Erstes Buch. Nacht und Mond.

 

Erstes Capitel. Die Hafenglocke.

Das heutige St. Sampson ist fast eine Stadt, das St. Sampson vor vierzig Jahren war fast ein Dorf.

Sobald der Frühling gekommen und die Wintertage zu Ende waren, machte man daselbst kurze Abende und begab sich mit Anbruch der Nacht zu Bette. St. Sampson, früher ein Pfarrdorf, in welchem zu Abend geläutet wurde, hatte die Gewohnheit beibehalten, seine Lichter zeitig auszulöschen, und mit dem Tage aufzustehen und zu Bette zu gehen. Diese alten normännischen Dörfer glichen darin den Hühnern.

Außerdem besteht St. Sampson’s Bevölkerung mit Ausnahme einiger reicher Bürgerfamilien, aus Steinbrechern und Zimmerleuten, da sein Hafen ein Ausbesserungshafen ist. Während des ganzen Tages fördert man Steine oder richtet Balken zu; hier herrscht die Picke, dort der Hammer. Beständiges Bearbeiten von Eichenholz und Granit. Am Abend fällt man vor Ermüdung am und schläft wie Blei. Auf harte Arbeit folgt ein fester Schlaf.

Eines Abends, im Anfang Mai, betrat Mess Lethierry, nachdem er während einiger Augenblicke dem Aufsteigen des Mondes über den Bäumen zugesehen und Deruchette’s Schritt, welche auf Kosten der Nacht allein in dem Garten der Bravées spazieren ging, belauscht hatte, sein Zimmer am Hafen und legte sich zu Bette. Douce und Grâce schliefen schon, und – Deruchette ausgenommen – das ganze Haus. Ueberhaupt hatte sich schon Alles in St. Sampson hingelegt. Alle Thüren und Thore waren geschlossen, Niemand ging mehr in den Straßen. Einige wenige Lichter brannten wie blinzelnde Augen, welche sich schließen wollen, hier und da hinter den Dachfenstern und verkündeten das Zubettegehen der Dienstboten. Schon hatte es neun Uhr von dem alten, mit Epheu bedeckten, römischen Thurme geschlagen, der mit der Kirche zu St. Breade auf Jersey die Eigenthümlichkeit theilt, daß er als Jahreszahl vier Eins trägt: 1111, was so viel, als Elfhundertelf heißen soll.

Die Volkstümlichkeit von Mess Lethierry zu St. Sampson hing mit seinem Erfolge zusammen. Sobald die Erfolge aufhörten, hatte sich die Verlassenheit eingestellt. Die hübschen Söhne der Familie vermieden Deruchette. Die Einsamkeit um die Bravées war jetzt so groß, daß man hier nicht einmal das kleine und doch so große Localereigniß erfahren hatte, welches an jenem Tage ganz St. Sampson in Aufregung versetzte. Der Vorsteher der Pfarre, der ehrenwerthe Joe Ebenezer Caudray, war reich geworden. Sein Onkel, Seine Herrlichkeit der Dekan von St. Asaph, war so eben zu London verstorben. Die Postschaluppe Cashmere, welche an demselben Morgen von England angekommen war und deren Flagge man auf der Rhede des St. Peterhafens wehen sah, hatte diese Nachricht mitgebracht; der Cashmere sollte am Mittag des folgenden Tages nach Southampton zurückkehren und, wie man erzählte, den ehrenwerthen Vorsteher mit sich nehmen, der ohne Verzug nach England zur officiellen Oeffnung des Testaments gerufen wurde, ganz abgesehen von den andern Drängnissen einer großen, in Empfang zu nehmenden Erbschaft. Den ganzen Tag hindurch hatte St. Sampson nur davon gesprochen. Der Cashmere, der ehrenwerthe Ebenezer, der Tod seines Onkels, sein Reichthum, seine Abreise und die Möglichkeit seiner Beförderung für die Zukunft bildeten den Gegenstand aller Gespräche. Nur ein einziges Haus war davon nicht unterrichtet und nahm nicht Theil; das der Bravées.

Mess Lethierry hatte sich völlig angekleidet auf seine Hängematte geworfen.

Seit dem Unglück der Durande warf er sich stets auf die Hängematte. Der Gefangene streckt sich auf seine Pritsche aus und Mess Lethierry war der Gefangene seines Kummers. Er legte sich hin; dann trat Ruhe ein, – Erholung, – ein Stillstand in seinen Gedanken. Schlief er? Nein. Wachte er? Nein. In Wahrheit befand er sich seit zwei und einem halben Monate – es waren zwei und ein halber Monat seit dem Untergange der Durande verflossen – in dem Zustande eines Nachtwandlers. Er hatte sich noch nicht wieder gefaßt und lebte in jener Verwirrung und Zerstreuung, welche nur die kennen, welche große Bekümmernisse durchgemacht haben. Seine Betrachtungen waren keine Gedanken, sein Schlaf keine Ruhe. Am Tage wachte er nicht und Nachts schlief er nicht; am Tage stand er nur, in der Nacht lag er nur, das war Alles. Lag er auf seiner Hängematte, so kam etwas Vergessen über ihn und er nannte das Schlaf. Einbildungen durchflogen ihn, nächtliche Wolken voll verwirrter Gesichter durchschwirrten sein Gehirn; der Kaiser Napoleon dictirte ihm seine Erinnerungen, es gab mehrere Deruchetten, sonderbare Vögel lebten auf den Bäumen, die Straßen zu Lons-le-Saulnier wurden zu Schlangen. Das Alpdrücken faßte ihn mit Verzweiflung. Er brachte seine Nächte mit Träumen und seine Tage mit Dämmern hin.

Bisweilen blieb er den ganzen Nachmittag hindurch unbeweglich an seinem Stubenfenster, welches – wie man sich erinnern wird – auf den Hafen hinausging, mit gesenktem Kopfe auf beide Fäuste gestützt, die Ellbogen gegen die Stirne gedrückt, der ganzen Welt den Rücken zukehrend, das Auge auf den alten Eisenring geheftet, welcher in die Mauer seines Hauses einige Fuß von seinem Fenster eingelassen war und an dem sonst die Durande befestigt wurde. Er betrachtete den Rost, welcher diesen Ring allmälig überzog.

Er war zur reinen Maschine herabgesunken.

Es befand sich ein Widerspruch in dieser Natur; er bildete ein Gemisch wie das Meer, aus welchem er war, ja, dessen Geschöpf man ihn eigentlich nennen konnte. Mess Lethierry betete nie.

So lange er glücklich war, existirte Gott, so zu sagen, mit Fleisch und Knochen für ihn; er sprach mit ihm, verpfändete ihm sein Wort und gab ihm fast von Zeit zu Zeit einen Händedruck. Aber in seinem Unglücke verschwand Gott gänzlich, wie immer, wenn man sich einen guten Gott geschaffen hat, der ein guter Mensch ist.

In diesem Seelenzustande gab es für ihn nur eine angenehme Erscheinung, Deruchette’s Lächeln. Außer diesem Lächeln war Alles für ihn schwarz.

Seit einiger Zeit war, ohne Zweifel in Folge des Verlustes der Durande, dessen Schlag sie mitgefühlt hatte, dies reizende Lächeln Deruchette’s seltener geworden. Sie schien in Gedanken versunken, ihr kindliches Spielen und Kosen hatte aufgehört. Morgens sah man sie nicht mehr bei Tagesanbruch einen Knix machen und der aufgehenden Sonne ein fröhliches »Guten Morgen!« zurufen! oder ein »Bitte, treten Sie näher.« Auf Augenblicke hatte sie sogar ein sehr ernstes Aussehen, eine traurige Erscheinung bei einem so sanften Wesen. Trotzdem gab sie sich alle Mühe, um Mess Lethierry anzulächeln und aufzuheitern, aber ihr Frohsinn minderte sich von Tag zu Tag und bedeckte sich mit Staub, wie die Flügel eines durchbohrten Schmetterlings. Außerdem schien sie sich, sei es aus Gram über den Kummer ihres Onkels, denn es giebt rückwirkende Schmerzen, sei es aus anderen Gründen, jetzt sehr zur Religion zu neigen. Zur Zeit des alten Pfarrers, Jaquemin Herode, ging sie, wie man weiß, kaum viermal jährlich in die Kirche; jetzt hingegen sehr oft. Sie fehlte bei keinem Gottesdienste, weder am Sonntage, noch am Donnerstage. Die frommen Seelen der Gemeinde sahen mit Befriedigung diese Aenderung. Denn es ist ein großes Glück für ein junges Mädchen, welches so vielen Gefahren von Seiten der Menschen ausgesetzt ist, wenn es sich zu Gott kehrt.

Die armen Eltern sind dann wenigstens vor Liebeleien gesichert.

Alle Abende, wenn es das Wetter erlaubt, ging sie eine oder zwei Stunden in dem Garten der Bravées spazieren und war dabei fast ebenso nachdenkend, wie Mess Lethierry, und immer allein. Sie ging zuletzt zu Bette; trotzdem beobachteten Douce und Grâce sie immer etwas mit dem Instincte der Wachsamkeit, welcher allen Dienstboten eigen ist; Spionieren macht das Dienen kurzweilig.

Bei dem umschleierten Zustande, in welchem sich sein Geist befand, entgingen diese kleinen Veränderungen in Deruchette’s Wesen Mess Lethierry. Außerdem war er nicht zum Hofmeister geboren. Er bemerkte selbst Deruchette’s Pünktlichkeit im Kirchengehen nicht.

Es war übrigens seit etwa einer Woche mit Mess Lethierry eine Veränderung vorgegangen; die Träumerei seiner ersten Verzweiflung war einer gewissen Zerstreuung gewichen; sein Geist war weniger traurig und weniger thatenlos; er war immer ernst, aber nicht mehr finster; ein gewisses Verständniß der Thatsachen und Ereignisse kam ihm wieder und er begann etwas davon zu spüren, was man den Rücktritt in die Wirklichkeit nennen könnte.

So hörte er am Tage in dem niedrigen Saale die Worte der Leute nicht, aber er verstand sie. Grâce kam eines Morgens ganz triumphirend zu Deruchette und theilte ihr mit, daß Mess Lethierry den Band einer Zeitung geöffnet habe.

Sich wieder für die Wirklichkeit interessiren, ist ein gutes Zeichen. Es verräth die Genesung.

Die Rückkehr zur Wirklichkeit hatte bei ihm folgende Veranlassung:

Eines Nachmittags gegen den fünfzehnten oder zwanzigsten April, hatte man an der Thür des niedrigen Saales der Bravées das zweimalige Klopfen des Briefträgers vernommen. Douce hatte geöffnet: es war in der That ein Brief.

Dieser Brief kam über’s Meer, war an Mess Lethierry adressirt und trug den Poststempel Lisboa.

Douce brachte ihn an Mess Lethierry, welcher sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte. Er nahm ihr den Brief ab und legte ihn mechanisch auf den Tisch, ohne ihn anzusehen. So blieb er eine gute Woche auf dem Tische ungeöffnet liegen.

Eines Morgens sagte endlich Douce zu ihm:

– Soll der Staub auf Ihrem Briefe abgewischt werden?

Lethierry schien zu erwachen und antwortete: Es ist gut.

Er öffnete den Brief und las Folgendes:

 

»Auf hoher See am zehnten März.
»Mess Lethierry, aus St.-Sampson.

»Sie werden mit Vergnügen von mir hören:

»Ich bin auf dem Tamaulipas; auf einer Reise, von welcher ich nicht zurückkehren werde. Unter der Schiffsmannschaft befindet sich der Matrose Ahier-Tostevin aus Guernesey, der wieder nach Hause fährt und Manches zu erzählen haben wird. Ich benutze die Begegnung mit dem Schiffe Hernan Cortez, welches nach Lissabon fährt, um Ihnen diesen Brief zukommen zu lassen.

»Wundern Sie Sich. Ich bin ein ehrlicher Mensch.

»Ebenso ehrlich, als Sieur Clubin.

»Ich muß glauben, daß Sie wissen, was sich ereignet hat; trotzdem ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn ich es Ihnen mittheile.

»Also:

»Ich habe Ihnen Ihre Gelder wiedergegeben.

»Ich hatte mir von Ihnen auf etwas unedle Weise fünfzigtausend Francs geliehen. Bevor ich St. Malo verließ, übergab ich Ihrem Vertrauensmann, Sieur Clubin, für Sie drei Banknoten, jede zu tausend Pfund, was also fünfundsiebzigtausend Francs macht. Ohne Zweifel wird Ihnen diese Rückzahlung genügen.

»Sieur Clubin nahm Ihre Interessen und Ihr Geld mit großer Eile. Er schien mir sehr eifrig, weshalb ich Sie davon benachrichtige.

»Ihr anderer Vertrauensmann,
»Rantaine.«

» Nachschrift. Sieur Clubin hatte einen Revolver, deshalb habe ich keine Quittung.«

Beim Berühren eines Zitteraales oder einer geladenen Leydener Flasche fühlt man ungefähr ein Aehnliches, als was Mess Lethierry beim Lesen dieses Briefes empfand.

Dieses Couvert, dieses viermal zusammengelegte Blatt Papier, auf welches er zuerst so wenig geachtet hatte, mußte auf ihn eine tiefe Erschütterung ausüben.

Er erkannte die Schrift und die Unterschrift. Was die Sache anbetrifft, so verstand er zuerst Nichts.

Diese Erschütterung brachte so zu sagen, seinen Geist wieder auf die Beine.

Die Geschichte mit den fünfundsiebzigtausend Francs, welche Rantaine Clubin anvertraut hatte, war ein Räthsel und deshalb die nützlichste Seite der Erschütterung; denn sie zwang Lethierry’s Gehirn zum Arbeiten. Eine Vermuthung aufstellen, ist für den Verstand eine gesunde Beschäftigung. Vernunft und Logik werden von Neuem geweckt.

Seit einiger Zeit beschäftigte sich die öffentliche Meinung zu Guernesey wieder mit der Beurtheilung Clubin’s, jenes ehrbaren Mannes, welcher so viele Jahre hindurch und so allgemein in hoher Achtung gestanden hatte. Man fragte sich, begann zu zweifeln wettete für und gegen und stellte eigenthümliche Ansichten auf. Man begann sich über Clubin aufzuklären, das Für und Wider seines Charakters hervorzuheben.

Eine gerichtliche Erkundigung, was aus dem Küstenwächter 619 geworden sei, fand zu St. Malo statt. Das scharfe Auge des Gesetzes hatte einen falschen Weg eingeschlagen, was ihm oft passirt. Es ging nämlich von der Ansicht aus, daß der Küstenwächter von Zuela angeworben und auf dem Tamaulipas nach Chili eingeschifft sei. Diese geistreiche Vermuthung hatte starke Irrthümer nach sich gezogen und die Kurzsichtigkeit der Gerechtigkeit Rantaine nicht einmal bemerkt, aber dafür hatten die Untersuchungsrichter unterwegs andere Fährten aufgefunden und die dunkle Geschichte dadurch noch verwickelter gemacht, indem auch Clubin in das Räthsel mit hineingezogen und eine Gleichzeitigkeit, ja selbst die Möglichkeit in einer Beziehung zwischen der Abfahrt des Tamaulipas und des Verlustes der Durande festgestellt wurde. Im Gasthause am Dinan-Thore, wo Clubin unbekannt zu sein glaubte, hatte man ihn erkannt; der Gastwirth hatte geplaudert: Clubin habe eine Flasche Branntwein gekauft. Für wen? Der Waffenschmied in der Straße St.-Vincent erzählte, Clubin habe bei ihm einen Revolver gekauft. Gegen wen? Clubin hatte keine Erklärung abgegeben. Der Capitain Gertrais-Gaboureau hatte gesprochen. Clubin hatte abfahren wollen, obwohl gewarnt und wissend, daß er in den Nebel ging. Die Bemannung der Durande hatte gesprochen. Die Beladung war mangelhaft und das Takelwerk schlecht, leicht zu verstehende Nachlässigkeiten, wenn der Capitain das Schiff zu Grunde richten will. Die Passagiere aus Guernesey hatten erzählt, Clubin habe auf den Hanois zu stranden geglaubt, die Leute aus Torteval wußten, daß Clubin dort einige Tage vor dem Verlust der Durande angekommen und nach Plainmont, in der Nähe der Hanois, gegangen sei. Er trug ein Felleisen. Er war damit fortgegangen, aber ohne dasselbe zurückgekommen. Die Grünlinge hatten gesprochen und ihre Geschichte schien mit Clubin’s Verschwinden zusammenzupassen, sobald man die Rückkehrenden für Pascher halten konnte. Endlich hatte auch das Geisterhaus zu Plainmont selbst geplaudert: entschiedene Leute waren hineingestiegen, und was hatten sie daselbst gefunden? Gerade Clubin’s Felleisen. Das Zollamt von Torteval hatte es mit Beschlag belegen und öffnen lassen. Es enthielt Mundvorrath, ein Fernrohr, einen Chronometer, Kleider und Wäsche mit Clubin’s Anfangsbuchstaben. Alles dies baute sich in den Gemüthern der Bewohner von St. Malo und Guernesey zusammen auf und bildete sich zu einem vollen Betruge aus. Man brachte verwirrte Angaben zusammen; man constatirte mit einer eigenthümlichen Verachtung alle Angaben; sie bildeten einen zusammenhängenden Rahmen. Der Zufall des Nebels, die verdächtige Nachlässigkeit in der Auftakelung, die Flasche Branntwein, der trunkene Steuermann, der Capitain an Stelle des Steuermanns und der zum Wenigsten sehr ungeschickte Barrenschlag, der Heldenmuth, auf der Brandung zu bleiben, wurde zur Gaunerei. Clubin hatte sich übrigens in der Klippe getäuscht. Sobald die Absicht eines Betruges festgestellt war, verstand man auch die Wahl der Hanois, da die Küste leicht durch Schwimmen zu gewinnen war, und sie boten Gelegenheit zum Aufenthalt im Geisterhause, um eine Gelegenheit zur Flucht erwarten zu können. Das Felleisen vollendete den Beweis. Durch welches Band dies Abenteuer aber mit dem andern, dem des Küstenwächters, zusammenhing, begriff man nicht. Man ahnte einen Zusammenhang; weiter nichts. Man vermuthete, seitens dieses Menschen, dem Küstenwächter Nummer 619, ein ganzes Trauerspiel, in welchem Clubin vielleicht nicht mitspielte; man bemerkte ihn aber hinter den Coulissen.

Alles klärte sich nicht durch den Betrug auf. Wozu diente der Revolver? Wahrscheinlich gehörte er zu der andern Geschichte.

Das Gefühl des Volkes ist fein und gerecht und stellt wunderbar richtig die Wahrheit aus einzelnen Theilen und Stücken wieder her; nur über die Ursachen des wahrscheinlichen Betruges herrschte tiefe Ungewißheit.

Alles hielt und paßte zusammen; aber der Grund fehlte.

Man giebt kein Schiff aus reinem Vergnügen auf und unterzieht sich nicht allen Gefahren des Nebels, der Klippe, des Schwimmens und der Flucht ohne Interesse. Welches Interesse hatte aber Clubin haben können?

Man sah seine That, aber nicht seinen Beweggrund.

Deshalb zweifelten Viele. Wo kein Grund ist, scheint auch keine That zu sein.

Die Lücke war groß, aber Rantaine’s Brief füllte sie aus; denn er gab Clubin’s Beweggrund an: Clubin wollte fünfundsiebzigtausend Francs stehlen.

Rantaine war der deus ex machina, der aus den Wolken mit der Leuchte in der Hand herabsteigt.

Sein Brief gab die völlige Aufklärung.

Er erklärte Alles und gab außerdem noch einen Zeugen an, Ahier-Tostevin.

Er entschied auch über die Benutzung des Revolvers. Ohne Zweifel war Rantaine vollkommen unterrichtet, denn sein Brief berührte Alles sehr genau.

Keine Möglichkeit gab es, um Clubin’s Schlechtigkeit zu verringern. Er hatte den Schiffbruch vorher ausgesonnen, der Beweis dafür war das in dem Geisterhause gefundene Felleisen. Sollte man ihn wirklich für unschuldig und den Schiffbruch für zufällig halten, hätte er dann nicht im letzten Augenblicke, als er entschlossen war, sich aus der Klippe zu opfern, die fünfundsiebzigtausend Francs für Mess Lethierry den Leuten übergeben müssen, welche sich in der Schaluppe retteten? Die überzeugende Wahrheit brach hervor. Was war jetzt aus Clubin geworden? Wahrscheinlich war er das Opfer seines Irrthums geworden und ohne Zweifel auf der Douvre-Klippe untergegangen.

Das Aufbauen dieser, wie man sieht, der Wahrheit sehr nahekommenden Vermuthungen beschäftigte Mess Lethierry mehrere Tage hindurch. Rantaine’s Brief erwies ihm den Dienst, ihn zum Nachdenken zu zwingen. Zuerst durchzitterte ihn Ueberraschung, dann machte er die Anstrengung, sich an’s Ueberlegen zu geben und hierauf die noch schwierigere, Erkundigungen einzuziehen. Er mußte Unterhaltungen aufnehmen, ja sie selbst suchen. Nach Verlauf von acht Tagen war er bis auf einen gewissen Punkt wieder praktisch geworden, sein Geist hatte sich wieder zusammengerafft, und war fast geheilt, jedenfalls aus seinem verwirrten Zustande herausgetreten.

Rantaine’s Brief gab zwar zu, daß Mess Lethierry einige Hoffnung auf Wiedererstattung von dieser Seite her hätte unterhalten können, zerstörte aber gleichzeitig seine letzte Zuversicht.

Sie fügte zu dem Unglück der Durande diesen neuen Schiffbruch der fünfundsiebzigtausend Francs, brachte ihn für einen Augenblick wieder in den Besitz dieses Geldes, um ihn dessen ganzen Verlust desto härter fühlen zu lassen und zeigte ihm den vollen Abgrund seines Unglücks.

Er begann – was er seit zwei Monaten nicht gethan hatte – sich wieder damit zu beschäftigen, was mit seinem Hause, und was mit ihm werden, was er anfangen sollte. Kleinliche, tausendspitzige Sorgen quälten ihn, ein Zustand, fast ärger als der der Verzweiflung. Das geschehene Unglück läßt sich tragen, nicht das, was man hereinbrechen sieht. Voll drückt es nieder, getheilt martert es. Untergehen ist nichts, höchstens großes Feuer, aber Verarmen ist ein kleines Feuer.

An dem Abend, von dem wir sprachen, einem der ersten im Mai, ließ Lethierry beim Mondenschein Deruchette in dem Garten umherwandern und legte sich, trauriger als je, zu Bette.

So manche unangenehme und ungefällige Kleinigkeiten, die Zugaben zum Verluste des Vermögens, alle diese Sorgen dritter Ordnung, durchflogen seinen Geist. Was sollte er thun? Was sollte aus ihm werden? Welche Opfer konnte er Deruchette auferlegen? Wen sollte er fortschicken, Douce oder Grâce? Sollte er die Bravées verkaufen? Würde er nicht die Insel verlassen müssen? Da nichts sein, wo man Alles gewesen ist, ist in der That nicht zu ertragen.

Und war das Alles?! Dazu kamen die Erinnerungen an die Ueberfahrten, welche Frankreich mit den Inseln verbanden, an das Fortgehen Dienstags und die Rückkunft Freitags, an die Menge auf dem Quai, an jene mächtigen Befrachtungen, jenen Fleiß, jenes Aufblühen, jene gerade und stolze Schifffahrt, jene Maschine, auf welche der Mensch seinen Willen überträgt, jenen allmächtigen Dampfkessel, jenen Rauch, jene Wirklichkeit!

Diese ganze Fülle des Bedauerns marterte Lethierry. Niemals vielleicht hatte er seinen Verlust bitterer empfunden. Eine gewisse Betäubung folgt solchen scharfen Anfällen. Unter dieser drückenden Traurigkeit schlummerte er ein.

Er blieb ungefähr zwei Stunden mit geschlossenen Augen, etwas schlafend, viel träumend und fieberhaft. Solche Erschlaffung verdeckt eine dunkle, sehr anstrengende Arbeit des Gehirns. Gegen Mitternacht, etwas früher oder später, schüttelte er diesen Schlaf ab. Er wachte auf, öffnete die Augen und sah durch das seiner Hängematte gegenüberliegende Fenster etwas Außergewöhnliches.

Eine Gestalt war vor seinem Fenster. Eine unerhörte Gestalt. Der Schlot eines Dampfers.

Mess Lethierry setzte sich mit einem Ruck aufrecht. Die Hängematte schwankte wie durch das Rütteln eines Sturmes. Lethierry blickte hinaus. In dem Fenster lag eine geisterhafte Erscheinung. Der hell vom Mond beschienene Hafen zeichnete sich auf den Gläsern ab und auf dieser Helle schnitt sich dicht beim Hause gerade, rund und schwarz ein prächtiges Schattenbild aus.

Die Röhre einer Maschine war da.

Lethierry sprang aus der Hängematte, lief an das Fenster, schob den Riegel zurück, bog sich nach außen und erkannte den Gegenstand.

Der Rauchfang der Durande lag vor ihm, sie lag auf ihrem alten Platze.

Vier Ketten hielten den Rauchfang an Bord eines Schiffes fest, in welchem man eine Masse mit undeutlichen Umrissen erkannte.

Lethierry bebte zurück, kehrte dem Fenster den Rücken zu und fiel sitzend auf die Hängematte zurück.

Er drehte sich um und sah die Erscheinung wieder.

Einen Augenblick später war er, eine Laterne in der Hand, mit Blitzesschnelle auf dem Quai.

An einem alten Ankerringe der Durande war eine Barke befestigt, welche etwas nach hinten zu einen massiven Block trug, aus dem der Schornstein gerade vor dem Fenster der Bravées in die Höhe stieg. Der Vordertheil der Barke verlängerte sich außen über die Mauerecke des Hauses hinaus, mit dem Quai in gleicher Richtung.

Niemand war in der Barke.

Diese Barke hatte eine so eigenthümliche Form, daß ganz Guernesey sie hätte beschreiben können. Es war der Rumpf.

Lethierry sprang hinein und eilte auf die Masse zu, welche er jenseits des Wassers sah. Es war die Maschine.

Sie war da, ganz, vollständig, unversehrt, fest auf ihrem eisernen Boden ruhend; der Dampfkessel hatte alle seine Scheidewände; der Radbaum war neben ihm befestigt; die Pumpe an ihrem Platze; nichts fehlte.

Lethierry untersuchte die Maschine.

Die Laterne und der Mondschein halfen ihm dabei.

Er untersuchte den Mechanismus.

Er sah die beiden Kasten, welche an der Seite waren, betrachtete den Radbaum, ging in die Kabine, welche leer war, dann zu der Maschine zurück, berührte sie, steckte seinen Kopf in den Kessel und kniete nieder, um hineinsehen zu können.

Er hielt seine Laterne in die Feuerung, deren Licht den ganzen Mechanismus erhellte und fast die Täuschung einer geheizten Maschine hervorrief.

Dann begann er zu lachen und sich umdrehend, das Auge auf die Maschine gefesselt und die Arme gegen den Schlot ausgestreckt, rief er: Zur Hülfe!

Die Hafenglocke befand sich einige Schritte von ihm auf dem Quai, er lief hin, erfaßte die Kette und begann heftig zu läuten.

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Zweites Capitel. Noch einmal die Hafenglocke.

Gilliatt war in der That nach einer abenteuerlosen, aber bei der schweren Ladung der Barke etwas langsamen Fahrt, nach Anbruch der Nacht, näher an zehn als an neun Uhr, in St. Sampson angekommen.

Gilliatt hatte die Stunde berechnet, es war zur Zeit der halben Fluth, so daß man bei genügendem Mondschein und Wasser in den Hafen gelangen konnte.

Der kleine Hafen war in vollständiger Ruhe. Einige Schiffe lagen dort vor Anker, die Geytaue auf den Raaen, die Mastseile angelegt und ohne Leuchten. Im Hintergrunde bemerkte man einige Barken, welche ausgebessert werden sollten, trocken auf den Werften liegend.

Sobald Gilliatt durch die Brandung gefahren war, hatte er den Hafen und den Quai untersucht. Nirgends brannte Licht, weder in den Bravées noch anderswo. Kein Mensch ließ sich mehr blicken, vielleicht mit Ausnahme eines Einzigen, der in das Pfarrhaus hineinging oder es verließ. Zudem war es noch nicht sicher, ob es überhaupt eine Person war, da die Nacht Alles, was sie malt, vertuscht und der Mondschein nie etwas Anderes als Unentschiedenes zeigt. Die Entfernung vermehrte noch die Dunkelheit. Außerdem lag das Pfarrhaus auf der andern Seite des Hafens, an einer Stelle, wo sich heute ein offener Raum befindet.

Gilliatt war schweigend an den Bravées gelandet und hatte die Barke an dem Ringe der Durande unter Mess Lethierry’s Fenster befestigt.

Dann war er über Bord auf das Land gesprungen.

Nachdem er die Barke am Quai angelegt hatte, ging er um das Haus, hierauf eine Straße entlang, dann noch eine, betrachtete nicht einmal den Seitenweg, welcher nach Bû de la Rue führte, und blieb nach einigen Minuten in der Mauerecke stehen, wo sich wilde Malven mit rosenfarbnen Blumen im Juni, Stechpalmen, Epheu und Nesseln finden. Von dort hatte er, unter Brombeeren verborgen und auf einem Steine sitzend, oft in den Sommertagen lange Stunden und ganze Nächte hindurch über diese Mauer, welche so niedrig war, daß man sie zu übersteigen versuchen konnte, den Garten der Bravées und durch die Baumäste zwei Fenster eines Zimmers in dem Hause betrachtet. Er fand seinen Stein wieder, seine Brombeeren, die immer gleich niedrige Mauer, den noch immer dunkeln Winkel, und wie ein Raubthier, welches in seinen Schlupfwinkel zurückkehrt, verschwand er mehr schleichend als gehend darin. Da er erst einmal da saß, machte er keine Bewegung mehr. Er betrachtete nur; er sah den Garten, die Gänge, die Gebüsche, die Blumenbeete, das Haus und die beiden Zimmerfenster wieder. Der Mond zeigte ihm dieses Bild. – Es ist schrecklich, daß man athmen muß. Er that Alles, was in seinen Kräften stand, um sogar das Athmen zu verhindern.

Es war ihm, als wenn er ein Geisterparadies sähe. Er hatte Furcht, daß Alles davonfliegen könnte. Fast unmöglich war es, daß diese Dinge vor seinen Augen wahr sein sollten, und wenn sie dort sich befanden, so würden sie auch plötzlich wieder verschwinden, wie es bei allen göttlichen Dingen der Fall ist. Ein Hauch und Alles würde verfliegen. Gilliatt zitterte davor.

Ganz nahe vor ihm, an dem Ende eines Baumganges befand sich in dem Garten eine grünangestrichene Holzbank. Man erinnert sich dieser Bank.

Gilliatt betrachtete die beiden Fenster und dachte daran, daß vielleicht Jemand hinter ihnen schliefe. Er war auf diesen Fleck gebannt; er hätte lieber sterben, als fortgehen mögen. Er dachte an das Athmen, welches eine Brust schwellte. Sie, dieses Wunder, dieses Licht in der Dunkelheit, dieses Wesen, das ganz seinen Geist durchwogte; sie war da! Er dachte an sie, die ihm so nahe und doch jetzt unerreichbar war. Seine Seele war im Himmel.

Der Himmel ist ebenso gut für das Herz eines armen Menschen, wie Gilliatt, als für das eines Millionärs geschaffen. Auf einer gewissen Stufe der Leidenschaft ist jeder Mensch dieser Verblendung unterworfen. Ist es eine rauhe und ursprüngliche Seele, so ist noch mehr Grund dazu vorhanden. Dann tritt noch die Wildheit zu dem Traume.

Das Entzücken ist eine zu große Fülle, welche wie jede andere überfluthet. Diese Fenster sehen, war für Gilliatt fast zu viel.

Plötzlich sah er sie selbst.

Aus den Zweigen eines durch den Frühling schon starkbelaubten Gebüsches trat mit einer unbeschreibbaren, geisterhaften und himmlischen Ruhe eine Gestalt, ein Kleid, ein göttliches Gesicht, fast eine Helle unter dem Monde hervor.

Gilliatt fühlte sich schwach werden, es war Deruchette.

Deruchette näherte sich, blieb stehen, that einige Schritte, um sich zu entfernen, blieb wieder stehen, kam dann zurück und setzte sich auf die Holzbank. Der Mond schien durch die Bäume, einige Wolken irrten zwischen den bleichen Sternen, die Stadt schlief. Deruchette beugte den Kopf mit den gedankenvollen Augen, welche etwas aufmerksam betrachteten; man sah ihr Gesicht von der Seite, der Kopf war fast unbedeckt, da die Mütze sich gelöst hatte und auf ihrem zarten Nacken die wogenden Haare sehen ließ; sie rollte mechanisch ein Haubenband um einen Finger, Halbschatten umgab ihre Marmorhände, ihr Kleid trug eine von jenen Farben, welche die Nacht weiß färbt; die Bäume bewegten sich, als wenn sie den Zauber, welcher sie umgab, verständen; man sah die Spitze eines ihrer Füße, ihre gesenkten Wimpern zeigten jenes unbestimmte Zucken, welches eine zurückgetretene Thräne oder einen zurückgedrängten Gedanken verräth; ihre Arme entfalteten die entzückende Unbestimmtheit, welche keinen Stützpunkt zu finden weiß; etwas Schwankendes mischte sich in ihre ganze Haltung; es war mehr ein Schein, als ein Licht, mehr eine Grazie, als eine Göttin; die Falten unten an ihrem Unterrocke waren ausgewählt schön, ihr anbetungswürdiges Gesicht sann jungfräulich nach. Sie befand sich ganz in seiner Nähe. Gilliatt hörte sie sogar athmen.

Tief im Verborgnen sang eine Nachtigall. Das Streichen des Windes durch die Zweige setzte die unbeschreibbare nächtliche Stille in Bewegung. Deruchette, schön und heilig, erschien in dieser Dämmerung wie die Blume in ihren Strahlen und Düften; dieser unendliche und weitverbreitete Reiz schwebte geheimnißvoll zu ihr und verdichtete sich bei ihr, so daß er sie ganz einnahm. Sie erschien als die Blumenseele dieses ganzen Schattens.

Dieser ganze, Deruchette umwogende Schatten drückte auf Gilliatt. Er war überwältigt. Was er empfand, läßt sich nicht durch Worte wiedergeben; die Bewegung ist immer neu und das Wort sagt immer dasselbe; daher die Unmöglichkeit, die Bewegung zu schildern. Es ist das Uebermaß des Zaubers, – Deruchette sehen, sie selbst, ihr Kleid, ihre Haube, ihr Band, welches sie um den Finger rollte, kann man sich so etwas vorstellen? War es möglich, neben ihr zu sein? Was sollte er jetzt thun? Dieser Zauber, sie zu sehen, betäubte ihn. Sie war da und er war hier! Seine Gedanken, geblendet und festgewurzelt, blieben auf diesem Geschöpfe, wie auf einem Karfunkel haften. Er betrachtete diesen Nacken und diese Haare; aber er sagte sich nicht einmal in Gedanken, daß er binnen Kurzem, morgen vielleicht das Recht haben würde, dieses Band zu lösen, diese Haube abzunehmen. So weit zu träumen, dieses Uebermaß von Kühnheit hätte er nicht einen Augenblick begriffen. Er glaubte zu sterben.

Aufstehen, die Mauer übersteigen, sich nähern, sagen »ich bin es«, mit Deruchette sprechen, dieser Gedanke kam ihm nicht. Und wäre er ihm gekommen, so hätte er sich geflüchtet. Wenn etwas einem Gedanken Aehnliches seinen Kopf durchzitterte, so war es das, daß Deruchette da war. Weiter verlangte er jetzt nichts; die Ewigkeit hätte beginnen können.

Ein Geräusch störte sie alle Beide; sie in ihrer Träumerei, ihn in seinem Entzücken.

Es ging Jemand im Garten. Wegen der Bäume konnte man nicht sehen, wer es war. Es war der Schritt eines Mannes.

Deruchette hob die Augen in die Höhe.

Die Schritte näherten sich und hörten dann auf. Der Gehende war so eben stehen geblieben. Er mußte ganz nahe sein. Der Pfad, in welchem die Bank war, verlor sich zwischen zwei dichten Gebüschen. Dort war dieser Mensch, an dieser Stelle, einige Schritte von der Bank.

Der Zufall hatte die dichtbelaubten Zweige derartig vertheilt, daß Deruchette, nicht aber Gilliatt ihn sehen konnte.

Der Mond zeichnete von dem Gebüsch bis zur Bank auf der Erde einen Schatten.

Gilliatt sah diesen Schatten.

Er betrachtete Deruchette.

Sie war ganz blaß. Ihr halbgeöffneter Mund hauchte einen Schrei der Ueberraschung. Sie hatte sich halb von der Bank erhoben und war wieder halb darauf zurückgefallen; in ihrer Stellung lag etwas von Flucht und von Bezauberung. Ihr Staunen war ein Entzücken voller Furcht. Auf ihren Lippen hatte sie fast ein strahlendes Lächeln und in ihren Augen leuchtende Thränen. Sie schien durch die Ankunft wie verklärt und nicht mehr der Erde angehörig. Ein Engel spiegelte sich in ihrem Blicke wieder.

Das Wesen, welches für Gilliatt nur ein Schatten war, sprach. Eine Stimme, sanft wie die eines Weibes und doch eine Mannesstimme, drang aus dem Gebüsch hervor. Gilliatt hörte folgende Worte:

– Mein Fräulein, ich sehe Sie jetzt jeden Sonntag und jeden Donnerstag; man sagte mir, daß Sie sonst nicht so oft kamen. – Man hat diese Bemerkung gemacht, ich bitte deshalb um Verzeihung. Ich habe nie zu Ihnen gesprochen, ich durfte nicht; heute spreche ich zu Ihnen, es ist meine Pflicht. Ich muß mich zuerst an Sie wenden. Der Cashmere fährt morgen ab; deshalb bin ich gekommen. Sie spazieren alle Abende in Ihrem Garten. Es wäre schlecht von mir, Ihre Gewohnheiten zu beobachten, wenn ich nicht eine bestimmte Absicht dabei hätte. Mein Fräulein, Sie sind arm; seit heute früh bin ich reich. Wollen Sie mich zu Ihrem Gatten?

Deruchette faltete ihre Hände, wie eine Bittende, und betrachtete den, der zu ihr sprach, stumm, mit festem Auge, zitternd vom Kopfe bis zu den Füßen.

Die Stimme fuhr fort:

– Ich liebe Sie. Gott hat das Herz des Menschen nicht dazu gemacht, daß es schweige. Es giebt für mich auf der Erde nur Ein Weib, das sind Sie. Ich denke an Sie, wie an eine Verheißung. Mein Glauben ist an Gott und meine Hoffnung in Ihnen. Sie sind mein Leben und schon mein Himmel.

– Mein Herr, antwortete Deruchette, es ist Niemand im Hause, um Ihnen zu antworten.

Die Stimme erhob sich vom Neuem:

– Ich habe diesen süßen Traum gehabt. Gott verbietet keine Träume. Sie machen auf mich den Eindruck einer Glorie. Ich liebe Sie leidenschaftlich. Die heilige Unschuld sind Sie. Ich weiß, daß jetzt die Stunde ist, in welcher man schläft; aber ich hatte nicht die Wahl eines andern Augenblicks. Erinnern Sie sich der Stelle in der heiligen Schrift, welche uns einmal vorgelesen wurde. Ich habe seitdem immer daran gedacht. Ich habe sie oft wiedergelesen. Der ehrwürdige Herode sagte zu mir: Du mußt eine reiche Frau haben. Ich antwortete ihm: Nein, ich muß eine arme Frau haben. Mein Fräulein, ich spreche zu Ihnen, ohne mich zu nähern, ich werde sogar zurücktreten, wenn Sie nicht wollen, daß mein Schatten Ihre Füße berührt. Sie sind die Herrscherin; Sie werden zu mir kommen, wenn Sie wollen. Ich liebe und warte. Sie sind die lebende Gestalt des Segens.

– Mein Herr, stammelte Deruchette, ich wußte nicht, daß man mich Sonntags und Donnerstags bemerkte.

Die Stimme fuhr fort:

– Man vermag nichts gegen das Ueberirdische. Das ganze Gesetz ist Liebe. Die Heirath ist Kanaan. Sie sind die verheißene Schönheit. O höchste Anmuth, ich grüße Sie.

Deruchette antwortete:

– Ich glaubte nichts Schlechteres zu thun, als alle Andern, welche ihre Pflicht thun.

Die Stimme sprach weiter:

– Gott hat seinen Willen in die Blumen, die Morgenröthe, den Frühling gelegt und er will, daß man liebt. Sie sind schön in dieser heiligen Dunkelheit der Nacht. Dieser Garten ist von Ihnen gepflanzt, und in seinen Düften ruht etwas von Ihrem Odem. Mein Fräulein, die Begegnungen der Seele hängen nicht von sich ab. Es ist nicht unser Fehler. Sie waren da, ich war da, weiter nichts. Ich habe nichts gethan, als gefühlt, daß ich Sie liebe. Bisweilen haben sich meine Augen zu Ihnen erhoben. Ich habe Unrecht gethan, aber was sollte ich thun? Indem ich Sie ansah, kam Alles. Man kann es nicht verhindern. Es giebt einen geheimnißvollen Willen, der über uns ist. Der erste Tempel ist das Herz. Ihre Seele in meinem Hause haben, nach diesem irdischen Paradiese sehne ich mich; stimmen Sie ein? So lange ich arm war, habe ich nichts gesagt. Ich weiß Ihr Alter. Sie sind einundzwanzig, ich sechsundzwanzig Jahre. Ich reise morgen ab, wenn Sie mich zurückweisen, für immer. Seien Sie meine Verlobte, wollen Sie? Meine Augen haben schon mehr als einmal wider meinen Willen den Ihrigen diese Frage vorgelegt. Ich liebe Sie, antworten Sie mir. Ich werde mit Ihrem Onkel sprechen, sobald er mich empfangen kann. Zuerst aber wende ich mich an Sie. Oder könnten Sie mich nicht lieben?

Deruchette neigte den Kopf und murmelte:

– O! Ich bete ihn an!

Sie sagte das so leise, daß nur Gilliatt es hörte.

Sie stand fortwährend mit gebeugtem Haupte; als wenn das Gesicht im Schatten auch den Gedanken beschatten solle.

Eine Pause entstand. Die Blätter an den Bäumen bewegten sich nicht. Es war ein ernster und stiller Augenblick, in welchem der Schlummer der Dinge sich mit dem Schlummer der Wesen vereinte und die Nacht den Herzschlag der Natur zu hören schien. Aus dieser Ruhe erhob sich, wie eine Harmonie, welche das Schweigen vervollständigt, das unendliche Rollen des Meeres.

Die Stimme begann wieder:

– Mein Fräulein!

Deruchette zitterte.

Die Stimme fuhr fort:

– Ach! Ich warte.

– Worauf warten Sie?

– Auf Ihre Antwort.

– Gott hat die Antwort gehört, sagte Deruchette.

Dann wurde die Stimme beinahe feierlich und zugleich sanfter, als je. Folgende Worte drangen aus dem Dickichte, wie aus einem feurigen Busche hervor:

– Du bist meine Verlobte. Erhebe Dich und komme. Möge der blaue Sternenhimmel dieser unserer Verlobung beiwohnen und möge sich unser erster Kuß mit dem Firmamente vermischen!

Deruchette erhob sich und blieb einen Augenblick unbeweglich, den Blick vor sich geheftet; ohne Zweifel auf einen andern Blick wartend. Dann, mit langsamen Schritten, den Kopf erhoben, die Arme hängend und die Finger ausgestreckt, als wenn man auf einer unbekannten Stütze vorwärts schreitet, ging sie auf das Gebüsch zu und verschwand daselbst.

Einen Augenblick später befanden sich auf dem Sande anstatt eines Schattens zwei; sie gingen in einander über und Gilliatt bemerkte zu seinen Füßen die Umarmung dieser beiden Schatten.

Die Zeit enteilt von uns, gleich einer Sanduhr, ohne daß wir diese Flucht fühlen; namentlich in gewissen Augenblicken höchster Seligkeit. Dies Paar einerseits, welches diesen Zeugen nicht vermuthete und ihn nicht sah; dieser Zeuge andererseits, welcher dies Paar nicht sah, aber seine Gegenwart wußte, – wie viele Minuten blieben sie so, in dieser geheimnißvollen Spannung? Unmöglich ist es, dies zu sagen. Plötzlich erscholl ein entfernter Lärm, eine Stimme rief: Zur Hülfe! Die Hafenglocke ertönte. Dieses Geräusch vernahm wahrscheinlich das trunkene und himmlische Glück nicht.

Die Glocke fuhr fort zu läuten. Hätte Jemand Gilliatt in dem Mauerwinkel gesucht, so hätte er ihn nicht gefunden.

Zweites Buch. Die Dankbarkeit in voller Eigenmacht.


Erstes Capitel. Freude unter Todesqualen.

Mess Letthierry zog die Glocke gewaltig. Plötzlich hielt er an. Ein Mann kam um die Ecke des Quai. Es war Gilliatt.

Mess Letthierry lief ihm entgegen oder warf sich vielmehr auf ihn, faßte seine Hand mit seinen beiden Händen und blickte ihm einen Augenblick schweigend in das Gesicht. Ein Schweigen, welches dem Ausbruche gleicht, der keinen Weg zu finden weiß.

Dann schüttelte und zog er ihn heftig, preßte ihn in seine Arme, ließ ihn In den niedrigen Saal der Bravées eintreten, stieß mit den Hacken die Thür zurück, welche halb offen blieb, setzte sich oder fiel auf einen Stuhl neben einem vom Monde beschienenen Tische, dessen Reflex Gilliatt’s Gesicht unbestimmt erleuchtete und schrie mit einer Stimme, in welche sich Weinen mit Lachen vermischte:

O mein Sohn! Mensch mit der Bug-Pipe! Gilliatt! Ich wußte wohl, daß Du es warst! Die Barke, alle Wetter! Erzähle mir das. Du bist also hingegangen! Vor hundert Jahren hätte man Dich als Zauberer verbrannt! Es fehlt nicht ein Nagel daran. Ich habe Alles gesehen, Alles betrachtet. Alles untersucht. Ich ahne, daß die Räder in den beiden Kästen sind. Da bist Du also doch endlich! Ich suchte Dich so eben in Deiner Kabine. Ich habe geläutet. Ja, ich suchte Dich. Ich sagte zu mir: Wo ist er, daß ich ihn aufesse! Man muß zugestehen, daß eigenthümliche Dinge vorkommen. Dieses Menschenkind da kommt von den Douvres-Klippen zurück. Er giebt mir das Leben wieder. Donner! Du bist ein Engel. Ja, ja, ja, es ist meine Maschine. Niemand wird es glauben. Man wird es sehen und sagen: Es ist nicht wahr. Alles ist da, was! Alles ist da! Es fehlt nicht eine Schraube, nicht ein Nagel. Der Wasserbehälter ist nicht im Mindesten verletzt. Es ist unglaublich, daß er keinen Schaden genommen hat. Aber wie hast Du das gemacht? Die Durande wird wieder fahren! Der Radbaum ist ja auseinandergenommen, wie von einem Goldschmiede. Gieb mir Dein Ehrenwort, daß ich nicht wahnsinnig bin.

Er richtete sich auf, holte Athem und fuhr fort:

– Schwöre es mir. Welche Umwälzung! Ich kneife mich, ich fühle wohl, daß ich nicht träume. Du bist mein Kind, mein Junge, der liebe Gott! O mein Sohn! Du hast mir meine Maschine geholt! Von offener See! Von dieser hinterlistigen Klippe! Ich habe viele Kunststücke in meinem Leben gesehen. Aber nichts dergleiches. Ich habe die Pariser gesehen, welche wahre Teufel sind. Das würden sie aber wohl bleiben lassen. Das ist schlimmer als die Bastille. Ich habe die Gauchos in den Pampas den Acker bestellen sehen; ihr Pflug ist ein Baumzweig mit einem Knie und ihre Egge ein Haufen Dornen, welche ein Lederriemen zusammenhält; damit säen sie Getreidekörner, groß wie Nüsse. Das ist aber Alles Spielerei gegen Dich. Du hast da ein Wunder vollbracht, und zwar ein ächtes. O Du Bösewicht! Komm‘ an meinen Hals! Man wird Dir das Glück des ganzen Landes verdanken. Wie werden sie in St. Sampson brummen! Ich werde mich sofort an die Wiederherstellung des Schiffes machen. Es ist staunenswerth, daß die Brandung nichts zerbrochen hat. Meine Herren, er ist nach den Douvres gewesen. Nach den Douvres, sage ich. Ganz allein. Die Douvres! Diese Kieselsteine, wie es keine schlimmeren giebt. Weißt Du’s schon; hat man Dir’s schon gesagt? Es ist bewiesen, es war ausdrücklich beabsichtigt; Clubin hat die Durande gestrandet, um mir das Geld zu stehlen, welches er mir bringen sollte. Er hat Tangrouille betrunken gemacht. Es ist eine lange Geschichte, ich werde Dir ein anderes Mal diesen Raub erzählen. Ich, furchtbare Dummheit, hatte zu Clubin Vertrauen. Er ist daran zu Grunde gegangen, der Verbrecher: denn er hat gewiß umkommen müssen. Es giebt einen Gott, der Elende! Siehst Du, Gilliatt, wir werden sofort, so lange das Eisen noch warm ist, die Durande wiederbauen. Wir werden ihr zwanzig Fuß mehr geben. Man baut jetzt größere Schiffe. Ich werde in Danzig und Bremen Holz kaufen. Jetzt, wo ich die Maschine habe, wird man mir borgen. Das Vertrauen wird zurückkehren.

Mess Lethierry hielt inne, schlug die Augen mit einem Blicke auf, welcher den Himmel bis in seine Tiefen durchschaut und murmelte zwischen den Zähnen: Es giebt dort oben Einen!

Dann legte er den Mittelfinger seiner rechten Hand zwischen die beiden Augenbrauen, stützte seine Spitze auf die Nasenwurzel, was einen das Gehirn durchkreuzenden Gedanken verräth, und fuhr fort:

– Einerlei, um Alles im großen Maßstabe anfangen zu können, wäre doch etwas baar Geld sehr erwünscht. O! wenn ich meine drei Banknoten hätte, die 75,000 Francs, welche dieser Räuber Rantaine mir wiedergegeben und dieser Dieb Clubin mir wiederabgestohlen hat!

Gilliatt suchte schweigend etwas in seiner Tasche und legte es dann vor ihn. Es war der Ledergürtel, den er mitgebracht hatte. Er öffnete und breitete ihn auf dem Tische aus; bei dem Mondschein konnte man auf seiner Innenseite das Wort Clubin entziffern; er zog aus der in ihm befindlichen Tasche eine Dose und aus dieser drei zusammengefaltete Stück Papier, welche er aufmachte und Mess Lethierry hinreichte.

Dieser untersuchte sie. Es war hell genug, um die Zahl 1000 und das Wort thousand deutlich erkennen zu können. Mess Lethierry nahm die drei Banknoten, legte sie auf den Tisch, eine neben die andere, sah sie an, sah Gilliatt an, blieb einen Augenblick stumm und donnerte dann los, wie die Zerstörung nach der Explosion:

– Das auch! Du bist unbegreiflich. Meine Banknoten! Alle drei! Jede von tausend! Meine 75,000 Francs! Du bist also bis in die Hölle gegangen. Es ist Clubin’s Gürtel. Beim Himmel! Ich lese innen seinen Namenszug. Gilliatt bringt die Maschine zurück und auch noch das Geld! Das wird man in die Zeitung setzen lassen. Ich werde Holz von der besten Qualität kaufen. Ich ahne, Du wirst das Gerippe von Clubin in irgend einem Winkel aufgefunden haben. Wir werden Tannen in Danzig und Eichen in Bremen kaufen und einen schönen Rumpf bauen, indem wir die Eiche nach innen und die Tannen nach außen nehmen. Früher machte man die Schiffe weniger gut, und sie hielten länger; das Holz war aber tauglicher, weil man weniger baute. Wir machen den Kiel vielleicht aus Ulmenholz. Die Ulme ist gut für Theile, die stets im Wasser bleiben, aber wenn sie bald naß, bald trocken wird, so fault sie; sie muß immer feucht sein, sie nährt sich vom Wasser. Was für eine schöne Durande werden wir machen! Man soll mir nichts vorschreiben. Ich habe keinen Credit nöthig. Ich habe Geld. Hat man je einen solchen Gilliatt gesehen! Ich lag da, fast todt! Er stellt mich wieder aufrecht auf meinen vier Eisen. Und ich, ich denke gar nicht an ihn! Das ist mir ganz aus dem Kopfe geschwunden. Alles kommt mir jetzt wieder. Armer Junge! O! Alle Wetter, Du weißt, Du heirathest Deruchette!

Gilliatt lehnte sich wie ein Schwankender an die Mauer und antwortete sehr leise, aber sehr deutlich:

– Nein.

Mess Lethierry sprang in die Höhe.

– Wie, nein??!

Gilliatt erwiderte:

– Ich liebe sie nicht.

Mess Lethierry ging an das Fenster, öffnete und schloß es, kam zu dem Tische zurück, nahm die drei Banknoten, faltete sie, legte die Dose auf sie, kratzte sich den Kopf, ergriff Clubin’s Gürtel, warf ihn zornig gegen die Wand und rief:

Da steckt etwas hinter.

Er steckte seine beiden Fäuste in seine Taschen und fuhr fort:

– Du liebst Deruchette nicht!? Du hast also für mich auf der gespielt?

Gilliatt, immer noch an der Wand gelehnt, erblaßte wie ein Mensch, der zu athmen aufhört. Je bleicher er wurde, um so röther wurde Mess Lethierry.

– Ist der unverschämt! Er liebt Deruchette nicht! Nun gut, bereite Dich darauf vor, sie zu lieben, denn sie wird nur Dich heirathen. Welche tolle Geschichte willst Du mir da erzählen, damit ich Dir das glauben soll! Bist Du krank, gut, so lasse einen Arzt rufen, aber sprich keinen Unsinn. Es ist nicht möglich, daß Du schon die Zeit gehabt hast, Dich mit ihr zu streiten und Dich über sie zu ärgern. Freilich die Liebenden, es ist so dumm! Laß sehen, hast Du Gründe? Dann sage sie. Man thut so etwas nicht ohne Gründe. Außerdem habe ich auch Baumwolle in den Ohren und deshalb vielleicht falsch gehört. Wiederhole, was Du gesagt hast.

Gilliatt erwiederte:

– Ich habe Nein gesagt.

– Du hast Nein gesagt. Er bleibt dabei, der Kerl! Da hast Du etwas, das ist sicher! Du hast Nein gesagt. Das ist eine Dummheit, die die Grenzen übersteigt. Man verordnet Andern für viel geringere Dinge kalte Umschläge. Also rein aus Liebe zu dem guten Alten hast Du das Alles gethan, was Du gethan hast! Für die schönen Augen des Vaters bist Du nach den Douvres gewesen, hast Kälte und Hitze, Hunger und Durst ertragen, das Gewürm von dem Felsen gegessen, Nebel Wind und Regen als Schlafgemach gehabt und mir meine Maschine zurückgebracht, wie man einer hübschen Frau ihren Zeisig, der ihr fortgeflogen ist, wiederbringt! Und der Sturm vor drei Tagen! Rede Dir nur nicht ein, daß ich mir keine Rechenschaft davon gebe. Dich hat er sicher gehörig durchrüttelt! Dadurch, daß Du mitten in den Bauch meines alten Kahns eine Oeffnung machtest, hast Du geschlagen, geschnitten, gedreht, gedrechselt, gezogen, gefeilt, gehämmert, gesägt, erfunden, ausgedacht und vollbracht; Du ganz allein tausendmal mehr Wunder, als alle Heiligen des Paradieses zusammen. Und doch bist Du ein Thor: Du langweilst mich mit Deinem Bug-pipe. Immer noch bei Dir dieselbe Melodie, dieselben Dummheiten. Du liebst nicht Deruchette! Ich weiß nicht, was Du hast. Ich erinnere mich jetzt sehr gut an Alles; ich war da in der Ecke, Deruchette sagte: Ich werde ihn heirathen. Und sie wird Dich heirathen! O, Du liebst sie nicht! Trotz aller Ueberlegung verstehe ich das nicht. Und er spricht nicht ein Wort. Es ist gar nicht erlaubt, das Alles zu thun, was Du gethan hast, und dann schließlich zu sagen: Ich liebe nicht Deruchette. Man erweist den Leuten keine Dienste, um sie zornig zu machen. Nun gut, wenn Du sie nicht heirathest, wird sie die heilige Katharina frisiren. Zuerst bedarf ich Deiner. Du wirst der Steuermann der Durande. Bilde Dir nur nicht ein, daß ich Dich so wieder fort lasse! Ha, ha, ha, mein Herzensfisch, ich lasse Dich nicht los. Ich halte Dich fest und höre Dich nicht einmal an. Wo giebt es noch einen Matrosen, der Dir gliche! Du bist mein Mann. Aber sprich doch!

Indessen hatte die Glocke das Haus und die Umgegend geweckt. Douce und Grace waren aufgestanden und so eben mit erstauntem Gesicht und ohne ein Wort zu sagen in den niedrigen Saal getreten. Grace hielt ein Licht in der Hand. Eine Gruppe von Nachbarn, Bürgern, Seeleuten und Bauern, in aller Eile zusammengekommen, stand draußen auf dem Quai und betrachtete mit Staunen und Bewunderung den Schlot der Durande in der Barke. Einige hörten Mess Lethierry’s Stimme in dem niedrigen Saale und begannen, sich schweigend durch die halbgeöffnete Thür einzuschleichen. Zwischen den Gesichtern zweier Gevatterinnen steckte Meister Landoys seinen Kopf durch, welcher zufällig immer da war, wo nicht zu sein er bedauert hätte.

Große freudige Ereignisse müssen an die große Glocke. Mess Lethierry bemerkte plötzlich, daß Leute um ihn seien und nahm sie sofort zu Zuhörern:

– O! Da seid Ihr ja. Das ist sehr schön. Wißt Ihr die Neuigkeit. Dieser Mensch ist da gewesen und hat das zurückgebracht. Guten Tag, Meister Landoys. Gerade als ich erwachte, sah ich den Schornstein. Er lag unter meinem Fenster. Nicht ein Nagel fehlt an dem ganzen Dinge. Man macht Bilder von Napoleon; ich meinestheils ziehe das der Schlacht bei Austerlitz vor. Ihr steht auf, Ihr guten Leute. Die Durande kommt Euch im Schlafe. Während Ihr Eure baumwollenen Nachtmützen aufsetzt und Eure Lichter ausblast, wachen Menschen, welche Helden sind. Man ist ein Haufen von Feiglingen und Faullenzern und wärmt seine Glieder. Zum Glück hindert das nicht, daß es auch Tollköpfe giebt, die dahin gehen, wohin man gehen muß, und das thun, was man thun soll. Der Mann vom Bû de la Rue kommt von der Douvre-Klippe an. Er hat die Durande aus dem Grunde des Meeres wieder aufgefischt und das Geld aus Clubin’s Tasche, einem noch tiefern Loche. Aber wie hast Du’s gemacht? Die ganze Welt war gegen Dich, Wind und Meer, Meer und Wind! Du bist wirklich ein Hexenmeister. Die Stürme sind vergebens nichtswürdig, der da macht ihnen den Garaus. Meine Freunde, ich theile Euch mit, daß es keinen Schiffbruch mehr giebt. Ich habe die Maschine untersucht. Sie ist wie neu, ganz, nun was sagt Ihr? Die Ventile spielen wie auf Rollen; man möchte sagen, sie sei erst gestern Morgen fertig geworden. Ihr wißt, daß das ausfließende Wasser durch ein Rohr fortgeschafft wird, in welchem sich das Einflußrohr befindet, damit man gleich die Wärme benutzen kann; nun wohl, alle beiden Röhren sind in gutem Zustande. Die ganze Maschine! Auch die Räder! Ah! Du wirst sie heirathen!

– Wen? Die Maschine? fragte Meister Landoys.

– Nein, die Tochter. Ja, die Maschine. Alle Beide. Er wird doppelt mir angehören: er wird mein Schwiegersohn und mein Capitän. Good bye, Capitän Gilliatt. Es wird bald wieder eine geben, eine Durande! Man wird damit Geschäfte und Fahrten und Handel und Ochsen- und Schaffrachten machen. Ich werde nicht St. Sampson für London aufgeben. Und hier steht der Urheber. Ich sage Euch, es ist ein Abenteuer. Man wird das Sonnabend beim Vater Mauger in der Zeitung lesen. Gilliatt der Böse ist ein Böser. Was sind das da für Louisd’or?

Mess Lethierry bemerkte so eben durch die Ritze im Deckel, daß in der Dose, in welcher sich die Banknoten befanden, auch Gold sei. Er nahm die Dose, öffnete sie, entleerte sie in seine flache Hand und legte die Guineen auf den Tisch.

– Für die Armen. Meister Landoys, gebt diese Guineen in meinem Namen, dem Bürgermeister von St. Sampson. Ihr kennt doch Rantaine’s Brief? Ich habe ihn Euch gezeigt; nun gut, ich habe die Banknoten. Der Mann da ist geprägtes Gold, gehärteter Stahl, ein Demant, ein Seemann mit Leib und Seele, ein Schmied, ein außerordentlicher, lustiger Bruder, staunenswerther, als der Prinz von Hohenlohe. Das nenne ich einen Menschen, der Verstand hat. Wir sind Alle nichts Großes. Die Meerwölfe seid Ihr und ich, sind wir; aber der Meerlöwe ist der da. Hurrah, Gilliatt! Ich weiß nicht, was er gemacht hat, aber sicherlich ist er ein Teufel und darum will er nicht, daß ich ihm Deruchette gebe!

Seit einigen Augenblicken befand sich diese in dem Saale. Sie hatte kein Wort gesprochen, kein Geräusch gemacht, war wie ein Schatten eingetreten und hatte sich fast unbemerkt auf einen Stuhl hinter Mess Lethierry gesetzt, welcher aufrecht stand, gesprächig, freudig erregt und laut sprechend. Kurz nach ihr war eine zweite stumme Erscheinung eingetreten. Ein schwarzgekleideter Mann mit weißem Halstuche und den Hut in der Hand, stand in der halbgeöffneten Thür. Mehrere Lichter brannten jetzt in der langsam angewachsenen Gruppe und erleuchteten den schwarzgekleideten Mann von der Seite, so daß sich sein Profil von jugendlicher und anmuthiger Weiße scharf, wie ein Gepräge, auf dem dunkeln Grunde abzeichnete; er stützte seinen Ellbogen gegen die Ecke eines Feldes in der Thür und hielt seinen Kopf mit der linken Hand; eine Stellung, deren Anmuth ihm unbewußt war und welche durch die Kleinheit der Hand die Höhe der Stirn noch bemerkbarer machte. Ein schmerzlicher Zug umspielte die Winkel des fest zusammengepreßten Mundes. Er prüfte und horchte mit tiefer Aufmerksamkeit. Sobald die Umstehenden den ehrwürdigen Ebenezer Caudray, den Pfarrer der Gemeinde, erkannt hatten, wichen sie zurück, um ihn durchzulassen; er blieb jedoch auf der Schwelle stehen. Zögern drückte seine Stellung und Bestimmtheit sein Blick aus. Von Zeit zu Zeit begegnete dieser Blick dem von Deruchette. Gilliatt stand, sei es Zufall, sei es Willen, im Schatten und man sah ihn nur sehr undeutlich.

Zuerst bemerkte Mess Lethierry Herrn Ebenezer nicht, aber Deruchette. Er ging auf sie zu und küßte sie mit der ganzen Wärme, welchen ein Stirnkuß besitzen kann und streckte zugleich den Arm gegen die dunkle Ecke aus, wo Gilliatt stand.

– Deruchette, sagte er, Du bist jetzt wieder reich und das ist Dein Mann.

Deruchette hob den Kopf wirr in die Höhe und blickte in das Dunkel.

Mess Lethierry fuhr fort:

– Man wird sofort Hochzeit machen, morgen womöglich, man wird den Dispens bekommen, außerdem kommt’s hier nicht viel auf Förmlichkeiten an, der Dekan macht das, wie er will; es ist nicht wie in Frankreich, wo Aufgebote, öffentliche Aufrufe und sonstige Verzögerungen der Heirath vorhergehen müssen. Du wirst Dich rühmen können, die Frau eines ehrenhaften Mannes zu sein; es ist unnöthig zu sagen, daß er ein Seemann ist, ich habe es von dem ersten Tage an gedacht, als ich diesen Herrn mit der kleinen Kanone zurückkommen sah. Jetzt kommt er von den Klippen zurück mit seinem Glücke und dem meinigen und dem des Landes; es ist ein Mann, von dem man eines Tages als von etwas Unmöglichem sprechen wird. Du hast gesagt: Ich werde ihn heirathen und Du wirst ihn heirathen; und Du wirst Kinder bekommen und ich Großvater werden und Du wirst die Aussicht haben, die Frau eines ernsten Mannes zu sein, welcher arbeitet, nützlich, bewundernswerth ist und mehr werth als hundert andere; eines Mannes, der die Erfindungen Anderer rettet, der etwas Außergewöhnliches ist; und Du wirst nicht, wie alle andern reichen Mädchen dieser Insel, einen Soldaten oder Pfaffen heirathen, das heißt einen Mörder oder einen Lügner. Aber was machst Du denn in Deinem Winkel, Gilliatt? Man sieht Dich ja nicht. Douce! Grâce! Die ganze Welt, Licht. Beleuchtet mir meinen Schwiegersohn taghell. Ich verlobe Euch, meine Kinder. Das ist Dein Mann und mein Schwiegersohn, Gilliatt vom Bû de la Rue, der gute Junge, der große Matrose und ich werde keinen andern Schwiegersohn und Du wirst keinen andern Mann haben, ich gebe darauf dem lieben Gott mein Ehrenwort. Ah! da sind Sie ja auch, Herr Pfarrer, Sie werden mir die jungen Leute da trauen.

