Zweites Buch

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I.

Plus quam civilia bella8

Der Sommer des Jahres 1792 war sehr regnerisch gewesen; der Sommer des Jahres 93 war sehr heiß. Dank dem Bürgerkrieg gab es sozusagen keine Wege mehr in der Bretagne, aber gereist wurde doch; der schöne Sommer ließ es zu; kein besseres Reisen als auf trockenem Boden.

Am Abend eines klaren Julitages, etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang, hielt ein Mann, der von Avranches hergeritten kam, am Eingang von Pontorson vor dem kleinen Wirthshaus von La Croix-Branchard, auf dessen Schild vor einigen Jahren noch zu lesen war: »Bon cidre à dépoteyer« (Hier wird guter Apfelwein verzapft). Es war ein heißer Tag gewesen, aber jetzt erhob sich der Wind. Der Reiter war in einen weiten Mantel gehüllt, der das Kreuz seines Pferdes bedeckte, und trug einen breitkrämpigen Hut mit der dreifarbigen Kokarde, was eine gewisse Kühnheit verrieth, denn in jenem Lande der Hecken und Büchsenschüsse war eine Kokarde eine Zielscheibe. Unterhalb des festgebundenen Kragens ging der Mantel auseinander, um den Armen des Reisenden freien Spielraum zu geben, und ließ eine dreifarbige Schärpe und darüber zwei Pistolenkolben durchblicken; unterhalb des Saums hing eine Säbelscheide herab. Als das Pferd stillstand, ging das Hausthor auf und der Wirth erschien mit einer Laterne auf der Schwelle. Es war gerade die Dämmerstunde: auf der Straße noch Tag und im Zimmer schon Nacht.

– Bürger, sagte der Wirth, nachdem er sich die Kokarde angesehen, steigen Sie hier ab? – Nein. – Wohin wollen Sie denn? – Nach Dol. – Dann rathe ich Ihnen, nach Avranches zurückzureiten oder hier in Pontorson zu bleiben. – Warum? – Weil man sich schlagt in Dol. – So! sagte der Fremde, und setzte dann hinzu: geben Sie dem Pferde Hafer.

Der Wirth trug die Krippe herbei, schüttete einen Sack voll Hafer hinein und zäumte den Gaul ab, der sich schnaubend über sein Futter hermachte. Das Gespräch spann sich weiter fort:

– Bürger, haben Sie da ein requirirtes Pferd? – Nein. – Es gehört Ihnen? – Ja. Ich habe es gekauft und bezahlt. – Woher kommen Sie, Bürger? – Von Paris. – Doch nicht geraden Weges? – Nein. – Kann mir’s denken; die Straßen sind versperrt. Aber die Post, die fährt noch. – Bis Alençon; dort bin ich ausgestiegen. – Ach! Eine Post wird es in Frankreich bald nicht mehr geben. Wo soll man die Pferde hernehmen? Für einen Gaul von dreihundert Franks werden heutigen Tages sechshundert gezahlt und das Futter ist sündentheuer. Ich bin Postmeister gewesen und muß mich jetzt auf den Ausschank verlegen. Von den dreizehnhundertunddreizehn Postmeistern, die es gegeben hat, sind wir bereits unser zweihundert, die nicht mehr mitthun. Sind Sie nach dem neuen Tarif gereist, Bürger? – Nach dem vom ersten Mai, ja. – Erster Platz zwanzig Sous, zweiter zwölf und dritter fünf Sous. In Alençon also haben Sie das Pferd da gekauft? – Ja. – Und sind heute den ganzen Tag über geritten? – Seit Sonnenaufgang. – Und gestern auch? – Auch vorgestern. – Weiß jetzt; Sie kommen über Domfront und Mortaint. – Und Avranches. – Hören Sie auf mich, Bürger, und rasten Sie aus. Sie werden doch wohl müde sein? Der Gaul hat auch genug. – Pferde dürfen müde werden, der Mensch nicht.

Der Wirth schaute abermals zu dem ernsten, ruhigen, strengen, von grauem Haar umrahmten Gesicht des Fremden forschend empor; dann, nachdem er einen Blick auf die unabsehbar öde Landstraße geworfen, fragte er wieder:

– Und reisen so mutterseelenallein? – Nicht doch. – Wieso? – Ich habe meinen Säbel und meine Pistolen bei mir.

Nun holte der Wirth einen Eimer, gab dem Pferd zu trinken und sagte zu sich selber, indem er, während das Thier seinen Durst löschte, den Fremden unausgesetzt betrachtete: Gleichviel, wie ein Geistlicher sieht er doch aus.

– Sie sagen, daß man sich zu Dol schlägt? fragte der Reisende. – Ja; gerade jetzt soll’s losgehen. – Wer schlägt sich denn dort? – Zwei vom Adel. – Sie meinen? … – Ich meine, daß ein Adeliger, der zur Republik hält, sich gegen einen Adeligen schlägt, der zum König hält. – Den giebt’s ja nicht mehr. – Den Kleinen meine ich. Und das Sonderbare bei der Geschichte ist, daß die zwei Adeligen noch obendrein nahe Verwandte sind.

Da der Fremde aufmerksam zuhörte, erzählte der Wirth weiter: Der eine ist jung, der andere alt, Großneffe und Großonkel; der Alte ist Royalist und der Junge Patriot; der Onkel kommandirt die Weißen und der Neffe die Blauen. Die geben einander keinen Pardon; das steht fest. Sie bekämpfen einander bis auf den Tod. – Bis auf den Tod? – Jawohl, Bürger. Da schauen Sie nur einmal her, was die sich für Artigkeiten an den Kopf werfen. Das hier ist ein Zettel, den der Alte, Gott weiß wie, überall anzubringen versteht; an jeden Hof und jeden Baum, ja sogar an mein eigenes Hausthor ist er angeschlagen worden.

Der Wirth leuchtete mit seiner Laterne auf ein Plakat, das an einem der Thürflügel klebte, und so groß gedruckt war, daß es der Reisende vom Pferde herab lesen konnte.

»Der Marquis von Lantenac giebt sich die Ehre, seinem Großneffen, dem Herrn Vikomte Gauvain, zur Kenntniß zu bringen, daß, wenn dem Herrn Marquis das Glück zu Theil werden sollte, sich seiner Person zu bemächtigen, er so frei sein wird, den Herrn Vikomte nach aller Form Rechtens über die Klinge springen zu lassen.«

– Und hier, fuhr der Wirth fort, ist die Antwort. Er wendete sich seitwärts und leuchtete mit der Laterne auf ein anderes Plakat, das in gleicher Höhe wie das erste am andern Thürflügel klebte. Der Fremde las die bündigen Worte:

»Gauvain thut Lantenac zu wissen, daß er, falls er ihn fängt, ihn standrechtlich erschießen lassen wird.«

– Gestern, bemerkte der Wirth, ist der eine Zettel hier angeschlagen worden und heute früh der zweite. Die Antwort hat nicht auf sich warten lassen.

Der Reisende sprach halblaut und wie zu sich selber ein paar Worte, die der Wirth hörte, ohne sie sonderlich zu verstehen: Ja, das ist noch mehr als der Bürgerkrieg; es ist der Krieg in der Familie. So muß es sein, und so ist es auch recht. Eine große Verjüngung ist nicht billiger zu haben. Und der Fremde, dessen Blick noch immer am zweiten Plakat haftete, erhob die Hand zum Hut und machte ihm die Honneurs.

– Wissen Sie, Bürger, fuhr der Wirth fort, die Dinge liegen so: In den größeren Städten und Marktflecken sind wir für die Revolution; auf dem Land sind sie dagegen; mit anderen Worten, die Städte sind französisch und in den Dörfern ist man bretonisch. Es ist eben ein Krieg zwischen Bürgers- und Bauersleuten. Sie schimpfen uns Patschfüße und wir schimpfen sie Dickschädel, und hinter ihnen stecken die Adeligen und die Geistlichkeit.

– Nicht Alle, unterbrach der Fremde.

– Freilich nicht; sehen wir doch selber, wie ein Vikomte einem Marquis zusetzt, sagte der Wirth und dachte bei sich: Und entweder bin ich blind, oder ich habe es mit einem Priester zu thun.

– Wer von beiden behält die Oberhand? fragte der Reisende.

– Bis jetzt der Vikomte. Aber es kostet Hitze. Der Alte hat Haare auf den Zähnen. Sind aus einem alten Geschlecht aus der hiesigen Gegend, die Leute; die Familie zerfällt in zwei Linien, in die Hauptlinie mit dem Marquis von Lantenac als Oberhaupt und in die Seitenlinie mit dem Vikomte Gauvain. Jetzt raufen die beiden Linien mit einander. Ja, bei den Bäumen kommt so was nicht vor, aber bei den Stammbäumen schon. Dieser Marquis von Lantenac ist in der Bretagne allmächtig; den Bauern gilt er für einen Fürsten. Am Tage, wo er gelandet ist, hat er im Handumdrehen achttausend Mann um sich gehabt und innerhalb einer Woche waren dreihundert Gemeinden in Aufruhr; und wenn er von der Küste nur so viel hätte besetzen können, hatten wir die Engländer am Hals. Glücklicherweise war aber jener Gauvain bei der Hand, sein Großneffe – schnurrige Geschichte das. Er ist der Kommandant der Republikaner und hat seinem Herrn Onkel heimgeleuchtet. Und dann hat auch das Glück gewollt, daß dieser Lantenac, der gleich bei seiner Ankunft eine Menge Gefangener umgebracht hat, zwei Weiber miterschießen ließ, wovon die eine drei Kinder hatte, die von einem Pariser Bataillon angenommen worden waren. Daraufhin wurde das Bataillon teufelswild; Bonnet-Rouge heißt es. Sind ihrer zwar nicht mehr viel, aber das Donnerwetter haben sie in ihren Bajonetten, diese Pariser. Man hat sie der Kolonne von Gauvain zugetheilt. Nichts hält vor ihnen Stand. Sie wollen die Weiber rächen und die Kinder wieder haben. Was der Alte angefangen hat mit den Kleinen, darüber ist man im Unklaren. Das macht die Pariser Grenadiere ganz rabiat. Ja, wären die Kinder nicht, so würde Manches in diesem Kriege unterbleiben. Der Vikomte ist ein guter, wackerer junger Mann; aber der Alte ist ein scheußlicher Marquis. Die Bauern heißen das den Kampf des heiligen Michael mit Belzebub. Sie wissen vielleicht, daß der Erzengel Michael ein Landespatron ist; er hat einen eigenen Berg mitten im Meer, in der Bucht. Es wird von ihm erzählt, er habe den Teufel niedergestochen und hier in der Nähe unter einem anderen Berg begraben, unter dem Tombelaine.

– Ja, murmelte der Fremde, Tumba Beleni, das Grab des Belenus oder Belus, Baal, Belial, Belzebub.

– Sie wissen davon, wie ich höre. Und der Wirth setzte wieder im Geist hinzu: Wahrhaftig, er redet lateinisch; jetzt ist kein Zweifel mehr. Dann fuhr er fort: Nun denn, Bürger, in den Augen der Bürger ist es jener Kampf, der aufs Neue losgeht. Der heilige Michael ist selbstverständlich kein Anderer, als der royalistische General und der republikanische muß für Belzebub herhalten; wenn aber hier einer der Satan ist, so ist es Lantenac, und der Engel ist Gauvain. Bürger, wollen Sie nicht eine Stärkung zu sich nehmen?

– Ich habe meine Feldflasche und ein Stück Brod bei mir. Aber Sie sagen mir nicht, was in Dol vor sich geht?

– Folgendes: Gauvain kommandirte also die Küstenkolonne. Lantenac hatte die Absicht, weit und breit alles auf die Beine zu bringen, die untere Bretagne mit der untern Normandie zu verbinden, Herrn Pitt die Thür aufzuschließen und dann mit zwanzigtausend Engländern und zweimalhunderttausend Bauern der großen Vendéer Armee auf die Strümpfe zu helfen. Nun hat Gauvain einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hält die Küste besetzt und treibt Lantenac ins Innere, die Engländer auf die hohe See zurück. Lantenac stand hier auch und hat weichen müssen; Gauvain hat ihm Pont-au-Beau wieder abgenommen, hat ihn aus Avranches verjagt, aus Villedieu verjagt und hat ihm den Weg nach Granville versperrt; er zielt jetzt darauf hin, ihn in den Wald von Fougères zurückzuwerfen und dort zu umzingeln. Gestern war noch alles im besten Gang; Gauvain war hier, mit seiner Kolonne. Da, plötzlich, wird er alarmirt. Der Alte, ein Fuchs, hat einen Vorstoß gegen Dol gemacht. Fällt die Stadt in seine Gewalt und pflanzt er auf dem Mont-Dol eine Batterie auf, denn Geschütz hat er ja, so beherrscht er einen Theil der Küste, wo dann die Engländer landen können, und alles ist hin. Und deshalb, weil keine Minute zu verlieren war und weil er ein heller Kopf ist, hat Gauvain blos bei sich selber Rath geholt, und ohne eine Ordre zu verlangen noch abzuwarten, zum Aufbruch blasen lassen, seine Artilleriepferde vorgespannt, seine Infanterie zusammengetrommelt, seinen Säbel gezogen, und so fällt nun, während Lantenac über Dol hinfällt, Gauvain über Lantenac her. Dort werden sie ihre zwei bretonischen Schädel gegeneinanderrennen; sie müssen bereits an Ort und Stelle sein.

– Wieviel Zeit braucht man bis Dol?

– Eine Kolonne mit Train mindestens drei Stunden; aber sie sind jedenfalls schon dort.

Der Fremde horchte auf und sagte: In der That, mich dünkt, ich höre die Kanonade.

Der Wirth lauschte gleichfalls: Jawohl, Bürger, auch Gewehrfeuer. Es wird zum Tanz aufgespielt. Sie sollten hier übernachten. Dort drüben läßt sich nichts Gescheutes einkaufen.

– Ich darf keine Zeit verlieren und muß weiter.

– Sie haben Unrecht. Zwar weiß ich nicht, was Sie für Geschäfte haben, aber Sie setzen alles aufs Spiel, und wenn es sich nicht um Ihr Liebstes handelt in dieser Welt …

– Darum handelt sichs freilich, unterbrach der Fremde.

– Etwa um einen Sohn …

– Ja, etwas dergleichen, sagte der Fremde.

Der Wirth schaute ihn an und sprach mit sich selber: Aber wie ein Priester sieht er doch aus. Dann besann er sich noch einen Augenblick: Ei was, das hat auch Kinder, so ein Priester.

– Zäumen Sie mein Pferd, sagte der Reiter. Was bin ich Ihnen schuldig?

Er zahlte. Der Wirth stellte Krippe und Eimer an die Mauer und trat dann wieder vor den Fremden hin: Wenn Sie durchaus fort wollen, nehmen Sie wenigstens einen guten Rath mit. Daß Sie nach Saint-Malo reisen, liegt auf der Hand. Nun denn, reiten Sie nicht durch Dol. Es giebt außer dem Weg über Dol noch einen Weg längs dem Meer, der kaum weiter ist als der andere: er geht über Saint-Georges de Brehaigne, Cherrueix und Hirel-le-Vivier, nördlich von Dol und südlich von Cancale. Am Ende dieser Straße, Bürger, zweigen sich die beiden Wege ab, der über Dol nach links, der über Saint-Georges de Brehaigne nach rechts. Merken Sie wohl auf: wenn Sie durch Dol reiten, gerathen Sie mitten ins Blutbad hinein; darum nicht links einbiegen, sondern rechts.

– Danke, sagte der Fremde und trieb sein Pferd an; bald war er, dem nachschauenden Rathgeber nicht mehr sichtbar, in der mittlerweile hereingebrochenen Nacht verschwunden. Am Straßenende, wo sich die Wege abzweigten, hörte er den Wirth von Weitem rufen: Rechts abschwenken, rechts!

Er schwenkte nach links.

II.

Dol

Dol, wie in den alten Urkunden geschrieben steht, eine spanische Stadt Frankreichs in der Bretagne, ist keine Stadt, nur eine Straße, eine lange, alte, gothische Straße, sehr breit, mit zwei unregelmäßigen Reihen von säulengetragenen vorspringenden oder zurücktretenden Häusern. Die übrige Stadt ist weiter nichts als ein Netz von Gäßchen, die mit der großen durchlaufenden Straße in Verbindung stehen und hineinmünden wie Bäche in einen Fluß. Ohne Thor noch Mauern, vom Mont-Dol überragt, konnte die offene Stadt keine Belagerung aushalten, wohl aber die Straße, denn die vorspringenden Häuser, die vor fünfzig Jahren noch zu sehen waren, und die zwei auf Säulen ruhenden Galerien zu beiden Seiten boten sehr günstige, widerstandsfähige Vertheidigungslinien. Jedes Haus war eine Festung, die gestürmt werden mußte, zumal die alte Markthalle, die ungefähr in der Mitte der Straße stand.

Der Wirth von La Croix-Branchard hatte Recht gehabt: im Augenblick, wo er sprach, wälzte sich durch Dol ein wüthendes Handgemenge, ein plötzlich über die Stadt hereingebrochener Zweikampf zwischen den Morgens angekommenen Weißen und den Abends eingetroffenen Blauen. Die Kräfte waren ungleich, denn die Weißen zählten sechstausend, die Blauen blos fünfzehnhundert Mann; gleich war jedoch die Erbitterung der Gegner. Merkwürdigerweise waren es die Fünfzehnhundert, welche die Sechstausend angegriffen hatten.

Auf der einen Seite ein Gewühl, auf der anderen eine Phalanx. Hier sechstausend Bauern mit Herzen Jesu auf den Lederjacken, weißen Bändern an den runden Hüten, christlichen Denksprüchen auf den Armbinden, Rosenkränzen am Gürtel, mit mehr Heugabeln als Säbeln und mit Stutzen ohne Bajonett, mit Kanonen, die sie selber an Seilen mit sich zogen, mit schlechter Montur, schlechter Disziplin, schlechten Waffen, aber voller Tollwuth. Dort fünfzehnhundert Soldaten mit Trikolorekokarden an den dreieckigen Hüten, in langen Röcken mit hohen Aufschlägen am gekreuzten Wehrgehänge, den kurzen Säbel mit Messinggriff und am Gewehr das lange Bajonett führend, eingeschult, in Reih und Glied, lenksam und unbändig, Leute, die zu gehorchen wissen, wie sie auch befehlen könnten, Freiwillige wie die Gegner, aber Freiwillige für das Vaterland, im Uebrigen zerfetzt und ohne Schuhe. Auf Seite der Monarchie mittelalterlich ritterliche Bauern, auf Seite der Revolution barfuß kämpfende Helden; beide Schaaren beseelt von ihrem Führer, die Royalisten von einem Greis, die Republikaner von einem Jüngling. Hie Lantenac, hie Gauvain.

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Die Revolution hat neben ihren gigantischen auch ihre idealen männlich jugendlichen Gestalten, neben Danton, Saint-Just und Robespierre einen Hoche und Marceau. Eine solche Gestalt war auch Gauvain. Er war dreißig Jahre alt, hatte die Figur eines Herkules, den schwärmerisch feierlichen Blick eines Propheten und konnte lachen wie ein Kind. Er rauchte nicht, trank nicht, fluchte nicht, führte mitten im Krieg ein Toilettenkästchen mit sich, pflegte sorgfältig seine Nägel, seine Zähne und sein prachtvolles braunes Haar und schüttelte, wenn er Halt kommandirt hatte, seinen bestaubten, von Kugeln durchlöcherten Hauptmannsrock selber aus. Trotzdem er sich immer tollkühn ins Handgemenge stürzte, war er nie verwundet worden. Seine sehr sanfte Stimme brach, wenn es Noth that, in ein ungestüm gebieterisches Schmettern aus. Wo es auf bloßer Erde zu übernachten galt, unter Sturmwind, Regen oder Schneegestöber, ging immer er mit dem guten Beispiel voran und legte sich in den Mantel gewickelt nieder, mit einem Stein als Kissen für sein anmuthiges Haupt. Er war eine unschuldvolle Heldenseele. Ihn verklärte der gezogene Degen. Er hatte jenes Weibliche an sich, das furchtbar wird in der Schlacht. Dabei war er ein Denker und Philosoph, ein junger Weiser; einen Alkibiades sah, wer ihn anschaute, und wer ihm lauschte, hörte einen Sokrates aus ihm sprechen.

