vereinigt waren. An einer Stelle war ein Stück Wand und Decke, vom Wasser unterwaschen, niedergegangen; dort lagen Spitzkegel und flache Stücke wirr durcheinander, von reinweißem Sinter überkrustet. Mitten darunter stand aufrecht ein verhutzelter Zwerg mit Zipfelmütze, Vollbart und Hängebauch. War’s ein zu Stein gewordenes Wichtelmännchen? Und noch andere vieldeutige Gestalten waren da: geballte Klumpen, wie runde Bären oder brütende Riesenvögel mit absonderlichen Köpfen – eine erstarrte Märchenwelt. Bei jedem Flackern der Flamme bewegten sich die Schatten der Gestalten, deren Aussehen sich wundersam veränderte. Zaghaft betastete Peter ein zweigdünnes Zapfenende. Als es klirrend zerbrach, nahm er ein Stück davon mit für Eva.

Der von Säulenstummeln und Sinter bedeckte, naßglänzende, von Rissen durchfurchte Boden war für Peter ein schwer überwindbares Hindernis. Er blieb stehen und machte sich für den Rückweg Merkzeichen. Wieder vernahm er das Glucksen, das ihn und Eva so oft geängstigt hatte; es klang, als fiele aus großer Höhe ein Tropfen in ein tiefes Wasser.

Dem Klange folgend, der sich in regelmäßigen Zeitabständen wiederholte, stand Peter bald am Spiegel des unterirdischen Sees. Lauschend und schauend stand er da. Unverwandt starrte er auf die dunkle Glätte des tiefgrünen Wassers, das kaum merklich nach rechts zog; von dorther war die Flut matt durchleuchtet. Da sah er, wie ein Wassertropfen aufschlug, sah die Kreise, die er zog, und fast unmittelbar darauf hörte er das wohlbekannte Glucksen, das der Widerhall von fernen Wänden dumpf verstärkte. Peter blickte nach oben, zur Höhe der Seegrotte. Und er staunte über die Länge der Riesenzapfen, die weiß und gelb an der Decke schimmerten. An einem, der flach wie ein Vorhang wenige Mannslängen vor ihm hing, glänzte ein Tropfen im Fackellicht wie ein durchsichtiger, rundgeschliffener Stein. Klingend fiel auch er nieder und gleich nach ihm ein zweiter. Das also waren die Geisterstimmen!

Peter zündete am Stumpf der ersten die zweite Fackel an und wandte sich zum Rückweg. Im Licht der knisternden, rußenden Flamme fand er die Spuren, die seine beschmutzten Schuhe auf dem blendendweißen Kalksinter des Bodens hinterlassen hatten. Stolpernd vor Ungeduld kehrte er zu Eva zurück und zeigte ihr den mitgebrachten Tropfstein.

Schon am nächsten Tage begleitete sie ihn zur Höhle, sie trug ein Bündel Brennholz und drei Ersatzfackeln. Ihre Erwartungen wurden weit übertroffen, als am Ufer des Quellsees ein hohes Feuer brannte und seinen gelbroten Schein auf die säulenbehangene Decke warf.

Weiter ging es bergeinwärts, auf wunderlichen Pfaden, bald schmal, bald breit, um Abgründe herum, in deren Tiefe geheimnisvolle Wasser raunten. Kletternd und einander stützend drangen die Wanderer weiter nach links aufwärts. In der höchsten, entlegensten Felsenkammer war der Boden so glitschig, daß sie wiederholt stürzten. Eva hatte sich den Fingerknöchel blutig gequetscht und führte ihn zum Munde, um den brennenden Schmerz zu lindern. Doch wie seltsam – das schmeckte ja salzig!

Und in der Tat: die weißen, feuchtschimmernden Zapfen in dieser Grotte bestanden nicht aus Kalkstein, sondern aus Salz. Peters Axt räumte unter den Zapfen auf. Dann trugen die beiden Höhlenforscher eine Ausbeute des kostbaren Gewürzes heim, in einer Reinheit, die sie entzückte.

Der Verbindungsgang zu den Grotten wurde nicht mehr vermauert, nur eine gut abgedichtete Gittertür wurde sorgsam eingefügt. Und Peter nahm sich vor, den Weg zur Salzkammer im Berge durch Gangsteine und Stege bequemer zu machen. Das gab Arbeit für die nächsten Wochen.

Sonnwendfeuer

Wie Eva erwartet hatte, war Peter nicht mehr so rauh und jähzornig, seit er mit ihr vor Beginn des Tagewerkes seine Gedanken sammelte. Er mußte Evas laut und innig gesprochene Gebete mitdenken, in denen sie gute Eingebungen erflehte und der Verstorbenen gedachte, die bei Gott weilten.

Zum Grübeln über das Geheimnisvolle hatte Peter wenig Neigung. Sein Denken war mehr aufs Schaffen gerichtet. Es galt, die kürzer werdenden Tage auszunützen. Weil es sich mit dem Drillbohrer leichter und rascher arbeiten ließ, machte es ihm Freude, die Stiele seiner Waffen und Werkzeuge zu durchlochen und Hängeriemen durchzuziehen. Immer wieder kehrte er zum langsam fortschreitenden Steinbohren zurück. Auch er bohrte nicht mehr mit der eingeschäfteten Steinspitze, sondern mit vorbereiteten Quarzsplitterchen, die sich unter dem Druck der harten Randschicht des Holunderstabes in den Serpentin einfraßen.

Endlich, als die Sonne schon nahe am Winterhorn unterging, war Peter mit seinem Bohrer durch den Beilstein gekommen. Die neuartige, schöne Steinaxt, in deren Öhr er einen gut ausgetrockneten Hartriegelstab schattete, war fertig, ein Ereignis, das ihn mit unsagbarer Freude erfüllte. Das mußte gefeiert werden!

Eva meinte, die Feier könnte am besten an dem Tage stattfinden, an dem die untergehende Sonne die Spitze des Winterhorns berühren würde; denn von da an müßte sie sich wenden und sich wieder der Henne nähern, dem Markstein der Frühlings-Tagundnachtgleiche.