Mess Lethierry’s Auge war soeben auf den ehrwürdigen Ebenezer gefallen.

Douce und Grâce hatten gehorcht und zwei Lichter auf den Tisch gesetzt, welche Gilliatt vom Wirbel bis zur Zehe erleuchteten.

– Wie schön ist er! rief Lethierry aus.

Gilliatt sah abscheulich häßlich aus.

Er war noch gerade so, wie er am Morgen die Klippen verlassen hatte, in zerrissenen Kleidern, die Ellbogen durchbohrt, den Bart lang, die Haare zerzaust, die Augen entzündet und geröthet, das Gesicht aufgesprungen, die Hände blutend, die Füße nackt. Einige Pusteln des Krakens waren noch auf seinen behaarten Armen sichtbar.

Lethierry betrachtete ihn.

– Das ist mein wahrer Schwiegersohn. Wie er sich mit dem Meere herumgeschlagen hat! Er ist ganz zerfetzt! Welche Schultern! Welche Hände! Wie schön bist Du!

Grâce lief zu Deruchette und hielt ihr den Kopf. Sie war in Ohnmacht gefallen.

————

Zweites Capitel. Der Lederkoffer.

Seit Tagesanbruch befand sich ganz St. Sampson auf den Beinen und ganz St. Pierre Port kam soeben an. Die Wiederauferstehung der Durande erregte auf der Insel ein Aussehen, ähnlich dem, welches in Südfrankreich die Salette verursachte. Der Quai wimmelte von Menschen, welche den aus der Barke ragenden Schlot betrachten wollten. Man hätte ihn auch gern in der Nähe besehen und die Maschine angefaßt; aber Lethierry hatte nach einer neuen triumphirenden Untersuchung der Maschine am Tage zwei Matrosen als Wache in der Barke aufgestellt, welche jede Annäherung untersagen mußten. Außerdem genügte ja der Rauchfang den Zuschauern, welche ganz außer sich vor Staunen waren. Man sprach nur von Gilliatt, erklärte und billigte seinen Beinamen der »Böse;« und die Bewunderung gipfelte sich in folgendem Satze: »Es ist nicht immer angenehm, auf der Insel Leute zu haben, welche solche Dinge zu Stande bringen können.«

Von außen sah man Mess Lethierry an seinem Tische neben dem Fenster schreibend sitzen, ein Auge auf das Papier, das andere auf die Maschine gerichtet. Er war so versunken, daß er sich nur einmal unterbrach, um Douce zu rufen und sich bei ihr nach Deruchette zu erkundigen. Sie hatte geantwortet: »Das Fräulein ist aufgestanden und ausgegangen.«

Mess Lethierry sagte darauf:

Sie thut Recht, frische Luft zu schöpfen. Sie befand sich heute Nacht in Folge der Hitze etwas unwohl. Es waren viele Leute in dem Saale. Und diese Ueberraschung, diese Freude, außerdem waren die Fenster geschlossen. Sie wird einen stolzen Mann bekommen!« Und er begann wieder zu schreiben. Er hatte schon zwei Briefe an die bedeutendsten Schiffsbaumeister in Bremen vollendet und zugesiegelt.

Jetzt schloß er den dritten.

In Folge des Geräusches eines Rades auf dem Quai drehte er den Kopf um, lehnte sich zum Fenster hinaus und sah den Weg, welcher vom Bû de la Rue herführt, einen Jungen, der sich nach St. Pierre Port wandte, mit einer Karre heraufkommen. Auf der Karre lag ein mit Kupfer- und Zinnnägeln beschlagener Koffer aus gelbem Leder.

Er redete den Jungen an:

– Wo willst Du hin?

Der Junge blieb stehen und antwortete:

– Zum Cashmere.

– Wozu?

– Den Koffer hinbringen.

– Nun gut; Du wirst diese drei Briefe mitnehmen.

Mess Lethierry öffnete seinen Tischkasten, nahm ein Zwirnknäuel heraus, knüpfte die drei Briefe, welche er soeben geschrieben hatte, mit einem Kreuzknoten zusammen und warf sie dem Jungen zu, der sie mit beiden Händen auffing.

– Du wirst dem Capitän des Cashmere sagen, daß sie von mir sind und daß er sie besorgen möge. Sie sind nach Deutschland. Nach Bremen über London.

– Ich werde den Capitän nicht sprechen, Mess Lethierry.

– Wieso?

– Der Cashmere ist nicht auf dem Quai.

– Ah!

– Er ist auf der Rhede.

– Aha, wegen der Fluth.

– Ich kann nur den Hafenpatron sprechen.

– Du wirst ihm meine Briefe anempfehlen.

– Ja, Mess Lethierry.

– Wann fährt der Cashmere ab?

– Um zwölf Uhr.

– Um Mittag steigt heute die Fluth; er hat sie gegen sich.

– Aber den Wind hat er für sich.

– Mein Sohn, sagte Mess Lethierry, mit seinem Zeigefinger auf den Rauchfang der Maschine weisend, siehst Du das? Das spottet wider Wind und Wellen.

Der Junge steckte die Briefe ein, faßte seine Karre wieder und setzte seinen Weg nach der Stadt fort. Mess Lethierry rief: Douce! Grâce!

Grâce öffnete die Thür halb.

– Mess, was giebt es?

– Komm herein und warte.

Mess Lethierry nahm ein Blatt Papier und begann zu schreiben. Wenn Grâce, welcher hinter ihm stand, neugierig gewesen wäre und den Kopf vorgebogen hätte, so würde sie über seine Schulter hinweg Folgendes haben lesen können:

»Ich schreibe nach Bremen um Holz. Ich habe während des ganzen Tages wegen des Kostenanschlages mit den Zimmerleuten Zusammenkünfte. Die Wiederherstellung wird schnell gehen. Gehe Du Deinerseits zu dem Dekan wegen des Dispenses. Ich wünsche, daß die Hochzeit so bald als möglich sei, sofort wäre das Beste. Ich beschäftige mich mit der Durande, beschäftige Du Dich mit Deruchette.«

Er datirte und unterzeichnete: »Lethierry.«

Er gab sich nicht die Mühe, den Brief zuzusiegeln, sondern kniff ihn einfach viermal durch und gab ihn Grâce.

– Bringe das dem Gilliatt.

– Am Bû de la Rue?

– Ja.

Drittes Buch. Die Abfahrt des Cashmere.


Erstes Capitel. Der Havelet dicht bei der Kirche.

Die Neuigkeiten verbreiten sich schnell an kleinen Orten. Den Rauchfang der Durande unter Mess Lethierry’s Fenstern zu sehn, beschäftigte seit Sonnenaufgang ganz Guernesey. Jedes andere Ereigniß war gegen dieses zurückgewichen. Man sprach nicht vom Tod des Dekans von St. Asaph, es war nicht mehr die Rede von dem ehrenwerthen Ebenezer Caudray, noch von seinem plötzlichen Reichthum oder seiner Abfahrt mit dem Cashmere. Die von den Klippen zurückgebrachte Maschine der Durande, das war das Tagesgespräch. Man glaubte nicht daran. Der Schiffbruch war außerordentlich erschienen, die Rettung hielt man geradezu für unmöglich. Man mußte sich davon mit seinen eigenen Augen überzeugen. Jede andere Beschäftigung wurde verschoben. Lange Reihen von Bürgerfamilien, vom Niedrigsten bis zum Höchsten, Männer, Frauen, Stutzer, Mütter mit Kindern und Kinder mit Puppen, drängten sich von allen Seiten auf das »sehenswerthe Ding« bei den Bravées zu und drehten St. Pierre-Port den Rücken. Viele Läden blieben daselbst geschlossen; in der Kaufmannshalle stockte der Verkauf und der Handel völlig, die ganze Aufmerksamkeit galt der Durande; nicht ein Kaufmann hatte Geschäfte gemacht, mit Ausnahme eines Goldschmiedes, der zu seinem großen Erstaunen einen goldenen Trauring an einen Menschen verkauft hatte, der sehr eilig schien und ihn nach der Wohnung des Herrn Dekan fragte. Die offenen Läden dienten als Klatschstätten, in welchen man laut die wunderbare Rettung besprach. Nicht ein Spaziergänger ließ sich blicken.

Die Kirche zu St. Pierre-Port, ein dreifaches Giebelgebäude mit angesetztem Bogengänge und Thurmspitze, befindet sich am Rande des Wassers im Hintergrunde des Hafens fast auf der Landungsstelle selbst. Sie begrüßt die Ankommenden und verabschiedet die Fortgehenden. Diese Kirche ist der hervorragendste Punkt der langen Linie, welche die Stadt dem Meere zukehrt.

Sie ist zugleich Pfarrkirche von St.-Pierre-Port und Dechanei der ganzen Insel und hat als Verweser den Vicebischof, einen Geistlichen mit unbeschränkter Vollmacht.

Der Hafen von St. Pierre-Port, welcher jetzt sehr schön und groß ist, war zu jener Zeit und noch vor zehn Jahren geringer, als der von St. Sampson. Es bildeten ihn zwei große, gebogene Cyklopenmauern, Tribord und Backbord, vom Ufer fortlaufend und an ihrem äußersten Ende, wo sich ein kleiner Leuchtthurm befand, fast zusammenstoßend. Unter diesem Leuchtthurme gestattete eine schmale Einfahrt, noch mit dem doppelten Kettenringe versehen, welcher sie im Mittelalter schloß, den Schiffen einen Durchgang. Man stelle sich eine halbgeöffnete Hummerscheere vor, so sah der Hafen von St. Pierre-Port aus. Diese Zange trug auf ihrem Boden etwas Wasser, was sie zum Stillstehen zwang. Aber bei Ostwind drang die Fluth durch die halbe Oeffnung ein und es wogte im Hafen, so daß es alsdann sicherer war, ihn nicht zu betreten. Der Cashmere hatte dies an jenem Tage gethan und war auf der Rhede vor Anker gegangen.

Bei Ostwind griffen die Schiffe gern zu diesem Hülfsmittel, wodurch sie außerdem noch die Hafenkosten sparten. Dann nahmen die von der Stadt eingesetzten Schiffer, ein braver Schlag von Seeleuten, welche der neue Hafen abschaffte, entweder an dem Orte der Einschiffung oder an verschiedenen Stellen des Strandes die Reisenden auf und brachten sie mit ihrem Gepäck, oft bei hoher See, aber stets ohne Unfall, zu den abfahrenden Schiffen Der Ostwind ist ein für die Ueberfahrt nach England sehr günstiger Küstenwind; er schleudert nicht, sondern rollt die Schiffe hinüber.

Befand sich das abfahrende Schiff im Hafen, so ging Jeder hier an Bord; lag es auf der Rhede, so hatte man die Wahl zwischen einem der Küstenpunkte, welche in der Nähe des Ankerplatzes lagen. In allen Schlupfwinkeln fand man Schiffer, wie man sie brauchte.

Der Havelet war ein solcher Schlupfhafen; er lag ganz dicht neben der Stadt, war aber so öde, daß er von ihr sehr entfernt zu sein schien. Diese Einsamkeit verdankte er dem Engpasse der hohen Brandungen des Forts George, welches diese geheimnißvolle Zufluchtsstätte beherrschte. Auf mehreren Wegen gelangte man zu ihm. Der nächste zog sich am Ufer entlang; er hatte den Vortheil, daß man aus der Stadt und der Kirche in fünf Minuten dorthin gelangte; den Nachtheil aber, daß ihn die Fluth täglich zweimal bedeckte. Die andern, mehr oder weniger abgebrochenen Wege verloren sich in den scharfen Ausbiegungen des Ufers. Der Havelet lag selbst am hellen Tage im Halbschatten; schräge Felsen hingen an allen Orten über. Dicht verwachsenes Gesträuch und Buschwerk verdunkelte und bedeckte mit einer Art sanfter Nacht dieses Gewirr von Felsen und Wellen; es gab nichts Stilleres als dieser Schlupfwinkel bei ruhigem Wetter, nichts Aufgeregteres bei hoher See. Dort wurden die Spitzen einzelner Zweige beständig von Schaum bespritzt. Im Frühling war er voll Blumen, Nester, Duft, Vögeln, Schmetterlingen und Bienen. Dank den neuesten Arbeiten existirt diese Wildniß heute nicht mehr; an ihrer Stelle befinden sich schöne gerade Linien, Mauerwerke, Quais und Gärtchen; die fehlerhaften Stellen sind ausgebessert; der neuere Geschmack hat den sonderbaren Formen der Berge und der Ungleichheit der Felsen Gerechtigkeit widerfahren lassen.

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Zweites Capitel. Verzweiflung herrscht.

Es war noch nicht ganz zehn Uhr Morgens, ein Viertel vor, wie man auf Guernesey sagt.

Die nach St. Sampson strömende Menge wuchs allem Anschein nach.

Da die ganze Bevölkerung von fieberhafter Neugierde ergriffen, dem Norden der Insel zuströmte, so war das ganze Havelet, welches im Süden liegt, verlassener als je.

Trotzdem sah man ein Boot und einen Schiffer dort. In dem Schiffe lag ein Nachtsack, der Schiffer schien zu warten.

Auf der Rhede sah man den Cashmere vor Anker, ohne irgend eine Vorbereitung zur Austakelung, da er erst um Mittag abfahren sollte.

Ein Vorübergehender, welcher in der Nähe einer der Ufertreppen am Strande gehorcht hätte, würde ein Murmeln von Sprechenden in dem »kleinen Hafen« gehört und, wenn er sich über die Klippen gelehnt hätte, in einiger Entfernung von dem Boote in einem von Zweigen überdeckten Felsenwinkel, wohin der Blick des Schiffers nicht dringen konnte, zwei Personen bemerkt haben, einen Mann und ein Weib, Ebenezer und Deruchette.

Diese dunklen Stellen am Meeresufer, welche die Badenden anlocken, sind nicht immer so einsam, als man glaubt. Man wird dort zuweilen beobachtet und gehört. Wer dorthin flieht und sich dort verbirgt, kann leicht durch das dichte Gebüsch, in Folge der vielfachen und oft verschlungenen Wege, verfolgt werden. Die Felsen und die Bäume, welche den Flüchtling verbergen, können auch einen Zeugen verdecken.

Deruchette und Ebenezer standen gerade gegenüber, die Gesichter einander zugewendet, Hand in Hand. Deruchette sprach. Ebenezer schwieg. Eine gewisse Wehmuth lag auf Deruchette’s Zügen und ihre Wimpern bedeckten Thränen.

Trostlosigkeit und Leidenschaft prägten sich auf Ebenezer’s religiöser Stirn aus. Auf diesem, bis dahin rein engelhaften Gesichte drückte sich bereits der Stempel des Unglücks aus. Der, welcher bis jetzt nur über das Dogma nachgedacht hatte, begann über das Schicksal nachzudenken, ein für einen Priester unheilvolles Nachsinnen. Der Glauben scheitert daran.

Die Religionen, welche die Ehelosigkeit vorschreiben, wissen, was sie thun. Nichts macht den Priester so unfähig, wie die Liebe zu einem Weibe. Alle Arten von Nebel verfinsterten den sonst so klaren Blick von Ebenezer.

Er betrachtete Deruchette immer wieder.

Die beiden Wesen beteten sich an.

In Ebenezer’s Augapfel schimmerte die stumme Verehrung der Verzweiflung.

Deruchette sprach:

– Sie werden nicht abreisen. Ich habe nicht die Kraft dies zuzulassen. Sehen Sie, ich glaubte von Ihnen Abschied nehmen zu können, ich kann es nicht. Warum sind Sie gestern gekommen? Sie mußten nicht kommen, wenn Sie fortgehen wollten. Ich habe nie mit Ihnen gesprochen. Ich liebte Sie, aber ich wußte es nicht. Nur am ersten Tage, als der ehrwürdige Herode die Geschichte von der Rebecca las und Ihre Augen meinen begegneten, fühlte ich meine Wangen brennen und dachte: O! Wie hat Rebecca erröthen müssen! Es ist gleichgültig. Hätte man mir vorgestern gesagt: »Sie lieben den Pfarrer«, so würde ich darüber gelacht haben. Ich achtete nicht auf mich. Ich ging in die Kirche und sah Sie; ich glaubte, daß Jeder dasselbe thäte, wie ich. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Sie haben nichts dazu gethan, daß ich Sie liebe, Sie haben Sich keine Mühe gegeben, Sie sahen mich an; es ist nicht Ihr Fehler, wenn Sie die Leute ansehen, aber in Folge dessen betete ich Sie an. Ich ahnte es nicht. Wenn Sie das Buch nahmen, ward es bei mir Licht; wenn es Andere nahmen, war es nur ein gewöhnliches Buch. Sie lenkten bisweilen Ihre Augen auf mich. Sie sprachen von Erzengeln und waren der Erzengel selbst. Was Sie sagten, dachte ich sofort. Ich weiß nicht, ob, bevor Sie kamen, ich an Gott glaubte. Seit Ihrem Dasein wurde ich ein betendes Weib. Ich sagte zu Douce: Kleide mich recht schnell an, daß ich nicht beim Gottesdienst fehle. Und ich lief in die Kirche. Das also heißt: in einen Mann verliebt sein. Ich sagte zu mir: Wie andächtig werde ich! Sie haben mir gezeigt, daß ich nicht des lieben Gottes wegen in die Kirche ging. Ich ging Ihretwegen hin, das ist wahr. Sie sind schön, Sie sprechen schön; wenn Sie die Arme gen Himmel hoben, schien es mir, als ob Sie mein Herz in Ihren beiden weißen Händen hielten. Ich war närrisch, ich wußte es nicht. Wollen Sie, daß ich Ihnen Ihren Fehler sage; es ist der, daß Sie gestern in den Garten kamen und mit mir sprachen. Hätten Sie mir nichts gesagt, so hätte ich nichts gewußt. Sie wären abgefahren, ich wäre vielleicht traurig geworden, aber jetzt würde ich sterben. – Jetzt, wo ich weiß, daß ich Sie liebe, ist es nicht mehr möglich, daß Sie fortgehen. Woran denken Sie? Sie scheinen mich nicht zu hören.

Ebenezer antwortete:

– Sie haben gehört, was gestern gesagt worden ist.

– Ach!

– Was kann ich dagegen?

Sie schwiegen einen Augenblick. Ebenezer fuhr fort:

– Ich kann nur noch eins thun. Abfahren.

– Und ich, sterben. Ach! Ich wünschte, daß es kein Meer und nur einen Himmel gäbe. Es scheint mir, als wenn sich dann Alles ordnen ließe; wir würden dann zusammen abreisen. Sie hätten nicht mit mir sprechen sollen. Warum haben Sie mit mir gesprochen? Jetzt gehen Sie nicht. Was soll aus mir werden? Ich sage Ihnen, daß ich sterben muß. Sie werden weit sein, wenn ich auf dem Kirchhofe bin. Ach! Mir ist das Herz gebrochen. Ich bin sehr unglücklich. Mein Onkel ist aber doch nicht schlecht.

Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß Deruchette beim Sprechen Mess Lethierry ihren Onkel nannte, sonst hatte sie ihn nur ihren Vater genannt.

Ebenezer wich einen Schritt zurück und gab dem Schiffer ein Zeichen. Man hörte das Ruder in den Dollen knarren und den Schritt des Mannes an Bord seines Nachens.

– Nein, nein! schrie Deruchette.

Ebenezer näherte sich ihr.

– Ich muß es, Deruchette.

– Nein, nie! – Wegen einer Maschine! – Ist das möglich? Haben Sie gestern den schrecklichen Menschen gesehen? Sie können mich nicht verlassen. Sie haben Verstand, Sie werden einen Ausweg finden. Sie können mir unmöglich gesagt haben, daß ich Sie heute hier finden soll, in der Absicht, abzureisen. Ich habe Ihnen nichts gethan. Sie haben Sich nicht über mich zu beklagen. Mit jenem Boote wollen Sie fort? Ich will es nicht. Sie werden mich nicht verlassen. Man öffnet nicht den Himmel, um ihn wieder zu schließen. Ich sage Ihnen, Sie werden bleiben. Außerdem ist es noch nicht Zeit. Ach! – Ich liebe Dich.

Und sich an ihn drückend, schlang sie ihre Arme um seinen Hals, als wenn sie damit ein Band um Ebenezer schließen und mit ihren gefalteten Händen zu Gott beten wollte.

Er löste diese zarten Fesseln, die so viel Widerstand leisteten, als sie konnten.

Deruchette fiel auf einen mit Epheu bedeckten Stein nieder, mit einer mechanischen Bewegung den Aermel ihres Kleides bis zum Ellbogen aufschürzend und einen reizenden nackten Arm zeigend, während ihre starren Augen in feuchter und todtenähnlicher Klarheit schimmerten. Die Barke näherte sich.

Ebenezer faßte ihren Kopf mit seinen beiden Händen. Die Jungfrau hatte das Aussehen einer Wittwe und der Jüngling das eines Vaters. Er berührte ihr Haar mit einer Art heiliger Vorsicht, blickte sie einige Augenblicke an, drückte dann auf ihre Stirn einen jener Küsse, unter denen sich der Himmel zu öffnen scheint, und sagte mit einer Stimme, in welcher der höchste Schmerz zitterte und in der man die Zerrissenheit der Seele fühlte, zu ihr jenes Wort, das Wort der Tiefen: Leb‘ wohl!

Deruchette brach in Schluchzen aus.

In demselben Augenblicke hörten sie eine leise und ernste Stimme fragen:

– Warum heirathet Ihr Euch nicht?

Ebenezer wendete den Kopf um; Deruchette schlug die Augen auf.

Gilliatt stand vor ihnen.

Er war soeben durch einen Seitenweg eingetreten.

Gilliatt war nicht mehr derselbe Mensch, wie Tags zuvor. Er hatte seine Haare gekämmt, seinen Bart geordnet, Schuhe an den Füßen, ein weißes Schifferhemde mit großem Umschlagekragen und seine neuesten Matrosensachen angezogen. Man sah einen Goldreifen an seinem kleinen Finger. Er schien vollkommen ruhig. Seine Farbe war todtenbleich.

Sie blickten ihn verwundert an. Obgleich unkenntlich, erkannte ihn Deruchette doch. Was die Worte anbetraf, welche er gesprochen hatte, so waren sie so entfernt von dem, was die Beiden in jenem Augenblicke dachten, daß sie an ihrem Geiste vorübergeglitten waren.

Gilliatt fuhr fort:

– Wozu braucht Ihr Abschied zu nehmen. Heirathet Euch und fahrt miteinander ab.

Deruchette bebte. Ein Zittern durchlief sie vom Kopf bis zu den Füßen.

Gilliatt sprach weiter:

– Miß Deruchette ist 21 Jahr alt. Sie hängt also nur von sich ab. Ihr Onkel ist nur Ihr Onkel. Ihr liebt Euch.

Deruchette unterbrach ihn sanft:

– Wie kommt es, daß Sie hier sind?

– Heirathet Euch, drängte Gilliatt.

Deruchette fing an zu verstehen, was dieser Mann zu ihr sagte. Sie murmelte:

– Mein armer Onkel …

– Er würde sich vor der Hochzeit weigern, nach der Hochzeit wird er seine Zustimmung geben. Außerdem gehen Sie ja fort. Wenn Sie wiederkommen, wird er Ihnen verzeihen.

Gilliatt fügte mit einem Anfluge von Bitterkeit hinzu: – Und dann denkt er nur noch daran, sein Schiff wiederzubauen. Das wird ihn während Ihrer Abwesenheit beschäftigen. Die Durande wird ihn trösten.

Er gehorchte der Bestechung dieses glücklichen und plötzlichen Umschwunges. Die bei einem Priester wahrscheinlichen Gewissensbisse schmolzen und lösten sich in diesem warmen liebenden Herzen auf.

Gilliatt’s Stimme wurde kurz und hart und hörte sich wie fieberhafte Pulsschläge an:

– Sofort. Der Cashmere segelt in zwei Stunden ab. Ihr habt gerade diese Zeit, aber nur diese Zeit. Kommt.

Ebenezer betrachtete ihn aufmerksam; plötzlich rief er:

– Ich erkenne Euch. Ihr habt mir das Leben gerettet.

Gilliatt antwortete:

– Ich glaube nicht.

– Da unten, an der Bankspitze.

– Ich kenne den Ort nicht.

– An dem Tage meiner Ankunft.

– Verlieren wir keine Zeit.

– Und ich täusche mich nicht, Ihr seid der Mann von gestern Abend.

– Vielleicht.

– Wie heißt Ihr?

Gilliatt sprach mit lauter Stimme:

– Schiffer, erwartet uns. Wir kommen gleich wieder. Fräulein, Sie fragten mich, wie ich hierhin komme; das geschah ganz einfach; ich ging hinter Ihnen. Sie sind 21 Jahre alt. Hier zu Lande sind die Leute dann mündig und hängen von sich selbst ab; man verheirathet sich in einer halben Stunde. Schlagen wir den Weg am Meeresufer ein. Er ist gangbar, da die See erst um Mittag steigt. Aber schnell. Kommt mit mir.

Deruchette und Ebenezer schienen sich durch einen Blick zu fragen. Sie standen nebeneinander, ohne sich zu rühren, sie waren wie trunken. Sie verstanden ohne zu verstehen.

– Er nennt sich Gilliatt, sagte Deruchette zu Ebenezer.

Gilliatt begann mit einem gewissen Nachdruck wieder:

– Worauf wartet Ihr? Ihr sollt mir doch folgen.

– Wohin? fragte Ebenezer.

– Dorthin.

Und Gilliatt zeigte mit dem Finger auf den Glockenthurm der Kirche.

Sie folgten ihm.

Gilliatt ging voran mit festem Schritte. Die beiden schwankten.

Je näher sie dem Thurme kamen, um so mehr drückte sich auf Ebenezer’s und Deruchette’s reinen und schönen Gesichtern die Heiterkeit der Seele aus. So nahe der Kirche zu sein, stimmte sie fröhlich. In Gilliatt’s starrem Auge lag die Nacht.

– Ich möchte nicht, äußerte Deruchette mit einer Stumpfheit, in die sich Freude mischte, Kummer zurücklassen.

– Er wird nicht lange anhalten, antwortete Gilliatt.

Ebenezer und Deruchette waren noch wie versteinert. Sie erholten sich jetzt. Je mehr ihre Verwirrung abnahm, um so besser verstanden sie den Sinn von Gilliatt’s Worten. Eine Wolke blieb noch, aber es war nicht ihre Sache, Widerstand zu leisten. In der Stellung Deruchette’s, die sich unwillkürlich auf Ebenezer stützte, lag etwas, was mit Gilliatt’s Worten gemeinschaftliche Sache machte. Das Räthsel der Gegenwart dieses Mannes und seiner Worte, welche besonders in Deruchette’s Geist mehrfaches Staunen hervorriefen, waren besondere Fragen. Dieser Mann sagte zu ihnen: Heirathet Euch. Das war klar. Gab es dabei eine Verantwortlichkeit, so übernahm er sie. Deruchette fühlte undeutlich, daß er aus verschiedenen Gründen das Recht dazu habe. Was er von Mess Lethierry sagte, war richtig. Ebenezer murmelte nachdenklich: Ein Onkel ist kein Vater.

Er glich fast einem Gespenst, welches zwei Seelen in das Paradies führt.

Der Pfad war ungleich, bisweilen naß und schwer zu gehen. Ebenezer, in Gedanken versunken, achtete nicht auf die Wasserpfützen und hervorragenden Steine. Von Zeit zu Zeit drehte sich Gilliatt um und rief Ebenezer zu: – Nehmen Sie sich vor diesen Steinen in Acht; reichen Sie ihr die Hand.

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Drittes Capitel. Die Vorsehung der Verleugnung.

Es schlug halb elf Uhr, als sie die Kirche betraten.

Zu dieser Zeit und wegen der Oede in der Stadt an diesem Tage war sie leer.

Im Hintergrunde jedoch befanden sich neben dem Tische, welcher in reformirten Kirchen die Stelle des Altars einnimmt, drei Personen: Der Dekan, sein Vertreter und der Registrator. Der Dekan, der ehrwürdige Jaquemin Herode saß; die beiden andern standen.

Die Schrift lag offen auf dem Tische.

Auf einem Seitentische lag noch ein anderes Buch, das Kirchenregister, ebenfalls offen und in ihm hätte ein aufmerksames Auge eine frischgeschriebene Seite, auf der die Dinte noch nicht ganz getrocknet war, bemerken können. Eine Feder und ein Schreibzeug befanden sich neben dem Register.

Als Se. Ehrwürden Jaquemin Herode Se. Ehrwürden Ebenezer Caudry eintreten sah, erhob er sich.

– Ich erwartete Sie, sagte er. Alles ist bereit.

Der Dekan hatte in der That seine Amtskleidung an.

Ebenezer sah Gilliatt an.

Se. Ehrwürden der Dekan fügte hinzu:

– Ich stehe Ihnen zu Diensten, lieber College.

Und er begrüßte ihn.

Nach der Richtung der Augen des Dekans zu schließen, war der Gruß offenbar nur für Ebenezer bestimmt. Dieser war Geistlicher und ein feiner Weltmann. Der Dekan begriff in seinem Gruße weder Deruchette, die zur Seite, noch Gilliatt, der hinten stand, ein. Es lag in seinem Blicke eine Begrenzung, die nur auf Ebenezer gerichtet war. Das Beobachten dieser Einzelheiten gehört zur guten Sitte und läßt die gesellschaftlichen Beziehungen erkennen.

Der Dekan fuhr mit anmuthig würdevollem Stolz fort:

– Lieber College, ich mache Ihnen ein doppeltes Compliment. Ihr Onkel ist todt und Sie nehmen sich eine Frau; Sie sind reich durch den einen und werden glücklich durch die andere. Uebrigens ist in Folge des Dampfschiffes, welches man wieder herstellen wird, Miß Lethierry jetzt auch reich, was mich freut. Miß Lethierry ist in dieser Pfarre geboren, ich habe den Tag ihrer Geburt nach dem Register eingetragen, sie ist mündig und gehört sich selbst an. Außerdem giebt ihr Onkel, welcher ihre ganze Familie bildet, seine Einwilligung. Sie wollen sich wegen Ihrer Abreise sofort verheirathen, ich verstehe das, obgleich ich der Trauung eines Pfarrers mehr Feierlichkeit gewünscht hätte. Ich stehe aber davon ab, um Ihnen dienen zu können. Wie Sie sehen, ist der ganze Act schon in das Register eingezeichnet, nur die Namen sind noch auszufüllen. Nach dem Gesetze und der Sitte kann die Hochzeit sofort nach dem Einschreiben gefeiert werden. Mein Vertreter wird der Zeuge des Gatten sein; was den der Gattin anbetrifft …

Der Dekan wandte sich Gilliatt zu, welcher ein Zeichen mit dem Kopfe machte.

– Das genügt, fuhr er fort.

Ebenezer blieb unbeweglich. Deruchette war außer sich, wie versteinert.

Der Dekan sprach weiter:

– Ein Hinderniß besteht indeß noch.

Deruchette machte eine Bewegung.

Der Dekan fuhr fort:

Der hier gegenwärtige Abgeordnete Mess Lethierry’s, welcher für Euch die Erlaubniß nachgesucht und die Erklärung im Register unterzeichnet hat – und mit dem Daumen seiner linken Hand deutete der Dekan auf Gilliatt, wodurch er des Nennens eines Namens überhoben wurde – Meß Lethierry’s Abgeordneter sagte mir heute früh, daß Mess Lethierry, zu beschäftigt, um selbst kommen zu können, wünsche, daß die Heirath sofort stattfinde. Dieser Wunsch genügt mündlich nicht. Ich könnte nicht, in Folge der zu bewilligenden Dispense und der Unregelmäßigkeit, welche ich auf mich nehme, so schnell darüber fortgehen, ohne mich bei Mess Lethierry zu unterrichten, wenn man mir nicht seine Unterschrift zeigen kann. So gut auch immer mein Wille ist, so darf ich mich doch nicht mit einem Wort, welches man mir wiedersagt, begnügen. Ich muß etwas Geschriebenes haben.

– Wenn es weiter nichts ist, antwortete Gilliatt.

Und er hielt Sr. Ehrwürden ein Papier hin. Der Dekan nahm dasselbe, durchflog es in einem Augenblick, schien einige, ohne Zweifel überflüssige Zeilen zu übergehen und las dann laut:

– »… Du gehe Deinerseits zu dem Dekan wegen des Dispenses. Ich wünsche, daß die Hochzeit so bald als möglich sei; sofort wäre das Beste.«

Er legte das Papier auf den Tisch und fuhr fort:

– Unterzeichnet Lethierry. Es wäre ehrfurchtsvoller gewesen, die Sache an mich zu adressiren. Da es sich aber um einen Kollegen handelt, so verlange ich weiter nichts.

Ebenezer sah von Neuem Gilliatt an. Es giebt ein Verständniß der Seelen. Ebenezer fühlte, daß Gilliatt betrog; er hatte aber nicht die Kraft, nicht einmal den Gedanken, dies auszusprechen. Sei es aus Gehorsam vor einem dunkeln Heldenmuthe, den er halb ahnte, sei es, daß das Gewissen durch die Fülle des Glückes betäubt wurde; er blieb sprachlos.

Der Dekan nahm die Feder und füllte unter dem Beistande des Registrators die weißen Stellen auf der beschriebenen Seite in dem Register aus, dann drehte er sich um und lud mit einer Handbewegung Ebenezer und Deruchette ein, an den Tisch heranzutreten.

Die Ceremonie begann.

Es war ein heiliger Augenblick.

Ebenezer und Deruchette standen neben einander vor dem Geistlichen. Wer jemals träumte, daß er sich verheirathete, empfand das, was jetzt beide fühlten.

Gilliatt stand in einiger Entfernung im Dunkel der Säulen.

Deruchette hatte sich am Morgen, als sie aufstand, in ihrer Verzweiflung an das Grab und Schweißtuch denkend, weiß angekleidet. Dieser Gedanke an den Tod war zu dem an die Hochzeit geworden. Das weiße Kleid macht sofort die Braut. Das Grab ist auch eine Trauung.

Ein Heiligenschein umgab Deruchette. Nie war sie so reizend, wie in jenem Augenblicke gewesen. Sie hatte den Fehler, vielleicht zu hübsch, und nicht schön genug zu sein. Ruhig, das heißt ohne Leidenschaft und Kummer, war Deruchette, wie wir schon gesagt haben, überaus lieblich. Deruchette war durch Liebe und Leiden groß geworden. Sie hatte dieselbe Zartheit mit mehr Würde, dieselbe Frische mit mehr Würze erhalten, gleichsam als wenn sich ein Maßliebchen in eine Lilie verwandelt hätte.

Die Feuchtigkeit versiegter Thränen war auf ihren Wangen zu sehen, vielleicht lag noch eine Zähre in dem Winkel ihres Lächelns. Getrocknete kaum sichtbare Thränen sind dem Glücke ein düsterer und schöner Schmuck.

Der Decan, neben dem Tische stehend, legte einen Finger auf die offene Bibel und fragte laut:

– Erhebt Jemand Einspruch?

Niemand antwortete.

– Amen, sagte der Dekan.

Ebenezer und Deruchette traten Seiner Ehrwürden einen Schritt näher.

Der Dekan sagte:

– Joë Ebenezer Caudray, willst Du dieses Weib zur Gattin haben?

Ebenezer antwortete:

– Ich will es.

Der Dekan fuhr fort:

– Durande Deruchette Letthierry, willst Du diesen Mann zum Gatten haben?

Deruchette, in ihrer Seelenangst und in übermäßiger Freude, murmelte mehr als sie sprach: – Ich will es.

Dann blickte nach dem schönen Ritus der anglikanischen Kirche der Dekan um sich und that in den Schatten der Kirche folgende feierliche Frage:

– Wer giebt dieses Weib diesem Manne?

– Ich, antwortete Gilliatt.

Es entstand ein Schweigen. Ebenezer und Deruchette fühlten einen gewissen unbestimmten Druck durch ihr Entzücken hindurch.

Der Dekan legte Deruchette’s rechte Hand in Ebenezer’s rechte Hand und dieser sagte zu jener:

– Deruchette, ich nehme Dich zu meinem Weibe, sei es, daß Du schlechter oder besser, reicher oder ärmer, krank oder gesund bist, um Dich bis zu Deinem Tode zu lieben, hierauf gebe ich Dir mein Wort.

Der Dekan legte Ebenezer’s Rechte in Deruchette’s Rechte und diese sagte zu jenem:

– Ebenezer, ich nehme Dich zu meinem Mann, sei es, daß Du besser oder schlechter, reicher oder ärmer, gesund oder krank bist, um Dich zu lieben und Dir zu gehorchen bis in den Tod, hierauf gebe ich Dir mein Wort.

Der Dekan fuhr fort:

– Wo ist der Ring?

Daran war nicht gedacht worden. Ebenezer hatte keinen Ring.

Gilliatt zog den Goldreifen ab, welchen er an seinem kleinen Finger trug und reichte ihn dem Dekan. Das war wahrscheinlich der »Trauring«, welcher an demselben Morgen bei dem Goldschmiede auf der Kaufhalle erstanden ward.

Der Dekan legte ihn auf die Schrift und gab ihn dann Ebenezer.

Dieser nahm Deruchette’s kleine, linke, ganz zitternde Hand, steckte den Ring an den vierten Finger und sprach:

– Ich eheliche Dich mit diesem Ringe.

– Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, hob der Dekan an.

– So sei es, fuhr sein Stellvertreter fort.

Der Dekan sprach mit lauter Stimme:

– Ihr seid Gatten.

– So sei es, sprach der Stellvertreter.

Der Dekan fuhr fort:

– Laßt uns beten.

Ebenezer und Deruchette wendeten sich gegen den Tisch und knieten nieder.

Gilliatt blieb stehen und beugte den Kopf.

Jene beugten sich vor Gott, dieser vor seinem Geschicke.

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Viertes Capitel. Für Deine Frau, wenn Du Dich verheirathen wirst.

Bei ihrem Austritte aus der Kirche sahen sie den Cashmere, welcher sich näherte.

– Ihr kommt zur Zeit, sagte Gilliatt.

Sie schlugen den Weg nach dem kleinen Hafen wieder ein.

Jetzt gingen sie vorn und Gilliatt hinter ihnen.

Es waren zwei Sonnambulen, welche so zu sagen, nur ihr Verzückung gewechselt hatten. Sie wußten nicht, wo sie waren, noch was sie thaten. Sie sprachen nicht, da sie sich zu viele Dinge mit der Seele sagten. Deruchette drückte Ebenezer’s Arm gegen sich.

Gilliatt’s Schritte hinter ihnen ließ sie auf Augenblicke daran denken, daß er hinter ihnen war. Aus dem Grunde ihres Herzens dankten sie ihm glühend und überschwenglich. Deruchette sagte sich, daß später ein gegenseitiges Aussprechen erfolgen müsse. Unterdessen nahmen sie sein Opfer dankbar an. Sie fühlten sich in der Gewalt dieses entschiedenen und schnellen Menschen, der durch sein Auftreten ihr Glück begründet hatte. Fragen an ihn zu richten, mit ihm plaudern, war jetzt unmöglich. Zu viele Eindrücke drängten mit einem Male auf ihn ein.

Deruchette besonders hatte seit einigen Stunden jede Art von Aufregung durchgemacht; zuerst die Ueberraschung, – Ebenezer in dem Garten; dann das Alpdrücken, als Gilliatt zu ihrem Gatten erklärt wurde; hierauf die Trostlosigkeit, als Ebenezer ohne sie zur Abfahrt bereit war; jetzt die Freude, eine unerhörte Freude, mit einem unentzifferbaren Hintergrunde. Das Ungeheuer gab ihr den Engel, die Trauung nach der Todesangst; Gilliatt, gestern das Unheil, war heute das Heil. Sichtlich hatte er seit gestern keine andere Beschäftigung gehabt, als die Vorbereitungen zu ihrer Verbindung zu treffen; er hatte ja an Alles gedacht und Alles gethan: für Mess Lethierry geantwortet, mit dem Dekan gesprochen, die Einwilligung nachgesucht, die verlangte Erklärung unterzeichnet; nur so konnte die Trauung vor sich gehen. Aber Deruchette verstand ihn nicht; und selbst wenn sie das Wie begriffen hätte, würde sie nicht das Warum verstanden haben.

Eine Erklärung war zu lang, ein Dank zu kurz. Sie schwieg in dieser süßen Betäubung des Glücks.

In einigen Minuten waren sie am Havelet.

Ebenezer trat zuerst in das Boot. In dem Augenblicke, wo Deruchette ihm folgen wollte, fühlte sie sich an ihrer Hand sanft zurückgehalten. Es war Gilliatt, er hatte einen Finger auf eine Falte ihres Kleides gelegt.

– Madame, sprach er, Sie waren nicht darauf vorbereitet, abzureisen. Ich habe geglaubt, daß Sie vielleicht Kleider und Wäsche nöthig haben würden. Sie werden an Bord des Cashmere einen Koffer mit Frauensachen finden. Dieser Koffer stammt von meiner Mutter her und war für meine zukünftige Frau bestimmt. Erlauben Sie, daß ich ihn Ihnen anbiete.

Deruchette erwachte halb aus ihrem Traum und wandte sich zu Gilliatt, der mit leiser und kaum verständlicher Stimme fortfuhr:

– Jetzt ist es keine Zeit, Sie aufzuhalten, aber, Madame, ich glaube, Ihnen eine Erklärung schuldig zu sein. An dem Tage, an welchem sich das Unglück ereignete, befanden Sie sich in dem niedrigen Saale und sagten ein Wort. Sie erinnern sich dessen nicht; das ist ganz einfach. Man braucht sich nicht jedes Wortes zu erinnern, das man geredet hat. Mess Lethierry war sehr bekümmert. Gewiß war es ein gutes Schiff und leistete gute Dienste. Das Unglück auf dem Meere geschah; das ganze Land gerieth in Aufregung. Das sind natürliche Dinge, welche man vergessen hat. Das Schiff schien zwischen den Klippen verloren. Ich wollte nur sagen, daß man meinte, Niemand würde hingehen. Ich ging hin. Man sagte, es sei unmöglich; ich habe gezeigt, daß es nicht unmöglich war. Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir einen kleinen Augenblick zuhören. Sie begreifen, Madame, wenn ich dahin ging, so war es gewiß nicht, um Sie zu beleidigen. Außerdem schreibt sich die Geschichte schon von langer Zeit her. Ich weiß, daß Sie jetzt eilig sind. Wenn Sie Zeit hätten, wenn Sie sprächen, würden Sie sich erinnern; aber das dient zu nichts. Die Geschichte datirt bis zu einem Tage zurück, an welchem Schnee fiel. Und dann einmal, als ich an Ihnen vorüberging, glaubte ich, daß Sie lächelten. So erklärt sich das. Gestern nun hatte ich keine Zeit, in meine Wohnung zu gehen; ich kam von der Arbeit, war ganz zerrissen, jagte Ihnen Furcht ein; Sie befanden sich unwohl, man geht freilich nicht so zu Leuten; ich bitte Sie, mir deshalb nicht zu zürnen. Das ist Alles, was ich Ihnen sagen wollte. Sie werden abreisen. Es wird schönes Wetter sein. Es weht Ost. Leben Sie wohl, Madame. Sie werden es natürlich finden, daß ich ein wenig mit Ihnen sprach. Nicht wahr? Es ist die letzte Minute.

– Ich denke an den Koffer, erwiederte Deruchette. Aber warum heben Sie ihn nicht für Ihre Frau auf, wenn Sie sich verheirathen?

– Madame, ich werde mich wol nicht verheirathen.

– Das wäre schade, denn Sie sind gut. Ich danke Ihnen.

Und Deruchette lächelte. Gilliatt erwiederte das Lächeln.

Dann half er Deruchette beim Besteigen des Bootes.

In weniger als einer Viertelstunde landete er mit Deruchette und Ebenezer auf der Rhede am Cashmere.

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Fünftes Capitel. Das große Grab.

Gilliatt folgte dem Strande, ging schnell nach St. Pierre Port und dann nach St. Sampson am Meere entlang, sich wissentlich jeder Begegnung entziehend und alle belebten Wege vermeidend.

Seit langer Zeit war es, wie man weiß, seine Manier, das Land nach allen Richtungen hin zu durchstreifen, ohne von Jemand gesehen zu werden. Er kannte jeden Steg, alle einsamen und krummen Wege; er hatte die wilde Gewohnheit eines Wesens, welches sich nicht geliebt weiß; er blieb allein. Da er schon als kleines Kind in den Augen der Menschen kein Entgegenkommen sah, so hatte er früh die Neigung gehabt, allein zu sein und diese Neigung hatte sich später zum Instincte ausgebildet.

Er durchschritt die Esplanade, dann die Galerie. Von Zeit zu Zeit blickte er sich um und betrachtete hinter sich auf der Rhede den Cashmere, der so eben unter Segel ging. Es war geringer Wind; er ging schneller als das Schiff, immer auf dem äußersten Felsen am Ufer entlang mit gesenktem Kopfe. Die Fluth begann zu steigen.

Nach einer gewissen Zeit blieb er stehen und betrachtete, den Rücken dem Meere zukehrend, über die Felsen hinaus, welche den Weg nach Valle verdeckten, einen Eichenhain. Es waren die Eichen des Ortes, welcher die »Niedrigen Häuser« heißt. Dort unter diesen Bäumen hatte einst Deruchette’s Finger seinen Namen Gilliatt in den Schnee geschrieben. Schon lange war dieser Schnee geschmolzen.

Er setzte seinen Weg fort.

Im ganzen Jahre war noch kein so schöner Tag gewesen. Der Morgen hatte etwas Bräutliches. Es war einer jener Frühlingstage, an denen sich der Mai ganz in seiner Pracht entfaltet; die Schöpfung schien keine andere Absicht zu haben, als sich ein Fest zu geben und glücklich zu machen. Unter jedem Geräusche, im Walde wie im Dorfe, im Meere wie in der Luft, hörte man ein Girren. Die ersten Schmetterlinge wiegten sich auf den ersten Rosen. Alles war neu in der Natur, die Gräser, Moose, Blätter, Düfte und Strahlen. Durch alle Oeffnungen im Grünen schimmerte das Blau des Himmels. Einige schmachtende Wolken jagten sich auf dem Azur mit schwebenden Nymphen. Man glaubte Küsse, welche von unsichtbaren Lippen gewechselt wurden, vorüberfliegen zu hören. Es gab nicht eine Mauer, welche nicht, wie ein Brautführer, ihren Levkoyen-Strauß gehabt hätte. Der Frühling warf all sein Gold und Silber in den ungeheuren, von Gehölzen durchflochtenen Korb. Die neuen Schößlinge erschienen in ganz frischem Grün. Man hörte in der Luft lautes Willkomm-Rufen. Ueberall ließen eine göttliche Fülle und ein geheimnißvolles Wehen die panhafte und heilige Anstrengung der sich hervorarbeitenden Triebe ahnen. Was glänzte, glänzte heller; was liebte, liebte inniger. Lobgesänge lagen auf den Blumen und Entzücken auf dem Geräusch. Die große, überall verbreitete Harmonie entfaltete sich. Die Blume versprach dunkel die Frucht, alles Jungfräuliche träumte, die von der unendlichen Seele des Schattens vorgedachte Wiederauferstehung der Wesen spiegelte sich in allen Dingen wieder. Man verlobte sich überall und heirathete sich ohne Ende. Das Leben, das Weib, verband sich mit dem Unendlichen, dem Manne. Es war schön, hell und warm; durch die Hecken, in den Gebüschen sah man Kinder lachen. Einige spielten Verstecken. Die Aepfel-, Pfirsich-, Kirsch- und Birnbäume bedeckten die Pfade mit ihren großen, blassen oder rothen Blüthen. In dem Grase sproßten die Schneeglöckchen, Wintergrün, Primeln, Maßliebchen, Narzissen, Tausendschön, Veilchen und Veroniken. Die Arbeiterinnen der Bienen schwärmten und gingen ihren Geschäften nach. Die Ebene war voll des Murmelns der Gewässer und des Schwirrens der Fliegen. Die Natur, dem Frühling überall zugänglich, schwelgte in Ueppigkeit.

Als Gilliatt in St. Sampson ankam, bedeckte noch kein Wasser den Grund des Hafens, er konnte ihn trockenen Fußes durchschreiten und unbemerkt hinter den zum Ausbessern liegenden Schiffskielen hergehen. Eine Reihe großer und flacher Stämme, welche daselbst lag, erleichterte ihm das Gehen.

Gilliatt wurde nicht bemerkt. Die Menge drängte sich nach der andern Seite des Hafens hin, in die Nähe der kleinen Bucht bei den Bravées. Dort war sein Namen im Munde Aller. Man sprach von ihm so viel, daß man auf ihn selbst nicht achtete. Gilliatt ging vorüber, gewissermaßen unter dem Aufsehen, welches er erregt, verborgen.

Von Weitem sah er die Barke an der Stelle, wo er sie festgemacht hatte, den Rauchfang der Maschine zwischen seinen vier Ketten, die Bewegungen der arbeitenden Zimmerleute, die verwirrten Umrisse Kommender und Gehender und hörte die donnernde und frohe Stimme des Befehle austheilenden Mess Lethierry.

Er verschwand in den Gassen.

Niemand war hinter den Bravées, die ganze neugierige Menge vor ihnen. Gilliatt schlug den Weg ein, welcher an der niedrigen Gartenmauer entlang ging, blieb in der Ecke stehen, wo die wilde Malve wuchs, sah den Stein wieder, auf welchem er, und die Holzbank, auf welcher Deruchette gesessen hatte. Er betrachtete den Fleck, auf welchem die beiden, jetzt verschwundenen Schatten sich umarmt hatten.

Er ging weiter, er erstieg den Hügel des Schlosses Balle, stieg wieder hinab und lenkte seine Schritte nach Bû de la Rue.

Das Houmet-Paradis war einsam und leer.

Sein Haus war so, wie er es am Morgen verlassen hatte, als er sich nach dem Ankleiden nach Saint-Pierre Port begab.

Ein Fenster stand offen, durch dasselbe sah er die Bug-pipe an einem Nagel in der Wand hängen.

Man bemerkte auf dem Tische die kleine Bibel, welche er zum Danke von einem Unbekannten erhalten hatte. Dieser Unbekannte war Ebenezer.

Der Schlüssel befand sich in der Thür. Gilliatt näherte sich derselben, schloß die Thür doppelt ab, steckte den Schlüssel in seine Tasche und entfernte sich.

Er entfernte sich, nicht nach dem Lande, sondern nach dem Meere zu.

Er durchschritt schräg seinen Garten, auf dem kürzesten Wege und ohne die schmalen Einfassungen zu beachten, aber vorsichtig die Seakalen vermeidend, für welche Deruchette eine Vorliebe besaß.

Er übersprang den Zaun, stieg zur Brandung hinab und begann der schmalen und langen, immer vor ihm hinlaufenden Klippenreihe zu folgen, welche Bû de la Rue mit dem großen Granitobelisken verband, welcher mitten im Meer steht und das Ochsenhorn heißt. Dort befand sich die Chaise Gild-Holm-Ur.

Er ging von einer Klippe zur andern, wie ein Riese aus Berggipfeln. Ueber eine solche Klippenreihe forteilen ist dasselbe, als wenn Jemand auf einem Dachfirst geht.

Eine Hamenfischerin, welche mit nackten Füßen in den wenig entfernten Wasserlachen umherstrolchte und dem Ufer zueilte, rief ihm nach: Nehmt Euch in Acht. Das Meer kommt.

Er ging weiter.

Als er bei dem großen, vorspringenden Felsen, dem Horne, welcher aus dem Meere heraus eine hohe Zinne bildet, angekommen war, blieb er stehen. Das Land hörte dort auf. Es war der äußerste Vorsprung des kleinen Vorgebirges.

Er blickte um sich.

Auf hoher See lagen einige Barken fischend vor Anker. Von Zeit zu Zeit, wenn das Wasser aus den Netzen herausfloß, sah man auf diesen Barken im Sonnenschein einen Silberregen. Der Cashmere war noch nicht auf der Höhe von St. Sampson; er hatte sein großes Marssegel entfaltet und befand sich zwischen Herm und Jethou.

Gilliatt ging um den Felsen und gelangte unter die Chaise Gild-Holm-'Ur, am Fuße jener zerrissenen Treppe, welche herabzusteigen er vor weniger als drei Monaten Ebenezer geholfen hatte. Er erklomm sie.

Die meisten Stufen waren schon unter Wasser, nur noch zwei oder drei, welche er hinaufkletterte, trocken.

Diese Stufen führten zur Chaise Gild-Holm-'Ur. Er kam vor dieser an, betrachtete sie einen Augenblick, legte seine Hand auf seine Augen, fuhr mit ihr langsam erst über das eine und dann über das andere Auge, als wenn er die Vergangenheit durch diese Bewegung auslöschen wollte, und ließ sich dann in jener Felsenhöhle, die Böschung hinter seinem Rücken und den Ocean zu seinen Füßen, nieder.

In diesem Augenblicke fuhr der Cashmere um den großen, runden, im Wasser stehenden Thurm, welchen ein Sergeant und eine Kanone bewachen und welcher auf der Rede zwischen Herm und Saint-Pierre Port steht.

In den Spalten über Gilliatt’s Kopfe schwankten einige Felsblumen. Das Wasser war blau, so weit das Auge reichte und Ostwind. Um Serk herum giebt es wenig Stellen, von denen man nur Guernesey’s Westküste erblickt. In der Ferne steht man das nebelgleiche Frankreich und Carteret’s lange und gelbe Sandufer. Hin und wieder schwebte ein weißer Schmetterling vorüber. Die Schmetterlinge wiegen sich nämlich gern über dem Meere.

Der Wind war sehr schwach, das ganze Blau, in der Höhe, wie in der Tiefe, unbeweglich.

Der Cashmere, nur wenig vom Winde getrieben, hatte, um diesen besser aufzufangen, seine Marshauben aufgehißt und mit Segeln bedeckt. Da der Wind von der Seite kam, so zwang er ihn mittelst seiner Hauben, sich dicht an der Küste von Guernesey zu halten. Er hatte die Bake zu Saint-Sampson hinter sich und erreichte jetzt den Schloßhügel von Balle. Der Augenblick nahte, in dem er die Spitze von Bû de la Rue umfahren mußte.

Gilliatt sah ihn kommen.

Luft und Meer schienen zu schlummern. Die Fluth stieg nicht sprungweise, sondern ganz allmählig. Der Spiegel der Meeres bewegte sich ohne Zuckungen. Das sanfte Rauschen der hohen See glich dem Athmen eines Kindes.

Man hörte von dem Hafen St. Sampson her kleine, dumpfe Schläge, den Ton der Hämmer. Sie rührten wahrscheinlich von den Zimmerleuten her, welche Krahnen und Winden herrichteten, um die Maschine aus der Barke zu heben. Dieser Lärm drang in Folge der Granitmasse, an welche sich Gilliatt angelehnt hatte, kaum bis zu dessen Ohr.

Der Cashmere näherte sich mit gespensterhafter Langsamkeit.

Gilliatt wartete.

Plötzlich zogen ein Klatschen und das Gefühl von Kälte seine Augen nach unten. Die Fluth berührte seine Augen.

Er blickte erst hinunter, dann nach oben.

Der Cashmere war ganz nahe.

Die Böschung, an der die Regen die Chaise Gild-Holm-'Ur ausgegraben hatten, war so steil und so viel Wasser war da, daß die Schiffer bei ruhigem Wetter gefahrlos bis auf einige Kabellängen vom Felsen Strich halten konnten.

Der Cashmere kam immer näher, hob sich, senkte sich und schien auf dem Meere zu wachsen. Es war wie das Umsichgreifen eines Schattens. Das Takelwerk schnitt unter dem prächtigen Wogen des Meeres schwarz vom Himmel ab. Die langen Segel, einen Augenblick vor der Sonne schwebend, wurden fast rosenroth und von unbeschreibbarer Durchsichtigkeit; die Wellen murmelten eine unverständliche Sprache. Kein Laut störte das majestätische Dahingleiten dieses Schattenbildes. Man unterschied Alles auf dem Deck, als wenn man sich selbst dort befände.

Der Cashmere strich neben dem Felsen hin.

Der Steuermann stand am Ruder, ein Schiffsjunge erkletterte die Rüstseile, einige Passagiere an das Geländer gelehnt, betrachteten das wunderbar schöne Wetter, der Capitän rauchte. Aber das Alles sah Gilliatt nicht.

Auf dem Decke war ein von der Sonne beschienener Fleck. Dorthin blickte er. In diesem Sonnenlichte saßen Ebenezer und Deruchette; er neben ihr. Anmuthig schmiegten sie sich aneinander, wie zwei Vögel, welche sich an den Mittagsstrahlen wärmen, auf einer jener, mit einem getheerten Plan bedeckten Bänke, welche gut eingerichtete Schiffe für ihre Passagiere bereit halten und über denen man auf englischen Schiffen: » Nur für Damen«, liest. Deruchette’s Kopf lag auf Ebenezer’s Schulter, der seinen Arm um ihre Hüfte hielt; ihre Hände lagen mit verschlungenen Fingern in einander. Diese beiden von der Natur bevorzugten, von der Unschuld geschaffenen Gestalten sahen sich so gleich, wie ein Engel dem andern. Die eine Gestalt war jungfräulicher, die andere himmlischer. Ihr keusches Umfangen war so zart und rein. Es schwebte ein himmlischer Glanz über dieser Bank. Der sanfte Glanz der in einer Wolke dahingleitenden Liebe. Das größte Schweigen herrschte.

Ebenezer’s Auge sprach Dank aus und betrachtete; Deruchette’s Lippen bewegten sich und in diesem köstlichen Schweigen, als der Wind nach dem Lande hin ging, in dem Augenblicke, in dem die Schaluppe einige Klafter von der Chaise entfernt vorüberglitt, hörte Gilliatt die zarte und zärtliche Stimme Deruchette’s sagen:

– Sieh da. Es scheint ein Mensch auf dem Felsen zu sein.

Die Erscheinung ging vorüber.

Der Cashmere ließ die Spitze vom Bû de la Rue hinter sich und furchte in die tiefen Wellenthäler hinein. In weniger, als einer Viertelstunde waren ihre Masten und Segel nur noch eine Art weißen Obeliskes auf dem Meere, der nach dem Horizonte hin verschwand. Das Wasser reichte Gilliatt bis zum Knie.

Er sah die Schaluppe sich entfernen.

Die Brise frischte auf. Er sah, wie der Cashmere seine untere Hauben und Foksegel aufhißte, um den verstärkten Wind zu benutzen. Jetzt war er schon aus dem Wasser von Guernesey. Gilliatt verließ ihn nicht mit den Augen.

Das Wasser reichte ihm bis zum Gürtel. – Die Fluth stieg. – Die Zeit verging.

Die Möven und Kormoranen umflogen ihn unruhig. Sie schienen ihn warnen zu wollen. Vielleicht befand sich unter diesen Vogelschaaren eine von den Douvres-Klippen, welche ihn erkannte.

Eine Stunde verflog.

Der Wind auf hoher See war auf der Rhede nicht fühlbar, aber der Cashmere entfernte sich schnell. Die Schaluppe fuhr allem Anscheine nach mit vollen Segeln und war fast auf der Höhe der »Helme.«

Kein Schaum zeigte sich um den Felsen Gild-Holm-‚Ur, keine Welle schlug den Granit. Das Wasser schwoll ruhig an und reichte Gilliatt fast bis zu den Achseln.

Eine zweite Stunde verfloß.

Der Cashmere war jenseits der Wasser von Aurigny. Der Ortach-Felsen verbarg ihn auf einen Augenblick. Er trat in seinen Schatten ein und kam dann wieder aus ihm hervor, wie ans einer Verfinsterung. Die Schaluppe floh gen Norden, gewann das hohe Meer und glich jetzt nur noch einem unter den Sonnenstrahlen aufblitzenden Punkte.

Die Vögel stießen ein leises Geschrei nach Gilliatt gewendet aus.

Man sah nur noch seinen Kopf.

Das Meer stieg mit düstrer Langsamkeit.

Gilliatt, unbeweglich, sah, wie der Cashmere verschwand.

Die Fluth war fast auf ihrer Höhe. Der Abend näherte sich. Hinter Gilliatt kehrten einige Fischerboote auf die Rhede zurück.

Gilliatt’s Auge, in der Ferne aus die Schaluppe geheftet, blieb unbeweglich.

Diesem starren Auge glich nichts auf Erden. In diesem traurigen und ruhigen Sterne lag etwas Unbeschreibbares. Dieser Blick enthielt die ganze Ruhe, welche ein nicht erfüllter Traum zurückläßt. Von Augenblick zu Augenblick wuchs die Finsterniß unter diesen Lidern, deren Blick auf einen Punkt im Raume geheftet blieb. Zugleich mit dem unendlichen Wasser um den Felsen Gild-Holm-‚Ur stieg die unendliche Ruhe des Schattens in Gilliatt’s tiefem Auge.

Der Cashmere, unerkennbar geworden, war jetzt mit dem Nebel ein verschmolzener Punkt. Um ihn noch unterscheiden zu können, mußte man wissen, wo er war.

Nach und nach verblaßte dieser Fleck, welcher keine Form mehr hatte.

Dann verkleinerte er sich.

Dann verschwand er.

In dem Augenblicke, wo das Schiff hinter dem Gesichtskreise versank, verschwand der Kopf Gilliatts unter dem Wasser. Nichts war mehr, als das Meer.

 

Ende.

 

Druck von Otto Janke in Berlin.

Erstes Buch. Worauf ein schlechter Ruf sich gründet.

 

Erstes Capitel. Ein Wort, geschrieben auf ein weißes Blatt.

Der Weihnachtstag des Jahres 182* zeichnete sich zu Guernesey durch ein ganz unerhörtes Factum aus: Es schneite an diesem Tage. Auf den Inseln des Canals ist Eis eine Merkwürdigkeit und Schnee ein Ereigniß.

An diesem Christmorgen war der Weg am Ufer des St. Patrikhafens ganz weiß. Es hatte von Mitternacht bis gegen Morgen geschneit. Bald nach Sonnenaufgang, etwa um die neunte Stunde, um welche Zeit die Anglikaner noch nicht in die Kirche von St. Sampson und die Wesleyaner noch nicht nach der Kapelle Eldad zu wandern pflegen, war der Weg am Ufer noch fast menschenleer. Auf der ganzen Strecke, welche die Thürme beider Kirchen von einander scheidet, befanden sich nur drei Wanderer, ein Kind, ein Mann und ein Weib. Jeder Einzelne dieser Fußgänger schritt, getrennt von den Uebrigen, einsam seines Weges dahin; kein sichtbares Band vereinigte sie. Das Kind, welches ungefähr acht Jahre zählen mochte, war stehen geblieben und beobachtete mit Neugier den Schnee. Der Mann ging in einer Entfernung von ungefähr hundert Schritten hinter der Frau her und verfolgte gleich ihr, den Weg nach Saint-Sampson. Er war noch jung; sein Aeußeres verrieth einen Arbeiter oder Matrosen. Er trug seinen Werktagsanzug, einen Kittel von grobem Tuch und ein nach unten betheertes Beinkleid, was anzudeuten schien, daß er ungeachtet des Festtages in keine Kirche zu gehen beabsichtigte. Seine schweren Schuhe waren von rohem Leder, mit dicken eisernen Nägeln beschlagen; sie hinterließen im Schnee Spuren, welche eher einem Gefängnißschlosse, als den Fußtapfen eines Menschen glichen. Die weibliche Fußgängerin hatte eine sorgfältigere Toilette gemacht; sie trug ersichtlich ihren Sonntagsstaat, welcher aus einem weiten wattirten schwarz seidenen Mantel bestand, der ein sehr kokettes Kleid von irischem Popelin mit rosa und weißen Falbelas in seine reichen Falten hüllte. Hätte sie nicht rothe Strümpfe getragen, so hätte man sie für eine Pariserin halten können. Sie schritt mit jenem leichten und elastischen Gang eines jungen Mädchens dahin, dem das Leben noch keine Bürde ist. Ihre Haltung besaß jene flüchtige Grazie, die der zartesten Uebergangsperiode eigen ist, welche zwei Dämmerungen, die der endenden Kindheit und der beginnenden Jungfräulichkeit mit einander verbindet. Der männliche Wanderer hatte für alles Dieses keine Augen.

Als sie jedoch, in der Nähe eines Eichengebüsches, den ein Hanffeld begrenzte, an einem Orte angekommen war, welchen man »die niedrigen Häuser« nannte, wandte sie sich um, und nun sah ihr der Mann in’s Angesicht. Sie blieb stehen, schien ihn einen Augenblick zu beobachten, und er glaubte zu bemerken, daß sie mit dem Finger etwas in den Schnee schrieb. Dann erhob sie sich schnell, verdoppelte ihre Schritte, sah sich nochmals um, lächelte, und verschwand dann links hinter den Hecken, welche den Weg begrenzen, der nach dem Schlosse von Lierre führt. Als sie sich zum zweiten Male umgewendet hatte, erkannte sie der Mann: es war Deruchette, ein reizendes Landmädchen.

Er fühlte nicht das geringste Bedürfniß, seinen Schritt zu beschleunigen; einige Augenblicke später erreichte er den Eichenbusch am Winkel des Hanffeldes. Er dachte schon nicht mehr an Diejenige, welche soeben diese Stelle verlassen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß, wenn in diesem Moment ein Delphin aus dem Meer hervorgetaucht, oder ein Rothkehlchen im Busch gesungen hätte, er das Auge auf den kleinen Vogel oder den Fisch gerichtet haben würde. Zufällig hatte er in diesem Augenblick die Wimper gesenkt, und so kam es, daß unwillkürlich sein Blick an jener Stelle haftete, auf welcher das junge Mädchen stehen geblieben war. Zwei kleine Fußspuren bezeichneten dieselbe, und daneben las der Wanderer das in den Schnee geschriebene Wort »Gilliatt.«

Es war sein Name.