In jener unermeßlichen Schöpfung aus dem Stegreif, die man die französische Revolution nennt, war dieser junge Mann sofort ein Kriegsmann geworden. Seine Kolonne, sein eigenes Werk, war, wie die römische Legion, eine vollständige Armee im Kleinen mit Fußvolk und Reiterei, Scharfschützen, Pionieren, Sappeurs und Pontoniers, und wie die römische Legion ihre Wurfmaschinen, so hatte die Kolonne ihre Artillerie, drei wohl bespannte Feldgeschütze, die ihr einen Halt gaben, ohne die Beweglichkeit zu beeinträchtigen.

Lantenac seinerseits war auch ein Kriegsmann und hatte neben der Bedachtsamkeit seiner Jahre zugleich noch die größere Kühnheit vor Gauvain voraus. Ein wirklicher alter Degen ist kühler als der junge, weil er den Morgen längst hinter sich hat, und kecker, weil er dem Ende näher steht. Er hat ja so gut wie nichts mehr zu verlieren. Daher die gleichzeitig tollkühne und durchdachte Kriegführung Lantenac’s. Und dennoch, in diesem hartnäckigen Ringkampf des Jünglings und des Greises blieb fast immer im Großen und Ganzen Gauvain im Vortheil, allerdings wohl nur, weil er Glück hatte; der Erfolg, selbst der Erfolg im Furchtbaren, gehört eben der Jugend: die Siegesgöttin ist zum Theil noch Weib.

Lantenac war auf Gauvain rein wüthend, erstens weil Gauvain ihn schlug, und zweitens weil Gauvain mit ihm verwandt war. Was hatte er sich auch unterstanden, unter die Jakobiner zu gehen, dieser Gauvain! Der Schlingel! Der einzige Erbe des Marquis, denn Kinder hatte dieser nicht; sein leiblicher Großneffe, fast ein Enkel! »O, sagte der Pseudo-Großvater, wenn er mir in den Wurf kommt, schieß ich ihn nieder wie einen Hund!«

Die Republik hatte übrigens allen Grund, über diesen Marquis von Lantenac in Aufregung zu gerathen. Kaum gelandet, verbreitete er schon das Entsetzen. Wie ein Lauffeuer hatte sein Name in der ganzen Vendée und Bretagne die Runde gemacht, und sofort war er der Mittelpunkt des Aufruhrs geworden. In einem solchen Aufruhr aber, wo Jeder dem Anderen neidisch ist und Jeder seinen eigenen Busch oder Hohlweg beherrscht, schaart der hinzugekommene Höhere die vereinzelten gleichberechtigten Befehlshaber um seine Person. So hatten sich fast alle Bandenführer an Lantenac angeschlossen und gehorchten ihm nah und fern. Nur Einer hatte ihn verlassen, der Erste, der zu ihm gestoßen, jener Gavard. Weshalb? Weil er ein Mann des blinden Vertrauens war; Gavard hatte alle Geheimnisse und Absichten jener früheren Kriegführung getheilt, die Lantenac nun beseitigte und durch ein anderes System ersetzte. Das Zutrauen des Untergebenen vererbt sich nicht auf jeden neuen Vorgesetzten, und da Lantenac sich der Taktik von La Rouarie nicht anbequemen konnte, hatte sich Gavard mit Bonchamp vereinigt.

Lantenac war ein Soldat aus der Schule Friedrichs II. und strebte eine Verschmelzung des großen und des kleinen Krieges an. Er wollte weder von einer »ungegliederten Masse« im Stil der großen königlich katholischen Armee etwas wissen, die blos für das Zermalmen taugte, noch von einer Verzettelung durch Wälder und Gebüsch, womit der Feind wohl beunruhigt, nicht aber niedergeworfen werden konnte. Der Guerillakrieg bringt es zu keinem oder zu einem elenden Abschluß; man beginnt mit dem Angriff aus eine Republik und endigt mit der Plünderung eines Eilwagens. Lantenac wollte den Kampf weder auf das offene Feld beschränken wie La Rochejacquelein, noch auf den Busch wie Jean Chouan, also weder Vendée noch Chouannerie; er wollte den vollständigen Krieg, wollte das bäuerische Element strategisch verwerthen, aber im Zusammenhang mit dem soldatischen, auf Grundlage taktisch ausgebildeter Regimenter. Die Vortrefflichkeit der plötzlich zusammengeläuteten und ebenso plötzlich wieder zerstiebenen Dorfarmeen für Angriff, Hinterhalt und Ueberfall sah er vollkommen ein, aber sie waren ihm zu flüssig; sie zerrannen ihm zwischen den Händen wie Wasser; er wollte den in alle Richtungen auseinander fluthenden Kampf um einen festen Kern zusammenziehen, wollte den wilden Banden in den Wäldern eine geschulte reguläre Truppe als Angelpunkt zu Grunde legen, und darauf gestützt, mit ihnen manöveriren, ein furchtbar fruchtbarer Gedanke, dessen Ausführung die Vendée unüberwindlich gemacht hätte. Wo aber jenes Element, wo die Soldaten, die Regimenter, wo eine schlagfertige Armee hernehmen? Aus England. Daher Lantenac’s fixe Idee: die Landung der Engländer. So kapitulirt das Gewissen der Parteien; die weiße Kokarde deckt den rothen Rock. Lantenac hatte nur noch das eine Trachten, sich irgend eines Küstenstrichs zu bemächtigen, um ihn Pitt zu überantworten. Deshalb hatte er sich auf das zur Zeit wehrlose Dol geworfen, um dadurch in den Besitz des Mont-Dol und durch den Mont-Dol in den Besitz des Strandes zu gelangen. Die Stellung war vortrefflich gewählt. Eine Batterie auf dem Mont-Dol konnte nach der einen Seite Le Fresnois, nach der andern Saint-Brelade bestreichen, konnte das Geschwader von Cancale in Schach halten und den Landungstruppen die ganze Uferstrecke zwischen Le Raz-sur-Couesnon und Saint-Meloir-des-Ondes zur Verfügung stellen. Um diesen entscheidenden Schlag zu führen, hatte Lantenac etwas über sechstausend Mann an sich gezogen, die Auslese der unter seinem Befehl stehenden Banden, und zur Errichtung einer starken Batterie auf dem Mont-Dol zehn sechszehnpfündige Feldschlangen, eine achtpfündige Schiffskanone und einen Vierpfünder mitgenommen, seine sämmtliche Artillerie, denn er ging von dem Grundsatz aus, daß zehn Geschütze mit tausend Schüssen mehr ausrichten als fünf mit fünfzehnhundert. Der Erfolg schien gesichert. Den sechstausend Mann stand, gegen Avranches zu, blos Gauvain mit seinen fünfzehnhundert gegenüber und gegen Dinan zu Léchelle, der allerdings fünfundzwanzigtausend Mann stark, dafür aber auch zwanzig Stunden weit abseits war. So hatte denn Lantenac, was Léchelle betraf, von der großen Zahl in Folge der großen Entfernung und, was Gauvain anbelangte, von der geringen Entfernung in Folge der geringen Zahl nichts zu besorgen. Dazu kam noch, daß Léchelle unfähig war, was er später mit Selbstmord büßte, nachdem er mit seinen fünfundzwanzigtausend Mann auf der Haide von La Croix-Bataille eine Niederlage erlitten. Lantenac fühlte sich demnach vollständig sicher. Rasch und rücksichtslos war er in Dol einmarschirt, und da seine unerbittliche Härte bereits sprichwörtlich war, war nicht der geringste Versuch eines Widerstandes gemacht worden. Die entsetzten Einwohner schlossen sich in ihre Häuser ein. In bäuerischer Unordnung, fast wie bei einem Jahrmarkt, ließen sich die Vendéer in der Stadt nieder; ohne Fouriere, ohne Quartieranweisung, bivouakirten sie, wo es ihnen just gefiel, kochten ihre Menage unter freiem Himmel, verliefen sich in die Kirchen, legten die Flinten ab und griffen zum Rosenkranz. Lantenac nahm mit einigen Artillerieoffizieren sofort die Rekognoszirung des Mont-Dol vor und übergab das Kommando an Gouge-le-Bruant, den er zu seinem Stellvertreter ernannt hatte.

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Gauvain schrie, den Degen schwingend

Dieser Gouge-le-Bruant hat in der Geschichte eine dunkle Spur hinter sich zurückgelassen; er hatte zwei Beinamen: »Brisebleu«, wegen seines Wüthens gegen die Blauen, und »der Imânus«, wegen des unaussprechlichen Grausens, das von ihm ausging. Imânus, vom Lateinischen »immanis« abgeleitet, bezeichnet im Dialekt der unteren Normandie, das übermenschlich Häßliche, dämonisch Entsetzliche, den Teufel, den Unhold, den Kinderfresser. Schon in einer alten Handschrift lesen wir: »d’mes daeux iers j’vis l’imânus« (mit meinen beiden Augen sah ich den Bösen). Die alten Leute vom Bocage wissen heutigen Tages nicht mehr, wer Gouge-le-Bruant war, und was Brisebleu bedeuten soll, aber sie entsinnen sich ganz dunkel des Imânus. Der Imânus hat sich in den Lokalaberglauben eingeflochten. Von ihm wird noch in Trémorel und Plumeaugat erzählt, zwei Dörfer, wo Gouge-le-Bruant schauerliche Spuren hinterließ. Die Andern in der Vendée waren die Wilden; Gouge-le-Bruant war der Barbarische. Er war tätowirt wie ein Indianerhäuptling, nur mit Kinderfibelkreuzen und Lilien; aus seinem Gesicht brach das scheußliche, fast übernatürliche Schimmern einer Seele, der keine andere menschliche Seele ähnlich sah. Im Kampf war er teuflisch tapfer und teuflisch grausam nachher. Er hatte ein Herz voll verschlungener Irrgänge, das jeder Aufopferung fähig war und zu jedem Greuel hinneigte. Konnte er nachdenken? Ja, doch wie die Schlangen kriechen, in Windungen. Beim Heldenthum fing er an, um mit dem Mord aufzuhören. Unmöglich war es, zu errathen, wie er zu seinen Entschlüssen kam, die oft vor lauter Ungeheuerlichkeit etwas Großartiges an sich trugen. Ihm war alles gräßlich Ueberraschende zuzutrauen. Seine Entsetzlichkeit war episch wie die der Cyklopen. Daher der ungestalte Beiname Imânus. Der Marquis von Lantenac baute auf seine Grausamkeit, und mit vollem Recht; darin war der Imânus Meister, weit mehr als in den Künsten des Krieges, weshalb denn auch der Marquis vielleicht nicht wohl daran that, ihn zu seinem Stellvertreter zu erwählen. Gleichviel, er ließ ihn als solchen mit dem Auftrag zurück, für Alles Sorge zu tragen. Gouge-le-Bruant mit seinem mehr streitbaren als militärischen Wesen eignete sich weit eher zur Niedermetzelung eines Clans als zur Bewachung einer Stadt. Nichtsdestoweniger stellte er Posten auf.

Als Lantenac nach gepflogener Untersuchung des Terrains Abends nach Dol zurückritt, hörte er plötzlich Kanonenschüsse und sah aus der Hauptstraße einen röthlichen Rauch emporsteigen; das bedeutete Ueberfall, Einbruch, Sturm: In der Stadt schlug man sich. Obgleich den Marquis fast nichts in Erstaunen zu setzen vermochte, jetzt war er verblüfft. Dieser Zwischenfall kam ihm ganz unerwartet. Wer konnte das sein? Gauvain offenbar nicht; in einer Minderzahl von eins gegen vier greift man nicht an. War es etwa Léchelle? Aber was hätte das für ein Eilmarsch sein müssen! Von beiden Vermuthungen war also die eine unwahrscheinlich, die andere unmöglich. Lantenac spornte sein Pferd an; bald darauf stieß er auf fliehende Stadtleute, die er anhielt; sie waren ganz außer sich vor Schrecken und riefen nur immer: Die Blauen! die Blauen!

Als der Marquis endlich eintraf, stand es um die Seinen schlimm. Zugetragen hatte sich Folgendes:

III.

Kleine Heere, große Schlachten.

Nach dem Einmarsch in Dol hatten sich, wie gesagt, die Bauern nach Gutdünken in der Stadt herumgetrieben als Leute, die, wie ihr eigenes Schlagwort lautete, »aus Freundschaft gehorchen«, ein Gehorchen, welches zwar Helden, aber nimmermehr Soldaten heranbilden kann. Artillerie und Gepäck hatten sie unter den Bögen der alten Markthalle untergebracht und lagerten nun ausruhend, essend und trinkend, oder »rosenkränzelnd«, in buntem Durcheinander auf der Hauptstraße, mehr als Hindernisse des Verkehrs denn als Hüter des Platzes. Bei sinkender Nacht schoben die Meisten den Schnappsack unter den Kopf und schliefen ein, Der und Jener an der Seite seines Weibes, denn oft geschah es, daß Bäuerinnen mitausrückten und dann, besonders die in gesegneten Umständen waren, Kundschafterdienste versahen. Es war eine milde Julinacht, und am tiefen schwarzblauen Himmel funkelten die Sternbilder. Während diese Menge, die man eher für eine rastende Karawane als für ein Bivouak gehalten hätte, friedlich schlummerte, fiel den Wenigen, welche die Augen noch nicht geschlossen, plötzlich auf, daß an der einen Straßenmündung, vom Zwielicht beschienen, drei Kanonen gegen sie gerichtet waren – Gauvains Kanonen; er hatte die Wachtposten überrumpelt, war in die Stadt eingedrungen und hielt den Eingang der Straße besetzt. Ein Bauer richtete sich aus, schrie Werda? und feuerte seine Flinte ab. Ein Kanonenschuß war die Antwort. Gleich darauf schlug ein Platzregen von Gewehrkugeln ein. Alles fuhr aus dem Schlaf empor, ein schreckenvolles Erwachen für Leute, die eben noch unter dem Sternenschimmer einschlummerten.

Der erste Augenblick war schauderhaft, denn es giebt nichts Entsetzlicheres als das Hin- und Herwimmeln einer Masse, auf welche Blitzstrahlen hereinhageln. Man warf sich auf die Waffen, schrie, rannte, stürzte getroffen nieder. Die angefallenen Bauernburschen schossen in fassungsloser Verwirrung auf die eigenen Leute. Aufgeschreckte Gestalten huschten aus den Häusern und huschten wieder herein oder liefen wie wahnsinnig im Getümmel umher. Die zu einander gehörten, riefen einander an. Mitten in dem furchtbaren Gefecht heulten Weiber und Kinder. Die Finsterniß war allenthalben von pfeifenden Kugeln durchstrichen; aus jedem dunkelen Winkel Flintenschüsse; das Ganze ein riesiger in Rauch verschwimmender Wirrwarr zwischen durcheinanderstehenden Karren und Munitionswagen. Die Pferde schlugen aus; aufbrüllende Verwundete wurden auf dem Boden zerstampft; neben der Verzweiflungswuth starres Entsetzen, Soldaten, die ihre Führer, und Führer, die ihre Soldaten suchten; stellenweise auch düstere Gleichgiltigkeit, an einer Mauer ein Weib, daß ihren Säugling stillte, während ihr Mann, der blutend, mit zerschmettertem Bein neben ihr lehnte, kaltblütig den Stutzen lud und auf gut Glück hin den Tod in die Finsterniß hinaussendete. Zwischen den Rädern der Fuhrwerke lagen Bauern der Länge nach ausgestreckt und feuerten durch die Speichen. Zuweilen gellte ein tausendstimmiger Aufschrei durch die Nacht; dann behielt der Donner der Kanonen wieder die Oberhand. Es war grauenvoll. Wie Bäume unter einem Bergsturz fielen die Leichen auf die Leichen. Aus seinem Hinterhalt schmetterte Gauvain mit Sicherheit und beinahe ohne einen Mann zu verlieren Alles nieder.

Nach einiger Zeit jedoch kam eine gewisse Ordnung in das Gedränge der unverzagten Bauern; sie zogen sich unter den großen dunkelen Säulenwald der Markthalle wie hinter ein Vorwerk zurück und faßten dort festen Fuß; was nur irgend welche Aehnlichkeit mit einem Walde hatte, flößte ihnen Selbstvertrauen ein. Der Imânus suchte nach besten Kräften den Marquis zu ersetzen. Seine Geschütze ließ er zwar, zu Gauvains größtem Erstaunen, unbenutzt, denn nur die mit Lantenac ausgerittenen Artillerieoffiziere wußten damit umzugehen; die Bauernburschen waren zur Bedienung der Feldschlangen und des Achtpfünders nicht einexerzirt, entsendeten aber dafür einen Hagel von Kugeln auf die Kanoniere der Blauen und erwiderten die Kartätschensalven mit Gewehrfeuer. Die besser Gedeckten waren jetzt sie; denn sie hatten alle, in der Markthalle befindlichen Karren, Fuhrwerke, Proviantsäcke und Fässer im Nu zu einer hohen Barrikade mit Schießscharten aufgestapelt, aus denen sie ein mörderisches Feuer unterhielten, im Nu, denn bevor eine Viertelstunde verstrichen war, erhob sich vor dem Gebäude eine unübersteigbare Mauer.

Gauvain gerieth dadurch in eine kritische Lage. Diese plötzlich in eine Zitadelle umgewandelte Markthalle, in welcher die Bauern eine feste, konzentrirte Stellung einnahmen, kam ihm unerwartet. Den Feind zu überfallen war ihm zwar gelungen, nicht aber, ihn in die Flucht zu schlagen. Er war abgesessen und spähte aufgerichtet, den Degen in der Faust, mit verschränkten Armen beim Schein einer Fackel, die seine Batterie beleuchtete, in die Dunkelheit hinaus. Sein hoher Wuchs und der Fackelschein machten ihn zur Zielscheibe der Barrikade, doch daran dachte er nicht und ließ, in Sinnen versunken, den Kugelregen um sich her einschlagen. Zum Glück konnte er den Flinten allen mit seinen Geschützen Trotz bieten; die Kanonen behalten immer das letzte Wort und auf Seite der Artillerie bleibt der Sieg; mit seiner wohlbedienten Batterie war er noch immer im Vortheil.

Da, plötzlich sprühte aus der finsteren Markthalle ein Blitz, und donnernd schmetterte eine Kanonenkugel über Gauvain in ein Haus. Die Barrikade setzte der Artillerie Artillerie entgegen. Was hatte das zu bedeuten? Offenbar hatte sich drüben etwas ereignet und das Gefecht trat in ein neues Stadium.

Eine zweite Kugel folgte der ersten auf dem Fuß und schlug dicht neben Gauvain in die Mauer ein; eine dritte riß ihm den Hut vom Kopf. Die Kugeln waren von schwerem Kaliber, sechszehnpfündig.

– Auf Sie ist es abgesehen, Kommandant, riefen die Kanoniere und löschten die Fackel. Nachdenklich bückte sich Gauvain nach seinem Hut.

In der That hatte es Jemand auf ihn abgesehen, und zwar Lantenac.

Der Marquis hatte die Barrikade von der entgegengesetzten Seite her erreicht, und der Imânus war auf ihn zugestürzt: Gnädiger Herr, man hat uns überfallen!

– Wer?

– Ich weiß nicht.

– Steht der Weg nach Dinan offen?

– Ich glaube.

– So muß der Rückzug angetreten werden.

– Geschieht schon; es sind bereits Viele entwischt.

– Es handelt sich nicht um das Entwischen; es handelt sich darum, sich zurückzuziehen. Warum ist die Artillerie nicht zugezogen worden?

– Man hat den Kopf verloren, und dann waren die Offiziere nicht bei der Hand.

– Ich will dafür sorgen.

– Gnädiger Herr, ich habe möglichst viel Gepäck, die Weiber und alles Ueberflüssige nach Fougères abgehen lassen. Was soll aus den drei kleinen Gefangenen werden?

– Ach so, aus den Kindern?

– Ja.

– Wir behalten sie als Geisel. Sorge dafür, daß sie nach La Tourgue gebracht werden.

Hierauf trat der Marquis hinter die Barrikade. Das Eintreffen des Führers änderte die ganze Sachlage. Beim Bau der Barrikade war auf die Artillerie keine Rücksicht genommen worden; es war blos für zwei Geschütze Raum vorhanden; der Marquis ließ zwei größere Oeffnungen durchbrechen und zwei Sechszehnpfünder dahinter aufpflanzen. Als er sich über die eine der Feldschlangen beugte um die feindliche Batterie durch die Schießscharte zu beobachten, erblickte er Gauvain. – Er ist es! rief er und griff nach Wischer und Setzkolben, lud das Geschütz, richtete das Visier und zielte. Zu dreien Malen feuerte auf Gauvain und fehlte. Mit dem dritten Schuß riß er ihm den Hut vom Kopf. – Gestümpert! murmelte er vor sich hin. Ein paar Zoll tiefer und ich traf den Kopf.