Der Tag kam, ein frostiger Wintertag. Peter und Eva schichteten vor dem Räucherofen auf der Salzleiten einen Holzstoß auf, dessen Lohe den sinkenden Sonnenball grüßen sollte. Und so kam ihr erstes Sonnwendfeuer zustande. Seine lodernden Flammen röteten alle Hänge des Heimlichen Grunds. Die Felswände nahmen das Jauchzen der Höhlensiedler auf, warfen es einander zu, als freuten sie sich mit den beiden Menschenkindern, die knisternde Wacholderfackeln um ihre Köpfe wirbelten in der Vorahnung besserer Lebensbedingungen.

Der Bastgürtel

Eva streifte oft, nach Wurzeln, Kräutern und Erdbeeren suchend, allein im Heimlichen Grund umher. Auf ihren Wanderungen, auf denen ihr immer wieder äsende Rehe neugierig, aber ohne Furcht, und auch Bären nachäugten, gelangte sie bis zum Moor. Hier fand sie zwischen blühenden Dotterblumen junges Riedgras in Menge. Mit ihren schwieligen Händen zog sie die scharfkantigen Halme aus dem lockeren Boden und aß die unteren bleichen Enden; sie schmeckten süßlich. Auch die saftigen Stengel von Bocksbart und Sauerampfer verschmähte sie nicht. Aber ordentlich satt wurde sie erst, wenn sie sich daheim aus Wildgemüse, zerquetschten Kastanien und zerschnittenem Speck Mus bereitet und es warm genossen hatte.

Inzwischen waren Narzissen und Rasenlande des Moores erblüht, und der Wind trug ihren süßberauschenden Duft herbei. Auch die blauen Glockenblüten der wilden Akelei begannen sich zu erschließen. Von ihren Gängen brachte Eva immer auch Blüten in ihr einsames Heim; vor den Ahnenbildern gingen die Blumenopfer nicht aus.

Eva war selbständig geworden; sie ging auch dann nicht zu Peter, wenn der Rauch seines Lagerfeuers verriet, daß er sich vom frisch erlegten Wild eine Mahlzeit bereitete. Ihr war es ein Greuel, daß er Muttertiere tötete und aß. Er konnte nicht begreifen, warum Eva plötzlich so fremd und abweisend war. Um sie zu versöhnen, brachte er ihr das Beste, was er besaß: frisches Fleisch. Als sie ihn aber immer wieder schroff zurückwies, ging er seiner Wege; ja, er legte sich unter einem überhangenden Glimmerschieferblock der Moorleiten eine zweite Schlaf- und Feuerstelle an. Zur Höhle kam er jetzt wochenlang nicht. Und hätte nicht Eva die Striche im Steinkalender gemacht, sie hätte nicht einmal gewußt, wann Sonntag war.

Sooft sie Peter begegnete, wurde sie von seiner zunehmenden Unsauberkeit angewidert. Das angetrocknete Blut an seinen Händen, an den Steinwaffen, an seinem Lendengürtel ließ sie, ob sie wollte oder nicht, an getötete Tiermütter denken; es war ja Frühlingszeit, Rehe und Wildhühner hatten Junge!

Der große Bastvorrat reizte Eva, sich an ihre Flechtarbeiten zu machen. Gelbe Bastbündel fluteten, von einem Stein festgehalten, im Bach unter dem Gesträuch am Sonnstein. Hier schlug sie ihre Werkstatt auf. Bald merkte sie, wie schwer es war, aus freier Hand ein größeres Gewebe zu flechten. Sie sah sich suchend um und fand – ohne zu ahnen, welch großen Fortschritt sie damit machte – in dem waagerecht von einem Stämmchen abstehenden Zweig ein geeignetes Werkzeug, das ihr die hängenden Fäden festhalten sollte, damit sie die Hände zum Einflechten der Querfäden freibekam. Den Lendenschurz wollte sie zuerst machen, bis zu den Knien sollte er reichen.

Es ging langsam. Die nicht gespannten Fäden verwirrten sich immer wieder, und das Entwirren hielt auf. Als Eva abends ihr Lager aufsuchte, wurde auch sie, wie sonst Peter, vom Denkfieber des Erfinders gepackt. Sie mußte noch dahinterkommen, wie sie die Fäden am Verwirren hindern konnte! Endlich schlief sie ein und beschäftigte sich auch im Traum mit dieser Schwierigkeit. Beim Erwachen am frühen Morgen war es ihr, als sei ihr im Schlaf eine Lösung eingefallen.

Im Licht der aufgehenden Sonne stand Eva vor ihrem einfachen Gerät und band, wie sie es im Traum getan hatte, längliche Steine als Gewichte an die Enden der Fäden. Es war nicht leicht, sie so aufzuhängen, daß sie sich nicht aneinander und an den Fäden rieben; aber schließlich hingen alle Fäden senkrecht. Mit der Linken hob sie jeden zweiten Faden und führte mit den Fingern der Rechten den Querfaden abwechselnd darunter und darüber. Anfangs schob sie die Querfäden mit den Fingern dichter zusammen, bald aber fand sie in einer dreifach geteilten Zweiggabel ein besseres Werkzeug. Sooft sie einen Querfaden aufgebraucht hatte, knüpfte sie den nächsten daran. So ging das eine Weile, aber auch wieder viel zu langsam, wie Eva fand. Freilich wäre die Matte recht dicht geworden, aber die Flechterin wurde so ungeduldig, daß sie die Längsfäden abknüpfte, als sie einen kaum drei Finger breiten Gürtel geflochten hatte. Ihr war ein neuer Gedanke gekommen: Sie knotete die Fäden kreuzweise, das ging schneller und ergab eine Art Netz. Dichtmachen wollte sie sie später durch eingezogene Bastbänder. Jetzt ging die Arbeit ungehemmt vonstatten, schnell und schneller knüpften und flochten die Finger.