Er hieß Gilliatt.

Lange blieb er regungslos auf dieser Stelle stehen, betrachtete die Schrift, sowie die in den Schnee eingedrückten kleinen Fußspuren, und ging dann gedankenvoll weiter.

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Zweites Capitel. Das Gespensterhaus.

Gilliatt wohnte in der Pfarrei von Saint-Sampson. Er war dort nicht beliebt. Das hatte seine Gründe.

Erstens bewohnte er ein Haus, in dem es nicht geheuer war. Dem, welcher die Gegend von Jersey und Guernesey besucht, begegnet es wohl leicht, daß ihm auf dem Lande, in der Stadt, in irgend einem einsamen Winkel, oder auch in einer belebten Straße, ein Haus auffällt, dessen Eingang verbarrikadirt ist. Stechpalmen und Dorngestrüpp versperren die Thür; mit Nägeln beschlagene Bretter bedecken wie häßliche Pflaster die Fenster des Erdgeschosses. Die des oberen Stockwerks sind zugleich geschlossen und geöffnet; die Rahmen der Fenster nämlich sind alle sorgfältig verriegelt, die Scheiben jedoch sämmtlich zerbrochen. Wenn solch ein Haus einen Hof hat, wächst fußhohes Gras darin; hat es zufällig auch einen Garten, so kann man sich darauf verlassen, daß in demselben eine Fülle von Unkraut, Brennnesseln, Dornen und Schierling wuchert, und man kann darin die Bekanntschaft vieler seltener Insecten machen. Im Innern aber ist das Haus zerfallen; die Schornsteine sind geborsten, die Dächer schadhaft, die Balken verfaulen, die Steine verschimmeln, die Tapeten der Zimmer hängen in Fetzen von den entblößten Mauern herab. Man kann auf diesen Fetzen die wechselnden Moden der verschiedenen Epochen studiren. Man findet auf ihnen die Greife des Kaiserreichs, die bogenartigen Draperien des Directoriums, wie die Geländer und Halbsäulen, welche den Geschmack des Zeitalters Ludwig XVI. kennzeichneten. Die dichten Spinnengewebe mit ihrer Menge von Fliegenleichen lassen auf den tiefsten Frieden, die ungestörteste Ruhe dieser fleißigen Arbeiterinnen schließen. Hie und da bemerkt man einen zerbrochenen Topf auf einem Brett. Von solchen Häusern sagt man, es spuke darin, und der Teufel treibe dort allnächtlich sein Wesen.

Ein Haus kann, wie der Mensch, eine Leiche werden. Der Aberglaube vermag es zu tödten. Dann ist es ein Gegenstand des Grauens. Diese todten Häuser sind nicht selten auf den Inseln des Canals.

Die Land- und Seeleute verstehen, was den Teufel betrifft, keinen Spaß. Die vom Canal, dem englischen Archipelagus und der französischen Küste haben ihre ganz bestimmten Vorstellungen von ihm. Der Teufel hat nach ihrer Meinung seine Abgesandten in allen Weltgegenden. Belphegor ist sein Gesandter in Frankreich, Hutgin in Italien, Belial in der Türkei, Thamutz in Spanien, Martinet in der Schweiz und Mammon in England. Satan ist so gut Kaiser wie ein Anderer. Satan-Cäsar! Er macht ein großes Haus. Dagon ist Groß-Bannerträger, Succor Benoth das Haupt der Eunuchen, Asmodeus der Chef der Spielbanken, Kobal Theater-Director und Verdelet Groß-Ceremonienmeister; Nybbas ist der Hofnarr; Wiérus, den ausgezeichneten Gelehrten, guten Vampyrkenner und wohlunterrichteten Dämonograph, nennt Nybbas »den großen Parodisten.«

Die Fischer der Normandie sind auf offner See sehr auf ihrer Hut vor den Blendwerken des Teufels. Man war lange Zeit der Meinung, daß der heilige Maclou den großen viereckigen Felsen Ortach bewohne, welcher sich zwischen Aurigny und den Klippen von Gers befindet, und viele alte Matrosen versichern, ihn oft auf diesem Felsen sitzend und in einem Buche lesend gesehen zu haben. Vorüberfahrende Schiffer versäumten es daher auch niemals, vor dieser Steinmasse andächtig ihr Kniee zu beugen, bis die Alles besiegende Wahrheit auch diese Sage verdrängte. Man hat seitdem die Entdeckung gemacht, daß der Bewohner des Felsens Ortach kein Heiliger, sondern ein Teufel sei. Dieser Teufel, mit Namen Jochmus, hatte sich arglistiger Weise mehrere Jahrhunderte hindurch für den heiligen Maclou ausgegeben. Solche Irrthümer kommen vor; ist doch die Kirche selber zuweilen darin befangen. Die Teufel Raguhel, Oribel, Tobiel waren Heilige bis zu dem Jahre 745, wo der Papst Zacharias ihre Teufelei gewittert und sie ausgetrieben. Um solche Austreibungen vornehmen zu können, welche sicherlich sehr nützlich sind, muß man in der Teufelei sehr bewandert sein.

Die alten Landleute erzählen – jedoch gehören diese Thatsachen der Vergangenheit an – daß die katholische Bevölkerung des normännischen Archipelagus, obgleich gegen ihren Willen, mit dem Bösen in engerer Verbindung stand als die Hugenotten. Warum? wissen wir nicht. Sicher ist, daß diese Minorität ehemals vom Bösen sehr geplagt wurde. Der Teufel hatte die Katholiken in ganz besondere Affection genommen, und zog ihren Umgang dem der Hugenotten vor, was für die Wahrscheinlichkeit spricht, daß der Teufel eher Katholik als Protestant ist. Zu den unerträglichsten Vertraulichkeiten, welche er sich herausnahm, gehörten die nächtlichen Besuche, die er katholischen Eheleuten in dem Augenblick, wo der Mann schon ganz, die Frau jedoch erst halb eingeschlafen war, abstattete. Daher die vielfachen Mißgeburten. Patrouillet erklärte Voltaire’s Entstehung auf diese Weise. Diese Meinung ist nicht ganz unwahrscheinlich. Ein solcher Fall ist übrigens ganz bekannt und in den Beschwörungsformeln unter der Rubrik: de erroribus nocturnis et de semine diabolorum beschrieben. Er wurde zu St. Helier mit ganz besonderer Strenge behandelt; wahrscheinlich zur Strafe für die Sünden der Revolution. Die Folgen der revolutionären Frevel sind unberechenbar. Wie dem aber auch sein mag, die Möglichkeit eines nächtlichen Besuchs vom Teufel machte vielen rechtgläubigen Frauen großen Kummer. Es ist freilich nicht angenehm, einen Voltaire zur Welt zu bringen. Eine dieser Frauen erkundigte sich in ihrer Herzensangst bei ihrem Beichtiger nach einem Mittel, noch bei Zeiten dem Unfug dieser Verwechselung zu steuern. Der Beichtvater antwortete: Wenn Ihr wissen wollt, ob Ihr es mit Eurem Manne oder mit dem Teufel zu thun habt, so dürft Ihr ihn nur an die Stirn fassen; fühlt Ihr dort Hörner, so könnt Ihr sicher sein, daß … Was denn? fragte die Frau.

Das Haus, welches Gilliatt bewohnte, gehörte ehemals zu denen, in welchen es spukte. Jetzt zwar stand es nicht mehr in dem Ruf, allein gerade deshalb war es um so verdächtiger. Es herrschte kein Zweifel, daß. wenn in einem Haus, in welchem es spukte, ein Hexenmeister wohne, der Teufel dasselbe gut verwahrt glaube und dann so höflich sei, wie der Arzt zum Kranken, der nur, wenn er gerufen wird, kommt.

Dieses verrufene Haus also hieß das Gespensterhaus. Es befand sich an der Spitze einer Land- oder vielmehr Felsenzunge, welche einen eigenen kleinen Ankerplatz in der Bucht von Houmet-Paradis bildete. Das Wasser ist dort tief. Fast abgeschnitten von der übrigen Insel, stand das Haus ganz allein auf der Landzunge; das geringe Erdreich seiner Umgebung lieferte nur nothdürftig den Raum zu einem kleinen Gemüsegarten. Zur Zeit der Fluth stand derselbe völlig unter Wasser. Zwischen dem Hafen von St. Sampson und der Bucht von Houmet-Paradis befindet sich der große Hügel, welchen die mit Epheu umrankten Thürme des Schlosses du Valle krönen. Man konnte daher von St. Sampson aus das Gespensterhaus nicht sehen.

In Guernesey sind Hexenmeister noch etwas ganz Gewöhnliches. Diese Art Leute üben in gewissen Kirchspielen ihr Geschäft aus, ohne daß das neunzehnte Jahrhundert etwas dagegen einzuwenden hätte. Die Ausübung dieser Künste ist wahrhaft sträflich. Sie machen Gold, pflücken um Mitternacht Kräuter, und behexen das Vieh durch den bösen Blick. Man holt sich Rath bei ihnen, bringt ihnen das Wasser der Kranken und schüttelt kummervoll den Kopf, wenn sie sagen: »Das Wasser scheint höchst bedenklich.« Einer von ihnen hatte im März des Jahres 1857 in dem Wasser eines Kranken nicht weniger als sieben Teufel entdeckt. Solche Leute sind eben so gefürchtet als furchtbar. Ein Anderer von Ihnen hatte einmal einen Bäcker sammt seinem Backofen verhext. Wieder ein Anderer hatte die Bosheit, mit der größesten Sorgfalt Briefcouverts zu versiegeln, welche nichts enthielten. Noch ein Anderer hatte in seinem Hause drei Flaschen auf einem Brette stehen, welche mit einem Etiquette versehen waren, auf welchem der Buchstabe B zu lesen war. Diese Thatsachen sind erwiesen. Einige dieser Zauberer sind sehr mitleidiger Natur; sie übernehmen für drei Goldgulden die Krankheiten ihrer Nebenmenschen, wälzen sich auf ihren Betten umher und schreien. Währenddessen sind die Kranken gesund und von ihren Qualen erlöst. Anderen helfen sie durch ein Taschentuch, welches sie ihnen um den Leib binden. Es ist dabei nur zu verwundern, daß man nicht schon früher an dieses höchst einfache Heilmittel gedacht. Im vorigen Jahrhundert wurden diese Leute durch den Gerichtshof zu Guernesey zum Scheiterhaufen verurtheilt und verbrannt; in unserer Zeit sperrt man sie acht Wochen ein: vier Wochen bei Wasser und Brod, und vier Wochen in Einzelhaft. Beide Strafarten wechseln mit einander ab. Amant alterna catenae.

Der letzte Scheiterhaufen, auf welchem man einen Hexenmeister verbrannte, wurde zu Guernesey im Jahre 1747 errichtet. Die Stadt hatte zu dieser außerordentlichen Gelegenheit einen ihrer Plätze, den Kreuzweg der Doggs, hergegeben. Von 1565 bis 1700 wurden auf diesem Platze elf Zauberer verbrannt. In den meisten Fällen legten die Schuldigen ein Geständniß ab. Man erleichterte es ihnen durch die Folter. Dieser Kreuzweg leistete der Gesellschaft und der Religion auch noch andere Dienste. Man verbrannte dort die Ketzer unter Maria Tudor, unter anderen Hugenotten auch eine Mutter, Perrotine Massy mit ihren zwei Töchtern. Eine dieser Töchter war in gesegneten Umständen und genas auf dem Scheiterhaufen eines Knäbleins. Die Chronik bewahrt dieses merkwürdige Ereigniß der Nachwelt durch folgende Notiz auf: Ihr Leib spaltete sich, und es entglitt ihm ein Kindlein, welches vom Scheiterhaufen herab auf die Erde rollte. Ein Mann, Namens House, hob das Kindlein auf, aber der Herr Landvogt Hélier Gosselin, ein guter Katholik, ließ dasselbe wieder in die Flammen werfen.

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Drittes Capitel. Für Deine Frau, wenn Du Dich vermählst.

Kehren wir zu Gilliatt zurück.

Man erzählte sich dort zu Lande, daß gegen das Ende der Revolution eine Frau mit einem kleinen Kinde nach Guernesey gekommen wäre, vermuthlich eine Engländerin; war sie dies nicht, so war sie wahrscheinlich eine Französin. Sie hatte einen Namen, aus welchem die Sprache und die Orthographie der Einwohner von Guernesey den Namen Gilliatt machte. Diese Frau lebte allein mit ihrem Kinde, das Einige für ihren Neffen, Andere für ihren Sohn, und wieder Andere für keins von Beiden hielten. Sie hatte nur gerade so viel Geld, um knapp davon leben zu können. Sie kaufte eine Wiese nahe bei dem Polizeigericht und ein Grundstück in Crespel bei Roquaine. In dem Gespensterhause spukte es zu dieser Zeit. Es war seit dreißig Jahren nicht bewohnt worden, und fiel in Trümmer. Der Garten, durch gar zu häufige Ueberschwemmungen verwüstet, brachte Nichts hervor.

Außer dem allnächtlichen Lärmen und den Lichtern, welche man in diesem Hause flackern sah, erzählten sich die Leute auch noch eine höchst merkwürdige und in der That sehr grauenhafte Geschichte, welche dort passirte. Man sagte, daß wenn man am Abend vor dem Schlafengehen einen Knäuel Strickwolle nebst Stricknadeln auf das Kamin lege und einen Teller voll Suppe daneben stelle, so fände man am nächsten Morgen den Teller leer und daneben ein Paar gestrickte Fausthandschuhe. Man bot das Haus sammt dem darin sein Wesen treibenden Kobold für einige Pfund Sterling zum Kaufe an. Diese Frau, entweder vom Teufel oder von der Billigkeit verführt, wagte den Kauf. Ja, sie that mehr als das: sie bewohnte auch das Gespensterhaus mit ihrem Knaben, und von diesem Augenblick an wurde es dort ganz ruhig. Die Leute meinten, das Haus hätte nun, was es wollte. Die Gespenster hörten auf, ihr Wesen zu treiben. Man hörte des Morgens nicht mehr schreien und toben, und sah kein anderes Licht darin, als das Talglicht, welches die gute Frau jeden Abend anzündete. Das Licht eines Zauberers, sagten die Leute, ist so gut wie die Fackel des Teufels. Diese Erklärung genügte dem Publicum.

Die Frau lebte von dem Ertrag ihrer wenigen Morgen Landes und von einer guten Kuh, die vortreffliche Milch und gelbe Butter lieferte. Sie verkaufte, wie jede andere Frau vom Lande, ihre Pastinakwurzeln in kleinen Tonnen, ihre Zwiebeln in Bündeln, sowie Bohnen und Kartoffeln metzenweise. Doch brachte sie ihre Waaren nicht selber zu Markte, sondern ließ sie durch einen Bekannten, einen Landmann aus der Umgegend, Namens Guilbert Falliot, feil bieten.

Die Schäden des baufälligen Hauses wurden mühsam ausgebessert, und es wurde wieder in einen etwas wohnlichen Zustand gesetzt. Es mußte schon arges Unwetter sein, wenn das Wasser durch die Dachritzen und Oeffnungen in die Stuben lief. Die Wohnung bestand aus einem Erdgeschoß und einem Speicher. Das Erdgeschoß hatte drei Säle, welche durch eine Leiter mit dem Speicher in Verbindung standen. Die Frau besorgte nicht nur Haus und Küche, sondern lehrte auch ihr Kind lesen. In die Kirche ging sie nicht. Aus diesem Umstande schloß man, daß sie eine Französin sei. Das »Nirgend-Hingehen« erregte große Bedenklichkeiten.

Im Ganzen genommen wußte man nicht recht, was man aus diesen Leuten machen sollte.

Eine Französin konnte diese Frau wohl sein. Vulkane werfen Steine, Revolutionen Menschen aus. Ganze Familien werden aus ihrem natürlichen Boden gerissen und in fremdes Erdreich verpflanzt; die verschiedenen Glieder zerstreuen und verlieren sich. Menschen fallen aus den Wolken: Diese weht der Wind nach Deutschland, Jene nach England, Andere nach Amerika. Die Eingeborenen dieser Länder wundern sich: »Wo kommen diese Fremden her?« Der Vesuv hat sie ausgespieen. Man giebt diesen ausgestoßenen, verlorenen, aus der Luft gefallenen, diesen vom Schicksal bei Seite geschafften Wesen Namen. Man nennt sie Emigrirte, Flüchtlinge, man nennt sie Abenteurer. Wenn sie bleiben, werden sie geduldet; wenn sie gehen, hat man nichts dagegen. Es sind dies oft – und besonders die Frauen unter ihnen – harmlose Geschöpfe, den Ereignissen, die sie aus ihrer Heimath vertrieben, völlig fremd, und verwundert, ohne ihr Verschulden, ohne Haß noch Zorn zu hegen; sich als von vulkanischen Auswürfen in die Luft geschleuderte Körper betrachten zu müssen. Arme, aus ihrem heimathlichen Boden gerissene Pflanzen, suchen sie im fremden Land, so gut sie können, Wurzel zu fassen. Sie, die Niemandem etwas zu Leid gethan. verstehen das ihnen auferlegte Schicksal nicht. Ich sah, wie einst ein armseliges Büschel Gras von einer Pulvermine in die Luft gesprengt wurde, wie sich die Halme von einander trennten, wie sie sich in der Luft zerstreuten und verloren gingen. Die französische Revolution hatte mehr solcher Ausgeworfener als irgend ein anderer Ausbruch. – Die Frau, welche man in Guernesey Gilliatt nannte, war vielleicht der Halm eines solchen Grasbüschels.

Sie wurde alt, ihr Knabe wuchs heran. Sie lebten allein; von Jedermann gemieden, genügten Mutter und Sohn einander. »Wölfin und Wölflein liebkosen sich,« sagten die wohlwollenden Nachbarn. Der Knabe wurde ein Jüngling, der Jüngling ein Mann. Der Baum des Lebens schält sich, die alten Rinden fallen ab und machen den jungen Platz. Die Mutter starb. Sie hinterließ ihrem Sohne ihre Wiese, ihr Grundstück und das alte, baufällige Haus. Im Inventarium waren ferner hundert Goldgulden aufgeführt, welche sich in einem Strumpfe befinden sollten. Das Haus war anständig ausgestattet; es befanden sich in demselben zwei eichene Koffer, zwei Betten, sechs Stühle und andere Utensilien. Auf einem Brett waren einige Bücher aufgestellt, und in der Ecke eines Zimmers stand ein Koffer von durchaus gewöhnlichem Aussehen, welcher wegen des aufzunehmenden Inventariums geöffnet werden mußte. Dieser Koffer war von falbem Leder; es waren Arabesken darin eingepreßt, und der Deckel war mit kupfernen Nägelköpfen und zinnernen Sternchen geziert. Derselbe enthielt eine vollständige weibliche Aussteuer, Hemden und Unterröcke von holländischer Leinwand, und seidene Kleider im Stück. Es lag ein Zettel dabei, worauf die Worte zu lesen waren: » Für deine Frau, wenn du dich vermählst

Dieser Tod verursachte dem Ueberlebenden großen Kummer. War er bisher ungesellig, so wurde er nun förmlich menschenscheu. Die Welt ward ihm zur Einöde. Es war nicht mehr Einsamkeit; es war völlig Leere um ihn. Zweien ist stets das Leben leicht; dem Einsamen, Verlassenen wird es zur Last, zur Bürde, die er kaum zu tragen vermag. Er versucht es auch gar nicht. Das ist der Anfang der Verzweiflung. Später lernt man es begreifen, daß uns das Leben die Pflicht auferlegt, es zu ertragen. Man betrachtet den Tod, man betrachtet das Leben und willigt darein, diese Pflicht auf sich zu nehmen; doch wird der Entschluß mit blutendem Herzen gefaßt.

Gilliatt war noch jung, seine Wunde vernarbte. In seinem Alter heilen noch die Herzenswunden. Seine persönliche Schwermuth milderte sich in dem Anblick der Natur. Dieses Gefühl, das eine Art von Reiz hat, zog ihn von den Menschen ab zu den Dingen, und söhnte seine Seele mehr und mehr mit der Einsamkeit aus.

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Viertes Capitel. Unbeliebtheit.

Gilliatt war, wie schon gesagt, in seinem Kirchspiel nicht beliebt. Dieser Unbeliebtheit fehlte es nicht an Ursachen. In erster Reihe stand das Haus, welches er bewohnte. Sodann wußte man so gut wie gar nichts über seinen Ursprung. Wer war jene Frau? Und was hatte es mit dem Kinde für eine Bewandtniß? Die Leute in dortiger Gegend zerbrechen sich nicht gern den Kopf über die Fremden, welche sich in ihrer Gegend ansiedeln. Ferner gab ihnen der Arbeiter-Anzug des Sohnes zu denken. Warum kleidet er sich wie ein Arbeiter, wenn er zu leben hat und nicht zu arbeiten braucht? Alsdann war es höchst auffallend, daß der Garten dieser Leute trotz der Aequinoctialstürme und der häufigen Ueberschwemmungen so gedieh, daß er prächtige Kartoffeln und ausgezeichnetes Gemüse lieferte. Und was mochte es wohl mit den großen dicken Büchern sein, die auf dem Brette standen, und in welchen Gilliatt so häufig las?

Aber das war noch nicht Alles!

Woher kam es, daß Gilliatt so allein das düstere Gespensterhaus bewohnte? Es war eine Art Lazareth; man hielt ihn in Quarantaine; so war es ganz natürlich, daß man sich über seine Einsamkeit wunderte und ihn dafür verantwortlich machte.

Er ging niemals in die Kirche. Oft ging er in der Nacht aus seinem Hause; er mußte mit Zauberern verkehren. Ein Mal überraschte man ihn in einem höchst auffälligen Zustande von Geistesabwesenheit im Grase sitzend, wo er mit Kräutern, Blumen und Steinen Zwiegespräche hielt. Man schwor darauf, es gesehen zu haben, wie er vor dem singenden Felsen eine Verbeugung machte. Es war ferner ebenso auffallend als unbegreiflich, daß er alle Vögel, welche ihm zum Kaufe angeboten wurden, fliegen ließ. Er war zwar artig und zuvorkommend gegen die Bürger von St. Sampson; man bemerkte indessen, daß er Umwege machte, um ihnen auszuweichen. Er fischte häufig und kam nie ohne Beute nach Hause. Man sah ihn Sonntags in seinem Garten arbeiten. Er hatte bei Gelegenheit eines Durchmarsches von einem schottischen Soldaten eine Flöte gekauft, auf welcher er bei einbrechender Nacht am Meeresstrand und in den Felsenriffen blies. Seine Bewegungen waren wie die eines Säemannes. War es ein Wunder, wenn er unter solchen Umständen nicht beliebt war? Was sollte wohl ein Land mit einem solchen Menschen anfangen?

Die Bücher, welche ihm die Verstorbene hinterlassen, und in denen er zuweilen las, waren nicht minder beunruhigend. Der hochwürdige Herr Pastor Jaquemin Hérode bemerkte bei Gelegenheit des Begräbnisses der verstorbenen Frau auf dem Rücken der Bücher folgende äußerst verdächtige Titel: Dictionnaire von Rosier, Candide, von Voltaire, Gesundheitslehre für das Volk, von Tissot. Ein französischer Emigrant, welcher sich nach St. Sampson zurückgezogen hatte, hielt es für sehr möglich, daß dieser Tissot derselbe sei, welcher den Kopf der Prinzessin von Lamballe auf einem Spieß getragen habe.

Der hochwürdige Herr Pastor hatte übrigens auch noch auf einem anderen Buche den ebenso sonderbaren als bedrohlichen Titel: » De Rhabarbero « gelesen.

Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß das Buch, wie schon der Titel besagt, in lateinischer Sprache abgefaßt war; es war daher anzunehmen, daß Gilliatt, welcher diese Sprache nicht verstand, besagtes Buch auch nicht gelesen hatte.

Aber gerade die Bücher, welche ein Mensch nicht lies’t, zeugen gegen ihn. Die spanische Inquisition hat dieses außer allen Zweifel gestellt.

Das Buch war übrigens nur eine Abhandlung des Doctor Tilingius über den Rhabarber, welche im Jahre 1679 in Deutschland erschienen war.

Man wußte es nicht ganz genau, aber man hatte Gilliatt sehr stark im Verdacht, daß er allerhand Zaubertränke bereitete, denn er war im Besitz von Phiolen.

Und warum ging er des Abends aus dem Hause und trieb sich bis Mitternacht auf den steilen Küstenabhängen umher? Ohne allen Zweifel, um mit den bösen Geistern Umgang zu pflegen, welche des Nachts an den Ufern des Meeres, auf den Felsenriffen und im Nebel hausen.

Man wußte, daß er einmal einer alten Hexe, mit Namen Montonne Gahy, einen Karren aus dem Schlamme ziehen half.

Bei Gelegenheit einer Einwohner-Zählung, welche auf den Inseln vorgenommen wurde, gab er auf die Frage nach seinem Stand und seiner Beschäftigung den Beamten folgende, ebenso merkwürdige als verdachterregende Antwort: » Ich fische, wenn es etwas zu fischen giebt

Stellen wir uns auf den Standpunkt der Leute, so werden wir leicht begreifen, welchen Anstoß derartige Antworten geben mußten.

Armuth und Reichthum sind relative Begriffe. Gilliatt hatte eine Wiese, Felder und Haus. Im Vergleich zu Denen, welche gar Nichts hatten, war er nicht arm zu nennen. Eines Tages fragte ihn ein Mädchen, entweder um seine Meinung zu prüfen, oder einer Werbung entgegen zu kommen – denn Weiber heirathen ja den Teufel, wenn er reich ist – ob, und wann er sich zu verheirathen gedächte. Gilliatt antwortete ihr: » An dem Tag, an welchem sich der singende Berg verheirathet

Dieser singende Berg ist ein großer Felsblock, welcher das Hanffeld des Herrn Lemezurier de Fry durchschneidet. Dieser Steinmasse ist nicht zu trauen, sie muß sorgfältig überwacht werden. Es ist eine unerklärliche, aber deshalb nicht minder auffällige Thatsache, daß auf besagtem Felsen ein Hahn kräht, den man wohl hören, allein nicht sehen kann. Dieses eben so unwiderlegte als unwiderlegliche Factum ist höchst unheimlicher Art. Man ist ferner darüber einig, daß der singende Berg von Kobolden in das Hanffeld des Herrn Lemezurier de Fry geschoben wurde.

Wenn in der Nacht unter Blitz und Donner schwarze Gestalten in den rothen Wolken des Himmels und in der zitternden Luft erscheinen, so kann man sich darauf verlassen, daß es Kobolde sind. Eine Frau in Grand Mellier kennt sie ganz genau. Als eines Abends ein Fuhrmann unschlüssig an einem Kreuzweg stand und nicht recht wußte, welche Richtung er einschlagen sollte, rief sie ihm zu: Fragt nur die Kobolde; es sind gute, sehr umgängliche Geister, höflich und leutselig gegen Jedermann, die gern den Leuten Rath ertheilen. Es ist Hundert gegen Eins zu wetten, daß diese Frau eine Hexe war.

Der eben so scharfsinnige als gelehrte König Jacob I. ließ alle Weiber dieser Art lebendig brühen, kostete die Brühe und entschied nach dem Geschmack der Brühe, ob es eine Hexe war oder nicht. Schade, daß die Könige der Jetztzeit nicht auch solche Talente besitzen, welche die Nützlichkeit von dergleichen Einrichtungen begreiflich machen.

Gilliatt stand nicht ohne triftige Gründe in dem Geruch der Hexerei. Man sah ihn einmal in der Nacht während eines Sturmes ganz allein in einem Kahn der Gegend der Sommeilleuse zuschiffen. Man hörte ihn fragen: Ist hier wohl durchzukommen?

Eine Stimme antwortete vom Felsen herab: Sieh zu, Verwegner! Mit wem sprach er, wenn nicht mit Einem, der ihm Antwort gab? Die Sache scheint uns ein neuer Beweis für unsere Behauptung.

In einer anderen Sturmnacht, so schwarz, daß man nichts sah, hörte man ganz in der Nähe des Catiau-Roque, der eine Doppelreihe von Felsen bildet, auf welchen Hexen, Ziegenböcke und Gestalten aller Art in der Freitag-Nacht tanzen, die Stimme Gilliatts ganz deutlich. Man belauschte folgendes Gespräch, das er mit den Gespenstern führte.

– Wie befindet sich Meister Brovat? (Das war ein Maurer, welcher vom Dach herab gefallen.)

– ’s geht besser.

–Was Ihr sagt! Er ist höher als von diesem Pfosten heruntergefallen. Es ist wunderbar, daß er sich nichts gebrochen hat! –

– Die Leute hatten vorige Woche gutes Wetter am Strand.

– Besseres als heute.

– Laßt’s gut sein, sie werden ihren Fang schon machen.

– Es ist zu windig.

– Man wird die Netze nicht tief genug legen können.

– Und was macht die Cathrin?

– Ach, die ist wie behext.

Die »Cathrin« war offenbar eine Hexe, und Gilliatt ohne Frage ein Hexenmeister; wenigstens zweifelte Niemand daran.

Er goß auch zuweilen Wasser aus einem Krug auf die Erde. Aber Wasser, welches man auf die Erde gießt, zeichnet die Gestalt von Teufeln.

Es giebt auch auf dem Wege von St. Sampson, nicht weit von dem ersten Felsen drei Steine, welche treppenförmig übereinander liegen. Ehemals stand ein Kreuz, wenn nicht gar ein Galgen darauf; jetzt sind sie leer. Diese Steine sind sehr verrufen.

Ganz erstaunlich kluge und glaubwürdige Leute versichern gesehen zu haben, wie Gilliatt ganz in der Nähe dieser Steine mit einer Kröte sprach. Nun weiß Jeder, der die Gegend von Guernesey kennt, daß es dort keine Kröten giebt; es sind nur Nattern in Guernesey, in Jersey aber giebt es Kröten. Die Kröte, mit welcher Gilliatt sprach, mußte daher von Jersey aus zu ihm geschwommen sein, das lag auf der Hand. Sie plauderten übrigens sehr freundschaftlich mit einander.

Daß dies Alles erwiesene Thatsachen sind, bezeugen die drei Steine, welche noch immer auf derselben Stelle liegen. Wer daran zweifelt, kann sich selber davon überzeugen. Die Steine liegen nahe bei einem Hause, welches an folgendem Schild zu erkennen ist: Hier kauft man todtes und lebendes Vieh, alte Stricke, Eisen, Knochen und Lumpen. Für höfliche Behandlung und prompte Bezahlung wird garantirt.

Es gehört schon böser Wille dazu, die Existenz dieser Steine und dieses Hauses zu leugnen. Alles das schadete Gilliatt.

Nur Unwissende wissen nicht, daß der König von Auxcriniérs das Gefährlichste in den Gewässern des Canals ist. Es giebt kein furchtbareres Seegespenst als ihn. Wer ihn gesehen hat, leidet binnen Jahresfrist Schiffbruch. Er ist klein, denn er ist ein Zwerg, und taub, denn er ist ein König. Er weiß die Opfer, welche das Meer verschlungen, alle mit Namen zu nennen; er kennt die Stellen, wo sie begraben sind; er kennt den Kirchhof Ocean gründlich. Ein oben schmaler, unten breiter Kopf, eine untersetzte Gestalt, ein unförmiger Leib, knotige Auswüchse auf dem Schädel, kurze Beine und lange Arme, Flossen statt der Füße, Krallen statt Hände, ein breites, grünes Gesicht – das ist das Bild des Königs von Auxcriniérs. Seine Krallen sind mit Schwimmhäuten versehen, seine Flossen mit Nägeln. Man denke sich ein Fisch-Gespenst mit einem Menschenantlitz. Um es unschädlich zu machen, müßte man es beschwören oder – angeln. Jedenfalls ist es unheimlich. Nichts ist beunruhigender, als es zu sehen. Eine niedrige Stirne, Stumpfnase, platte Ohren, ein ungeheurer Mund, in welchem die Zähne fehlen, eine gräuliche Mundöffnung, ziegenartig gezeichnete Augenbrauen, große lustige Augen. Wenn falbe Blitze es beleuchten, ist sein Gesicht flammenroth, bei flammenrothen fahl. Er trägt einen starren triefenden Bart, der sich, viereckig gestutzt, auf einer pelzartigen Haut ausbreitet, welche vorn und hinten mit je sieben, also mit vierzehn Muscheln geziert ist. Diese Muscheln sind äußerst merkwürdig für den Kenner. Der König von Auxcriniérs ist nur bei hochgehender See sichtbar; er ist der finstere Possenreißer des Sturmes. Im Regen, Nebel, Wind erkennt man nur undeutlich, wie eine blasse Skizze, seine Formen. Sein Nabel ist häßlich. Ein Schuppenharnisch bedeckt seine Seiten und die Brust. Er erhebt sich über die zischenden Wogen des Meeres, welche sich unter den mächtigen Athemzügen des Sturmes bäumen und sich kräuseln wie Holzspähne unter dem Hobel des Tischlers. Seine Gestalt bleibt unberührt von dem Schaumspritzen, und wenn am Horizont Fahrzeuge erscheinen, welche ihren letzten Kampf mit den Wogen kämpfen, dann strahlt sein im Schatten fahles Antlitz im Glanz eines wüsten Lächelns und, das Antlitz in wahnwitzigem Schrecken verzerrt, beginnt er zu tanzen. Das ist ein böses Begegnen. Zu der Zeit aber, als Gilliatt den Leuten in St. Sampson zu reden gab, hatte der König von Auxcriniérs nur noch dreizehn Muscheln an seinem Barte. Wo war die vierzehnte geblieben? Hatte er sie verschenkt? Und wem hatte er sie geschenkt? Das wußte Niemand zu sagen. Man weiß nur, daß Herr Lupin-Mabier, ein höchst ansehnlicher Mann, dessen Besitzungen sehr hoch abgeschätzt waren, bereit war, eidlich zu erhärten, daß er in den Händen Gilliatt’s eine höchst merkwürdige Muschel gesehen habe.

Es war nichts Seltenes, zwei Bauern aus der dortigen Gegend Gespräche wie folgendes führen zu hören:

– Findet Ihr nicht, Nachbar, daß mein Ochse ein ganz prächtiges Thier ist?

– Zu aufgeschwemmt, Nachbar.

– Hm – könnt Recht haben.

– Nichts Solides – mehr Talg als Fleisch.

– Daß Dich das Wetter!

– Seid Ihr ganz sicher darüber, daß Gilliatt ihn nicht behext hat?

Gilliatt blieb zuweilen auf einem Feldweg bei den Ackersleuten und an den Gärten bei den Gärtnern stehen und sprach dann wohl mitunter geheimnißvolle Worte zu ihnen, z. B.:

– Wenn der Teufelsbiß blüht, schneidet den Winterroggen. (Der Teufelsbiß ist die sogenannte Scabiose.)

– Sobald die Esche Knospen treibt, giebt es keinen Frost mehr. Um die Sommersonnenwende blüht die Distel.

– Wenn es im Juni nicht regnet, bekommt das Getreide den weißen Rost.

– Wenn die Vogelkirsche grün wird, traut dem Vollmond nicht.

– Habt Acht auf das Thun und Treiben der Nachbarn, mit denen Ihr im Rechtsstreit lebt. Wenn ein Schwein heiße Milch trinkt, geht’s caput; und reibt man der Kuh die Zähne mit Lauch ein, so frißt sie nicht mehr und fällt.

– Frischer Schierling bewahrt vor den Fiebern.

– Wenn sich der Frosch zeigt, säet die Melonen.

– Säet die Gerste, wenn’s Leberkraut blüht.

– Wenn die Linde blüht, mähet die Wiesen.

– Wenn die Ulme blüht, werfet die Laichnetze aus.

– Blüht der Tabak, so schließt Eure Gewächshäuser.

Und schrecklich! Wer seinen Rath befolgte, befand sich wohl dabei.

Als er eines Abends in der Gegend von Demie de Fontenelle auf der Düne die Flöte blies, ging der Makrelen-Fang fehl.

Zur Zeit der Ebbe fiel in der Nähe seiner Wohnung ein Frachtwagen um. Wahrscheinlich aus Furcht vor polizeilicher Untersuchung, half er mit der ungeheuersten Anstrengung den Wagen wieder aufrichten, und belud ihn auch selber wieder mit dem herausgefallenen Seegras. Ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft hatte Läuse; da ging Gilliatt nach Saint-Pierre-Port, holte dort eine gewisse Salbe und rieb das Kind damit ein. Er befreite es von seinen Läusen; es ist also klar, daß Gilliatt sie ihr angehext hatte.

Alle Welt ist darüber einig, daß man einem Menschen Läuse anhexen kann.

Er hatte auch die Gewohnheit, die Brunnen in der Umgegend zu besichtigen; ein sehr gefährliches Unternehmen, wenn man » den bösen Blick« hat. Eines Tages wurde das Wasser eines Brunnens so trübe, daß die gute Frau, welcher derselbe gehörte, Gilliatt zu Rathe zog. Dieser besah das Wasser, welches die Frau ihm in einem Glase zeigte, und sagte: Es ist wahr, das Wasser ist trübe. Die gute Frau aber, welche ihm nicht traute, sagte zu Gilliatt: Macht, daß das Wasser wieder gut wird. Er richtete darauf folgende, höchst bedenkliche Fragen an die Frau: – Ob sie einen Stall habe? – Ob dieser Stall einen Abflußkanal habe? – Ob vielleicht dieser Abflußkanal sehr nahe bei dem Brunnen vorbeiflösse? – Die gute Frau sagte zu Allem: Ja.

Da ging Gilliatt in den Stall, machte sich an dem Kanal zu schaffen, leitete die Gosse ab, und das Wasser des Brunnens wurde wieder klar. Man dachte sich am Ort so Mancherlei. Ein Brunnen wird nicht, so mir nichts dir nichts, schlecht und dann wieder gut. Man fand die Verwandlung des Wassers sehr unnatürlich, und der Verdacht lag nahe, Gilliatt habe diesen Brunnen verhext.

Einmal, als er nach Jersey gegangen war, hatte man bemerkt, daß er in einem Hause Quartier genommen, welches in der Schatten-Straße stand. Schatten aber sind bekanntlich Gespenster.

In den Dörfern merken die Leute auf dergleichen Dinge. Sie erkundigen sich nach Allem. Die Erkundigungen werden zu einem Resultat zusammengeschmolzen: dieses bildet den Ruf eines Menschen.

Es kam vor, daß man Gilliatt überraschte, als ihm die Nase blutete. Das war eine wichtige Entdeckung. Ein Bootsmann, welcher fast die ganze Welt gesehen hatte, behauptete, daß bei den Tungusen alle Hexenmeister Nasenbluten hätten. Blutet also einem Menschen die Nase, so weiß man, was man von ihm zu halten hat.

Freilich machten einige vernünftige Leute die Bemerkung, daß, wenn bei den Tungusen die Zauberer auf diese Weise kenntlich wären, dieses in Guernesey nicht in demselben Grade der Fall zu sein brauchte.

Es war zu Michaelis, als man Gilliatt einmal auf einem mit der Heerstraße von Videclins in Verbindung stehenden Feldweg gewahrte. Man sah ihn auf einer Wiese Halt machen und hörte ihn pfeifen. Bald darauf ließ sich in seiner Nähe ein Rabe nieder und es dauerte gar nicht lange, so kam auch eine Elster. Diese Thatsache ist durch einen der glaubwürdigsten Zeugen verbürgt.

Auch waren in der Gegend von Guernesey alte Frauen, welche ganz deutlich gehört haben wollten, wie eines Morgens ganz früh einige Schwalben den Namen Gilliatt gezwitschert hätten. Dazu kam noch, daß Gilliatt ein schlechtes Herz haben mußte.

Ein armer Mann schlug einst einen störrischen Esel, der nicht vorwärts wollte. Als alle Püffe nichts fruchten wollten, gab er ihm mit seinen schweren Holzschuhen einige derbe Fußtritte in die Seiten, so daß der Esel fiel. Gilliatt eilte hinzu, um ihm wieder aufzuhelfen. Der Esel war todt. Gilliatt ohrfeigte den armen Mann.

Ein anderes Mal sah er einen kleinen Knaben von einem Baum herabsteigen, mit einem Nest voll neugeborener fast noch nackter Vögelchen. Gilliatt nahm dem Knaben das Nest aus der Hand und trieb die die Ruchlosigkeit so weit, es wieder dahin zu bringen, wo es der Bube gefunden hatte.

Als einige Vorübergehende ihm Vorwürfe machten, zeigte er statt aller Antwort auf den Baum, wo die Alten ängstlich schreiend das Nest ihrer Jungen umflatterten. Er hatte eine Liebhaberei für Vögel. Das ist ein Zeichen, woran man in der Regel die Zauberer erkennt.

Den Kindern macht es Spaß, die Nester der Seemöven an den steilen Küsten-Abhängen auszunehmen. Sie bringen ganze Massen blauer, gelber und grüner Eier mit nach Hause, welche sie als Zierde des Kamingesimses reihenweise aufpflanzen. Da die Abhänge steil und glatt sind, geschieht es leicht, daß Jemand ausgleitet, fällt und um’s Leben kommt. Nichts ist verlockender für ein Kind, als diese hübschen bunten Vogeleier auf dem Kamin. Was that Gilliatt, um den Kindern das unschuldige Vergnügen zu stören?

Er erkletterte mit eigener Lebensgefahr die höchsten Felsen und brachte Vogelscheuchen an den gefährlichsten Stellen an. So verhinderte er die Vögel, hier zu bauen, und die Kinder hinzugehen.

Darum war Gilliatt beinahe in der ganzen Gegend verhaßt. Wer wäre es nicht, wenn solche Gründe vorliegen?

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Fünftes Capitel. Andere zweideutige Seiten Gilliatts.

Man hatte zwar seine Meinung über Gilliatt, allein man war doch noch nicht ganz einig.

Die Meisten hielten ihn für einen »Marcou,« Einige aber gingen so weit, ihn für einen »Cambion« auszugeben. Ein Cambion ist der Sohn des Teufels und eines menschlichen Weibes.

Wenn eine Frau von einem Manne sieben männliche Kinder hinter einander zur Welt bringt, so ist das siebente ein Marcou. Die Reihe darf aber nicht durch die Geburt eines Mädchens unterbrochen sein.

Der Marcou hat an irgend einer Stelle seines Körpers das Zeichen der Lilie, welches ihm die Fähigkeit verleiht, die Scropheln eben so gut zu kuriren wie die Könige von Frankreich. Es giebt in Frankreich fast aller Orten Marcous, besonders um Orleans. Jedes Dorf in der Gegend von Gätin hat seinen Marcou. Er darf die Verwundeten nur anhauchen, oder von ihnen seine Lilie berühren lassen, so sind sie geheilt. In der Nacht des Charfreitag gelingen solche Operationen am besten. Ungefähr vor zehn Jahren lebte in Ormes ein Küfer – ein angesehener Mann, der Wagen und Pferde hielt – man nannte ihn nur den schönen Marcou, der einen ganz außerordentlichen Zuspruch hatte. Von Nah und Fern strömten aus der Umgegend die Leute in sein Haus. Man mußte, um seinen Wundern Einhalt zu tun, mit militärischer Gewalt einschreiten. Er hatte die Lilie unter der linken Brust. Andere haben sie anderswo.

Es giebt Marcous in Jersey, in Aurigny, in Guernesey. Dies kommt wohl daher, weil Frankreich Rechte auf die Normandie hat. Wozu wären sonst die Lilien?

Es giebt auch Scrophelnbehaftete auf den Inseln des Canals, was wiederum die Marcous nothwendig macht.

Als Gilliatt eines Tages in offener See badete, glaubten einige Anwesende die Lilie an seinem Körper zu bemerken. Als man ihn darüber befragte, lachte er, anstatt zu antworten. Ja, ja, Gilliatt lachte zuweilen, ganz wie ein anderer Mensch. Seit dieser Zeit jedoch badete er nicht mehr in offener See, sondern an versteckten einsamen Orten. Man vermuthete, daß er es des Nachts bei Mondenschein that. Wie dem aber auch sei: die Sache war sonderbar.

Diejenigen, welche darauf versessen waren, Gilliatt für einen Cambion, das heißt für einen Sohn des Teufels auszugeben, befanden sich offenbar im Irrtum. Sie hätten wissen müssen, daß es fast nur in Deutschland Cambions giebt. Allein in le Valls und St. Sampson waren vor fünfzig Jahren die Leute in der Wissenschaft noch sehr zurück.

Daß man aber in Guernesey einen Sohn des Teufels suchen wollte, war offenbar eine Phantasie.

Obgleich man Gilliatt fürchtete, suchte man doch seinen Rath. Mit einer gewissen inneren Unruhe, welche die Furcht erzeugte, befragten ihn die Bauern über ihre verschiedenen Krankheitsfälle. Diese Furcht schließt das Vertrauen nicht aus, im Gegentheil: je verrufener auf dem Lande ein Arzt ist, desto wirksamer sind seine Mittel. Gilliatt hatte seine eigenen Arzneien; sie waren ihm von der verstorbenen alten Frau übermacht worden; er half damit Allen, welche seine Hülfe begehrten, ohne sich dafür bezahlen zu lassen. Er heilte Nagelgeschwüre durch kühlende Kräuter; eine seiner Phiolen enthielt einen Saft, welcher das Fieber heilte; der Chemiker in St. Sampson, den man sonst Apotheker zu nennen pflegt, hielt diesen Saft für ein Decoct von Chinarinden. Selbst die böswilligsten Lästerer konnten nicht leugnen, daß Gilliatt, wenigstens was die Heilung der gewöhnlichen Krankheiten anbelangte, ein ziemlich guter Teufel war; wer aber seine Heilkünste als Marcou in Anspruch nehmen wollte, hatte einen weit schwierigeren Stand. Wenn sich ein Aussätziger meldete, welcher durch Berührung seiner Lilie Heilung suchte, so schlug er ihm ohne Umstände die Thür vor der Nase zu; Wunder durfte Keiner von ihm verlangen, zu solchen Sachen mochte er sich durchaus nicht verstehen – für einen Zauberer eine lächerliche Weigerung! Wenn Ihr kein Hexenmeister sein wollt, gut! Seid Ihr es aber einmal, so thut, was Eures Amtes ist!

Der allgemeine Widerwille hatte jedoch eine oder zwei Ausnahmen. Die eine dieser Ausnahmen bildete der Sieur Landoys, welcher die Stelle eines Schreibers in der Pfarrei des Hafens von Saint-Pierre bekleidete; ihm war das Register der Geburten, Heirathen und Todesfälle anvertraut. Besagter Herr Landoys war nicht wenig stolz darauf, sich für einen Abkömmling des Schatzmeisters Pierre Landoys halten zu dürfen, welcher im Jahre 1485 in der Bretagne gehängt worden war. Dieser Sieur Landoys hatte sich einmal beim Baden zu weit in die offene See gewagt, und schwebte in großer Gefahr zu ertrinken. Gilliatt rettete ihn mit Gefahr seines eigenen Lebens. Von diesem Tage an redete Landoys nichts Böses mehr über Gilliatt. Wenn man sich darüber verwunderte, antwortete er: Wie kann ich einen Mann verachten, der mir nichts zu Leide gethan und der mir einen so wichtigen Dienst geleistet? Der frühere Widerwille des Herrn Amtschreibers war nicht allein völlig gewichen, sondern hatte sogar einem gewissen Gefühl von Freundschaft Platz gemacht. Er war ein Mann ohne Vorurtheile. Er glaubte nicht an Zauberei. Er lachte über die Gespensterfurcht. Obgleich er, der den Fischfang als Liebhaberei trieb, oft Stunden lang in seinem Kahn auf dem Meere segelte, so war ihm doch noch niemals etwas begegnet, den einzigen Fall ausgenommen, daß er einmal eine weiße Frau im Mondenschein in das Meer springen sah; und auch das konnte er nicht als Wahrheit verbürgen, es mochte wohl eine Täuschung gewesen sein. Montonne Gahy, die Hexe von Torteval, hatte ihm ein kleines Säckchen gegeben, welches, auf der Brust getragen, vor den bösen Geistern schützen sollte; er lachte Ueber diesen Aberglauben, er hatte das Säckchen nicht einmal untersucht, wußte also gar nicht, was es enthielt; nichts desto weniger trug er es, weil er sich mit diesem Säckchen sicherer fühlte, auf der Brust.

Noch einige andere Leute von Muth hatten die Kühnheit, dem Vertheidigungs-Eifer des Sieur Landoys beizustimmen, indem sie durch Anführung gewisser mildernder Umstände den Stachel von Gilliatts bösem Leumund zu entkräften suchten. Wenn man auch Alles über ihn ergehen ließ, so mußten doch selbst seine erbittertsten Widersacher gelten lassen, daß es keinen mäßigeren und nüchterneren Menschen gab als Gilliatt. Man vermaß sich sogar zu der ungeheuer schmeichelhaften Frage: Wer ist so mäßig als Gilliatt? Er raucht nicht, er schnupft nicht, er trinkt nicht, er spielt nicht.

Nach der Meinung der Leute aber ist die Nüchternheit nur dann eine lobenswerthe Eigenschaft, wenn andere dazu kommen.

Die öffentliche Meinung war nun einmal gegen Gilliatt.

Wie dem aber auch sei, als Marcou konnte Gilliatt wesentliche Dienste leisten. Es erschien daher an einem gewissen Charfreitag um Mitternacht, an welchem Tag und zu welcher Stunde gewisse Wunderkuren unfehlbar waren, ein ganzes Heer Aussätziger im Gespensterhaus. Sie streckten flehend die Hände aus, entblößten ihre Wunden, und baten Gilliatt inständig, er möchte ihnen helfen. Er schlug es ab. Jetzt war man über seine Schändlichkeit im Klaren.

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Sechstes Capitel. Ein altmodisches Schiff.

So war Gilliatt.

Die Mädchen fanden ihn häßlich. Er war es nicht; er war vielleicht das Gegentheil. Er hatte in seinem Profil etwas von einem antiken Barbaren. In Momenten der Ruhe glich er einem der Dacier auf der Säule des Trajan. Seine Ohren waren klein, von zierlicher Form und durch die Abwesenheit sogenannter Ohrlappen, wie durch einen bewunderungswürdig akustischen Bau ausgezeichnet. Zwischen den Augenbrauen hatte er jene stolze Linie, welche den kühnen und beharrlichen Mann verräth. Seine Mundwinkel waren herabgezogen, ein Kennzeichen der Schwermuth und Melancholie. Die Wölbung seiner Stirn war edel und klar, sein Auge offen und frei, obgleich die Ruhe seines Blickes öfter durch jenes Zucken der Lider unterbrochen wurde, welches den Fischern eigen ist; eine Erscheinung, die das wechselnde Licht der Wogen erzeugt. Sein Lachen war kindlich und reizend. Man konnte nichts Schöneres sehen als seine blendend weißen Zähne. Aber die Sonne hatte einen Neger aus ihm gemacht. Nicht ungestraft setzt man sich Tag und Nacht den Stürmen und Wettern des Oceans aus; obgleich erst dreißig, glich er einem Mann von fünfundvierzig Jahren. Er trug die dunkle Maske des Sturmes und der See.

Man nannte ihn Gilliatt, den Schelm.

Eine indische Fabel erzählt: Eines Tages frug Brâhma die Stärke: »Wer ist noch stärker als Du?« Sie antwortete: »Die Gewandtheit.« Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Was vermöchte nicht der Löwe, wenn er ein Affe wäre?« Gilliatt war weder Löwe noch Affe; allein die indische Fabel und das chinesische Sprichwort paßten auf das, was er that, und wie er es that. Nur mittelmäßig groß und mit nur gewöhnlichen Körperkräften begabt, war er dennoch im Stande, Riesenlasten zu heben und Athletenwerke zu leisten. Keiner wußte wie er, durch Erfindungsgabe, durch Klugheit und Geschicklichkeit die Wirkungen der Kraft zu erzielen.

Ihm war die Gymnastik angeboren; er bediente sich mit gleicher Leichtigkeit der linken wie der rechten Hand.

Er war kein Jäger, aber ein Fischer. Die Vögel schonte er, doch nicht die Fische. Wehe den Stummen! Auch war er ein trefflicher Schwimmer.

Die Einsamkeit bildet Talente und Blödsinnige. Gilliatt konnte für Beides gelten. Er hatte zuweilen ein »erzdummes« Aussehen, dann aber hatte er wieder einen bezaubernd tiefen Blick. Im alten Chaldäa gab es solche Menschen; in gewissen Stunden leuchteten Magier durch die undurchsichtige Hülle des Hirten.

In Wahrheit war Gilliatt nichts weiter als ein armer Mensch, der lesen und schreiben konnte. Er stand auf der Grenze, welche den Träumer vom Denker scheidet. Der Denker will, der Träumer läßt sich leiten. Gesellt die Einsamkeit sich zur Einfalt, so vervollkommnet sie dieselbe. Sie erfüllt sie ohne ihr Wissen mit einem heiligen Grauen. Der Schatten, welcher Gilliatts Geist umhüllte, war aus zwei verschiedenen, doch in ihrer Stärke fast gleichen Elementen zusammengesetzt; in ihm war Unwissenheit, Schwäche, außer ihm das Geheimniß, die Unendlichkeit.

Das Inselmeer hatte ihn mit seinen tausendfältigen Gefahren, denen er muthig die Stirn bot, wenn er die steilen Felsen erkletterte und sich im Sturme bei Tag und Nacht dem Untergang Preis gab, indem er das erste beste Fahrzeug regierte, ohne sein Wissen und Wollen zu einem bewunderungswürdigen Seemann gemacht.

Er war ein geborener Lootse. Der Lootse ist ein Seemann, der mehr nach dem Grund, als nach der Oberfläche fragt. Die Woge ist eine räthselhafte Fläche, deren Gestalt fortwährend wechselt nach den Formen des Meergrundes, über welchen das Fahrzeug dahingleitet. Wenn man Gilliatt durch die Wasserberge und Felsenriffe des normännischen Archipelagus sich wie eine Wasserschlange winden sah, schien es, als ob unter der Wölbung seiner Stirn die Karte des Meeresgrundes verborgen wäre. Er kannte Alles und überwand Alles. Er kannte die Baken besser als die Seeraben, welche sich darauf setzen. Die unmerklichen Unterschiede, durch welche jeder einzelne der vier mit Pfählen gespickten Leinpfade der Creux, der Alligande, der Tremies und der Sardrette sich auszeichnet, waren für ihn im Nebel und selbst in der Dunkelheit der Nacht vollkommen klar und erkennbar.

Seine Seemannskunst bewährte sich glänzend bei Gelegenheit eines Schifferstechens, welches in Guernesey eines Tages stattfand. Man hatte nämlich die Aufgabe gestellt, ganz allein ein Schiff mit vier Segeln von St. Sampson bis zu der Insel Herm, – zwei Orte, welche zur See eine Meile weit von einander entfernt liegen – und wieder zurück zu führen. Das Lenken eines Schiffes mit vier Segeln ist für einen geübten Seemann nun gerade keine Hexerei. Die Schwierigkeit bestand aber erstens in dem zu regierenden Schiffe selber, welches eine jener breiten, schweren, kolossalen Schaluppen war, die aus Holland stammen und welche die Seeleute des vorigen Jahrhunderts » Holländische Bäuche« nannten. Man begegnet noch heute auf offener See solchen altmodischen Schiffsmodellen. Sie sind bausbäckig, flach, sie haben am Backbord und Steuerbord zwei Flügel, die den Schiffskiel vertreten. Die zweite Schwierigkeit war der Rückweg von Herm, wo das Schiff mit einer schweren Ladung Steine versehen wurde. Leer stach es in See, schwer beladen kam es zurück. Der Preis des Schifferstechens war eben diese Schaluppe. Der Sieger behielt sie. Dieser dickbäuchige Holländer wurde früher zum Lootsendienste benutzt. Der Lootse, welcher ihn zwanzig Jahre lang führte, war der kräftigste Seemann im Canal; als er starb, blieb das Schiff herrenlos, weil kein Anderer es zu regieren im Stande war, daher man denn auf den Gedanken kam, es zum Preis eines Schifferstechens zu machen. Das Schiff, obgleich mit keinem Verdeck versehen, hatte nichts desto weniger seine dem Kundigen erkennbaren Vorzüge. Es war nach vorn mit einem Maste versehen, was die Triebkraft des Segelwerkes vermehrte. Es hatte ein festes Gerippe, schwer, aber breit und hielt gut die weite See; es war so ein rechtes Sonntagsschiff. Es schien den Appetit der Seeleute sehr zu reizen; denn es entspann sich ein reger Wettkampf um den Besitz desselben. Sieben oder acht Fischer, die kräftigsten auf der Insel, waren als Kämpfer um den Preis in die Schranken getreten. Sie versuchten Alle nach einander ihr Heil, aber kein Einziger von ihnen erreichte Herm. Der Letzte, welcher es versuchte, war als kühner Wagehals bekannt, der einmal bei Sturm und Wetter den gefährlichen Engpaß zwischen Serk und Brecq-Hon in einem Kahne, und nur von dem Ruder Gebrauch machend, durchschifft hatte. Wie gebadet im Schweiße fruchtloser Anstrengung brachte er den dickbäuchigen Holländer zurück und sagte: Es ist unmöglich! Nun war die Reihe an Gilliatt, sein Glück zu versuchen. Er bestieg das Fahrzeug, stach in See und erreichte Herm nach einem Zeitraum von drei viertel Stunden. Nach drei Stunden brachte er das Schiff mit seiner schweren Ladung nach Sampson zurück. Das Fahrzeug war zum Ueberfluß noch mit der kleinen Kanone von Bronze beladen, welche die Bewohner von Herm alljährlich am fünften November, dem Todestag von Guy Fawkes abzufeuern pflegten.

Guy Fawkes war, beiläufig gesagt, vor zweihundert sechszig Jahren gestorben; die Freude über seinen Tod war also von sehr altem Datum.

Gilliatt erreichte St. Sampson ungeachtet der Kanone des Guy Fawkes, und ungeachtet eines conträren Südwindes, welcher sich bei der Rückfahrt erhoben hatte.

Als ein gewisser Mess Lethierry, von welchem später die Rede sein wird, das beladene Fahrzeug ankommen sah, rief er begeistert aus: Das nenne ich mir einen Seemann!

Er reichte Gilliatt die Hand. Die Schaluppe wurde demselben feierlichst zugesprochen.

Trotz dieser Heldenthat behielt er seinen Beinamen: der Schelm.

Einige Leute suchten das Wunder durch die Vermuthung zu erklären, daß Gilliatt irgendwo in diesem Schiffe einen wilden Mispelzweig verborgen habe; denn wie sollte gerade er, der doch kein Seemann war, etwas vollbringen können, was erfahrene Schiffskundige nicht vermochten? Nein, es war nicht möglich, es mußte Zauberei im Spiel sein.

Seit jenem Tage hatte Gilliatt kein anderes Fahrzeug mehr in Gebrauch, als diese altmodische holländische Schaluppe. Sie diente ihm sogar zum Fischfang. Er brachte sie in jenem, ihm allein gehörenden kleinen Hafen neben seinem Hause unter. Wenn es donnerte, warf er seine Netze über den Rücken, schritt durch den Garten, setzte dann über eine Brustwehr trockener Steine, und von einem Felsen zu dem andern springend, erreichte er sein Fahrzeug und stach in See.

Er brachte stets reiche Beute mit nach Hause. Die Leute meinten, dies auffallende Glück im Fischfange schreibe sich daher, daß er noch immer den Mispelzweig in der Schaluppe verberge; es hatte ihn indessen Keiner dort entdeckt.

Seinen Ueberfluß an Fischen verkaufte Gilliatt nicht, sondern er verschenkte ihn.

Die Bedürftigen nahmen seine Fische an, waren aber nichts desto weniger empört über die Hexerei mit dem wilden Mispelzweig. Das ist sündlich, sagten sie; man darf das Meer nicht um sein Eigenthum betrügen.

Gilliatt war Fischer; aber er trieb nicht allein den Fischfang, sondern auch noch manche andere Dinge zum Zeitvertreib. Er war auch Tischler, Schmied, Wagner, Schiffs-Zimmermann und sogar auch ein wenig Mechanikus. Er hatte eine angeborene Geschicklichkeit zu allen Dingen und trieb diese verschiedenen Handwerke, ohne sie gelernt zu haben, zum Vergnügen. Keiner konnte ein so gut gearbeitetes Rad liefern als er. Alle seine Fischerwerkzeuge verfertigte er sich selbst. Er hatte in einem Winkel seines Hauses eine vollständige kleine Schmiedewerkstätte eingerichtet. Seine Schaluppe hatte nur einen Anker; er fertigte ohne die Hülfe eines Arbeiters und ohne jede Anweisung einen zweiten, der ganz vortrefflich war, und er verstand die Größe und Stärke des Ankerstocks so zu berechnen, daß ein Umschlagen des Schiffes nicht möglich war.

Er hatte mit großer Geduld alle eisernen Nägel aus den Schiffsplanken gezogen und sie durch hölzerne ersetzt, wodurch er die gefährlichen Rostlöcher unmöglich machte.

Auf diese Weise hatte er seinen »Holländer« noch weit seetüchtiger gemacht. Er machte auf demselben von Zeit zu Zeit kleine Streifzüge und brachte oft monatelang auf irgend einer einsamen Insel zu. Dann sagten die Leute, Gilliatt ist fort; Keiner aber nahm sich seine Abwesenheit besonders zu Herzen.

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Siebentes Capitel. Ein sonderbarer Mensch in einem sonderbaren Haus.

Gilliatt war ein Träumer. Aus seiner Träumerei entsprang sowohl seine Kühnheit wie seine Schüchternheit. Er hatte seine Gedanken für sich.

Er hatte etwas von einem Geisterseher, etwas von einem Illuminaten. Jeder Bauer kann eben so gut Geisterseher sein, wie König Heinrich IV. Der geheimnißvolle Schleier, welcher die Welt des Unbekannten vor den Blicken der Erdbewohner verhüllt, öffnet sich zuweilen, wenn auch nur für Augenblicke. Der dichte Schatten, welcher das Unsichtbare birgt, lüftet sich plötzlich, um sich dann wieder zu schließen. Solche Visionen verklären zuweilen die Menschen, welchen sie verliehen sind. Sie machen aus einem Kameeltreiber einen Mahomed und aus einer Hirtin eine Johanna d’Arc. Es giebt gewisse erhabene Geistesverirrungen, welche die Einsamkeit erzeugt. Sie sind der Rauch des flammenden Dornbusches. Aus ihnen entsteht ein geheimnißvolles Zittern der Gedanken, welches den Arzt zum Hellseher, den Dichter zum Propheten erhebt. Es hat Horeb, Cedron, Ombos, Peleïa in Dodonaien, Phemonoë in Delphis, Trophonius in Lebadea, Ezechiel auf dem Kebar, Hieronimus in der thebischen Wüste hervorgebracht.

Gewöhnlich wirkt der Zustand des Hellsehens betäubend auf den Menschen. Es giebt einen heiligen Stumpfsinn. Der Fakir ist mit seiner Vision behaftet, wie der Cretin mit seinem Kropf. Luther, der auf der Wartburg dem Teufel sein Dintenfaß an den Kopf warf, Pascal, der sich mit seinem Bettschirm vor dem Fegefeuer geschützt, der Negerpriester, der mit dem weißen Gotte Bossum spricht – alles dieselbe Erscheinung, die sich nach der Verschiedenheit der Intelligenz verschiedenartig gestaltet. Luther und Pascal sind und bleiben große Männer; der Negerpriester ist ein Wahnwitziger.

Gilliatt war weder das Eine noch das Andere. Er war ein Träumer; weiter nichts.

Es waren ihm im Meerwasser zuweilen sonderbare medusenartige Thierformen verschiedenster Gestaltungen und Größe aufgefallen, die außerhalb des Wassers wie weicher Krystall aussahen und welche, wieder in das Wasser geworfen, demselben an Farbe und Durchsichtigkeit so vollkommen ähnlich waren, daß ihre eigenthümlichen Formen ganz verschwanden und sie wie aufgelöst in der Allgemeinheit des Elementes erschienen. Gilliatt schloß daraus, daß, wie im Wasser, so auch wohl in der Luft lebendige Wesen existiren könnten, deren Gestaltungen mit dem Element so verschmolzen seien, daß man ihre besondere Erscheinung nicht unterscheiden könne. Die Vögel sind nicht die Bewohner der Luft, sie sind ihre Amphibien. Gilliatt glaubte nicht an die Leere der Luft. Er sagte: Wie sollte die Luft leer sein, wenn das Meer voll von unsichtbaren Wesen ist? Sollten nicht auch in der Luft Wesen existiren, deren Gestaltung wir nicht wahrnehmen können, weil sie aus demselben Element gebildet, welches sie bewohnen? Die Analogie deutet darauf hin, daß die Luft ebenso gut ihre Fische habe wie das Meer die seinigen, nur sind diese Fische Luftfische, durchsichtig und anscheinend körperlos wie das Element, das sie bewohnen; das hat zu ihrem und zu unserem Wohl die göttliche Vorsehung so eingerichtet; das Licht des Tages durchdringt ihre ätherischen Körper ohne einen Schatten zu bilden; das ist der Grund, warum wir sie nicht sehen. Gilliatt bildete sich ein, daß, wenn man die Atmospäre, das Luftmeer wie das Wassermeer behandeln, wenn man dieses Meer wie ein anderes befahren, und Netze darin auswerfen könnte, man eine Fülle der wunderbarsten Wesen finden würde. Und, setzte Gilliatt träumerisch hinzu, es würden viele Dinge offenbar werden, die unserem begrenzten Menschenauge sich entziehen.