Da erlosch plötzlich die Fackel, und er hatte nur noch Finsterniß vor sich. – Sei es drum, sagte er und rief seinen Artilleristen zu: Mit Kartätschen!

Gauvain war seinerseits nicht ruhiger. Seine Lage verschlimmerte sich. Der Kampf nahm einen anderen Charakter an. Jetzt setzte die Barrikade ihm mit Kanonen zu. Wer konnte wissen, ob sie nicht von der Defensive zur Offensive übergehen würde? Er hatte es, die Todten und Flüchtigen auch abgerechnet, mit mindestens fünftausend Mann zu thun und verfügte selber über nur mehr zwölfhundert kampffähige Leute. Was sollte aus den Republikanern werden, wenn der Feind sich von ihrer geringen Zahl überzeugte. Die Rollen würden unfehlbar vertauscht und die bisherigen Angreifer die Angegriffenen werden. Ein Ausfall aus der Barrikade konnte die Vernichtung herbeiführen. Was thun? Die Barrikade in der Front anzupacken, daran war nicht zu denken; ein Gewaltstreich wäre eine Chimäre gewesen; zwölfhundert Mann können fünftausend aus einer solchen Stellung unmöglich verjagen. Mit Ueberstürzung ließ sich nichts ausrichten, und jedes Abwarten war vom Uebel. Ein Ende mußte gemacht werden, aber wie?

Gauvain, der ja aus der Gegend gebürtig war, kannte die Stadt; er wußte, daß die alte Markthalle, in der sich die Vendéer verschanzt hatten, mit der Rückseite an ein Labyrinth von engen, winkeligen Gäßchen stieß, und wendete sich nun an seinen Unterkommandanten, den tapferen Hauptmann Guéchamp, der sich später dadurch so rühmlich auszeichnete, daß er Jean Chouan’s Heimath, den Wald von Concise, säuberte und durch die Verteidigung des Dammweges am Teich La Chaîne die Wegnahme von Bourgneuf vereitelte. – Guéchamp, sagte er, ich übertrage Ihnen das Kommando. Setzen Sie das Feuer nach besten Kräften fort; schießen Sie Bresche in die Barrikade und halten Sie mir die Leute in Atem.

– Verstanden, erwiderte Guéchamp.

– Formiren Sie alle verfügbaren Kräfte in eine Angriffskolonne, und warten Sie mit geladenen Gewehren das Zeichen zum Stürmen ab.

Und er flüsterte Guéchamp ein paar Worte ins Ohr. – Abgemacht, sagte dieser. – Sind alle Tambours noch auf den Beinen? fragte Gauvain. – Ja wohl. – Es sind ihrer neun. Ich lasse Ihnen zwei davon zurück; die andern sieben gehen mit mir.

Die sieben Tambours stellten sich schweigend vor Gauvain in Reih und Glied.

– Heran das Bataillon Bonnet-Rouge! rief Gauvain.

Es trat ein Sergeant an mit elf Mann.

– Ich meine das ganze Bataillon, sagte Gauvain.

– Hier, antwortete der Sergeant.

– Euer zwölf!

– Nur noch unser zwölf.

– Schön, sagte Gauvain.

Der Sergeant war jener wackere soldatischderbe Radoub, der im Namen des Bataillons die drei Kinder aus dem Wald von La Saudraie angenommen hatte. Man wird sich wohl noch erinnern, daß blos die eine Hälfte des Bataillons in Herbe-en-Pail niedergemetzelt worden; Radoub war so glücklich gewesen, der andern Hälfte anzugehören.

– Sergeant, sagte Gauvain, indem er mit dem Finger auf einen in der Nähe stehenden Fouragenwagen deutete, lassen Sie Ihre Leute Strohwische binden und um die Gewehrläufe legen, damit es beim Aneinanderstoßen kein Geräusch giebt.

Einige Minuten darauf war der Befehl in der Dunkelheit still vollzogen worden. – Ist geschehen, meldete der Sergeant.

– Soldaten, zieht die Schuhe aus, befahl Gauvain weiter.

– Haben keine, bemerkte der Sergeant.

Die Tambours mitgerechnet, waren es neunzehn Mann, und Gauvain war der zwanzigste. – In einer einzigen Reihe, rief er, mir nach! Hinter mir die Tambours, dann das Bataillon; Sie führen es, Sergeant.

Er stellte sich an die Spitze der neunzehn Mann, und während auf beiden Seiten die Kanonade fortgesetzt wurde, bogen sie, wie Schatten dahingleitend, in die öden Gäßchen ein. So schlichen sie eine Zeitlang längs den Häusern hin. Die Stadt schien ausgestorben zu sein; die Einwohner hatten sich in den Kellern versteckt; jede Thür war verrammelt, jeder Fensterladen geschlossen, von einem Licht keine Spur. Wüthend dröhnte es von der Hauptstraße her in diese Stille herüber; der Artilleriekampf dauerte fort und die beiden Batterien spien mit Erbitterung ihre Kartätschen auf einander. Nachdem man sich zwanzig Minuten hindurch im Zickzack vorwärts bewegt hatte, erreichte Gauvain, der sich in der Finsterniß vortrefflich zurechtfand, ein Gäßchen, welches wieder in die Hauptstraße mündete, aber auf der andern Seite der Markthalle. Die Stellung war somit umgangen. Diese Seite – die Unvorsichtigkeit der Barrikadenkämpfer bleibt ewig dieselbe – war nicht verschanzt, sondern stand offen und gewährte freien Eintritt in das säulengetragene Gewölbe, wo ein paar reisefertige Gepäckwagen hielten. Die zwanzig Mann hatten die fünftausend Vendéer vor sich, aber jetzt mit dem Rücken statt mit der Front. Nachdem Gauvain dem Sergeanten ein paar Worte zugeflüstert, wurden die Strohwische von den Gewehren entfernt; die zwölf Grenadiere nahmen im Winkel des Gäßchens Stellung und die sieben Tambours warteten mit den Trommelstöcken in den Fäusten auf das Signal.

Die Artilleriesalven erfolgten immer noch in regelmäßigen Zwischenräumen. Einen solchen benutzte Gauvain und schrie, den Degen schwingend, mit einer Stimme, die wie ein Trompetentusch durch die momentane Stille schmetterte: Zweihundert Mann rechts vor! Zweihundert Mann links! Alles andere in der Front!

Sofort fielen die zwölf Gewehrschüsse, die sieben Tambours trommelten zur Attacke und Gauvain brach in den gewaltigen Kampfruf der Blauen aus: Bajonett vor! Drauf los!

Die Wirkung war eine unerhörte; die ganze Bauernmasse fühlte sich im Rücken angegriffen und glaubte sich von einer zweiten Armee überrumpelt. Zu gleicher Zeit setzte sich vom obern Ende der Straße her auf das verabredete Signal hin die Kolonne von Guéchamp, ebenfalls unter Trommelwirbel, in Bewegung und stürmte im Laufschritt gegen die Barrikade vor. Die Bauern sahen sich einem doppelten Feuer ausgesetzt. Der panische Schrecken vergrößert Alles; für ihn wird der Pistolenschuß zum Kanonendonner, das Bellen eines Hundes zum Gebrüll des Löwen, jeder Lärm zum gespenstigen Schreckniß. Fügen wir noch hinzu, daß der Bauer ins Fürchten geräth wie ein Strohdach ins Brennen und daß gerade wie die Flamme im Strohdach in eine Feuersbrunst, die Furcht des Bauern in unaufhaltsame Flucht ausartet. Es entstand ein ganz unbeschreibliches Drängen und Jagen. In einigen Minuten war die Halle leer; die entsetzten Burschen rannten auseinander, unbekümmert um ihre Offiziere, unbekümmert um den Imânus, der vergebens ihrer zwei oder drei niederschoß, und unter Angst- und Verzweiflungsgeschrei verlief sich die royalistische Armee durch die Gäßchen der Stadt wie durch die Löcher eines Siebs und zerstob im freien Feld mit der Schnelligkeit einer sturmgepeitschten Wolke. Die Einen flohen in der Richtung von Chateauneuf, Andere gegen Plerguer, Andere wieder gegen Antrain zu.

Der Marquis von Lantenac mußte diese tolle Flucht mitansehen. Mit eigener Hand vernagelte er die Geschütze und zog sich dann, von Allen der Letzte, langsam und kaltblütig mit den Worten zurück: Auf die Bauern ist entschieden kein Verlaß. Ohne die Engländer geht es nicht.

IV.

Zum zweiten Mal.

Es war ein vollständiger Sieg. Gauvain wendete sich zu den Grenadieren des Bataillons Bonnet-Rouge um und sagte: Ihr zwölf wiegt ein Tausend auf. So ein Wort aus dem Mund des Chefs war das Ehrenkreuz jener Zeiten. Guéchamp jagte, auf Gauvains Befehl, den Fliehenden nach und brachte viele Gefangene ein. Dann wurde die Stadt bei Fackelschein durchsucht. Alle, die nicht mehr entkommen konnten, ergaben sich. Die Hauptstraße, die man mit Pechkränzen beleuchtete, war mit Todten und Verwundeten übersät. Hin und wieder setzten sich noch, denn jeder Kampf hat sein gewaltsames Nachspiel, verzweifelte Gruppen zur Wehr, streckten jedoch, sowie sie umringt waren, die Waffen.

Im rasenden Gewirr des Ausreißens war Gauvain ein tollkühner Mensch aufgefallen, eine stämmige, flinke Faunengestalt, welche die Flucht der Anderen gedeckt hatte, ohne dann selber zu fliehen. Meisterhaft hatte dieser Bauer seine Flinte gehandhabt und so lange mit Schüssen und Kolbenschlägen um sich geworfen, bis sie zerbrochen war; nun stand er da mit einem Pistol in der einen Faust und einem Säbel in der anderen. Keiner wagte sich an ihn heran. Da sah ihn Gauvain plötzlich taumeln und sich gegen den Pfeiler eines Hauses lehnen. Der Mann war verwundet, hielt aber noch immer sein Pistol und seinen Säbel fest. Gauvain nahm den Degen unter den Arm und trat auf ihn zu. – Ergieb dich, sagte er.

Der Bauer stierte ihn an. Das Blut troff ihm unter den Kleidern aus der Wunde und rann zu seinen Füßen in eine Lache zusammen.

– Du bist mein Gefangener, wiederholte Gauvain.

Der Mann blieb stumm.

– Dein Name?

– Ich heiße Danse-à-l’Ombre, antwortete der Bauer.

– Du bist ein Tapferer, sagte Gauvain und streckte ihm die Hand entgegen.

– Vivat der König! rief der Mann, und mit dem letzten Aufwand seiner Kräfte beide Arme zugleich erhebend, führte er einen Säbelhieb nach Gauvains Kopf und schoß ihm nach dem Herzen.

Es war dies mit der Behendigkeit des Tigers vor sich gegangen; noch behender war aber ein Anderer gewesen, ein Reiter, der eben angekommen, unbeachtet in nächster Nähe hielt und der, im Augenblick, wo er den Vendéer Säbel und Pistol erheben sah, zwischen diesen und Gauvain vorgestürzt war. Ohne den Reiter war Gauvain verloren. So aber fing das Pferd den Schuß, der Mann den Hieb auf, und beide sanken zu Boden. Das Alles war so rasch geschehen, wie man einen Schrei ausstößt. Auch der Insurgent war jetzt am Pfeiler zusammengebrochen.

Der Reiter, dem der Hieb mitten im Gesicht saß, lag bewußtlos am Boden. Sein Pferd war todt.

– Wer ist der Mann, fragte Gauvain, indem er vor ihn hintrat. Er betrachtete ihn. Das Gesicht des Verwundeten war von Blut derart übergossen, daß es wie unter einer rothen Maske verschwand. Erkennen ließ sich nur soviel, daß das Haar grau war.

– Der Mann hat mir das Leben gerettet, hob Gauvain wieder an; weiß Keiner, wer er ist?

– Dieser Mann, Kommandant, sagte ein Soldat, ist eben erst in die Stadt hereingeritten, von Pontorson her; ich habe ihn kommen sehen.

Der Regimentsarzt war mit seinem Verbandzeug herbeigeeilt, untersuchte den noch immer Bewußtlosen und erklärte: Nur eine Schramme, hat nichts zu bedeuten, wird einfach wieder zusammengenäht. In acht Tagen geheilt; aber ein schöner Schmiß.

Der Verwundete trug einen Mantel, eine dreifarbige Schärpe, Pistolen und einen Säbel. Er wurde auf eine Tragbahre gelegt und halb entkleidet. Der Arzt, dem man einen Eimer Wasser gebracht hatte, wusch ihm das Blut vom Gesicht, dessen Züge allmälig sichtbar wurden.

– Hat er Papiere bei sich? fragte Gauvain, der den Fremden mit gespanntester Aufmerksamkeit betrachtete

Der Arzt betastete den Rock des Mannes und zog aus der Brusttasche ein Portefeuille hervor, das er Gauvain überreichte. Mittlerweile brachte die Berührung mit dem kalten Wasser den Verwundeten nach und nach zur Besinnung, und seine Augenlider geriethen in ein leises Zucken. Beim Durchsuchen der Brieftasche fand Gauvain ein zusammengelegtes Blatt Papier, das er entfaltete: »Wohlfahrtsausschuß. Der Bürger Cimourdain ….« Als er die Worte gelesen, that er einen Schrei: – Cimourdain! Bei diesem Schrei schlug der Verwundete die Augen auf. Gauvain war außer sich: – Sie sind es, Cimourdain! Zum zweiten Male verdanke ich Ihnen mein Leben.

Cimourdain sah ihn an und ein unbeschreibliches Freudenblitzen verklärte sein blutendes Gesicht. Gauvain fiel auf die Knie nieder und rief:

– Mein Lehrer!

– Dein Vater, sprach Cimourdain.

V.

Der Tropfen kalten Wassers.

Lange Jahre waren es her, daß sie einander nicht mehr gesehen, aber ihre Herzen hatten einander nie verloren und sie fanden sich wieder zusammen, als hätten sie sich erst am Abend zuvor getrennt. Im Rathhaus von Dol hatte man in aller Eile ein Lazareth eingerichtet und Cimourdam wurde auf einem Bett in ein Zimmerchen gebracht, das an den großen allgemeinen Krankensaal stieß. Der Arzt, der die Schramme zugenäht hatte, setzte den Herzensergüssen der Beiden ein Ziel, indem er es für nothwendig erklärte, Cimourdain ausschlafen zu lassen. Uebrigens mußte auch Gauvain tausenderlei Dingen nachgehen, welche die Vorsicht dem Sieger zur Pflicht macht. Cimourdain blieb allein, aber er schlummerte nicht; ihn schüttelte ein zwiefaches Fieber, das Wundfieber und das Fieber der Freude. Er schlummerte nicht, und doch konnte er sich kaum einreden, daß er ja wache. War’s denn auch möglich, daß sein Traum zur Wirklichkeit geworden? Cimourdain gehörte zu den Leuten, die sich keinen Treffer zutrauen und nun hatte er ihn doch gezogen. Gauvain, das Kind, das er hatte verlassen müssen, fand er jetzt wieder, fand ihn herangereift zum Mann, groß dastehend, gefürchtet und tapfer; siegreich hatte er ihn wiedergefunden, und siegreich in der Sache des Volkes. Gauvain war die Stütze der Revolution in der Vendée und er, Cimourdain, hatte der Republik diesen Strebepfeiler errichtet. Der Triumphator war sein Schüler und was er aus diesem jugendlichen Antlitz strahlen sah, dem vielleicht dereinst die Ehren des Pantheon zutheil werden sollten, war ja sein, Cimourdains, Gedanke; sein Jünger, der Sohn seines Geistes, bereits ein Held, konnte demnächst eine Ruhmessäule der Republik werden. Es war Cimourdain, als grüße ihn, zum Genius verklärt, seine eigene Seele; hatte er doch mit eigenen Augen gesehen, wie Gauvain Krieg führte. Ihm war zu Muthe wie dem alten Chiron, als er Achilleus kämpfen sah; – eine geheimnißvolle Uebereinstimmung zwischen dem Priester und dem Kentauren, denn auch der Priester ist nur zur Hälfte Mensch. Alle Wechselfälle dieses Abenteuers wirkten mit dem fiebernden Brennen seiner Wunde zusammen, um Cimourdain in eine gewisse mystische Verzückung zu versetzen. Ein junges Geschick ging in Sonnenherrlichkeit auf und er, der Glückselige, durfte es lenken; nur noch ein einziger Erfolg wie der heutige, und ein bloßes Wort von Cimourdain bewog die Republik, eine ihrer Armeen Gauvain anzuvertrauen. Nichts blendet mehr als das Staunen darüber, daß Alles gelungen ist. In jener Zeit trug sich Jeder mit seinem militärischen Traum; Jeder wollte einen General emporbringen, Danton Westermann, Marat Rossignol, Hébert Ronsin; nur Robespierre wollte keinen aufkommen lassen. Warum also nicht auch Gauvain? dachte Cimourdain, in Zukunftspläne vertieft; vor ihm eröffnete sich ein unermeßliches Feld; er baute Hypothese auf Hypothese; alle Hindernisse schwanden. Wer einmal auf diese Leiter den Fuß gesetzt hat, der hält nicht mehr inne, der steigt ins Unendliche und versteigt sich nach und nach vom Menschen bis hinauf zum Stern. Ein großer General bricht blos seinen Heeren, ein großer Kriegsheld bricht zugleich auch seinen Ideen Bahn. Cimourdain träumte sich Gauvain als Kriegshelden; schon sah er ihn, denn Träume haben Siebenmeilenflügel, auf dem Ozean die Engländer verjagen, am Rhein die Könige des Ostens züchtigen, auf den Pyrenäen die Spanier zurückwerfen, von den Alpen herab Rom zur Freiheit wachrufen. Die zwei Menschen, die in Cimourdain wohnten, der zärtliche wie der düstere, waren beide zufrieden, denn das Ideal, die Unerbittlichkeit, blieb ja gewahrt: Gauvain verbreitete nicht allein Strahlen; er verbreitete auch Schrecken. Cimourdain faßte zunächst immer das ins Auge, was vor dem Aufbau niedergerissen werden mußte, und glaubte nicht, daß die Stunde der hinschmelzenden Rührung schon gekommen sei. Er dachte sich Gauvain, wie das damalige Schlagwort hieß, »auf der Höhe der Situation«, den Dämon der Nacht zertretend, im Panzer des Lichts, mit einem Leuchten der Herrlichkeit auf der Stirn, die idealen Schwingen der Gerechtigkeit und der voranstrebenden Vernunft ausbreitend und ein feuriges Schwert schwingend – Engel, aber Engel des Gerichts.

Mitten in dieser Träumerei, die an die Extase grenzte, hörte er durch die zugelehnte Thür im nebenanliegenden großen Lazarethsaal sprechen und erkannte die Stimme Gauvain’s; sie hatte ihm, der langen Trennung zum Trotz, fortwährend im Herzen fortgeklungen und in der Stimme des Mannes läßt sich etwas wiederfinden von der Stimme des Kindes. Er lauschte. Man hörte auch Schritte.

– Kommandant, sagte ein Soldat, das hier ist der Mann, der auf Sie geschossen hat; während Alles um den Reiter beschäftigt war, verkroch er sich in einen Keller. Dort haben wir ihn entdeckt, und hier ist er. Und nun vernahm Cimourdain folgendes Zwiegespräch zwischen Gauvain und dem Bauern:

– Du bist verwundet.

– Bin aber noch kräftig genug, um füsilirt zu werden.

– Bringt den Mann in ein Bett; er soll verbunden und geheilt werden.

– Sterben will ich.

– Du wirst leben: im Namen des Königs hast Du mich umbringen wollen; im Namen der Republik sei begnadigt.

Ueber Cimourdain’s Stirn fuhr ein Schatten. Ihm war, als sei er plötzlich aus dem Schlaf aufgeschreckt worden und mit einer gewissen düstern Niedergeschlagenheit murmelte er vor sich hin:

– Kein Zweifel; er hat ein mürbes Gemüth.

VI.

In geheilter Brust ein blutend Herz.