Eva war glücklich, daß ihr das Werk so gut von der Hand ging. »Gidlio – gidlio«, flötete ein Pirol. Ein Kuckuck rief, ein anderer gab Antwort. Rotschwänzchen und Drosseln, Amseln und Wasserschmätzer sangen und pfiffen um die Wette. Inmitten dieses Maienjubels saß Eva an ihrem ersten Webstuhl und sah ihr Werk wachsen. Sie war so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Ziegenmilch

Peter holte Eva zu Hilfe. Er fesselte die Geiß, wälzte sie auf ein Rehfell und zog sie über eine aus Erdschollen hergestellte schiefe Ebene aus der Grube. Dann band er sie auf einer aus Ästen angefertigten Tragbahre fest. Als Evas Kräfte unterwegs versagten, handhabte er die Bahre wie einen Schlitten und ließ sich nur beim Umladen aufs Floß und beim Abladen daheim helfen. Während er um das gebrochene Bein des Tieres einen kühlenden Umschlag aus gequetschten Huflattichblättern legte und es dann mit Stäben und Bastfaden schiente, labte Eva die willenlose Scheckin mit Salzwasser, machte ihr ein weiches Lager in ihrer eigenen Stube zurecht und beeilte sich, Grünfutter zu besorgen. Am nächsten Tag schmiedete Peter für Eva ein Grasmesser mit flachem Stiel, den er in einen Stab schäftete, und für die Geiß baute er an der Vorratshütte ein Schutzdach. Später wollte er es durch Wände aus Flechtwerk und Lehmbelag zum Stall ergänzen.

Erst am zweiten Tage ließ sich das von Hunger gepeinigte Tier von Eva bewegen, etwas Grünfutter aufzunehmen. Von diesem Augenblick an legte es die Scheu vor der Pflegerin ab, die sich viel in ihrer Nähe aufhielt und an einem Tragkorb flocht. Sie sprach mit dem kranken Tier vom Gesundwerden, von dem vielen Heu und von den getrockneten Baumzweigen, die es im Winter bekommen werde. Eva zweifelte keinen Augenblick daran, daß die Scheckin verstand. Langsam genas die Geiß, humpelte aber, denn das gebrochene Bein war klumpig zusammengewachsen.

Eine Woche vor der Sommersonnenwende brachte die Scheckin zwei Junge zur Welt, von denen eines nackt, verkümmert und tot war. Das andere aber, ein fast schwarzes Böcklein, war schon am Tage seiner Geburt ein kräftiges Kerlchen. Da es keine Spielgenossen hatte, stieß »Schwärzel« mit seinen kurzen Hornstummeln die gute Eva und hatte es bald auch auf Bläff abgesehen, die ihm mit gespieltem Ernst entgegenbellte. Eva schüttelte sich vor Lachen, wenn Schwärzel mit allen vier Beinen zugleich die Tür ihrer Hütte ansprang, dann seitlings davonhopste, plötzlich wie angewurzelt stehenblieb und mit gesenktem Kopf zu ihr hinauf schielte.

Bei seinem Spielen, Springen und Hüpfen kam Schwärzel oft so gefährlich nahe an das Randgeländer des Pfahlplatzes, daß Eva von Peter eine höhere Umzäunung verlangte. Doch während Peter noch das Stabholz für den Schutzzaun zusammensuchte und herbeischaffte, geschah das Unglück.

Als Eva eines Tages auf der Triftleiten Grünfutter gesichelt hatte und mit hochbeladenem Floß heimfuhr, sah sie unterhalb des Pfahlbaus etwas Dunkles regungslos in der Strömung treiben – es war das ertrunkene Böcklein. Wohl fuhr sie ihm nach und zog es auf das Floß; aber kein Streicheln, kein Kosewort rief das Tierchen ins Leben zurück, das noch am Morgen sich so übermütig seines Daseins gefreut hatte. Eva tat der Tod des fröhlichen Tierkindes bitter weh, und sie fühlte Mitleid mit der klagenden Mutter.

Peter ging der Verlust nicht so nahe. Es war ja nur ein Böcklein gewesen; sein Fell war brauchbar, und das Fleisch gab für einige Tage Hundefutter und Fischköder ab. Die Milch des Muttertieres aber kam jetzt ihm und Eva zugute. Er zeigte auf das pralle Euter der Scheckin: »Eva, du mußt der Geiß die Milch abmelken, sonst tut ihr das Euter weh – ich zeig‘ dir, wie.« Dann holte er eine Schale. Kaum hatte seine Hand das Euter berührt, da machte die Geiß eine blitzschnelle Wendung und stieß ihm beide Hörner gegen die Brust. Fast gleichzeitig schlug sie mit den Hinterbeinen aus und zerrte am Riemen.

Erst als er sie an der Hüttenwand kurzgebunden hatte, konnte er sie melken. Mit der ersten Milch, die er in die hohle Linke molk, wusch er ihr nach Hirtenbrauch das Euter. Nach und nach beruhigte sich die Scheckin; sie spürte die Erleichterung und ließ Peter gewähren. Noch immer traurig, weigerte sich Eva, von der Milch zu kosten. Peter aber trank die Schale in langen Zügen leer. Und während er trank, stiegen neue Hoffnungen in ihm auf. Wieder und wieder wollte er List und Arbeit daran wenden, Wildziegen zu erlangen. Eine Herde wollte er aufziehen, ein reicher Hirte werden, Milch und Fleisch und Felle im Überfluß haben! Da mußte Eva doch wieder froh werden!

Gold, Lüge, Leid

Fast eine Woche lang rief die Tiermutter nach ihrem verlorenen Zicklein, dann hörte sie auf. Sie gewöhnte sich daran, ihre Milch, die immer wieder das Euter füllte, von Peter abmelken zu lassen. Auch Eva beruhigte sich so weit, daß sie sich entschloß, ebenfalls von der Milch zu genießen – ja, sie übernahm sogar das Melken, und ihr machte die Geiß keine Schwierigkeiten. Sie spürte, daß dieses Wesen es von Herzen gut mit ihr meinte. Zeitweise war Eva von einer Traurigkeit, die für Peter etwas Bedrückendes hatte. Fragte er sie in seiner rauhen Art: »Was hast du denn? Fehlt dir was?«, erhielt er keine Antwort. Verletzt wandte er sich ab und verbiß sich in seine Arbeit.

Über den Ereignissen der letzten Woche hatte er den Töpferofen vergessen. Als er ihn aufräumte, fand er ganz oben, über mißratenem, geborstenem und beim Brennen verbogenen Rohgeschirr einzelne Töpfe und Schüsseln, die ungleichmäßig mit einer glänzenden, harten Schicht von goldbraunem Schmelz überzogen waren. Also hatte Eva Salz in den Ofen getan, wie er es vorgehabt, aber versäumt hatte! Vergnügt eilte er zu ihr: »Eva, das mit dem Salz war ein guter Einfall von dir.« Doch sie gab fast gleichgültig zurück: »Du wirst es besser können.« Entschlossen, diese Erfindung sobald wie möglich noch vollkommener zu machen, brachte Peter den Ofen wieder in Ordnung und bat die Gefährtin, neue Geschirre zu formen.