Die Träumerei ist der Gedanke im nebelhaften Schlummerzustand. Die Luft, mit durchsichtigen lebenden Wesen gefüllt, das wäre der erste Blick in jene unbekannte Welt der Wunder. Aber die Voraussetzung dieser einen Möglichkeit, wie vielen anderen Möglichkeiten und Voraussetzungen öffnet sie nicht die Thore! Wo andere Wesen sind, als die uns bekannten, da ist auch eine andere Welt. Keine übernatürliche Welt, nein, nur die verborgene geheimnißvolle Fortsetzung der unendlichen Natur. Gilliatt, der seine Zeit mit diesem geschäftigen Müßiggang träumerischen Denkens ausfüllte, welches das Wesen seiner Existenz geworden war, Gilliatt war ein wunderlicher Forscher. Er ging so weit, sogar den Schlaf zu beobachten und den geheimnißvollen Organismus seiner Erscheinungen zu sondiren. Der Traum berührt das Mögliche, welches wir auch das Unwahrscheinliche nennen. Die Welt der Nacht ist eine solche, die mit der des Tages nichts gemein hat. Die Nacht ist ein Universum für sich. Der materielle Organismus des Menschen, auf welchem der Druck einer fünfzehnhundert Meilen hohen Luftsäule lastet, ermüdet, wenn der Abend kommt. Der Mensch wird matt, er legt sich nieder und ruht aus. Die Augen des Körpers schließen sich. In diesem Zustand der Betäubung und scheinbarer Trägheit oder gänzlicher Abwesenheit des Geistes öffnen sich innere Augen, die Blicke des Schläfers richten sich auf eine andere, unbekannte Welt. Die dunkeln Dinge dieser ungekannten Welt nähern sich dann dem Menschen. Diese Annäherung ist eine wirkliche oder visionaire. Es scheint, daß die unsichtbar im Weltraum Lebenden dann zu uns kommen, um uns, die Erdbewohner, neugierig zu betrachten; es steigen Phantome im Halbdunkel des Traumes zu uns heraus und hinab. Vor unserem geistigen Auge verwickeln und entwickeln sich die Bilder eines neuen unbekannten Lebens, welche uns unser eigenes Ich selbst in Verbindung mit andern unbekannten Wesen zeigen. Der Schläfer aber sieht mit dem halb umflorten Blick seines Bewußtseins jene seltsamen Thiergestalten, jene wunderbaren Pflanzen, Gespenster, Larven, jene schrecklichen oder lieblichen Gestalten, jenes verworrene Kaleidoskop der sonderbarsten Erscheinungen, jenes Mondlicht ohne Mond, jene dunkeln sich in Räthsel auflösenden Räthsel, jenen plötzlichen Wechsel der Gestaltungen, das ganze unergründliche Geheimniß, welches wir Traum nennen und welches doch nichts Anderes ist, als das Nahen einer unsichtbaren Wirklichkeit. Der Schlaf ist das Aquarium der Nacht.

So grübelte Gilliatt.

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Achtes Capitel. Der Felsen-Stuhl.

Man würde sich heute umsonst bemühen, in der Bucht von Houmet das Haus Gilliatts, seinen Garten und den Hafen zu finden, in welchem er seine Schaluppe bewahrte. Das Gespensterhaus existirt nicht mehr. Das Haus auf der Landzunge fiel durch die Spitzhacken der Felsensprenger. Die Schiffe der Granithändler wurden mit seinen Trümmern beladen. Aus diesen Steinen wurden Quais, Kirchen, Paläste in der Hauptstadt gebaut. Der ganze Klippenkamm ist schon seit langer Zeit nach London gewandert.

Diese in das Meer ragenden Felsen mit ihren Sprüngen, Rissen und Einschnitten sind wahrhafte kleine Bergketten. Man hat, wenn man sie sieht, etwa den Eindruck, den ein Riese beim Anblick der Cordilleren haben würde. In der Landessprache werden sie Bänke genannt. Diese Bänke bieten verschiedene Gestaltungen und Formen. Einige sehen aus wie ein Rückgrat, andere wie Wirbelbeine; diese wie Fischgräten, jene wie trinkende Krokodile.

An der äußersten Spitze der Felsenbank am Gespensterhaus, befand sich das sogenannte Kuhhorn, ein Name, welchen die Fischer von Houmet einem großen pyramidenförmigen Felsen gegeben hatten, der, wenn auch von weniger beträchtlicher Höhe, viele Aehnlichkeit mit der sogenannten Zinne von Jersey hatte. In der Zeit der Flut wurde er von der mit ihm zusammenhängenden Felsenkette der Bank abgeschnitten und stand vereinzelt im Meer. Während der Ebbe war es möglich ihn zu ersteigen. Die Meerseite dieses Granitkolosses bot dem Auge des Beschauers eine ganz besondere Merkwürdigkeit dar. Die Arbeit der Wogen hatte nämlich auf diesem Felsen eine Art Stuhl gezimmert, den der Regen sehr glatt polirt hatte. Dieser Stuhl war ein tückischer Verräther. Es schien, als habe ihn die Natur eigens zu dem Zweck gemacht, um dem Bewunderer eine Stelle zu gewähren, von wo aus er die herrliche Gegend überschauen könne; er war um so verführerischer, als er den Naturschwärmer mit einer unwiderstehlich verlockenden Gewalt zu sich empor zog. Es liegt ein großer Reiz in weiten Fernsichten. Der Stuhl bildete eine Art Nische in der zackigen Felsenwand, und es war nicht allzuschwer, diese Nische zu erklettern. Das Meer, welches für den Bewunderer seiner Schönheit einen Stuhl in diese Nische gestellt, hatte auch durch treppenartig angeschwemmte Granitblöcke dafür gesorgt, daß der Naturfreund dieselbe ohne allzugroße Anstrengung, ja mit einer gewissen Bequemlichkeit erreichen konnte. Der Abgrund ist wohl höflich und zuvorkommend; man darf aber seiner Höflichkeit nicht trauen. So ein Plätzchen, welches die Natur an mancher Stelle wie ein Schild ausstellt, auf dem geschrieben steht: »Zur schönen Aussicht,« ist sehr verführerisch. Und dieser Felsenstuhl war ganz besonders einladend. Er lockte unwiderstehlich, man mußte ihn erklettern! Man erkletterte ihn, setzte sich darauf und genoß der entzückendsten Aussicht. Den Sitz dieses merkwürdigen Stuhles hatte der Meeresschaum geglättet und gerundet; seine Lehne bildeten zwei Krümmungen, welche sich an der Felsenwand bis an den Gipfel des sogenannten Kuhhorns hinaufzogen. Man bewundert die kolossale Stuhllehne über seinem Haupt, ohne daran zu denken, daß das Ersteigen dieser äußersten Felsenspitze unmöglich ist. Der Stuhl hat das Eigentümliche, daß man alle diese Dinge und sich selber auf ihm vergißt. Man hat an andere Dinge zu denken; die Aufmerksamkeit ist durch die herrliche Fernsicht gefesselt. Der Blick über den weiten Wasserspiegel ist unbegrenzt. Das weite Meer, auf welchem so viele Schiffe kreuzen, die das Auge verfolgen kann, bis sie wie kleine Punkte sich hinter den Casquets in der Rundung des Oceans verlieren, bezaubert und berückt uns. Die erquickende Meerluft umschmeichelt die Wangen des Wanderers und spielt mit seinen Haaren – o, es ist ein Genuß, eine wahre Herzensfreude! – In der Gegend von Cayenne giebt es eine Fledermaus, die sehr wohl weiß, warum sie Dich mit dem sanften Wesen ihres Flügelschlages einschläfert. Der Wind ist eine solche unsichtbare Fledermaus: wenn er nicht fortreißt, so schläfert er ein. Der Wanderer betrachtet das Meer, belauscht den Wogenschlag, vernimmt das Rauschen des Windes. Unmerklich wird er vom Entzücken eingeschläfert. Ist das Auge von einem Uebermaß von Glanz und Schönheit erfüllt, dann ist es eine Wollust, es zu schließen. Plötzlich erwacht man. Es ist zu spät! Die Flut ist allmälig gewachsen. Das Wasser hat den Felsen bedeckt. Man ist verloren.

Entsetzliche Belagerung durch die steigende Flut!

Anfangs bilden die Wogen nur kleine Hügel; unmerklich steigen sie höher; und wenn sie die Höhe der Felsen erreicht haben, rasen sie und schäumen vor Wuth. Nur in seltenen Fällen gelingt die Rettung; die gewandtesten Schwimmer wurden am Kuhhorn in der Nähe des Gespensterhauses von den Wogen verschlungen.

Zu gewissen Zeiten und an gewissen Stellen in das Meer zu schauen, ist tödtlich. Fast so tödtlich wie mitunter, in das Auge eines Weibes zu schauen!

Die ältesten Bewohner von Guernesey nannten diesen von den Wogen des Meeres gemeißelten Felsenstuhl: Gild-Holm-‚Ur, oder Kidormur. Es ist dieses ein celtischer Ausdruck, dessen Sinn dem der celtischen Sprache Unkundigen entgeht, jedoch dem Franzosen verständlich ist. » Qui-dort-meurt.« Das Idiom des Landes hat diesen Namen in Kidormur verwandelt.

Es steht Jedem frei zwischen der Uebersetzung: Qui-dort-meurt und jener zu wählen, welche im Jahre 1819 ein Gelehrter aus der Bretagne, ein gewisser Herr Athenas, lieferte. Dieser ehrenwerthe Sprachkundige übersetzte die celtische Benennung: Gild-Holm-‚Ur: Halte-Platz der Vögelschwärmer.

Es existirt auch in Aurigny ein solcher Stuhl, den man den Mönchs-Stuhl nennt. Die Wogen haben ihn so sauber gemeißelt und mit einem so künstlichen Granit-Betpult versehen, als wollten sie dem Anbeter der Naturschönheiten einen Schemel unter die Kniee schieben.

Zur Zeit der Fluth verschwand der Stuhl von Gild-Holm-‚Ur ganz in den Wogen. Das Wasser machte ihn unsichtbar.

Dieser Felsenstuhl war ein Nachbar des Gespensterhauses. Gilliatt kannte ihn genau. Er besuchte ihn oft, und setzte sich auf denselben. Dachte er nach? Nein, Gilliatt dachte nicht, er träumte; doch ließ er sich niemals von der Fluth überraschen.

Drittes Buch.


I.

Die Bartholomäusmetzelei.

Die Kinder wachten auf.

Zuerst die Kleine.

Das Erwachen eines Kindes ist das Aufgehen einer Blume; so ein frisches Seelchen atmet Duft.

Georgette, das Jüngste von den Dreien, das erst anderthalb Jahre alt, noch im Mai von der Mutter gestillt wurde, erhob das Köpfchen, setzte sich in der Wiege aufrecht, betrachtete seine kleinen Füße und fing zu plaudern an.

Beim Sonnenstrahl, der gerade auf die Wiege fiel, hätte es schwer gehalten, zu entscheiden, wer von beiden rosiger sei, Georgettes Füßchen oder der junge Morgen.

Die zwei anderen schliefen noch; freilich, kleine Mannsleute sind schwerfälliger; Georgette aber plauderte stillvergnügt vor sich hin.

René-Jean war braun, Gros-Alain etwas lichter und Georgette blond; bei Kindern hat oft jedes Alter seine Haarfarbe, die sich mit den Jahren ändert. Beide Fäuste gegen die Augenhöhlen gestemmt, lag René-Jean auf dem Bauch wie ein kleiner Herkules und Gros-Alain ließ im Schlaf seine Beinchen auf den Fußboden hinaushängen.

Alle Drei waren in Fetzen, denn die Kleider, die ihnen das Bataillon Bonnet-Rouge gegeben hatte, waren in die Brüche gegangen. Sie hatten kaum mehr Hemdchen an; die zwei Knaben waren halbnackt und Georgette steckte in einem zerlumpten Etwas, das einmal ein Röckchen gewesen und jetzt fast nur ein Leibchen war. Wer nahm sich dieser Kleinen an? Niemand. Eine Mutter war nicht da und die wilden Bauernsoldaten, die sie aus einem Wald in den andern mitschleppten, gaben ihnen von ihrer Suppe zu essen; im Uebrigen mochten die Kinder eben schauen, wie sie zurecht kamen. In Jedem hatten sie einen Herrn gefunden, in Keinem einen Vater. Aber Kindern stehen selbst die Fetzen hübsch und die Kleinen waren reizend.

Georgette plauderte immer darauf los. Kinderplaudern oder Vogelsang, es ist dasselbe undeutlich gestammelte, tiefsinnige Lied; nur hat das Kind außerdem noch das düstere Menschenloos vor sich, und darum schauert auch schon in der Freude des zwitschernden Kleinen ein wehmüthiges Ahnungslauschen auf. Die Erde hat keinen Hymnus, der erhabener wäre als so ein Lallen der menschlichen Seele von Kinderlippen. In einem verworrenen Hinsäuseln eines Gedankens, der sich noch nicht zum Bewußtsein verdichtet hat, liegt gewissermaßen ein unwillkürlicher Aufschrei zur ewigen Gerechtigkeit, vielleicht wohl ein Erbangen vor dem Uebertreten der Lebensschwelle, ein demüthig herzrührender Hilferuf. Diese Unschuld, die dem Unendlichen entgegenlächelt, macht die ganze Schöpfung verantwortlich für das spätere Schicksal, das sie dem schwachen, wehrlosen Wesen bereiten wird, ja, beschuldigt sie sozusagen eines Mißbrauchs des Vertrauens, wenn sie ihm eine unglückliche Zukunft in die Wiege legt.

Das Gelispel des Kindes steht unter und über dem Wort; es besteht nicht aus Silben und doch ist es ein Gesang; es besteht nicht aus Silben und doch ist es eine Sprache; dieses Lispeln stammt noch vom Himmel her und wird auch auf Erden nicht aufhören; vor der Geburt hat es begonnen und klingt jetzt weiter; es ist eine Fortsetzung. Dieses Stammeln enthält, was das Kind als Engel sagte und was es sagen wird als Mensch; die Wiege hat ihr Gestern, wie das Grab seinen Morgen, und dieses doppelt unergründliche Gestern und sein Morgen verschmilzt in dem räthselhaften Gezwitscher. Für Gott, für das Ewige, für unsere Verantwortlichkeit, für unser Doppelwesen, spricht nichts so laut wie jene schauervollen Schatten in einer rosigen kleinen Seele.

Was Georgette jetzt vor sich hinlallte, stimmte sie indessen nicht traurig, denn ihr ganzes niedliches Gesichtchen war ein Lächeln, ein Lächeln ihres Mundes, ein Lächeln ihrer Augen, ein Lächeln der Grübchen in ihren Wangen, und aus diesem Lächeln nickte es wie ein geheimnißvolles Inempfangnehmen des Lebensmorgens, wie ein vertrauensseliges Aufgehen der Seele im Strahlenden: unter dem blauen Himmel, in der lauen Luft, war es ja so schön. Ohne von etwas zu wissen, ohne etwas zu erkennen oder zu begreifen, wohlig gewiegt in gedankenlosem Hinträumen, fühlte sich das zerbrechliche Geschöpf geborgen in dieser Natur, zwischen den ehrlichen Bäumen, dem treuherzigen grünen Laub, in dieser klaren, friedlichen Gegend, mitten in dem bunten Treiben der Vögel, der Quellen, der Fliegen und windbewegten Blätter, über dem die strahlenmilde Unschuld der Sonne leuchtete.

Zunächst erwachte René-Jean, der Aeltere, der Große, der schon ins fünfte Jahr ging. Er setzte sich aufrecht, schwang sich mannhaft aus seiner Wiege, erblickte, was er für ganz selbstverständlich hielt, seine Schüssel und machte sich, am Boden kauernd, über die Suppe her.

Durch Georgette’s Plaudereien war Gros-Alain nicht geweckt worden; aber beim Klappern des Löffels fuhr er aus dem Schlaf und riß beide Augen auf. Gros-Alain, »der dicke Alain«, war der Dreijährige. Auch er sah seine Suppe, streckte die Hand danach aus, nahm sie zu sich ins Bettchen und begann wie sein Bruder die Schüssel, die er mit der einen Faust auf seinem Schooß festhielt, tapfer zu bearbeiten.

Georgette hörte die Beiden nicht und schien sich durch das eigene Hin- und Herwogen ihrer Stimme in Traum zu lullen. Mit weitgeöffneten Augen schaute sie in die Höhe und sah himmlisch dabei aus; einerlei zu welcher Decke oder zu welchem Gewölbe ein Kind emporblickt, was sich in seinen Augen spiegelt, ist immer der Himmel.

Als René-Jean zu Ende war, scharrte er mit dem Löffel noch in der Schüssel herum, seufzte und äußerte dann würdevoll: Ich bin fertig mit meiner Suppe.

Das riß auch Georgette aus all ihren Träumen: Tuttuppe, sagte sie, und nachdem sie den mit Essen fertigen René-Jean und den noch essenden Gros-Alain betrachtet, langte sie nach ihrer Schüssel und machte sich ans Werk, allerdings mit weniger Virtuosität als die Knaben, denn sie führte viel öfter den Löffel zum Mund als diese; von Zeit zu Zeit gab sie sogar aller höheren Kultur den Laufpaß und aß mit den Fingern.

Nachdem Gros-Alain am Boden seiner Schüssel gescharrt hatte wie René-Jean, lief er auf seinen Bruder zu und sprang hinter ihm her.

II.

Plötzlich ertönte draußen, unten vom Wald her, eine strenge, gebieterische Fanfare, welcher oben vom Thurm herab das Horn antwortete.

Dies Mal begann die Trompete das Gespräch, und das Horn ging darauf ein. Nachdem das Signal von beiden Seiten wiederholt worden, erhob sich im Wald eine Stimme, die laut vernehmlich aus der Ferne herüberrief:

– Ihr Räuber, entscheidet! Vor Abend Uebergabe auf Gnade und Ungnade oder wir stürmen.

– Stürmt, dröhnte es vom Thurm zurück.

– Ein Kanonenschuß, fuhr die Stimme von unten fort, wird Euch zum letzten Mal ermahnen, eine halbe Stunde bevor wir stürmen.

– Stürmt, erwiderte die Stimme von oben.

Die Stimmen tönten nicht bis zu den Kindern herüber, wohl aber der Schall der Trompete und des Horns. Bei den ersten Trompetenklängen schaute Georgette von ihrer Schüssel auf und stellte das Essen ein; bei der Antwort des Horns ließ sie den Löffel in die Suppe fallen, folgte, das Zeigefingerchen ihrer rechten Hand abwechselnd erhebend und wieder senkend, dem Takt der Trompetenfanfare, die durch das einfallende Horn fortgesetzt ward, und als Horn und Trompete verstummten, blieb sie regungslos mit aufrechtem Finger sitzen und murmelte nachdenklich vor sich hin: Midik; so hieß nämlich in ihrer Sprache die Musik.

Die Knaben hatten Horn und Trompete nicht beachtet; sie waren von einer Assel, die eben querüber durch die Bibliothek lief, viel zu sehr in Anspruch genommen. Gros-Alain erblickte sie zuerst und rief: Ein Thier!

René-Jean kam herbeigelaufen.

– Es sticht, sagte Gros-Alain.

– Thu‘ ihm nichts, meinte René-Jean.

Und beide vertieften sich in die Betrachtung dieses Ereignisses.

Georgette, die mittlerweile ihre Suppe aufgegessen hatte, suchte ihre Brüder mit den Augen. René-Jean und Gros-Alain kauerten in einer Fensternische, mit ernsthaften Gesichtern über die Assel gebeugt, Stirn gegen Stirn, so daß ihre Haare ineinanderflossen; in atemlosem Staunen beobachteten sie das Thierchen, das von all der Bewunderung wenig erbaut, stillstand und sich todt stellte.

Die Aufmerksamkeit der Brüder machte Georgette neugierig; obgleich es für sie nichts weniger als leicht war, zu ihnen zu gelangen, versuchte sie es dennoch; die Reise war mit unzähligen Hindernissen verknüpft, denn auf dem Fußboden lagen eine Masse von Sachen herum, hier ein umgeworfenes Tabouret, dort ein paar Bündel Papiere, dort wieder offene, ausgepackte Kisten, Truhen und andere imponirende Gegenstände, die umschifft werden mußten, kurz ein ganzes Inselmeer von Klippen. Georgette wagte sich hinein; erst arbeitete sie sich aus der Wiege heraus, dann steuerte sie auf die Riffe los, schlängelte sich durch die Kanäle, rückte ein Tabouret bei Seite, kroch zwischen zwei Truhen und über ein Aktenbündel weiter, bis sie, bald kletternd, bald kollernd, in harmloser Unbekümmertheit um ihre armen kleinen Blößen, die hohe See, das heißt eine ziemlich ausgedehnte Stelle des Fußbodens, erreichte, die der ganzen Breite des Saales nach freistand und wo keine Gefahr mehr drohte. Nun eilte sie auf allen Vieren, mit der Behendigkeit einer Katze, der Wand zu; dort stieß sie auf eine gewaltige Schwierigkeit, nämlich auf die gegen die Mauer gelehnte Leiter, deren Ende noch die halbe Fensternische versperrte und so zwischen Georgette und den Knaben eine Art Vorgebirge bildete. Sie hielt inne und besann sich; als sie mit ihrem stummen Selbstgespräch fertig war, schritt sie sofort zur Ausführung ihres Plans; entschlossen faßte sie mit ihren rosigen Händchen eine der Sprossen an, welche senkrecht und nicht wagerecht liefen, da ja die Leiter auf dem einen ihrer Seitenpfosten ruhte, und machte den Versuch, sich vom Boden aufzuraffen; er mißlang; zwei Mal wiederholte sie ihn vergeblich, ein drittes Mal endlich mit Erfolg, und jetzt marschirte sie gerade und aufrecht, sich immer an der nächstfolgenden Sprosse festhaltend längs der Leiter hin; als sie die letzte Sprosse losließ und der gewohnte Stützpunkt ihr fehlte, strauchelte sie, packte jedoch mit ihren beiden Händchen das Ende des gewaltigen Pfostens, schwang sich glücklich um das Vorgebirge hinüber und lachte René-Jean und Gros-Alain an.

III.

In demselben Augenblick hatte René-Jean den Kopf erhoben und mit großer Befriedigung als Ergebniß seiner Asselstudien verkündigt: Es ist ein Weibchen.

Beim Auflachen von Georgette mußte er gleichfalls lachen, und Gros-Alain lachte seinerseits wieder mit, weil er René-Jean lachen sah. Georgette bewerkstelligte nun den Anschluß an ihre Brüder, und so saßen sie jetzt in einem kleinen Konventikel beisammen. Die Assel aber war verschwunden; sie hatte Georgettes Dazwischenkunft benutzt und sich in die nächstgelegene Ritze verkrochen. Doch diesem Abenteuer folgten andere. Zuerst Schwalben, die wahrscheinlich unter dem Vorsprung des Daches nisteten. Sie kamen bis ganz nahe an das Fenster, flatterten dann, durch die Anwesenheit der Kinder etwas beunruhigt, in weiten Kreisen durch die Luft und ließen ihr sanftes Frühlingsgezwitscher ertönen. Diesem Treiben schauten die Kinder zu, und die Assel war vergessen. Georgette deutete mit dem Finger hinaus und rief: Walbe.

Aber René-Jean wies sie zurecht: – Kleine, man sagt nicht Walbe; man sagt Schwalbe.

– Wawalbe, buchstabirte Georgette.

Und alle Drei starrten durch das Fenster.

Dann flog eine Biene in das Fenster.

Eine Biene ist das Sinnbild der Seele. Sie eilt von Blume zu Blume, wie eine Seele von Stern zu Stern und wie die Seele Licht einsammelt, so sammelt die Biene ihren Honig.

Geräuschvoll summte sie herein; sie schien zu sagen: »Da bin ich; gerade komme ich von einem Besuch bei den Rosen; jetzt will ich auch die Kinder besuchen. Womit beschäftigt man sich hier?« So eine Biene ist eine Wirthschafterin, und das brummt, auch wenn es singt. So lange sie dablieb, verwendeten die drei Kleinen kein Auge von ihr. Sie besichtigte die ganze Bibliothek, durchstöberte jeden Winkel, flog einher, als befände sie sich hier zu Hause in einem Bienenkorb, schwebte mit melodischen Flügeln von einem Schrank zum anderen und schaute durch die Scheiben nach den Büchertiteln wie ein gebannter Geist. Nachdem sie Alles untersucht hatte, empfahl sie sich. – Sie geht heim, sagte René-Jean.

– Es ist ein Thier, meinte Gros-Alain.

– Nein, entgegnete René-Jean, es ist eine Fliege.

– Liege, plapperte Georgette nach.

Gros-Alain, der soeben in einer Ecke eine Schnur mit einem Knoten an dem einem Ende entdeckt hatte, hielt sie nun am entgegengesetzten Ende zwischen Daumen und Zeigefinger fest und drehte sie mit gespanntester Aufmerksamkeit im Kreise herum. Georgette war wieder unter die Vierfüßler gegangen und hatte ihre Irrfahrten über den Fußboden abermals unternommen; auf der Irrfahrt war ihr ein ehrwürdiger, wurmstichiger gepolsterter Armstuhl aufgefallen, an dem aus mehreren Wunden die Roßhaarfüllung hervorquoll. Diesem Fauteuil hatte sie sich nun gewidmet; sie erweiterte die Risse und zupfte voller Andacht die Polsterung heraus.

Plötzlich hob sie den Finger wieder in die Höhe, wie um zu sagen: Da hört! Auch die Brüder kehrten sich um. Von außen her hörten sie ein fernes, dumpfes Getöse, das wohl von einer strategischen Bewegung der Belagerungstruppen im Wald herrührte; Rossegewieher, Trommelwirbel, Wagenrollen, Kettengeklirr und Trompetensignale, die sich gegenseitig verständigten, das Alles lärmte durcheinander und verschmolz zu einer gewissen wilden Harmonie, welcher die Kinder mit Entzücken lauschten.

– Der Liebergott, der macht das, sagte René-Jean.

IV.

Es wurde wieder still. René-Jean war ins Träumen gerathen.

Wie mögen sich wohl in so einem kleinen Hirn die Gedanken zersetzen und wieder verketten? Und was mag wohl die geheimnißvollen Schwankungen eines dermalen noch so trüben und kurzatmigen Gedächtnisses bedingen? In diesem sanften, sinnenden Köpfchen entstand eine Mischung von »Liebergott«, von Abendgebet, von gefaltenen Händen, von einem behütenden Liebeslächeln, das verloren gegangen war, und René-Jean murmelte ganz leise: Mama.

– Mama, wiederholte Gros-Alain.

– Mam, wiederholte Georgette.

Dann fing René-Jean zu springen an, worauf Gros-Alain gleichfalls herumsprang. Gros-Alain machte überhaupt jede Miene und jede Geberde seines Bruders nach, weit mehr als Georgette; drei Jahre, die erblicken bereits in vier Jahren ein Vorbild, aber zwanzig Monate, die halten noch etwas auf ihre Unabhängigkeit. Georgette blieb sitzen und zwitscherte zuweilen ein Wort; sie bildete noch keine Sätze und sprach in kurzen Sinnsprüchen wie ein Denker; ihr gaben die Silben noch zu schaffen. Nach einiger Zeit wirkte jedoch das Beispiel ansteckend auf sie und sie versuchte, es wie die Brüder zu halten, so daß die sechs nackten Füßchen nun mit einander tanzten, liefen und stolperten auf den alten, staubigen, polirten Eichendielen, unter den feierlichen Blicken der Marmorbüsten, denen Georgette hier und da einen bangverstohlenen Seitenblick zuwarf, bei dem sie »Mannemann« vor sich hinmurmelte, ein Wort, das in ihrer Sprache Alles bezeichnete, was einem Mann irgendwie ähnlich sah und doch keiner war; in einem Kinderköpfchen sind Wesen und Schein noch eins.

Georgette wackelte mehr, als sie ging, und folgte zwar den Bewegungen ihrer Brüder, aber am liebsten auf allen Vieren.

Plötzlich streckte René-Jean, bei einem Fenster angekommen, den Kopf in die Höhe, zog ihn aber zurück und flüchtete hinter die Mauer, welche die Fensternische bildete. Er hatte Jemand erblickt, der ihn betrachtete. Es war ein blauer Soldat aus dem Lager des Plateaus, der, den Waffenstillstand benutzend, oder auch wohl etwas übertretend, sich bis zur Böschung der Schlucht vorgewagt hatte, von wo aus man in die Bibliothek hineinschauen konnte. Als Gros-Alain René-Jean flüchten sah, flüchtete auch er; er kauerte sich neben ihn hin, und Georgette versteckte sich hinter die Beiden. So blieben sie eine Weile ganz still und unbeweglich; Georgette mit dem Finger auf dem Mund. Dann ermannte sich René-Jean und streckte den Kopf abermals vor, fuhr aber, da der Soldat immer noch dastand, rasch wieder zurück, und eine geraume Zeit wagten die drei Kleinen kaum mehr, zu atmen. Endlich ward Georgette des Fürchtens überdrüssig, raffte ihre Kühnheit zusammen und guckte hinaus: der Soldat war fort, und nun begann das Rennen und Spielen von Neuem.

Obwohl ein Bewunderer und Nachbeter von René-Jean, hatte sich Gros-Alain eine Spezialität vorbehalten, nämlich die der Entdeckungen. Auf ein Mal sahen ihn Bruder und Schwester wie toll vor einem kleinen vierräderigen Fuhrwerk einhergalloppiren, das er, Gott weiß wo, aufgestöbert hatte. Dieses Puppenwägelchen, das, bestaubt und vergessen, schon seit langen Jahren in guter Nachbarschaft mit den Büchern der Denker und den Büsten der Weisen dahinlebte, mochte wohl ein Ueberbleibsel aus Gauvain’s Kinderzeit sein. Gros-Alain machte aus seiner Schnur eine Peitsche, die er stolzgebieterisch schwang. So sind die findigen Köpfe einmal: Wenn sie Amerika nicht entdecken, so entdecken sie einen Miniaturkarren, immerhin etwas. Jetzt mußten Rollen vertheilt werden. René-Jean wollte sich vor den Wagen spannen und Georgette wollte drinsitzen. Es gelang ihr auch, und René-Jean machte das Pferd, Gros-Alain den Kutscher. Doch der Kutscher konnte nichts und mußte sich durch das Pferd belehren lassen.

Sage doch: Hüst! rief René-Jean dem Bruder zu.

– Hüst! wiederholte Gros-Alain.

0259

Aber der Kutscher warf um.

Aber der Kutscher warf um; Georgette rollte auf den Fußbogen hin. Schreien, das thut selbst ein kleiner Engel, und so schrie denn Georgette. Sie war sogar schon im Begriff, zu weinen. – Kleine, sagte René-Jean, Du bist zu groß, um zu weinen.

– Droß, ja, meinte Georgette und fand in ihrer Größe einen Trost für ihren Fall.

Auf den sehr breiten Mauerkranz, der draußen unter den Fenstern hinlief, hatte der Wind eine ganze Schicht zerstäubten Haidegrunds vom Plateau hergeweht, den der Regen dann wieder zu Erde verdichtet hatte; so hatte sich denn ein gleichfalls vom Wind hergewehtes Samenkorn das bischen Haidegrund zu Nutze gemacht und daraus war eine jener unausrottbaren Brombeerstauden entstanden, die im August reife Früchte tragen; eine Ranke hing zu einem der Fenster herein bis herab auf den Fußboden, und Gros-Alain, der Entdecker der Schnur, der Entdecker des Wägelchens, sollte nun auch der Entdecker der Ranke werden. Er ging darauf los, pflückte eine Brombeere und aß sie.

– Mich hungert, sagte René-Jean, und Georgette rannte auf Händen und Knieen herbei. Die Plünderung begann, und die Ranke wurde bis auf das letzte Beerchen abgegrast. Schwelgend, verschmiert, über und über voll dunkelrothen Saftflecken, wurden jetzt aus den drei kleinen Engeln drei kleine Faune, einem Dante zum Aergerniß und einem Virgil zum Ergötzen. Das Lachen wollte nicht aufhören; nur stachen sie sich, da doch Alles erkauft werden will, hier und da in die Finger; Georgette hielt René-Jean den Daumen hin, aus dem ein Blutströpfchen hervorperlte, und sagte, mit der anderen Hand nach der Ranke deutend: Ticht.

Gros-Alain, der auch nicht verschont geblieben, schaute mißtrauisch hin und folgerte:

– Es ist ein Thier.

– Nein, berichtigte René-Jean, es ist ein Stecken.

– Ein Stecken ist etwas Böses, erwiderte Gros-Alain.

Auch dies Mal war Georgette dem Weinen sehr nahe, aber sie brach dennoch in ein Lachen aus.

V.

Unterdessen war in René-Jean, den die Entdeckungen seines jüngeren Bruders Grois-Alain vielleicht mit einem gewissen Neid erfüllten, ein großer Plan gereift. Während er seine Brombeeren pflückte und sich in die Finger stach, schweiften seine Blicke seit einiger Zeit beharrlich zu dem Pult hinüber, das auf seiner Drehschraube wie ein Monument mitten in der Bibliothek stand, und auf dem das berühmte Evangelium Bartholomäi auflag, ein wirklich prachtvoller und merkwürdiger Quartband aus der Offizin des berühmten Kölner Verlegers der Bibel von Anno 1682, Bloeuw oder auf lateinisch Coesius; das Buch war noch mit der alten Presse und nicht auf holländischem Papier gedruckt, sondern auf jenem schönen, von Edrisi so bewunderten arabischen Papier, das aus Seide und Baumwolle bereitet wird und nie vergilbt. Es hatte einen Einband von vergoldetem Leder und silberne Schlösser. Die innere Garnitur war von jenem Pergament, das die Pariser Pergamenthändler nur im Saal Saint-Mathurin »und sonst nirgends« anzukaufen sich eidlich verpflichten mußten. Das Werk enthielt eine Menge Holzschnitte, Kupferstiche und geographische Abbildungen verschiedener Länder. Es ging ihm ein Protest der Drucker, Papier- und Buchhändler gegen das Edikt von 1635 voraus, welches »die Lederwaaren, die Biere, das Vieh mit gespaltenen Klauen, die Seefische und das Papier« mit einer Abgabe belegte, und auf der Rückseite des Titelblatts stand eine Widmung an die Gryphus, welche in Lyon dieselbe Rolle spielten, wie die berühmte Firma der Elzevir zu Amsterdam. Dem Allen zufolge hatte man es mit einem Exemplar zu thun, welches beinahe ebenso werthvoll und selten war wie der Moskauer »Apostol«.

Der Prachtband, der René-Jean, vielleicht nur zu sehr, in die Augen stach, war gerade auf der Seite eines großen Kupfers aufgeschlagen, das den heiligen Bartholomäus darstellte, wie er seine Haut unter dem Arm trägt, und dieses Kupfer konnte René-Jean von unten wahrnehmen. Nachdem alle Brombeeren vertilgt waren, starrte er es mit verhängnißvoll zärtlicher Begehrlichkeit an, und Georgette, die unverwandt den Blicken ihres Bruders folgte, sah es nun auch und sagte: Bibild.

Diese Aeußerung schien René-Jean endgiltig zu bestimmen, und er verstieg sich zu einem Beginnen, das Gros-Alain mit sprachlosem Staunen erfüllte. In einem Winkel der Bibliothek stand ein großer eichener Stuhl; zu dem ging René-Jean hin, faßte ihn an und schleifte ihn ganz allein an das Pult hin; dann kletterte er hinauf und stemmte beide Fäuste auf das Buch. Zu solcher Höhe angelangt, glaubte er sich selber eine großmüthige Handlung schuldig zu sein; er packte das »Bibild« an der oberen Ecke und riß es herab, sorgfältig, aber, trotz allem guten Willen, schief; die linke Hälfte mit einem Auge und einem Stück vom Heiligenschein des alten zweifelhaften Evangelisten ließ er im Buch zurück und reichte den halben Bartholomäus mit seiner ganzen Haut dem Schwesterchen; dieses nahm das Geschenk in Empfang und sagte: Mannemann.

– Ich auch! rief Gros-Alain.

Mit der ersten Seite hat es dieselbe Bewandtniß wie mit dem ersten vergossenen Blut. Ist der erste Schritt einmal gethan, so kommt das Gemetzel rasch in Gang. René-Jean wendete das zerfetzte Blatt um; hinter dem Heiligen befand sich der Kommentator, Pantönus. Gros-Alain wurde der Pantönus zuerkannt.

0255

Mittlerweile machte Georgette aus ihrem großen Stück zwei kleine.

Mittlerweile machte Georgette aus ihrem großen Stück zwei kleine und aus den zweien vier noch kleinere, so daß behauptet werden könnte, daß der heilige Bartholomäus, nachdem man ihn in Armenien geschunden, in der Bretagne geviertheilt wurde.

VI.

Nach vollzogener Viertheilung hielt Georgette die Hand hin und sagte zu René-Jean: Mehr.

Hinter dem Heiligen und dem Kommentator kamen die sauer dreinschauenden Erklärer, Gavantus an der Spitze; ein Ruck und René-Jean händigte Georgette den Gavantus ein, und so erging es der Reihe nach den Erklärern allen. Der Gebende ist der Ueberlegene. René-Jean beanspruchte nichts für seine eigene Person; Gros-Alain und Georgette starrten ihn an, und das war ihm Lohns genug; er begnügte sich mit dem Bewußtsein, von seinem Publikum bewundert zu werden. Unerschöpflich in seiner Selbstverläugnung beschenkte er den Bruder mit Fabricio Pignatelli und das Schwesterchen mit dem Pater Stilling; ferner wurde Gros-Alain noch mit Alphonse Postat, Henri Hammond und dem Protest der Papierhändler beglückt, Georgette aber mit Cornelius a Lapide, mit dem Pater Roberti nebst Ansicht der Stadt Douai, wo derselbe 1619 geboren ward, und endlich mit der Widmung an die Gryphus. Auch die paar Landkarten wurden vertheilt: Gros-Alain erhielt Aethiopien und Georgette Lykaonien. Und zu guterletzt stieß René-Jean das Buch vom Pult herunter.

Es war dies ein furchtbarer Moment. Mit schauderndem Entzücken sahen die beiden Geschwister, wie René-Jean die Stirn runzelte, wie er alle seine Sehnen anspannte und mit krampfhaft zitternden Fäusten den schweren Quartband über das Pult wegschob. Eine majestätische Scharteke, die das Gleichgewicht verliert, hat etwas Tragisches. Eine Sekunde lang schwebte die herunterhängende Hälfte des dicken Bandes wie zögernd in der Luft; dann polterte er, geborsten, zerknittert, zerrissen, in allen Fugen ächzend und mit beschädigten Schlössern, elendiglich platt auf den Fußboden herunter; ein Glück, daß er auf keines der Kinder gefallen war, die jetzt geblendet und unversehrt hinschauten. Nicht alle Heldenthaten laufen so glatt ab; diese hatte blos den allen Heldenthaten eigenen großen Lärm gemacht und sehr viel Staub aufgewirbelt.

Nach glorreich überstandenem Kampf stieg René-Jean vom Stuhl. Es folgte ein Augenblick des stummen Entsetzens, denn auch der Sieg hat seine Schrecken. Die drei Kinder hielten einander bei den Händen und starrten aus einer gewissen Entfernung nach dem gewaltigen, niedergeschmetterten Buch. Kaum war jedoch das erste Staunen vorüber, so ging auch Gros-Alain entschlossen hin und versetzte dem Besiegten einen Fußtritt. Damit war Alles entschieden. Die Zerstörungslust brach hervor. René-Jean gab seinen Fußtritt Georgette gab ihren Fußtritt und fiel dabei auf die Erde, aber sitzend, ein Umstand, den sie benutzte, um sich mit den Händen über den heiligen; Bartholomäus herzumachen. Die letzte Spur von Scheu war verschwunden: René-Jean griff an, Gros-Alain stürmte, und jubelnd, lachend, unbändig, außer sich, triumphirend, unbarmherzig, schossen die drei kleinen Raubengel auf den wehrlosen Evangelisten herab, zerzausten die Bilder, zerfetzten die Blätter, rupften die Merkbändchen aus, zerkratzten die Deckel, zerrten das vergoldete Leder los, zwickten die Nägel der silbernen Eckenbeschläge ab, rissen die Pergamentstreifen aus dem Rücken, und wütheten, mit Händen, Füßen, Nägeln und Zähnen arbeitend, gegen den ehrwürdigen Text. Sie vernichteten Armenien, Judäa, das Herzogthum von Benevent, wo die Reliquien des Heiligen aufbewahrt werden, Nathanael, so vielleicht identisch ist mit Bartholomäo, den Papst Gelasius, so das Evangelium Bartholomäi-Nathanaels für unecht erklärte, Alles bis aufs letzte Bild und auf die letzte Karte, und die unerbittliche Hinrichtung des alten Buchs beschäftigte sie so ganz ausschließlich, daß eine Maus hätte vorbeilaufen können, ohne von ihnen berücksichtigt zu werden. Kurz, es war eine gründliche Verheerung. Einem Stück Geschichte, der Legende, der Theologie, den wahren und falschen Wundern, dem Kirchenlatein, dem Aberglauben, dem Fanatismus, den Mysterien den Garaus machen und eine ganze Religion von oben bis unten entzwei zu reißen, ist für drei Riesen ein schwer Stück Arbeit und sogar auch für drei Kinder; Stunden gingen darüber hin, aber der Zweck ward auch vollständig erreicht: der heilige Bartholomäus war nicht mehr.

Nach gethaner Arbeit, als die letzte Seite ausgemerzt worden, das letzte Kupfer am Boden lag und vom ganzen Werk nur noch ein paar Text- und Bildertrümmer in dem Skelett eines Einbandes übrig blieben, reckte sich René-Jean in die Höhe, betrachtete den mit Papierblättern übersäten Fußboden und klatschte in die Hände. Gros-Alain klatschte mit. Georgette nahm eins der Blatter, stand auf, lehnte sich an den Fenstersims, der ihr bis ans Kinn reichte und ließ ein abgerissenes Stückchen Papier nach dem andern hinausfliegen. René-Jean und Gros-Alain folgten dem Beispiel; sie hoben auf und ließen fliegen, ließen stiegen und hoben auf, bis der weitaus größte Theil des altehrwürdigen Buches, von den rastlosen Fingerchen zerbröckelt, Blatt für Blatt durchs Fenster gewandert war. Georgette sah diesen Schwärmen, die der Wind auseinandertrieb, sinnend nach und sagte: Metterling. Und so zerstob denn das Gemetzel wie ein Blüthenregen im blauen Himmel.

VII.

Das war die zweite Passion Bartholomai, der bereits sein erstes Martyrium im Jahr 49 nach Christi Geburt erduldet hatte.

Nun rückte die Abendstunde heran; die Hitze nahm zu; die Mittagsruhe schwamm in der Luft, und Georgette zwinkerte schon mit den Augen. René-Jean ging zu seiner Wiege hin, zog den Sack voll geschnittenem Stroh heraus, der ihm als Matratze diente, schleifte ihn bis ans Fenster, streckte sich der Länge nach darauf aus und sagte: Wir wollen schlafen. Gros-Alain legte seinen Kopf auf René-Jean, Georgette stützte den ihren auf Gros-Alain und die drei Missethäter schlummerten ein. Lau wehte es herein durch die offenen Fenster, Wildblumenduft von Hügel und von Schlucht, einherspielend im Atemzug des Abends; eine begnadende Ruhe dehnte sich über den Gefilden; Alles leuchtete; Alles war befriedet; Alles ging in Liebe auf zu Allem; die Sonne liebkoste die Erde mit ihrem Strahl; durch alle Poren sog man jene harmonische Stimmung ein, die der unermeßlichen Milde der Natur entsteigt und mutterzärtlich hinschauert durch das All. Die Welt ist ein ewig werdendes Wunder; sie ergänzt ihre ungeheure Erhabenheit durch ihre Güte. Es war, als ob man das geheimnißvoll vorsorgende Walten einer unsichtbaren Macht fühlte, die im fürchterlichen Widerstreit der Geschöpfe die Schwächlichen in Schutz nimmt gegen die Starken; schön, schön war Alles in diesen Wechselwogen von Sanftmuth und von Herrlichkeit. Ueber der schlummerseligen Landschaft fluthete jener prunkende Flimmer, den das Hin- und Herweben von Licht und Schatten über Bach und Wiesen hinhaucht; Rauchflocken schwebten zu den Wolken empor wie Träume zu den Regionen übermenschlichen Schauens; um La Tourgue kreisten gefiederte Schwärme und die Schwalben blickten durch die Fenster herein, als wollten sie sehen, ob die Kinder auch gut schliefen. Wie eine Gruppe von Amoretten lagen sie da, neben einander hingegossen, halbnackt und unbeweglich, anbetungswerth im Reiz ihrer Unschuld; alle drei zusammen zählten sie noch keine neun Lebensjahre; an ihren traumlächelnden Gesichtchen zogen paradiesische Erscheinungen vorüber; vielleicht flüsterte ihnen Gott gerade ein Vaterwort ins Ohr; gehörten sie ja doch zu Denjenigen, die in jeder menschlichen Sprache die Schwachen und die Gesegneten heißen; sie waren die heilige Unschuld; um sie her schwieg Alles still, als wäre der Hauch, unter dem ihre zarte Brust auf- und niederging, der Inbegriff des Weltalls und als müßte diesem Hauch die ganze Schöpfung lauschen; kein Blatt bewegte sich; kein Grashalm schauerte zusammen; die unendliche Natur mit ihren Sternen allen schien den Atem anzuhalten, um die himmlisch arglosen kleinen Schläfer nicht zu wecken, und nichts auf Erden war erhabener als dieses ehrerbietige Verstummen von Allem um dies holde Bild der unbewußten Demuth.

Schon berührte die untergehende Sonne den Horizont… Da, plötzlich, flammte vom Wald her durch den tiefen Frieden ein Blitzstrahl, dem ein Donnerschlag folgte; das Echo machte sich den Kanonenschuß zu eigen und ließ ihn von Hügel zu Hügel in zehnfach tobendem, gräßlichem Gebrüll fortrollen. Georgette erwachte davon; sie erhob ein klein wenig ihr Köpfchen, streckte lauschend ihr Fingerchen in die Höhe und sagte: Bumm!

Dann verhallte der Lärm; Alles wurde still wie zuvor; Georgette legte den Kopf wieder auf Gros-Alain und schlief weiter.

Viertes Buch.

Victor Hugo

I.

Auf der Düne.

Als Halmalo gänzlich verschwand, hüllte sich der Greis fester in seinen Fischermantel und trat seinen Gang an, langsam, nachdenklich; indessen Halmalo in der Richtung von Beauvoir fortgeeilt war, wendete er sich gegen Huisnes. Hinter ihm ragte das kolossale domgekrönte, mauernumgürtete Dreieck des Mont Saint-Michel mit seinen zwei festen östlichen Thürmen, dem runden und dem viereckigen, die dem Felsenhügel die Last seiner Kirche und seines Dorfes tragen zu helfen scheinen. Der Mont Saint-Michel ist die Pyramide dieser Meereswüste.

Der Triebsand der Bucht von Saint-Michel baut seine Dünen nicht immer an denselben Stellen auf. Damals erhob sich zwischen Huisnes und Ardevon eine sehr hohe, seitdem durch eine besonders heftige Sturmfluth zerstörte Düne, die ausnahmsweise sehr alt und mit einem Gedenkstein geschmückt war, zur Erinnerung an das Konzil, welches im zwölften Jahrhundert nach der Ermordung des heiligen Thomas von Canterbury zu Avranches zusammenberufen worden. Von dieser Düne aus hatte man weit und breit einen deutlichen Ueberblick über die ganze Umgebung. Der Greis ging darauf los und bestieg sie. Oben angelangt, setzte er sich auf eine Stufe unten am Gedenkstein, lehnte sich mit dem Rücken an denselben an und schaute hinab auf die lebende Landkarte, die vor ihm ausgebreitet lag. In der ihm sonst wohlbekannten Gegend schien er einen besonderen Weg ausklügeln zu wollen. Die Dämmerung hatte übrigens das große Bild schon zu trüben begonnen, und scharf hob sich nur der Horizont ab, schwarz vom weißen Himmel; doch konnte man noch die Dächergruppen von elf Flecken oder Dörfern genau unterscheiden, sowie auch auf mehrere Meilen hinaus die Kirchtürme am Strande, die sehr hoch gebaut sind, um den Seeleuten nöthigenfalls zur Orientirung zu dienen.

Nach einer Weile schien der Greis im Zwielicht das entdeckt zu haben, was er suchte, denn sein Blick ruhte nun mitten in der Ebene auf einem Komplex von Bäumen, Mauern und Dächern, die offenbar zu einer Meierei gehörten, und er nickte befriedigt mit dem Kopfe, wie Einer, der zu sich selber sagt: das ist das Richtige; dann begann er, mit dem Finger durch die Luft hin und herfahrend, sich den Entwurf eines Weges durch Felder und Hecken vorzuzeichnen. Von Zeit zu Zeit richtete er seine besondere Aufmerksamkeit auf einen schwankenden undeutlichen Gegenstand, welcher sich über dem Hauptgebäude der Meierei bewegte, und schien sich zu fragen, was das sei; bei dieser vorgerückten Tageszeit sah dieser Gegenstand farblos und verschwommen aus; ein Wetterhahn konnte es nicht sein, denn er flatterte, und zu der Annahme, es sei eine Fahne, war kein Grund vorhanden.

Der Greis war müde; es that ihm wohl, so dazusitzen und jenem lösenden Vergessen nachzugehen, das mit der ersten Minute des Rastens über den erschöpften Menschen kommt. Es gibt eine Stunde im Tag, die sich durch das Nichtsein jeglichen Geräusches kennzeichnen ließe; es ist die Abendstunde, die Stunde der Weihe. Und die war jetzt da, und der alte Mann ruhte in ihr, und betrachtete ihre Stille und lauschte ihrer Stille. Grausame Naturen empfinden zuweilen eine Regung von Melancholie.

Plötzlich wurde das Schweigen durch menschliche Stimmen eher hervorgehoben als unterbrochen. Frauen- und Kinderstimmen, die, wie die lustige Melodie eines Glockenspiels überraschend, in der ernsten Nacht ertönten. Die Sprechenden, durch Hecken verdeckt, gingen unten an der Düne vorbei, der Ebene und den Wäldern zu, und frisch und klar klang es empor zu dem sinnenden Greis; gerade jetzt war die Gruppe so nah, daß er jedes einzelne Wort vernehmen konnte.

Eine der Frauenstimmen sagte:

– Ist ja die reine Schneckenpost mit der Fléchard. Schneller, Frau! Ist das hier unser Weg?

– Nein, der kleinere dort.

Und nun wurde auf die Fragen der einen, resoluten Stimme von der anderen in schüchternem Tone weiter geantwortet:

– Wie heißt der Meierhof, wo wir kampiren?

– L’Herbe-en-Pail.

– Haben wir noch weit hin?

– Eine starke Viertelstunde.

– Nehmen wir den Weg unter die Füße! Die Suppe wird kalt.

– Wir sind freilich etwas spät dran.

– Laufen wäre eigentlich das Beste. Aber Ihre kleinen Kerle sind müde, und wir zwei können die Würmer doch nicht alle drei auf den Armen fortschleppen. Sie haben an dem Mädel so schon genug zu tragen, Sie Gluckhenne. Ein wahrer Klotz. Entwöhnt haben Sie’s freilich, das gefräßige Ding, aber herumtragen thun Sie’s immer noch. Schlechte Gewohnheiten das. Sollten’s marschiren lassen. Na, jetzt ist doch Alles eins. Kalt ist die Suppe so wie so schon.

Victor Hugo

Sie haben an dem Mädel so schon genug zu tragen.

– Sind das einmal gute Schuhe, die ihr mir geschenkt habt, ganz wie für mich angemessen.

– Ist doch gescheiter, als barfuß hinzutappen.

– René-Jean, mach doch größere Schritte!

– Ja, denn du bist schuld daran, daß wir uns verspätet haben. Muß der Schlingel bei jedem kleinen Bauernmädel stehen bleiben und schwatzen. Das will schon ein Mannsbild sein.

– Mein Gott, er geht eben in’s fünfte Jahr.

– René-Jean, sage einmal, warum hast du die Kleine drüben im Dorf angeredet?

Eine Kinderstimme, der man anhörte, daß sie eines Knaben Stimme war, erwiderte:

– Weil das Eine ist, die ich kenne.

Die resolute Stimme entgegnete: – Was? die kennst du?

– Freilich, heute Morgen hat sie mir ja Herrgottskäferchen geschenkt.

– Das ist mir doch etwas bunt! rief das Weib. Kaum drei Tage hier im Quartier, und die kleine Kröte hat euch schon einen Schatz!

Dann verhallten die Stimmen, und es ward wieder still.

II.

Aures habet, et non audit.5

Der Greis regte sich nicht. Er war mehr in ein Träumen als in ein Sinnen vertieft. Rings um ihn her war Alles Friede, Schlummer, Vertrauen, Abgeschiedenheit. Auf der Düne war es noch ganz hell, aber auf der Ebene schon dunkel und gegen die Wälder zu ganz schwarz. In Osten ging der Mond auf und am Zenith durchstachen schon einige Sterne das mattblaue Himmelszelt. Der Mann war, trotz aller Gedanken und Leidenschaften, die in ihm wühlten, versenkt in das unaussprechlich Milde der Unendlichkeit. Er fühlte ein räthselhaftes Dämmern in sich emporsteigen – die Hoffnung, wenn sich das Siegesahnen eines Bürgerkriegs eine Hoffnung nennen kann. Im gegenwärtigen Augenblick, eben entronnen jenem unerbittlichen Meer, unter den Füßen wieder festen Boden, dünkte er sich befreit von jeglicher Gefahr. Niemand wußte um seinen Namen; er war allein, jede Spur hinter ihm verloren, denn auf der See läßt Keiner eine Fährte zurück; geborgen, unbekannt sogar dem Verdacht, empfand er etwas wie eine triumphirende Besänftigung. Um ein Haar wäre er eingeschlafen. Was für ihn, in dem und um den so vieles tobte, dieser flüchtigen Stunde des Friedens einen so seltenen Reiz verlieh, war jenes tiefe Schweigen im Himmel und auf der Erde. Hören konnte man blos den Wind von der See her landeinwärts sausen; aber der Wind ist nur eine fortdauernde Baßbegleitung, an die sich das Ohr so schnell gewöhnt, daß er fast aufhört, ein Geräusch zu sein.

Plötzlich sprang der Mann empor.

Etwas Ueberraschendes hatte ihn aufgeschreckt, etwas, das seinem Blick eine eigene Starrheit verlieh. Sein Blick aber war auf den Horizont geheftet, auf einen Punkt, den Kirchthurm von Cormeray, der im Hintergrund in gerader Linie vor ihm stand. In diesem Kirchthurm ging in der That etwas Absonderliches vor sich. Seine nach oben zu pyramidenförmige Silhouette ragte in scharfen Umrissen, und da wo der Thurm in die Pyramide überging, konnte man den viereckigen, durchbrochenen Glockenstuhl unterscheiden, der, ohne Wetterdach, bretonischem Brauch gemäß nach allen vier Seiten hin offenstand. Dieser Glockenstuhl nun erschien plötzlich abwechselnd offen und verschlossen und zwar in gleichmäßigen Zwischenräumen; einmal war sein hohes Fenster ganz weiß, dann wieder ganz schwarz, bald sah man den Himmel durchscheinen, bald wieder nicht mehr, und dieses Hell und Dunkel, dies Oeffnen und Schließen erfolgte Sekunde auf Sekunde wie der regelmäßige Schlag des Hammers auf den Amboß. Der Kirchthurm von Cormeray stand etwa zwei Meilen weit von der Düne. Der Greis sah nun weiter rechts nach dem Kirchthurm von Baguer-Pican, der gleichfalls am Horizont emporragte; auch dort schloß und öffnete sich der Glockenstuhl gleich dem von Cormeran. Er schaute links nach dem Kirchthurm von Tanis: der Glockenstuhl von Tanis ging auf und zu wie der von Baguer-Pican. So betrachtete er der Reihe nach alle am Horizont sichtbaren Thürme, links die von Courtils, von Précey, von Crollon und von La Croix-Avranchin, rechts die von Raz-sur-Couesnon, Mordray, les Pas, und geradeaus den Thurm von Pontorson: die Glockenstühle all dieser Thürme erschienen abwechselnd schwarz und weiß.

Was sollte das? Das konnte nur bedeuten, daß man die Glocken in Bewegung setzte, und zwar mußte die Bewegung eine ungeheuer gewaltsame sein, sonst hätten die geschwungenen Glocken die Fenster nicht so vollständig decken und wieder frei lassen können. Und warum läuten die Glocken? Sie läuteten offenbar Sturm. Ja, Sturm und wahnsinnig Sturm, Sturm von allen Seiten, von jedem Thurm, in jeder Gemeinde, in jedem Dorf. Und dennoch hörte man nichts, denn die Thürme standen zu fern, so daß der Wind, der von der See herbrauste, keinen Ton bis zur Düne vordringen ließ und den Lärm in entgegengesetzter Richtung über den Horizont hinaustrug.

Dort überall die wüthenden Glocken, mit ehernen Zungen Groß und Klein herbeibrüllend, und hier die Todtenstille: der Gegensatz war grauenvoll.

Der Greis starrte und lauschte. Er sah das Sturmgeläut anstatt es zu hören. Ein Sturmgeläute sehen: fast ein übernatürliches Schauspiel! Für wen aber flogen diese Glocken? Gegen wen läutete man Sturm?

III.

Ein Vorzug der großen Lettern.

Offenbar wurde Jagd gemacht auf Jemand. Aber auf wen? Durch die Stahlnerven des Greises fuhr ein Schauder. Und doch, ihm konnte das wohl nicht gelten. Seine Ankunft hatte man nicht errathen können; die kommissarisch abgeordneten Konventmitglieder konnten davon unmöglich schon unterrichtet sein; er war ja kaum erst gelandet. Von der Korvette war zweifellos nicht ein Mann am Leben geblieben, und wenn auch, außer Boisberthelot und La Vieuville hatte an Bord keine Seele um seinen Namen gewußt.

Mechanisch betrachtete und zählte er die Kirchtürme, die ihre wilde Thätigkeit ununterbrochen fortsetzten, und seine Gedanken huschten von einer Vermuthung zu der andern mit jener schwanken Hast, welche das Umschlagen gänzlicher Sorglosigkeit in schreckliche Gewißheit mit sich bringt. Da dieses Sturmläuten aber schließlich sich auf die verschiedensten Beweggründe zurückführen ließ, suchte er sich zu guter Letzt durch das Bewußtsein zu beruhigen: »Eigentlich kann weder meine Ankunft noch mein Name irgend wem bekannt sein.«

Seit einigen Augenblicken schon war über und hinter ihm ein leises Geräusch entstanden, ähnlich dem Rascheln des bewegten Blattes eines Baumes. Zuerst beachtete er es nicht; da dieses Geräusch jedoch hartnäckig fortbestand, ja sogar einigermaßen wie auf einer Absicht bestand, drehte er sich endlich um. Und ein Blatt war’s auch in der That, aber ein Blatt Papier. Der Wind war nämlich damit beschäftigt, ein großes an den Gedenkstein angeklebtes Plakat gerade über den Kopf des Greises loszulösen. Das Plakat war dort erst seit Kurzem angeschlagen, denn es war noch feucht und hatte deshalb vom Wind gefaßt werden können, der nun mit ihm spielte und es mit sich fortzureißen drohte. Da der Greis die Düne von der entgegengesetzten Seite bestiegen hatte, war ihm, als er oben ankam, das Plakat nicht aufgefallen. Nun schwang er sich auf die Stufe, wo er eben noch gesessen hatte, und hielt den Zettel an der einen Ecke fest, die im Wind flatterte; der Himmel war noch ziemlich hell, denn im Juni hält die Dämmerung geraume Zeit an; unter der Düne war es stockfinster, aber oben glänzte noch ein Schimmer; übrigens war das Plakat zum Theil mit großen Lettern gedruckt, so daß man es immerhin leidlich lesen konnte. So las der Greis denn Folgendes:

Französische eine und untheilbare Republik.

»Wir, Prieur, Abgeordneter des Departements der Marne, Kommissär des Nationalkonvents bei der Küstenarmee von Cherbourg, verordnen:

Der vormalige Marquis von Lantenac und Vicomte von Fontenay, der sich auch für einen bretonischen Fürsten ausgiebt, ist heimlich an der Küste von Granville gelandet und wird hiermit für außer dem Gesetz stehend erklärt. Auf seinen Kopf ist ein Preis von sechzigtausend Livres gesetzt, welche Summe an denjenigen, der ihn todt oder lebendig einliefern wird, ausgezahlt werden soll, und zwar nicht in Assignaten, sondern in Gold. – Ein Bataillon der Küstenarmee von Cherbourg wird sofort zur Verfolgung und Festnahme des vormaligen Marquis von Lantenac ausrücken. –

Die Gemeindebehörden werden aufgefordert, den Truppen hierzu nach Kräften beizustehen. – Gegeben im Rathhaus zu Granville am 2. Juni 1793. – Gezeichnet: Prieur (Marne)«.

Unter diesem Namen befand sich noch eine zweite Unterschrift, aber in viel kleineren Lettern, so daß sie bei der eintretenden Dunkelheit nicht mehr zu entziffern war.

Der Greis drückte den Hut tiefer in die Stirn, hüllte sich bis an’s Kinn in seinen Fischermantel und stieg mit raschen Schritten in die Ebene hinunter. Für ihn war es offenbar von keinem Nutzen, sich im Zwielicht der Anhöhe länger aufzuhalten.

Vielleicht hatte er sich schon zu lang dort aufgehalten; von der ganzen Landschaft war der obere Theil der Düne der einzige noch beleuchtete Punkt.

Unten in der Dunkelheit angekommen, mäßigte der Greis seinen Schritt. Er schlug den Weg nach dem Meierhof ein, wie er sich’s bereits oben vorgezeichnet hatte; zu dieser seiner Wahl bewogen ihn aller Wahrscheinlichkeit nach triftige Gründe der Sicherheit.

Alles war wie ausgestorben. Um diese Stunde war Niemand mehr außer Hause.

Hinter einer Hecke blieb er stehen, zog seinen Mantel aus, wendete seine Jacke nach der behaarten Seite, band sich den zerrissenen Mantel wieder um und ging weiter. Man hatte jetzt Mondschein. An einer Stelle, wo sich der Weg abzweigte, erhob sich ein altes, steinernes Kreuz, an dessen Sockel ein weißes Viereck schimmerte, vermuthlich ein ähnliches Plakat wie auf der Düne. Der Greis trat darauf zu.

– Wo gehen Sie hin? rief ihn eine Stimme an.

Er wendete sich um und sah einen Mann zwischen den Hecken stehen, hochgewachsen wie er selbst, wie er alt, wie er weiß von Haar und in der Kleidung noch zerlumpter als er, kurz, beinahe einen Doppelgänger. Dieser Mann, der sich auf einen langen Stock stützte, wiederholte:

– Ich frage Sie, wohin Sie gehen?

– Und ich frage, wo ich bin, lautete die ruhige, fast gebieterische Antwort.

– In der Herrschaft von Tanis, erwiderte der Mann, die mir zum Betteln, Ihnen aber zu eigen gehört.

– Mir zu eigen?

– Ja wohl. Ihnen, Herr Marquis von Lantenac.

IV.

Der »Caimand«.

Der Marquis von Lantenac – von nun an nennen wir ihn bei seinem Namen – antwortete tiefernst:

– Gut. Liefern Sie mich aus.

Der Mann aber fuhr fort: – Wir sind Beide hier zu Hause, Sie im Schloß und ich im Busch.

– Machen wir ein Ende. Nur zu! Liefern Sie mich aus, sagte der Marquis.

Der Mann fuhr wieder fort: Sie wollten doch zur Meierei von Herbeen-Pail, nicht? – Ja. – Bleiben Sie weg. – Warum? – Weil dort die Blauen sind. – Seit wann denn? – Seit drei Tagen. – Und haben sich die Leute vom Hof und vom Weiler gewehrt? – Nein. Sie haben alle Thüren aufgemacht. – Ach! sagte der Marquis.

Und der Mann wies mit dem Finger nach dem Dach des Hauptgebäudes, das in einiger Entfernung aus den Bäumen hervorragte:

– Das Dach sehen Sie doch, Herr Marquis? – Ja. – Sehen Sie auch das Ding droben? – Das hin und herweht? – Ja. – Es ist eine Fahne. – Blau weiß roth, sagte der Mann.

Es war das der Gegenstand, der schon auf der Düne die Aufmerksamkeit des Marquis auf sich gelenkt hatte.

– Wird nicht Sturm gelautet? fragte der Marquis. – Ja. – Und weshalb? – Unzweifelhaft Ihretwegen. – Aber man hört ja nichts? – Von wegen dem Wind. Haben Sie Ihren Zettel schon gesehen? – Ja. – Man fahndet auf Sie. Drüben, setzte er mit einem Blick nach dem Meierhof hinzu, liegt ein halbes Bataillon. – Republikaner? – Pariser. – Nun also, sagte der Marquis, gehen wir! Und er that einen Schritt in der Richtung der Meierei. Der Mann faßte ihn beim Arm: Gehen Sie nicht hin! – Wohin denn sonst? – Zu mir.

Der Marquis schaute den Bettler an.

– Wissen Sie, Herr Marquis, sagte dieser, schön ist es bei mir nicht, aber geheuer. Ein Keller ist höher als meine Hütte. Mein Fußboden ist eine Streu von Seegras und meine Zimmerdecke ein Geflecht von Zweigen und Gräsern. Kommen Sie mit. In der Meierei würden Sie erschossen werden. Bei mir werden Sie schlafen, denn Sie sind gewiß müde. Morgen früh marschiren die Blauen wieder ab, und Sie können dann weitergehen nach Belieben.

Immer noch betrachtete der Marquis diesen Mann.