Eine Schramme heilt rasch wieder zu; weit schwerer als Cimourdain war sonst Jemand verwundet worden, nämlich das angeschossene Weib, das Tellmarch der Bettler bei der großen Blutlache von Herbe-en-Pail aufgelesen hatte. Michelle Fléchard war damals noch schlimmer dran, als Tellmarch zuerst geglaubt: außer dem Schuß über der Brust saß noch ein Schuß im Schulterblatt; während ihr die eine Kugel das Schlüsselbein gebrochen hatte, war ihr eine zweite von hinten in die Achsel gefahren. Da die Lunge jedoch unversehrt geblieben, konnte die Genesung zu Stande kommen. Tellmarch war, wie die Bauern sagen, »ein Philosoph«, das heißt zum Drittel Arzt, zum Drittel Chirurg und zum Drittel Zauberer. Er behandelte die Kranke in seiner Höhle, auf dem Lager von Seegras, mit jenen geheimnißvollen Kräutersäften, aus denen die Leute auf dem Land ihre sogenannten Hausmittel bereiten, und unter seiner Pflege blieb sie am Leben. Das Schlüsselbein wuchs wieder zusammen; die Löcher über der Brust und in der Schulter heilten zu und nach einigen Wochen war die Verwundete auf dem Wege vollständiger Besserung, so daß sie eines Morgens, auf Tellmarch gestützt, die Höhle verlassen und sich unter den Bäumen in die Sonne hinsetzen konnte. Tellmarch war über ihre näheren Verhältnisse so ziemlich im Unklaren; Brustwunden erheischen anhaltendes Schweigen und während des halben Deliriums, das der Wiederherstellung vorangegangen war, hatte die Frau nur wenige Worte gesprochen, denn sowie sie reden wollte, wehrte Tellmarch es ihr; aber sie hing einer hartnäckigen Träumerei nach und ihr Blick verrieth ein inneres Hin- und Herwälzen von herzbeklemmenden Gedanken.

Jetzt fühlte sie sich bei Kraft und konnte beinahe ohne Stütze gehen. Eine gelungene Kur gewährt dem Arzt eine väterliche Befriedigung: stillglücklich betrachtete Tellmarch seine Patientin; der gute alte Mann lächelte sie an: – Nun, nun, jetzt wären wir ja wieder munter und Alles ist vernarbt.

– Bis auf das Herz, antwortete das Weib und setzte dann hinzu: Ihr wißt also gar nicht, wo sie sind?

– Wer? fragte Tellmarch.

– Meine Kinder.

In diesem Wörtchen »also« lag eine ganze Welt von Gedanken; dieses Wörtchen sagte: »Weil Ihr mir nicht von ihnen sprecht, weil Ihr nun schon so manchen Tag um mich seid, ohne ihrer auch nur zu erwähnen, weil Ihr mir Schweigen gebietet, so oft ich den Mund aufthue, weil Ihr zu befürchten scheint, daß ich die Frage an Euch richte, so könnt Ihr mir eben keinen Aufschluß geben.«

Im Fieber, in der Aufwallung, im Delirium, hatte sie häufig nach ihren Kindern gerufen und wohl bemerkt, denn auch das Delirium hat sein Fassungsvermögen, daß der alte Mann ihr darauf keine Antwort gab. Und was hätte Tellmarch ihr auch mittheilen sollen? Es ist kein Leichtes, einer Mutter von ihren verschwundenen Kindern zu sprechen, und was wußte er denn eigentlich? Nichts, als daß ein Weib niedergeschossen worden war, daß er dieses Weib am Boden liegend gefunden, daß es, als er es zu sich nahm, sozusagen eine Leiche war, daß diese Leiche drei Kinder hatte und daß der Marquis von Lantenac, nachdem er die Mutter niederschießen ließ, die Kleinen mit fortgenommen. Mehr hatte er ja nicht erfahren. Was war aus den Kindern geworden? Waren sie überhaupt am Leben? Nur soviel hatte er ermitteln können, daß es zwei Knaben waren und ein kaum entwöhntes kleines Mädchen; sonst nichts. Er richtete betreffs der bejammernswerthen Kleinen an sich selber eine Menge Fragen, die er nicht beantworten konnte. Aus den Leuten, die er um Auskunft gebeten hatte, war nichts herauszubringen gewesen als ein Kopfschütteln. Herr von Lantenac war ein Mann, von dem Niemand gerne sprach. Und nicht nur sprach man nicht gern von Lantenac, sondern man sprach auch nicht gern mit Tellmarch. Die Bauern haben ihr absonderliches Mißtrauen. Sie fühlten sich von ihm abgestoßen; Tellmarch der Caimand war für sie eine unheimliche Erscheinung; warum starrte er immer in den Himmel hinauf? Was that er und was machte er sich für Gedanken, wenn er stundenlang so unbeweglich dastand? Dahinter mußte etwas stecken. In dieser Gegend voller Krieg, die sich in flammendem Aufruhr verzehrte, wo Jedermann nur einem Geschäft, der Zerstörung, einer Arbeit, dem Gemetzel, nachging, wo man in gegenseitigem Wettstreit Häuser in Brand steckte, Familien hinschlachtete, Wachtposten niederhieb und Dörfer plünderte, wo alles Sinnen und Trachten darauf hinauslief, sich in einen Hinterhalt zu legen, den Feind in eine Falle zu locken und sich beiderseits umzubringen, hatte er entschieden etwas Beunruhigendes an sich, jener in den Anblick der Natur versenkte, gewissermaßen im unendlichen Frieden der außermenschlichen Dinge untergegangene Einsiedler, der seine Gräser und Kräuter pflückte und sich lediglich mit Blumen, Waldvögelchen und Sternen abgab; er war offenbar nicht bei Verstand; er kroch ja mit keiner Flinte hinter den Hecken und schoß auf Niemand; deshalb betrachtete man ihn mit einem dumpfängstlichen Gefühl. »Der Mann ist verrückt«, sagten die, die an ihm vorbeigingen; Tellmarch war mehr als einsam: er war gemieden. Man redete ihn nicht an, antwortete ihm nur selten, und so war es ihm denn nicht möglich geworden, alle gewünschten Erkundigungen einzuziehen. Der Kampf hatte sich weitergewälzt; man hatte den Kriegsschauplatz gewechselt; der Marquis von Lantenac war hinter dem Horizont verschwunden und das Wüthen des Hasses mußte ein Mensch wie Tellmarch, wenn er es beachten sollte, auf seinem Nacken fühlen.

Bei der Aeußerung »meine Kinder« hatte Tellmarch zu lächeln aufgehört und die Mutter nachzugrübeln begonnen. Was ging in ihrer Seele vor? Sie war wie gefangen in einem Abgrund. Plötzlich schaute das Weib zu Tellmarch auf und rief abermals, fast im Ton des Zornes: – Meine Kinder!

Tellmarch senkte das Haupt wie Einer, der sich schuldig weiß; er dachte an jenen Marquis von Lantenac, welcher seiner gewiß nicht dachte, ja längst wohl vergessen hatte, daß ein Tellmarch existirte. Das sah er auch ein und sagte zu sich selber: Ein vornehmer Herr, der kennt Einen, so lange die Gefahr währt; nachher ist’s aus mit der Bekanntschaft. Aber, warum, fragte er sich, warum hast Du den vornehmen Herrn gerettet? Weil es ein Mensch ist, gab er sich zur Antwort und verweilte eine Zeitlang bei dem Gedanken; dann fragte er weiter: Ist das auch so gewiß? und schloß mit seinem bittern Ausspruch von damals: Hätte ich ahnen können! …

Das ganze Abenteuer mit dem Marquis drückte ihn nieder, denn aus seiner That blickte ihn etwas Räthselhaftes an, das wehmüthige Betrachtungen in ihm wachrief: eine gute Handlung konnte also auch eine böse Handlung sein; wer den Wolf rettet, tödtet die Lämmer; wer die Schwinge des Geiers heilt, wird verantwortlich für die Klauen.

Er warf sich wirklich eine Schuld vor und gab dem unbewußten Zorn der Mutter Recht. Daß er diese gerettet hatte, ließ ihn zwar die Rettung des Marquis wieder verschmerzen; aber die Kinder?

Auch die Frau brütete noch immer vor sich hin. Beider Gedanken hielten Schritt mit einander und mochten sich wohl, wenn auch ohne Worte, im Halbdunkel der Träumerei verschmelzen. Jetzt richtete die Mutter den umnachteten Blick wieder auf Tellmarch: – So kann es doch nicht ausgehen, sagte sie. – Still, flüsterte Tellmarch und legte den Finger auf den Mund. Sie jedoch fuhr fort: – Es war nicht recht von Euch, mich ins Leben zurückzurufen und ich verarg es Euch. Lieber wäre ich todt; dann könnte ich sie wenigstens sehen und wüßte, wo sie sind, und wenn auch sie mich nicht sehen würden, so wäre ich doch um sie; so etwas wie eine Todte, das darf gewiß über die Seinen wachen.

Tellmarch streckte die Hand aus und griff ihr nach dem Puls: – Beruhigt Euch; Ihr redet Euch ja ins Fieber.

– Wann werde ich fort können? fragte sie; fast mit barscher Stimme.

– Fort? – Ja, in die Welt hinaus.

– Nie, wenn Ihr nicht vernünftig seid; wollt Ihr aber brav sein, schon morgen.

– Was heißt Ihr brav sein? – Dem lieben Gott vertrauen. – Gott! was hat er mit meinen Kindern angefangen?

Sie war wie von Sinnen: – Ihr begreift doch, setzte sie hinzu, und ihre Stimme klang plötzlich sehr weich, daß ich so nicht weiterleben kann. Ihr habt keine Kinder gehabt, aber ich. Das ist doch ein Unterschied. Man kann sich keinen Begriff von einer Sache machen, wenn man nicht weiß, was es ist. Ihr habt nie Kinder gehabt, nicht wahr?

– Nein, antwortete Tellmarch.

– Und ich habe sonst nichts gehabt als Kinder. Was wäre ich denn ohne meine Kinder? Es soll mir Einer nur erklären, warum ich meine Kinder nicht bei mir habe. Eben weil ich’s nicht verstehe, merke ich, daß etwas vorgeht. Sie haben mir meinen Mann umgebracht, haben auf mich geschossen; aber ich versteh’s einmal nicht.

– Da packt Euch schon Euer Fieber wieder. Seid doch nur still. Sie sah ihn an und verstummte. Von diesem Augenblick sprach sie nicht mehr. Sie wurde gehorsamer, als es Tellmarch lieb war. Stundenlang konnte sie beim alten Baum kauern, und vor sich hinstarren, brütend und schweigend. Im Schweigen finden die einfachen Gemüther, wenn sie sich in einen Schmerz vertieft haben, eine Art Zuflucht. Sie schien es aufzugeben, ihre Lage zu begreifen. Ueber ein gewisses Maß hinaus ist dem Verzweifelnden die Verzweiflung nicht mehr faßbar. Tellmarch betrachtete sie voller Rührung. Beim Anblick dieses Jammers verfiel der alte Mann in die Denkweise eines Weibes: Ach ja, sagte er zu sich selber, mit den Lippen spricht sie nicht; sie spricht aber mit den Augen; ich sehe schon, was ihr fehlt; sie hat blos ein einziges Gefühl: Mutter gewesen zu sein und es nicht mehr zu sein, einen Säugling gestillt zu haben und ihn nicht mehr stillen zu können. Sie kann’s nicht verwinden. Sie denkt an das ganz Kleine, dem sie noch vor Kurzem die Brust reichte. Daran denkt und denkt sie immer und immer. Und es muß ja auch so überaus lieblich sein, zu fühlen, wie ein kleiner rother Mund Einem die Seele aus dem Leib trinkt und sich ein eigenes Leben saugt aus dem Leben der Mutter.

Auch er schwieg jetzt, denn dieser Zerknirschung gegenüber leuchtete ihm die Ohnmacht der menschlichen Sprache ein. Eine stumme fixe Idee ist etwas Schreckliches. Und wie wäre der fixen Idee einer Mutter beizukommen? Aus der Mutterempfindung giebt es keinen Ausweg; mit ihr läßt sich nicht rechten. In dieser vernunftlosen Verbortheit liegt gerade das Erhabene an einer Mutter. Die Mutterliebe ist das Göttliche im Thierischen. Eine Mutter ist nicht mehr das Weib; sie ist das Weibchen und die Kinder sind ihre Jungen. Daher ein Etwas, welches zugleich unter und über dem logischen Denken steht, ein sechster Sinn. In der Mutter webt das unendliche, geheimnißvolle Wollen der Schöpfung, eine Blindheit voll Erkenntnißahnen. Jetzt bemühte sich Tellmarch, die Unglückliche wieder zum Reden zu bringen, leider umsonst.

– Es ist ein Elend, sagte er eines Tags zu ihr, daß ich alt bin und nicht mehr gehen kann. Ich bin beim Ende meiner Kraft früher angelangt als beim Ende meines Wegs. Schon nach einer Viertelstunde versagen die Beine mir den Dienst und ich muß ausruhen. Sonst könnte ich Euch begleiten. Doch wer weiß? vielleicht ist es doch gut so; ich würde Euch eher Gefahr als Nutzen bringen. Hier duldet man mich, aber den Blauen bin ich als Bauer verdächtig und den Bauern als Hexenmeister.

Er wartete auf eine Antwort. Sie schaute nicht einmal auf. Eine fixe Idee führt zum Wahnsinn oder zum Heldenthum. Doch zu welchem Heldenthum kann ein armes Bauernweib sich versteigen? Zu keinem; es kann Mutter sein, weiter nichts. So versank sie denn, unter Tellmarchs Augen, täglich tiefer in ihre Träumerei. Er versuchte nun, sie zu beschäftigen, brachte ihr Faden, Nadel- und Fingerhut und, zur Freude des armen Bettlers, fing sie wirklich zu nähen an; sie war zwar stets noch verträumt, aber doch fleißig, immerhin ein Zeichen von Gesundheit. Ihre Kräfte nahmen sichtlich zu. Sie stickte ihre Wäsche, ihre Kleider, ihre Schuhe, doch ihr Auge blieb verglast. Mitten unter der Arbeit sang sie mit halber Stimme verworrene Liederweisen vor sich hin und murmelte Namen, wahrscheinlich Kindernamen, aber so undeutlich, daß Tellmarch sie nicht verstand. Zuweilen hielt sie inne, um die Vögel zu belauschen, als ob sie von ihnen etwas erfahren könnte. Auch nach dem Wetter schaute sie. Ihre Lippen bewegten sich und leise sprach sie mit sich selber. Sie nähte sich einen Sack und füllte ihn mit Kastanien. Eines Morgens machte sie sich auf, den Blick aufs Geradewohl vor sich hingerichtet in den tiefen Wald.

– Wo wollt Ihr hin, fragte Tellmarch?

– Sie suchen, erwiderte sie.

Tellmarch ließ sie ohne jegliche Vorstellung ziehen.

VII.

Die beiden Pole des Wahren.

Nach einigen Wochen, reich an allen Abwechselungen des Bürgerkriegs, wurde in der Gegend von Fougères nur noch von zwei Männern gesprochen, die, trotz ihrer gründlichen Charakterverschiedenheit, ein gemeinsames Ziel verfolgten, das heißt neben einander die große revolutionäre Schlacht ausfochten. Der Zweikampf in der Vendée dauerte fort; nur verlor die Vendée von ihrem Terrain. Im Departement Ille-et-Vilaine namentlich war es dem jungen Kommandanten, der in Dol zu so gerathener Zeit die Kühnheit der sechstausend Royalisten mit der Kühnheit der fünfzehnhundert Patrioten übertrumpft hatte, gelungen, den Aufstand wenn nicht zu ersticken, so doch bedeutend zu schwächen und einzudämmen. Auf diesen Handstreich waren seitdem noch ein paar ähnliche gefolgt und durch dies Kriegsglück wurde eine neue Situation geschaffen.

Die Lage hatte eine andere Gestalt angenommen, aber zu gleicher Zeit war eine eigenthümliche Verwickelung eingetreten. Daß in diesem Theil der Vendée die Republik die Oberhand hatte, darüber war kein Zweifel möglich, doch was für eine Republik? Mitten im aufkeimenden Triumph standen einander zwei Verkörperungen der Republik gegenüber, die Republik des Schreckens und die Republik der Milde; die eine wollte durch Einschüchterung, die andere durch Großmuth siegen. Welche sollte Recht behalten? Beide Systeme waren durch zwei Männer von besonderem Einfluß und Ansehen vertreten, durch einen Militärchef und einen Civilbevollmächtigten. Welchem von den Zweien gehörte die Zukunft? Der Eine, der Civilbevollmächtigte, stützte sich, um seine Anschauung durchzusetzen, auf manchen gebieterischen Rückhalt: auf die drohende Parole des Pariser Stadtraths, die er den Bataillonen von Santerre zu überbringen hatte: »Keine Gnade, keinen Pardon!« ferner auf die Verordnung des Konvents, die über Jeden Todesstrafe verhängte, »der einem gefangenen Rebellenführer die Freiheit schenken oder zur Flucht verhelfen würde«, ferner auf die ihm vom Wohlfahrtsausschuß übertragene unumschränkte Gewalt und endlich auf eine Bekräftigung seiner Vollmacht durch Robespierre, Danton und Marat. Der Andere, der Soldat, konnte sich nur auf die Kraft berufen auf das Mitleid. Er hatte nichts als seinen Arm, der die Feinde schlug, und sein Herz, das sich ihrer erbarmte. Als Sieger beanspruchte er das Recht, die Besiegten zu schonen. Daher eine Verborgene aber tiefgehende Spaltung zwischen diesen Männern, die von zwei verschiedenen Wolken herab im Kampf mit der Rebellion ihren besonderen Donnerkeil schleuderten, der Eine den Sieg, der Andere den Schrecken.

Im ganzen Bocage war nur von ihnen die Rede und allenthalben richtete man den Blick mit um so größerer Spannung auf sie, als die zwei so schroff einander Gegenüberstehenden, hiervon abgesehen, auf’s Innigste verbunden waren. Nie hatten sich zwei Seelen in edlerer und wärmerer Zuneigung zu einander hingezogen gefühlt; trug doch der Hartherzige eine Narbe auf der Stirn, die davon erzählte, daß er dem Weichmüthigen das Leben gerettet hatte. Aus dem Einen starrte der Tod; aus dem Andern strömte das Leben; aus dem Einen sprach der Grimm, aus dem Andern die Versöhnung, und – seltenes Räthsel! – sie liebten einander dennoch. Man denke sich einen barmherzigen Orest und einen unerbittlichen Pylades, oder denke sich Ahriman als den Bruder von Ormuzd. Bemerken wir übrigens noch, daß derjenige, den wir den Hartherzigen genannt haben, zugleich der aufopferndste Mensch der Welt war, daß er die Verwundeten verband, die Kranken pflegte, Tag und Nacht in Lazarethen und Spitälern wachte, daß ihn ein barfüßiges Bettelkind im Tiefsten rühren konnte, daß er nichts besaß, weil er den Armen Alles gab. Wo man sich schlug, war er dabei; an der Spitze der Kolonnen drang er ins dichteste Schlachtgewühl vor, bewaffnet, denn er trug ja einen Säbel und im Gürtel zwei Pistolen, und wehrlos, denn noch nie hatte man ihn den Säbel ziehen oder die Pistolen abfeuern sehen. Er trotzte jedem Hieb, ohne ihn zu erwidern. Er sei eben Priester gewesen, sagte man. Zwischen den Menschen Gauvain und Cimourdain waltete Freundschaft, aber ihre Anschauungsweisen stießen einander feindlich ab. Sie glichen den beiden Hälften einer entzwei geschnittenen Seele; es war, als habe Cimourdain seinen zarten Theil, den hellen Strahl, dem Schüler abgetreten und für sich behalten, was man den dunkeln Strahl nennen möchte. Darin lag eine schlummernde Dissonanz, ein dumpfer Widerstreit, der früher oder später einen Anprall herbeiführen mußte. So brach denn auch eines Morgens der offene Kampf aus. Cimourdain sagte zu Gauvain:

– Wie weit wären wir jetzt eigentlich?

– Das wissen Sie so gut wie ich, antwortete Gauvain. Ich habe Lantenac’s Banden zerstreut.

Mit den paar Mann, die er noch bei sich hat, kommt er aus dem Wald von Fougères nicht mehr heraus. In acht Tagen ist er umzingelt.

– Und in vierzehn Tagen?

– Gefangen.

– Und dann?

– Sie haben mein Plakat ja gelesen?

– Ja, also dann?

– Dann wird er erschossen.

– Immer wieder diese Milde. Guillotinirt muß er werden.

– Ich, sagte Gauvain, bin für den Soldatentod.

– Und ich, entgegnete Cimourdain, bin für die revolutionäre Hinrichtung.

Er schaute Gauvain scharf zwischen die Augen und fragte:

– Warum hast Du jene Klosterfrauen von Saint-Marc-le-Blanc auf freien Fuß setzen lassen?

– Ich führe nicht Krieg gegen Frauen, erwiderte Gauvain.