Wo er ging und stand, was er auch arbeitete, immer rätselte er an Evas sonderbarem Wesen herum. Er konnte es sich nicht erklären. Und wieder fielen ihm die Goldkörner ein, aus denen er Sonne, Mond und Sterne zu einem Halsschmuck für sie schmieden wollte. Und wenn sie sich dann freute, wollte er sie in seine Arme schließen und ihr sagen, daß er sie lieb hatte. Voll Zuversicht suchte er seine Pfahlhütte beim Moorbach auf, aus der ihn damals die Baumschlange vertrieben hatte. Er tastete die Stelle ab, wo er das Gold verborgen wußte: Es war nicht mehr da! Weiter suchte er, auch an den unmöglichsten Stellen: Das Gold war nicht mehr da! Sollte Eva …?

Er suchte sie vor ihrer Hütte auf, wo sie gerade am Webstuhl arbeitete. Zaghaft wie noch nie wählte er seine Worte, er wollte ihr nicht wehe tun. Nach langem Hin und Her fragte er endlich: »Eva, sag, hast du das Gold genommen?« In jähem Schreck ließ sie die Webnadel fallen und starrte den Fragenden an. Ihre erste Eingebung, einfach »ja« zu sagen, verwarf sie aus Angst vor Peters Zorn. Peter drängte: »Hat’s dir die Red‘ verschlagen? Brauchst nur mit dem Kopf zu nicken. Hast du es oder hast du es nicht?« Er wollte nicht hart mit ihr sein, aber ihr Schweigen reizte ihn. Hochaufgerichtet stand sie vor ihm. Ihre Augen drängten sich aus den Höhlen, ihre Nasenflügel bebten, und ihre Lippen waren fest aufeinandergepreßt. Da packte er sie mit seinen rußigen Händen an beiden Schultern und schüttelte sie. Eva ballte die Fäuste, und heiser brachte sie die Worte hervor: »Ich hab’s nicht, und du kriegst’s nicht.«

Da stieß er sie von sich, der Webstuhl fiel polternd um: Die Türe zu ihrer Stube war frei. Er durchwühlte ihr Lager, riß den lehmigen Bodenbelag auf. Nicht einmal von den Herdmauern ließ er Stein auf Stein. Als er endlich, mit Staub und Asche bedeckt, Evas Stube verließ, entschlossen, ihr, wenn es sein mußte, mit Gewalt zu entreißen, wo sie das Gold verborgen hatte, da war Eva nirgends zu sehen. Er suchte sie im Vorratshaus, sogar in seiner eigenen Hütte und fand sie nicht. Jetzt begann er zu rufen, zu schreien: »Eva! Eva!« Nur das Echo, von den fernen Felswänden zurückgeworfen, gab Antwort. Ein furchtbarer Gedanke ließ ihn über den Zaun des Pfahlhofes hinausschauen auf die klare Flut des Moorwassers, wo das Böcklein ertrunken war. Wie ein Gehetzter umkreiste er die Siedlung. Sein Zorn war verflogen. Klagend, bittend klang sein Ruf über den See: »Eva! Eva! Komm doch, ich tu‘ dir nichts – ich hab‘ dich ja lieb!« Vor Evas Hintertür kauernd, starrte er hinab zum Wasser. Schwärme von Jungfischen zogen an der Oberfläche dahin, ihre schlanken Leiber glitzerten im Sonnenschein. Ringsum Stille. Da fiel ihm auf, daß Evas Binsenfloß, das gewöhnlich am Steigbaum angebunden war, am Ufer drüben festlag, wo der Torfboden zur Triftleiten anstieg. Jetzt wußte er, daß Eva geflohen war. Bläff, ihre stete Begleiterin, war auch nicht mehr da. Peter schnellte empor, sprang auf sein eigenes Fahrzeug und stieß mit seinem langen, eisenbeschlagenen Speer, der noch vom letzten Jagdgang darauf lag, vom Pfahlbau ab. Ein kräftiger Wind von der Klamm herüber legte sich ihm in den Rücken und beschleunigte seine Fahrt.

Kaum nahm er sich Zeit, sein Floß neben dem Evas festzupflocken, da begann er den Boden nach Spuren abzusuchen. Er fand niedergetretene Grasbüschel. Wie gehetzt eilte er über den Lehmdamm, der den Moorsee vom Klammbachsee trennte, aufwärts. Die Spuren führten zum Moorbach. Unsicher, wie weit sie im Wasser gegangen sein mochte, hielt er Umschau und rief, beide Hände am Mund, mit aller Kraft: »Eva – Eee-va!« Der Wind schlug ihm seine langen, schwarzen Haare um das Gesicht und riß ihm die Worte vom Mund. Das größere Floß, auf dem er den Klammbachsee zu überqueren pflegte, lag unberührt zwischen dem Schwemmholz der Trift. Über den See war Eva nicht geflohen. In der Meinung, sie sei im Bach weiter aufwärts gewatet, lief er, immer wieder rufend, bis zu der Stelle, wo der Moorbach aus der Kalkhöhle trat und über das mit Algen und Moos bedeckte Urgestein als dünner Wasserfall niederplätscherte. Hier suchte er den mit Gras, Farn und Stauden bewachsenen Geröllboden nach Spuren ab – vergeblich.

Da kam die alte Einäugel, triefend naß, aus dem Dickicht. Sie war durch den Moorsee ihrem Herrn nachgeschwommen und seinen Spuren gefolgt. Jetzt schüttelte sie sich das Wasser aus dem Pelz und sah ihn fragend an.