– Auf welcher Seite stehen Sie denn eigentlich? fragte er ihn; sind Sie Republikaner oder sind Sie Royalist? – Ich bin ein Armer. – Weder Royalist noch Republikaner? – Ich glaube kaum. – Sind Sie für den König oder gegen ihn? – Zu derlei Sachen habe ich keine Zeit. – Aber wie denken Sie über Alles, was hier vorgeht? – Ich kann mich nicht satt essen. – Aber Sie wollen mir doch helfen. – Ich weiß, daß Sie außer dem Gesetz stehen. Was ist das eigentlich, das Gesetz? Es kann Einer also außer ihm stehen? Das begreife ich nicht. Und ich für mein Theil, steh‘ ich innerhalb des Gesetzes oder außerhalb? Weiß ich’s? Verhungern, ist das gesetzlich? – Seit wann verhungern Sie? – Seitdem ich lebe. – Und Sie retten mich? – Ja. – Warum? – Weil ich zu mir selber gesagt habe: Der da ist noch ärmer als du; du hast wenigstens das Recht, zu athmen, und er hat nicht einmal das. – Allerdings. Und Sie wollen mich also retten? – Gewiß. Jetzt sind wir Brüder, gnädiger Herr. Ich verlange ein Stück Brod und Sie ein Stück Leben. Wir sind zwei Bettler. – Wissen Sie aber nicht, daß auf meinem Kopf ein Preis steht? – Ja. – Woher wissen Sie’s? – Ich habe den Zettel gelesen. – Lesen können Sie? – Ja, und schreiben auch. Warum sollt‘ ich sein wie das Vieh? – Da Sie also lesen können und den Zettel auch gelesen haben, müssen Sie doch wissen, daß, wer mich ausliefert, sechzigtausend Francs bekommt? – Das weiß ich auch. – Und nicht etwa in Assignaten. – Nein, ich weiß schon, in Gold. – Und Sie wissen doch, daß sechzigtausend Francs ein Vermögen sind? – Ja. – Und daß demnach, wer mich ausliefert, sich ein Vermögen macht? – Ja, und was weiter? – Sein Glück macht? – Gerade daran habe ich ja gedacht. Wie ich Sie sah, habe ich für mich selber so gemeint: Wenn man sich sagen muß, daß Jeder darauf rechnen kann, sechzigtausend Francs zu bekommen und sein Glück zu machen, wenn er den Mann da ausliefert, – mein Gott! da hat es wahrhaftig Eile, daß ihn Unsereiner in Sicherheit bringt.

Der Marquis folgte dem Bettler. Beide betraten ein Dickicht, das den Schlupfwinkel des Bettlers barg; es war dies eine Art Wohnstätte, in welcher eine große Eiche den Mann duldete, eine unter den Wurzeln des Baumes ausgehöhlte Behausung, der die Wurzeln als Dachsparren dienten, finster, niedrig, eingezwängt, allen Blicken entrückt. Raum war genug vorhanden für Zwei.

– Ich bin schon vorgesehen für den Fall, daß ich Jemand bei mir bewirthe, sagte der Bettler.

Solch ein unterirdisches Obdach kommt in der Bretagne weniger selten vor, als man glauben dürfte, und heißt in der Sprache der dortigen Bauern ein »carnichot«. Mit demselben Namen bezeichnet man auch ein kleines in der Tiefe einer Mauer angebrachtes ähnliches Versteck. Das ganze Mobiliar besteht aus einigen Töpfen, einem elenden Lager von Stroh oder von gewaschenem und getrocknetem Seegras, einer groben Wolldecke und einigen Talglichtern nebst Feuerzeug.

Halb duckend, halb kriechend drangen die beiden Männer in dies Gemach, das durch große Baumwurzeln in wunderliche Fächer eingetheilt war, und setzten sich auf die Streu von Seegras, welche das Bett vorstellte. Der Raum zwischen zwei Wurzeln, durch den sie sich eben durchgezwängt hatten, die Zimmerthür also, gab noch etwas Licht. Es war allerdings Nacht geworden, aber das Auge, wenn es sich einmal an die Dunkelheit gewöhnt hat, findet immerhin noch ein bischen Helle in der Finsterniß; zudem warf der Mond hier und dort einen matten weißlichen Flimmer durch die Zweige in das Dickicht. In einem Winkel lagen in einer Schüssel neben einem Wasserkrug Kastanien und ein dünner Buchweizenfladen.

– Essen wir etwas, sagte der Arme.

Und sie theilten sich in die Kastanien; der Marquis zog sein Stück Zwieback aus der Tasche und Beide aßen sie nun aus einer Schüssel und tranken sich zu aus demselben Krug. Der Marquis eröffnete das Gespräch, indem er den Mann weiter ausforschte:

– Ob also alles Mögliche sich ereignet oder gar nichts, das läßt Sie vollkommen kalt?

– So ziemlich. Sie und Ihresgleichen, die großen Herren, haben sich um derlei zu kümmern.

– Aber wenn nun einmal Dinge geschehen …

– Sie geschehen weit über mir. Und dann, setzte der Bettler hinzu, geschehen noch weiter oben auch Dinge; die Sonne geht auf; der Mond nimmt zu oder ab: das sind die Dinge, mit denen ich mich beschäftige.

Er that einen Zug aus seinem Kruge:

– Gutes frisches Wasser, sagte er, und wendete sich dann wieder zu dem Marquis: Wie schmeckt Ihnen dieses Wasser, gnädiger Herr?

– Wie heißen Sie denn? fragte der Marquis.

– Ich heiße Tellmarch, und sie nennen mich den »Caimand«.

– Ja, ich weiß; »Caimand« ist ein altes bretonisches Wort.

– Das so viel bedeutet wie Bettler. Oft werde ich auch der Alte genannt. Schon volle vierzig Jahre, fügte er hinzu, heißen sie mich den Alten.

– Vierzig Jahre! Aber Sie waren doch jung?

– Jung bin ich nie gewesen. Sie, Herr Marquis, sind es immer noch, haben die Beine eines Zwanzigers, können auf die große Düne steigen. Ich fange bereits an, mich des Gehens zu entwöhnen; schon nach der ersten Viertelstunde bin ich erschöpft. Und doch stehen wir in gleichen Jahren. Aber die Reichen haben eben vor Unsereinem das voraus, daß sie jeden Tag essen. Essen erhält bei Kräften.

Nach einer kurzen Pause meinte der Bettler:

– Ja, die Armuth und der Reichthum, das sind heillose Sachen, die sind an jenem großen Unglück Schuld. Mir kommt es wenigstens so vor. Die Armen wollen reich und die Reichen nicht arm werden. Daran scheint mir’s zu liegen. Ich mische mich in nichts ein. Was geschieht, lasse ich eben geschehen. Ich halte weder zum Gläubiger noch zum Schuldner. Ich weiß nur, daß es eine Schuld giebt und daß sie bezahlt wird, mehr nicht. Mir wäre lieber gewesen, sie hätten den König nicht umgebracht, aber warum, das könnte ich schwerlich sagen. Uebrigens entgegnet man mir andererseits: Aber früher, wie hat man euch da die Leute baumeln lassen für nichts und wider nichts! Sehen Sie, ich war selber dabei, wie zur Strafe für einen elenden Büchsenschuß auf ein königliches Stück Wild ein Mann gehängt wurde, welcher eine Frau und sieben Kinder hatte. Ueber beide Theile ließe sich eben Manches sagen.

Und nachdem er abermals einige Augenblicke geschwiegen, fuhr er fort:

– Sie verstehen ja schon; das sind blos so Gedanken; man kommt; man geht; es geschehen allerhand Dinge; aber ich, ich betrachte mir die Sterne.

Wieder träumte er eine Weile vor sich hin:

– Ich bin ein klein wenig Bader und Arzt, kenne mancherlei Kräuter und weiß, wofür sie gut sind; weil ich oft bei Kleinigkeiten stehen bleiben kann, halten mich die Bauern so halb und halb für einen Hexenmeister. Aber nachdenken und den Grund finden, sind zweierlei.

– Sie sind wohl in dieser Gegend geboren? fragte der Marquis.

– Ich bin nie draußen gewesen.

– Sie kennen mich?

– Gewiß. Zum letzten Mal habe ich Sie vor zwei Jahren gesehen, als Sie hier durchkamen, um nach England zu gehen. Und als nun vorhin oben auf der Düne ein so großer Mann stand – hochgewachsene Leute sind ja selten bei uns; einen kleinen Menschenschlag haben wir hier zu Land, in der Bretagne – nun, da habe ich recht hingeschaut; den Zettel hatte ich gelesen, und habe zu mir selber gesagt: ei, sieh einmal! Und als Sie nun herunterstiegen, da schien der Mond, und ich habe Sie erkannt.

– Aber ich kenne doch Sie nicht.

– Sie haben mich gesehen und doch nicht gesehen. Ich aber, setzte Tellmarch der »Caimand« hinzu, ich sah Sie jedes Mal.

– Bin ich Ihnen früher denn öfters begegnet?

– Gewiß; ich bettle ja auf Ihrem Grund und Boden. Ich war der Arme unten am Schloßweg; Sie haben mir manchmal ein Almosen gegeben; aber der, welcher schenkt, schaut nicht hin; der nur, der empfängt, beobachtet und prüft. Ein Bettler ist ein Späher; ich aber, wenn ich auch nicht selten traurig bin, suche ein Späher zu sein, der’s gut meint. Ich hielt die Hand hin, und Sie sahen blos die Hand und warfen das Almosen hinein, das ich des Morgens bekommen mußte, wenn ich am Abend nicht verhungern sollte. Es kann schon leicht passiren, daß man durch vierundzwanzig Stunden keinen Bissen unter die Zähne kriegt; dann ist ein halber Groschen das geschenkte Leben, und so haben Sie mich am Leben erhalten, und das zahle ich Ihnen zurück.

– In der That; Sie sind mein Retter.

– Ja, der bin ich, gnädiger Herr, sagte Tellmarch fast feierlich, aber unter einer Bedingung.

– Und die wäre?

– Daß Sie nicht hergekommen sind, um das Böse zu thun.

– Nur Gutes zu stiften, kam ich her, erwiderte der Marquis.

– So legen wir uns denn schlafen, sagte der Bettler. Und sie streckten sich neben einander auf das Lager von Seegras hin. Der Bettler schlief gleich in der ersten Minute ein. Der Marquis aber, obwohl er sehr müde war, richtete sich wieder auf und träumte eine Weile vor sich hin; warf dann in der Dunkelheit einen Blick auf den Bettler und legte sich nieder. Wer in einem solchen Bett liegt, liegt auf der Erde; diesen Umstand benutzte der Marquis, um sein Ohr gegen den Boden zu drücken und zu horchen. Er vernahm ein unterirdisches dumpfes Summen. Bekanntlich findet jeder Lärm seinen Widerhall in den Tiefen des Erdbodens, und so konnte man denn hören, daß immer noch Sturm geläutet wurde. Jetzt erst schlief der Marquis ein.

V.

Gezeichnet: Gauvain.

Als er aufwachte, war es Tag. Der Bettler stand, auf seinen Stock gestützt, draußen am Eingang der Höhle, denn drinnen aufrecht zu stehen, war unmöglich. Sein Gesicht war von einem Sonnenstrahl beleuchtet.

– Gnädiger Herr, sagte Tellmarch, eben hat es vier Uhr geschlagen auf dem Kirchthurm von Tanis; ich habe jeden Glockenschlag gehört. Also hat sich der Wind gedreht und weht jetzt vom Land her; sonst aber läßt sich nichts vernehmen; also wird nicht mehr Sturm geläutet. Im Hof und im Weiler von Herbe-en-Pail ist Alles ruhig; entweder schlafen die Blauen noch oder sie sind schon auf und davon. Die drohendste Gefahr ist vorüber; es wird gut sein, wenn wir uns trennen. Dies ist die Stunde, wo ich mich auf den Weg mache. Und nach einer Seite des Horizonts hindeutend, setzte er hinzu: Nach der Richtung, da gehe ich. Dann bezeichnete er die entgegengesetzte: Gehen Sie nach jener dort.

Hierauf winkte er dem Marquis einen ernsten Gruß zu und sagte noch, indem er auf die Ueberreste des gestrigen Nachtmahls wies:

– Nehmen Sie sich ein paar Kastanien mit, wenn Sie hungrig sind.

In demselben Augenblick war er hinter den Bäumen verschwunden. Der Marquis stand auf und schlug die von Tellmarch angedeutete Richtung ein. Es war gerade jene liebliche Morgenstunde gekommen, die in der alten Sprache der Bauern aus der Normandie als »das Zwitschern des Tages« bezeichnet wird. Die Distelfinken und Sperlinge unterhielten sich mit einander in den Hecken. Der Marquis verließ das Dickicht und betrat den Fußweg, den er am Abend zuvor mit Tellmarch gegangen war. Ueber ein Kurzes befand er sich wieder bei jener Straßenverbindung, wo sich das steinerne Kreuz erhob. Schneeweiß schimmerte das Plakat unter der jungen Sonne; man hätte fast meinen dürfen, es habe eine stille Freude an ihr. Da erinnerte sich der Marquis, daß unter der Hauptanzeige noch etwas stand, das er gestern wegen der Feinheit der Lettern und der vorgerückten Tageszeit nicht hatte lesen können. Er trat an den Sockel des Kreuzes. Die Bekanntmachung schloß in der That, unter der Unterschrift »Prieur (Marne)«, mit den kleingedruckten Zeilen:

»Gleich nach Feststellung der Identität des vormaligen Marquis von Lantenac wird derselbe standrechtlich erschossen werden. – Gezeichnet: der Bataillonschef und Kommandirende der Streifkolonne, Gauvain.«

0087

Er trat an den Sockel des Kreuzes.

– Gauvain! murmelte der Marquis, und in tiefem Sinnen, mit beharrlichem Blick den Zettel anschauend, wiederholte er: Gauvain!

Nun that er ein paar Schritte, wendete aber um, trat wieder vor das Kreuz hin und las die Anzeige nochmals. Dann erst entfernte er sich langsam, und wenn Jemand zugegen gewesen wäre, hätte er ihn noch zuweilen vor sich hinmurmeln hören: Gauvain!

Von den Hohlwegen aus, durch die er nun weiter wanderte, waren die Dächer des Meierhofs, den er links liegen gelassen, nicht sichtbar: Er schritt eine steile Anhöhe entlang, die übersät war mit blühenden Stechpfriemen von einer besonderen Gattung, die längere Dornen hat. Diese Anhöhe gipfelte in einer jener Spitzen, die man in der dortigen Gegend einen Kopf nennt. Dicht unten am Abhang verlor sich der Blick in den Bäumen, deren Laub wie getränkt war von Sonnenschein. Die ganze Natur athmete Morgenfreudigkeit.

Da, plötzlich, schlug diese Freudigkeit in ihren Gegensatz um. Wie aus einem Hinterhalt platzte, der Sandsäule in der Wüste gleich, ein Gemisch von Wuthgebrüll und Gewehrfeuer auf die in Licht gebadeten Fluren und Wälder herab, und in der Richtung der Meierei erhob sich über züngelnden Flammen eine Rauchwolke, als wären Weiler und Hof eine einzige brennende Garbe. Der unvermittelt plötzliche Uebergang vom Ruhen zum Rasen, dieser Ausbruch einer Hölle mitten in dem Morgenfrieden, diese Schreckenshöhe ohne Zwischenstufen, boten einen grauenhaften Anblick. Um Herbe-en-Pail tobte der Krieg. Der Marquis blieb stehen. In derartigen Fällen – Jeder hat es an sich schon einmal erprobt – behält die Neugier die Oberhand über das Bewußtsein der Gefahr und lieber als im Unklaren zu bleiben, trotzt man dem Tod. Der Marquis bestieg die Anhöhe, unter welcher sich der Hohlweg hinzog. Zwar konnte er dort gesehen werden, dafür aber sah auch er. In wenig Minuten hatte er den Kopf erklommen und schaute.

Und wirklich, die Gewehrsalve und die Feuersbrunst, das Geschrei und die Flammen ließen nicht mehr daran zweifeln, daß der Meierhof von Herbe-en-Pail den Mittelpunkt einer Katastrophe bildete. Doch welcher Katastrophe? Herbe-en-Pail war angegriffen worden, aber durch wen? War das wirklich ein Gefecht, oder war es nicht eher eine militärische Exekution? Die Blauen steckten häufig, einer revolutionären Verordnung gemäß, die widersetzlichen Höfe und Dörfer zur Strafe in Brand; als abschreckendes Beispiel wurde jeder Hof oder Weiler eingeäschert, der es unterlassen hatte, die gesetzlich vorgeschriebene Anzahl Bäume zu fällen oder der republikanischen Kavallerie durch die Dickichte einen Weg zu brechen und zu bahnen. So war insbesondere die Gemeinde von Bourgon bei Ernée erst vor Kurzem verheert worden. Ob Herbe-en-Pail wohl dieses Schicksal theilte? Daß keine der gesetzlich befohlenen strategischen Arbeiten in den Wäldern und an den Umzäunungen von Tanis und Herbe-en-Pail vorgenommen worden, ließ sich mit Sicherheit behaupten. War das nun die Strafe dafür? Hatte die Avantgarde, welche die Meierei besetzt hielt, einen diesbezüglichen Befehl erhalten? Sie gehörte ja zu einer jener Streifkolonnen, denen der Beiname »infernalisch« zugelegt worden war.

Die Anhöhe, von deren Gipfel aus der Marquis seine Beobachtungen anstellte, war allenthalben von einem äußerst struppigen, wilden Dickicht eingefaßt, das man den Busch von Herbe-en-Pail nannte, trotzdem er die Ausdehnung eines Gehölzes hatte; er erstreckte sich bis an die Meierei und barg wie alle Wälder in der Bretagne ein ganzes Netz von Schluchten, Pfaden und Hohlwegen, in deren Labyrinth die republikanischen Truppen rathlos umherirrten.

Die Exekution, wenn es überhaupt eine solche war, mußte furchtbar gewesen sein, denn sie war von kurzer Dauer; die Brutalität arbeitet rasch, und der Bürgerkrieg bringt die Brutalität mit sich. Während der Marquis sich in hunderterlei Vermuthungen erging und, noch unschlüssig, ob er verschwinden oder bleiben solle, lauschte und spähte, hörte das Vernichtungsgetümmel auf oder stob vielmehr auseinander. Der Marquis vernahm etwas wie das Umherschwärmen wildfröhlicher Schaaren in dem Dickicht, ein schauerliches Hin- und Herwimmeln unter den Bäumen. Von der Meierei hatte sich’s in den Wald gewälzt. Geschossen wurde nicht mehr, aber zum Angriff getrommelt. Das Ganze schien jetzt den Charakter eines Treibjagens anzunehmen; das Durchstöbern, Verfolgen und Hetzen deutete darauf hin, daß man Jemand auf der Spur war. Das Lärmen war ein räumlich zerstreutes und dennoch nachhaltiges, eine Mischung von Zorn- und Siegesrufen, die zu einem Getöse ineinanderschmolzen, so daß der Marquis keinen einzelnen Schrei heraushören konnte, bis plötzlich, wie die Form eines Gegenstandes aus einer abnehmenden Rauchwolke hervorsticht, dieser Lärm einen bestimmten deutlichen Laut von sich gab, einen Namen, der dem Lauschenden tausendstimmig in’s Ohr schallte: Lantenac! Lantenac! Der Marquis von Lantenac!

Gefahndet wurde auf ihn.

VI.

Die Wechselfälle im Bürgerkrieg.

Plötzlich, von allen Seiten, blitzte es im Dickicht ringsum von Gewehrläufen, Bajonetten und Säbeln; hinterher ragte im Halbdunkel eine dreifarbige Fahne; der Ruf »Lantenac!« donnerte dem Marquis entgegen, und ihm zu Füßen erschienen verwilderte Gesichter über den Dornbüschen und zwischen den Zweigen. Der Marquis stand allein, allen Blicken ausgesetzt auf der Anhöhe. Er konnte die, welche ihn beim Namen riefen, kaum sehen; sie aber sahen Alle ihn. Wenn das Dickicht tausend Flinten barg, so gab er die Zielscheibe ab für alle tausend. Deutlich unterschied er im Dickicht blos die vielen glühend nach ihm starrenden Augen.

0095

Der Marquis stand allein, allen Blicken ausgesetzt auf der Höhe.

Er nahm seinen Hut vom Kopf, stülpte die Krempe auf, riß von einer Pfriemenstaude einen langen dürren Dorn weg, zog eine weiße Kokarde hervor, heftete die Kokarde an die Krempe und diese an die Hutform fest und, indem er denselben so wieder aufsetzte, daß seine Stirn unter dem befestigten Hutrand und der Kokarde freistand, rief er laut, damit es der ganze Wald auf einmal höre: – Der bin ich, den ihr sucht. Ich bin der Marquis von Lantenac, Vikomte von Fontenay, bretonischer Fürst, Oberstkommandirender der Streitkräfte Seiner Majestät des Königs. Machen wir ein Ende! Legt an! Feuer!

Und die Jacke von Ziegenfell mit beiden Händen auseinanderreißend, entblößte er seine Brust. Als er hinabschaute, die auf ihn gerichteten Musketen mit dem Blick zu suchen, sah er sich umringt von einer knieenden Menge, die nun jubelnd aufschrie:

– Hoch Lantenac! Der gnädige Herr, hoch! Vivat unser General! Und Hüte flogen in die Höhe; Säbel wurden unter Jauchzen geschwungen und aus jedem Busch braunwollene Mützen auf langen Stöcken geschwenkt. Die Leute um ihn her, die sich bei seinem Anblick auf die Knie niedergeworfen hatten, waren Vendéer Aufständische. Sagenhaften Berichten aus dem Alterthum zufolge, sollen in den wildesten Waldrevieren von Thüringen seltsame gigantische Wesen gehaust haben, die sowohl als übermenschliche wie als unmenschliche Geschöpfe behandelt wurden, denn bei den Römern galten sie für Bestien und bei den Germanen für Halbgötter und kamen also je nach Umständen in die Lage, vertilgt oder angebetet zu werden. Der Marquis empfand jetzt wohl etwas Aehnliches wie eines jener Wesen, das schon darauf gefaßt, als Unthier niedergemetzelt zu werden, nun auf einmal als himmlische Erscheinung verehrt worden wäre. Diese unheimlichen, blitzsprühenden Augen hingen alle an ihm mit einem wilden Ausdruck von Liebe.

Der lärmende Haufen war mit Flinten, Säbeln, Sensen, Stangen und Stöcken bewaffnet; sämmtlich trugen die Leute den großen Filzhut oder die braune Mütze mit der weißen Kokarde, weite, nach unten zu offen stehende kurze Beinkleider, haarige Jacken und lederne Gamaschen, dabei Rosenkränze und Amulette in Fülle; sie hatten langes Haar und nackte Knie, und schauten, wenn auch Viele darunter grausam, so doch Alle gewissermaßen kindlich drein.

Ein junger, stattlicher Mann, welcher sich durch die knieende Menge Bahn gebrochen hatte, eilte nun zum Marquis hinauf. Wie die Bauern trug auch er einen Filzhut mit aufgestülpter Krempe und weißer Kokarde und eine Jacke aus Ziegenfell, nur waren seine Hände weiß und sein Hemd fein, und überdies unterschied ihn von den Uebrigen eine weißseidene Schärpe nebst Degen mit goldenem Griff. Oben angekommen, warf er den Hut weg, nahm Schärpe und Degen ab, und sagte, indem er sich auf ein Knie niederließ und Beides dem Marquis darbot:

– Wir haben Sie in der That gesucht und nun auch gefunden. Hier haben Sie die Zeichen des Kommandos. Diese Leute gehören fortan Ihnen. Bisher war ich der Befehlshaber; jetzt, Monseigneur, avancire ich zu Ihrem Soldaten. Nehmen Sie unsere Huldigung entgegen, Herr General, und gebieten Sie über uns.

Und auf einen Wink von ihm traten einige Männer mit einer dreifarbigen Fahne zwischen den Bäumen hervor, kamen den Hügel herauf und legten dem Marquis jene Trikolore zu Füßen, die er vorhin im Dickicht hatte ragen sehen.

– Herr General, sagte der junge Mann, der ihm Degen und Schärpe überreicht hatte, es ist dies die Fahne, die wir soeben den Blauen, die in der Meierei von Herbe-en-Pail kampirten, abgenommen haben. Mein Name, Monseigneur, ist Gavard. Ich habe schon unter dem Marquis von la Rouarie gedient.

– Schön, sagte der Marquis, und legte ruhig und ernst die Schärpe an, zog dann den Degen und rief, indem er ihn über seinem Haupt schwenkte: Auf! und ein Hoch Seiner Majestät dem König!

Alles erhob sich, und durch die Tiefen des Dickichts wirbelte es fort in siegestrunkener Begeisterung: Hoch der König! Hoch unser Marquis! Lantenac hoch! Nun wendete sich der Marquis wieder zu Gavard:

– Wie stark sind wir?

– Siebentausend Mann.

Und im Hinabsteigen von der Anhöhe, während die Bauern die Pfriemenstauden vor den Schritten des Marquis von Lantenac bei Seite bogen, fuhr Gavard fort: Die Sache verhält sich nämlich in kurzen Worten ganz einfach so: die Pulvermine bedurfte blos mehr eines Funkens, um zu springen, und deshalb hat die Bekanntmachung Ihrer Anwesenheit durch die republikanische Behörde die ganze Gegend zum Kampf für Seine Majestät aufgerufen. Außerdem war uns die Nachricht auch noch unter der Hand durch den Bürgermeister von Granville zugekommen, der uns sehr ergeben ist, und der schon einmal den Abbé Olivier gerettet hat. In der Nacht ist Sturm geläutet worden.

– Wozu?

– Für Sie.

– Ah so! sagte der Marquis.

– Und hier sind wir, setzte Gavard hinzu.

– Also wirklich siebentausend? – Heute noch; morgen aber sind wir fünfzehntausend; das kann unsere Gegend leisten. Als sich Herr Henri von La Rochejacquelein zur katholischen Armee begeben hat, wurde gleichfalls Sturm geläutet und binnen einer Nacht führten ihm die sechs Gemeinden Isernay, Corqueux, les Echaubroignes, les Aubiers, Saint-Aubin und Nueil allein zehntausend Mann zu. Nur an Munition fehlte es; da fand man noch bei einem Maurer sechszig Pfund Sprengpulver, und damit rückte Herr von La Rochejacquelein in’s Feld. Wir dachten wohl, Sie müßten sich irgendwo in diesem Wald aufhalten, und so kommt’s, daß wir Sie gleich hier suchten.

– Doch wie war denn das mit den Blauen in der Meierei von Herbe-en-Pail?

– Sie hatten in Folge der Windrichtung von dem Sturmläuten nichts gehört und waren auch sonst ohne allen Verdacht, denn das einfältige Volk im Dörfchen hatte sie freundlich aufgenommen. Heute früh, während die Blauen noch schliefen, haben wir den Hof umzingelt, und im Handumdrehen war Alles vorüber. Herr General, ich bin beritten; darf ich die Ehre haben. Ihnen mein Pferd zur Verfügung zu stellen? – Ja.

Ein Schimmel mit militärischer Schabracke wurde von einem der Bauern vorgeführt. Der Marquis bestieg ihn, ohne von Gavard’s angebotener Hilfe Gebrauch zu machen.

– Hurrah! schrieen die Bauern, denn an den Küsten der Bretagne und Normandie, welche in beständiger Geschäftsverbindung mit den Kanalinseln stehen, sind dergleichen Rufe vielfach dem Englischen entlehnt worden.

Gavard fragte salutirend: Monseigneur, wohin verlegen Sie Ihr Hauptquartier?

– Zunächst in den Wald von Fougères. – Eine von Ihren sieben Waldungen, Herr Marquis. – Sorgen Sie mir für einen Geistlichen. – Wir haben einen bereits hier. – Wen? – Den Vikar von La Chapelle-Erbrée. – Den kenne ich. Er hat die Reise nach Jersey gemacht. – Zu dreien Malen, sagte ein Priester, der jetzt vortrat.

Der Marquis wendete sich um:

– Guten Morgen, Herr Vikar. Ich werde Sie sogleich beschäftigen.

– Vortrefflich, Herr Marquis.

– Sie werden Beichte hören, heißt das nur, wenn die Betreffenden einverstanden sind. Gezwungen wird Keiner.

– Herr Marquis, entgegnete der Priester, in Guéménée zwingt Gaston die Republikaner zur Beichte.

– Er ist ein Perrückenmacher. Sterben soll man frei.

Gavard, der sich entfernt hatte, um einiges anzuordnen, kam zurück:

– Herr General, ich erwarte Ihre weiteren Befehle.

– Der Sammelplatz ist der Wald von Fougères. Zunächst haben die Leute also auseinanderzugehen und sich dorthin zu verfügen.

– Die Ordre ist bereits gegeben.

– Sagten Sie mir nicht vorhin, daß in Herbe-en-Pail die Blauen eine freundliche Aufnahme gefunden? – Ja wohl, Herr General. – Und der Meierhof ist niedergebrannt worden. – Ja. – Haben Sie den Weiler mit niedergebrannt? – Nein. – So thun Sie’s! – Erst haben sich die Blauen gewehrt; aber sie waren ihrer hundertundfünfzig und wir volle sieben Tausend. – Welche Sorte von Blauen war’s? – Blaue von Santerre. – Welcher den Trommelwirbel kommandirte, während man den König enthauptete …. Demnach waren es ja Pariser? – Ein halbes Bataillon. – Wie heißt das Bataillon? – Herr General, auf der Fahne steht: »Bonnet-Rouge.« – Bestien also. – Was soll mit den Verwundeten geschehen? – Gebt ihnen den Rest. – Und mit den Gefangenen? – Niederschießen. – Es sind an die achtzig Mann. – Alles nieder. – Dazu noch zwei Weiber. – Mit erschießen. – Mit drei Kindern. – Die gehen einstweilen mit uns, bis ein Weiteres über sie beschlossen ist. Und der Marquis trieb sein Pferd voran.

VII.

Ohne Gnade! – Keinen Pardon!6

Während bei Tanis alle diese Begebenheiten aufeinanderfolgten, war der Bettler in der Richtung von Crollon weitergegangen. Er hatte sich tief in die Schluchten verloren, unter das dichte, schweigsame Laubdach, theilnahmlos, wie er selber gesagt, für alles Einzelne und teilnehmend an nichts, mehr in Träumerei als in Gedanken, denn wer denkt, hat ein Ziel vor sich, der Träumer keines. So schlich und schlenderte er zwecklos einher, blieb zuweilen stehen und aß wilden Ampfer, ein Blatt oder zwei, trank auch aus den Quellen, erhob hin und wieder, wenn von Weitem ein Getöse an sein Ohr schlug, das Haupt und fiel dann in den blendenden Halbschlafzauber der Natur zurück, in Lumpen unter der lieben Sonne, die fernen Anklänge menschlichen Treibens vielleicht wohl hörend, lauschend aber dem Gesang der Vögel.

Langsam und gebrechlich; weit konnte er nicht mehr gehen; er hatte es ja dem Marquis von Lantenac gesagt: nach der ersten Viertelstunde war er schon müde; er machte noch einen kleinen Umweg gegen La Croix-Avranchin zu, und als er heimkehrte, war es bereits Abend.

In geringerer Entfernung von Macey führte ihn der Pfad, dem er folgte, zu einer unbewaldeten Erderhöhung mit einer Fernsicht über den ganzen westlichen Horizont bis an’s Meer. Dort oben wurde er auf einen Rauch aufmerksam. Ein emporschwebender Rauch kann die sanftesten, aber auch die schreckhaftesten Betrachtungen wecken; es giebt einen friedlichen und einen verruchten Rauch. Ein Rauch kann uns je nach seiner Beschaffenheit und Farbe in grellem Gegensatz an den Frieden erinnern oder an den Krieg, an Verbrüderung oder Haß, Gastlichkeit oder Grabesgrauen, Leben oder Tod. Wenn zwischen Bäumen eine Rauchsäule aufsteigt, bedeutet sie vielleicht das Lieblichste, was in der Welt zu finden ist, den häuslichen Herd, oder wieder das Schauerlichste, die Feuersbrunst. Und alles menschliche Glück wie aller menschliche Jammer liegt oft in so einer Dampfwolke, die im Winde zerstiebt.

Der Rauch, den Tellmarch bemerkt hatte, war ein besorgnißerregender, denn er war schwarz und zuweilen röthlich leuchtend; die Flamme, der er entstammte, schien abwechselnd zu steigen und zu fallen, also dem Erlöschen nahe zu sein, und er stand gerade über Herbe-en-Pail. Tellmarch ging in beschleunigtem Schritt darauf zu. Er war freilich recht erschöpft, aber er wollte doch wissen, wie das sei. Als er den Hügel erklommen hatte, an dessen Fuß Hof und Weiler gelegen waren, war weder Hof noch Weiler mehr zu sehen, nur noch ein glühender Schutthaufen.

Es giebt noch einen schmerzlicher beklemmenden Anblick als einen brennenden Palast, das ist eine brennende Hütte. Aus dem Brande einer Hütte steigt ein unendlich jammervolles Etwas: der innere Widerspruch, der darin liegt, wenn die Vernichtungswuth über das Elend hereinbricht und der Geier den Wurm mit seiner Grausamkeit verfolgt, schnürt Einem das Herz zusammen.

Die biblische Legende erzählt, daß ein Zurückschauen auf eine Feuersbrunst ein menschliches Wesen in eine Salzsäule verwandelt hat. In diesem Moment war Tellmarch zu einer solchen Säule erstarrt, gelähmt durch das Schreckniß, das sich ihm darbot. Ueber der ganzen Verwüstung lag Schweigen. Kein Schrei, kein Wimmern stieg mit dem Rauch empor.

Dieser Schmelzofen fuhr fort, die letzten Ueberreste des Dorfes zu verzehren, ohne daß man etwas Anderes hätte vernehmen können, als das Krachen der Balken und das Knistern des verglimmenden Dachstrohs. Hier und da riß der Rauchschleier, und dann wurden durch die eingestürzten Decken die gähnenden Wohnräume sichtbar; die Esse ließ ihre Rubinen alle flimmern und das oder jenes arme, alte Möbel leuchtete wie von Purpur zwischen den gerötheten Mauern, und Tellmarch schaute dann der Verheerung unheimlich blendende Kehrseite.

Im Kastanienwald, der dicht an die Häuser grenzte, waren einige Bäume von dem Feuer ergriffen worden und flackerten zum Himmel.

Vergebens lauschte der Bettler hinaus nach irgend einer Stimme, einem Hilferuf, einem Klagelaut. Nichts sah er sich bewegen als die Flammen, und Alles schwieg, nur der Brand nicht. So waren denn Alle entflohen? Das lebendige, arbeitsame Völkchen von Herbe-en-Pail, wo mochte es jetzt wohl hingekommen sein?

Tellmarch verließ den Hügel. Langsam und mit stierem Blick näherte er sich den Ruinen, diesem düster starrenden Räthsel, das er vor sich hatte, – langsam wie ein Schatten, denn in dieser Grabstätte kam er selber sich vor wie ein Phantom. Nun hatte er die Stelle erreicht, wo sich früher die Einfahrt der Meierei befunden hatte, und sah in den Hof, welcher nun mit seinen eingesunkenen Mauern eins war mit den umliegenden Trümmergruben. Was der Mann bis jetzt gesehen, war aber noch nichts, war nur das Schreckliche; bald sollte er das Grauenhafte erblicken.

Mitten im Hofe lag, von einer Seite durch den Schein des Feuers, von der anderen durch den Mond blos in wenigen Umrissen undeutlich hervorgehoben, eine schwarze Masse. Diese Masse bestand aus einzelnen Menschen und diese Menschen waren todt. Rings um sie herum stagnirte eine Flüssigkeit, in welcher der Brand sich spiegelte; doch sie bedurfte dessen nicht, um roth zu erscheinen, denn es war Blut.

Tellmarch trat näher und untersuchte diese Körper einen nach dem anderen; sie waren alle leblos. Bei der Beleuchtung der Feuersbrunst und des Mondes konnte er erkennen, daß es Soldatenleichen waren, sämmtlich barfuß; die Schuhe waren ihnen ausgezogen worden; auch hatte man die Waffen mit fortgenommen; die Uniform war blau und die Hüte, die unter dieser Anhäufung von ausgestreckten Gliedmaßen und hängenden Köpfen umherlagen, trugen die dreifarbige Kokarde. Die Todten waren Republikaner, jene Pariser, die noch den Abend zuvor, alle frisch und munter, hier in der Meierei von Herbe-en-Pail ihr Quartier hatten. Eine gewisse Symmetrie, die in dieser Unordnung herrschte, deutete darauf hin, daß sie hingerichtet worden waren, ohne langen Todeskampf, sorgfältig; es war kein einziges Röcheln zu vernehmen; nicht Einer hatte die Übrigen überlebt. Tellmarch vergaß bei seiner Leichenschau keinen Einzigen. Jeder hatte ein paar Kugeln in Kopf und Brust. Diejenigen, durch welche die Exekution vollzogen worden, hatten wahrscheinlich eine solche Eile gehabt, wieder weiter zu marschiren, daß sie sich nicht damit befassen mochten, die Opfer zu begraben.

Schon wendete sich der Bettler zum Gehen, als sein Blick auf einen niedrigen Mauerrest fiel, über den er von der andern Seite her vier Füße herunterhängen sah. Diese Füße waren kleiner als die Übrigen und nicht nackt; Tellmarch trat näher. Es waren Weiberfüße. Hinter der Mauer lagen zwei Frauen nebeneinander hingestreckt, gleichfalls erschossen. Tellmarch beugte sich über sie. Die Eine trug eine Art Uniform; ihr zur Seite lag ein durchlöchertes leeres Fäßchen. Die todte Marketenderin hatte vier Kugeln im Kopf. Nun untersuchte Tellmarch die Andere, eine Bäuerin. Sie lag bleich, mit offenem Munde und geschlossenen Augen da. Am Kopf hatte sie keine Wunden. Ihr Kleid, das wohl unter Mühsalen so zerfetzt worden, war durch den Sturz aufgegangen, und ließ den Oberkörper zum Theil entblößt. Tellmarch schob es noch weiter auseinander und entdeckte an der einen Schulter eine runde Schußwunde. Das Schlüsselbein war entzwei. – Mutter und Amme, murmelte der Bettler vor sich hin, indem er den blutbefleckten Busen ansah. Er berührte ihre Schulter; sie war nicht kalt; andere Verletzungen als der Bruch und der Schuß waren nicht vorhanden. Tellmarch legte ihr nun die Hand auf die Herzgrube und fühlte ein mattes Schlagen. Die Frau lebte noch.

– Ist denn Niemand hier? rief der Bettler hoch aufgerichtet, verzweiflungsvoll.

– Bist du’s, Caimand? flüsterte es kaum vernehmbar; ein Kopf tauchte hinter einem Schutthaufen auf, und gleich darauf hinter einem andern ein zweiter. Es waren Bauern, die sich versteckt hatten, die beiden einzig Ueberlebenden. Die wohlbekannte Stimme des Bettlers hatte ihnen Muth gegeben, aus ihren Schlupfwinkeln hervorzukriechen. Sie zitterten noch am ganzen Leib, als sie auf Tellmarch zugingen. Dieser hatte einen Schrei gefunden, aber reden konnte er nicht; so wirken große Erschütterungen auf den Menschen. Er deutete blos auf das Weib zu seinen Füßen hin.

– Lebt sie noch? fragte der eine Bauer.

Tellmarch bejahte mit einem Kopfnicken.

– Und die Andere, lebt die auch? fragte der zweite Bauer.

Tellmarch schüttelte den Kopf, und der Bauer, welcher sich zuerst hatte blicken lassen, sagte wieder:

– Die Andern sind alle todt, nicht wahr? Ich hab’s mit ansehen müssen. Ich war drunten in meinem Keller. O, wie dankt man da seinem Schöpfer, daß man nicht Weib und Kind hat! Mein Haus brannte. Jesus Maria! Alles haben sie umgebracht. Die Frau hier hatte Kinder, drei ganz kleine, und die Kinder schrieen: »Mutter!« und die Mutter schrie: »Meine Kinder!« Die Mutter haben sie zusammengeschossen und die Kleinen mitgenommen. Mein Gott! ich habe das mit ansehen müssen, allmächtiger Gott! Die, welche Alles niedergemetzelt haben, sind dann gegangen. Sie waren zufrieden. Die Kinder haben sie mit fortgenommen und die Mutter umgebracht. Aber sie ist nicht todt, nicht wahr? sie ist nicht todt? Höre einmal, Caimand, glaubst du, daß du sie retten kannst? Wie wär’s, wenn wir sie zu dir heimbrächten? Tellmarch nickte beistimmend mit dem Kopf.

Da der Wald an die Brandstätte stieß, hatten sie aus Zweigen und Farrenkräutern eine Tragbare bald hergerichtet, auf die sie das immer noch bewußtlose Weib hinlegten, und nun traten sie den Rückzug durch das Dickicht an. Die beiden Bauern trugen die Bahre, der eine zu Häupten, der andere zu Füßen, und Tellmarch hielt den Arm der Frau und fühlte ihr von Zeit zu Zeit nach dem Puls.

Den ganzen Weg entlang redeten die zwei Bauern und warfen einander über die Verwundete hinüber, deren bleiches Gesicht der Mond beschien, abgerissene Worte des Schreckens zu. – Alles umzubringen! – Alles niederzubrennen! – Ach du lieber Gott! Soll jetzt so drauf losgehaust werden?

– Der große alte Mann, der hat’s haben wollen. – Ja, der war der Anführer. – Ich habe ihn nicht gesehen, wie man sie umgebracht hat; ist er dabei gewesen?

– Nein. Er war schon fort. Aber thut nichts; wie er’s befohlen hat, so ist’s auch geschehen.

– Dann freilich hat er Alles auf dem Gewissen.

– Zusammenschießen! hatte er gesagt; niederbrennen! ohne Pardon!

– Ist es wirklich ein Marquis? – Wenn ich dir sage, daß er unser Marquis ist! – Wie heißt er fein nur? – Er ist Herr von Lantenac.

Tellmarch blickte gen Himmel und murmelte in seinen weißen Bart: Wenn ich geahnt hätte! …

  1. Er hat Ohren und hört nicht.
  2. Ohne Gnade! – war die Parole des revolutionären Pariser Stadtraths, während der Prinz, der an der Spitze der Emigrirten stand, (Artois, der jüngere Bruder Louis XVI. und spätere König Karl X.) die Parole ausgegeben hatte: Keinen Pardon!

Erstes Buch

Zu Paris

Cimourdain

I

Die Straßen von Paris, damals

Man lebte draußen; sogar der Tisch, an dem gegessen wurde, stand draußen vor der Hausthür; auf den Kirchenstufen saßen die Weiber und zupften Charpie zur Marseillaise; im Park-Monceaux und im Luxembourg-Garten wurde exerzirt; auf allen Plätzen waren kleine Gewehrfabriken in Thätigkeit, und die Waffen entstanden unter den Augen der Beifall klatschenden Menge; die allgemeine Meinung war: »Geduld; wir stehen eben mitten in einer Revolution.« Mit einem heroischen Lächeln ging man in’s Theater wie zu Athen während des peloponesischen Krieges; an den Straßenecken war angeschlagen: »Die Belagerung von Thionville. – Die gerettete Hausmutter. – Der Klub der Unverdrossenen. – Die Päpstin Johanna senior. – Die Philosophen in Uniform. – Ländliche Liebeskünste.« – Die Deutschen waren im Anmarsch; man erzählte, der König von Preußen habe sich schon vormerken lassen für die Opernvorstellungen. Schrecklich war Alles und doch Niemand in Schrecken. Das düstere Gesetz über die Verdächtigen, eine Versündigung Merlin’s aus Douai, ließ das Fallbeil über eines Jeden Kopf hervorblitzen, aber ein denunzirter Prokurator Namens Seran erwartete die Häscher im Schlafrock und in Pantoffeln und blies bei offenem Fenster auf der Flöte. Ueberflüssige Zeit schien’s nicht mehr zu geben; Alles hastete vorwärts. An jedem Hut die Kokarde. »Die rothe Kappe steht uns allerliebst,« meinten die Frauen. Die Läden, wo Alterthümer feilgeboten wurden, waren vollgepfropft mit Kronen, Bischofsmützen, Lilien und Sceptern von vergoldetem Holz, dem abfluthenden Hausrath der königlichen Paläste. Bei den Trödlern kaufte man die Chorröcke und Meßgewände auf »Pack dich damit!« Auf dem Porcherons-Platz und in der Schänke von Ramponneau tranken Leute, die sich in Stolen und Chorhemden gesteckt hatten und auf Eseln im Kirchenornat ritten, den Wein der Kneipe aus den goldenen Gefäßen der Kathedralen! In der Straße Saint-Jacques hielten barfüßige Pflasterer den Karren eines Hausirers an, der mit Schuhen handelte, und kauften mit ihrer zusammengelegten Baarschaft fünfzehn Paar Schuhe, die sie für die Soldaten in den Konvent schickten. Es wimmelte von Büsten eines Franklin, Rousseau, Brutus und Marat. Unter einer jener Büsten von Marat, in der Straße Cloche-Perce, hing unter Glas in schwarzem Rahmen eine Anklage gegen Malóuet mit Belegstücken und folgender Randglosse: »Diese Angaben verdanke ich der Geliebten von Sylvain Bailly, einer guten Patriotin, die mir wohl will. – Gezeichnet: Marat« Auf dem Platze des Palais-Royal war am Brunnen die ursprüngliche lateinische Inschrift hinter zwei großen Bildern verschwunden, die, mit Leimfarbe gemalt, das eine Cahier von Gerville vorstellte, wie er der Nationalversammlung das Erkennungszeichen der »Chiffonisten« von Arles anzeigt, das andere die Rückkehr Ludwig’s XVI. von Varennes mit zwei Grenadieren, welche, das Bajonett am Gewehr, jeder auf einem Ende eines Brettes saßen, das unter der Karosse mit Seilen befestigt war. Von den großen Läden waren die wenigsten offen. Auf Karren mit Lichtern, von denen der schmelzende Talg auf die Gegenstände niedertroff, wurden durch Weiber Kramwaaren und dergleichen von Haus zu Haus feilgeboten. Ex-Klosterfrauen mit blonden Perrücken hatten Kaufbuden unter freiem Himmel aufgeschlagen. Die Person, die drüben in einem Schuppen Strümpfe stopfte, war eine Gräfin und dort jene Näherin eine Marquise; Frau von Boufflers bewohnte einen Dachboden mit Aussicht auf ihr Palais. Eilende Zeitungsverkäufer riefen die »papiers-nouvelles« aus. Die, deren Kinn noch in einer Halsbinde steckte, hieß man »die Skrophulösen«. Bänkelsänger gab es in Unmassen. Unter Gröhlen verfolgte man Pitou, den royalistischen Komiker, der zugleich ein Tapferer war, denn er ließ sich zweiundzwanzig Mal einsperren und wurde vor das revolutionäre Schwurgericht geladen, weil er beim Wort »Bürgertugend« sich einen Schlag unter den Rücken versetzt hatte; als es ihm ernstlich an’s Leben ging, rief er: »Aber meine Herrschaften, schuldig ist doch im schlimmsten Fall nur das Gegentheil meines Kopfes!« ein Witz, über den die Richter selbst lachen mußten, so daß er mit heiler Haut davon kam. Dieser Pitou geißelte die Manie der griechischen und römischen Namen; in sein Lieblingskouplet war von einem Schuster die Rede, den er »Cujus« und dessen Weib er »Cujusdam« hieß. Allenthalben wurde die »Carmagnole« getanzt, wobei man nicht »Kavalier und Dame«, sondern »Bürger und Bürgerin« sagte. Man tanzte sie in den zerfallenen Klöstern mit Lampions auf dem Altar, zwei wagrecht herabhängenden gekreuzten Stöcken mit vier Lichtern am Gewölbe und Grabstätten unter den Füßen. – Es wurden »tyrannenblaue« Westen getragen und Vorstecknadeln »á la Freiheitsmütze« mit weißen, blauen und rothen Steinen. Die Richelieu-Straße hieß Gesetzstraße, die Vorstadt Saint-Antoine Ruhmvorstadt und auf dem Bastille-Platz stand eine Statue der Natur. Man zeigte sich gewisse bekannte Stadtfiguren, Chatelet, Didier, Nicolas und Garnier-Delaunay, die vor der Thür des Tischlermeisters Duplay Wache hielten; Voulland, der bei keiner Hinrichtung fehlte und dem Karren mit den Verurtheilten folgte, was er »in die rothe Mette gehen« hieß, und den revolutionären Geschworenen und Ex-Marquis Montflabert, der sich den Namen »Zehnter August« beigelegt hatte. Man sah dem Défilé der Kriegsschüler zu, die laut Verordnung des Konvents »die Zöglinge des Mars«, durch den Volksmund aber »die Pagen von Robespierre« titulirt wurden. Dann las man wieder die Proklamationen von Fréon, in denen er den Verdächtigen das Verbrechen des »Krämerthums« vorwarf. Die »Zierbengel«, die sich bei den Rathhäusern herumtrieben, verhöhnten die Ziviltrauungen und umdrängten die Brautleute mit dem Spottruf »Municipaliter!« Im Invalidendom trugen die Statuen der Heiligen und Könige die phrygische Mütze. Auf den Ecksteinen wurde gespielt, und zwar mit revolutionären Karten, bei denen die Könige den Genien, die Damen den Freiheiten, die Buben den Gleichheiten und die Asse den Gesetzen hatten weichen müssen. Man pflügte die öffentlichen Gärten um; vor den Tuilerien wurde geackert. Dabei machte sich, und namentlich bei den besiegten Parteien, ein gewisser hochfahrender Überdruß geltend; an Fouquier-Tionville wurde eines Tags geschrieben: »Seien Sie so freundlich, mich von der Existenz zu befreien. Anbei meine Adresse.« Und Champcenez provozirte mitten im Palais-Royal-Garten seine Verhaftung durch die herausgeschrieene Aeußerung: »Der Sultan sollte die türkische Republik proklamiren; nichts würde ich lieber sehen, als wie Nichtswürdiges sich durch die hohe Pforte empfiehlt.« Nirgends durften die Zeitungen fehlen. Während die Friseurgesellen öffentlich an ihren Frauenperrücken kräuselten, las ihnen der Meister mit lauter Stimme den »Moniteur« vor; in lärmenden Gruppen wurde unter lebhaftem Geberdenspiel über den Leitartikel im »Verstehen wir uns auch recht!« von Dubois-Crancé oder in der »Trompete des Père Bellerose« debattirt. Manche Barbiere waren gleichzeitig Wursthändler, so daß man in gewissen Auslagen neben einer goldhaarigen Kopfpuppe Würste und Schinken hängen sah. Fahrende Schenkwirthe priesen den Vorübergehenden ihren »Emigrantenwein« an; ein anderer Weinhändler verzapfte »Zweiundfünfzigsortenwein«; wieder Andere handelten mit Lyra-Pendülen und Sophas à la Düchesse. Ueber der Thür eines Friseurs stand zu lesen: »Hier wird die Geistlichkeit über den Löffel barbiert, dem Adel in die Haare gefahren und der dritte Stand nicht geschnitten.« In der Anjou, vormals der Dauphin-Straße, ließ man sich Nummer 172 bei Martin die Karten legen. Es mangelte an Brod, mangelte an Kohlen, mangelte an Seife. Heerdenweise wurden die Milchkühe aus der Provinz in die Stadt getrieben. In der Vallée kostete das Pfund Lammfleisch fünfzehn Francs. Laut Anschlag des Stadtraths wurde für jede Dekade per Kopf ein Pfund Fleisch verabreicht. Vor den Viktualienläden machte man Queue. Eine dieser regelmäßigen Menschenansammlungen hat sich sogar im Gedächtniß des Volkes erhalten; sie reichte von der Thür eines Spezereihändlers in der Straße Petit-Carreau bis mitten in die Straße Montorgueil. Queue machen hieß damals »die Schnur halten«, wegen des langen ausgespannten Seils, das Alle, der Reihe nach hintereinander stehend, in die Hand nahmen. Die Weiber ertrugen dies Elend mit sanftmüthiger Tapferkeit. Ganze Nächte hindurch warteten sie vor den Bäckerläden, bis die Reihe an sie kam. Die Revolution hatte mit ihren Nothbehelfen Glück; es gelang ihr die Verzweiflung vermittelst zweier Maßregeln abzuwehren, des Zwangskurses der Assignaten und der Einführung des Maximums; das Assignat mußte ihr als Hebel und das Maximum als Stützpunkt dienen, und durch dieses empirische Verfahren wurde Frankreich gerettet. Der Feind in Coblenz wie in London wucherte mit den Assignaten. Dirnen, welche mit Lavendelessenz, Strumpfbändern und Husarenzöpfen hausirten, betrieben die Agiotage.

Die Geldmakler der Vivienne-Straße trugen schmutzige Schuhe, fettes Haar und Bärenmützen mit Fuchsschweif, die »Mayolets« der Valois-Straße hingegen, die sich von den Dirnen dutzen ließen, Lackstiefel, langhaarige Hüte und zwischen den Lippen einen Zahnstocher. Auf beide Gattungen machte das Volk Jagd, wie auch auf die Diebe, die von den Royalisten den Spitznamen »aktive Bürger« bekommen hatten. Diebstähle gehörten übrigens zu den Seltenheiten, und eine trotzige Armuth, eine stoische Rechtlichkeit waren an der Tagesordnung. Mit ernst gesenktem Blick gingen die barfüßigen Hungerleider an den Auslagen der Juweliere des Palais-Egalité vorüber. Bei Gelegenheit einer Haussuchung, welche die Bezirksbehörde der Vorstadt Antoine bei Beaumarchais vornehmen ließ, pflückte ein Weib im Garten eine Blume; sie wurde vom Volk dafür geohrfeigt. Das Holz kostete das Klafter vierhundert Francs in klingender Münze; man sah auf der Straße Leute ihre Bettstatt kleinsägen; im Winter waren die Brunnen zugefroren, und die Tracht Wasser stieg auf zwanzig Sous; alle Ärmern wurden Wasserträger. Der Louisdor wurde mit dreitausend neunhundertundfünfzig Francs Papier bezahlt, die Fahrt in einem Fiaker mit sechshundert. Nach vollendeter Fahrt konnte man folgenden Dialog hören: – Kutscher, was bin ich Ihnen schuldig? – Sechshundert Francs. – Eine Gemüsehändlerin hatte eine Tageseinnahme von zwanzigtausend Francs. Bettelleute sagten zu Einem: »Aus Barmherzigkeit, helfen Sie mir! Es fehlen mir zweihundertdreißig Francs, um meine Schuhe zu bezahlen.«

An den Brücken standen kolossale Statuen, die von David geschnitzt und bemalt waren, und die Mercier höhnischerweise »hölzerne Hanswurste« nannte, Statuen, welche den niedergeworfenen Föderalismus und die zurückgeworfene Koalition darstellten. Dieses Volk, in seiner düsteren Freude, mit den Thronen ein Ende gemacht zu haben, blieb der Entmuthigung unzugänglich. Die Freiwilligen strömten herbei, um dem Feind die Brust zu bieten. Jede Straße stellte ein Bataillon. Die Fahnen der Bezirke wurden herumgetragen, jede mit einer Devise. Auf der Fahne des Bezirks Les Capucins war zu lesen: »Uns soll Keiner barbieren«, auf einer anderen: »Keinen Adel mehr außer im Herzen.« An allen Mauern Plakate, große und kleine, weiße und gelbe, grüne und rothe, gedruckte und geschriebene, mit der Aufschrift: »Es lebe die Republik!« Selbst die kleinen Kinder stammelten schon: »Ça ira«. Diese kleinen Kinder waren die unendliche Zukunft.

Später schlug die tragische Stadt in’s Cynische um. Die Straßen von Paris haben zwei gründlich verschiedene Physiognomien gehabt, vor und nach dem 9. Thermidor; auf das Paris von Saint-Just folgte das Paris von Tallien. Die Weltgeschichte lebt von Gegensätzen: gleich nach dem Sinai kam die Maskerade. Ein Anfall allgemeinen Wahnsinns gehört nicht zu den Unmöglichkeiten; das hatte sich vor achtzig Jahren schon herausgestellt. Nach Ludwig XVI. wie nach Robespierre empfindet man ein dringendes Bedürfniß des Aufathmens; daher die Regentschaft, die das Jahrhundert eröffnet, und das Direktorium, womit es abschließt: doppelte Saturnalien nach doppelter Gewaltherrschaft. Frankreich nimmt sowohl aus dem puritanischen Kloster Reißaus wie aus dem monarchischen, mit der Ausgelassenheit einer dem Kerker entsprungenen Nation. So wurde denn nach dem 9. Thermidor Paris lustig, hirnverbrannt lustig. Es strömte über von krankhafter Freude. Des Sterbens Raserei verwandelte sich in Raserei des Lebens, und die Größe erlosch. Nun erschien ein zweiter Trimalcio in der Person von Grimod de la Reynière; es erschien »der Almanach der Feinschmecker«. Man tafelte im ersten Stock des Palais-Royal unter schmetternden Fanfaren, mit einem Orchester von Weibern, welche in Trompeten bliesen und die Trommel rührten. »Der Rigaudinier« mit seinem Fidelbogen gelangte zur Herrschaft; es wurde bei Méot »orientalisch« soupirt zwischen dampfenden, duftenden Rauchpfännchen. Boze malte seine Töchter, reizende sechzehnjährige Köpfchen voller Unschuld, in »Guillotinentoilette«, das heißt in ausgeschnittenen rothen Hemden. Auf die wilden Tänze in den zerfallenen Kirchen folgten die Bälle bei Ruggieri, bei Luquet, bei Wenzel, bei Manduit, bei der Montausier; nach den strengen, Charpie zupfenden Bürgerinnen kamen die Sultaninnen, die Indianerinnen, die Nymphen, und nach den nackten, blutenden, schmutz- und staubbedeckten Füßen der Soldaten, die nackten, diamantengeschmückten Füßchen der Weiber; mit der Scham war auch die Rechtlichkeit abhanden gekommen; oben tauchten die Armeelieferanten und unten das kleine Raubgesindel auf; das Gewimmel von Spitzbuben überschwemmte Paris, und Jeder mußte seine Brieftasche hüten. Zum Zeitvertreib begab man sich jetzt vor den Justizpalast, um die ausgestellten Diebinnen zu betrachten; es mußten ihnen die Kleider festgebunden werden; am Ausgang der Theater boten einem die Straßenjungen einen Wagen mit dem Beisatz an: »Bürger und Bürgerin, es ist Raum darin für zwei;« man bot statt des »alten Cordelier« und des »Volksfreunds« den »Brief von Polichinell« feil und das »Gesuch der Laufburschen«. In der Bezirksversammlung Les Piques am Vendôme-Platz führte der Marquis von Sade den Vorsitz. Die Reaktion war possierlich und grausam zugleich; die »Dragoner der Freiheit« aus dem Jahre 92 waren als »Ritter vom Dolch« wieder auferstanden. Auf der Bühne herrschte die typische Figur von Joerisse, in der Gesellschaft die »Merveilleuses« und die noch abgeschmackteren »Inconcevables«; man sagte: »par ma parole victimée« und »par ma parole verte«; von Mirabeau war man zu dem Possenreißer Bobêche zurückgesunken.

Das ist das große Hin und Her und Auf und Ab von Paris, der riesenhafte Pendelschlag einer ganzen Kultur von dem einen Pol zum anderen, von Thermopylä nach Sodom und Gomorrha. Nach 93 bewegte sich die Revolution durch eine absonderliche Verfinsterung weiter; es war, als ob das Jahrhundert vergessen würde, zu vollenden, was es begonnen hatte; eine unbegreifliche Orgie lenkte es ab, und schob sich vor und verschleierte die zurückgedrängte, schreckenvoll großartige Vision und brach nach all dem Schauer in ein Hohngelächter aus. Die Tragödie verschwand im Satyrspiel und das Medusenhaupt sah am Horizont nur noch ganz verschwommen herüber durch den Dunst des Karnevals. Im Jahre 93 aber, zur Zeit, um die sich’s hier handelt, hatten die Straßen von Paris von dem wilderhabenen Charakter jener Periode noch nichts eingebüßt. Sie hatten ihre Redner, Barlet, der von seinem Karren herab zu der Menge sprach, ihre Helden, wie zum Beispiel den »Kapitän der beschlagenen Stöcke«, ihre Lieblinge, wie Goffroy, den Verfasser der Flugschrift »Rougiff«. Einige dieser Lieblinge übten auf das Volk einen schädlichen, andere wieder einen wohlthätigen Einfluß, keiner jedoch einen so verhängnißvollen wie in der Geradheit seines Herzens Einer unter ihnen: Cimourdain.

II.

Cimourdain.

Cimourdain war ein reines aber finsteres Gewissen; er war sich eines Einblicks in Ewiges bewußt. Früher hatte er dem geistlichen Stand angehört, eine Thatsache von vielbedeutender Tragweite. Bei Menschen ist, wie am Himmel, eine gewisse düstere Abklärung möglich, sowie sich nur die besondere Veranlassung dazu bietet. So war denn Cimourdain durch das Priesterthum verdüstert worden; das Priesterthum läßt sich nicht wieder ablegen. Aber eine Nacht, die sich in unser Gemüth senkt, kann Sterne mitbringen, und Cimourdain besaß der Tugenden und Herzenswahrheiten gar manche, die aus der Finsterniß seines Wesens leuchteten. Seine äußere Lebensgeschichte war überaus einfach: Erst war er Dorfkaplan und Erzieher in einem vornehmen Hause gewesen; dann hatte er eine kleine Erbschaft gemacht und in Folge dessen seine Freiheit wiedergewonnen. Hartnäckigkeit war der Grundzug seines Charakters. Er arbeitete mit seinen Gedanken, wie man mit einer Zange arbeitet, und hielt sich nur dann für berechtigt, von einem Begriff abzulassen, wenn er ihn erschöpft hatte; er war verbissen in seinem Reflektiren. Mit allen europäischen Sprachen und sogar noch mit einigen anderen bekannt, studirte er unablässig; es hatte ihm dies zwar die Erfüllung seines Keuschheitsgelübdes erleichtert, aber ein solches Zurückdrängen ist unter allen Umständen höchst gefährlich. War’s nun aus Stolz oder zufällig oder aus Seelenwürde gewesen, seine Berufspflichten hatte er nie verletzt, bis auf eine einzige; die Wissenschaft hatte seinen Glauben zerstört, seinen Dogmenglauben wenigstens. Als ihm das ganz in’s Bewußtsein getreten war, hatte er etwas empfunden wie eine Verstümmelung; da er nun doch einmal Priester sein mußte, hatte er seine Bemühungen dahin gerichtet, wieder einen Menschen aus sich zu machen, was ihm nur dem herben Sinne nach gelang. Da er weder Weib noch Kind haben durfte, machte er das Vaterland zu seinem Kind und die Menschheit zu seinem Weibe. Bei einer so ungeheuren Ausdehnung der Gefühlssphäre bleibt der Mittelpunkt eigentlich leer.

Cimourdain’s Vater, ein Bauer, hatte den Sohn Priester lassen werden, damit dieser aus dem Volk heraustrete, und nun war Cimourdain zum Volk zurückgekehrt, und mit schwärmerischer Leidenschaft, mit einer furchtbaren Zärtlichkeit für alles Leidende. Aus dem Priester war ein Philosoph und aus dem Philosoph ein Athlet geworden. Ludwig XVI. hatte noch den Thron nicht bestiegen, und schon neigte Cimourdain, wenn auch vorerst unklar, zur Republik aber zu welcher Republik? Zur Republik Plato’s vielleicht, vielleicht auch zu der eines Drako. Da ihm untersagt war, zu lieben, hatte er sich auf’s Hassen verlegt, und so haßte er nun die Unwahrheit, das Königthum, die Priesterherrschaft, sein eigenes Gewand, haßte die Gegenwart und rief mit lautem Schrei eine Zukunft herbei, die er vorempfand, die er herannahen sah mit seinem Ahnen als etwas Fürchterliches und Herrliches; er begriff, daß dem jammervollen menschlichen Elend nur ein Ziel gesetzt werden könne durch einen Rächer, der auch ein Wohlthäter sein müsse. Er vergötterte schon von ferne die Umwälzung.

Im Jahre 1789 trat sie in’s Dasein und fand ihn bereit. Er stürzte sich in diesen großen menschlichen Regenerationsprozeß mit Konsequenz, das heißt bei einem Mann von seinem Schlag so viel wie unerbittlich; die Logik kann durch nichts gerührt werden. Er durchlebte die großen Revolutionsjahre und jede Fiber in ihm war unter jedem Sturmhauch miterzittert; Anno 89 den Sturz der Bastille, das Ende der Völkermarter, Anno 90 den 4. August, das Ende des Feudalwesens, Anno 91 Varennes, das Ende des Königsthums, Anno 92 die Einsetzung der Republik. Er, der die Revolution hatte aufgehen sehen, war der Mann nicht, sich vor dieser Riesin zu fürchten; im Gegentheil, dieses allgemeine Wachsen hatte ihn belebt, und wiewohl er beinahe schon alt war, ein Fünfziger, – und ein Priester altert rascher als sonst ein Mensch, – so war er selber mitgewachsen. Von Jahr zu Jahr hatte er die Ereignisse steigen sehen und war mitgestiegen. Erst hatte er befürchtet, die Revolution möchte verunglücken; er verließ sie mit keinem Auge; sie hatte die Vernunft und das Recht auf ihrer Seite, und je mehr sie Furcht erweckte, desto mehr beruhigte er sich. Er wollte diese Minerva mit den Friedenssternen der Zukunft gekrönt, zugleich aber als Pallas mit dem Medusenschild bewehrt wissen; ihr göttliches Auge sollte im Nothfall den Dämonen dämonisch entgegenblitzen und Schreckniß durch Schreckniß zurückschrecken können.

Also fand ihn das Jahr 93. 93 ist der Kreuzzug Europa’s gegen Frankreich und Frankreichs gegen Paris, und die Revolution der Sieg Frankreichs über Europa und der Sieg von Paris über Frankreich; daher die Unermeßlichkeit dieser schaudervollsten Minute des Jahrhunderts. Was kann es Tragischeres geben als einen Welttheil, der auf ein Land, und ein Land, das auf eine Stadt losstürzt, so daß sich das Drama noch mit der wuchtigen Massenhaftigkeit des Epos abspielt? 93 ist ein gesteigertes Jahr, der Sturm in seiner vollsten Wuth und seiner größten Erhabenheit; Cimourdain war darin wohl um’s Herz; diese jagende, wild herrliche Atmosphäre behagte seinem Flügelschlag, denn der Mann verband, wie der Seeadler, eine tiefe innere Ruhe mit Verwegenheit nach außen; gewisse verschlossen ungestüme beschwingte Wesen suchen die Windsbraut, und es giebt thatsächlich Sturmseelen.