– Jene Frauen hassen das Volk und im Hassen wiegt ein Weib zehn Männer auf. Warum hast Du Dich geweigert, jenes ganze Rudel von fanatischen alten Priestern, das in Louvigné gefangen ward, vors revolutionäre Schwurgericht zu verweisen?

– Ich führe nicht Krieg gegen Greise.

– Ein alter Priester ist schlimmer als ein junger und um so gefährlicher die Rebellion, wenn man sie predigt mit weißem Haar, denn so eine runzelige Stirn imponirt den Menschen. Nur kein falsches Mitleid, Gauvain. Von den Königsmördern geht die Befreiung aus. Laß mir den Thurm le Temple nicht aus dem Auge.

– Den Thurm le Temple! Aufschließen würde ich ihn dem gefangenen Dauphin: ich führe nicht Krieg gegen Kinder.

– Wisse, Gauvain, sagte Cimourdain mit strafendem Blick, daß Krieg geführt werden soll auch gegen das Weib, wenn es Marie-Antoinette, auch gegen den Greis, wenn er Pius VI., auch gegen das Kind, wenn es Louis Capet heißt.

– Lieber Lehrer, ich bin kein politischer Kopf.

– Ein gefährlicher Kopf zu sein, davor hüte Dich. Beim Angriff auf den Wachtposten von Cossé, als der Rebell Jean Treton, in die Enge getrieben, mit dem gewissen Tod vor Augen, sich, den Säbel in der Faust, allein, auf Deine ganze Kolonne warf, warum hast Du gerufen: »Oeffnet die Reihen, laßt ihn durch?«

– Weil man nicht zu Fünfzehnhundert zusammensteht, um einen Einzelnen umzubringen.

– Und in la Cailleterie d’Astillé, als Deine Soldaten sich anschickten, den verwundet am Boden hinkriechenden Joseph Bézier niederzumachen, warum hast Du da gerufen: »Vorwärts Marsch! Laßt das meine Sache sein«, und hast Dein Pistol dann in die Luft abgefeuert?

– Weil man Keinen umbringt, der am Boden liegt.

– Und hast doch wieder Unrecht gehabt, denn zur Stunde führt Jeder von Beiden eine Bande an; aus Joseph Bézier ist Moustache geworden und aus Jean Treton Jambe-d’Argent. Durch die Rettung jener zwei Männer hast Du die Feinde der Republik um zwei vermehrt.

– Mein Streben aber war und ist, ihr Freunde zu werben, anstatt ihre Feinde zu verbittern.

– Warum hast Du nach dem Sieg von Landéau Deine dreihundert Gefangenen nicht erschießen lassen?

– Weil Bonchamp zuvor die gefangenen Republikaner geschont hatte und nicht gesagt werden sollte, die Republik sei minder hochherzig als ein Royalist.

– So würdest Du also auch Lantenac, wenn er in Deine Hände fiele, am Leben lassen?

– Nein.

– Warum denn nicht, da Du die dreihundert Bauern am Leben gelassen hast?

– Die Bauern sind blinde Werkzeuge; Lantenac hingegen weiß, was er thut.

– Aber mit Lantenac bist Du verwandt.

– Ich bin verwandt mit Frankreich.

– Lantenac ist ein Greis.

– Lantenac ist ein Fremder. Lantenac hat kein Alter. Lantenac ruft die Engländer herein. Lantenac ist die Invasion. Lantenac ist der Feind des Vaterlands und der Zweikampf zwischen ihm und mir kann nur mit seinem Tod enden oder mit dem meinen.

– Gauvain, diese Worte grabe in Dein Gedächtniß.

– Das sind sie schon.

Es entstand eine Pause; Beide schauten einander an.

– Blutroth wird sie in der Geschichte stehen, diese Jahreszahl 93, bemerkte Gauvain.

– Sei auf der Hut vor Dir selber, rief Cimourdain. Die furchtbaren Pflichten sind Wirklichkeiten. Klage nicht an, was nicht angeklagt werden kann. Seit wann trägt der Arzt die Schuld an der Erkrankung? Freilich ist es die Unerbittlichkeit, welche diesem Ungeheuern Jahr den Stempel aufdrückt. Und warum? Weil es das große Revolutionsjahr ist. Dies Jahr, in dem wir leben, ist die Verkörperung der Revolution. Die Revolution hat einen Feind, die alte Welt, und für den kennt sie kein Erbarmen, gerade wie der Wundarzt einen Feind hat, den Krebs, und für den auch kein Erbarmen kennt. Die Revolution schneidet das Königthum aus in der Person des Königs, den Adel in der Person des Adeligen, die Willkürherrschaft in der Person des Söldlings, den Aberglauben in der Person des Priesters, die Barbarei in der Person des Richters, mit einem Wort alle Tyrannei in der Person derer Aller, welche der Tyrann sind. Die Operation ist gräßlich; mit sicherer Hand führt die Revolution sie zu Ende, und was das gesunde Fleisch betrifft, das mit ausgeschnitten wird, frage nur einmal bei einem Boerhave an, wie er darüber denkt. Welches Geschwür läßt sich entfernen ohne Blutverlust? Welcher Stadtbrand läßt sich löschen, ohne daß man ihm ein paar Häuser erst aufopfert? Gerade diese schrecklichen Nothwendigkeiten sind die Grundbedingungen des Erfolgs. Ein Wundarzt hat immer eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Fleischer, und wer da heilt, läuft immer Gefahr, für Einen gehalten zu werden, welcher hinrichtet. So giebt sich die Revolution opfermuthig zu dem Schicksalswerk her und verstümmelt, um zu retten. Und Ihr, Ihr ruft sie um Gnade an für die Fäulniß? verlangt Nachsicht von ihr für den Giftstoff? Aber sie hört nicht auf Euch. Sie hält die Vergangenheit unter dem Messer und wird ihr den Rest geben. Sie schneidet unserer Kultur eine klaffende Wunde, aus welcher die Gesundheit des ganzen Menschengeschlechts hervorblühen wird. Ihr leidet darunter? Freilich; doch auf wie lang? Nur bis die Operation überstanden sein wird, und dann sollt Ihr leben. Die Revolution amputirt der Welt ein paar Glieder, und den Blutabfluß nennen wir das Jahr 93.

– Der Chirurg bleibt kalt, sagte Gauvain, und die Männer von heute sind voller Leidenschaft.

– Die Revolution, entgegnete Cimourdain, braucht wilde Gehilfen. Sie weist jede Hand zurück, die ins Zittern geräth, und vertraut sich nur den Unerbittlichen an. Danton ist der Furchtbare; Robespierre ist der Unbeugsame; Saint-Just ist der Unabwetzbare; Marat ist der Unversöhnliche. Nimm Dich in Acht, Gauvain. Diese Namen sind Notwendigkeiten, sind ebensoviel Armeen und vor ihnen wird die europäische Koalition zurückbeben.

– Die Nachwelt vielleicht auch, sagte Gauvain und fuhr dann nach kurzem Schweigen fort: Sie irren sich übrigens, mein lieber Lehrer, wenn Sie glauben, daß ich Jemand anklage. Für mich läßt sich die Revolution nur von einem Standpunkt aus beurtheilen, von dem der Unverantwortlichkeit und ohne allen Schuldbegriff. Ludwig XVI. ist ein Lamm unter Löwen. Er will fliehen, sucht Rettung, möchte sich vertheidigen, würde beißen, wenn er nur könnte, aber Löwe kann nicht Jeder sein; es blos sein zu wollen, gilt für ein Verbrechen. Das zornentbrannte Lamm zeigt die Zähne. Seht den Verräther! sagen die Löwen und sie zerreißen es. Und dann, dann bekriegen sie einander selbst. – Ein Lamm ist ein Thier. – Und ein Löwe, was ist der?

Dieser Einwurf gab Cimourdain zu denken.

– Jene Löwen, sagte er, das Haupt wieder erhebend, jene Löwen sind ebensoviele Gewissen, ebensoviele Ideen, ebensoviele Prinzipien.

– Sie führen die Schreckenszeit herauf.

– Die vollbrachte Revolution wird die Rechtfertigung der Schreckenszeit sein. Sorgen Sie dafür, daß die Schreckenszeit nicht die Verleumdung der Revolution werden möge. Und Gauvain fuhr fort: Freiheit, Gleichheit, Verbrüderung, das sind doch Grundsätze des Friedens und Herzenseinklangs; warum also ihnen eine abschreckende Gestalt geben? Was wollen wir denn? Die Völker für die Weltrepublik gewinnen. Flößen wir ihnen also vor Allem keine Furcht ein. Wozu die Einschüchterung? Gerade so wenig wie die Vögel fühlen sich die Menschen zu einem vor ihnen aufgerichteten Schreckbild hingezogen. Man soll nicht um des Guten willen Böses thun. Man stürzt einen Thron nicht, um ein Schaffot stehen zu lassen. Den Königen Tod, aber für die Völker Leben! Reißen wir die Kronen herab, nicht die Köpfe! Die Revolution ist die Eintracht, nicht das Entsetzen, und zur Verbreitung milder Anschauungen taugen keine nachsichtlosen Männer. In der ganzen menschlichen Sprache ist das Wort Aussöhnung für mich das Schönste. Blut will ich nur da vergießen, wo ich mein eigenes in die Schanze schlage. Indem kann ich nichts Anderes und bin weiter nichts als ein Soldat. Wenn jedoch nicht verziehen werden darf, verlohnt sich’s kaum mehr, zu siegen. Seien wir darum nur während der Schlacht die Feinde unserer Feinde, dann aber ihre Brüder!

– Zum dritten Mal warne ich Dich, sagte Cimourdain. Du, Gauvain, bist mir mehr als ein Sohn; darum laß Dich warnen! Und in Gedanken versunken, fügte er noch hinzu: In unsern Zeiten ähnelt das Mitleid möglicherweise dem Verrath.

Der Meinungsaustausch dieser zwei Männer aber ähnelte einem Zwiegespräch zwischen dem Degen und der Axt.

VIII.

Dolorosa.

0207

Unterdessen suchte die Mutter ihre Kleinen.

Sie wanderte, wanderte. Wie sie lebte? Es läßt sich schwer sagen; sie selber wußte es kaum. Tage und Nächte lang war sie unterwegs; sie bettelte; sie stillte ihren Hunger mit dem Gras des Feldes, schlief auf der harten Erde oder im Gestrüpp, unter freiem Himmel, oft unter den Sternen, oft auch unter Regen und Sturm. Sie erkundigte sich von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof, auf den Thürschwellen, in Fetzen, hier aufgenommen, dort weitergejagt. Wenn sie in den Häusern nicht geduldet wurde, ging sie ins Gehölz. Die Gegend war ihr unbekannt; unbekannt war ihr überhaupt Alles außer Siscoignard und der Gemeinde von Azé. Planlos streifte sie umher, fand sich oft an der Stelle wieder, die sie kurz zuvor verlassen hatte, und legte den unnütz gemachten Weg zwei Mal zurück, bald auf Steinen, bald in den Geleisen der Karren, bald auf Waldpfaden. Ihre elenden Kleider fielen ihr auf der Irrfahrt vom Leib. Erst ging sie in ihren Schuhen, dann barfuß, zuletzt auf blutenden Sohlen. Sie lief mitten durch den Krieg, zwischen den Flintenschüssen einher, ohne zu hören, ohne zu sehen, ohne auszuweichen, immer nach ihren Kindern. Alles war in Aufruhr; es gab weder Gensdarmen mehr, noch Bürgermeister, noch Gemeindebehörden, sie war lediglich auf die zufällig Vorübergehenden angewiesen; die redete sie denn an: Habt Ihr irgendwo drei kleine Kinder gesehen? fragte sie. Die Vorübergehenden schauten. Zwei Knaben und ein Mädchen, fuhr sie fort; René Jean, Gros-Alain, Georgette? Ist Euch so was nicht vorgekommen? Der Aelteste, setzte sie hinzu, ist vier und ein halbes Jahr alt, die Kleine zwanzig Monate. Wißt Ihr vielleicht, wo sie sind? fragte sie weiter; weggenommen hat man sie mir.

0239

Die Kinder wachten auf.

Aber man schaute sie an, und dabei blieb es. Da sie merkte, daß man sie nicht verstand, erklärte sie: Die Kinder gehören eben mir; so verhält es sich.

Und wenn die Leute weitergingen, blickte sie ihnen schweigend nach und riß sich den Busen mit den Nägeln wund. Ein Tages jedoch hörte ihr ein Bauer zu und schien sich auf etwas zu besinnen. Ja, was wäre denn das? meinte der gute Mann. Drei Kinder, sagt Ihr?

– Drei Kinder.

– Zwei Knaben?

– Und ein Mädchen.

– Das also sucht Ihr?

– Ja.

– Ich habe von einem großen Herrn gehört, der drei Kinder mit fortgenommen und bei sich hatte.

– Wo ist der Herr? rief sie. Wo sind sie. – Geht einmal nach La Tourgue. – Und dort werde ich meine Kinder wiederfinden?

– Allem Anschein nach, ja.

– Wohin sagtet Ihr?

– Nach La Tourgue.

– Was ist das, La Tourgue?

– Eine Gegend halt.

– Ein Dorf oder ein Schloß oder ein Gehöft?

– Dortgewesen bin ich nie.

– Habe ich weit dorthin?

– Nahe ist’s nicht.

– Wozugegen?

– Gegen Fougères zu.

– Wie kann ich hinkommen?

– Ihr seid zu Vantortes, sagte der Bauer, müßt also Ernée links und Coxelles rechts liegen lassen und geradeaus dorthin, wo die Sonne untergeht, fuhr er fort und deutete mit dem Arm nach Westen; erst über Lorchamp und nachher über Leroux.

Während der Bauer noch hindeutete, hatte sie sich schon auf den Weg gemacht. – Aber paßt auf, rief er ihr nach; dort drüben schlägt man sich.

Sie gab keine Antwort und eilte, ohne auch nur umzuschauen, in der gegebenen Richtung voran.

IX.

1.

La Tourgue.

0223

Der Wanderer, der von Laignelet nach Parigne durch den Wald von Fougères ging, wurde, noch vor vierzig Jahren, am Saume des wilden Dickichts angelangt, durch eine düstere Begegnung überrascht. Beim Heraustreten aus dem Wald stand er plötzlich La Tourgue gegenüber, oder vielmehr der geborstenen, zerschossenen, durchlöcherten, verstümmelten Leiche von La Tourgue. Die Ruine verhält sich zum Gebäude wie das Gespenst zum Menschen. Man konnte nichts Unheimlicheres sehen als den hohen, runden, wie einen Verbrecher einsam am Waldrand lauernden Thurm La Tourgue. Diesen Thurm, der auf einem senkrechten Felsen emporragte, hätte man für einen Römerbau halten können, denn in ihren regelmäßigen, mächtigen Dimensionen legte Einem die gewaltige Steinmasse zugleich mit dem Begriff des Verfalls den Begriff der Dauerhaftigkeit nahe. Einigermaßen römisch war sogar der Thurm auch, denn er war romanisch; im neunten Jahrhundert entstanden, war er im zwölften Jahrhundert, nach dem dritten Kreuzzug, vollendet worden; für dies Alter zeugten die rechtwinkeligen Vorsprünge an den Kämpfern der Thür- und Fensteröffnungen. Wenn man näher trat, die Höhe erklomm und sich durch eine Bresche wagte, die man jetzt gewahrte, war man drinnen, und drinnen war Alles leer. Man denke sich in etwas wie eine kolossale, aufrechtstehende, steinerne Trompete hinein; von unten bis hinauf kein Hemmniß für den Blick, weder Decken noch Fußböden mehr, nur hin und wieder Gewölbe- und Kaminunterlagen, und in verschiedener Höhe Lücken für das Querholz, granitene Mauerkränze mit Balkenträgern und noch einige, die Lage der Stockwerke andeutende, von den dort hausenden Nachtvögeln verunreinigte Balken; sonst nichts als die riesige, am Boden fünfzehn und an der Spitze zwölf Fuß dicke Mauer mit Löchern, die einst Thüren gewesen und durch welche man die im Innern dieser Mauer aufsteigenden dunkeln Treppen halb errathen, halb wahrnehmen konnte. Der Wanderer, der am Abend bis hierher vordrang, hörte das Geschrei der Eulen, der Windfänger, der Ziegenmelker und Schildreiher, und sah Dornsträucher, Steine, Reptilien zu seinen Füßen, zu Häupten aber, durch eine schwarze Rundung, welche die Thurmspitze war und der Oeffnung eines ungeheuern Brunnens glich, die Sterne. In der Gegend war von Alters her das Gerücht verbreitet, daß in den oberen Stockwerken des Thurms geheime Thüren seien, große Steine, die, wie die Pforten an den jüdischen Königsgräbern, auf einem Zapfen ruhend, durch Drehen geöffnet wurden, und die, wieder zugemacht, in der Mauerfläche verschwanden, – eine architektonische Mode, welche, wie auch der Spitzbogen, in Folge der Kreuzzüge dem Orient entlehnt worden. Geschlossen, waren diese Thüren für den nicht Eingeweihten unmöglich zu finden, so täuschend sahen sie allen übrigen Steinen der Mauer ähnlich. Solche Pforten kommen heutigen Tages noch in den geheimnißvollen Ortschaften des Libanon vor, welche vom Erdbeben der zwölf Städte unter Tiberius verschont geblieben sind.

2.

0228

Die Bresche.

Die Bresche, durch die man in die Ruine trat, rührte von einer Mine her, welche den vollen Beifall eines mit Errard, Sadi und Pagan vertrauten Kenners verdient hätte. Die pfaffenmützenförmige Pulverkammer stand zum Objekt, das sie sprengen sollte, in richtigem Verhältniß und mußte mindestens ihre zwei Centner Pulver enthalten haben. Sie befand sich am Ende eines geschlängelten Ganges, der ja dem geraden immer vorzuziehen ist. Das Springen der Mine hatte im zerrissenen Gemäuer die Bahn der Pulverwurst blosgelegt, welche den erforderten Durchmesser eines Hühnereis aufwies, und dem Thurm eine tiefe Wunde beigebracht, durch welche die Belagerer jedenfalls eindringen konnten. Daß dieser Thurm zu allen möglichen Zeiten solche regelmäßige Belagerungen hatte aushalten müssen, zeigten die je nach ihrem Alter verschiedenartigen Verletzungen, mit denen er über und über bedeckt war; jedes Geschoß hinterläßt seine charakteristische Spur, und dem Thurm hatte auch Jegliches seine Siegel aufgedrückt, von den steinernen Kugeln des vierzehnten bis zu den eisernen des achtzehnten Jahrhunderts.

Gegenüber der Bresche, durch die man in den Raum trat, der früher das Parterre gewesen, öffnete sich in der Thurmmauer das Pförtchen, durch welches man zu einer in den Felsen gehauenen Krypte hinunterstieg, welche sich zwischen dem Fundament des Gebäudes bis unter das Erdgeschoß ausdehnte. Diese zu drei Vierteln bereits verschüttete Krypte hat der Alterthumsforscher von Bernau, Herr August Le Prevost, im Jahr 1855 säubern lassen.

3.

Das Burgverließ

0229

Das eigentliche Burgverließ des Schlosses La Tourgue.

Die Krypte war das Burgverließ, das unter dem Hauptthurm keines Schlosses fehlen durfte; sie war, wie viele unterirdischen Kerker aus derselben Zeit, zweistöckig. Den ersten Stock, in den man durch das Pförtchen gelangte, bildete ein ziemlich geräumiges Gewölbe, das an den ebenerdigen Saal grenzte. An den Seitenwänden dieser Kammer bemerkte man gegenüberliegend je eine senkrechte Furche; beide Furchen liefen längs der Decke mit tiefem Einschnitt geleiseförmig in einander. Geleise waren es auch, denn sie waren durch zwei Räder gegraben worden. Früher, zur Zeit der Feudalherrschaft, wurde in dieser Kammer die Viertheilung vollzogen, und zwar in einfacherer Weise als vermittelst der vier Pferde. Auf jeder Seite stand nämlich, die Speichen der Wand zukehrend, ein Rad, welches so stark und groß war, daß es sowohl Wand wie Decke berührte. An jedes Rad wurde ein Arm und ein Bein des armen Sünders befestigt; dann wurden die Räder in entgegengesetzter Richtung gedreht und der Mann in Folge dessen mitten entzweigerissen. Da dies nur mit bedeutendem Kraftaufwand geschehen konnte, hatten die Räder die Wände durchfurcht. Ein ähnliches Gewölbe findet man in Vianden heute noch.