Er trieb die Füchsin an: »Geh, Einäugel, such, such!« Und Einäugel begann zu suchen, kam aber mit hängender Lunte sichtlich verwirrt wieder zu ihrem Herrn zurück. Jetzt drängte sich Peter aufs Geratewohl durch das Gewirr von Haseln, Brombeeren und Waldreben, das den Laubwald bis zur Sonnleiten säumte. Eine Sandviper, die er unterwegs aufscheuchte, übersprang er und stürmte fort. Immer wieder ließ er seinen Ruf erschallen: »Eva! Eva!« Sie mußte ihn längst gehört haben! Da regte sich der Zorn in ihm. Verbissen brach er durchs Gestrüpp. Und schließlich verfiel er auf den Gedanken: Wenn Eva nicht antworten will, ihr Hund soll sie verraten! Er durchquerte den Wald, pfiff schrill und rief immer wieder: »Bläff! Bläff! Komm her! Bläff, komm her!« Endlich vernahm er ein heiseres Bellen. Es klang so fremd, so ängstlich, so ganz anders als das Gekläff, mit dem Bläff ihn zu begrüßen pflegte, wenn er von der Jagd heimkehrte. Peter ahnte drohende Gefahr. Von Angst gehetzt stürmte er dahin, dem Gekläff nach.

Bis zu den Knöcheln im Moor des Waldbodens versinkend, arbeitete er sich mit seinem Speer von einem liegenden Baumstamm zum anderen. Da – was war das? Ein markerschütternder Schrei zerriß die schwüle Luft des Urwalds – es war kein Wort, es war ein gellender Hilferuf! Dann aber klang es deutlich herüber: »Pe-ter Pe-ter!« Springend und stolpernd erreichte er die Lichtung, wo er vor Jahren die ersten Holzbirnen gefunden hatte. Da sah er hoch oben in der Baumkrone eines wilden Birnbaumes Eva auf einem dünnen Ast stehen, der sich unter ihrer Last bog. Mit gestreckten Armen hing sie am Geäst, und in bedrohlicher Nähe löste sich die Gestalt eines Bären vom Stamm. Vermochte das schwere Tier Eva auch nicht zu erreichen, es mußte sie zum Absturz bringen, wenn es ihm gelang, den Ast niederzubiegen oder zu knicken.

Da sprang Peter vor mit dem Ruf: »Eva, halt dich fest!« Weit ausholend schleuderte er den wuchtigen Speer. Die spitze Waffe drang zwar dem Raubtier in die Weichteile, glitt aber im nächsten Augenblick, der eigenen Schwere folgend, zu Boden. Der verwundete Bär brüllte auf und fiel seitlich ins Gras. Während Peter nach seinem Speer griff, erhob sich auch sein Gegner auf die Hinterpranken und warf sich auf ihn. Das Messer in der Faust, jeden Muskel seines gedrungenen Körpers gespannt, rang Peter verzweifelt mit dem Bären. Im nächsten Augenblick saß eine Klinge zwischen den Rippen des Raubtieres, das im Fall den Jäger unter seiner Körperlast zu Boden drückte. Die Fangzähne des zu Tode Verwundeten drangen durch das Fellkleid in die Brustmuskeln seines Gegners, während sich die Krallen der Vordertatzen ins Fleisch seiner Oberarme bohrten. Peters Rechte löste sich vom Messergriff und sank schlaff herab. Die Augen starr emporgerichtet, schaute er zur Baumkrone auf. Er suchte Eva. Da sah er die schlanke Gestalt niedergleiten, von Ast zu Ast, das blasse Gesicht umweht vom fliegenden Haar. Gleich darauf fühlte Peter, daß der schwere Leib des Bären sich von ihm abwälzte. Eva bohrte die lange Speerspitze tief in die Brust des Braunen, der sich vergeblich gegen sie zu wenden versuchte.

Erst als das Leben des Bären entwichen war, ließen Evas Hände den Speerschaft los. Peter lag regungslos; Blut quoll ruhig, aber stetig aus seinen Wunden und sickerte ins Moos. Mit bebenden Händen durchsuchte Eva Peters Gürteltaschen: Sie räumte sein Schlagfeuerzeug heraus, grobe Hornsteinsplitter und einen Funkenstein, eingewickelt in einen handtellergroßen Lappen Feuerschwamm. Den zerzupfte sie und drückte die Läppchen zwischen die Ränder der einzelnen Wunden. Das Blut hörte auf zu fließen. Matt lächelnd schaute der Verwundete dem Mädchen ins Gesicht. Was er mit goldenem Geschmeide hatte erreichen wollen, das war ihm in höchster Lebensgefahr geworden: Eva war ihm wieder gut! – Mit diesem Gedanken schlummerte Peter ein. Und Eva schob ihm sachte einen Armvoll Gras unter den Nacken und ließ ihn schlafen. Ehe sie wegging, um aus ihrer Pfahlhütte Verbandzeug zu holen, zündete sie ein Schutzfeuer an und befahl beiden Hunden, bei ihm zu bleiben.

Bald kehrte sie zurück, bestrich weichgeklopften Buchenschwamm mit frischem Fichtenharz und legte die Lappen auf die Wunden. Dann stellte sie einen mitgebrachten Napf Milch auf drei Steine, machte Feuer darunter, rührte Schwadenschrot ein, kauerte sich zu Häupten des Schlafenden und lauschte seinen ruhigen Atemzügen. Als Eva den Breitopf vom Feuer nahm, ließen die Hunde vom Bären ab, an dessen Blut sie geleckt hatten, und setzten sich erwartungsvoll zu ihr. Eva aß langsam und achtete nicht auf die bettelnden Blicke der beiden. Als nur noch wenig vom Brei übrig war, ging Bläff die Geduld aus, laut kläffend verlangte sie ihren Teil am Mahle. Da schlug Peter die Augen auf und bat um Wasser. Eva schüttete den Rest ihres Breies den Hunden ins Gras, lief mit dem Napf zum Moorbachfall und brachte Wasser. Peter trank gierig und versuchte aufzustehen. Nur mit Evas Hilfe gelang es ihm. Von ihr um die Hüfte gefaßt, legte er schwankend den Weg zum Floß zurück. Und als sie ihn in seiner Wohnstube zu Bett gebracht hatte, fiel er in den tiefen Schlaf der Erschöpfung.

Versöhnung

Als Peter erwachte, fand er sich auf seinem gewohnten Lager, bis zum Hals zugedeckt mit einer Bastmatte, die mit weichem Rehfell gefüttert und am Rande sauber umnäht war. Schwer lag sein Kopf auf einem Polster aus zusammengenähten Buchenschwammlappen. Das Morgenlicht fiel durch die offene Fensterluke in seine Stube, die ihm heute viel geräumiger erschien als sonst. Leuchtende Sonnenstäubchen tanzten im schrägen Strahlenbündel. Im warmen Lichtfleck auf dem Fußboden schlief die alte Einäugel und zuckte mit den Pfoten. Sie träumte wohl von fröhlicher Jagd. Mitten in der Stube lag Schnapp und nagte am Knorpelkopf eines Röhrenknochens.