Cimourdain hatte ein abgesondertes, nur für die Elenden zusammengespartes Mitleid. Wo ihm diejenige Gattung von Schmerz entgegentrat, welche Andern Abscheu einflößt, da opferte er sich auf. Seine eigenthümliche Güte äußerte sich zunächst darin, daß ihm vor nichts ekelte. Seine Barmherzigkeit streifte an’s Scheußliche und war göttlich. Er konnte eiternde Wunden aufdecken, um sie zu küssen; die schönen Thaten, die auf unsere Sinne abschreckend wirken, fallen uns am schwersten, und für die hatte er eine Vorliebe. Im Hotel Dieu lag eines Tags ein Mann an einer Halsgeschwulst auf dem Tod, denn wenn das abscheuliche, verpestete, vielleicht auch ansteckende Geschwür nicht ausgesogen wurde, so mußte er daran ersticken; Cimourdain, der zugegen war, drückte den Mund an die Geschwulst und sog so lange, bis er den ganzen Inhalt des Geschwürs nach und nach ausgespuckt hatte und der Kranke gerettet war. Da er damals noch in geistlicher Tracht ging, sagte Jemand zu ihm: Wenn Sie dem König das gethan hätten, würde er Sie zum Bischof machen. Für den König thät ich es nicht, antwortete Cimourdain. Jene Handlung und jene Antwort hatten den Grund gelegt zu seiner Beliebtheit in den düstern Stadttheilen von Paris. Ueber Alles, was litt und weinte und drohte, übte er eine unumschränkte Herrschaft aus. Zur Zeit der heftigen, zu oft nur fehlgreifenden Erbitterung gegen die wuchernden Aufkäufer genügte ein Wort von Cimourdain, um eines Tages am Quai Saint-Nicolas ein Schiff mit einer Seifenladung vor Plünderung zu bewahren und ein andermal der tobenden Menge Halt zu gebieten, die an der Linie Saint-Lazare die Wagen anfiel. Er war es auch, welcher das Volk anführte, als am zweiten Tag nach dem 10. August die Statuen der Könige niedergeworfen wurden. Sie fielen nicht, ohne Unheil anzurichten. Auf dem Vendôme-Platz wurde ein Weib Namens Reine Vialet von Ludwig XIV. erdrückt, während sie an dem Seil zog, das ihm um den Hals geschlungen worden war. Jene Statue Ludwigs XIV. hatte hundert Jahre gestanden, genau vom 12. August 1692 bis 12. August 1792. Auf dem Concordienplatz wurde ein gewisser Guinguerlot, der die Fürstenbilderstürmer Kanaillen geschimpft hatte, auf dem Piedestal Ludwigs XV. todtgeschlagen. Die Statue hieb man in Trümmer, aus denen später Sousstücke geprägt wurden. Nur ein Arm entging der Zerstörung, der rechte, den Ludwig XV. mit der Geberde eines römischen Imperators ausstreckte, und auf Cimourdain’s Antrag wurde dieser Arm dem alten Latude, der siebenunddreißig Jahre in der Bastille begraben gewesen, vom Volk geschenkt und durch eine Deputation überbracht. Als dieser Mann noch auf Befehl jenes Königs, dessen Statue über ganz Paris ragte, mit einem eisernen Ring am Hals und einer Kette um den Leib in seinem Kerker lebendig dahinmoderte, wer hätte damals gedacht, der Kerker werde fallen, die Statue fallen, Latude aus der Gruft erstehen und die Monarchie statt seiner hinuntersteigen, der Gefangene Herr werden über die Hand, die seinen Haftbrief unterschrieben, und nur ein erzener Arm übrig bleiben von jenem König der Schmach.

Cimourdain war einer jener Menschen, die eine innere Stimme in sich hören und ihr lauschen; solche Menschen sind scheinbar zerstreut, gerade weil sie aufmerken. Cimourdain wußte Alles und nichts: Alles auf dem Gebiet der Gelehrsamkeit und nichts vom praktischen Leben. Daher seine nachsichtslose Starrheit. Er hatte ein Band vor den Augen wie die homerische Themis. In ihm lag die blinde Sicherheit des Pfeils, der nur sein Ziel kennt und hinstrebt. In Revolutionszeiten ist die gerade Linie das Schrecklichste. Cimourdain schritt voran wie ein Verhängniß. Er war der Meinung, daß bei jeder sozialen Wiedergeburt das feste Land erst vom äußersten Punkt ausgeht, ein Irrthum, in den alle diejenigen Geister verfallen, welche den Verstand durch die bloße Logik ersetzen. Er ging weiter als der Konvent; weiter als der Stadtrath: er ging mit dem Evêché.

Die Volksversammlung, welche diesen Namen führte, weil sie in einem Saal des alten bischöflichen Palais ihre Sitzungen hielt, war mehr eine Verwickelung als eine Versammlung von Menschen. Hier fanden sich, wie bei den Sitzungen des Stadtraths, als stumm bedeutsame Zuschauer Leute ein, bei denen, wie Garat sich ausdrückt, »so viel Terzerolen wie Rocktaschen vorhanden waren«. Das Evêché war ein ganz eigenthümliches Durcheinander mit kosmopolitisch-pariserischer Färbung; das letztere schließt das erste nicht aus, da in Paris das Herz der Völker schlägt; das Evêché war der große plebejische Gluthherd. Mit ihm verglichen, erschien der Konvent kühl und der Stadtrath lau. Er war eine jener revolutionären Erscheinungen, welche mit den vulkanischen Bildungen identisch sind. Im Evêché war Alles vertreten: die Unwissenheit, die Dummheit, die Redlichkeit, die Aufopferung, der Ingrimm und die Polizei; der Herzog von Braunschweig hielt Agenten dort; dort saßen Leute, die nach Sparta und Leute, die in’s Zuchthaus gehört hätten. Die Mehrzahl war hirnverbrannt und rechtschaffen. Der Gironde war durch den Mund von Isnard, dem zeitweiligen Präsidenten des Konvents, ein unmenschliches Wort entschlüpft: »Nehmt euch in Acht, ihr Pariser. Von eurer Stadt wird kein Stein auf dem anderen bleiben, und man wird eines Tages die Stelle suchen müssen, wo einst Paris gestanden.« – Dieses Wort hatte das Evêché in’s Leben gerufen. Viele Männer und, wie gesagt, Männer aller Nationen, hatten das Bedürfniß empfunden, sich um Paris zusammen zu schaaren, und Cimourdain war jener Gruppe beigetreten. Sie reagirte gegen die Reaktion, sie war die Ausgeburt eines allgemeinen Verlangens nach Gewaltthätigkeit, welches den Revolutionen ihre unheimliche und geheimnißvolle Seite giebt. Kraft dieser Kraft hatte das Evêché sofort ein spezielles Eingreifen für sich in Anspruch genommen. Bei jedem politischen Erdbeben war es der Stadtrath, welcher die Lärmkanone abfeuerte; das Evêché besorgte das Sturmgeläut.

Cimourdain glaubte in der unversöhnlichen Einfalt seines Herzens, daß dem Wahren nur das Redliche huldigen könne, und deshalb eignete er sich zur Beherrschung der extremen Parteien. Die Schufte fühlten mit Befriedigung die Ehrlichkeit aus ihm heraus, denn dem Verbrechen schmeichelt es, unter dem Vorsitz einer Tugend zu sündigen; bequem ist ihm das freilich nicht, aber es gefällt ihm sehr. Alle wurden sie durch Cimourdain in Respekt gehalten, Palloy, jener Architekt, welcher den Abbruch der Bastille für sich ausgebeutet, indem er die Steine auf eigene Rechnung verkaufte, und welcher am Kerker Ludwigs XVI., den er in Stand zu setzen beauftragt worden war, aus lauter Eifer eine Menge Gitter, Ketten und Halseisen angebracht hatte, und Gouchon, der zweideutige Volksredner der Vorstadt Saint-Antoine, von dem später Quittungen zum Vorschein kamen, und Fournier, der Amerikaner, der am 17. Juli, wie behauptet wurde, im Solde Lafayette’s, auf diesen ein Pistol abgeschossen hatte, und Henriot, der aus Bicêtre kam und Bedienter, Gaukler, Dieb und Spion gewesen war, bevor er als General seine Kanonen gegen den Konvent auffahren ließ, und La Reynie, der frühere Großvikar von Chartres, der sein Brevier mit dem »Père-Duchesne« umgetauscht hatte; die Schlimmsten der Schlimmsten brauchten sich nur unter dem Blick von Cimourdain’s furchtbar überzeugter Treuherzigkeit zu wissen, um bei besondern Gelegenheiten nicht zu straucheln. In ähnlicher Weise zitterte Eulogius Schneider vor Saint-Just. Die Majorität des Evêché, welche größtenteils aus armen und gewaltthätigen, dabei aber das Gute anstrebenden Leuten bestand, glaubte ohnehin an Cimourdain und war ihm ganz ergeben. Als Vikar oder als Adjutant, wie man es eben nennen will, stand ihm ein anderer republikanischer Geistlicher, Darzon, zur Seite, den das Volk schon um seiner hohen Gestalt willen gern sah und den »Sechs Fuß-Abbé« getauft hatte. Jener unerschrockene Straßenkämpfer, den man den »Piken-General« nannte, und jener kühne Truchon, auch »Grand-Nicolas« geheißen, der die Prinzessin von Lamballe an seinem Arm über die Leichen hinweggeführt hätte, um sie zu retten, was auch ohne den grausamen Witz des Barbiers Charlot gelungen wäre – sie Beide wären für Cimourdain durch das Feuer gegangen.

Wie der Stadtrath ein wachsames Auge auf den Konvent hatte, so hatte wiederum das Evêché ein wachsames Auge auf den Stadtrath, und Cimourdain, dessen geraden Sinn jedes versteckte Spiel anwiderte, hatte Pache, den Beurnonville nur den »schwarzen Mann« hieß, schon manchen Faden zwischen den Fingern zerrissen. Er verkehrte im Evêché mit Jedermann in unmittelbarster Weise; von Dobsont und von Momoro zu Rath gezogen, sprach er spanisch mit Gusman, italienisch mit Pio, mit Arthur englisch, mit Pereyra flämisch und mit dem fürstlichen Bastarden Proly aus Oesterreich deutsch. Alle diese Dissonanzen wußte er in Einklang zu bringen, was ihm denn eine dunkle Macht verlieh, vor welcher ein Hébert sich fürchtete. Er übte in jenen tragischen Zeiten und Gruppirungen die Gewalt des Unerschütterlichen aus. Diesen Reinen, der sich unfehlbar dünkte, hatte noch keiner weinen sehen. Seine unantastbar eisige Tugend machte ihn zu einem furchtverbreitenden Gerechten.

Für den Priester gab es in der Revolution keinen Mittelweg; er konnte nur aus den niedrigsten oder aus den erhabensten Motiven in diesem gigantischen, flammenden Abenteuer aufgehen; entweder mußte er die Nichtswürdigkeit oder die Seelengröße selber sein. Cimourdain war die Seelengröße, aber die Seelengröße in der Abgeschiedenheit, auf dem steilen, unwirthlich starrenden Gipfel, mitten unter Abgründen; den hohen Bergen ist solch düstere Jungfräulichkeit eigen.

Cimourdain’s Aussehen war ein ganz gewöhnliches; er kleidete sich ärmlich und ohne einen Gedanken daran zu verlieren. In jungen Jahren trug er die Tonsur und jetzt eine Glatze und spärliches graues Haar um eine breite Stirn, an der man bei näherer Betrachtung ein kleines Muttermal bemerkte. Seine Sprechweise war rauh, leidenschaftlich und feierlich, seine Stimme kurzathmig und im Ton schneidig; er hatte einen traurigen, verbitterten Mund, ein klares tiefes Auge und im Ausdruck des Gesichts etwas Entrüstetes.

Das war Cimourdain. Heute ist sein Name verschollen gleich dem so manches anderen furchtbaren Unbekannten der Weltgeschichte.

III.

Die Achillesferse.

War ein solcher Mann denn auch Mensch? War der Diener der Menschheitsidee einer Neigung fähig, und war er nicht zu viel Seele, um dabei noch ein Herz zu haben? Konnte dieses endlose Umfangen Alles und Aller sich einem Einzelnen zuwenden, und konnte Cimourdain persönlich lieben?

Gerade herausgesagt, ja.

In seiner Jugend, da er in einer fast fürstlichen Familie als Erzieher lebte, hatte er einen Schüler gehabt, den Sohn und Erben des Hauses, und den liebte er. Ein Kind lieb haben, ist ja so leicht, und was verzeiht man nicht Alles einem Kind? Man verzeiht ihm den Grafen, den Fürsten, den König. Vor dieser jungen Unschuld verschwinden die Verbrechen der Ahnen, und die Kluft zwischen den Ständen schließt sich vor der Hülflofigkeit eines Gefchöpfes, dem man seine Größe um seiner Kleinheit willen vergeben muß. Selbst der Sklave vergiebt ihm, daß er der Herr ist, und der alte Neger thut närrisch mit dem kleinen weißen Wurm. Cimourdain hatte zu seinem Schüler eine leidenschaftliche Zuneigung gefaßt. Die Kindheit hat den unaussprechlichen Reiz, daß sich die Liebe in den verschiedensten Formen an ihr durchempfinden läßt. Alles was sein zur Einsamkeit verdammtes Herz an Zärtlichkeit besaß, war auf dieses süße und unschuldvolle Kind wie auf eine Beute niedergeschossen. Er hing an ihm mit der Zärtlichkeit eines Vaters, eines Bruders, eines Freundes, eines Schöpfers, mit allen weichen Regungen seiner Seele zugleich; es war ihm ein Sohn, wenn auch nicht dem Blut nach, so doch im geistigen Sinn; es war sein Werk nicht, und doch, von ihm großgezogen, sein Meisterwerk. Aus diesem kleinen Vikomte hatte er einen Menschen, vielleicht einen großen Mann gemacht; wer weiß? Wir erträumen uns ja zuweilen eine Zukunft. Ohne Vorwissen der Familie – braucht man sich denn erst die Erlaubniß einzuholen, um ein gerades Denken und Wollen heranzubilden? – hatte er dem Zögling die Ergebnisse seines eigenen inneren Vorschreitens beigebracht, hatte ihm seine eigene gewaltige Tugend eingeimpft, seine Ueberzeugung,, sein tiefstes Bewußtsein, sein Ideal in’s Blut hinübergeleitet, hatte des Volkes Seele ausgegossen in dieses Aristokratenhirn. Der Geist ist auch eine Nahrung; dem leitenden Verstand entfließt etwas wie Muttermilch, und der Lehrer, der sein Denken hergiebt, hat etwas von der Amme, die dem Säugling die Brust reicht; wie zuweilen die Amme einem Kind mehr Mutter sein kann als die Mutter, so kann ihm auch ein Vater weniger Vater sein als der Lehrer, der es erzieht. So groß war die geistige Vaterschaft, die Cimourdain an seinen Zögling knüpfte, daß ihn der bloße Anblick des Kindes schon rührte.

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Er hing an ihm mit der Zärtlichkeit des Vaters.

Hier kam übrigens noch Eins in Betracht: Bei diesem Kinde die Stelle des Vaters anzunehmen, war ein Leichtes, denn es hatte keinen, auch keine Mutter mehr; es war verwaist und hatte Niemand auf der Welt als eine blinde Großmutter und einen fernwohnenden Großonkel. Die Großmutter starb, und das Familienoberhaupt, der Onkel, ein ehrgeiziger Offizier, der auch eine Hofcharge bekleidete, mied das alte einsame Stammschloß und lebte theils in Versailles, theils im Lager, so daß das Kind seinem Erzieher im vollsten Sinne des Wortes überlassen blieb. Und noch ein zweites trat hinzu: Cimourdain hatte es beinahe zur Welt kommen sehen; als es noch ganz klein war, hatte es eine lebensgefährliche Krankheit durchgemacht, und Cimourdain hatte ihm Tag und Nacht abgewartet; der Arzt behandelt den Kranken blos, retten muß ihn die Pflege, und Cimourdain hatte das Kind gerettet; also verdankte ihm der Knabe nicht allein seine Erziehung, seine Ausbildung, sein gründliches Wissen, er verdankte ihm auch noch Genesung und Gesundheit, außer der geistigen Reife überhaupt das Dasein. Die uns alles verdanken, die vergöttern wir, und so vergötterte denn Cimourdain das Kind.

Aber dennoch mußte die naturgemäße Trennung eines Tages stattfinden und Cimourdain nach vollendeter Aufgabe den zum Jüngling herangereiften Knaben verlassen. Und wie kühl, ruhig und ahnungslos grausam reißen die Familien den Lehrer vom Kinde, dem er sein Denken, und die Amme vom Kinde, dem sie ihr Blut gegeben hat! Als Cimourdain bezahlt und vor die Thüre gesetzt worden war, stieg er aus den höheren Regionen wieder in die heimischen zurück; die Scheidewand zwischen Groß und Klein war ja wieder vorgeschoben. Der junge Vikomte, der als geborener Offizier sofort ein Hauptmannspatent erhielt, war in irgend eine Garnison abgereist. Der unscheinbare Lehrer, schon damals im Stillen zerfallen mit der Dogmatik, war schnell wieder in jenen dunkeln Parterreraum der Kirche geschlüpft, den man niederen Klerus nennt, und hatte seinen Schüler aus den Augen verloren.

Nun war die Revolution ausgebrochen, aber die Erinnerung an jenes Wesen, aus dem er einen Menschen gemacht hatte, glomm weiter in seinem Herzen, von der Wucht der Ereignisse zwar gedeckt, allein keineswegs erstickt. Eine Statue zum Leben heranmeißeln, ist schön; eine Seele zur Erkenntniß heranbilden noch schöner. Cimourdain war der Pygmalion einer Seele. Der Geist kann sich Kinder zeugen.

Zweites Buch.

Die Schenke der Rue du Paon.

I.

Minus, Rekus und Rhadamantus.

In der Rue du Paon war eine Schenke, die man ein Kaffeehaus nannte. Dieses nunmehr historisch gewordene Kaffeehaus hatte ein Hinterstübchen, wo zuweilen heimlich Männer zusammentraten, welche so mächtig und doch wieder so überwacht waren, daß sie sich scheuten, öffentlich mit einander zu sprechen. Hier war am 23. Oktober 1792 zwischen der Montagne und der Gironde ein berühmter Versöhnungskuß gewechselt worden. Hierher war Garat, wenn er es gleich in seinen Memoiren nicht Wort haben will, auf Kundschaft ausgegangen in jener Schreckensnacht, wo er seinen Wagen am Pont-Neuf halten ließ, um auf das Sturmgeläut zu horchen, nachdem er Clavière in Sicherheit gebracht hatte nach der Rue de Beaune.

Am 28. Juni 1793 saßen in diesem Hinterstübchen drei Männer um einen viereckigen Tisch. Ihre Stühle berührten einander nicht; jeder nahm eine Seite des Tisches ein, so daß die vierte leer stand. Es war ungefähr Abends acht Uhr. Draußen auf der Straße sah man noch hell, im Hinterstübchen aber hatte die Zuglampe bereits angezündet werden müssen, welche – damals ein Luxusgegenstand – über dem Tisch von der Decke herabhing.

Der eine dieser drei Männer war bleich, jung, ernsthaft, hatte dünne Lippen, einen kalten Blick und in der Wange ein nervöses Jucken, das ihm das Lächeln jedenfalls erschwerte. Er war gepudert, gebürstet, zugeknöpft und hatte Handschuhe an; sein hellblauer Rock warf auch nicht ein Fältchen. Er trug ein Nankinbeinkleid, weiße Strümpfe, eine hohe Halsbinde, einen gekräuselten Jabot, silberne Schnallen an den Schuhen. Von den beiden anderen war einer fast ein Riese und der andere fast ein Zwerg. Der große, ganz verwahrlost in seinem weiten scharlachrothen Rock, hatte einen bloßen Hals, denn die Binde war so lose, daß sie über den Jabot herunterhing, eine aufgeknöpfte Weste, an der ein paar Knöpfe fehlten, Stulpstiefel, borstig gesträubtes Haar, dem man noch ansehen konnte, daß es geglättet und frisirt gewesen war, ein Haar, das viel von einer Mähne hatte. Das Gesicht war voller Blatternarben; zwischen den Augenbrauen stand eine Zornfalte, aber um die Mundwinkel lag ein Zug von Gutmütigkeit; dicke Lippen, große Zähne, die Faust eines Hausknechts und im Blick ein Leuchten. Der kleine mit dem gelben Teint schien, wie er jetzt da saß, verwachsen; sein Kopf war zurückgeworfen, sein Auge mit Blut unterlaufen, seine Haut voll von grünlichen Flecken; über dem fetten, steifhängenden Haar trug er ein ungebundenes Tuch; er hatte keine Stirn und einen ungeheuren, schrecklichen Mund. Strumpfhosen und Pantoffeln hatte er an, eine Weste von Atlas, der einmal weiß gewesen zu sein schien, und über der Weste einen Kittel, in dessen Falten eine harte gerade Linie einen Dolch vermuthen ließ. Der erste dieser Männer hieß Robespierre, der zweite Danton, der dritte Marat.

Sonst war Niemand zugegen. Vor Danton stand ein Weinglas neben einer staubigen Flasche, die an Doktor Luthers Humpen erinnern mochte, vor Marat eine Tasse Kaffee, vor Robespierre lagen Papiere. Ferner befand sich noch auf dem Tisch, außer der großen Karte von Frankreich, die in der Mitte ausgebreitet lag, eines jener runden, gerippten, schwerfälligen Tintenfässer aus Blei, die wohl noch Jeder kennt, welcher zu Anfang unseres Jahrhunderts in die Schule ging; daneben eine hingeworfene Feder, und auf den Papieren ein großes kupfernes Petschaft, das ein genaues kleines Modell der Bastille vorstellte und die Inschrift »Palloy fecit« trug.

Draußen vor der Thür wachte der Haushund Marat’s, Laurent Basse, jener Laufbursche des Hauses Nummer 18 in der Cordeliers-Straße, derselbe, welcher ungefähr vierzehn Tage später, den 13. Juli, einen Stuhl einem Weib an den Kopf schlug, das Charlotte Corday hieß und zur Stunde in Caen vor sich hinbrütete. Laurent Basse trug die Korrekturbogen des »Volksfreunds« aus und hatte von seinem Herrn, der ihn in die Rue du Paon mitgenommen, die Weisung erhalten, das Zimmer, in dem sich Marat mit Danton und Robespierre befand, zu hüten und Jedem den Eintritt zu wehren, welcher nicht zum Wohlfahrtsausschuß, zum Stadtrath oder zum Evêché gehörte. Robespierre wollte Saint-Just nicht, Danton nicht Pache und Marat Gusman nicht ausschließen.

Die Unterredung dauerte schon lange; sie hatte die Papiere zum Gegenstand, welche vor Robespierre lagen und von ihm vorgelesen worden waren. Es war zu einem Wortwechsel gekommen; zwischen den drei Männern grollte etwas hin und her wie Zorn, und nach außen tönte zuweilen ein lauterer Ausbruch der Stimmen herüber. Damals pflegte man so häufig allen möglichen Sitzungen beizuwohnen, daß man jedes Zuhören als ein Recht zu betrachten schien. Es war die Zeit, wo der Abschreiber Fabricius Pâris die Debatten des Wohlfahrtsausschusses durch das Schlüsselloch belauschte, was, nebenbei gesagt, insofern nicht unnütz war, als jener Pâris in der Nacht vom 30. auf den 31. März 1794 Danton noch verwarnen konnte. So hatte denn auch Laurent Basse sein Ohr an die Thür gedrückt, hinter welcher Danton, Marat und Robespierre verhandelten. Laurent Basse war in Marat’s Diensten, gehörte aber zum Evêché.

II.

Magna testantur voce per umbras.

0111

Danton war aufgestanden und hatte lebhaft den Stuhl gerückt.

– Ich aber, rief er, sage, daß gegenwärtig nur dies Eine drängt, die Gefahr der Republik. Für mich giebt’s nur dies Eine, Frankreich vom Feind befreien, und dafür sind alle Mittel gut, alle, alle, alle! Wenn ich’s mit jeder Gefahr aufnehmen muß, schöpfe ich aus jeder Hilfsquelle, und wenn ich Alles befürchte, schlage ich Allem in’s Gesicht. Man muß Löwengedanken haben. Nur keine Halbheiten, kein prüdes um den Brei Gehen. Die Nemesis thut nicht zimperlich. Seien wir entsetzlich und nutzbringend. Schaut der Elephant erst, wo er den Fuß hinsetzt? Zermalmen wir den Feind!

– Von Herzen gern, erwiderte Robespierre mit Gelassenheit, und setzte dann hinzu: Nur handelt sich’s darum, zu wissen, wo der Feind ist?

– Draußen ist er, sagte Danton, und ich habe ihn hinausgeworfen.

– Drinnen ist er, entgegnete Robespierre, und ich überwache ihn.

– Und ich werde ihn abermals hinauswerfen, fuhr Danton fort.

– Den innern Feind wirft man nicht hinaus.

– Was dann?

– Man vernichtet ihn.

– Mir schon recht, sagte Danton, und begann dann von Neuem: Aber ich sage Ihnen, Robespierre, draußen ist er.

– Und Ihnen sage ich, Danton, daß er drinnen ist.

– An der Grenze, Robespierre.

– Nein, in der Vendée

– Ruhe! fiel eine dritte Stimme ein, er ist überall, und Ihr seid verloren, sprach Marat. Robespierre schaute ihn an und erwiderte kühl:

– Sehen wir vom Allgemeinen ab. Ich fasse mich also bestimmt. Die Thatsachen sind folgende:

– Pedant! murrte Marat. Robespierre legte die Hand auf seine Papiere und fuhr fort: Die Depeschen von Prieur Marne habe ich Euch vorgelesen. Ich habe Ihnen die Mittheilungen jenes Gélambre soeben zur Kenntniß gebracht. Danton, glauben Sie mir: der Krieg mit dem Ausland ist nichts; der Bürgerkrieg Alles. Der Krieg mit dem Ausland ritzt uns blos am Ellenbogen; der Bürgerkrieg frißt uns wie ein Geschwür an der Leber. Aus Allem, was ich Euch vorlas, erhellt aber Folgendes: Die Streitkräfte der Vendée, bis jetzt unter verschiedene Führer zersplittert, stehen im Begriff, sich zu verschmelzen; sie werden fortan einem einzigen Befehlshaber gehorchen.

– Einem Zentralmordbrenner, murmelte Danton.

Robespierre fuhr fort: Es ist dies jener Mann, der am 2. Juni bei Pontorson landete. Wer er ist, wissen Sie. Bemerken Sie ferner wohl, daß damit die Verhaftung unserer beiden Kommissäre Prieur Côte-d’Or und Romme zusammenfällt, die an eben demselben 2. Juni seitens jenes verrätherischen Bezirks des Calvados zu Bayeux stattfand.

– Sie sind in’s Schloß von Caen abgeführt, sagte Danton.

Robespierre begann wieder: Ich fasse die Depeschen nun weiter zusammen: Der Krieg im Busch wird in großem Maßstab organisirt und gleichzeitig eine englische Expedition vorbereitet; Vendéer und Engländer heißt Bretagne mit Bretagne, denn die Kaffern im Finistère reden die Sprache der Hottentotten von Wales. Ich habe Ihnen einen aufgefangenen Brief von Puisaye vorgelegt, worin geäußert wird, »daß zwanzigtausend rothe Röcke, unter den Aufständischen vertheilt, hunderttausend Bauern auf die Beine bringen werden.« Ist die Bauernempörung einmal so weit gediehen, dann geht die Landung der Engländer vor sich. Ihr Plan – folgen Sie mir nur auf der Karte – ist der:

Und Robespierre begleitete seine Auseinandersetzung mit dem Finger:

– Den Engländern steht die Wahl des Landungsplatzes frei von Cancale bis Paimpol. Craig stimmt für die Bucht von Saint-Brieuc, Cornwallis für die von Saint Cast. Doch das ist Nebensache. Das linke Loire-Ufer ist durch die Vendéer Rebellen gedeckt, und was die freien achtundzwanzig Meilen zwischen Ancenis und Pontorson betrifft, so haben vierzig Gemeinden der Normandie ihre Hülfe in Aussicht gestellt. Der Einfall wird von drei Punkten ausgehen, von Plérin, Iffinac und Pléneuf; von Plérin gegen Saint-Brieuc und von Pléneuf gegen Lamballe; Tags darauf wird auf Dinan marschirt, wo sich neunhundert gefangene Engländer befinden, und gleichzeitig Saint-Jouan und Saint-Méen besetzt, wo eine Abtheilung Kavallerie zurückgelassen wird; am dritten Tage rückt eine Kolonne von Jouan nach Bédée und eine andere von Dinan nach Becherel, einer natürlichen Festung, wo zwei Batterien aufgestellt werden sollen; am vierten Tag Einzug in Rennes. Rennes ist der Schlüssel der Bretagne. Wer in Rennes ist, ist überall; mit Rennes fallen Châteauneuf und Saint-Malo. In Rennes haben wir eine Million Patronen und fünfzig Feldgeschütze….

– Die flöten gehen würden, murmelte Danton dazwischen.

– Ich schließe, sagte Robespierre. Von Rennes aus werfen sich drei Kolonnen auf Fougères, auf Vitré und auf Redon. Da die Brücken zerstört sind, wird sich der Feind, wie wir bereits in Erfahrung gebracht, mit Pontons und Bohlen versehen und außerdem noch die Furten für die Kavallerie durch Führer ausmitteln. Von Fougères aus wird dann Avranche, von Redon Ancenis, von Vitré Laval bedroht. Nantes wird sich, Brest wird sich ergeben. Redon beherrscht den Lauf der Vilaine, Fougères die Straße nach der Normandie, Vitré die Straße nach Paris. In vierzehn Tagen wird eine Armee von dreimalhunderttausend Briganten dastehen, und die ganze Bretagne wird dem König von Frankreich gehören.

– Dem König von England, meinte Danton.

– Nein, von Frankreich, erwiderte Robespierre. Der König von Frankreich ist schlimmer. Um die Fremden zu verjagen, genügen vierzehn Tage, aber kaum achtzehnhundert Jahre, um die Monarchie auszustoßen.

Danton, der sich wieder gesetzt hatte, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf nachdenklich auf beide Hände.

– Die Gefahr springt in die Augen, sagte Robespierre. Vitré öffnet den Engländern den Weg nach Paris.

Danton erhob die Stirn und ließ seine zwei großen geballten Fäuste auf die Landkarte fallen wie auf einen Amboß: Robespierre, öffnete Verdun den Preußen nicht auch den Weg nach Paris?

– Je nun?

– Je nun, man wird die Engländer hinauswerfen, wie man die Preußen hinausgeworfen hat.

Und Danton stand wieder auf.

Robespierre legte seine kalte Hand auf Danton’s fiebernde Faust: Danton, die Champagne hielt nicht zu den Preußen, aber die Bretagne hält zu den Engländern. Verdun zurücknehmen, ist nur Krieg mit dem Ausland; Vitré zurücknehmen, ist Bürgerkrieg. Und nachdem er mit kalter, tiefer Stimme noch dazu gemurmelt hatte: Ein gründlicher Unterschied, sagte er: Setzen Sie sich wieder hin, Danton, und schauen Sie die Karte an, statt mit Fäusten daraufzuschlagen.

Danton aber war ganz in seine Auffassung vertieft.

– Das ist denn doch stark, rief er, die Katastrophe im Westen zu sehen, wenn sie von Osten herkommt! Ich will Ihnen zugeben, Robespierre, daß im Westen England zum Hieb ausholt, aber Italien holt aus hinter den Alpen, aber Deutschland holt aus hinter dem Rhein, und hinterdrein kommt der große russische Bär. Die Gefahr, Robespierre, ist ein Kreis, und wir stehen mitten drin. Außen die Koalition, innen der Verrath. Im Süden läßt Servant den König von Spanien zur halbgeöffneten Thür herein. Im Norden geht Dumouriez zum Feind über; er hatte übrigens von jeher weniger Holland bedroht als Paris; vor Meerwinden verblaßt Valmy und Jemappes. Der Philosoph Rabaut Saint-Etienne, falsch wie alles Protestantische, korrespondirt mit Montesquiou, dem Hofschranzen. Die Armee ist zusammengeschmolzen; wir haben kein Bataillon von über vierhundert Mann mehr, das tapfere Regiment Zweibrücken ist nur noch hundertundfünfzig Mann stark; in Givet bleiben uns kaum fünfhundert Säcke Mehl; wir ziehen uns auf Landau zurück; Wurmser ist Kleber auf den Fersen; Mainz fällt mit Ruhm, Condé mit Schmach und Valenciennes desgleichen, was übrigens nicht hindert, daß in Valenciennes Chancel und der alte Féraud in Condé zwei Helden sind so gut wie Meunier, der Mainz vertheidigt hat; aber die anderen sammt und sonders verrathen uns; uns verräth Dharville in Aachen, verräth Mouton in Brüssel, verräth Valence in Breda, verräth Neuilly in Limburg, verräth Miranda in Mastricht; Stengel ein Verräther, Lanone Verräther, Ligonnier Verräther, Menou Verräther, Dillon Verräther, sie Alle der eine Dumouriez in abscheulicher Scheidemünze. Es muß durch Beispiele gewirkt werden. Die Rückmärsche von Custine sind mir verdächtig; ich habe den Argwohn, daß Custine die einträgliche Wegnahme von Frankfurt der zweckdienlichen Einnahme von Coblenz vorzieht. Frankfurt kann vier Millionen Kriegskontribution zahlen – zugegeben; aber was wiegt das im Vergleich zur Zerstörung der Emigrantenhöhle? Verrath, auf dem Wort bestehe ich. Meunier ist am 13. Juni gestorben. Kleber bleibt nunmehr allein. Unterdessen wächst der Braunschweiger an und dringt vor. Er pflanzt in allen französischen Plätzen, die er einnimmt, deutsche Fahnen auf. Der Markgraf von Brandenburg ist zur Stunde der Schiedsrichter in Europa; er steckt unsere Provinzen in die Tasche; er wird sich Belgien zuschlagen, denken Sie nur an mich; man könnte wirklich glauben, daß wir Berlin in die Hände arbeiten; wenn das so fortgeht und wir nicht rechtzeitig Ordnung schaffen, wird die französische Revolution für Potsdam gemacht worden sein; sie wird keinen anderen Nutzen gehabt haben, als den kleinen Staat Friedrich’s II. zu vergrößern, und wir haben dann den König von Frankreich umgebracht, ganz wie wir Franzosen sagen, »pour le roi de Prusse«.

Bei diesen Worten brach Danton in ein erschreckendes Lachen aus. Danton’s Lachen entlockte Marat ein Lächeln:

– Jeder von Euch reitet sein Steckenpferdchen; das Ihrige, Danton, heißt Preußen und das Ihre, Robespierre, heißt Vendée. Auch ich will mich bestimmt fassen. Die wirkliche Gefahr seht ihr nicht; nun denn, sie liegt in den Cafés und Kneipen. Das Café Choiseul steckt voller Jakobiner, das Café Patin voller Royalisten; das Café du Rendez-Vous greift die Nationalgarde an; das Café Porte-Saint-Martin nimmt sie in Schutz; das Café de la Régence ist gegen Brissot, das Café Corazza für; das Café Procope schwört nicht höher als Diderot, das Café du Theátre-François nicht höher als Voltaire; in der Rotunde werden die Assignate zerrissen; die Cafés Saint-Marceau kennen sich nicht vor Zorn; im Café Manouré streitet man sich um die Mehlfrage; im Cafe von Foy wird randalirt, am Perron surren die Schacherwespen. Darin liegt eine ernste Gefahr.

Danton lächelte nicht mehr, aber Marat lächelte noch immer. Der Zwerg überlächelte das Lachen des Riesen.

– Haben Sie uns zum Besten, Marat? grollte Danton.

Marat bekam sein allbekanntes konvulsivisches Zucken der Hüfte. Sein Lächeln war geschwunden:

– So, da wären Sie glücklich wieder der Alte, Bürger Danton. Sie waren es ja doch, der mich vor dem ganzen Konvent »das Individuum Marat« genannt hat. Wissen Sie was? Ich will es Ihnen verzeihen. Wir beißen uns durch eine alberne Uebergangszeit. Also hätte ich Sie zum Besten? Ach ja, was bin ich denn auch? Ich habe Chazot entlarvt, habe Pétion entlarvt, Kersaint entlarvt, Dufriche-Balazé entlarvt, Ligonnier entlarvt, Menou entlarvt, Bonneville entlarvt, Gensonné entlarvt, Biron entlarvt, Lidon und Chambon entlarvt; that ich etwa nicht recht? Ich wittere den Verrath aus dem Verräther heraus und halte es für zweckmäßig, den Verbrecher vor der Ausführung anzuklagen. Ich pflege Tags zuvor das zu sagen, was Tags darauf Ihr sagt. Ich bin’s, welcher der Nationalversammlung den vollständigen Plan zu einer Kriminalgesetzgebung vorschlug. Und was that ich bis jetzt? Ich habe Lehrmittel verlangt für die Wahlbezirke, damit sie für die Revolution geschult werden mögen. Ich habe die Siegel abnehmen lassen von den zweiunddreißig Schachteln; ich habe die bei Roland deponirten Diamanten zurückbegehrt; ich habe nachgewiesen, daß die Brissotins dem Sicherheitsausschuß unausgefüllte Haftbefehle gegeben hatten; ich habe die Lücken bezeichnet im Bericht von Linden über Capet’s Unthaten; ich habe dafür gestimmt, daß der Tyrann binnen vierundzwanzig Stunden hingerichtet werde; ich habe die Bataillone le Mauconseil und le Republicain vertheidigt; ich habe die Verlesung des Briefes von Narbonne und von Malouet verhindert; ich habe einen Antrag zu Gunsten der verwundeten Soldaten gestellt; ich habe die Kommission der Sechs abschaffen lassen; ich habe in der Affaire von Mons Dumouriez‘ Verrath kommen sehen; ich habe verlangt, man solle hunderttausend Emigrantenangehörige als Geiseln festnehmen für unsere an den Feind ausgelieferten Kommissare; ich habe vorgeschlagen, jeden Abgeordneten, der die Stadt verlassen würde, für vogelfrei zu erklären; ich habe bei Anlaß der Marseiller Wirren der Coterie Roland die Maske vom Gericht gerissen; ich habe darauf bestanden, daß man einen Preis setze auf den Kopf des jüngern Egalité; ich habe Bouchotte das Wort geredet; ich habe die Abstimmung mit Namensaufruf gefordert, um Isnard vom Präsidentenstuhl zu vertreiben; ich habe die Erklärung veranlaßt, daß sich die Priester um’s Vaterland verdient gemacht haben; und deshalb schimpft mich Louvet einen Hanswurst, deshalb verlangt das Finistère meine Ausschließung, wünscht die Stadt Loudun, daß man mich verbanne, und die Stadt Amiens, daß mir ein Maulkorb angelegt werde, deshalb will der Prinz von Koburg mich verhaftet wissen und schlägt Lecointe-Puiraveau dem Konvent vor, mich für verrückt zu erklären. Ja, sagt mir doch einmal, Bürger Danton, warum ihr mich zu Eurer Besprechung geladen habt, wenn nicht um meine Meinung zu haben? Habe ich etwa darum gebeten? Keineswegs; ich finde nicht den geringsten Geschmack an tête-á-tête’s mit Gegenrevolutionären wie Robespierre und Sie. Uebrigens habt Ihr mich, wie es zu erwarten war, nicht einmal verstanden, Sie gerade so wenig wie Robespierre und Robespierre so wenig wie Sie. Ist denn hier kein Staatsmann bei der Hand? Man muß Euch also politisch buchstabiren helfen und ja nicht vergessen, auch den Punkt über jedes i zu setzen. Was ich vorhin sagte, hieß in dürren Worten: Ihr irrt Euch alle Beide. Die Gefahr liegt weder in London, wie Robespierre, noch in Berlin, wie Danton glaubt; sie liegt hier in Paris, liegt in dieser Zerfahrenheit, in dem Recht, das jeder hat, an seinem eigenen Strang zu ziehen, – und ich habe dabei zu allernächst Euch Zwei im Auge – liegt in dem staubartigen Auseinanderstieben der Geister, in der Anarchie der Willenskräfte…..

– Anarchie, fuhr Danton dazwischen, durch wen ist sie eingerissen, wenn nicht durch Sie?

Marat ließ sich nicht stören:

– Ja, Robespierre, ja, Danton, die Gefahr liegt in dieser Unmasse von Kaffeeschenken, in dieser Unmasse von Spielhäusern, in dieser Unmasse von Klubs, im Klub der »Schwarzen«, im Klub der »Föderirten«, im Klub der »Damen«, im Klub der »Unparteiischen«, der noch aus der Zeit von Clermont-Tonnerre stammt und der erste monarchische Klub vom Jahre neunzig gewesen ist, im »Sozialen Verein«, der durch den Claude Fauchet, den Priester, ausgeheckt worden, im Klub der »Wollmützen«, den Prudhomme, der Zeitungsschreiber, gegründet hat, und so fort, ganz abgesehen von Robespierre’s Jakobinerklub und Ihrem Klub der Cordeliers, Bürger Danton. Die Gefahr liegt in der Hungersnoth, die den Sackträger Blin veranlaßt hat, François Denis, den Bäcker vom Marché-Palu, an der Laterne des Rathhauses aufzuknüpfen, und in der Justiz, die den Sackträger Blin hängen ließ, wie er dem Bäcker Denis gethan. Die Gefahr liegt im Papiergeld, das entwerthet wird. In der Temple-Straße fiel ein Assignat von hundert Franks auf die Erde, und ein Vorübergehender, ein Mann aus dem Volke, meinte, »es verlohne sich der Mühe nicht, sich danach zu bücken«. In den Wuchermäklern und Spekulanten, da liegt die Gefahr. Die schwarze Fahne am Rathhaus, soll die etwa noch ziehen? Ihr habt den Baron Trenck eingesteckt, aber das langt nicht; den Hals müßt Ihr ihm umdrehen, dem alten Gefängniß-Intriguanten. Oder meint Ihr, Alles sei jetzt in Ordnung, weil der Präsident des Konvents Labertêche für die einundvierzig Säbelhiebe, die er bei Jemmappes erhalten, eine Bürgerkrone aufsetzt, und weil Chénier den Elephantenführer dabei abgiebt? Komödien das und Faxen! Ihr schaut nicht um Euch in Paris? Schön! Ihr sucht die Gefahr in der Ferne, während Ihr sie in nächster Nähe habt? Schön! Aber was nützt Ihnen dann Ihre Polizei, Robespierre? Denn Spione halten Sie sich ja doch, im Stadtrath Payan, beim revolutionären Schwurgericht Coffinhal, im Sicherheitsausschuß David, im Wohlfahrtsausschuß Couthon. Ich bin, wie Sie sehen, wohl unterrichtet. So wißt denn dies Eine: die Gefahr schwebt über Euren Köpfen; die Gefahr steckt unter Euren Füßen. Konspirirt wird, konspirirt, konspirirt. Auf den Straßen lesen die Leute sich aus Zeitungen vor und nicken einander zu. Sechstausend Menschen ohne patriotische Legitimationskarten, zurückgekehrte Emigranten, »Muscadins« und »Mathevons« sind in Kellern und auf Dachböden und in den hölzernen Galerieen des Palais-Royal verborgen, vor den Bäckerläden wird Queue gemacht; die alten Weiber unter den Thüren schlagen die Hände über’m Kopf zusammen und sagen: »Wann wird denn wieder Friede?« Ihr mögt Euch, um ganz unter Euch zu bleiben, noch zehn Mal sorgfältiger in den Sitzungssaal des Exekutivraths einschließen, was drin gesprochen wird, erfährt man doch. Sie werden mir’s schon glauben, wenn ich Ihnen wortwörtlich wiederhole, was Sie gestern Abend zu Saint-Just gesagt haben: »Bei Barbaroux setzt sich ein Bauch an; das wird ihm auf der Flucht unbequem werden.« Jawohl ist die Gefahr überall und im Mittelpunkt zumeist. Hier in Paris zetteln die Aristokraten Verschwörungen an, indessen die Patrioten barfuß gehen; die Gefangenen vom 9. März sind schon wieder in Freiheit gesetzt; die Luxuspferde, die an der Grenze vor unseren Kanonen eingespannt sein sollten, spritzen uns den Pflasterkoth an die Beine; ein vierpfündiger Laib Brod kostet drei Francs zwölf Sous; in den Theatern spielt man Schandstücke, und Robespierre wird Danton noch auf die Guillotine bringen.

0119

– Ja Schnecken! unterbrach Danton.

Robespierre suchte emsig auf der Landkarte nach etwas.

– Was noththut, schrie Marat heraus, ist ein Diktator. Sie wissen, Robespierre, daß ich einen Diktator verlange.

Robespierre erhob den Kopf: Ja, Marat, ich weiß: Sie oder ich.

– Ich oder Sie, sagte Marat.

– Ein Diktator? Versuchs einmal Einer! brummte Danton zwischen den Zähnen.

Marat hatte Danton’s Stirnrunzeln bemerkt: Wohlan! begann er wieder, ich will einen letzten Versuch machen, einen Vorschlag zur Güte. Die Situation ist es werth. Haben wir doch früher schon einmal ein Einverständniß erzielt für den 31. Mai. An der Einigkeit ist mehr gelegen als an den Girondins, die nur nebenbei in Frage kommen. Euren Behauptungen liegt ein Stück Wahrheit zu Grunde; aber die ganze Wahrheit, die wahre Wahrheit sitzt in dem, was ich behaupte. Der Föderalismus des Südens, der Royalismus des Westens, der Zweikampf des Konvents und des Stadtraths in Paris und an der Grenze das Zurückweichen Custine’s und Dumouriez‘ Verrath – was bedeutet das Alles? Das Auseinandergehen; und was thut noth? Die Eintracht. Die rettet uns; aber es hat Eile. Paris muß sich eine revolutionäre Regierung geben. Wenn wir noch eine Stunde verlieren, können allerdings die Vendéer in Orléans einrücken und die Preußen in Paris; das Eine, Robespierre, gebe ich Ihnen zu, das Andere Ihnen, Danton; sei’s drum. Doch worauf läuft auch das hinaus? Auf die Nothwendigkeit einer Diktatur. Theilen wir uns drein! Wir drei sind die Träger der Revolution; wir sind die drei Köpfe des Cerberus; der Eine spricht, Sie, Robespierre; der Andere brüllt, Sie, Danton. …

– Und der Dritte beißt, vollendete Danton, Sie Marat.

– Sie beißen alle drei, entgegnete Robespierre.

Es entstand eine Pause. Dann bewegte sich die Auseinandersetzung unter unheimlichen Erschütterungen weiter.

– Hören Sie, Marat, bevor man sich heirathet, muß man sich kennen. Woher wissen Sie, was ich gestern zu Saint-Just gesagt habe?

– Lassen Sie das meine Sorge sein, Robespierre.

– Marat!

– Es ist meine Pflicht, mich aufzuklären, und mein Geschäft, Erkundigungen einzuziehen.

– Marat!

– Ich liebe einmal die Klarheit.

– Marat!

– Robespierre, ich weiß, was Sie zu Saint-Just sagen, gerade so, wie ich weiß, was Danton mit Lacroix spricht, wie ich weiß, was am Theatinerquai im Hotel von Labriffe vorgeht, in jener Höhle, wo die Nymphen der Emigration einkehren, wie ich weiß, was bei Gonesse in jenem Haus von Les Thilles vorgeht, das dem früheren Postadministrator Valmerange gehört und das seiner Zeit von Maury und Cazales, nachher von Sieyès und Vergniaud besucht wurde, und wohin man sich jetzt einmal in der Woche verfügt.

Dieses »man« begleitete Marat mit einem Blick auf Danton.

– Hätte ich für einen Heller Macht in Händen, rief dieser, es wäre furchtbar.

Marat fuhr fort: Ich weiß was Sie sagen, Robespierre, wie ich wußte, was im Temple vorging, als Ludwig XVI. noch drin gemästet wurde, so wohl gemästet, daß im Monat September allein der Wolf, die Wölfin und die Jungen sechsundachtzig Körbe Pfirsiche verzehrt haben. Unterdessen hungerte das Volk. Ich weiß das, wie ich auch weiß, daß Roland in einer Hofwohnung der Straße La Harpe versteckt worden ist, wie ich weiß, daß sechshundert Piken vom 14. Juli bei Faure, dem Schlosser des Herzogs von Orléans, angefertigt wurden, wie ich weiß, was bei der Maitresse von Sillery, der Saint Hilaire, getrieben wird; wenn getanzt werden soll in der Rue Neuve-des-Mathurins, bestreicht der alte Sillery höchsteigenhändig den Fußboden des gelben Salons mit Kreide; Buzot und Kersaint haben dort dinirt; am 27. war auch Saladin geladen, und mit wem, Robespierre? Mit Ihrem Freund Lasource. – Geschwätz, murmelte Robespierre. Lasource ist mein Freund nicht; dann setzte er nachdenklich hinzu: Mittlerweile überschwemmen uns zu London achtzehn Fabriken mit falschen Assignaten.

Marat fuhr mit ruhiger Stimme, aber mit einem schauerlichen leisen Zittern fort: Ihr seid die Partei der Wichtigthuer. Ja, Alles weiß ich, trotz Eurer »Staatsverschwiegenheit,« wie Saint Just das Ding nennt. – Und Marat, der das Wort betont hatte, schaute Robespierre an und sprach dann weiter: Ich weiß, was an Eurem Tisch geredet wird, wenn Lebas David als Gast mitbringt zu den Schüsseln der ihm versprochenen Elisabeth Duplay, Ihrer zukünftigen Schwägerin, Robespierre. Ich bin das ungeheuere Auge des Volkes und schaue heraus aus meinem Keller. Ja, ich sehe, ja, ich höre, ja, ich weiß. Euch genügt Kleines. Ihr staunt Euch an. Robespierre läßt sich durch seine Frau von Chalabre bewundern, die Tochter jenes Marquis von Chalabre, der mit Ludwig XV. nach der Hinrichtung von Damiens Abends die Whistpartie spielte. Ja, man trägt den Kopf hoch aufrecht. Saint-Just bewohnt eine Halsbinde. Legendre kleidet sich tadellos: neuer Rock, weiße Weste und Jabot, damit man seinen Metzgerschurz vergesse. Robespierre denkt sich, die Nachwelt werde einst froh sein, zu wissen, daß er in der konstituirenden Versammlung einen olivenbraunen und im Konvent einen himmelblauen Rock trug. Sein Portrait ziert alle Wände seine Zimmers. …

Robespierre warf in noch ruhigerem Ton als Marat die Erwiderung dazwischen: Und das Ihre, Marat, ziert alle Kloaken.

In demselben Gesprächston fuhren sie auch fort; das langsame Tempo hob die Bitterkeit der Stöße und Gegenstöße nur um so mehr hervor und fügte der Drohung noch eine gewisse Ironie bei.

– Robespierre, Sie haben die Männer, die den Umsturz aller Throne anstreben, »die Don Quichotte’s aller Welt« genannt.

– Und Sie, Marat, haben nach dem 4. August in Ihrem »Volksfreund«, 559. Nummer – ja, die Zahl habe ich mir gemerkt, dergleichen schadet nie – Sie haben verlangt, man möge dem Adel seine Standesbenennungen wiedergeben, und erklärt, »ein Herzog bleibe einmal ein Herzog.«

– Robespierre, in der Sitzung des 7. Dezember haben Sie die Roland gegen Viard in Schutz genommen.

– Wie auch mein Bruder Sie, Marat, in Schutz nahm, als Sie bei den Jakobinern angefeindet wurden. Was will das heißen? Nichts.

– Robespierre, man kennt noch das Kabinet in den Tuilerien, wo Sie zu Garat gesagt haben: »Ich bin der Revolution satt.«

– Hier, Marat, in diesem Zimmer, am 29. Oktober, haben Sie Barbaroux umarmt.

– Robespierre, Sie haben sich gegen Buzot geäußert: »Die Republik, was steckt da auch weiter dahinter?«

– Marat, hier in diesem Zimmer haben Sie die Marseiller bewirthet, von jeder Kompagnie drei Mann.

– Robespierre, Sie lassen sich durch einen Lastträger aus der Fruchthalle mit einem Knüppel eskortiren.

– Und Sie, Marat, haben sich am Vorabend des 10. August, als Reitknecht verkleidet, nach Marseille flüchten wollen und Buzot um seinen Beistand ersucht.

– Als die Volksgerechtigkeit zu den Septemberexekutionen schritt, haben Sie sich versteckt, Robespierre.

– Und Sie, Marat, haben sich gezeigt.

– Robespierre, Sie haben die rothe Mütze von sich geworfen.

– Als ein Verräther sie entweihte, gewiß. Einen Robespierre befleckt, was einen Dumouriez ziert.

– Robespierre, beim Durchmarsch der Soldaten von Chateauvieux haben Sie sich geweigert, über Ludwigs XVI. Kopf einen Trauerflor zu werfen.

– Ich habe sein Haupt nicht verhüllt, aber ich that mehr: ich hieb es ihm herunter.

Nun mischte sich Danton ein, doch wie das Oel ins Feuer: Robespierre, Marat, sagte er, Mäßigung!

Marat hörte sich nicht gern in zweiter Linie nennen; er wendete sich um: Was nimmt Danton sich da heraus? fragte er.

Danton fuhr in die Höhe: Was ich mir herausnehme? Ich nehme mir heraus, Euch zu sagen, daß der Brudermord ein Verbrechen ist, daß ich kein Zerwürfniß dulde zwischen zwei Männern, die dem Volk dienen, daß wir neben dem Krieg mit dem Ausland und dem Bürgerkrieg nicht noch den häuslichen Krieg brauchen können, daß ich, der ich die Revolution gemacht habe, nicht gestatten werde, daß Ihr sie zunichte macht. Das nehme ich mir heraus.

– Nehmen Sie sich erst heraus, Rechenschaft abzulegen, versetzte Marat, ohne die Stimme lauter zu erheben.

– Rechenschaft? schrie Danton. Zieht sie nur zur Rechenschaft, die Pässe der Argonne und die befreite Champagne und das eroberte Belgien und die Armeen, die mich bereits zum vierten Mal dem Kartätschenfeuer die Brust entgegenwerfen sahen! Zur Rechenschaft zieht den Revolutionsplatz, das Schaffot des 21. Januar, den niedergeschmetterten Thron, die Guillotine, jene Wittwe …

– Eine Jungfrau ist die Guillotine, unterbrach Marat; man legt sich darauf, aber man befruchtet sie nicht,

– Sie wollen das wissen? entgegnete Danton; ich würde sie befruchten, ich!

– Das wird sich zeigen, erwiderte Marat. Und er lächelte.

Danton sah dieses Lächeln: Marat, schrie er. Sie sind der Mann der Heimlichkeit; ich bin der Mann des freien Himmels und des hellen Tages. Ein Leben wie’s Reptilien führen, hasse ich; ich mag mich nicht verkriechen wie eine Kellerassel. Sie leben unter der Erde und ich oben drauf. Sie verkehren mit Niemand; mich kann Jeder, der vorbeigeht, sehen und sprechen.

– Schöner Junge, kommt doch mit hinauf, brummte Marat und sein Lächeln verschwand: Danton, begann er in gebieterischem Ton, legen Sie Rechenschaft über die dreiunddreißig Tausend Thaler in klingender Münze, die Montmorin im Auftrag des Königs an Sie ausgezahlt hat, unter dem Vorwand, Sie für Ihre eingegangene Anwaltschaft beim Châtelet zu entschädigen.

– Ich habe den 14. Juli mitgemacht, fuhr Danton hochfahrend drein.

– Aber das Garde-meuble? aber die Krondiamanten?

– Ich habe den 6. Oktober mitgemacht.

– Aber die Diebstähle Ihres alter ego Lacroix in Belgien?

– Ich habe den 20. Juni mitgemacht.

– Aber die Summen, die der Montansier geliehen wurden?

– Ich führte das Volk bei der Rückkehr von Varennes.

– Und der Opernsaal, den man mit Ihren Geldern baut?

– Ich rief die Pariser Bezirke zu den Waffen.

– Und die hunderttausend Livres Geheimfonds für das Justizministerium?

– Ich habe den 10. August gemacht.

– Und die zwei Millionen für unverbuchte Ausgaben der Assemblée, wovon Sie ein Viertel übernommen?

– Ich brachte den anmarschirenden Feind zum Stehen und sperrte den verbündeten Königen den Weg.

– Prostituirter Sie! sagte Marat.

– Ja, schrie Danton hoch aufgerichtet, furchtbar, ja ich bin eine Metze; meinen Bauch habe ich verkauft, aber ich habe die Welt gerettet.

Robespierre kaute an den Nägeln weiter. Er für sein Theil konnte weder lachen noch lächeln; ihm mangelte sowohl das, was aus Danton blitzte, das Lachen, als das, was aus Marat stach, das Lächeln.

– Ich bin wie der Ozean, fuhr Danton fort; ich habe meine Ebbe und meine Fluth, bei niederer See sieht man meine Untiefen, bei hoher See meine Wogen.

– Ihren Gischt, verbesserte Marat.

– Meinen Sturm, sagte Danton.

Marat, der gleichzeitig mit ihm aufgesprungen war, platzte nun heraus; die Schlange war plötzlich zum Lindwurm angewachsen: So, schrie er, Robespierre, so, Danton, hören wollt Ihr mich also nicht? Nun denn, ich sage es Euch: Ihr seid verloren. Eure Politik verläuft sich in Sackgassen; Ihr wißt nicht mehr, wo hinaus, und greift zu Mitteln, die Euch jede Thür verschließen, nur die zum Grabe nicht.

– Unsere Größe, sagte Danton und zuckte mit den Achseln.

– Nimm Dich in Acht, Danton, fuhr Marat fort; auch Vergniaud hat ein breites Maul und geschwollene Lippen und zornige Brauen; auch Vergniaud hat ein Gesicht voller Blatternarben wie Mirabeau und wie Du, und dennoch hat ihn der 31. Mai weggefegt. Ah, Du zuckst mit den Achseln? Mit so einem Achselzucken schüttelt man sich zuweilen den Kopf vom Hals. Danton, ich sage Dir, daß Du mit Deiner polternden Stimme, Deiner lockern Halsbinde, Deinen weichen Stiefeln, Deinen kleinen Soupers und Deinen großen Taschen zu guterletzt doch an Louisette gerathen wirst.

Unter dem Schmeichelnamen Louisette verstand Marat die Guillotine.

– Du aber, wendete er sich nun zu Robespierre, Du gehörst zwar zu den Gemäßigten, wird Dir jedoch Alles nichts helfen. Gehe nur hin und kräusle Dein Haar und frisir Dich und zier Dich und pudere Dich ein, und bürste an Dir herum, und putze Dich heraus, und sei geschniegelt, und halte was auf reine Wäsche; Du wirst nichts destoweniger auf dem Grèveplatz daran glauben müssen; lies nur die Erklärung des Braunschweigers; Du wirst um kein Haar breit glimpflicher behandelt werden als der Königsmörder Damiens und Du wirst Dich nicht länger herrichten und anziehen, als bis an des Henkers vier Pferde die Reihe kommt, anzuziehen, um Dich hinzurichten.

– Koblenzer Echo, knirschte Robespierre.

– Robespierre, ich bin das Echo von nichts; ich bin der Aufschrei von Allem. O Ihr seid noch jung, Ihr Andern. Wie alt bist Du, Danton? Vierundreißig Jahre, und wie alt bist Du, Robespierre? Dreiunddreißig. Aber ich, ich habe von jeher gelebt; ich bin das fortvererbte menschliche Leiden; sechstausend Jahre bin ich alt.

– Wohl wahr, versetzte Danton; sechstausend Jahre hindurch lebte Kain in Haß eingeschlossen wie die Kröte im Stein; der Stein zerbricht, Kain springt unter die Menschen und heißt Marat.

– Danton! schrie Marat, und sein Auge leuchtete auf in fahlem Glanz.

– Soll ich etwa heucheln? sagte Danton. So redeten die drei Gewaltigen zu einander, streitende Donnerwolken.

III.

Aufzucken des innersten Nervenlebens

Das Gespräch stockte; diese Titanen waren momentan in sich selbst zurückgetreten.

Dem Löwen sind die Schlangen unheimlich; Robespierre war sehr bleich und Danton sehr roth geworden. Beide bebten vor Aufregung. Marat’s wildes Auge war erloschen; Ruhe, gebieterische Ruhe herrschte wieder in den Zügen dieses Mannes, der die Schreckenden abschreckte.

Danton fühlte sich besiegt, aber wollte sich nicht ergeben: Marat, hob er an, redet sehr laut von Diktatur und Einigkeit, und dennoch kann er nur Eins, zersetzen.

Robespierre that seinen zugekniffenen Mund auf und fügte hinzu: Wie Anacharsis Cloots, so sage auch ich: Weder Roland noch Marat.

– Und ich, entgegnete Marat, ich sage: Weder Danton noch Robespierre.

Er blickte den Beiden starr in’s Gesicht: Danton, sprach er, ich will Ihnen einen guten Rath geben: Sie sind verliebt und gehen mit dem Gedanken um, wieder zu heirathen; lassen Sie die Hand aus der Politik; seien Sie weise. Und um einen Schritt zurücktretend, im Begriff sich nach der Thür zu wenden, verabschiedete er sich mit den ominösen Worten: Adieu, meine Herren.

Danton und Robespierre überlief ein Schauer. In diesem Augenblick erhob sich im Hintergrund eine Stimme:

– Marat, Du hast Unrecht.

Alle drehten sich um. Während Marat seine Standrede hielt, war Jemand unbemerkt zur Thür hereingetreten.

– Du bist’s, Bürger Cimourdain! sagte Marat. Guten Tag.

Es war in der That Cimourdain: Ich behaupte, daß Du Unrecht hast, Marat, wiederholte er.

Marat wurde grün im Gesicht; es war das sein Erbleichen, und Cimourdain setzte hinzu: Du bist nützlich, aber Robespierre und Danton sind nothwendig. Was drohst Du ihnen? Eintracht, Bürger, Eintracht! Das verlangt das Volk von Allen.

Dieses Auftreten wirkte gleich kaltem Wasser und brachte, wie in einem häuslichen Zwist die Dazwischenkunft eines Fremden, wenn auch keine innerliche, so doch eine äußere Besänftigung hervor. Cimourdain ging auf den Tisch zu. Danton und Robespierre kannten ihn, sie hatten schon oft auf den öffentlichen Tribünen des Konventsaales diesen mächtigen anspruchslosen Mann bemerkt, den das Volk grüßte.

Robespierre, der von der Form nicht lassen konnte, fragte dennoch: Bürger, wie sind Sie hereingekommen?

– Er gehört zum Evêché, antwortete Marat, und beinahe klang im Ton seiner Stimme etwas wie Unterordnung durch. Marat forderte den Konvent heraus, lenkte den Stadtrath und fürchtete das Evêché. Das liegt in der Natur der Sache: Mirabeau fühlt, wie in unbekannten Tiefen Robespierre, Robespierre, wie Marat, Marat, wie Hébert, Hébert, wie Babeuf sich schon regt. So lange die unterirdischen Schichten ruhig bleiben, kann der Politiker vorangehen; aber selbst unter dem radikalsten liegt noch Roherde, und auch die kühnsten stutzen und bangen, wenn sie die Bewegung, die sie auf der Oberwelt hervorgerufen, nun unter ihren Füßen wahrnehmen.

Die Wirksamkeit der lüsternen Eigenliebe von derjenigen der selbstlosen Ueberzeugung unterscheiden, die erste eindämmen und die andere unterstützen, – das allein kennzeichnet den genialen, redlichen, großen Revolutionsmann.

Danton bemerkte dieses Nachlassen Marat’s: O, der Bürger Cimourdain ist hier ganz an seinem Platz, sagte er, und streckte die Hand aus: Setzen wir nur gleich die Sachlage dem Bürger Cimourdain auseinander; er kommt ja wie gerufen: ich vertrete die Bergpartei, Robespierre vertritt den Wohlfahrtsausschuß, Marat den Stadtrat, Cimourdain das Evêché. Er mag einen Ausgleich anbahnen.

– Gut, sagte Cimourdain mit bescheidenem Ernst. Wovon war die Rede?

– Von der Vendée, antwortete Robespierre.

– Von der Vendée! wiederholte Cimourdain, und setzte dann hinzu: Haß ist die große Gefahr; wenn die Revolution sterben muß, so wird sie an der Vendée sterben. Die eine Vendée ist bedrohlicher als ein verzehnfachtes Deutschland, und wenn Frankreich am Leben bleiben soll, muß die Vendée ertödtet werden. Diese wenigen Worte hatten Robespierre gewonnen, aber er fragte doch noch: Sind Sie früher nicht Geistlicher gewesen?

Der priesterliche Habitus konnte Robespierre nicht entgehen; was er selber in sich trug, merkte er auch bei Andern gleich heraus. Cimourdain erwiderte: Ja, Bürger.

– Liegt denn daran etwas? rief Danton. Wenn die Geistlichen gut sind, sind sie die Besten. Eine Revolution schmelzt Geistliche in Bürger um, wie Glocken in Sousstücke und Kanonen. Danjou ist Priester; Daunou ist Priester; Thomas Lindet ist Bischof von Evreux. Im Konvent, Robespierre, sitzen Sie ja hart neben Massieu, dem Bischof von Beauvais. Der Großvikar Baugeois war mit im Insurrektionsausschuß vom 10. August. Chabot ist Kapuziner und Dom Gerle hat zum Eid im Ballhaus den ersten Anstoß gegeben. Die Erklärung, daß die Nationalversammlung über dem König stehe, hat der Abbé Audran veranlaßt; der Abbé Goutte hat in der Legislative den Antrag gestellt auf Entfernung des Thronhimmels über dem Fauteuil Ludwig’s XVI. und der Antrag auf Abschaffung der Königswürde ging vom Abbé Gregoire aus.