Unter dieser Kammer lag eine zweite, das eigentliche Burgverließ. Es führte in dieselbe keine Thür, sondern ein Loch; der arme Sünder wurde, nachdem man ihn entkleidet hatte, an einem unter seinen Achselhöhlen festgebundenen Seil durch eine in der Mitte des steinernen Fußbodens der oberen Kammer angebrachte Oeffnung hinuntergelassen. Wenn er beharrlich weiterlebte, warf man ihm auf gleichem Weg seine Nahrung herab. Solch ein Loch ist jetzt noch in Bouillon zu sehen. Durch dies Loch zog ein Luftstrom aufwärts. Die tiefere Kammer, welche unter dem ebenerdigen Saale lag, war mehr ein Brunnen als eine Kammer; sie stand stellenweise voller Wasser und war von einem eisigen Windhauch durchweht. Dieser Windhauch, unter dem der untere Gefangene erstarrte, war eine Lebensbedingung für den Darüberwohnenden; er ermöglichte dem unter seinem Gewölbe im Finstern Herumtastenden das Atmen, denn nur durch dieses Zugloch wurde ihm Luft zugeführt. Wer übrigens in das Verließ hinab gelassen ward oder hinunterfiel, kam nie wieder heraus. Vor einem solchen Hinabfallen musste sich der Bewohner des ersten Kerkers wohl in Acht nehmen, denn es bedurfte nur eines Fehltritts, und der arme Sünder von oben musste unten zu Grunde gehen; dass ihm dies nicht widerfuhr, dafür hatte er eben zu sorgen. War ihm sein Leben lieb, so war das Loch für ihn eine Gefahr; war er hingegen des Lebens überdrüssig, so war es ihm ein Befreier. Das obere Stockwerk war das Gefängnis, das untere das Grab, eine Abstufung, die ein Abbild darbietet der damaligen Kulturzustände.

Von außen gewahrte man über der Bresche, durch die allein man vor vierzig Jahren in das Innere des Turms gelangte, eine Öffnung, welche breiter war als die anderen Schießscharten und an der ein zum Teil losgekittetes eingeschlagenes Gitterwerk aus Eisen herunter hing.

4.

Das Brückenschlösschen.

0231

Die Hinrichtung der Charlotte Corday

Der Tod Marat´s.

An der der Bresche entgegengesetzten Turmseite schloss sich, auf drei fast noch unversehrten Pfeilern ruhend, eine steinerne Brücke an, auf welcher ein Gebäude gestanden hatte, von dem nur noch die Trümmer vorhanden waren, das offenbar durch eine Feuersbrunst geschwärzte und angefressene Gebälk, eine Art Knochengerüst, durch welches die Sonne schien, und das sich neben dem Thurm erhob wie ein Skelett neben einem Phantom.

Nunmehr ist die Ruine ganz niedergerissen worden und keine Spur mehr davon übrig geblieben. Oft kann ein Bäuerlein in einem Tag abtragen, was manche Könige durch Jahrhunderte hindurch aufgebaut.

Der Name La Tourgue ist die volkstümliche Abkürzung von La Tour-Gauvain, ebenso wie »La Jupelle« eine Abkürzung von La Jupellière ist und der Name des Bandenführers »Pinson-le-Tort« das abgekürzte Pinson-le-Tortu.

La Tourgue, welches vor vierzig Jahren eine Ruine war und jetzt nur eine Erinnerung ist, war im Jahr 1793 noch eine Festung. Es war die alte Burg Derer von Gauvain, die Hochmacht am westlichen Eingang des Waldes von Fougères, der heutigen Tages ebenfalls kaum mehr ein Gehölz ist. Die Zitadelle war auf einen jener unzähligen großen Schieferblöcke gebaut, die zwischen Mayenne und Dinan auf den Haiden und im Dickicht zerstreut liegen, als hätten kämpfende Titanen damit herumgeworfen. Der Thurm war die ganze Festung; darunter der Fels, und unten am Felsen einer jener Bäche, die im Januar schäumend vorbeiströmen und im Juni versiegen. Diese überaus einfach angelegte Veste war im Mittelalter so gut wie unbezwingbar gewesen. Jetzt war ihre Widerstandsfähigkeit durch die Brücke beeinträchtigt. Diese Brücke war neueren Datums. So lange die von Gauvain Vikomte’s waren, hatte ihnen einer jener schwanken Stege genügt, die sich mit ein paar Beilhieben beseitigen lassen, als sie aber Marquis geworden und ihren Horst mit dem Hof vertauschten, bauten sie drei Pfeiler in das Bett des Baches und machten ihre Burg von der Ebene her zugänglich, wie sie selber zugänglich geworden waren für die Gunstbezeugungen des Königs. Die Marquis des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gaben wenig mehr auf uneinnehmbare Schlösser; anstatt wie früher in die Fußtapfen ihrer Ahnen zu treten, kopierten sie jetzt Versailles.

Dem Thurm gegenüber, nach Westen zu, lag ein ziemlich hohes Plateau, das sich verlorenerweise an das Flachland anschloß; dieses Plateau stieß beinahe an den Felsen des Thurmes und war von ihm nur durch die tiefe Schlucht getrennt, in welcher der Bach dahinfloß, um in den Couesnon zu münden. Die Brücke, welche die Festung mit dem Plateau verband, ruhte, wie gesagt, auf Pfeilern, und auf diesen Pfeilern wurde, wie zu Chenouceaux, im Stile Mansards ein Gebäude aufgeführt, welches wohnlicher war als der Thurm; da sich jedoch die Sitten damals nur unmerklich gemildert hatten, hausten die Burgherren nach altem Brauch vorzugsweise noch in den kerkerähnlichen Räumen ihres Thurmes. Was das Schlößchen auf der Brücke betrifft, so enthielt es ein langes Hochparterre, das man den Saal der Garden nannte, und durch welches man aus- und einging, darüber eine Bibliothek und über dieser den Dachboden. Lange Fenster mit kleinen Rundscheiben von böhmischem Glas; zwischen den Fenstern Pilaster; steinerne Médallíons in den Mauern; drei Stockwerke; im unteren Partisanen und Musketen, im mittleren Bücher und im oberen Säcke voll Hafer: das Ganze war etwas romantisch und sehr vornehm.

Der Thurm nebenan war bedrohlich. Seiner ganzen unheimlichen Höhe nach beherrschte er den koketten Anbau, und von seiner Plattform aus konnte man die Brücke zerschmettern. Die beiden Wohnstätten, die steilragende und die niedlich schwebende, stießen eher wider als an einander; der Stil der einen widersprach dem Stil der anderen. Wenn es auch den Anschein hat, als müßten zwei Halbkreise identisch sein, so steht doch dem romanischen Rundbogen nichts schroffer gegenüber als eine klassische Bogenverzierung. Jener Thurm, der nur in den Wald paßte, war für diese Brücke, die nach Versailles gepaßt hätte, eine sonderbare Nachbarschaft. Man denke sich einmal Alain den Krummbart Arm in Arm mit Ludwig XIV. Die Zusammenstellung war abschreckend und es lag ein gewisses peinlich gewaltsames Etwas in der Aneinanderkoppelung so unverträglicher Vorzüge.

Vom militärischen Standpunkt aus war, wir wiederholen es, die Brücke dem Thurm äußerst gefährlich; durch sie verziert und entwaffnet, gewann er einen Schmuck und verlor dafür von seiner Stärke, denn durch die Brücke war er jetzt an das Plateau festgeschmiedet; von der Waldseite her noch immer unüberwindlich, war er nach der Ebene zu nunmehr verwundbar und wurde von dem Plateau, das früher er beherrschte, selber beherrscht. Wie leicht konnte sich von dort aus ein Feind der Brücke bemächtigen! Bibliothek und Dachboden kamen dem Belagerer als Bundesgenossen gegen den Vertheidiger zustatten. Eine Bibliothek hat mit einem Dachboden das gemein, daß sowohl Bücher wie Stroh Zündstoff sind. Dem Belagerer, dem die Feuersbrunst zugut kommt, gilt es gleich, ob ein Homer oder ein Bündel Stroh brennt, wenn überhaupt nur etwas brennt; dafür liefern französischerseits Heidelberg und deutscherseits Straßburg den Beweis. Demnach war der Anbau der Brücke ein strategischer Fehler; aber im siebzehnten Jahrhundert, unter Colbert und Louvois, ließen sich die Fürsten Gauvain, ebensowenig wie die Fürsten von Rohan oder von La Trémoille, träumen, daß sie jemals noch belagert werden dürften. Dennoch hatte der Architekt einige Vorsichtsmaßregeln getroffen. Erstens war für den Fall einer Feuersbrunst vorgesorgt worden: unter den drei Fenstern des Schlößchens bachabwärts hing querüber an Haken, welche vor einem halben Jahrhundert noch zu sehen waren, eine starke Rettungsleiter, deren Länge der Höhe des unteren und mittleren Stockwerks, also der Höhe von drei gewöhnlichen Stockwerken, entsprach. Zweitens war auch gesorgt für den Fall eines Angriffs: die Brücke war vom Thurm durch eine schwere, niedrige, gewölbte Thür von Eisen getrennt, deren großer Schlüssel sich in einem dem Schloßherrn allein bekannten Versteck befand und die, einmal zugesperrt, des Sturmbocks spotten, ja vielleicht wohl auch den Kanonen Trotz bieten konnte. Zu dieser Thür führte nur die Brücke und in den Thurm nur diese Thür. Einen anderen Eingang gab es nicht.

5. Nummer

Die eiserne Thür.

Die mittlere Etage des auf den ragenden Pfeilern ruhenden Brückenschlößchens entsprach dem zweiten Stock des Thurmes, und in dieser Höhe war, der größeren Sicherheit halber, die eiserne Thür angebracht worden. Gegen die Brücke zu führte sie in die Bibliothek und gegen den Thurm zu in einen großen gewölbten Saal mit einer Säule in der Mitte; dieser Saal bildete, wie wir bereits wissen, das zweite Stockwerk des Thurmes und war deshalb rund; seine Beleuchtung erhielt er durch lange Schießscharten, die auf die Ebene hinausgingen. Die rohe Mauer trug keinerlei Verzierung und zeigte, übrigens symmetrisch sauber aneinandergereiht, ihre nackten Steine. Zu dem Saal führte eine in der Mauer aufsteigende Wendeltreppe, was bei einer Mauer von fünfzehn Fuß Tiefe nichts Absonderliches war. Im Mittelalter eroberte man eine Stadt Straße für Straße, eine Straße Haus für Haus, ein Haus Zimmer für Zimmer. Bei einer Festung mußte ein Stockwerk nach dem anderen belagert werden, und in dieser Hinsicht war La Tourgue vortrefflich eingerichtet; es setzte einem im Innern weiter dringenden Feind große Schwierigkeiten und Hindernisse entgegen. Die Treppen, durch welche die verschiedenen Stockwerke mit einander in Verbindung standen, waren, abgesehen von ihren Windungen, auch noch sehr steil und die schrägen Thüren so niedrig, dass man sich bücken mußte, um durchzukommen; mit vorgebeugtem Kopf eintreten müssen, hieß aber so viel wie mit zerschmettertem Kopf hereinfallen, denn hinter jeder Thür lauerte der Belagerte dem Belagerer auf.

Unter diesem runden Saal mit dem Pfeiler lagen zwei ähnliche Räume, einer im ersten Stock und einer im Erdgeschoß; darüber noch volle drei Etagen, und über den sechs aufeinander stehenden Gemächern war der Thurm durch einen steinernen Deckel geschlossen, welcher die Plattform bildete und auf den man durch ein enges Schauthürmchen emporstieg.

Die fünfzehn Fuß dicke Mauer, durch die man die Öffnung hatte brechen müssen, in welche man die eiserne Thür angebracht, schloss diese in eine lange Wölbung ein, so dass sich, wenn sie zu war, vor und hinter ihr, sowohl nach dem Saal wie nach der Brücke zu je eine Vorhalle von sieben bis acht Schuh Tiefe befand; stand hingegen die Pforte offen, so bildeten die beiden Vorhallen ein einziges doppelt so langes Thorgewölbe.

Unter der Vorhalle an der Brückenseite öffnete sich im Innern der Mauer das niedrige Pförtchen einer fliegenden Treppe, die in den unter der Bibliothek gelegenen Durchgang hinabführte; daraus erwuchs dem Belagerer wieder eine Schwierigkeit. Das Schlößchen auf der Brücke kehrte da, wo diese in geringer Entfernung vom Plateau mit dem dritten Pfeiler abschloß, dem Feind eine senkrechte Mauer zu, die nur durch eine niedere Thür durchbrochen war; von dieser Thür aus wurde vermittelst einer Zugbrücke, die wegen der Höhe des Plateaus nur in schiefer Lage herabgelassen werden konnte, die Verbindung zwischen jenem Plateau und dem langen Durchgang, den man den Saal der Garden nannte, hergestellt. Hatte sich der Angreifende dieses Durchgangs bemächtigt, so mußte er, um zur eisernen Thür zu gelangen, sich erst auf der fliegenden Brücke zum zweiten Stockwerk Bahn brechen.

6.

Die Bibliothek

Die Bibliothek war ein schmales Viereck von gleicher Länge und Breite wie die Brücke und hatte keinen andern Ein- und Ausgang als die eiserne Pforte. Eine grünausgefütterte blinde Thür mit einem Gewicht fiel, wenn man ihr von innen einen Stoß gab, zu und verdeckte die Wölbung, welche in den Thurm führte. An der Wand des Bibliothekzimmers nahmen die ganze Höhe vom Fußboden bis zur Decke Glasschränke ein im geschmackvollen Möbelstil des siebzehnten Jahrhunderts. Sechs große Fenster, drei zu jeder Seite und zwei über jedem Pfeiler der Brücke, erhellten den Raum. Zwischen diesen Fenstern, durch die man vom Plateau aus hereinschauen konnte, standen auf Postamenten von geschnitztem Eichenholz sechs Marmorbüsten: Hermolaus von Byzanz, Athenäus, der Grammatiker aus Naukratis, Suidas, Casaubonus, Klodwig, König von Frankreich und sein Kanzler Anachalus, der, nebenbei bemerkt, gerade so wenig Kanzler wie Klodwig König von Frankreich gewesen. Die Glasschränke enthielten gleichgültige Bücher. Ein einziges nur brachte es zu einer gewissen Berühmtheit: es war dies ein alter Quartband mit Kupfern, auf dessen Titelblatt in großen Lettern »Bartholomäus« gedruckt war und darunter als zweiter Titel: »Das Evangelium Bartholomäi mit einer Vorrede des christlichen Philosophen Pantaeni, worinnen untersucht wird, ob dieses Evangelium für unecht erklärt werden soll und ob der heilige Bartholomäus und Nathanael nicht eine und dieselbe Person sind«. Dieses Buch, welches für ein Unikum galt, lag mitten im Zimmer auf einem Pult auf und wurde im vorigen Jahrhundert als Merkwürdigkeit besichtigt.

7.

Der Dachboden

Der Dachboden hatte, wie die Bibliothek, die länglich viereckigen Dimensionen der Brücke und lag unmittelbar unter dem rohen Sparrenwerk des Dachstuhls; es war eine große von sechs kleinen Fenstern erhellte Mansarde voller Heu und Stroh, ohne jede weitere Verzierung als an der Thür einen ins Holz geschnitzten heiligen Barnabas mit dem lateinischen Vers: »Barnabus sanctus falcem juvat ire per herbam«.

Ein hoher, dicker, sechsstöckiger, hin und wieder mit Schießscharten durchbrochener Thurm, in welchem und aus welchem einzig und allein eine eiserne Thür führte, die auf ein vermittelst einer Zugbrücke abgesperrtes Brückenschlößchen hinausging; hinter dem Thurm, zwischen ihm und dem Plateau, eine tiefe, enge, mit Gesträuch bewachsene Schlucht, im Winter ein Strom, im Frühling ein Bach, im Sommer eine steinige Grube: das also war La Tour-Gauvain, genannt La Tourgue.

X.

Die Geisel.

Die letzten Julitage waren bereits dahin; im August strich über Frankreich ein wildheroischer Sturmhauch einher; zwei blutige Schatten waren am Horizont vorbeigefahren, Marat mit einem Messer im Herzen und die enthauptete Charlotte Corday: immer furchtbarer wurden die Zeiten. Die Vendée, im großen Krieg überwunden, nahm wieder zu dem kleinen und, wie schon bemerkt, entsetzlichem ihre Zuflucht, zu einer ungeheuern durch die Wälder auseinandergewürfelten Schlacht. Die Niederlagen der großen sogenannten katholisch-königlichen Armee hatten bereits begonnen; laut Verordnung des Konvents marschirten die Regimenter von Mainz in die Vendée ein; Ancenis hatte den Ausständigen achttausend Mann gekostet; von Nantes zurückgeschlagen, aus ihrer Stellung von Montaigu vertrieben, verdrängt aus Thouars, aus Noirmoutier verjagt, zurückgeworfen aus Chollet, aus Mortagne und aus Saumur, räumten sie Parthenay, gaben Clisson auf, verließen Chatillon, verloren eine Fahne bei Saint-Hilaire, wurden bei Pornic besiegt, besiegt bei les Sables, bei Fontenay, bei Doué, bei Château-d’Eau, bei Ponts-de-Cé, erlitten bei Luçon eine Schlappe, bei La Chataigneraye einen Rückstoß, bei La Roche-sur-Yon eine Niederlage; einerseits aber bedrohten sie La Rochelle und anderseits wartete eine englische Flotte unter Admiral Craig nur auf ein Zeichen des Marquis von Lantenac, um einige britische Regimenter und die tüchtigsten Offiziere der französischen Marine an die Küste zu setzen. Diese Landung konnte der royalistischen Empörung wieder zum Sieg verhelfen. Pitt war übrigens ein politischer Missethäter. In der Staatskunst ist auch der Verrath vertreten, wie bei den Wandtrophäen der Dolch. Pitt erdolchte das Land des Gegners und verrieth sein eigenes, denn sein Vaterland entehren, heißt es verrathen. Unter und durch Pitt’s Regierung verlegte sich England auf die punische Arglist, spionirte, log und betrog; ihm war, vom Mord bis zur Münzfälschung, kein Mittel zu schlecht, und in seinem Haß stieg es bis zur Kleinlichkeit herab. Es ließ den Talg aufkaufen, der damals fünf Francs das Pfund kostete; einem Engländer wurde zu Lille ein Schreiben von Prigent, dem Agenten Pitt’s in der Vendée, abgenommen, worin wortwörtlich gesagt war: »Ich bitte Sie, den Geldpunkt nicht zu berücksichtigen. Dagegen hoffen wir, daß die Attentate auf Personen mit der nöthigen Klugheit ausgeführt werden mögen; hierfür empfehlen sich vor Allen die verkappten Priester und die Weiber. Schicken Sie sechzigtausend Livres nach Rouen und fünfzigtausend nach Caen«. Dieser Brief wurde am 1. August durch Barrère im Konvent vorgelesen. Auf diese Nichtswürdigkeiten antworteten die Unthaten von Parrein und später die Greuel von Carrier. Die Republikaner von Metz und die aus dem Süden verlangten, gegen die Rebellen ausmarschiren zu dürfen. Der Konvent verordnete die Errichtung von vierundzwanzig Pionierkompagnien, um im Bocage die Zäune und Einfassungen in Brand zu stecken. In dieser unerhörten Krisis erlosch der Krieg an einer Stelle, nur um an einer anderen zu entbrennen. Keine Gnade! Keine Gefangenen! lautete beider Parteien Losung und eine furchtbare Verfinsterung brach herein über das Land.

In diesem Monat August wurde la Torgue belagert. Eines Abends – gerade gingen in der friedlich sommerlichen Dämmerung die Sterne auf; im Wald regte sich kein Blättchen und kein Grashalm erschauerte in der Ebene –, da tönte von den Zinnen des Thurms durch das Schweigen der sinkenden Nacht ein Hornstoß, dem von unten her ein Trompetenstoß antwortete. Auf der Plattform des Thurms befand sich ein bewaffneter Wächter und unten, in der Dunkelheit, ein Feldlager. Man gewahrte um La Tour-Gauvain im Finstern ein undeutliches Gewimmel von schwarzen Gestalten, und dieses Gewimmel war ein Bivouak. Hier und da begannen unter den Bäumen des Waldes und zwischen dem Haidekraut des Plateaus einige Wachfeuer die Schatten der Nacht aufflackernd zu durchbrechen, als wolle die Erde ihre Sterne leuchten lassen wie der Himmel, die düstern Sterne des Kriegs. Das Lager, welches sich vom Plateau aus bis in die Ebene erstreckte und nach dem Walde zu sich im Dickicht verlor, ließ seiner Ausdehnung nach auf eine große Truppenmasse schließen und hielt die Festung so eng blokirt, daß es auf der Thurmseite bis an den Felsen und auf der Brückenseite bis an die Schlucht reichte.