Langsam ließ Peter seine Blicke durch den Raum schweifen. Der Lehmboden war reingefegt, das Durcheinander seines Allerleis, über das er sonst ungerührt stolperte, war verschwunden. Hölzer, Steine, Metallklumpen, Scherben und Knochen lagen, Gleiches bei Gleichem, zu Haufen geordnet, an der Wand. Neben seinem Lager stand ein großer, rostfarbig glasierter Napf; und in der Ecke am Fußende seines Lagers lehnte sein Jagdgerät.

Eva hatte hier aufgeräumt wie einst in der Wohnhöhle. Wo war sie? Er versuchte, sich auf den Ellbogen aufzurichten. Ein qualvolles Zerren und Spannen in den Oberarm- und Brustmuskeln ließ ihn stöhnend zurücksinken. Er war ja verwundet. Ja – der Bär hatte ihn unter sich gehabt. Da schob er trotz der Schmerzen, die ihm jede Bewegung verursachte, die Bastmatte von seiner Brust. Und da fand er sie beklebt mit Lappen aus Buchenschwamm, die nach Fichtenharz dufteten. Matt schloß er die Augen und lauschte dem leisen Schlag der Wellen, die ein sanfter Wind gegen die Pfähle der Hütte trieb. Wie hatte Eva ihn nur heimgeschafft? Seine Gedanken verwirrten sich, er schlief wieder ein, und im Traume sah er sie hochaufgerichtet am Vorderende des Floßes stehen und fühlte sich sanft gewiegt vom ab und auf wippenden Floß.

In Wirklichkeit kniete Eva am Kopfende seines Lagers. Mit angehaltenem Atem hatte sie das Erwachen und Wiedereinschlummern des Verwundeten beobachtet. Jetzt schlich sie auf den Zehenspitzen aus dem Raum, melkte die Ziege und näherte sich wieder dem Lager des Kranken. Lautlos stellte sie die Milchschüssel auf den Boden und kniete am Kopfende nieder. Erst wollte sie abwarten, bis Peter wieder erwachte, als er aber im Schlaf unruhig wurde und, mit schwerer Zunge lallend, angstvoll ihren Namen rief, da beugte sie sich über ihn und strich ihm die langen schwarzen Haare aus der Stirn. Ein Zittern lief über den Körper des Schlafenden, seine Augenlider flatterten, als wollten sie sich öffnen, dann wurde er wieder ruhig. Geduldig kauerte Eva neben dem Lager des Träumenden. An der Genesung des Verwundeten zweifelte sie nicht. Als sie eine Fliege verjagte, die sich auf Peters Stirn niedergelassen hatte, versuchte er von neuem, die Augen zu öffnen. Es gelang. Sein Blick fiel auf Eva, die errötend und lächelnd vor ihm stand. »Eva, bis du’s?« begann er zu flüstern, »jetzt ist alles gut!« Da sagte sie leise: »Ja, Peter, alles ist gut, und ich bin dir auch gut.« Sie umklammerte seine Rechte mit beiden Händen und fuhr eindringlich fort: »Verzeih du mir, ich verzeihe dir alles, alles, und nichts mehr soll zwischen uns kommen; was mein ist, sei dein, was dein ist, sei mein. Ich danke dir mein Leben, und du dankst mir dein Leben. Wir sind die einzigen Menschen im Heimlichen Grund, und wir wollen einander liebhaben bis zum Tode. Hörst du, bis zum Tode!« Große Tränen rollten über Peters Wangen in den weichen, dunklen Bart. Er preßte ihre Finger und sprach nach: »Ja, bis zum Tode.«

Müde schloß er die Augen. Sie aber zog die Milchschale heran, schob ihren linken Arm um Peters Nacken, hob seinen Kopf und führte mit der Rechten vorsichtig den bis zum Rand gefüllten Löffel an seine Lippen. Er schlürfte die noch laue Milch. In Evas Art, ihn zu betreuen, lag so viel mütterliche Zartheit und Strenge, daß er dankbar nachgab.

Als Peter satt die Lippen schloß und Eva den müde gewordenen Arm unter seinem Nacken hervorzog, sank er in tiefen Schlaf und träumte seit vielen, vielen Jahren zum erstenmal wieder von seiner Mutter. Wie seltsam, daß sie Evas Züge trug! Leise schlich seine Pflegerin aus der Stube, frisches Futter für die Scheckin zu holen.

Als sie wieder eintrat, fand sie Peter bewußtlos neben der Falltür in der Mitte der Stube. Bei ihrem Versuch, ihn aufzurichten, kam er zu sich und verlangte heftig, sie solle gehen, fort, fort, und den Bären suchen, der ihm die Kraft aus dem Leibe genommen hatte. Das Herz des Bären wolle er haben, essen wolle er es; darin waren ja die Kräfte des starken Feindes.

Eva, die den Aberglauben des Verwundeten teilte, beeilte sich, seinen Wunsch zu erfüllen. Aber erst nachdem sie Peter zu Bett gebracht hatte, konnte sie den Pfahlbau verlassen. Es kostete sie schwere Mühe, das dicke Fell des Bären zu schlitzen und seinem Brustkorb das Herz und die Lunge zu entnehmen. Das Abhäuten mußte sie auf den nächsten Tag verschieben. Während sie über die abendliche, mattleuchtende Fläche des Moorsees heimwärtsfuhr, war ein großer Jubel in ihr. Sie brachte ja das Heilmittel, das Peter seine Kraft zurückgeben sollte. Und sie überlegte, wie sie das Herz des Bären feingeschnitten mit Gundelkraut, wildem Kümmel, Salz und Schwadenkornschrot zubereiten und in duftender Tunke ihm vorsetzen wollte.

Als sie mit der Ampel an Peters Lager trat, schien er sie gar nicht zu sehen. Seine glänzenden Augen schauten an ihr vorbei, seine Wangen glühten, und seine Lippen murmelten Unverständliches. Während Eva das Bärenherz zubereitete, suchte ihre angstgepeinigte Seele Zuflucht bei der Ahnl und beim Allmächtigen.