– Und wurde durch den Schauspieler Collot d’Herbois unterstützt, grinste Marat; sie Beide haben die Sache in’s Reine gebracht: der Priester hat den Thron umgeworfen und der Komödiant den König gestürzt.

– Kommen wir auf die Vendée zurück, sagte Robespierre.

– Nun, wie steht’s? Was beginnt sie, die Vendée?

– Dies Eine, antwortete Robespierre; sie hat einen Führer; sie wird uns furchtbar werden.

– Wer ist der Führer, Bürger Robespierre?

– Es ist ein vormaliger Marquis von Lantenac, der sich überdies für einen bretonischen Fürsten ausgiebt.

Cimourdain fuhr auf: Den kenne ich, sprach er. Ich bin Priester bei ihm gewesen.

Er sann einen Augenblick nach, und setzte hinzu: Er war ein Lebemann, bevor er ein Kriegsmann wurde.

– Wie Biron zuerst Lauzun gewesen ist, bemerkte Danton.

– Ja, er war früher ein Weiberheld, meinte Cimourdain, noch immer nachdenklich. Er muß schrecklich sein.

– Abscheulich, sagte Robespierre, er steckt die Dörfer in Brand, macht die Verwundeten nieder, würgt die Gefangenen hin, füsilirt die Weiber.

– Die Weiber?

– Ja, unter Andern hat er eine Mutter dreier Kinder erschießen lassen. Was aus den Kindern geworden, ist unbekannt. Nebenbei ist er Soldat; er weiß, wie man Krieg führt.

– Allerdings, versetzte Cimourdain, er hat den Feldzug von Hannover mitgemacht, und die Truppe sagte von ihm: »hinter Richelieu steckt Lantenac.« Eigentlich ist Lantenac der Führer gewesen. Fragen Sie nur Ihren Kollegen Dussaulx.

Robespierre schwieg einen Moment in Gedanken; dann begann er wieder:

– Nun denn, Bürger Cimourdain, dieser Mann kommandirt in der Vendée. – Seit wann? – Seit drei Wochen. – Er muß in Bann und Acht erklärt werden. – Schon geschehen. – Man muß einen Preis auf seinen Kopf setzen. – Auch geschehen. – Einen sehr hohen Preis. – Geschehen. – Nicht in Assignaten. – Geschehen. – In Gold. – Geschehen. – Und guillotinirt muß er werden. – Soll geschehen. – Durch wen denn? – Durch Sie. – Durch mich? – Ja, Sie soll der Wohlfahrtsausschuß zu diesem Zweck abordnen, mit unumschränkter Vollmacht. – Einverstanden, sagte Cimourdain.

Robespierre war als gewiegter Staatsmann rasch in der Wahl; er zog unter den Akten, die vor ihm lagen, ein weißes Blatt hervor mit der gedruckten Aufschrift: Französische eine und untheilbare Republik. Wohlfahrtsausschuß.

Cimourdain wiederholte: Einverstanden, ja. Schrecken für Schrecken. Lantenac ist unmenschlich; ich werde es nicht minder sein. Krieg bis aufs Messer mit dem Mann! Ich werde, so Gott will, die Republik von ihm befreien.

Nach kurzer Pause fügte er hinzu: Ich bin Priester; gleichviel, ich glaube an Gott.

– Gott ist alt geworden, meinte Danton.

– Ich glaube an einen Gott, sagte Cimourdam unbeirrt, und Robespierre stimmte mit einem düstern Kopfnicken bei.

– Wohin soll ich abgeordnet werden? fragte Cimourdain.

– Zum Kommandirenden der Streifkolonne, die gegen Lantenac ausgerückt ist, erwiderte Robespierre. Nur will ich Sie gleich jetzt darauf aufmerksam machen, daß er ein Adeliger ist.

– Das sind auch Dinge, um die ich mich einen Kuckuck scheere, warf Danton dazwischen. Ein Adeliger, was weiter? Mit dem Adeligen geht’s just wie mit dem Geistlichen: wenn er gut ist, ist er vortrefflich. Der Adel ist ein Vorurtheil, das man ebensowenig theilen wie umkehren soll. Ist Saint-Just nicht auch von Adel, Robespierre? Florelle von Saint-Just, versteht sich! Anacharsis Cloots ist Baron; unser Freund Karl Hessen, der keine Sitzung bei den Cordeliers versäumt, ist Prinz und leiblicher Bruder des regierenden Landgrafen von Hessen-Rothenburg; Montaut, Marat’s Intimus, ist Marquis von Montaut. Unter den Geschworenen des Revolutionstribunals sitzen der Priester Bilate und der Adelige Leroy, ein Marquis von Montflabert, und doch sind Beide kapitelfest.

– Sie vergessen übrigens, berichtete Robespierre, den Präsidenten der Jury.

– Antonelle?

– Den Marquis von Antonelle, sagte Robespierre.

– Von Adel, beschloß Danton, sind auch Dampierre, der sich vor Condé für die Republik todtschießen ließ, und Beaurepaire, der sich eine Kugel durch den Kopf jagte, nur um die Preußen nicht in Verdun einziehen zu sehen.

– Was nicht hindert, hörte man Marat dreinbrummen, daß am Tage, wo Condorcet die Aeußerung that, »die Gracchen seien Adelige gewesen«, Danton demselben Condorcet zurief: »Verräther sind die Adeligen alle, von Mirabeau an bis herunter zu Dir.«

Cimourdain’s ernste Stimme hob jetzt an: Bürger Danton, Bürger Robespierre, Euer Vertrauen in mich mag wohl gerechtfertigt sein, aber das Volk ist mißtrauisch, und daran thut es wohl. Wenn zur Ueberwachung eines Adeligen ein Priester bestellt wird, ist die Verantwortung eine zwiefache und der Priester muß unbeugsam sein.

– Gewiß, sagte Robespierre.

– Und unerbittlich.

– Wohlgesprochen, Bürger Cimourdain, bemerkte Robespierre. Es handelt sich hier um einen jungen Mann, dem Sie schon durch die doppelte Zahl der Jahre imponiren werden. Er soll gelenkt werden, aber mit Schonung. Es scheint, daß er wirklich militärisch begabt ist, sonst würden nicht alle Berichte in diesem Punkt übereinstimmen. Er gehört einem Korps an, das von der Rheinarmee nach der Vendée detachirt wurde. Er kommt von der Grenze, wo er von seinem Scharfblick und Muth glänzend Zeugniß abgelegt hat, und führt die Streifkolonne ausgezeichnet; seit vierzehn Tagen hält er bereits den erfahrenen Lantenac in Schach, fügt ihm Schlappen zu und treibt ihn vor sich her; schließlich wird er ihn noch bis an’s Meer drängen und hineinwerfen. Lantenac hat die Schlauheit des alten, er die Kühnheit des jungen Soldaten für sich. Der junge Mann hat auch seine Widersacher und Neider schon. Der Generaladjudant Léchelle ist ihm mißgünstig….

– Dieser Léchelle, unterbrach Danton, das will ein Korpsführer sein! Für ihn spricht gar nichts als ein Kalauer und dazu noch ein schlechter: »Nur wenn General Charrette eine unzählige Schaar hätte, könnte er General Léchelte alle Schellen zurückgeben.« In Wahrheit aber ist es leider Léchelle, der die Schellen bekommt. Er hat sich’s einmal in den Kopf gesetzt, er und kein Anderer müsse mit Lantenac fertig werden. Allem Unglück im Krieg mit der Vendée liegen diese Eifersüchteleien zu Grund. Unsere Soldaten sind Helden, aber Helden ohne Führung. Ein einfacher Husarenrittmeister Namens Chérin mit einem Trompeter, der »Ça ira« bläst, zieht zum Beispiel in Saumur ein und ergreift Besitz von der Stadt; er konnte so fortmachen und von Cholet Besitz ergreifen; aber er muß es aufgeben, weil er ohne Instruktionen ist. In der Vendée sollten alle Kommandos neu besetzt werden. Die Wachtposten werden verzettelt, die Kräfte zersplittert; eine zerfahrene Armee ist eine gelähmte Armee, ein Block der zu Staub zerrieben wird. Im Lager von Paramé fehlt es an Zelten. Zwischen Tréguier und Dinan liegen hundert unnütze kleine Abtheilungen, die, zu einer Division verschmolzen, den ganzen Küstenstrich decken könnten. Von Parrein unterstützt, entblößt Léchelle das nördliche Meeresufer unter dem Vorwand, das südliche sicherzustellen, und öffnet dadurch den Engländern die Thür von Frankreich. Eine halbe Million Bauern in Aufruhr und eine Landung von der britischen Insel aus, das ist Lantenac’s Plan. Nun aber heftet sich diesem Lantenac der junge Kommandant der Streifkolonne an die Fersen und bedrängt und schlägt ihn, ohne Léchelle’s Geheiß; dieser jedoch ist sein Vorgesetzter und verklagt ihn deshalb. Ueber den jungen Mann gehen die Meinungen sehr auseinander: Léchelle will ihn erschießen, Prieur Marne zum Generaladjutanten ernennen lassen.

– Mir scheint der junge Mann hervorragende Eigenschaften zu besitzen, sagte Cimourdain.

– Nur hat er einen Fehler.

Die Worte waren durch Marat dazwischengeworfen worden.

– Welchen? fragte Cimourdain.

– Die Milde. Und Marat fuhr fort: Das ist Euch während des Kampfes bombenfest und hinterher schlaff; das macht in Nachsicht und Barmherzigkeit, giebt Pardon, nimmt Euch die Nonnen und Klosterfrauen in Schutz, rettet die Weiber und Töchter der Aristokraten und giebt die Gefangenen frei und läßt die Priester laufen.

– Ein großer Fehler, murmelte Cimourdain.

– Ein Verbrechen, sagte Marat.

– Zuweilen, meinte Danton.

– Oft, sagte Robespierre.

– Fast immer, entgegnete Marat.

– Den Feinden des Vaterlandes gegenüber stets, sagte Cimourdain.

Marat wendete sich nach ihm um: Was würdest Du wohl mit einem republikanischen Befehlshaber anfangen, der einen royalistischen Befehlshaber freilassen würde?

– Ich würde Léchelle beistimmen und ihn füsiliren lassen.

– Oder guillotiniren, sagte Marat.

– Gleichviel, erwiderte Cimourdain.

Danton mußte lachen: Mir wäre das Eine gerade so lieb wie das Andere.

– Eins von Beiden ist Dir gewiß, brummte Marat. Und sein Blick fiel von Danton wieder auf Cimourdain: Wenn also ein republikanischer Befehlshaber strauchelte, so würdest Du, Bürger Cimourdain, ihn um einen Kopf kürzer machen lassen?

– Binnen vierundzwanzig Stunden.

– Nun denn, sprach Marat, so bin ich mit Robespierre der Ansicht, daß Bürger Cimourdain dem Kommandirenden der Streifkolonne unserer Küstenarmee als Kommissär des Wohlfahrtsausschusses beigegeben werden soll. Wie heißt er doch nur, jener Kommandant?

– Es ist ein vormaliger Adeliger, antwortete Robespierre, indem er seine Akten durchblätterte.

– Den mag uns der Priester also in’s Gebet nehmen, sagte Danton. Einem einzelnen Priester traue ich nicht, so wenig wie ich einem einzelnen Edelmann traue; doch wenn Beide beisammen sind, fürchte ich keinen; der Eine überwacht den Andern und Jeder thut gut.

Der entrüstete Ausdruck über Cimourdain’s Brauen steigerte sich; da er jedoch der Bemerkung eine gewisse Berechtigung nicht absprechen konnte, sah er von einem persönlichen Protest ab und erklärte bloß in strengem Ton: Wenn sich der mir anvertraute republikanische General eines Fehltritts schuldig macht, stirbt er.

– Hier steht der Name, sagte Robespierre, über die Akten gelehnt: Bürger Cimourdain, der Kommandant, über den Sie unumschränkte Gewalt haben werden, ist ein vormaliger Vikomte und heißt Gauvain.

– Gauvain! rief Cimourdain und erbleichte, Vikomte Gauvain!

– Ja, sagte Robespierre.

Marat hatte dieses Erblassen Cimourdain’s bemerkt. Was ist? fragte er, ihm scharf in’s Auge schauend.

Es entstand eine Pause; dann begann Marat: Bürger Cimourdain, nehmen Sie unter den von Ihnen selbst angegebenen Bedingungen die Sendung als abgeordneter Kommissär beim Kommandanten Gauvain an? Abgemacht?

– Abgemacht, antwortete Cimourdain, der bleich und bleicher wurde.

Robespierre nahm die Feder vom Tisch, schrieb langsam in den gewohnten saubern Zügen ein paar Zeilen auf das weiße Blatt, das die Aufschrift »Wohlfahrtsausschuß« trug, unterzeichnete und reichte dann Danton Blatt und Feder; Danton unterzeichnete gleichfalls, und nach ihm Marat, der von Cimourdain’s fahlem Antlitz kein Auge wendete. Robespierre griff nochmals nach dem Blatt, setzte das Datum darauf und übergab es Cimourdain, welcher Folgendes las:

»Jahr Zwei der Republik.

Hiermit wird dem Bürger Cimourdain als abgeordnetem Kommissär des Wohlfahrtsausschusses bei dem Bürger Gauvain, Kommandanten der Streifkolonne der Küstenarmee, unumschränkte Vollmacht ertheilt.

Robespierre. Danton. Marat.« Und unter den Unterschriften: »Den 28. Juni 1793.«

Der republikanische oder Civilkalender war damals noch nicht gesetzlich eingeführt und wurde erst am 5. Oktober 1793 auf Romme’s Antrag vom Konvent genehmigt. Während Cimourdain las, betrachtete ihn Marat noch immer, und sagte halblaut wie zu sich selber:

0141

Das Alles muß durch Verordnung des Konvents oder durch Spezialbeschluß des Wohlfahrtsausschusses genau bestimmt werden. Es fehlt noch etwas.

– Bürger Cimourdain, fragte Robespierre, wo wohnen Sie?

– Cour de Commerce.

– Sieh da, ich auch! sagte Danton; wir sind ja Nachbarn.

– Jeder Augenblick ist kostbar, hob Robespierre wieder an. Morgen erhalten Sie Ihre regelrechte Vollmacht mit der Unterschrift sämmtlicher Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses. Dies mag Ihnen blos zur Beglaubigung der Vollmacht dienen, namentlich in Ihren speziellen Beziehungen zu den kommissarisch abgeordneten Konventsmitgliedern Philippeaux, Prieur Marne, Lecointre, Alquier und den Uebrigen. Wir wissen, wer Sie sind; Sie haben vollkommen freie Hand und können Gauvain zum General avanciren oder enthaupten lassen. Morgen um drei wird Ihnen Ihre Vollmacht zugestellt. Wann reisen Sie?

– Um vier, antwortete Cimourdain.

Und sie gingen auseinander. Als Marat heimkam, sagte er zu Simonne Evrard, daß er sich morgen zur Konventsitzung begeben wolle.

Drittes Buch.

0127

Der Konvent

I.

Wir nähern uns nun der großen Bergspitze, dem Konvent, und starren hinauf: etwas Höheres hat sich an unserem Horizont nicht aufgethürmt; der Konvent ist auch ein Himalaya; in ihm gipfelt vielleicht die Weltgeschichte.

Bei Lebzeiten des Konvents, denn eine solche Versammlung lebt ein Eigenleben, waren sich die Menschen seines wahren Wesens kaum bewußt, denn gerade seine Größe entging dem Blick der Zeitgenossen: man war zu bestürzt, um geblendet zu werden. Alles Große strahlt eine heilige Scheu aus. Dutzend Menschen und Hügel lassen sich leicht bewundern; aber vor dem überhoch Ragenden, sei es nun ein Genius oder ein Berg, ein Moment in der Geschichte oder ein Meisterwerk der Kunst, überläuft uns ein Schauer, wenn wir ihm zu nahe stehen; wir empfangen den Eindruck des Uebertriebenen. Das Steigen erschöpft. Man wird athemlos auf den steilen Pfaden; man gleitet auf den Abhängen aus; man stößt sich wund an Härten, die für das Auge Schönheiten sind; die schäumenden Sturzbäche erzählen von den Abgründen und die Spitzen sind in Wolken gehüllt; das Steigen ist vom Schrecken des Sturzes begleitet, und deshalb überwiegt das Entsetzen statt der Bewunderung. Es überkommt Einen ein ganz absonderliches Gefühl, ein Widerwillen gegen das Große. Man bemerkt die Untiefen, aber nicht die Erhabenheiten, das Wunderbare nicht, nur das Ungeheuerliche. So wurde anfänglich der Konvent beurtheilt; er wurde durch Kurzsichtige angeblinzelt, er, der eine Augenweide sein sollte für die Adler. Heutigen Tages erscheint er uns perspektivisch und zeigt uns, vom tiefen Himmel sich abhebend, aus tragisch verklärter Ferne das kolossale Profil der französischen Revolution.

II.

Der 14. Juli war ein Tag der Befreiung gewesen, der 10. August ein Tag der Zerschmetterung, der 21. September ein Tag der Begründung. Der 21. September war die Tag- und Nachtgleiche, das Gleichgewicht. Unter dem Zeichen der Wage, wie Romme damals auch bemerkte, dem Sinnbild der Gleichheit und Gerechtigkeit, wurde die Republik geboren und ein Sternbild leuchtete die Nachricht durch die Nacht. Der Konvent ist die erste in Verkörperung des Volkes; er ist die erste Zeile auf dem großen neuen Blatt und mit ihm begann die heutige Zukunft.

Jeder Gedanke bedarf der sichtbaren Hülle, ein Prinzip muß eine Wohnstätte haben; eine Kirche ist nichts anderes als Gott zwischen vier Wänden; jedes Dogma braucht seinen Tempel. Die erste Frage, als der Konvent in’s Leben trat, war die, wo er untergebracht werden sollte.

Zuerst wählte man die Reitschule, dann die Tuilerieen. In der Reitschule stellte man einen großen Rahmen mit einem von David Grau in Grau gemalten Prospekt auf, symmetrische Bänke, eine viereckige Rednerbühne, gleichlaufende Pilasterreihen mit Untersätzen wie Blöcke, geradlinige Bindebalken, rechtwinklige, erhöhte Schachteln, in denen sich die Menge kaum rühren konnte und die man die öffentlichen Tribünen nannte, ein römisches Belarium und griechische Draperieen; und in diese rechten Winkel und geraden Linien hinein setzte man den Konvent, mitten zwischen die Geometrie den Sturm. An die Rednerbühne war, in Grau, eine Freiheitsmütze gemalt worden. Erst entstand unter den Royalisten großes Gelächter ob der rothen Mütze, welche grau war, dem zusammengeleimten Saal, dem Pappdeckelbau, dem Heiligthum aus Papiermachee, dem Provinz-Theater-Pantheon. Wie so bald sollte der Spott verstummen! Die Säulen bestanden aus Faßdauben, die Gewölbe aus Schindeln; die bas-reliefs waren von Mastix, die Gesimse von Tannenholz, die Statuen von Gyps, die Wände von Leinwand, der Marmor gemalt; doch Frankreich schuf in diesem Provisorium Ewiges.

Als der Konvent den Saal in der Reitschule bezog, klebten die Wände noch voll Plakate, wie sie zur Zeit der Rückkehr von Varennes ganz Paris überfluthet hatten. Auf dem einem war zu lesen: »Der König kommt! wer ihm Beifall zuruft, bekommt Stockprügel; wer ihn beschimpft, kommt an den Laternenpfahl.« – Auf einem andern: »Ruhe! Hut auf behalten! Er fährt an seinen Richtern vorbei.« – Auf einem dritten: »Der König hat auf die Nation angelegt; das Gewehr ist nicht losgegangen; Volk, jetzt schieße Du!« – Und auf noch einem: »Das Gesetz vollstrecken, das Gesetz!« Zwischen diesen Mauern saß der Konvent über Ludwig XVI. zu Gericht.

0143

Zwischen diesen Mauern saß der Konvent über Ludwig XVI. zu Gericht.

In den Tuilerieen, in die er am 10. Mai 1793 übersiedelte und die den Namen Nationalpalast erhielten, nahm der Sitzungssaal den ganzen Raum zwischen dem Pavillon de I’Horloge, damals Einheitspavillon, und dem Pavillon Marsan, damals Freiheitspavillon geheißen, ein. Der Florapavillon war nach der Gleichheit umgetauft. Zu diesem Saal führte die große Treppe von Jean Bullant. Unter dem ersten Stock, wo die Versammlung tagte, war der ganze Parterreraum eine einzige lange Wachtstube voll Gewehrpyramiden und Pritschen für die Truppen aller Waffengattungen, die den Konvent zu schützen hatten. Die Volksvertretung verfügte überdies noch über eine Ehrenwache von »Grenadieren des Konvents«. Ein dreifarbiges Band trennte das Schloß und die Versammlung vom Garten, in welchem das Volk ab- und zuging.

III

Beschreiben wir auch diesen Sitzungssaal genau: eine so furchtbare Stätte ist in jeder Einzelheit interessant. Was beim Eintreten zunächst auffiel, war, zwischen zwei großen Fenstern eine Riesenstatue der Freiheit. Zweiundvierzig Meter in der Länge, zehn in der Breite, und elf in der Höhe, in diesen Verhältnissen war der Raum gehalten, der aus einem Theater des Königs in das Theater der Revolution umgewandelt worden. Der elegante, von Vigarani für die Hofleute erbaute Prachtsaal verschwand unter dem plumpen Gerüst, welches Anno 93 die Last der Volkes über sich ergehen lassen mußte. Dieses zur Aufnahme des Publikums bestimmte Gerüst war insofern ein Unikum, als es sich auf nur einen Balken von zehn Metern stützte. Es haben wenig Kariatiden so Schweres geleistet wie dieser Balken, der Jahre lang den wuchtigen Anprall der Revolution ertrug. Er hielt treulich aus unter all der Begeisterung, all den Jubel- und Schmährufen, dem Gebrüll, dem Fußgestampf, den chaotischen Zornausbrüchen des Aufruhrs; nach dem Konvent sah er den Rath der Aeltesten noch und wurde erst abgelöst durch den 18. Brumaire, wo ihn Percier durch Marmorsäulen ersetzte, die von kürzerer Dauer sein sollten.

Die Architekten schwärmen oft in sonderbaren Gebilden; dem Erbauer der Rivolistraße hat die durchschneidende Linie einer Kanonenkugel als Ideal vorgeschwebt, dem Erbauer von Karlsruhe ein Fächer; der Erbauer des Saals, den am 10. Mai 93 der Konvent bezog, schien es auf eine kolossale Kommodeschublade abgesehen zu haben, etwas Gestrecktes, Hohes und Flaches. An der einen Langseite des gleichlaufenden Vierecks war ein großes Amphitheater angebracht, wo sich, gleichfalls in Halbkreisen, die Bänke der Abgeordneten befanden, ohne Tische oder Pulte; Garan-Coulon, der häufig Notizen nahm, mußte auf seinen Knien schreiben. Den Bänken gegenüber stand die Rednerbühne, davor eine Büste von Lepelletier-Saint-Fargeau, dahinter der Präsidentenstuhl. Der Kopf der Büste erhob sich etwas über den Rand der Tribüne und wurde deshalb in der Folge entfernt. Die Bänke waren in neunzehn stufenweise hintereinander aufsteigenden Halbkreisen aufgestellt, die sich an beiden Enden verlängern ließen. Im Hufeisen unter der Rednerbühne hielten sich die Huissiers auf. Auf der einen Seite der Tribüne hing an der Wand in einem schwarzen Holzrahmen eine neun Fuß hohe, in der Mitte durch einen scepterförmigen Strich in zwei Spalten getheilte Tafel mit dem Verzeichniß der Menschenrechte; auf der einen Seite, die jetzt noch leer stand, wurde später in ähnlicher Weise, nur durch einen schwertförmigen Strich getheilt, die Verfassung des Jahres Zwei angebracht. Ueber der Tribüne und der Kopfhöhe des Redners rauschten aus einer tiefen, zweigetheilten, von Zuschauern wimmelnden Galerie drei ungeheuere Trikolorfahnen um einen geschnitzten Altar, der die Inschrift »Dem Gesetz« trug und hinter dem, als Schildwache der freien Worte, hoch wie eine Säule, ein römisches Ruthenbündel ragte. Den Abgeordneten zugekehrt, dicht an der Wand, standen Kolossalstatuen, zur Rechten des Präsidenten Lykurg, zur Linken Solon und gegenüber, über den Sitzen der Bergpartei, ein Plato. Die Statuen standen auf einfachen Würfeln, die auf dem langen, vorstehenden Kranz ruhten, welcher um den ganzen Saal lief, und das Volk von der Versammlung trennte; dieser Kranz diente den Galerien als Brüstung. Der schwarze Rahmen der Tafel mit den Menschenrechten reichte bis hinauf, sogar etwas über die Zeichnung des Gesimses hinaus, eine Unterbrechung der geraden Linie, über die sich Chabot Vadier gegenüber mit den Worten beschwert hatte: »Das ist unschön.« Auf den Köpfen der Statuen wechselten Kränze von Eichenlaub mit Lorbeerkränzen ab. Von dem fortlaufenden Mauerkranz hingen grüne Draperieen, auf denen in dunklerem Grün die gleichen Kränze gemalt waren, in großen steifen Falten herab und bedeckten den ganzen untern Theil der Wände, an denen oberhalb aus der weißen kalten Uebertünchung zwei ausgehöhlte, wie mit dem Ausschneideeisen hineingerissene Etagen ohne Laubwerk noch sonstige Verzierung klafften, die viereckigen Zuschauergalerien unten, die runden darüber, ganz nach den damaligen Regeln der Baukunst, denn so stand es im Vitruv, der damals noch nicht entthront war. An jeder Langseite des Saals befanden sich zehn öffentliche Tribünen und an den Breitseiten je zwei ungeheuere Logen, im Ganzen also vierundzwanzig Räumlichkeiten, in denen sich die Volksmenge anhäufte. Die Zuschauer der untern Tribünen strömten über und gruppirten sich auf der Brüstung und auf jeden Vorsprung der Architektur. Eine lange auf Brusthöhe fest eingeklammerte Eisenstange diente den obern Tribünen als Geländer und schützte das dortige Publikum gegen die Folgen des stürmenden Andranges von den Treppen her; dennoch wurde einmal ein Mann in die Versammlung hinuntergestoßen, wo er zum Theil auf Massieu, den Bischof von Beauvais, zu fallen kam; das rettete ihn und gab ihm die Bemerkung ein: »Sieh da, zu etwas ist’s doch gut, so ein Bischof!« – Der Saal des Konvents konnte zweitausend Menschen fassen, in bewegten Tagen sogar dreitausend. Sitzungen fanden jeden Morgen und jeden Abend statt. Der Fauteuil des Präsidenten hatte eine runde, mit vergoldeten Nägeln beschlagene Lehne; die Tischplatte davor ruhte auf vier phantastischen geflügelten und einfüßigen Thiergestalten, von denen man hätte glauben können, sie seien der Apokalypse entstiegen, um die Revolution mitzuerleben; sie schienen vom Wagen des Ezechiel ausgespannt worden zu sein, um am Henkerkarren von Samson zu ziehen. Auf dem Tisch stand eine große Schelle, fast eine mittelgroße Glocke, ein breites Messingtintenfaß und ein Foliant in Pergamenteinband, der die Sitzungsprotokolle enthielt; auf diesen Tisch war schon Blut herabgetropft von abgeschnittenen, auf Piken getragenen Köpfen. Zu der Rednerbühne führten neun Stufen; sie waren hoch, steil, unbequem; Gensonné war eines Tages darauf gestolpert: »Das ist ja die reine Guillotinentreppe!« hatte er gesagt, und Carrier hatte ihm zugerufen: »Studir’s nur ein!« Die Ecken des Saales, wo die kahle Wand am meisten aufgefallen wäre, hatte der Architekt mit Fasces ausgeschmückt, deren Beile nach außen gekehrt waren. Zur Rechten und Linken der Rednerbühne stand auf einem Postament je ein Kandelaber in der Höhe von zwölf Fuß und mit vier Paar Ziehlampen. Ein gleicher Kandelaber war auch in jeder Tribüne angebracht. Die Postamente waren mit ausgehauenen Ringen verziert, welche im Volksmund »Guillotinenhalsbänder« hießen. Die höchsten Bänke der Versammlung reichten beinahe bis zum Kranz vor den Tribünen hinauf, so daß die dort sitzenden Abgeordneten und das Volk mit einander reden konnten. Die Thüren der Tribünen mündeten in ein Labyrinth von Gängen, die oft von einem wilden Getöse widerhallten! Der Konvent staute sich im Palast und fluthete bis in die umliegenden Hotels zurück, in’s Hotel Coigny und in’s Hotel Longueville; in letzteres wurde, wenn einem Brief von Lord Bradford Glauben zu schenken ist, nach dem 10. August das königliche Mobiliar hinüber geschafft. Zwei Monate lang wurde damals an den Tuilerieen ausgeräumt.

Die Ausschüsse waren in der Nähe des Saals untergebracht, im Gleichheitspavillon Gesetzgebung, Ackerbau und Handel, im Freiheitspavillon Marine, Kolonien, Finanzen, Assignate, öffentliche Wohlfahrt, im Einheitspavillon der Krieg. Der Sicherheitsausschuß stand mit dem Wohlfahrtsausschuß vermittelst eines dunklen Ganges in Verbindung, in dem Tag und Nacht eine Laterne brannte und wo die Kundschafter aller Parteien ab- und zugingen; es wurde dort leise gesprochen.

Die Schranken des Konvents sind mehrmals anders gestellt worden; für gewöhnlich befanden sie sich zur Rechten des Präsidenten. An beiden Enden des Saales lagen zwischen den senkrechten Wänden, die links und rechts die konzentrischen Halbkreise des Amphitheaters abschlossen, und zwischen der Saalmauer zwei enge lange Durchgänge, in die zwei dunkle viereckige Thüren mündeten; durch diese Thüren trat man aus und ein. Die Abgeordneten gelangten unmittelbar von der Terrasse des Feuillants in den Saal. Dieser hatte sowohl bei Tag, wo er durch die ungenügenden Fenster, wie bei hereinbrechender Dämmerung, wo er durch fahle Lichter spärlich erhellt war, etwas düster Nachtendes an sich. Die halbe Beleuchtung ergänzte nur das abendliche Dunkel und die Sitzungen bei Lampenschein waren unheimlich. Sehen konnte man sich nicht; von einem Ende des Saals zum andern, von rechts, von links warfen Gruppen von vernebelten Gesichtern einander Schmähungen zu. Man traf zusammen, ohne sich zu erkennen; nach der Tribüne eilend, war eines Abends Laignelot im Gang, der von den Bänken hinabführte, gegen Jemand angerannt: »Robespierre, Pardon,« sagte er. – »Für wen hältst Du mich?« antwortet ihm eine rauhe Stimme. – »Pardon, Marat,« sagte nun Laignelot.

Unten, rechts und links am Präsidenten, befanden sich zwei reservirte Tribünen, denn merkwürdigerweise gab es im Konvent bevorzugte Zuschauer; diese Tribünen waren die einzigen, vor denen, in der Mitte des Architravs hinter zwei Quasten aufgebauscht, eine Draperie hing. Die öffentlichen Tribünen waren kahl.

Das Ganze bot einen gewaltsamen, wilden und dennoch regelmäßigen Anblick; Korrektheit im Ingrimm kennzeichnet überhaupt mehr oder minder die Revolution. Der Konventsaal lieferte das vollständige Muster dessen, was die Künstler seither den »Messidorbaustil« genannt haben, etwas Plumpes und Ärmliches; die damaligen Architekten verwechselten das Symmetrische mit dem Schönen. Die Renaissance hatte unter Ludwig XV. ihr letztes Wort gesprochen und nun war der Rückschlag gekommen; das Edle war in’s Läppische und das stilistisch Reine in’s Langweilige ausgeartet. Es giebt auch eine architektonische Prüderie. Nachdem die Kunst des achtzehnten Jahrhunderts sich in blendenden Formen und Farben sattgeschwelgt, schränkte sie sich jetzt auf Brod und Wasser ein und gestattete sich nur mehr die gerade Linie; eine derartige Äußerung des Ebenmaßes führt jedoch zum Häßlichen, denn solche nüchterne Enthaltsamkeit hat das Mißliche an sich, daß sie den Stil mager werden läßt, und daß so die Kunst sich zum Skelett verknöchert.

Auch abgesehen von aller politischen Spannung und einzig und allein im Hinblick auf das Architektonische, starrte aus diesen Wänden ein beklemmendes Etwas; es stieg ein dunkles Erinnern in einem auf an das frühere Theater, an die guirlandenumrankten Logen, an die azurne und purpurne Decke, an den Kronleuchter mit seinen geschliffenen Glasrauten, an die Girandolen mit ihrem Diamantengefunkel, an die hellgrauseidenen Tapeten, an die Unzahl von Nymphen und Amoretten auf Vorhang und Draperieen, an das ganze gemalte, geschnitzte, vergoldete, kosende Königsidyll, das hier gelächelt hatte über dieser strengen Stätte, wo jetzt dem Blick lauter harte, kalte, messerscharfe rechte Winkel begegneten und wo man eine dunkle Empfindung hatte, als sei hier die Phantasie eines Voucher durch David guillotinirt worden.

IV.

0150

Brissot. Barbaroux.

Vergniaud. St. Just.

0151

Joseph Chenier. David.

Sieyès. Camille Desmoulins.

Aber über der Versammlung vergaß man den Saal, über der Tragödie die Dekorationen. Nichts Ungestalteres und wieder nichts Verklärteres als die handelnden Personen: eine Heldenschaar und eine Heerde von Feiglingen, Löwen auf einem Berg und Kröten in einem Sumpf, das wimmelnde, drängende, herausfordernde, drohende, ringende Dasein aller jener Kämpfer, die jetzt nur noch Phantome sind – ein titanisches Getümmel. Rechts eine Legion von Denkern, die Gironde, links eine Schaar von Athleten, die Bergpartei. Auf der einen Seite Brissot, der die Schlüssel der Bastille in Empfang genommen hatte, Barbaroux, der Führer der Marseiller Freiwilligen, Kervélégan, der Liebling der in der Vorstadt Saint-Marceau einquartirten Bataillons von Brest, Gensonné, der die Obergewalt der Abgeordneten über die Generale zur Geltung gebracht hatte, der verhängnißvolle Guadet, dem in einer Nacht die Königin in den Tuilerieen den schlafenden Dauphin gezeigt und der das Kind auf die Stirn geküßt, den Vater aber mit um den Kopf gebracht hatte, Salles, der märchenhafte Erfinder des Einverständnisses zwischen der Bergpartei und Österreich, der hinkende Sillery, der Krüppel der Rechten (auch die Linke hatte ihren Krüppel, Couthon), Lause-Duperet, welcher einen Journalisten, der ihn einen Wicht geschimpft hatte, mit der Bemerkung zu Tisch lud: »Ich weiß wohl, daß Wicht nichts anderes bedeutet als Andersdenkender«; Rabaut Saint-Etienne, der seinen Almanach für 1790 mit den Worten eingeleitet hatte: »Die Revolution hat ihr Ziel erreicht«; Quinette, einer Derjenigen, die Ludwig XVI. stürzten, der Jansenist Camus, der die Zivilverwaltung der Geistlichkeit in Paragraphen brachte, an die Wunder des Diakonus Paris glaubte und sich allnächtlich vor einem in seinem Zimmer angenagelten sieben Fuß hohen Christusbild niederwarf, Fauchet, ein Priester, der Camille Desmoulins den 14. Juli hatte machen helfen, Isnard, der das Verbrechen beging, zu sagen: »Paris wird zerstört werden«, in demselben Augenblick, wo der Herzog von Braunschweig drohte: »Ich werde Paris einäschern«; Jakob Dupont, der Erste, der laut bekannte: »Ich bin Atheist«, worauf Robespierre ihm zurief: »Der Atheismus ist eine aristokratische Anschauung«; Lanjuinais, ein harter, scharfsinniger, heißer bretonischer Kopf, Ducos, der Euryalus von Boyer-Fonfrède, Rebecqui, der Pylades von Barbaroux, der seine Entlassung einreichte, weil Robespierre noch nicht guillotinirt worden war, Richaud, der die Permanenz der Bezirksräthe bekämpfte, Lasource, der den mörderischen Ausspruch gethan hatte: »Wehe den erkenntlichen Nationen!« und der sich später, als er das Schaffot bestieg, widersprach, indem er den Montagnards die stolzen Worte hinwarf: »Wir sterben, weil das Volk schläft, und ihr sterbt einmal, wenn es erwacht sein wird«; Biroteau, der durch seinen Antrag auf Abschaffung der parlamentarischen Unverletzlichkeit ahnungslos das Fallbeil schliff und sich selber das Blutgerüst zimmerte, Charles Villatte, der seinem Gewissen in dem Protest Luft machte: »Ich will nicht unter dem Messer abstimmen«; Louvet, der Verfasser des »Faublas«, der später mit seiner Lodoiska eine Buchhandlung im Palais-Royal eröffnete, Mercier, der Verfasser des »Tableau de Paris«, der einmal äußerte: »Der 21. Januar ist allen Königen in den Nacken gefahren«; Marec, dem »die Partei der früheren Einschränkungen« zu Herzen ging, der Journalist Carra, der auf der Guillotine zum Henker sagte: »Es verdrießt mich, zu sterben; ich hätte die Fortsetzung mit ansehen mögen«; Vigée, der sich selber »Grenadier im zweiten Bataillon von Mayenne-et-Loire« titulirte und, von den Tribünen herab bedroht, ausrief: »Ich verlange, daß beim ersten Murren auf den Tribünen wir uns Alle zurückziehen und mit dem Säbel in der Faust, nach Versailles marschiren«; Buzot, der einst dem Hungertod verfallen, Valazé, der dem eigenen Dolch erliegen, Condorcet, der im Bourg-la-Reine oder vielmehr Bourg-Egalité umkommen sollte, verrathen durch den Horaz, den er bei sich trug; Pétion, dem das Geschick zu Theil ward, im Jahre 1792 von der Menge vergöttert und im Jahre 1793 von den Wölfen verschlungen zu werden, und zwanzig Andere noch, Pontécoulant, Marboz, Lidon, Saint-Martin, Dussaulx, der Übersetzer des Juvenal, der den Feldzug von Hannover mitgemacht hatte, Boilleau, Bertrand, Lesterp-Beauvais, Lesage, Gomaire, Gardien, Mainvieille, Duplantier, Lacaze, Antiboul und über diesen Allen, ein zweiter Barnave, Vergniaud.

Auf der andern Seite der bleiche dreiundzwanzigjährige Antoine-Louis-Léon Florelle von Saint-Just mit der niedrigen Stirn, dem reinen Profil und der tiefen Trauer im geheimnißvollen Blick, Merlin aus Thionville, den die Deutschen den Feuerteufel nannten, Merlin aus Douai, der frevelhafte Urheber des Gesetzes gegen die Verdächtigen, Soubrany, den das Volk am ersten Prairial zu seinem Anführer wählte, der vormalige Pfarrer Lebon, der in der Hand, mit der er Weihwasser gereicht hatte, jetzt einen Säbel schwang, Billaud-Varennes, der die Rechtsprechung der Zukunft erdachte: Schiedsrichter statt der Richter von Fach; Fabre-d’Eglantine, der auf einen reizenden Einfall gerieth, den republikanischen Kalender, aber nur auf den einen Einfall, wie Rouget de Lisle eine einzige geniale Eingebung gehabt hatte, die Marseillaise; Manuel, der Prokurator des Stadtraths, der gesagt hatte: »Der Tod eines Königs macht die Welt um keinen Menschen ärmer«; Goujon, der in Tripstadt, in Neustadt und in Speier eingezogen war und das preußische Heer hatte fliehen sehen, Lacroix, ein General gewordener Advokat, der sechs Tage vor dem 10. August das Ludwigskreuz erhalten hatte, Fréron der Thersites, Fréron’s des Zoïlus Sohn, Ruth, der unerbittliche Durchstöberer des eisernen Schranks Ludwigs XVI., der in der Folge zum großen Selbstmord des Brutus griff, weil er die Republik nicht überleben wollte; Fouché mit der Teufelsseele und dem Leichengesicht, Camboulas, der Freund des Père Duchesne, der zu Guillotin sagte: »Wenn Du auch zu den Feuillants gehörst, Deine Tochter gehört zu den Jakobinern«; Jagot, der Denjenigen, welche die Gefangenen wegen ihrer mangelhaften Kleidung bedauerten, die herzlose Antwort gab: »Ein Gefängniß ist ein steinerner Anzug«; Javogues, der unheimliche Aufbrecher der Gräber von Saint-Denis, Osselin, ein eifernder Verfolger, der eine Verfolgte, Frau Charry, bei sich versteckte, Bentabole, der, wenn er den Präsidentenstuhl innehatte, den Tribünen das Zeichen zum Applaus oder zum Zischen gab, der Journalist Robert, dessen Gattin, Fräulein Kéralio, die Worte schrieb: »Mich besucht weder Robespierre noch Marat; Robespierre empfange ich, wann es ihm genehm sein sollte, Marat aber nie«; Garan-Coulon, der, als sich der spanische Hof für Ludwig XVI. verwenden wollte, mit stolzem Trotz verlangt hatte, daß sich die Versammlung nicht herablasse, die Fürbitte eines Königs für einen König zu lesen; der Bischof Grégoire, der, nachdem er sich der apostolischen Zeiten würdig erwiesen hatte, später, unter dem Kaiserreich, den Republikaner Grégoire für Grégoire den Grafen hinwarf, Amar, welcher behauptete: »Ludwig XVI. ist in den Augen der ganzen Menschheit verurtheilt; wer könnte da noch den Richterspruch revidiren? Nur die Sterne«; Rouyer, der sich am 21. Januar dem Abfeuern der Kanone vom Pont-Neuf aus dem Grunde widersetzt hatte, daß der Kopf eines Königs im Fallen nicht mehr Lärm machen solle als der Kopf eines andern Menschen«; Chénier, der Bruder von André Chénier, Vadier, einer von Denen, die ein Pistol vor sich auf die Tribüne legten, Panis, der zu Momoro sagte: »Marat und Robespierre sollen sich bei mir, an meinem Tisch, umarmen.« – »Wo wohnst Du denn?« – »In Charenton.« – »Dacht‘ ich mir’s doch,« erwiderte Momoro; Legendre, der, wie Pride der Fleischer der englischen Revolution gewesen, der Fleischer der französischen war. »Komm her, daß ich Dich niederschlage!« rief er eines Tages Lanjuinais zu und Lanjuinais entgegnete: »Erst laß die Verordnung ergehen, daß ich ein Ochse bin;« und Collot d’Herbois, der finstere Komödiant mit dem Januskopf, der zugleich Ja und Nein sagte, mit dem einen Mund billigte, was er mit dem andern verwarf, Carrier’s Verhalten in Nantes brandmarkte und Chalier’s Verhalten in Lyon in den Himmel hob, der Robespierre in den Tod und Marat in’s Pantheon schickte; Génissieux, der gegen Jeden die Todesstrafe beantragte, bei dem die Medaille mit der Inschrift »Ludwig XVI. der Märtyrer«, gefunden wurde, Leonard Bourdon, der Schulmeister, der dem Greis vom Mont-Jura sein Haus angeboten hatte, Dobsent, ein Seemann, Gouvilleau, ein Advokat, der Kaufmann Laurent Lecointre, der Arzt Duhem, der Bildhauer Sergent, David der Maler, Joseph-Philipp Egalité der Prinz; außerdem noch Lecointe-Puiraveau, der begehrte, daß Marat durch Dekret für unzurechnungsfähig erklärt werde, Robert Lindet, der beängstigende Schöpfer jenes Ungeheuers, dessen Kopf der Sicherheitsausschuß war und das Frankreich mit einundzwanzigtausend Armen festhielt, die man die revolutionären Ausschüsse nannte, Leboeuf, auf den Girey-Dupré in seinen »Weihnachten der falschen Patrioten« den Vers gedichtet hatte: »Le boeuf vit Legendre et beugla«;7 der milde Thomas Payne, ein Amerikaner; Anacharsis Cloots, ein deutscher Baron und Millionär, Atheist, Anhänger Hebert’s, treuherzig; der gewissenhafte Lebas, der Freund der Familie Duplay; Nevère, einer jener seltenen Menschen, die boshaft sind um der Boshaft willen, denn der Grundsatz, daß die Kunst sich selber Zweck ist, macht sich zuweilen auch bei Charaktereigenschaften geltend; Chalier, der die Aristokraten mit »Sie« angeredet wissen wollte; der elegische und grausame Tallien, der in der Folge aus Verliebtheit den 9. Thermidor machte; Cambacérès, erst Anwalt, dann Fürst; Carrier, erst Anwalt, dann Tiger; Laplanche, der einmal ausrief: »Ich verlange die Vorhand für die Lärmkanone«; Thuriot, der die laute Abstimmung der Geschworenen des Revolutionstribunals begehrte; Bourdon aus dem Departement Oise, der Chambon zum Zweikampf forderte, Payne verklagte und selber durch Hébert verklagt wurde; Payon, der für die Vendée »eine mordbrennerische Armee« begehrte; Tavaux, der am 13. April die Gironde und die Bergpartei beinahe versöhnte; Vernier, der beantragte, die beiderseitigen Parteiführer möchten sich als gemeine Soldaten anwerben lassen; Rewbell, der Mainz mitvertheidigte; Bourbotte, dem bei der Einnahme von Saumur das Pferd unter dem Leib erschossen ward; Guimberteau, der die Küstenarmee von Cherbourg, Jard-Painvilliers, der die Küstenarmee von La Rochelle, Lecarpentier, der das Geschwader von Cancale leitete; Roberjot, der bei Rastatt ermordet werden sollte; Prieur aus der Marne, der im Lager seine alten Schwadronschef-Epauletten trug; Levasseur aus dem Departement Sarthe, der mit einem Wort den Kommandanten des Bataillons Saint-Amand, Serrant, in den Tod zu gehen bestimmte; dazu noch Reverchon, Maure, Bernard aus Saintes, Charles Richard, Lequinio und an der Spitze der ganzen Gruppe ein Mirabeau Namens Danton.

Außerhalb dieser beiden Lager, beide in Schach haltend, ein einzeln Ragender, Robespierre.

V.

Unten drunten neigte sich das Entsetzen, das auch edel sein kann, und krümmte sich die niedrige Furcht. Unter all den Leidenschaften, all dem Heldenmuth, all der Aufopferung, all der Wuth, wogte die trübe Schaar der Namenlosen in den Tiefen, die man »die Ebene« nannte. Hier fand sich jedes schwankende Element zum andern, Männer des Zweifels und Zauderns und Zurückrufens und Aufschiebens und Zuwartens, oder in Angst vor Jemand oder Etwas. Die Montagnards waren eine Elite, die Girondins eine Elite; die Plaine war die Menge; sie verdichtete und verkörperte sich in der Person von Sieyès.

Sieyès war tief angelegt, aber hohl geworden; er war beim »dritten Stand« stehen geblieben und hatte sich nicht bis zum Begriff Volk emporschwingen können. Gewisse Geister sind wie eigens geschaffen, auf halben Höhen zu wandeln. Sieyés nannte Robespierre den Tiger und wurde von diesem der Maulwurf genannt. Dieser Metaphysiker hatte sich die Weisheit nicht, aber die Klugheit ergrübelt. Er war der Höfling, nicht der Diener der Revolution. Mit der Schaufel auf der Schulter spannte er sich neben Alexander Beauharnais vor einen Karren und zog mit dem Volk zur Arbeit auf das Marsfeld aus. Er rieth Andern zum Durchgreifen und machte selber von dem Rath keinen Gebrauch; so sagte er zu den Girondins: »Gewinnt die Kanonen für Eure Partei.« Es giebt Denker, die kämpfen wollen; in der Weise stand Condorcet zu Vergniaud oder Camille Desmoulins zu Danton; und es giebt hinwider Denker, die leben wollen, und diese standen zu Sieyès. Auch in den reinsten Kufen bildet sich ein Bodensatz. Unter »der Ebene« lag noch »der Sumpf«, eine scheußlich stagnirende Masse, durchsichtig vor lauter Selbstsucht. Da fröstelte die stumme Gespanntheit der Zitterer; da kauerte der Inbegriff der Erbärmlichkeit, jede Schändlichkeit und keine einzige aufrichtige Schande, ein verkrochener Grimm, der Aufstand hinter der Unterwürfigkeit. In hündischem Erbangen entwickelten jene Memmen den ganzen Muth der Feigheit; sie waren für die Gironde und stimmten mit der Montagne; den Ausschlag mußten immer sie geben, und immer warfen sie nach der Seite des Erfolgs um; sie lieferten Ludwig XVI. an Vergniaud aus, Vergniaud an Danton, Danton an Robespierre, Robespierre an Tallien; sie brandmarkten den lebenden Marat und vergötterten ihn im Tod; sie unterstützten Alles bis zum Tag, wo sie es stürzen halfen; sie hatten den Instinkt des letzten Stoßes für alles Wankende. Da sie ihre Knechtsdienste von der Widerstandskraft ihrer Herren abhängig machten, galt deren Wanken in ihren Augen für Verrath. Sie waren Zahlen, waren die Kraft, waren die Angst; daher ihre Frechheit im Schmählichen, daher der 31. Mai, der 11. Germinal, der 9. Thermidor, Tragödienverwickelungen durch Riesen geknüpft und gelöst durch Zwerge.

VI.

Mitten unter den Berserkern hatte der Konvent auch seine Träumer; das Utopische war in allen seinen Äußerungsformen vertreten, von der kriegerischen, die das Schaffot billigte, bis zur friedlichsten, welche die Todesstrafe abschaffte – den Königen gegenüber den Dämon, den Völkern gegenüber den Engel herauskehrend. Zwischen den streitbaren saßen die brütenden Geister; jene sannen auf Kampf, diese auf Ruhe; einer jener Köpfe, der von Carnot, gebar vierzehn Armeen, indessen ein anderer, der von Jean Debry, dem Plan zu einer demokratischen Weltverbrüderung nachhing. Unter diesen tobenden Rednern mit den brüllenden Donnerstimmen saßen fruchtbringende Schweiger: Lakanal schwieg und entwarf die Grundzüge des öffentlichen Nationalunterrichts; Lanthenas schwieg und schuf dann die Volksschulen; Revellière-Lépaux schwieg und träumte von der Erhebung der Philosophie auf die Altäre der Religion. Andere beschäftigten bescheidenere, praktischere Detailfragen: Guyton-Morveaux trug sich mit einer gesünderen Einrichtung der Spitäler, Maire mit Aufhebung der Realservituten, Jean-Bon-Saint-André mit Abschaffung der Schuldhaft, Romme mit dem Vorschlag von Chappe, Duboë mit der Organisation der Archive, Coren-Fustier mit der Gründung der anatomischen und naturwissenschaftlichen Sammlungen, Guyomard mit der Regelung der Flußschifffahrt und dem Querdamm der Schelde. Auch für Kunst wurde geschwärmt, von Einzelnen sogar bis zur Manie; am 21. Januar, während auf dem Revolutionsplatz das Haupt der Monarchie niederrollte, besichtigte Bézard, ein Abgeordneter des Departements Oise, einen Rubens, der in einer Dachkammer der Straße Saint-Lazare entdeckt worden war. Künstler, Redner, Propheten, Kolossalnaturen wie Danton und kindliche Naturen wie Cloots, Gladiatoren wie Philosophen, Alle hatten sie ein gemeinsames Ziel vor Augen, den Fortschritt. Durch nichts ließen sie sich beirren.

Die Größe des Konvents besteht darin, daß er idealen Dingen, welche von den Menschen als Unmöglichkeiten verschrieen werden, das innewohnende Maß Wirklichkeit abzuringen trachtete. Auf der einen Seite hielt Robespierre den Blick auf das Recht, auf der andern hielt Condorcet den Blick auf die Pflicht gerichtet. Condorcet war der Mann des Traums und des Lichts, Robespierre der Mann der Ausführung, und in Perioden, die über Tod oder Leben einer altgewordenen Kultur entscheiden, ist Ausführung zuweilen gleichbedeutend mit Austilgung. Die Revolutionen haben zwei Abhänge, bergauf und bergab, und auf beiden sind die Jahreszeiten ihrer Entwicklung vertreten, vom Winterschnee bis zu den Herbstblüthen, und jede Zone jener Abhänge bringt die ihr entsprechenden Männer hervor, von denen, die im Sonnenschein, bis zu denen, die im Wetterstrahl leben.

VII.

Man zeigte sich den Winkel des linken Durchgangs, in dem Robespierre Garat, dem Freund Clavière’s, die drohenden Worte zugeflüstert hatte: »Clavière hat sich, wo er ging und stand, vergangen und zu komplottiren unterstanden.« In eben demselben Winkel, der sich zu heimlichen Gesprächen und halblauten Zornausbrüchen eignet, hatte Fabre d’Eglantine Romme einen Verweis gegeben, weil dieser den republikanischen Kalender durch Umänderung von »Fervidor« in »Thermidor«, wie ihm vorgeworfen wurde, entstellt hatte. Man zeigte sich auch die Ecke, wo, dicht neben einander, die sieben Vertreter der Haute-Garonne saßen, die bei der Urtheilfällung über Ludwig XVI. zuerst aufgerufen, der Reihe nach geantwortet hatten, Mailhe: »Todesstrafe,« Delmas: »Todesstrafe«, Projean: »Todesstrafe«, Calès: »Todesstrafe«, Ayral: »Todesstrafe«, Julien: »Todesstrafe«, Desaby: »Todesstrafe« – ein Beweis dafür, daß die Weltgeschichte eine endlose Reihenfolge von Rückschlägen ist, welche von den Mauern jedes Tribunals das Echo der Gruft widerhallen lassen. Man wies in diesem wilden Getümmel von Gesichtern mit dem Finger auf alle die einzelnen, deren tragische Richtersprüche sich zu dem einen großen Racheschrei verschmolzen hatten; Paganel, der gesagt hatte: »Todesstrafe; ein König ist nur im Sterben nützlich«; Millaud, der gesagt hatte: »Wenn es heute noch keinen Tod gäbe, müßte man einen erfinden«; den alten Raffron du Trouillet, der gesagt hatte: »Schleunige Todesstrafe«; »Goupilleau, der gerufen hatte: »Gleich auf’s Schaffot mit ihm! die Zögerung verschärft den Tod«; Sieyès hatte sein Votum in das eine düstere Wort zusammengefaßt: »Tod«; Thuriot hatte gegen die von Buzot vorgeschlagene Berufung an das Volk geeifert: »Wie? man will die Wähler befragen? vierundvierzigtausend Gerichtshöfe einsetzen? Es würde ein Prozeß ohne Ende, und Ludwig’s XVI. Haupt hätte Zeit genug, noch weiß zu werden vor dem Fallen«; Augustin-Bon Robespierre rief, nachdem sein Bruder gesprochen: »Ich kenne das Erbarmen nicht, das die Völker hinwürgt und den Despoten verzeiht. Todesstrafe! Aufschub verlangen, heißt, der Berufung an’s Volk die Berufung an die Tyrannen unterschieben«; Foussedoire, der Stellvertreter von Benardin de Saint-Pierre, hatte gesagt: »Das Blutvergießen ist mir ein Greuel, aber Königsblut ist kein Menschenblut; Todesstrafe«; Jean-Bon-Sant-André sagte: »Ohne todten Tyrannen kein freies Volk«; Lavicomterie that einen ähnlichen Ausspruch: »So lang der Tyrann athmet, erstickt die Freiheit; Todesstrafe«; Chateauneuf-Randon rief: »Tod Ludwig dem Letzten«; Guyardin: »Hinrichtung bei umgestürzter Barrière«; er meinte damit die »Barrière du Thrône«; Tellier sprach: »Man gieße, um ihn auf den Feind zu feuern, eine Kanone für den Kopf Ludwigs XVI.« Man zeigte sich auch die Nachsichtsvollen: Gentil, der gesagt hatte: »Ich stimme für Gefängniß; ein zweiter Karl Stuart bringt uns einen zweiten Cromwell«; Bancal, der gesagt hatte: »Verbannung; ich will den ersten König der Welt verurtheilt sehen, zu einem Handwerk zu greifen, um sein Brod zu verdienen«; Albouys, der gesagt hatte: »In’s Exil mit ihm! laßt ihn als lebendiges Gespenst zwischen den Thronsesseln umgehen«; Zangiaconi sagte: »Gefängniß; der lebende Capet sei ein Schreckbild in unsern Händen«: »Er lebe«, meinte Chaillon; »ich will den Todten nicht durch Rom heilig sprechen lassen.« Während diese Worte von strengen Lippen der Reihe nach der Weltgeschichte anheim fielen, zählten auf den Tribünen geputzte Frauen in ausgeschnittenen Kleidern die Stimmen nach und merkten sie mit Nadelstichen auf Verzeichnissen der Abgeordneten an.

Wo die Tragödie sich einmal gezeigt hat, da lassen sich Grauen und Mitleid dauernd nieder. Zu welcher Zeit man den Konvent auch betrachten mochte, immer wieder bot er einen ähnlichen Anblick wie bei der Abstimmung über den letzten Capet; die Legende vom 21. Januar schien in jeder ferneren Entschließung fortzuklingen; die gewaltige Versammlung war durchweht von jenem verhängnißvollen Sturmhauch, der über die alte, achtzehn Jahrhunderte lang brennende Fackel der Monarchie hingestrichen war und sie gelöscht hatte. Die entscheidende Verurtheilung aller Könige in dem einen war gleichsam der Ausgangspunkt des großen Krieges, den der Konvent gegen die Vergangenheit führte. Ganz einerlei welcher Sitzung man beiwohnte, stets warf das Schaffot Ludwigs XVI. seinen Schatten herein; die Zuschauer erzählten einander, wie Kersaint, wie Roland damals gesprochen, wie Duchâtel, ein Abgeordneter des Departements Deux-Sèvres, sich auf seinem Krankenbett hereintragen ließ, und, selber sterbend, für Leben stimmte, worüber Marat lachen mußte; und man suchte jenes seither verschollene Mitglied mit den Blicken, das nach der siebenunddreißigstündigen Gerichtsverhandlung vor Erschöpfung auf seiner Bank eingeschlafen war, und, vom Huissier zur Abgabe seiner Stimme geweckt, mit halbgeöffneten Augen »Todesstrafe« sagte und wieder einschlummerte.

Als Ludwig XVI. zur Guillotine verurtheilt wurde, hatten Robespierre noch achtzehn Monate, Danton fünfzehn, Vergniaud neun, Marat fünf Monate und drei Wochen, Lepelletier-Saint-Fargeau einen Tag Leben vor sich. Furchtbar war das Athmen jener Männer und kurz.

VIII.

Für das Volk ging ein stets offenes Fenster auf den Konvent hinaus, die öffentlichen Tribünen, und genügte das Fenster nicht, so wurde die Thür aufgemacht und die Straße entleerte sich in den Saal. Jenes Einbrechen der Menge in diese Versammlung gehört zu den überraschendsten Erscheinungen der Geschichte. Meistentheils war die Invasion gut gemeint; die Vorstädte schmollirten mit dem kurulischen Stuhl; aber es lag etwas Unheimliches in dieser herzlichen Zudringlichkeit eines Volkes, das eines Tages, ehe drei Stunden vergangen waren, die Kanonen des Invalidenhauses und Vierzigtausend Flinten ausgeführt hatte. Sehr häufig wurden die Sitzungen durch den Aufmarsch von Deputationen unterbrochen, die man mit Gesuchen, Huldigungen oder Liebesgaben an die Schranken vorließ. Es wurde durch Weiber die Ehrenpike der Vorstadt Saint-Antoine hereingetragen. Einmal widmeten Engländer den barfuß kämpfenden Soldaten zwanzigtausend Schuhe. »Der Bürger Arnoux«, las man ein andermal im Bericht des Moniteur, »Pfarrer von Aubignan und Kommandant des Bataillons vom Departement Drôme, verlangt, unter Vorbehalt seiner Pfarrei, an die Grenze zu marschiren.« Die Bezirksvertreter brachten auf Tragbahren Platten, Kelche, Monstranzen, ganze Haufen von Silber und Gold herbei, dem Vaterland von jenem Volk in Fetzen geweiht, das dafür als einzige Belohnung die Erlaubniß begehrte, dem Konvent die Carmagnole vorzutanzen. Chenard, Narbonne und Vallière kamen, um patriotische Lieder auf die Bergpartei abzusingen. Der Bezirk Mont-Blanc verehrte der Versammlung eine Büste von Lepelletier und ein Weib setzte dem Präsidenten eine rothe Mütze auf, worauf sie von diesem umarmt wurde. »Die Bürgerinnen des Bezirks le Mail« streuten »den Gesetzgebern« Blumen. »Die Schüler des Vaterlandes«, voran eine Musikbande, statteten dem Konvent ihren Dank ab »für Begründung der Wohlfahrt des Jahrhunderts.« Die Frauen des Bezirks Gardes-Françaises brachten Rosen, die vom Bezirk Champs-Elysées einen Kranz von Eichenlaub; die Mädchen vom Bezirk Temple leisteten vor den Schranken einen Eid darauf, »sich nur mit echten Republikanern zu verbinden.« Der Bezirk Molière widmete eine Medaille von Franklin, die laut Verordnung an die Krone der Freiheitsstatue gehängt wurde. Die Findelkinder, nunmehr die Kinder der Republik, zogen in der nationalen Uniform vorbei. Die Jungfrauen des Bezirks Zweiundneunzig kamen in langen weißen Gewändern, und am folgenden Tage las man im Moniteur: »Der Präsident empfängt einen Strauß aus den unschuldigen Händen einer unschuldigen Schönheit.« Die Redner grüßten die Menge, riefen ihr zuweilen sogar Schmeicheleien zu, wie: »Du bist unfehlbar; Du bist untadelhaft; Du bist erhaben.« Das Volk hat etwas vom Kind: es nascht gern Süßigkeiten. Oft auch brauste der Aufruhr durch die Versammlung; brach tobend herein und strömte beschwichtigt von dannen wie die Rhone, die beim Einmünden in den Genfer See trübe und beim Ausfluß himmelblau gefärbt ist. Mehrmals lief es jedoch so friedlich nicht ab, und Henriot ließ vor den Tuilerieen Roste herbeischaffen für die Brandkugeln.

IX.

Neben dem Zündstoff für die Revolution entwickelte die Versammlung auch eine befruchtende Kulturpotenz. Der Weltbrand nährte eine schöpferische Schmiede, und in dieser Esse, wo der Schrecken brodelte, klärte sich das Gold des Fortschritts ab. Aus dem Chaos von Schatten und der jagenden Wolkenflucht flammten Lichtstrahlen der ewigen Wahrheit nieder, unvergängliche Lichtstrahlen, die den Völkerhimmel für alle Zeiten erhellen und die sich Gerechtigkeit nennen und Duldsamkeit und Wohlwollen und Vernunft und Wahrhaftigkeit und Menschenliebe. Der Konvent stellte den großen Grundsatz auf: »Die Freiheit des Bürgers hört da auf, wo die Freiheit eines anderen Bürgers anfängt,« ein Axiom, das in zwei Worten die Bedingungen alles gesellschaftlichen Lebens zusammenfaßt. Er sprach das Elend heilig, heilig die Gerechtigkeit im Blinden und Taubstummen, die er der Fürsorge des Staates übergab, heilig die Mutterschaft in der Gefallenen, die er tröstete und aufrichtete, heilig die Kindheit in der Waise, die er dem Vaterland in den Arm legte, heilig die Unschuld im freigesprochenen Angeklagten, den er entschädigte. Er brandmarkte den Negerhandel und schaffte die Sklaverei ab. Er machte sich zum Herold der gegenseitigen Verbindlichkeit Aller gegen Alle. Er führte den unentgeltlichen Unterricht ein, regelte die nationale Erziehung durch Gründung der Normalschule zu Paris, der Centralschulen in den Departements-Hauptstädten und der Primärschulen in den Gemeinden, schuf Musik-Akademien und Kunstsammlungen, brachte die Einheit in der Gesetzgebung und durch das Dezimalsystem die Einheit in Maß, Gewicht und Münzwesen zu Stande, stellte die Ordnung in den Finanzen wieder her und rettete aus dem monarchischen Bankrott den öffentlichen Kredit. Dem Verkehr schenkte er den Signaltelegraphen, dem Alter die dotirten Versorgungshäuser, der Krankheit die verbesserten Spitäler, der höheren Ausbildung die polytechnische Schule, der Wissenschaft die geographische Vermessungsanstalt, dem menschlichen Geist die vereinigten gelehrten Körperschaften. Neben den patriotischen Zwecken verfolgte er auch kosmopolitische. Von den elftausendzweihundertundzehn Verordnungen, die der Konvent erließ, trägt ein Drittel nur einen speziell politischen, der Rest einen allgemein humanen Charakter. Der Gesellschaft wurde die Weltmoral, dem Gesetz das Gewissen der Welt zu Grund gelegt. Und Abschaffung der Dienstbarkeit, Verbrüderung Aller, Schutz für die ganze Menschheit, Läuterung des öffentlichen Gewissens, Verwandlung der ausgebeuteten Arbeit in ein gesetzlich gesichertes Recht, Befestigung des Staatsvermögens, Aufklärung und Leitung der Jugend, Förderung der Künste und Wissenschaften, Verbreitung des Lichts nach jeder Seite hin, Beistand für jedes Elend und Geltendmachung jedes höheren Grundsatzes – Alles das schuf der Konvent mit der Hydra der Vendée am Herzen und von Außen zerfleischt durch die Tigerheerde der europäischen Fürstenkoalition.