Zum zweiten Male ertönte das Horn und zum zweiten Male die Trompete; Rede und Gegenrede; der Thurm fragte: Kann man Euch sprechen? und das Lager antwortete mit: Ja. Die Vendéer wurden damals vom Konvent nicht als kriegführende Partei angesehen, und da in Folge dessen gesetzlich verboten war, mit den »Banditen« durch Parlamentäre zu verhandeln, suchte man, so gut es sich eben thun ließ, einen Ersatz für den Verkehr, welchen das Völkerrecht im internationalen Kampf erlaubt, im Bürgerkrieg jedoch untersagt. So kam es denn noch gerade zu einem gewissen Einverständniß zwischen dem Horn des Bauern und der Trompete des Soldaten. Das erste Signal war nur eine vorläufige Einleitung gewesen; das zweite enthielt die bestimmte Anfrage: Wollt Ihr mich anhören? Schwieg der Trompeter, so hieß das Nein, blies er aber, so hieß es Ja, und die Feindseligkeiten wurden auf ein paar Minuten eingestellt.

Da das zweite Zeichen erwidert worden war, fing der Mann vom Thurm folgendermaßen zu sprechen an: – Ihr Männer da drunten, ich bin Goug-le-Bruant, genannt Brisebleu, weil ich schon der Euren Viele vertilgt habe, und auch der Imânus geheißen, weil ich noch mehr der Euren umbringen werde, als ich bis jetzt gethan; mir hat ein Säbelhieb beim Sturm auf Granville einen Finger vom Flintenlauf abgehackt, und zu Laval habt Ihr mir meinen Vater, meine Mutter und meine Schwester Jacqueline, die erst achtzehn Jahre alt war, guillotiniren lassen. Jetzt wißt Ihr, wer ich bin. Und nun rede ich zu Euch im Namen des Herrn Marquis Gauvain von Lantenac, der auch Vikomte von Fontenau, bretonischer Fürst und Herr der sieben Wälder ist, im Namen meines Gebieters. Erfahrt zuerst, daß der Herr Marquis, bevor er sich in diesen Thurm einschloß, in dem Ihr ihn belagert, sechs Anführer zu seinen Stellvertretern gewählt hat, um den Krieg fortzusetzen, Delière für die Gegend zwischen der Straße von Brest und der Straße von Ernée, Treton für die Gegend zwischen La Roë und Laval, Jacquet, auch Taillefer geheißen, für das Grenzland von Ober-Maine, Gaulier, genannt Grand-Pierre, für Château-Gontier, Lekomte für Craon, Herrn Dubois-Gun für Fougères und für die ganze Mayenne Herrn von Rochambeau, so daß mit der Einnahme dieser Festung für Euch noch nichts gewonnen ist und daß, selbst wenn der Herr Marquis sterben sollte, die Vendée, die für den allmächtigen Gott und Seine Majestät den König kämpft, am Leben bleiben wird. Wenn ich Euch dies Alles sage, so wißt, daß dies nur geschieht, um Euch zu warnen. Mein gnädiger Herr steht hier oben, an meiner Seite. Ich bin der Mund, durch den er zu Euch spricht; darum hört schweigend zu. Ihr Männer, die Ihr uns belagert! Von Wichtigkeit ist, daß Ihr vernehmt, was ich Euch jetzt sagen werde: Vergeßt nicht, daß der Krieg, den Ihr gegen uns führt, kein gerechter Krieg ist. Wir wohnen hier in unserer Heimath und kämpfen einen ehrlichen Kampf und leben einfachen und reinen Sinnes unter der Allmacht Gottes wie das Gras unter dem Thau. Die Republik aber hat uns angegriffen; sie ist herübergekommen zu uns und hat uns in unserem Frieden gestört, hat uns die Häuser und die Ernten niedergebrannt, unsere Meierhöfe zusammengeschossen und unsere Weiber und Kinder barfuß waldeinwärts gejagt, während die Grasmücke noch ihre Winterweisen sang. Ihr, die Ihr dort unten steht und mich hört, Ihr habt uns bis in den Busch gehetzt und haltet uns hier in diesem Thurm eingeschlossen; Diejenigen, welche zu uns gestoßen waren, habt Ihr getödtet oder zersprengt; ihr führt Kanonen mit Euch, habt Eure Kolonne durch die Besatzungen und Wachtposten von Mortain, von Barenton, von Teilleul, von Landivy, von Evran, Tinténiac und Vitré verstärkt, so daß Ihr uns selbst fünfhalbtaufend angreift und wir uns selbst neunzehn vertheidigen. Wir haben Proviant und Munition. Euch ist gelungen, eine Mine anzulegen und ein Stück von unserem Felsen, sowie ein Stück von unserer Mauer zu sprengen. Es ist dadurch eine Lücke in den untersten Theil des Thurms gebrochen worden, und durch diese Bresche könnt ihr eindringen, obwohl sie nicht unter freiem Himmel liegt und vom Thurm, der immer noch fest und aufrecht dasteht, überwölbt ist. Ihr bereitet Euch nunmehr zum Sturm vor und wir, zuerst der Herr Marquis, der Fürst ist in der Bretagne und weltlicher Prior der Abtei von Sainte-Marie de Lantenac, in der die Königin Johanna eine tägliche Messe gestiftet hat, ferner wir anderen, die wir den Thurm halten, insbesondere der Herr Abbé Turmeau, im Feld Grand-Francoeur genannt, mein Kamerad Guinoiseau der Oberste, des Lagers Camp-Vert, mein Freund Chante-en-Hiver, der Oberste des Lagers von l’Avoine, mein Kamerad La Musette, der Oberste des Lagers von les Fourmis, und ich, ein Bauer aus dem Flecken Daon, wo der Moriandre-Bach durchfließt, wir Alle haben Euch deshalb zuvor noch etwas zu sagen. Hört, Ihr Männer unten am Thurm! Wir haben hier drei Gefangene bei uns, drei Kinder, die von einem Eurer Bataillone angenommen worden und folglich Eure sind. Wir machen uns anheischig, diese Kinder Euch zurückzugeben, unter der einen Bedingung, daß Ihr uns freien Abzug gewährt. Wollt Ihr das nicht, so merkt wohl auf: Angreifen könnt Ihr uns nur auf zweierlei Arten, durch die Bresche vom Wald her oder vom Plateau her über die Brücke. Das Gebäude auf der Brücke hat drei Stockwerke; in das unterste habe ich, der Imânus, der zu Euch spricht, sechs Tonnen voll Theer und hundert Bündel trockenes Haidekraut bringen lassen; das oberste Stockwerk liegt voll Stroh und das mittlere voll von Büchern und Papieren. Die eiserne Thür, welche von der Brücke ins Schloß führt, ist zugesperrt, und der gnädige Herr hat den Schlüssel dazu in der Tasche; unter der Thür habe ich ein Loch durchgebrochen, und durch dieses Loch läuft eine geschwefelte Lunte, deren eines Ende in einem der Theerfässer steckt und deren anderes Ende sich im Innern des Thurmes befindet; ich brauche mich nur danach zu bücken, um es zu der von mir beliebten Stunde anzuzünden. Weigert Ihr uns den Abzug, so werden die drei Kinder in den mittleren Raum der Brücke gesetzt, zwischen das Stockwerk, in das die geschwefelte Lunte ausläuft und wo die Theerfässer liegen, und zwischen dasjenige, das voll Stroh liegt; hierauf wird die eiserne Thür hinter ihnen abgeschlossen. Stürmt Ihr von der Brücke her, so wird das Gebäude durch Euch, stürmt Ihr gegen die Bresche, so wird es durch uns den Flammen übergeben; stürmt Ihr auf beiden Seiten zugleich, so wird es auch zugleich durch Euch und durch uns in Brand gesteckt, und in jedem der drei Fälle gehen die Kinder zu Grunde. Jetzt sagt Ja oder Nein! Wenn Ihr Ja sagt, ziehen wir ab; sagt Ihr Nein, so sterben die Kinder. Jetzt wißt Ihr’s.

Der Mann oben auf dem Thurm schwieg, und von unten rief ihm eine Stimme zu: wir sagen Nein!

Die Stimme klang scharf und herb. Eine zweite, weniger strenge, wenngleich feste Stimme, fügte hinzu: wir lassen Euch vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit, Euch auf Gnade oder Ungnade zu ergeben.

Nach einer Pause fuhr die Stimme fort: Wenn Ihr morgen, zu dieser Stunde, die Waffen nicht gestreckt habt, wird Sturm gelaufen.

– Und dann ohne Pardon, schloß die erste, die rauhe Stimme, und ihr ward eine Antwort. Von der Plattform des Thurmes sah man zwischen zwei Zinnen eine hohe Gestalt herunterschauen und konnte beim Sternenlicht die gewaltigen Gesichtszüge des Marquis von Lantenac erkennen, dessen Blick unten in der Dunkelheit Jemand zu suchen schien und der hinabrief:

– Bist Du’s beichtstuhlentlaufener Gesell?

– Ja, Rebell! rief die herbe Stimme zurück.

XI.

Schauderschaft wie der Mythus.

Die scharfe Stimme war Cimourdain’s Stimme und die jugendliche, weniger gebieterische die Stimme Gauvain’s. Also hatte der Marquis von Lantenac den vormaligen Abbé richtig erkannt.

In dieser unter dem Bürgerkrieg blutenden Gegend hatte, wie wir wissen, Cimourdain in wenigen Wochen eine Berühmtheit erlangt, eine entsetzliche Berühmtheit: neben Marat in Paris und Châlier in Lyon nannte man Cimourdain in der Vendée. Er wurde noch eigens gebrandmarkt für all die Hochachtung, die man ihm einst gezollt, für das Priesterkleid, das er nunmehr ausgezogen hatte; man verabscheute ihn. Unglücklich sind die Gestrengen, denn wer ihr Handeln sieht und sie verdammt, würde sie vielleicht freisprechen, wenn er ihnen ins Gewissen schauen könnte; gar leicht läuft ein unverstandener Lykurg Gefahr, für einen Tiber gehalten zu werden. Wie dem auch sei, zwei Männer brachten die Wagschalen des Hasses ins Gleichgewicht: der Marquis von Lantenac und der Abbé Cimourdain. Die Verwünschungen, womit Diesen die Royalisten, und die Flüche, womit Jenen die Republikaner verfolgten, wogen einander auf. Jeder von Beiden galt im gegnerischen Lager für das Ungeheuer, und daraus ergab sich sogar die erwähnenswerthe Thatsache, daß während in Granville Prieur-Marne auf Lantenacs Kopf einen Preis setzte, Charette in Noirmoutier einen Preis setzte auf den Kopf von Cimourdain. Beide, der Marquis wie der Priester, waren in der That auch bis zu einem gewissen Grad identisch mit einander. Die eiserne Janusmaske des Bürgerkriegs kehrt mit gleich tragischem Blick das eine ihrer Gesichter der Vergangenheit und ihr zweites der Gegenwart zu; das erste dieser Gesichter war Lantenac und das andere Cimourdain; nur starrte um Lantenacs verbitterten Mund nächtlicher Schatten, während auf Cimourdains verhärteter Stirn ein Morgenleuchten aufdämmerte.

Das eingeschlossene La Tourgue hatte vierundzwanzig Stunden Ruhe vor sich; so lang dauerte ja die durch Gauvain anberaumte Frist, die so ziemlich einem Waffenstillstand gleichkam. Von den numerischen Verhältnissen der Belagerer war der Imânus offenbar wohl unterrichtet, denn in Folge der Aufgebote Cimourdains cernirte Gauvain La Tourgue wirklich mit viertausendfünfhundert Mann Linientruppen und Nationalgarden und verfügte über zwölf Geschütze, von denen sechs in niedrig liegender Batterie am Waldsaum gegen den Thurm und auf dem Plateau sechs in Hochbatterie gegen die Brücke der Festung gerichtet waren. Auch hatte er die Mine spielen lassen können und dadurch unten am Thurm die Bresche zu Stand gebracht. Nach Verlauf der vierundzwanzigstündigen Frist sollte zwischen den viertausendfünfhundert Mann auf dem Plateau und im Wald und zwischen den neunzehn Mann im Thurm der Kampf sofort beginnen; was die Namen jener Neunzehn betrifft, so lassen sie sich durch die veröffentlichten Listen der in Bann und Acht Erklärten ermitteln, und wir selber werden vielleicht noch in den Fall kommen, Den und Jenen unter ihnen zu erwähnen. Als Kommandirenden von viertausendfünfhundert Mann, also schon einer kleinen Armee, hatte Cimourdain seinen Zögling zum Generaladjutanten avanciren lassen wollen, doch Gauvain hatte das Anerbieten mit der Bemerkung ausgeschlagen: »Warten wir erst einmal ab, bis Lantenac gefangen ist; ich habe noch kein Anrecht auf Auszeichnung«. Es war überhaupt republikanischer Brauch, mit einer bescheidenen Charge ein wichtiges Kommando zu vereinigen. So war später zum Beispiel Bonaparte gleichzeitig Artilleriemajor und Oberbefehlshaber der Armee von Italien.

Das eigenartige Schicksal, demzufolge La Tour Gauvain von einem Gauvain vertheidigt und von einem Gauvain belagert wurde, mischte dem Angriff eine gewisse Zurückhaltung bei, eine Zurückhaltung, die der Gegner keineswegs theilte, denn Herr von Lantenac war der Mann nicht, irgend welche Rücksicht walten zu lassen; auch hatte er ja die meisten Jahre in Versailles verlebt und konnte schon deshalb nichts Individuelles empfinden für das ihm so wenig vertraut gewordene La Tourgue. Er hatte sich lediglich aus Noth hingeflüchtet, und hätte unter Umständen nicht das geringste Bedenken getragen, das Schloß niederzureißen. Pietätvoller hingegen fühlte Gauvain. Der wunde Fleck an der Festung war entschieden die Brücke; doch die Bibliothek über der Brücke enthielt alle Familienurkunden. Wenn nun von dieser Seite gestürmt wurde, so war die Zerstörung der Bibliothek unvermeidlich, und das Familienarchiv verbrennen, das weckte in Gauvain eine Empfindung, als solle er sich an seinen Vätern vergreifen. La Tourgue war die Stammburg seines Geschlechts; bei diesem Thurm ging alles bretonische Besitzthum Derer von Gauvain zu Lehen, wie alles Besitzthum der französischen Krone bei dem Thurm des Louvre; hier knüpften alle Familienerinnerungen an; hier war Gauvain geboren worden, und nun versetzten ihn die verhängnisvollen Verwickelungen des Lebens in die Nothlage, als Mann die ehrwürdigen Mauern anzugreifen, die des Kindes Schutz gewesen. Sollte er die Pietätlosigkeit gegen das Vaterhaus soweit treiben, es in Asche zu legen, seine eigene Wiege vielleicht in Asche zu legen, die wohl noch in einem Winkel des Dachbodens über der Bibliothek stehen mochte? Gewisse Begriffe sind Schauer der Rührung, und Gauvain fühlte sich gerührt angesichts der alten Wohnstätte der Seinen; darum hatte er bis jetzt das Schlößchen geschont und sich darauf beschränkt, durch Aufstellung einer Batterie jeden Ausfall oder Fluchtversuch von der Brücke her unmöglich zu machen; darum hatte er die entgegengesetzte Seite für den Angriff ausersehen und am Fuß des Thurms die Mine graben lassen. Und Cimourdain hatte nicht dreingeredet; zwar warf er sich’s vor, denn seine Strenge runzelte die Stirn beim Anblick all des mittelalterlichen Gerümpels und er wollte mit Gebäuden nicht nachsichtsvoller verfahren als mit Menschen; Nachsicht mit einem Haus war ja schon ein Ansatz zur Milde; die Milde aber war Gauvains schwache Seite, und, wie wir wissen, lag Cimourdain auf der Lauer, um ihn von jedem Schritt aus dieser schiefen Ebene abzuhalten, die er zu betreten für verderblich hielt. Und doch mußte er mit einem gewissen Ingrimm sich selber eingestehen, daß auch er La Tourgue nicht ohne einen heimlichen Herzensschauer wiedergesehen hatte, daß ihn der Anblick jenes Studirzimmers weich machte, welches die ersten Bücher enthielt, die Gauvain mit ihm gelesen. Von seiner Pfarrei Parigné, dem nächstgelegenen Dorf, war er, Cimourdain, auf den Dachboden des Brückenschlößchens umgezogen; in der Bibliothek hatte der kleine Gauvain buchstabirend auf seinen Knien gesessen; zwischen diesen alten vier Wänden war sein vielgeliebter Schüler, der Sohn seiner Seele, unter seinem Vaterauge körperlich herangewachsen und geistig gediehen; und in diese Bibliothek in dieses Schlößchen, in diese Mauern, zwischen welchen er so oft Segen herabgefleht hatte auf das Kind, sollte er den Feuerbrand und die Vernichtung schleudern? Nein, er ließ Gnade walten, aber ihm schlug dabei sein Gewissen. So hatte er denn Gauvain die Belagerungsarbeiten vom Wald her beginnen lassen und ihm stillschweigend gestattet, von La Tourgue statt der gesitteten Seite, dem Schlößchen, die barbarische anzubrechen, den Thurm. Von einem Gauvain angegriffen und von einem Gauvain vertheidigt, wurde die alte Festung, mitten in der französischen Revolution, wieder in ihre gewohnten Feudalzustände zurückversetzt; weist doch die ganze Geschichte jener Zeiten kaum etwas Anderes auf als häusliche Fehden. Gestalten wie Eteokles und Polynikes gehören nicht blos der antiken, sondern auch der mittelalterlichen Welt an, und Hamlet führt in Helsingör einen ähnlichen Todesstoß wie Orestes in Argos.

XII.

Ein Rettungsgedanke.

Auf beiden Seiten wurde die Nacht unter Vorbereitungen durchwacht. Gleich nach der düstern Unterhandlung, die wir mit angehört, war Gauvains erste Sorge gewesen, seinen Unterkommandanten zu sich zu rufen. Guéchamp, den wir schon ein wenig näher betrachten müssen, war eine Natur zweiten Ranges, ehrenfest, unverzagt, von keiner besonderen Bedeutung, ausgezeichnet als Soldat und mittelmäßig als Führer, eine jener Intelligenzen, die gerade bis dahin reichen, wo es ihnen zur Pflicht wird, inne zu halten, ein schroffer, unzugänglicher Mann, der weder sein Gewissen durch niedrige Mittel noch seinen Gerechtigkeitssinn durch Mitleid bestechen ließ. Geist und Herz waren ihm zwischen der Disziplin und der Ordre eingedämmt wie Wagenpferde, die an beiden Augen ein Scheuleder tragen, und bewegten sich im freigebliebenen Raum schnurgerade, aber beschränkt vorwärts. Er war ein durchaus zuverlässiger Offizier, stramm im Ertheilen und pünktlich im Ausführen eines Befehls.

– Guéchamp, eine Leiter her! redete ihn Gauvain lebhaft an.

– Wir haben keine, Kommandant.

– Es muß eine geschaffen werden.

– Eine Sturmleiter?

– Nein, eine Rettungsleiter.

Guéchamp besann sich und erwiderte: Ich verstehe, aber zu dem Zweck müßte sie sehr lang sein.

– Mindestens drei Stock hoch.

0247

Als die Sonne aufging.

– Jawohl, Kommandant, so schätze es beiläufig auch ich.

– Eher noch länger, damit wir unserer Sache ganz gewiß sind.

– Allerdings.

– Wie kommt es denn, daß wir keine Leiter bei der Hand haben?

– Da Sie nicht für gut fanden, vom Plateau aus La Tourgue anzufassen, sondern es auf besagter Seite blos zu blokiren, um vom Wald her anzugreifen, hat man sich ausschließlich mit der Mine beschäftigt und von einer Ersteigung der Brücke abgesehen; deshalb sind keine Leitern gemacht worden.

– Lassen Sie auf der Stelle eine machen.

– Eine drei Stock hohe Leiter läßt sich nicht aus dem Aermel schütteln.

– So lassen Sie einige kürzere aneinander binden.

– Auch die müßten wir erst haben.

– Requiriren Sie welche.

– Verlorene Mühe. In der ganzen Gegend zerstören die Bauern jede Leiter, wie sie auch ihre Karren ruiniren und die Brücken abschneiden.

– Sie wollen die Republik lahm legen, allerdings.

– Weder ein Fuhrwerk sollen wir benutzen können, noch einen Fluß überschreiten, noch eine Mauer erklimmen.