Als sie mit dem Essen an Peters Lager trat, kehrte sein Bewußtsein zurück. Während er noch am ersten Bissen kaute, mahnte er: »Iß auch du, Everl, und gib der Einäugel was und auch dem Schnapp. Wir alle brauchen es.« Dann wurde er still und schlief lächelnd ein. Evas Nähe tat ihm wohl.

Sie wachte die ganze Nacht am Lager des Kranken. Und während sie seinen gleichmäßigen Atemzügen lauschte, erstarkte ihre Zuversicht, daß er in ihrer Obhut gesunden werde. Auf die stillen Wochen, in denen der Genesende ihrer Fürsorge bedurfte, baute sie die Hoffnung, daß es ihr gelingen werde, ihn so zu machen, wie sie ihn haben wollte.

Und dann, wenn er gesund war, wollte sie ihn ins Heiligtum ihrer alten Wohnhöhle führen. Dort wollte sie vor Gott feierlich das Gelöbnis wiederholen, das sie beide nicht mehr vergessen sollten: »Wir wollen einander gut sein bis zum Tode.«

Flechtnadel

Erst am dritten Tag war Eva mit dem Grundgeflecht ihres Lendenschurzes fertig. Es war leider nicht sehr dicht geworden; dem half die Weberin ab, indem sie breite Baststrähnen durch das Geflecht zog. Es war ein richtiger Rock geworden, der bis unter die Knie reichte, wo jeder Bastfaden mit einem Knoten abschloß. Als Eva ihr neues Kleidungsstück zum erstenmal anlegte, scheuerten die Knoten so stark, daß sie diese mit einem Stein flach- und weichklopfen mußte.

In der Höhle, in die sie sich vor einem Platzregen geflüchtet hatte, trug sie wieder ihren alten Fellschurz, dessen Haarseite fast kahl war.

Auch Peter mußte etwas Frohes erlebt haben. Mit vergnügtem Gesicht kehrte er im strömenden Regen heim und rief, als ob kein Verdruß zwischen ihnen stünde: »Everl, ich bring‘ dir was Gutes!« Bei der Erinnerung an das, was Peter im Frühling unter »etwas Gutes« verstand, erwiderte sie: »Behalt’s, ich mag’s nicht!« und ging in ihre Schlafkammer hinauf. Einschlafen konnte sie lange nicht. Sie hörte Peter am Herdfeuer herumstochern, Reiser knicken und auflegen; bald roch sie einen eigenartigen Bratenduft, den sie nicht kannte.

Aber ihr Eigensinn war stärker als ihre Neugierde. In Gedanken beschäftigte sie sich mit ihrer nächsten Aufgabe: Der Schultermantel mußte besser werden als der Rock. Sie dachte an die Schwierigkeit, die Querfäden mit den Fingern abwechselnd unter und über den Längsfäden durchzubringen. Und dann fiel ihr ein: Wenn ich den Faden durch eine Nadel zöge? Ließe er sich nicht leichter durchschieben als mit den bloßen Fingern? Im Halbschlaf träumte sie, sie säße vor der begonnenen Arbeit am Sonnstein. Plötzlich fand sie sich an einer verlassenen Feuerstelle mit einem leicht angekohlten Zweigstück in der Hand, das sie an einem Granitbrocken zu einer fingerlangen flachen Nadel zurechtschliff und mit einem Hartsteinbohrer durchlochte.

Dann schlief sie tief und traumlos bis zum Morgen. Frühzeitig strebte sie ihrem Werkplatz zu. Unterwegs fand sie an einer verlassenen Feuerstelle zu ihrer großen Verwunderung ein Zweigstück, das dem im Traume geschauten glich. Sie schliff und bohrte, bis die lange Webnadel fertig war, wie sie sich’s hatte träumen lassen.

Um die Längsfäden zu spannen, band sie nicht mehr Steine daran, das dauerte viel zu lange. Sie ersetzte sie durch länglichrund geformte Lehmgewichte, die sie an einem Ende durchlochte und in der Sonne trocknete. Am nächsten Tag war es soweit, mühelos ließen sich die Lehmklunker an die Fäden binden, und dann begann sie zu arbeiten, sehr hastig, um die verlorene Zeit hereinzubringen. Aber die neuen Fadengewichte waren spröde und zerbrechlich. Zwei davon, die etwas heftig aneinanderschlugen, brachen an der durchlochten Stelle auseinander und mußten doch wieder durch Steine ersetzt werden. Von da an arbeitete Eva sehr behutsam – und es ging. Der durch das Aufwickeln auf die Webnadel kurz gewordene Querfaden ließ sich flink über und unter die Längsfäden führen. Die locker eingelegten Querfäden schob sie mit einem groben Kamm von halber Armlänge zusammen; den hatte sie sich aus einem flachgeschabten Holzstück und daran festgebundenen Querstäben gebastelt.

Eva arbeitete bis zur Dämmerung. Erst hatte sie nur ein Schultermäntelchen machen wollen, jetzt aber war sie dabei, ein ärmelloses Leibchen herzustellen. Es sollte aus zwei Teilen bestehen, die über den Schultern so weit aneinandergenäht wurden, daß der Kopf hindurchging. Auch für die Arme mußten links und rechts breite Schlitze bleiben, unter denen das Vorderteil mit dem Rückenteil zusammengeheftet wurde. Nach zwei Tagen unverdrossener Arbeit war das Gewebe fertig, die Fransen des unteren Randes waren zu einem losen Maschengewebe kreuz und quer verflochten und mit Knoten abgeschlossen. Eva tauchte das Bastleibchen ins Wasser, klopfte dann alle Knoten flach und legte es an, feucht wie es war, zog und zupfte daran, bis es paßte, und überließ es ihrer Körperwärme, das neue Kleidungsstück am Leibe zu trocknen.

Vor lauter Arbeitseifer hatte sie in den letzten Tagen zuwenig gegessen. Von Hunger gepeinigt, redete sie sich ein, es müßten ja nicht gerade Muttertiere sein, die Peter oben briet, und lief quer über das Steinfeld dem Moorbach zu, wo sie Rauch aufsteigen sah. Unterwegs zog sie die verwelkten Blumen aus ihrem Stirnband und ersetzte sie durch große Maßliebchen. Am Moore angelangt, fügte sie weiße, duftende Narzissen hinzu. Es war hoher Mittag, schwer lag die Hitze über dem stillen Grund, kein Vogel ließ sich hören. Eine weiche Stimmung kam über Eva; sie machte sich Vorwürfe, daß sie Peter so schlecht behandelt hatte. Was wäre aus ihr im Winter geworden, wenn sie ihn nicht gehabt hätte? Grob war er ja, war er aber nicht auch gut? Wie er sie wohl aufnehmen würde, wo sie ihn unlängst so schroff abgewiesen hatte?