X.

Auf dem unermeßlichen Kampfplatz vereinigten sich in episch gewaltigem Widerstreit alle menschlichen und unmenschlichen und übermenschlichen Typen. Während Guillotin David aus dem Weg ging, beschimpfte Bazire Chabot; Guadet verspottete Saint-Just; Vergniaud verschmähte Danton; Louvet klagte Robespierre, Buzot Egalité an; Chambon stellte Pache an den Pranger; Alle verabscheuten Marat. Und wie viel andere Namen wären an dieser Stelle noch zu verzeichnen! Armonville, genannt Bonnet-Rouge, weil er nur in der phrygischen Mütze an den Sitzungen theilnahm, ein Freund Robespierre’s, der »nach Ludwig XVI. auch diesen guillotiniren lassen wollte, dem Gleichgewicht zulieb.« Massieu, der unzertrennliche Kollege des guten Bischofs Lamourette, der so ganz geschaffen war, einem berühmt gebliebenen Versöhnungskuß seinem Namen zu geben; Lehardy aus dem Morbihan, der die bretonischen Priester brandmarkte; Barère, der Mann der Majoritäten, der das Präsidium führte, als Ludwig XVI. vor den Schranken des Konvents erschien, und der zu der Pamela der Frau von Genlis in denselben Herzensbeziehungen stand wie Louvet zu Lodoïska; Daunon, welcher der Kongregation des Oratoriums angehörte und zu sagen pflegte: »Gewinnen wir nur erst Zeit«; Dubois-Crancé, mit dem Marat oft flüsterte; der Marquis von Chateauneuf, Laclos, Hérault-Séchelles, der vor Henriot mit dem Ruf zurückwich: »An die Geschütze!« Julien, der die Montagne mit den Thermopylen verglich; Gamon, der eine besondere öffentliche Tribüne für die Weiber beanspruchte; Laloy, der dem Bischof Gobel die Ehren der Sitzung zuerkannte, als dieser in den Konvent kam, um die Mitra gegen die Freiheitsmütze umzutauschen; Lecomte, der damals äußerte: »Man reißt sich ja darum, sich zu entpfaffen!« Féraud, vor dessen Kopf Boissy-d’Anglas später den Hut abzog, wodurch die offene Frage entstand: »Hat Boissy-d’Anglas den Kopf, und somit das Opfer, oder die Pike, also die Mörder, gegrüßt?« Die zwei Brüder Duprat, von denen der eine Montagnard, der andere Girondin war, und die einander haßten wie die beiden Chénier.

Von der Rednertribüne fielen zuweilen Worte von jener unabsehbaren Wirkung, von welcher der Sprechende selbst keine Ahnung hat, Worte, denen das Verhängnißvolle der Revolution innewohnt und auf die hin die materiellen Ereignisse plötzlich in’s ungehalten Leidenschaftliche umgeschlagen zu sein scheinen, als hätten sie das eben Gesagte übelgenommen; was geschieht, scheint dann aus Zorn zu geschehen über das, was gesprochen worden, und schmetternde Katastrophen brechen dann herein, wie zur Tollwuth angestachelt durch die Worte der Menschen. So genügt auf den Schneebergen oft ein Schrei, um eine Lawine in’s Rollen zu bringen, und so kann auch eine allzuscharf klingende Redensart einen Zusammensturz im Gefolge haben, der sonst ausgeblieben wäre. Oft liegt selbst in den Begebenheiten etwas persönlich Jähzorniges. Aus einem solchen Grund, weil zufällig die Aeußerung eines Redners mißverstanden wurde, fiel zum Beispiel das Haupt von Madame Elisabeth.

Im Konvent genoß die Maßlosigkeit im Ausdruck Bürgerrechte. Durch die Debatte schwirrten und kreuzten sich die Drohungen wie Funken in einer Feuersbrunst. – Robespierre, kommen Sie zur Sache! rief eines Tages Pétion. – Die Sache sind Sie, Pétion, entgegnet Robespierre; Ihnen werde ich nur zu früh zur Sache kommen. – Zur Guillotine mit Marat, schrie eine Stimme. – Am Tag, wo Marat sterben wird, antwortet dieser, wird kein Paris mehr sein, und am Tag, wo Paris sterben wird, stirbt die Republik mit. – Billaud-Varennes steht auf und sagt: Wir wollen … – Du sprichst wie ein König, unterbricht ihn Barére. – Und eines andern Tages, da Philippeaux darüber klagt, daß ein Mitglied den Degen gegen ihn gezogen, ruft Audouin: Präsident, rufen Sie den Mörder zur Ordnung! – Nur Geduld, sagt der Präsident; und Panis ruft ihm zu: Ich, Präsident, rufe jetzt Sie zur Ordnung. – Im Konvent wurde auch gelacht, derbe gelacht. – Der Pfarrer von Chant-de-Bout, berichtete einmal Lecointre, beschwert sich über Fauchet, seinen Bischof, der ihn nicht heirathen lassen will. – Ich sehe nicht ein, fährt eine Stimme dazwischen, warum Fauchet Maitressen halten darf, wenn er bei Andern keine Ehefrauen duldet. – Drauf los heirathen, ihr Priester, fällt eine zweite Stimme ein. – Die Tribünen mischen sich in die Debatte; sie dutzten die Abgeordneten. Eines Tages bestieg Nuamps die Rednerbühne, und weil die einer seiner »Hüften« viel entwickelter war als die andere, wurde ihm von oben zugerufen: – Dreh Dich doch nach rechts mit Deiner Backe à la David. – Dergleichen Freiheiten erlaubte sich das Volk im Konvent. Einmal jedoch, beim Tumult des 11. April 1793, ließ der Präsident einen Schreier auf den Tribünen verhaften.

In einer Sitzung, die der alte Buonarotti beschreibt, ergreift Robespierre das Wort und spricht volle zwei Stunden, den Blick immer auf Danton gerichtet, bald geradeaus (schon schlimm genug), bald von der Seite, was noch weit schlimmer war. Aus unmittelbarster Nähe schmettert er seine Blitze herab und schließt mit einem Ausbruch von Entrüstung voll verderbenschwangerer Anzüglichkeiten: Man kennt die Heuchler; man kennt die Verführer und die Bestochenen; man kennt die Verräther: sie sind hier in dieser Versammlung. Sie hören uns zu; wir sehen sie und wenden kein Auge von ihnen ab. Ueber ihren Häuptern erblicken sie – ja schaut hinauf, das Schwert des Gesetzes; in ihrem Gewissen – schaut nur hinein! – erblicken sie die eigene Verworfenheit. Verräther, nehmt Euch in Acht! – Robespierre bricht ab, und Danton, den Kopf zur Decke gewendet, mit halbgeschlossenen Augen und einen Arm über die Lehne der Bank hin- und herwiegend trällert zurückgeworfen zwei Verse von »Kadet Rousssel« halblaut vor sich hin:

– Verschwörer! – Mörder! – Schurke! – Rebell! – Reaktionär! Alle Verwünschungen platzten oft auf einander los; man schrie seine Anklagen wechselseitig zu der Büste des Brutus hinauf; man fuhr sich an, verfluchte, forderte sich heraus: von allen Seiten wüthende Blicke, geballte Fäuste, hervorschimmernde Pistolen, halbgezückte Dolche; weit und breit ein hundertfaches Emporflammen um die Tribüne. Einige sprachen, als lehnten sie an der Guillotine. Entsetzt und entsetzlich wogten die Köpfe hin und her, Montagnards, Girondins, Feuillants, Gemäßigte, Terroristen, Jakobiner, Cordeliers, darunter achtzehn Priester, die für den Tod des Königs gestimmt hatten, Alle in einander verschwimmend wie vorangetriebene Rauchwolken.

XI.

Es waren sturmgepeitschte Geister; der Sturm aber fuhr auf Fittigen des Wunders einher. Ein Mitglied des Konvents war eine Welle im Ozean, und das galt auch von den Größten. Die Triebkraft kam von oben her. Es herrschte im Konvent ein Gesammtwollen, das vom Wollen des Einzelnen ganz verschieden war, eine Idee, unbezwingbar und unermeßlich, die von den Höhen niedersauste durch das Dunkel, und die wir eben die Revolution nennen. Wenn diese Idee dahinstrich, warf sie den Einen zu Boden und raffte den Andern empor, ließ Diesen zu Schaum zerstieben und zerschmetterte Jenen an Felsenriffen. Sie wußte, wohin sie steuerte, diese Idee, und trieb den Abgrund vor sich her. Wenn man die Revolution für das Werk der Menschen ausgeben wollte, so müßte man auch Ebbe und Fluth für das Werk ausgeben der Wellen. Die Revolution ist eine Kraftäußerung des großen Unbekannten. Man nenne sie gut oder böse, je nachdem man die Zukunft oder die Vergangenheit herbeisehnt, aber man mache ihr den Ursprung nicht streitig. Sie scheint allerdings aus dem gemeinschaftlichen Zusammenwirken von großen Ereignissen und großen Menschen hervorgegangen, ist aber in der That lediglich die Kraftsumme der Ereignisse. Die Ereignisse geben aus; die Menschen zahlen. Die Ereignisse diktiren; die Menschen unterschreiben. So ist der 14. Juli Camille Desmoulins, der 10. August Danton, der 2. Dezember Marat, der 21. September Grégoire, der 21. Januar Robespierre gezeichnet; aber Desmoulins, Danton, Marat, Grégoire und Robespierre haben weiter nichts dabei gethan, als die Urkunden auszuschreiben. Der eigentliche gigantisch strenge Verfasser jener Geschichtsblätter heißt Gott und führt das Pseudonym Schicksal. Robespierre glaubte an einen Gott; er mußte ja wohl!

Die Revolution ist eine Erscheinungsform des immanenten Wollens in und um uns; wir nennen es die Nothwendigkeit. Vor dieser geheimnißvollen Verwickelung von Wohlthaten und Bitternissen wirft sich das Warum des Denkers auf. »Weil eben einmal«: diese Antwort des Nichtwissens ist zugleich die der Erkenntniß. Im Angesicht jener klimatischen Umwälzungen, welche die Kultur verheeren und beleben, scheut man vor einem Urtheil über das Einzelne zurück. Ob das Ergebniß die Menschen tadeln oder loben, heißt ungefähr so viel, als man würde die Zahlen ihrer Summe wegen loben oder tadeln. Was vorbeistürmen muß, stürmt eben vorbei. Die hehre Ewigkeit wird durch diese Windstöße nicht berührt, und Wahrheit und Gleichgewicht bleiben über den Revolutionen stehen wie der Sternenhimmel über dem Orkan.

XII.

Das war jener unermeßliche Konvent; eine von allen Finsternissen auf ein Mal berannte Schanze der Menschheit, das nächtliche Lagerfeuer eines belagerten Heers von Gedanken, eine ungeheuere Feldwache der Geister am Rand eines Abgrunds. Nichts läßt sich in der Geschichte zusammenhalten mit jener Versammlung von Männern, die zu gleicher Zeit Senat war und Pöbel, ein Konklave und ein Auflauf, ein Areopag und eine Agora, Richter und Angeklagter. Der Konvent hat sich stets beugen müssen unter dem Sturmhauch, aber es war auch ein Sturm ausgehaucht vom Mund des Volks, der Athemzug Gottes. Und heute, nach achtzig Jahren, wenn der Konvent vor dem Seelenspiegel eines Menschen auftaucht, gleichviel vor welchem, gleichviel ob Historiker oder Philosoph – der Mensch bleibt stehen und verliert sich im Betrachten. Die große Geisterkarawane unbeachtet vorüberziehen zu lassen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

II.

Marat hinter den Coulissen

Am Tage nach der Zusammenkunft in der Rue du Paon, verfügte sich Marat, wie er es Simonne Evrard schon zu wissen gethan hatte, in den Konvent. Bekanntlich gab es dort einen maratistischen Marquis, Louis von Montaut, derselbe, der später dem Konvent eine Dezimaluhr schenkte mit der Büste von Marat. Im Augenblick, wo dieser eintrat, war Chabot auf Montaut zugegangen: Ex-Marquis, sagte er… Montaut schaute auf: Weshalb nennst Du mich Ex-Marquis ?

– Weil dem so ist.

– Was?

– Du warst doch Marquis.

– Niemals.

– Unsinn!

– Mein Vater war ein Soldat, mein Großvater ein Weber.

– Was faselst Du da, Montaut?

– Ich heiße nicht Montaut.

– Wie denn sonst?

– Maribon heiße ich.

– Mir, sagte Chabot, kann’s eigentlich gleich sein. Und er brummte noch zwischen den Zähnen: Man reißt sich förmlich drum, kein Marquis zu sein.

Marat war in dem Durchgang links stehen geblieben und betrachtete Montaut und Chabot.

Jedes Eintreten von Marat rief ein Gemurmel hervor, doch nur in der Entfernung: in seiner Nähe wurde geschwiegen. Dergleichen bemerkte Marat gar nicht; er verachtete »das Quaken des Sumpfes.«

Im Halbschatten der untern obskuren Bänke wurde mit dem Finger auf ihn gedeutet: Bei Coupé vom Departement Oise, Prunelle, Villars, einem Bischof, der später Akademiker wurde, Boutroue, Petit, Plaichard, Bonet, Thibeaudeau, Valdruche, hieß es:

– Sieh da! Marat. – Er ist also nicht krank? – Doch, weil er einen Schlafrock an hat. – Ja, einen Schlafrock! – Wahrhaftig! – Alles nimmt er sich heraus! – Die Frechheit, so im Konvent zu erscheinen! – Kam er schon einmal im Lorbeerkranz, so mag er auch im Schlafrock kommen! – Kupfergesicht mit Grünspanzähnen. – Ein neuer Schlafrock, will mir scheinen. – Was für ein Stoff? – Reps. – Gestreift. – Sehen Sie nur die Aufschläge. – Pelz. – Tigerpelz. – Nein, Hermelin. – Aber falsch. – Und Strümpfe hat er an! – Sonderbar. – Und Schnallen an den Schuhen. – Von Silber! – Das werden ihm die Holzschuhe von Camboulas nie verzeihen.

Auf andern Banken befliß man sich eines gesuchten Uebersehens und sprach von andern Dingen: Wissen Sie schon, Dusfaulx? begann Santhonac.

– Was? – Vom Ex-Grafen von Brienne? – Der mit dem Ex-Herzog von Villeroy in la Force gesessen hat? – Ja, der. – Ich habe sie Beide gekannt. Nun? – Sie waren so voller Angst, daß sie die rothe Mütze jedes Gefangenwärters grüßten und sich eines Tags vor einer Partie Piquet sträubten, weil man ihnen ein Spiel Karten mit Königen und Damen gegeben hatte. – Nun und? – Gestern sind sie guillotinirt worden. – Beide? – Beide. – Wie haben Sie sich im Kerker durchweg benommen? – Feig. – Und auf der Guillotine? – Mehr als tapfer. – Sterben ist eben leichter als leben, warf Dussaulx vor sich hin.

Barère verlas gerade einen Bericht über die Vendée. Neunhundert Mann aus dem Morbihan seien mit Artillerie ausgerückt, um Nantes zu decken. Redon sei von den Bauern bedroht, Paimboeuf bereits angegriffen. Von Maindrain aus kreuzten Kriegsschiffe, um eine Landung zu verhüten. Von Ingrande bis Maure strotzte das ganze linke Loire-Ufer von royalistischen Batterien. Dreitausend Bauern hielten Pornic besetzt und riefen »Vivat England!« Ein Brief von Santerre an den Konvent, den Barère mittheilte, schloß mit den Worten: »Siebentausend Bauern haben Vannes überfallen; wir haben sie zurückgeschlagen und ihnen vier Geschütze abgenommen…«

– Und wie viel Gefangene, unterbrach eine Stimme.

– Barère fuhr fort:

– Nachschrift des Briefes: »Gefangene haben wir nicht, denn wir machen keine Gefangenen mehr.«

Marat stand immer noch unbeweglich und hörte nicht zu: er schien einem düstern Gedanken nachzuhängen; er zerknitterte ein Papier, das er zwischen den Fingern hielt und auf dem, wenn man es hätte entfalten können, folgende Zeilen von Momoro’s Hand zu lesen waren, wahrscheinlich als Antwort auf eine Anfrage von Marat: »Gegen die Omnipotenz der abgeordneten Kommissäre ist nicht aufzukommen, namentlich gegen die der Kommissäre des Wohlfahrtsausschusses. Wenn Génissieur in der Sitzung vom 6. Mai auch betont hat, daß jeder Kommissär unumschränkter herrscht als ein König, geändert ward an der Sache nichts. Sie entscheiden über Leben und Tod. Massade in Angers, Frullard in Saint-Amand, Nyon bei General Marcé, Parrein bei der Armee von les Sables, Millier bei der Armee von Niort sind geradezu allmächtig. Der Jakobinerklub ist so weit gegangen, Parrein zum Brigadechef zu ernennen. Alles wird auf die Umstände geschoben und ein Kommissär des Wohlfahrtsausschusses hält einen kommandirenden General in Schach.«

Nun steckte Marat das zerknitterte Papier in die Tasche und ging langsam auf Montaut und Chabot zu, welche ihn nicht bemerkt hatten und weitersprachen.

Chabot sagte: Maribon oder Montaut, paß auf: just komme ich aus dem Wohlfahrtsausschuß. – Und was treiben sie dort? – Sie lassen einen Adeligen überwachen durch einen Priester. – So? – Einen Adeligen wie Du … – Ich bin kein Adeliger, wiederholte Montaut. – Durch einen Priester. – Wie Du. – Ich bin kein Priester, entgegnete Chabot.

Und Beide mußten lachen.

– Laß hören wo und wer, sagte Montaut.

– Es verhält sich so: Ein Priester Namens Cimourdain ist mit unumschränkter Vollmacht zu einem gewissen Vikomte Gauvain abgeordnet. welcher Vikomte die Streifkolonne der Küstenarmee befehligt. Es soll verhütet werden, daß der Adelige falsch spielt und daß der Priester verräth.

– Nichts ist leichter, erwiderte Montaut, man braucht nur den Tod mitreden zu lassen.

– Gerade deshalb bin ich hier, fiel Marat ein.

Die Beiden schauten auf:

– Guten Tag, Marat, sagte Chabot; Du kommst selten in unsere Sitzungen.

– Mein Arzt verordnet mir Bäder, antwortete Marat.

– Den Bädern ist nicht zu trauen, meinte Chabot; Seneca ist in einem Bad gestorben.

Marat lächelte: – Hier, Chabot, haben wir keinen Nero.

– Dich haben wir, sagte eine derbe Stimme. Es war Danton, der vorbeiging, um zu seinem Platz zu steigen.

Marat wendete sich nicht um. Er streckte den Kopf vor und raunte den Beiden zu: Hört einmal, ich bin in einer ernsten Angelegenheit da; es muß Einer von uns heut einen Antrag stellen im Konvent.

– Nicht ich, sagte Montaut; auf mich hört man nicht; ich bin ein Marquis.

– Auf mich, sagte Chabot, hört man nicht; ich bin ein Kapuziner.

– Und auf mich, sagte Marat, hört man auch nicht; ich bin Marat.

Alle Drei schwiegen. Marat anzureden, wenn er über etwas nachsann, war kaum gerathen. Nichtsdestoweniger erlaubte sich Montaut die Frage:

– Was denn soll beantragt werden, Marat?

– Todesstrafe für jeden Befehlshaber, der einem gefangenen Rebellen zur Freiheit verhilft.

– Giebt’s schon, bemerkte Chabot, die Verordnung besteht seit Ende April.

– Dann besteht sie so gut wie nicht, sagte Marat. Ueberall, in der ganzen Vendée, hat man’s darauf abgesehen, die Gefangenen laufen zu lassen, und die Hehlerei geht straflos aus.

– Die Verordnung ist eben in Vergessenheit gerathen, Marat.

– Chabot, man muß sie wieder in Wirksamkeit setzen.

– Allerdings.

– Und demgemäß im Konvent sprechen.

– Den Konvent, Marat, brauchen wir nicht; der Wohlfahrtsausschuß thut’s auch.

– Der Zweck ist schon erreicht, fügte Montaut hinzu, wenn der Wohlfahrtsausschuß die Verordnung in allen Gemeinden der Vendée anschlagen läßt und zwei oder drei Mal Ernst macht.

– Mit vornehmen Köpfen, stimmte Chabot ein, mit Generalen.

– In der That, brummte Marat, das wird hinreichen.

– Gehe Du selber hin, Marat, meinte Chabot, und sage das dem Wohlfahrtsausschuß.

Marat sah ihm in beide Augen, was keineswegs angenehm war, sogar für Chabot:

– Chabot, sprach er, der Wohlfahrtsausschuß, das heißt so viel wie Robespierre; zu Robespierre gehe ich nicht.

– So will ich denn gehen, sagte Montaut.

– Gut, antwortete Marat.

Tags darauf wurde vom Wohlfahrtsausschuß an alle Munizipalbehörden der Vendée der Befehl erlassen, für allgemeine Verbreitung und strenge Ausführung des Dekrets Sorge zu tragen, welches die Mitschuld am Entweichen gefangener Räuber und Rebellen mit dem Tod bestrafte.

Jenes Dekret war übrigens nur der erste Schritt zu weiteren Maßregeln. Einige Monate später, am 11. Brumaire des Jahres Zwei (November 93), in Anbetracht, daß Laval die fliehenden Vendéer aufgenommen, verhängte der Konvent über jede Stadt, welche den Rebellen ein Obdach gewähren würde, gänzliche Zerstörung.

Ihrerseits hatten die Fürsten Europa’s im Manifest des Herzogs von Braunschweig, der vom Haushofmeister des Herzogs von Orleans, Marquis von Linnon, zu Papier gebrachten Gesinnungsäußerung der Emigranten, erklärt, jeder unter den Waffen ergriffene Franzose werde standrechtlich erschossen und Paris, falls man dem König auch nur ein Haar krümmen sollte, der Erde gleichgemacht werden.

Wildheit gegen Barbarei.

  1. Ein Wortspiel: »Leboeuf sah Legendre und brüllte.« Le boeuf heißt aber wörtlich der Ochs; Legendre war Schlächter; folglich hatte der Vers auch den Sinn: »Der Ochs sah den Schlächter und brüllte.«

Erstes Buch.

In der Vendée.

Die Vendée.

I.

Die Wälder.

Es gab damals in der Bretagne sieben grauenvolle Wälder. Der Vendéerkrieg ist der Priesteraufruhr gewesen, und der Wald hat ihm Vorschub geleistet, Finsterniß im Bund mit Finsterniß.

Die sieben »schwarzen Wälder« der Bretagne waren: Der Wald von Fougères, der den Weg zwischen Dol und Avranches versperrt; der Wald von Princé mit einem Umfang von acht Meilen; der Wald von Paimpont, der, von Schluchten und Bächen durchfurcht, für einen Angriff von Baignon her fast unzugänglich war und den Rückzug auf den royalistischen Marktflecken von Concornet deckte; der Wald von Rennes, wo Puysaye Focard verlor und wo man aus der Ferne das Sturmgeläut der republikanischen Gemeinden hören konnte, deren es um die größeren Städte herum allenthalben eine beträchtliche Anzahl gab; der Wald von Machecoul, mit seinem Ungeheuer: Charette; der Wald von La Garnache, der den Familien La Trémoille, Gauvain und Rohan, und der Wald von Brocéliande, welcher dem Feenreich gehörte.

»Herr der sieben Wälder« war ein Adelstitel, der sich unter den Vikomtes von Fontenay vererbte, welche auch den bretonischen Fürstentitel führten, bretonisch im Gegensatz zu den französischen Fürsten. Solche bretonische Fürsten waren auch die Rohan. Der Fürst von Talmont wurde am 15. Nivôse des Jahres Zwei, in einem Bericht von Garnier Saintes an den Konvent, als »jener Capet der Räuber und souveräne Herr in Maine und Normandie« bezeichnet. Ueber die bretonischen Wälder von 1792 bis 1800 ließe sich eine Monographie abfassen, die sich der Geschichtschreibung der Vendéerkriege gewissermaßen als Legende anschließen würde. Wie die Geschichte, so hat auch die Legende ihre innere Wahrheit, und diese unterscheidet sich von der historischen blos der Form nach; von einer Fiktion ausgehend, gelangt sie schließlich bei der Wirklichkeit an. Geschichte und Sage verfolgen ein gemeinsames Ziel, die Schilderung der menschlichen Wesenheit in vergänglichen Typen. Es wird nur dann ein vollständiges Verständniß der Vendée erzielt, wenn die Legende die Geschichte, das Besondere das Allgemeine ergänzt. Und sagen wir es gleich heraus, die Vendée ist es auch werth. Die Vendée ist wunderbar. Jener Ignorantenkrieg, so stupid und doch so glänzend, scheußlich und herrlich, hat Frankreich mit Jammer und doch wieder mit einem Gefühl der Genugtuung erfüllt; die Vendée ist eine ruhmvolle Wunde. Zu gewissen Zeiten giebt die menschliche Gesellschaft Räthsel auf, Räthsel, die sich für den Wissenden in Klarheit, für den Unwissenden in Verdüsterung, Gewaltthätigkeit und Barbarei lösen. Der Philosoph zögert mit der Anklage. Er zieht die Verwirrung in Betracht, welche Probleme mit sich bringen, denn wie die vorüberziehenden Wolken, so werfen auch Probleme ihre Schatten unter sich.

Das Verständniß der Vendée hängt von der Beachtung des großen Gegensatzes ab zwischen der französischen Revolution einerseits und andererseits dem bretonischen Bauern. Neben jene unvergleichlichen Ereignisse, jene ungeheuere unmittelbare Bedrohung mit allen Wohlthaten zugleich, jenen Zornanfall der Kultur, jenen tobenden über’s Ziel schießenden Fortschritt, jene maßlos unbegreifliche Besserungswuth stelle man den sonderbar feierlichen Eingeborenen, den Mann mit dem blauen Auge und dem langen Haar, der von Milch und Kastanien lebt, dem sein Strohdach, sein Zaun und der Graben dahinter die Welt bedeuten, der jedes Nachbardorf am Klang seiner Glocke erkennt, der das Wasser lediglich zum Stillen des Durstes verwendet, der ein Lederwamms mit seidenen Arabesken trägt, die Stickerei auf der Rohheit, der, wie seine keltischen Vorfahren ihr Gesicht, nunmehr seine Kleider tätowirt, der in seinem Henker noch seinen Herrn hochhält, der eine ausgestorbene Sprache spricht, seine Gedanken also unter einen Grabhügel sperrt, der seine Ochsen antreibt, seine Sense wetzt, sein Feld ausjätet, seinen Buchweizenfladen knetet, der seinen Pflug zuerst und dann seine Großmutter verehrt, der an die heilige Jungfrau und an die weiße Dame glaubt, der in Andacht schauert vor dem Altar und auch wieder vor dem geheimnißvollen hohen Stein, welcher über der Haide ragt, der in der Ebene auf den Ackerbau, an der Küste auf den Fischfang und im Dickicht auf’s Wildern ausgeht, der seine Könige, seine Schloßherren, seine Priester, ja seine Läuse lieb hat und oft stundenlang stehen bleiben kann am weiten einsamen Strand in düsterem Belauschen des Meeres – man denke sich in den Gegensatz hinein und frage sich dann, ob dieser Blinde jenes Licht zu begrüßen fähig war.

II.

Die Menschen.

Der Landmann hat an zwei Dingen einen Halt, am Feld, das ihn ernährt, am Walde, der ihn birgt. Von den bretonischen Wäldern machen wir uns kaum noch einen Begriff. Es waren Städte. Nichts Verschlosseneres, Stummeres, Wilderes, als jene ineinandergewachsenen Verstrickungen von Dornhecken und Astwerk; die dichten Gebüsche schienen Lagerstätten regungslosen Schweigens; keine Einöde konnte einen vollständigeren Eindruck des Ausgestorbenen, Grabähnlichen hervorbringen. Wären jedoch plötzlich, mit einem Zauberschlag, die Bäume vom Erdboden verschwunden, so hätte man ein ganzes Menschengewimmel erblickt.

Enge runde Gruben, durch einen unter Zweigen versteckten steinernen Deckel verschlossen, welche sich trichterförmig nach unten zu erweiterten und, erst senkrecht, dann horizontal laufend, in dunkle Kammern mündeten, das hatte Cambyses in Egypten vorgefunden, und das fand Westermann in der Bretagne; die egyptischen Keller dehnten sich unter der Wüste, die bretonischen unter den Wäldern aus; in jenen lagen Todte, in diesen hausten Lebendige. Eine der entrücktesten Lichtungen im Gehölz von Misdon, welche ihrem ganzen Umfang nach unterhöhlt war und in deren Stollen und Zellen eine geheimnißvolle Einwohnerschaft ab- und zuging, hieß »die große Stadt«; eine andere, oberhalb nicht minder öde und unterhalb nicht minder bevölkerte hieß »der Königsplatz«. Dies unterirdische Treiben in der Bretagne ließ sich auf undenkliche Zeiten zurückführen; von jeher hatte dort der Mensch vor Menschen flüchten müssen; daher die Schlupfwinkel zwischen den Baumwurzeln. Dies Unterkriechen schrieb sich noch von den Druiden her, und einige dieser Krypten sind so alt wie die Dolmens. Die Gespenster der Sage und die Ungeheuer der Geschichte, Alles war über dieses finstere Land dahingefluthet: Teut, Cäsar, Hoël, Neomen, Gottfried von England, Alain mit dem eisernen Handschuh, Pierre Mauclerc, das französische Haus von Blois, das englische Haus der Montfort, die Könige und die Herzoge, die neun bretonischen Barone, die fahrenden Richter, die Grafen von Nantes in Fehde mit den Grafen von Rennes, die entlassenen Kriegsvölker und plündernden Vagabundenrotten, René II., Vikomte von Rohan, die königlichen Statthalter, der »gute Herzog von Chaulnes«, der unter den Fenstern der Frau von Sévigné die Bauern baumeln ließ, im fünfzehnten Jahrhundert die Feudalmetzeleien, im sechzehnten und siebzehnten die Religionskriege, im achtzehnten die dreißigtausend auf den Mann dressirten Bluthunde. Das ohne Unterlaß dermaßen zusammengestampfte Volk hatte zum Verschwinden seine Zuflucht genommen: so verkrochen sich denn der Reihe nach die Ureinwohner vor den Kelten, die Kelten vor den Römern, die Bretonen vor den Normannen, die Hugenotten vor den Katholiken, die Schmuggler vor den Zollwächtern, erst in die Wälder und dann unter die Wälder, wie die Thiere, denn so weit bringt die Tyrannei den Menschen. Seit zweitausend Jahren in allen möglichen Gestalten: Eroberung, Feudalwesen, Priesterfanatismus, Steuererpressung, hetzte sie diese jammervolle, athemlose Bretagne ab und gab das unerbittliche Treibjagen in der einen Form nur auf, um es in einer neuen fortzusetzen. Die Menschen gruben sich ein. Die zornverwandte Verzweiflungsangst dehnte sich schlagfertig in den Seelen, und die Höhlen dehnten sich schlagfertig unter den Wäldern, als die französische Revolution ausbrach. Die Bretagne hielt die aufgedrungene Freiheit für Unterdrückung und empörte sich. Aber so sind die Sklaven.

III.

Einvernehmen der Menschen und Wälder.

Die tragischen Wälder der Bretagne fielen in ihre gewohnte Rolle und spielten, wie in allen vorausgegangenen Aufständen, so auch im gegenwärtigen die Helfershelfer und Mitschuldigen. Der Boden unter jenen Wäldern war meistens sternkorallenförmig ausgehöhlt, also nach allen Richtungen von einem unsichtbaren Netz von Schatten, Zellen und Galerien durchzogen: in jeder dieser schwarzen Zellen lebten fünf bis sechs Männer; fast ohne Luft: darin bestand die Hauptschwierigkeit. Wie gewaltig der große Bauernaufstand organisirt war, läßt sich aus gewissen überraschenden Zahlen ersehen: Im Wald von Le Petre, Departement Ille-et-Vilaine, dem Asyl des Fürsten von Talmont, war kein Hauch zu vernehmen, keine menschliche Spur zu entdecken, und doch hatte Focard seine sechstausend Mann dort. Im Wald von Meulac, Departement Morbihan, wo sich keine Seele blicken ließ, lagen achttausend Mann, und jene zwei Wälder, Le Petre wie Meulac, gehören nicht einmal zu den größern. Wehe dem, der sie betrat! Jene trügerischen Gebüsche mit dem unterirdischen Labyrinth voll Kämpfern glichen ungeheuern dunkeln Schwämmen, die unter dem ersten Schritt der Gigantin Revolution den Bürgerkrieg in Strömen ausspritzten. Unsichtbar lauernde Bataillone, ja, ungeahnte Armeen wanden sich unter den Füßen den republikanischen Kolonnen hin und her, quollen plötzlich aus der Erde und quollen ebenso wieder hinein, stürmten massenhaft vor und zerstoben, allgegenwärtig, allverschwindend, erst Lawine, dann Staub, Ungeheuer, welche wie durch Zauber zusammenschrumpften, im Angriff Riesen und Zwerge auf der Flucht, Leoparden mit allen Eigenschaften des Maulwurfs.

Nicht genug, daß es Wälder gab; es gab auch noch Gehölze; wie die Städte durch Dörfer, so waren die Waldungen durch eine Anzahl allenthalben zerstreuter Forste unter einander verbunden. Die alten Schlösser, aus denen nun wieder Festungen, und die Dörfer, aus denen Feldlager geworden waren, die Pachtgüter, hinter deren Umzäunungen die Hinterlist ihre Fallen legte, und die Wirtschaftsgebäude mit ihren Schanzgräben und Baumpallisaden bildeten die einzelnen Maschen des Netzes, in das die republikanischen Armeen sich verrannten. Einer jener Komplexe von Forsten hieß le Bocage. Von Bedeutung waren darin das Gehölz von Misdon, in dem ein Teich verborgen lag, wo Jean Chouan hauste; ferner das Gehölz von Gennes mit dem Bandenführer Taillefer, das Gehölz von La Huisserie mit Gouge-le-Bruant; la Charnie mit Courtillé-le-Bâtard, den man den Apostel Paulus nannte, und der im Lager von La Vache-Noire kommandirte; Burgault mit jenem räthselhaften Monsieur Jacques, der im Gewölbe von Juvardeil ein unerklärtes Ende finden sollte; das Gehölz von Charreau, wo Pimousse und Petit-Prince, von der Garnison von Châteauneuf angegriffen, sich in die republikanischen Reihen stürzten und Grenadiere zwischen ihren Armen in die Gefangenschaft forttrugen; das Gehölz von La Heureuserie, wo die Abtheilung von Longue-Faye eine Niederlage erlitt; das Gehölz von l’Aulne, das einen Ausblick hatte auf die Straße zwischen Rennes und Laval; La Gravelle, das durch einen Fürsten von La Trémoille beim Kugelspiel gewonnen worden; im Departement Côtes-du-Nord, Lorges, wo nach Bernard von Villeneuve Charles von Boishardy befahl; Bagnard bei Fontenay, wo Lescure Chalbos den Kampf bot und Chalbos ihn eins gegen fünf annahm; La Durondais, einst ein Streitgegenstand zwischen den Söhnen Karls des Kahlen, Alain Le Redru und Héripoux; das Gehölz von Croqueloup am Rand jener Haide, wo Coquereau seine Gefangenen schor; La Croix-Bataille, wo Jambe-d’Argent und Morière ihre homerischen Beschimpfungen ausgetauscht; La Saudraie, wo wir ein Pariser Bataillon auf einer Rekognoszirung begleitet haben, und noch manches andere Gehölz.

In mehreren jener Wälder und Forste gab es außer den um die Höhle des Anführers gruppirten unterirdischen Dörfern noch ganze Weiler von niedrigen Hütten, die unter Bäumen versteckt und oft so zahlreich waren, daß der ganze Wald davon wimmelte. Zuweilen wurden sie durch ihren Rauch verrathen. Zwei jener Weiler im Gehölz von Misdon sind berühmt geblieben: Lorrière beim Teich und gegen Saint-Ouen-les-Toits zu der Hüttenkomplex La Rue de Bau.

Die Weiber lebten in den Hütten und in den Gruben die Männer, welche zum Kriegführen die Feengalerien und die alten keltischen Schächte verwertheten; die Nahrung wurde ihnen zugetragen, und wurde dies vergessen, so verhungerten diejenigen, welche ihre Gruben nicht zu öffnen verstanden; es waren dies, fast in allen Fällen, ungeschickte Leute, denn die bemoosten und belaubten Deckel waren nicht nur so künstlich geformt, daß man sie von außen zwischen dem Gras unmöglich unterscheiden konnte, sondern sie ließen sich auch ganz leicht von innen heben und zumachen. Die Höhlen wurden mit Sorgfalt gegraben; die abgetragene Erde warf man in den nächsten Weiher; Boden und Wände waren mit Farrenkraut und Moos austapezirt. Solch ein Loch hieß »loge« und war soweit bequem, wenn der Bewohner von Licht, Feuer, Brod und Luft absehen wollte.

Ohne Vorsicht unter die Lebenden zurückzusteigen, war mit Gefahr verbunden, denn man konnte zur Unzeit auferstehen und zwischen die Beine einer Armee gerathen. Schrecklich waren jene Gehölze mit ihren Doppelfallen unter und über der Erde: die Blauen wagten sich nicht recht hinein und die Weißen nicht recht hinaus.

IV.

Das Leben unter der Erde.

Man langweilte sich unter der Erde; zuweilen, des Nachts, stieg man auf alle Gefahr hin ins Freie, um auf der Haide zu tanzen; oder man schlug die Zeit mit Beten todt. »Den ganzen Tag über,« sagt Bourdoiseau, »ließ uns Jean Chouan rosenkränzeln.« Fast unmöglich war es, die Leute von Unter-Maine davon abzuhalten, zur Zeit des Garbenfestes auszubrechen und an der Feier theilzunehmen. Einzelne geriethen auf die absonderlichsten Einfälle; so zum Beispiel ging Denys, genannt Franche-Montagne, in Weiberkleidern nach Laval ins Theater und verkroch sich dann wieder in seinem Keller. Kam es zum Kampf, so vertauschten viele dieser Männer unmittelbar den Kerker mit dem Grab. Oft hoben sie den Grubendeckel in die Höhe und lauschten, ob man sich in der Ferne nicht schlage, und folgten dem Verlauf des Gefechts mit dem Gehör; das Feuer der Republikaner war regelmäßig, das der Royalisten ungleich; darnach wurden die Chancen berechnet; wenn das Peletonfeuer plötzlich schwieg, hatten die Royalisten den Kürzeren gezogen; wenn aber das ruckweise Schießen andauerte und sich in der Entfernung verlor, waren sie im Vortheil. Die Weißen verfolgten den Feind immer, die Blauen, die das ganze Land gegen sich hatten, nie. Die unterirdischen Streitkräfte waren ganz ausgezeichnet berichtet und standen unter einander in überraschend unmittelbarer, geheimnißvoller Verbindung. Alle Brücken hatten sie zerstört, alle Fuhrwerke unbrauchbar gemacht und fanden Mittel und Wege, einander jede Ordre und jede Warnung zukommen zu lassen.

Von Wald zu Wald, von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof, von Hütte zu Hütte, von Busch zu Busch lösten die Kundschafter einander systematisch ab. Tölpelhaft aussehende Bauern trugen in hohlen Stöcken Depeschen hin und her. Nostidoux, welcher der konstituirenden Versammlung angehört hatte, versorgte die Aufständischen mit unausgefüllten, für die ganze Bretagne giltigen republikanischen Pässen nach neuem Muster, die jener Verräther sich bündelweise zu verschaffen wußte. Hinter alle die Schliche zu kommen, war unmöglich. »Geheimnisse,« berichtet Puysaye, »die mehr als viermalhunderttausend Individuen bekannt waren, sind ohne jegliche Ausnahme gewahrt worden.« Das ganze Viereck, das südlich durch die Strecke von Les Sables bis Thouars, östlich durch die Strecke von Thouars nach Saumur und den Bach von Thoué, im Norden durch die Loire und im Westen durch das Meer begrenzt war, schien förmlich ein Nervensystem zu besitzen, das bei jeder Berührung eines einzelnen Punktes die Erschütterung der ganzen Fläche mittheilte. Im Handumdrehen gelangte eine Nachricht von Noirmoutier bis nach Luçon und vom Lager von La Loué ins Lager von La Croix-Morineau. Fast hätte man glauben können, die Vögel verrichteten Botendienste. »Es ist gerade, als ob sie Telegraphen auf ihren Kirchthürmen hätten,« meinte Hoche in einem Schreiben vom 7. Messidor Jahr Drei. Es war eine ähnliche Einrichtung wie die der schottischen Clans; jede Gemeinde hatte ihren Anführer. Mein Vater hat diese Kämpfe mitgemacht: ich weiß davon zu erzählen.

V.

Das Leben im Krieg

Viele waren blos mit Piken, aber auch Viele mit guten Jagdflinten bewaffnet. Die Wilderer von Bocage und die Schmuggler aus Loroux waren unübertreffliche Scharfschützen, lauter absonderliche, gräßliche, tollkühne Streiter. Die Nachricht von der Aushebung der dreimalhunderttausend Mann hatte in sechshundert Dörfern die Sturmglocken in Bewegung gesetzt. An allen Enden flackerte die Feuersbrunst in einem Athem auf; an einem und demselben Tag explodirten Poitou und Anjou. Bemerken wir übrigens, daß man im Jahr 92, am 8. Juli, also schon einen Monat vor dem Tuileriensturm, ein erstes Grollen auf der Halde von Kerbader vernommen hatte, und daß der heute kaum mehr genannte Alain Redeler der Vorgänger La Rochejacquelein’s und Jean Chouan’s gewesen war. Bei Todesstrafe zwangen die Royalisten alle wehrfähigen Männer zum Ausmarsch. Sie requirirten Pferde, Fuhrwerke, Lebensmittel. Gleich bei Anbeginn verfügte Sapinad über dreitausend, Chatelineau über zehntausend, Stofflet über zwanzigtausend Streiter und zog Charette in Noirmoutier ein. Der Vikomte von Scepeaux wiegelte Ober-Anjou auf, der Chevalier von Dieuzie die Gegend zwischen der Vilaine und der Loire, Tristan l’Hermite Unter-Maine, der Barbier Gaston die Stadt Guemenée und der Abbé Bernier alles Uebrige. Man setzte in das Tabernakel eines vereidigten Pfarrers, eines »schwörenden Pfarrers«, wie sie bei den Bauern hießen, eine große schwarze Katze, die dann während der Messe plötzlich heraussprang. – »Der Teufel war’s!« schrieen Alle, und der ganze Bezirk empörte sich. Die Beichtstühle sprühten Flammen. Um die Blauen anzupacken und über die Gräben zu setzen, führten die Landleute ihren fünfzehn Fuß langen Springstock bei sich, eine Waffe gleich geeignet für den Kampf wie für die Flucht. Mitten im Ringen, beim Angriff auf die republikanischen Karrés, wenn man auf dem Schlachtfeld auf ein Kreuz oder eine Kapelle stieß, fiel Alles auf die Knie und betete unter dem Kartätschenfeuer seinen Rosenkranz ab; dann sprangen die Ueberlebenden auf und stürzten sich auf den Feind, wahre Riesen – ja leider! Sie hatten die besondere Fertigkeit, im Laufen ihr Gewehr zu laden. Weißmachen ließen sie sich Alles; ihre Pfarrer zeigten ihnen andere Geistliche, denen sie eine rothe Schnur fest um den Hals gebunden hatten, und sagten ihnen, das seien auferstandene Opfer der Guillotine. Sie hatten auch ihre Anwandlungen von Ritterlichkeit und präsentirten vor Fesque, einem republikanischen Fähndrich, der sich lieber niedersäbeln ließ, als daß er die Fahne preisgab. Auch spotten konnten sie; sie nannten die verheiratheten republikanischen Priester, Leute, die ihr Priesterkäppchen weggeworfen, »Sanscalotten, aus denen Sanscülotten geworden.« Anfangs fürchteten sie sich vor der Artillerie, später warfen sie sich mit ihren Stöcken drüber her und eroberten sogar einzelne Kanonen, zuerst ein stattliches Bronzegeschütz, daß sie »den Missionsprediger« tauften, dann ein anderes, das noch aus den Religionskriegen stammte und unter einer Mutter Gottes das Wappen von Richelieu führte.

0159

Sie eroberten sogar einzelne Kanonen.

Als diese Kanone, die sie ihre »Marie-Jeanne« hießen, bei der Einnahme von Fontenay wieder verloren ging, ließen sechshundert Bauern kaltblütig für sie das Leben, und als Fontenay um der »Marie-Jeanne« willen abermals genommen war, wurde diese mit Blumen bekränzt unter die Lilienfahne zurückgeführt, und die Weiber, die des Weges kamen, mußten sie küssen. Aber zwei Geschütze, das war doch gar zu wenig; Chatelineau, der Stofflet ob dessen Marie-Jeanne neidisch war, rückte von Pin-en-Mange aus, und eroberte beim Sturm auf Jallais eine dritte Kanone; hierauf wurde von Forest auch Saint-Florent überfallen und die vierte weggenommen. Ein noch schöneres Stückchen lieferten zwei andere Bandenführer, Chouppes und Saint-Pol, welche aus Baumstämmen und Puppen eine falsche Batterie herstellten und unter weidlichem Lachen vermittelst dieser Artillerie die Blauen nach Mareuil zurücktrieben. Das war noch die großartige Zeit. Später, als La Marsonnière durch Chalbos in die Flucht geschlagen wurde, ließen die Bauern auf dem Feld der Schande zweiunddreißig englische Kanonen zurück. England besoldete damals die französischen Prinzen und versendete, wie Nantiat unterm 10. Mai 1794 schrieb, Gelder an Monseigneur, »weil Herrn Pitt bemerkt worden war, daß dies passend sein dürfte.« »Das Kriegsgeschrei der Rebellen«, sagte Mellinet in einem Bericht, lautet: »Vivat England!« Die Bauern verwendeten oft eine kostbare Zeit aufs Plündern. Zur Frömmigkeit gesellte sich die Raubgier. Auch Wilde haben ihre Laster, und bei diesen packt sie später die Kultur. Puysaye erzählt in seinem zweiten Band auf Seite 187: »Ich habe mehrmals den Marktflecken Plélan vor Plünderung bewahrt.« Und weiter unten, Seite 434, versagt er sich den Einzug in Montfort: »Ich machte einen Umweg, um die Plünderung der Jakobinerhäuser zu vermeiden.« Die Aufständischen stahlen in Cholet, raubten Challans aus und plünderten, nachdem ein Handstreich gegen Granville ihnen mißlungen, Ville-Dieu. Sie nannten diejenigen Landbewohner, die sich den Blauen angeschlossen hatten, »Jakobinerpack« und machten sie mit besonderer Vorliebe nieder. Wie Soldaten zog es sie zum Blutbad und wie Räuber zum Gemetzel hin. Sie fanden ein Wohlgefallen daran, die »Patschfüße«, wie sie die Städter hießen, zu füsiliren und hatten dafür einen eigenen Ausdruck: »Fastenfleischspeisen genießen.« In Fontenay streckte einer ihrer Geistlichen, der Pfarrer Barbotin, einen Greis mit einem Säbelhieb zu Boden. In Saint-Germain-sur-Ille erschoß einer ihrer Führer, ein Edelmann, den Gemeindeprokurator und nahm dessen Uhr zu sich. In Machecoul verfuhren sie mit den Republikanern wie beim Abholzen eines Berges; fünf Wochen hindurch wurden tagtäglich dreißig Mann hingerichtet; jede solche Abtheilung von dreißig Verurtheilten – »ein Rosenkranz«, wurde vor einer offenen Grube aufgestellt und hineinfüsilirt; oft lebten einige Opfer noch und wurden nichtsdestoweniger mit den andern begraben. Dergleichen hat sich in der Folge wiederholt. Joubert, dem Bezirkspräsidenten, sägte man die Fäuste ab; den gefangenen Blauen legte man eigens geschmiedete schneidige Handschellen an; man hieb sie auf dem Marktplatz nieder und blies das Hallali dazu. Charette, der nie anders unterschrieb, als »in Brüderlichkeit der Chevalier Charette« und der, wie Marat, ein umgebundenes Tuch über den Brauen trug, verbrannte die Bevölkerung von Pornic in ihren Häusern. Es war gerade zur Zeit der Unthaten von Carrier. Greuel wetteiferten mit Greueln. Der bretonische Insurgent sah dem neugriechischen äußerlich ziemlich ähnlich: kurze Jacke, umgehängte Flinte, hohe Gamaschen, weite Hosen, die an die Fustanelle erinnerten; so ein Bauernbursche hatte wirklich Manches mit dem Klephten gemein. Henri von La Rochejacquelein war im einundzwanzigsten Jahr mit einem Stock und einem paar Pistolen zu Feld gezogen. Jetzt war die Vendéer Armee hundertvierundfünfzig Divisionen stark. Man ließ sich bereits auf regelrechte Belagerungen ein; drei Tage hindurch hielt man Bressuire eingeschlossen. An einem Charfreitag beschossen zehntausend Bauern die Stadt Les Sables mit Brandkugeln, und es gelang ihnen, innerhalb vierundzwanzig Stunden, von Montigné bis Courbeveilles vierzehn republikanische Kantonnements zu zerstören. Auf der großen Mauer zu Thouars hörte man folgendes prächtiges Zwiegespräch zwischen La Rochejacquelein und einem Bauernburschen: – Karl! – Da bin ich. – Auf Deine Schultern laß mich steigen! – Hier. – Deine Flinte! – Hier. – Und La Rochejacquelein sprang von der Mauer in die Stadt und eroberte ohne Sturmleiter jene Thürme, die ein Duguesclin belagern mußte. Diesen Leuten war eine Patrone mehr werth als ein Louisd’or. Sie weinten, wenn sie ihren Kirchthurm aus den Augen verloren. Wenn sie die Flucht ergriffen, was ihnen ganz einfach vorkam, riefen die Führer ihnen zu: »Fort mit den Holzschuhen; nur die Flinten behalten!« Fehlte es an Munition, so beteten sie einen Rosenkranz und holten sich Pulver aus den Protzkästen der republikanischen Artillerie; später ließ sich d’Elbée durch die Engländer damit versorgen. Wenn der Feind anrückte und sie Verwundete bei sich hatten, versteckten sie sie im hohen Korn oder zwischen den größeren Farrensträuchern und suchten sie nach beendigtem Kampf dort wieder auf. Uniform hatten sie nicht. Ihre Kleider gingen in die Brüche und Edelleute wie Bauern hüllten sich in das Nächstbeste. Roger Mouliniers trug einen Turban und einen Dolman aus der Theatergarderobe von La Flèche, der Chevalier von Beauvilliers einen Richtertalar und über einer wollenen Haube einen Damenhut. Als allgemeines Abzeichen war die weiße Schärpe oder Feldbinde eingeführt; die Chargen unterschieden sich durch Schleifen. Stofflet führte eine rothe Schleife, La Rochejacquelein eine schwarze. Wimpsen, der übrigens halb und halb zur Gironde gehörte und die Normandie niemals verließ, trug die Armbinde der »Carabots« von Caen. In den Reihen der Insurgenten fochten auch Weiber: Frau von Lescure, die spätere Frau von La Rochejacquelein; Therese von Mollien, die Geliebte von La Ronarie, welche das Verzeichniß der Gemeindeanführer verbrannte; die schöne junge Frau von La Rochefoucauld, welche ihre Bauern mit dem Degen in der Hand beim großen Schloßthurm von Le Puy-Rousseau wieder sammelte, und jene Antoinette Adams, die unter dem Beinamen Ritter Adams eine solche Tapferkeit entwickelte, daß sie, als sie in die Hände der Blauen fiel, zwar erschossen wurde, aber aus Hochachtung aufrecht. Ein Hauch von Grausamkeit weht uns aus jenen epischen Zeiten entfesselter Leidenschaften entgegen. Frau von Lescure ritt geflissentlich über die am Boden liegenden Republikaner, über die Todten, wie sie behauptet, vielleicht wohl auch über Verwundete. Zum Verrath ließen sich Männer hin und wieder herbei, die Weiber jedoch nie; Fräulein Fleury vom Théâtre Français trat zwar von La Rouarie zu Marat über, aber aus Liebe. Die Befehlshaber waren oft ebenso unwissend, wie die Soldaten; Herr von Sapinaud hatte von einer Orthographie keine Ahnung. Die einzelnen Truppenführer haßten einander; die aus dem Marais riefen: »Nieder mit den Oberländern!« Die Kavallerie war schwach vertreten und schwer aufzutreiben. »Mancher«, schreibt Puysaye, »der mir frischweg seine beiden Söhne giebt, wird starr, wenn ich eins von seinen Pferden begehre.« Stöcke, Heugabeln, Sensen, alte und neue Flinten, Jagdmesser, Spieße eisen- und nägelbeschlagene Knüppel, jede Waffe war willkommen. Einige trugen zwei gekreuzte Menschenknochen vor der Brust. Beim Angriff stürzten sie plötzlich unter wildem Gebrüll von allen Seiten herbei, aus dem Gehölz, von den Hügeln, aus Büschen und Hohlwegen, formirten sich in einen Halbkreis, tödteten, zerstörten, vernichteten wie der Donnerschlag und stoben wieder auseinander. Beim Durchmarsch durch eine republikanisch gesinnte Ortschaft hieben sie den Freiheitsbaum um, verbrannten ihn und tanzten den Reigen um das Feuer. Ihr ganzes Treiben hüllte sich in nächtliches Dunkel und ging vom Grundsatz aus: nur immer überrumpeln. Oft marschierten sie fünfzehn Stunden in aller Stille, ohne sozusagen einen Grashalm zu zertreten; am Abend, nachdem durch die Führer in einem Kriegsrath beschlossen worden war, wo man beim nächsten Morgengrauen über die republikanischen Posten herfallen sollte, luden sie die Gewehre, murmelten ihr Gebet, zogen ihre Holzschuhe aus und huschten in gestreckten Kolonnen barfuß über das Moos und Haidekraut durch die Wälder hin, ohne ein Wort, ein Geräusch, einen Hauch, wie Wildkatzen, unterm Schleier der Nacht.

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»Barfuß, unterm Schleier der Nacht, huschten sie durch die Wälder.«

VI.

Der Erdgeist strömt in den Menschen über.

Der Aufstand in der Vendée muß allermindestens auf fünfmalhunderttausend Köpfe angeschlagen werden, Weiber und Kinder mit eingerechnet. Tussin von La Rouarie giebt sogar eine Kombattantenzahl von einer halben Million an. Dabei thaten die Föderalisten noch das Ihrige; die Gironde machte sich zur Mitschuldigen der Vendée. Das Departements Lozère entsendete dreißigtausend Mann in das Bocage. Acht andere Departements, die fünf bretonischen und drei von der Normandie, schlossen einen Sonderbund. Evreux verbrüderte sich mit Caen und ließ sich bei der Insurgentenregierung durch seinen Bürgermeister Chaumont und einen Notabeln Namens Gardembas vertreten. Buzot, Gorsas und Carbaroux zu Caen, Brissot zu Moulins, Chassan zu Lyon, Rabaut-Saint-Etienne zu Nismes, Meillan und Duchâtel in der Bretagne, Jeder schürte an dem großen Schmelzofen mit Hauch und Hand. Es hat zweierlei Vendéen gegeben, die große, die den Krieg im Wald, die kleine, die den Krieg im Busch führte; daher zwei verschiedene Nüancen: Charette und Jean Chouan. Die kleine Vendée war urwüchsig, die große, schlimmere, verrottet. Charette wurde Marquis, Generallieutenant der königlichen Streitkräfte und Großkreuzträger des Ludwigordens; Jean Chouan blieb Jean Chouan; er grenzte an den fahrenden Ritter, Charette hingegen an den Banditen. Was die Hochherzigen unter den Führern anbelangt, einen Bonchamps, Lescure, La Rochejacquelein, so waren sie eben in einem hochherzigen Irrthum befangen. Die große katholische Armee war eine sinnlose Gewaltanstrengung, welche die Nothwendigkeit ihrer Niederlage schon mit auf die Welt brachte; man denke sich nur einen Bauernsturm, der Paris umblasen will, eine Koalition von Dörfern, die das Pantheon belagert, eine Meute von Gebeten und Kirchenliedern, die den Marseiller Hymnus anbellt, ein Getrampel von Holzschuhen, das sich gegen eine Legion von Geistern voranwälzt. Diese Tollheit wurde bei Le Mans und Savenay Lügen gestraft. Die Loire überschreiten, war der Vendée unmöglich. Alles Andere war denkbar, nur dieser Riesenschritt nicht. Der Bürgerkrieg kann nicht erobern. Der Uebergang über den Rhein ist die natürliche Kraftäußerung eines Cäsar oder Napoleon; für La Rochejacquelein aber ist der Uebergang über die Loire der Untergang. Nur auf eigenem Grund und Boden kann die Vendée Vendée bleiben; dort ist sie mehr als unverwundbar, ist ungreifbar. Der Vendéer in der Heimath ist eben Alles, Schmuggler, Ackersmann, Soldat, Schäfer, Wilddieb, Freischütz, Ziegenhirt, Glöckner, Bauer, Spion, Mörder, Meßner, Schwarzwild. La Rochejacquelein ist nur ein Achilles, Jean Chouan jedoch ein Proteus. Die Vendée war eine Fehlgeburt. Andere Volksbewegungen, die schweizerische zum Beispiel, haben allerdings ihr Ziel erreicht, aber zwischen einem Bergbewohner, wie dem Schweizer, und einem Buschklepper, wie dem Vendéer, macht sich der Unterschied geltend, daß fast immer unter dem unabänderlichen Einfluß der Lebensweise jener sich für ein Ideal- und dieser für Vorurtheile schlägt. Der eine schwebt und der andere kriecht. Der eine kämpft für die Menschheit, der andere um seine Abschließung; der eine will frei werden, der andere vereinzelt bleiben; der eine wehrt sich für die Bürgergemeinde, der andere für das Kirchspiel. Gemeindefreiheit! Gemeindefreiheit! riefen die Helden von Murten. Hier der Verkehr mit dem Abgrund; dort der Verkehr mit dem Sumpf; hier Männer der schäumenden Gießbäche; dort Männer der stagnirenden Fieberpfützen; dem einen zu Häupten der blaue Himmel; dem andern zu Häupten ein Gestrüpp; ein Wandeln auf Gipfeln gegenüber einem Wandeln in Finsternissen. Es kann nicht gleichgültig sein, ob einer auf Bergen oder in Niederungen groß wird. Der Berg ist eine Hochveste, der Wald ein Hinterhalt; der Berg erzieht den Menschen zur Kühnheit, der Wald zur List. Schon das Alterthum verlegte die Götter auf den Olymp und die Satyre ins Dickicht. Der Satyr ist der Mann im wilden Zustand, halb Mensch, halb Thier. Freie Länder haben ihre Apenninen, ihre Alpen, ihre Pyrenäen, ihren Parnaß. Der Mont-Blanc war ein kolossaler Bundesgenosse Wilhelm Tell’s, und zwischen und über dem unermeßlichen Widerstreit der Licht- und Nachtgeister, von dem die indischen Dichtungen singen, ragt ein Himalaja. Griechenland, Spanien, Italien, die Schweiz, führen einen Berg, die kimmerischen Länder einen Baum im Wappen; der Wald verwildert. Die Beschaffenheit des Bodens giebt dem Menschen mancherlei Entschlüsse ein; sie wirkt mehr nach, als man glaubt. Im Angesicht gewisser unheimlicher Landschaften möchte man den Menschen entschuldigen und die Schöpfung verklagen; man fühlt eine dumpfe Schuld der Natur heraus; die Einöde ist manchmal ungesund für das Gewissen, namentlich für das seiner nur halbbewußte; das Gewissen kann ein Riese sein, und dann heißt es Sokrates oder Jesus; es kann ein Zwerg sein, und dann heißt es Atreus oder Judas, denn wie leicht kommt ein schwaches Gewissen ins Kriechen! Der Umgang mit den dämmernden Waldgründen, den stechenden Dornhecken, den überwachsenen Teichen wird ihm verhängnißvoll und bedrängt es mit tiefgeheimen, unholden Einflüsterungen. Die optischen Täuschungen, die unerklärlichen Luftspiegelungen, das unheimliche Verschwimmen von Zeit und Raum lassen im Menschen jenes halb mystische, halb thierische Grauen aufschauern, das in gewöhnlichen Zeiten den Aberglauben und in Zeiten der Umwälzung die Brutalität erzeugt. Die Truggesichte leuchten voran zum Greuel. Im Raubmörder steckt etwas vom Nachtwandler. Die wunderbare Natur birgt einen Doppelsinn, der die großen Geister ins Licht badet und die rohen Geister mit Blindheit schlägt. Wenn der unwissende Mensch in einer Einöde voller Visionen lebt, wird das Dunkel seiner Seele durch das Dunkel seiner Abgeschiedenheit ergänzt, und es thun sich Abgründe in ihm auf. Gewisse Felsen, gewisse Schluchten, gewisse Dickichte, gewisse wilde Risse im Laubwerk, durch die der Abend hereinscheint, treiben den Menschen zu rasenden Unthaten. Es ließe sich beinahe behaupten, daß es verruchte Landschaften giebt. Wie viel des Tragischen hat nicht der düstere Hügel zwischen Baignon und Plélan gesehen! Weite Gesichtskreise lenken die Seele zu allgemeinen, engere Gesichtskreise hingegen zu beschränkten Anschauungen hin, und so müssen zuweilen große Herzen zu kleinen Geistern zusammenschrumpfen; man denke nur an Jean Chouan. Allgemeine Anschauungen von beschränkten Anschauungen angefeindet, das eigentlich ist der Kampf des Fortschritts; zwei Worte, Heimath und Vaterland, fassen den ganzen Vendéerkrieg in sich, den Streit des Lokalen mit der Gesammtheit, der Bauern mit den Patrioten.

VII

Die Vendée hat der Bretagne ein Ende gemacht

Die Bretagne ist eine alte Widerspänstige. Jedes Mal, seit zweitausend Jahren, hatte sie, wenn sie sich auflehnte. Recht gehabt, nur das letzte Mal nicht. Und doch, ob gegen die Revolution gerichtet oder gegen die Monarchie, gegen die Kommissäre des Konvents oder gegen die hochadeligen Statthalter, gegen das Papiergeld oder gegen die Salzsteuer, und wer die Kämpfer auch sein mochten, ob Nikolas Rapin, François von La Noue, der Kapitän Pluviau und die Dame von La Garnache oder Stofflet, Coquereau und Lechandelier von Pierreville, unter Herrn von Rohan gegen und unter Herrn von La Rochejacquelein für den König – immer wieder führte die Bretagne denselben Krieg des Lokalgeistes gegen den Gemeinsinn. Jene alten Provinzen waren ein Teich, dessen stehenden Gewässern jede Bewegung widerstrebte; der Wind, der sie aufwühlte, reizte sie auf, anstatt sie zu beleben. An der Landspitze Finisterre – finis terrae (Ende der Welt) – hörte Frankreich, hörte der Kontinent auf und blieb der Vormarsch der Generationen stehen. Halt! rief dort der Ozean dem Land, und halt! die Barbarei der Kultur entgegen. Jedes Mal wenn vom Mittelpunkt, von Paris, ein Impuls ausgeht, ob im royalistischen Sinn oder im republikanischen, ob in der Richtung der Willkür oder in der Richtung der Freiheit, für die Bretagne bedeutet er eine Neuerung, und dagegen sträubt sie sich: Laßt mir meine Ruhe; was wollt ihr von mir? Und in Marais wird zur Heugabel, im Bocage zum Stutzen gegriffen. Jede Bestrebung, jede Verbesserung der Gesetzgebung oder des Unterrichtswesens, Encyclopädien, philosophische Systeme, Nationalgeist und Nationalruhm, an Le Houroux scheitert alles; die Sturmglocke von Bazouges bedroht die französische Revolution; die Haide von Le Faou steht auf gegen das wogende Forum von Paris und der Kirchthurm von Le Haut-des-Prés erklärt an den Thurm vom Louvre den Krieg. Entsetzliche Taubheit! Schauerliches Mißverständniß, dieser Aufruhr der Vendée! Ein Scharmützel in kolossalen Verhältnissen, ein Nörgeln von Titanen, eine ungeheuere Rebellion, die nichts als ihren glänzenden und schwarzen Namen zurückläßt in der Weltgeschichte, ein Selbstmord für Abwesende, eine Opferthat zu Gunsten der Selbstsucht, ein hartnäckiges Beschenken der Feigheit mit einer Tapferkeit ohne Grenzen, ohne Berechnung, ohne Strategie, ohne Taktik, ohne Plan, ohne Zweck, ohne Oberhaupt, ohne Verantwortung, ein Beispiel, bis zu welchem Grade der Ohnmacht es die Willenskraft bringen kann, etwas Wildes und etwas Ritterliches, ein brünstiger Wahnwitz, der das Licht in Finsternis eindämmen will, ein unermüdlich dummer und heldenkühner Widerstand der Unwissenheit gegen Wahrheit, Billigkeit, Recht, Vernunft und Befreiung, ein achtjähriges Entsetzen, die Verheerung von vierzehn Departements, verwüstete Felder, zerstampfte Saaten, brennende Dörfer, zerstörte Städte, ausgeplünderte Häuser, hingewürgte Weiber und Kinder, eine Brandfackel für jedes Strohdach, ein Schwert in jedem Herzen, der Schrecken aller Kultur und die Hoffnung des jüngeren Pitt: das war jener Krieg, jener unbewußte Versuch eines Muttermordes.

Im großen Ganzen aber ist die Vendée dem Fortschritt insofern zugut gekommen, daß sie die Nothwendigkeit endgiltig dargethan hat, die alte bretonische Finsterniß allenthalben zu zerreißen und jenes Gestrüpp durch alle verfügbaren Sonnenpfeile zu lichten. Die Katastrophen bringen in einer unheimlichen Art und Weise gewisse Dinge ins Reine.