Am Moorbach aufsteigend, kam sie zu einer Stelle, wo zwei gerade Reihen von Stäben in schräger Richtung von beiden Ufern aus stromaufwärts zur Mitte des Baches führten und einen schmalen Durchlaß bildeten. Die Stabreihen waren mit Weidenruten so durchflochten, daß sich hinter dem Geflecht das Wasser schwach staute. Oberhalb dieser niederen Zäune war das Bachbett von groben Steinen gesäubert und ein kleiner, flacher Tümpel entstanden. Der wurde oben von einem Geflecht begrenzt, das das Bachbett quer absperrte. In diesem Geflecht staken Tannenzweige und beschatteten den Tümpel. Wozu das? Vom würzigen Duft brennender Wacholderzweige verlockt, wandte sie sich vom Bach ab und entdeckte im Schutz eines überhängenden Felsens ein qualmendes Feuer. Davor stand Peter mit einem aufgeschlitzten Fisch in der einen Hand, mit der anderen drückte er Spannhölzchen zwischen die Bauchseiten. Im Rauch hingen an Waldrebenranken eine Anzahl Forellen. Von ihnen ging jener eigentümlich appetitliche Duft aus, den sie sich nicht hatte erklären können.

Eva wartete, ob Peter sich umwenden würde. In seine Arbeit vertieft, sah und hörte er nichts. Als er aufstand, den Fisch salzte und quer durch die Kiemen auf die nächste Rute fädelte, trat Eva leise an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. Erschrocken fuhr er herum. Dann aber rief er freudig erstaunt: »Everl?« Mit einem Blick, der ihre ganze Erscheinung erfaßte, die Blumen im Stirnband, das neue Kleid, die vom Waten im Bach blendend rein gescheuerten Füße, rief er aus: »Schön bist, Everl!« Da packte sie ihn am Handgelenk: »Peterl, sei gut!« Er mußte lachen. Noch immer lachend, holte er eine braungeräucherte Forelle von der Rute herunter und hielt sie ihr hin: »Hast Hunger?« Und während sie den Fisch mit großem Appetit verzehrte, erzählte er von seiner Arbeit der letzten Tage. Auch ihn hatte es schließlich verdrossen, Muttertiere und Kitze oder brütende Vögel zu töten; ihm war es immer gewesen, als sähe er Evas zornige Blicke auf sich gerichtet. Statt dessen hatte er Forellen gefangen. Die schrien nicht auf, wenn er sie erschlug. Aber die Fische zu beschleichen und mit bloßen Händen unter den Steinen hervorzuholen, hatte sich wenig gelohnt. Da war er darauf verfallen, im Bach einen Verhau zu errichten, in den er, stromaufwärts schreitend, die Fische mit Ruten vor sich hertreiben konnte; im seichten, abgesperrten Wasser oberhalb der Reusen, wo sie sich unter dem Zweigdach zusammendrängten, war es dann ein leichtes, sie nacheinander abzufangen. Von einem Vorrat an geräucherten Forellen könnten sie an Regentagen und auch im Winter gut leben, meinte er. Als Eva fertig war, wusch sie ihre Hände mit Holzasche und Wasser, wischte sie am Moos ab und begann, von ihrer Flecht- und Webarbeit zu erzählen.

Sie sah mit Wohlgefallen, daß auch Peter, durch ihr Beispiel veranlaßt, in die Asche griff und seine fetten, rußigen Hände säuberte. Erst als er sie reingespült und im Moos getrocknet hatte, trat er an Eva heran und fuhr mit der Hand über das Bastgewebe. »Bist halt ein findiges, ein geschicktes Dirndl geworden. Ich hätt‘ die Flechterei nicht so schön zusammengebracht.«

Eva war glücklich. Ihr ging es wie ihm. Erst das Lob des anderen macht die Freude über eine Leistung vollständig. Sie wollte auch Peter ein Bastkleid anfertigen, das er wenigstens an Sonntagen anlegen sollte. Für die Wochentage, an denen er schwere und schmutzige Arbeit zu verrichten hatte, mochten seine schäbiggewordenen Fellkleider genügen. Eines Tages würde sie auch ihm ein schöneres Arbeitskleid machen. Ja, das wollte sie tun, Peter durfte nicht wieder verwildern.

Wie vor dem Streit saßen sie beim Abendessen schwatzend im Eingang der unteren Höhle. Staunend hörte Peter, daß Eva auf ihren Streifzügen wiederholt Bären begegnet war, die ihr nichts getan hatten, ihr nicht nachgegangen waren. So war das also: Ihm, dem Verfolger, dem Jäger mißtrauten sie auf Schritt und Tritt, und ihr, die mit den Tieren auf friedlichem Fuß lebte, taten sie nichts, wie merkwürdig … Als Eva in ihre Schlafkammer verschwunden war, kehrte er nachdenklich über das hellbeleuchtete Steinfeld zu seinem Lagerplatz zurück.

Drei Tage später suchte er Eva bei ihrer Weberei am Sonnstein auf. Er brachte ihr gebratene Fische und Kiebitzeier, die er auf dem Moor aufgelesen hatte. Sie arbeitete an einem Bastkleid für ihn. Während sie zeigen wollte, wie flink ihr die Arbeit von der Hand ging, schlugen wieder zwei Lehmklümpchen aneinander und zerbrachen.

Tags darauf brachte er ihr bessere Spanngewichte. Er hatte Schilfhalmstücke genommen und sie mit einem zähen Brei aus Lehmstaub, erhitztem Wachs und Harz umknetet und trocken werden lassen. Nun waren sie steinhart geworden. Jetzt konnte der Faden von unten her durch das Gewicht gezogen werden, das, lang und schmal geformt, wuchtig und unzerbrechlich auf dem Abschlußknoten saß. Eva freute sich, weil Peter sich die Mühe gemacht hatte, ihre Erfindung zu verbessern.