– Und doch ist die Leiter durchaus nöthig.

– Kommandant, da fällt mir gerade der große Zimmerhof zu Iavené bei Fougères ein; dort ist vielleicht eine zu bekommen.

– Wir haben keine Minute zu verlieren.

– Wann müssen Sie die Leiter haben?

– Morgen, spätestens um diese Zeit.

– Ich lasse einen Reiter mit der Ordre hingaloppiren. Der Kavallerieposten, der in Javené liegt, wird die Eskorte abgeben, und morgen, vor Sonnenuntergang, kann die Leiter hier sein.

– Gut, das ist früh genug, sagte Gauvain. Also rasch!

Zehn Minuten darauf kam Guéchamp mit der Meldung zurück: Kommandant, der Bote ist schon unterwegs.

Gauvain stieg nun auf das Plateau und maß lange Zeit das Brückenschlößchen über der Schlucht mit den Augen. Der Giebel des Schlößchens hatte keine andere Oeffnung als den tiefliegenden durch die aufgerichtete Zugbrücke verschlossenen Eingang und stand der jähen Böschung der Schlucht gegenüber. Um vom Plateau aus unten an die Brückenpfeiler zu gelangen, mußte man, was nicht unmöglich war, längs dieser Böschung von Strauch zu Strauch niederklettern, war aber, wenn dies gelungen, allen Kugeln ausgesetzt, die aus den Fenstern der drei Stockwerke in die Schlucht herabhageln konnten. Gauvain hatte sich schließlich zur Genüge überzeugt, daß, wie die Dinge gegenwärtig standen, der eigentliche Angriff durch die Bresche des Thurmes erfolgen mußte. Er traf alle Vorkehrungen zur Vereitelung jedes Fluchtversuchs, vervollständigte die enge Zernirung von La Tourgue und zog die Maschen seiner Bataillone so dicht zusammen, daß ganz unmöglich etwas durchkonnte. Dann theilte er sich mit Cimourdain in die Belagerung der Veste; Cimourdaain bekam die Brückenseite; die Thurmseite behielt Gauvain für sich, und es wurde ausgemacht, daß, während Gauvain, von Guéchamp unterstützt, den Sturm gegen die Bresche leiten würde, Cimourdain und seine Batterie mit brennenden Lunten das Schlößchen und die Schlucht überwachen sollten.

XIII.

Thätigkeit des Marquis.

Wie draußen Alles für den Angriff, so wurde drinnen Alles für den Widerstand aufgeboten. Nicht ohne Grund heißt in gewissen Gegenden von Frankreich ein Thurm auch eine Daube, denn oft kann man einem Thurm mit einer Mine zusetzen wie der Daube mit dem Stecheisen und gleichsam ein Spundloch durch die Mauer bohren. Das zeigte sich zu La Tourgue, denn das Stecheisen von Gauvain, die Mine mit den zwei oder drei Centnern Pulver, hatte in die ungeheure Mauer durch und durch eine Lücke gebrochen, welche am Fuß des Thurms einen annähernd trichterförmigen Einschnitt bildete und als ungestaltete Wölbung in das Erdgeschoß der Festung mündete. Dieses Loch hatten von außen her die Belagerer überdies noch mit Artillerie erweitert und zurechtgeschmettert, um es für den Sturm zugänglicher zu machen.

Der ebenerdige Raum, auf den sich die Bresche öffnete, war ein großer runder Saal mit ganz rohen Wänden und einem Mittelpfeiler, auf dem der Schlußstein des Gewölbes ruhte. Dieser Saal, der allergrößte des Thurms, hatte einen Durchmesser von vollen vierzig Fuß. Jedes Stockwerk des Thurms bestand in einem ähnlichen Raum; nur waren jene Säle von geringerem Umfang und hatten kleine Verschlage an den Nischen ihrer Schießscharten. Solche Schießscharten fehlten im Erdgeschoß; überhaupt fehlte irgend welche Oeffnung sowohl am Boden wie an der Decke, und Licht und Luft gab es hier nicht mehr und nicht weniger als in einem Grab. Eine Thür, fast ganz von Eisen, führte in die beiden Burgverließe und eine zweite zur Treppe, auf der man in die oberen Stockwerke stieg. Alle Treppen waren in die Mauer hineingebaut. Diesen unteren Saal konnten die Belagerer durch ihre Bresche erstürmen; waren sie erst einmal so weit, dann hatten sie noch den Thurm zu erobern. An ein eigentliches Atmen war in diesem Raum früher nie zu denken gewesen, und binnen vierundzwanzig Stunden hätte Jeder darin ersticken müssen. Jetzt, da die Bresche Luft zuführte, war’s wenigstens zum Aushalten, und deshalb mauerten die Belagerten die Lücke, – was hätte es auch genützt? – nicht zu. Durch die Kanonen draußen wäre doch wieder Alles gleich zerstört worden.

Die Männer stießen einen eisernen Fackelhalter zwischen zwei Steine, stellten eine Fackel hinein, und man konnte sich umsehen.

Wie nun das Erdgeschoß halten? Da ein Vermauern der Bresche zwecklos erschien, entschied man sich für einen Abschnitt. Ein Abschnitt ist eine Verschanzung mit einspringendem Winkel, eine sparrenförmige Barrikade, von der aus die Angreifenden in ein Kreuzfeuer genommen werden, und welche, ohne äußerlich die Bresche zu schließen, sie nach innen zu versperrt. An Baumaterial war kein Mangel; bald war der Abschnitt errichtet und mit Schießscharten für die Gewehrläufe versehen. Der einspringende Winkel ging vom Mittelpfeiler aus, und die beiden Flügel stießen mit ihren Enden an die Mauer. An den passendsten Stellen wurden auch einige Flatterminen angelegt.

Lantenac leitete Alles als Urheber, Anordner, Führer und Gebieter, kurz als die Seele des Ganzen. Er gehörte jenem Geschlecht von Kriegshelden aus dem achtzehnten Jahrhundert an, die noch als Achtziger verlorene Städte zu retten vermochten, wie jener Graf von Alberg, der nahebei in seinem hundertsten Lebensjahr den König von Polen aus Riga vertrieb.

– Muth, Freunde, sagte der Marquis, zu Anfang unseres Jahrhunderts, Anno 1713, hat Karl XII. in seinem Haus zu Bender mit dreihundert Schweden zwanzigtausend Türken die Spitze geboten.

Die zwei unteren Stockwerke wurden ebenfalls befestigt, die Säle verschanzt, die Verschläge mit Zinnen und die Thüren mit eingehämmerten Balken versehen, die diese wie Strebepfeiler stützten. Nur die Wendeltreppe, welche die Stockwerke mit einander verband, mußte dem Verkehr offen bleiben, denn wenn man sie verrammelt hätte, um sie den Stürmenden unzugänglich zu machen, wären zugleich die Belagerten von einander abgeschlossen worden. So hat jede Verteidigung ihre schwache Seite.

Der Marquis, kräftig und unermüdlich wie ein Jüngling, ging rastlos mit dem Beispiel voran, half Balken heben und Steine tragen, überall Hand anlegend, befehlend, beispringend, kameradschaftlich lachend mit seinen milden Spießgesellen, aber dennoch der Herr und Gebieter, hochfahrend und herablassend, unbändig und elegant. Da gab es kein Widersprechen. »Wenn sich eine Hälfte der Mannschaft auflehnen wollte, sagte er, so würde ich sie durch die andere Hälfte erschießen lassen und den Platz mit den Ueberlebenden halten«. Wer eine solche Sprache führt, wird von seinen Leuten vergöttert.

XIV.

Thätigkeit des Imânus.

Während Lantenac um die Bresche und den Thurm beschäftigt war, beschäftigte sich der Imânus mit der Brücke. Schon bei Beginn der Belagerung war auf Befehl des Marquis die außen unter den Fenstern des zweiten Stocks querüberhängende Rettungsleiter entfernt und durch den Imânus in die Bibliothek geschafft worden. Durch sie mochte Gauvain wohl auf den Gedanken gekommen sein, eine Leiter für seine Zwecke zu verwenden. Jedes Einbrechen durch die Fenster des Saales der Garden oder des Hochparterres war durch ein in den Stein gelöthetes dreifaches Gitter von Eisenstäben unmöglich gemacht. Die Fenster der Bibliothek standen frei, lagen dafür aber auch sehr hoch. Der Imânus ließ sich von drei Männern begleiten, die wie er jeder That fähig und, auch zu Allem entschlossen waren: von Hoisnard, genannt Branche d’Or und den beiden Brüdern Pique-en-Bois. Er nahm eine Blendlaterne, öffnete die eiserne Thür und untersuchte bis ins Kleinste die drei Stockwerke des Brückenschlößchens. Hoisnard Branche d’Or war nicht minder erbittert als der Imânus, da ihm die Republikaner einen Bruder getödtet hatten. Der Imânus besichtigte den Dachboden, der von Stroh und Heu strotzte, stieg dann in den Saal der Garden hinab, in den er noch Pechkränze bringen ließ, die er neben den Theerfässern anhäufte, schichtete die Bündel von Haidekraut über den Tonnen auf, nachdem er zuvor geprüft, ob die geschwefelte Lunte, die von der Brücke in den Thurm lief, auch in gutem Stande sei, und goß unten an den Fässern und Bündeln eine Theerlache aus, in die er das Ende der Schwefellunte untertauchte. Dann ließ er in die Bibliothek, zwischen den Parterreraum voll Theer und den Dachboden voll Stroh, die drei Wiegen herübertragen, in denen René-Jean, Gros-Alain und Georgette ganz fest schliefen; man ging vorsichtig dabei zu Werke, denn man wollte die Kleinen nicht wecken. Es waren drei Wiegen, wie sie auf dem Lande gebräuchlich sind, ein sehr niedriges Korbgeflecht, das unmittelbar auf der Erde ruht, so daß das Kind ohne Beihilfe nach Belieben heraussteigen kann. Neben jede Wiege ließ der Imânus eine Schüssel voll Suppe mit einem hölzernen Löffel hinstellen. Die abgehakte Rettungsleiter lag, an die Wand gelehnt, auf dem Fußboden; an der anderen Wand, parallel mit der Leiter, standen in einer Flucht hintereinander die Wiegen. Um einen zweckdienlichen Luftzug zu gewinnen, öffnete der Imânus die sechs Fenster der Bibliothek auf die bläuliche, klare, laue Sommernacht hinaus und schickte die Brüder Pique-en-Bois in die zwei anderen Stockwerke, um dort ein Gleiches zu thun. An der Ostseite des Gebäudes war die Brücke über und über von altem, verdorrtem, braungelbem Epheu überrankt, der die Fenster der drei Stockwerke förmlich einrahmte. Kann auch nicht schaden, dachte der Imânus, prüfte noch Alles mit einem letzten Blick und kehrte dann mit seinen drei Gefährten in den Thurm zurück. Die schwere eiserne Thür sperrte er doppelt ab, untersuchte noch sorgfältig das ungeheure, furchtbare Schloß daran und betrachtete mit zufriedenem Kopfnicken die geschwefelte Lunte, die durch das von ihm durchgebrochene Loch ging und nunmehr das Einzige war, was Thurm und Brücke verband. Diese Lunte lief vom runden Saal aus unter der eisernen Thür durch, unter der Wölbung der Thurmmauer weiter und schlängelte sich über die fliegende Treppe und am Fußboden des Saals der Garden hin bis mitten in die Theerlache an den Reisigbündeln. Nach der Berechnung des Imânus mußte die Lunte, einmal im Innern des Thurms angezündet, ungefähr eine Viertelstunde lang glimmen, bis sie die Theerlache unter der Bibliothek in Brand steckte. Nachdem für Alles genügend gesorgt und das Kleinste untersucht worden, überreichte der Imânus den Schlüssel der eisernen Thür dem Marquis, und dieser steckte ihn zu sich.

Nun galt es, alle Bewegungen der Feinde zu beobachten. Der Imânus stieg auf die Plattform des Thurms hinauf und hielt, mit seinem Hirtenhorn an der Seite, oben im Schauthürmchen Wache. Auf dem Fenstersims des Thürmchens hatte er eine Pulverflasche stehen, daneben einen leinenen Sack mit Kugeln von einem Kaliber, und drehte, während er mit einem Auge nach dem Wald und mit dem anderen nach dem Plateau spähte, aus ein paar alten Zeitungen Patronen.

Als die Sonne wieder aufging, beschien sie am Waldsaum acht Bataillone, kampfbereit, den Säbel an der Seite, mit voller Patrontasche und aufgepflanztem Bajonett; auf dem Plateau eine Batterie mit vollen Protzkasten und angehäuften Kartätschen; in der Festung neunzehn Männer, welche Mauerbüchsen, Musketen, Pistolen und Jagdstutzen luden, und in den drei Wiegen drei schlummernde Kinder.

  1. Noch mehr als Bürgerkriege

Fünftes Buch

In daemone deus

I.

Gefunden, aber verloren.

Als Michelle Fléchard den vom Abendroth beleuchteten Thurm entdeckte, war sie noch über eine Meile davon entfernt. Sie, die sich kaum noch einen Schritt weiter zu schleppen getraute, schrak jetzt vor dieser Meile nicht zurück. Weiber sind schwach, aber Mütter sind stark, und so wanderte sie denn weiter. Die Sonne war untergegangen; erst war die Dämmerung, später die Nacht hereingebrochen; unterwegs hatte sie aus der Ferne, auf einem ihr nicht sichtbaren Kirchthurm acht und dann neun schlagen hören, wahrscheinlich auf dem Kirchthurm von Parigné. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um einem dumpfen, stoßweisen Lärm zu lauschen, der sich wohl auf den Widerhall in der Nachtruhe zurückführen ließ. Schnurgerade schritt sie vor sich hin, über die Stechpfriemen und die schneidigen Schilfblätter weg mit ihren wunden Füßen, dem fernen Thurm zu, von dem ihr ein matter Schimmer leuchtete, aus dem er, von geheimnißvollem Glanz umwoben, dunkel hervorstach. Dieser Schimmer wurde bei jedem deutlicheren Schall heller und nahm dann wieder ab. Auf dem ausgedehnten, meistens mit Gras und Haidekraut bewachsenen Plateau, auf dem sich Michelle Fléchard fortbewegte, erhob sich weder ein Haus noch ein Baum. Es stieg verlorenerweise, unabsehbar an und durchschnitt mit einer harten geraden Linie, der ganzen Breite nach, den gestirnten Horizont. Was ihr Kraft verlieh auf dieser Wanderung, war das allmälige Anwachsen des ihr fortwährend aus der Ferne winkenden Thurms. Die gedämpften Schläge und der fahle Flimmer, die von ihm ausgingen, hatten, wie gesagt, ihre Höhen und Tiefen; bald setzten sie aus, bald waren sie wieder da und gaben der erbarmungswürdigen verzweifelnden Mutter wie ein herzbeklemmendes Räthsel zu lösen. Plötzlich hörte Alles auf; Lärm wie Licht verhallte und erlosch und es herrschte tiefe Stille, düsterer Friede. Gerade zu dieser Zeit erreichte Michelle Fléchard den Rand des Plateaus und gewahrte zu ihren Füßen eine Schlucht, deren Niederungen im weißlichen Nebel der Nacht verschwammen, zu ihrer Rechten, in einiger Entfernung, ein Gemisch von Rädern und durchbrochenen Erdaufwürfen, welches eine Geschützbatterie war, und vor sich, durch die glimmenden Lunten der Kanoniere spärlich erhellt, ein großes Gebäude, das aus dichteren Finsternissen als die umgebende Nacht zusammengeballt schien. Dies Gebäude war eine Art Schloß, welches sich über einer Brücke erhob, deren Pfeiler in die Schlucht hinabtauchten, und das sich an eine hohe, runde, schwarze Masse anlehnte, an den Thurm, welcher der Mutter als Ziel ihrer langen Wanderung vorgeschwebt hatte. Ab und zu sah man durch die Schießscharten des Thurms Lichter schimmern, und aus dem Getöse, das daraus hervorbrach, ließ sich schließen, daß ihn eine Menschenmenge besetzt hielt, von der auch zuweilen einige schwarze Gestalten oben auf die Plattform überströmten. Hinter der Batterie befand sich ein Lager, dessen Vorposten Michelle Fléchard zählen konnte, ohne daß sie in der Dunkelheit und im Gestrüpp selber von ihnen erblickt wurde. Sie stand dicht am Rand des Plateaus, so nahe bei der Brücke, daß sie glaubte, sie könne sie mit der Hand berühren, wiewohl die tiefe Schlucht dazwischen lag. Trotz der Finsterniß unterschied sie auch die drei Stockwerke des Brückenschlößchens. So verharrte sie vor dieser klaffenden Schlucht und diesem schwarzen Gebäude, wie lange wußte sie selber nicht, denn der Begriff der Zeit zerrann ihr im Hirn. Was war das Alles, und was ging hier vor? Stand sie vor La Tourgue? Sie war jenes heimlichen Schwindelns der Erwartung voll, das man bei einer Ankunft oder einem Aufbruch empfindet. Sie fragte sich, warum sie eigentlich hier sei und starrte und lauschte. Plötzlich sah sie nichts mehr. Zwischen ihr und dem Gegenstand, den sie betrachtete, war ein Schleier von Rauch aufgestiegen, dessen ätzende Schärfe sie die Augen zuzudrücken zwang. Sie hatte sie kaum geschlossen, da leuchtete es purpurn durch ihre Wimpern hindurch, und als sie wieder hinschaute, hatte sie die Nacht nicht mehr vor sich, sondern den hellen Tag, aber einen schrecklichen Tag, den künstlichen Tag einer Feuersbrunst, die unter ihren Blicken auszubrechen begann. Der schwarze Rauch war scharlachroth geworden und enthielt eine mächtige Flamme, die, aufflackernd und wieder verschwindend, jene unbändigen Krümmungen beschrieb, welche dem Blitz und den Schlangen eigen sind. Diese Flamme züngelte aus etwas heraus, das einem Rachen glich und ein Fenster voller Feuer war mit bereits weißglühenden Gitterstäben, eines der Fenster im untersten Stockwerk des Brückenschlößchens. Weiter war von dem ganzen Gebäude nichts mehr wahrzunehmen. Der Rauch verhüllte Alles, sogar das Plateau, von dem aus nur noch der Rand der Schlucht, schwarz auf blutigem Hintergrund, zu erblicken war. Staunend starrte Michelle Fléchard vor sich hin. Der Rauch ist eine Wolke, und die Wolke ist Traum; sie wußte nicht mehr, was sie vor sich hatte, ob sie fliehen, ob sie bleiben sollte; sie dünkte sich fast außerhalb der Wirklichkeit. Ein Windstoß, der vorüberfuhr, riß den Rauchschleier entzwei, und, plötzlich enthüllt und durch den Spalt hindurch sichtbar geworden, ragte die ganze tragische Ritterburg, Thurm, Brücke, Schlößchen, in der blendenden schauervoll herrlichen Vergoldung der Feuersbrunst strahlend, zum Himmel empor, so daß Michelle Fléchard jetzt bei der furchtbaren Klarheit der Flamme Alles unterscheiden konnte.

0311

Das unterste Stockwerk des Brückenschlößchens brannte lichterloh. Die beiden oberen Stockwerke waren noch unversehrt, aber schwebten wie über einem Geflecht von Gluthen. Vom Vorsprung des Plateaus aus, wo Michelle Fléchard stand, konnte man, durch das Feuer und den Rauch, die davor aufwirbelten, stellenweise einen Blick thun. Alle Fenster waren geöffnet, und durch die sehr großen Fenster der zweiten Etage hindurch entdeckte Michelle Flechard längs der Wand Schränke, welche Bücher zu enthalten schienen, und hinter dem einen Fenster, am Fußboden im Halbdunkel, eine kleine verworrene Gruppe, einen unbestimmten Knäuel, der aussah wie die Brut in einem Vogelnest; ihr war, als rege sich zuweilen dieses Etwas, und sie stierte zu ihm hinüber. Was mochte die kleine dunkle Gruppe wohl sein? Hin und wieder glaubte sie eine Aehnlichkeit mit lebenden Wesen darin zu erkennen; sie fieberte; seit früh Morgens hatte sie nichts genossen und war ohne Unterbrechung weiter gewandert; sie war todtmüde, und es tauchten krankhafte Phantasiegebilde vor ihr auf, vor denen sie instinktmäßig zurückbangte. Immer hartnäckiger bohrten sich ihre Blicke in jenes dunkle Häuflein von unbekannten, vermuthlich dennoch leblosen und anscheinend unbeweglichen Gegenständen auf dem Fußboden des über der Feuersbrunst ragenden Saales. Plötzlich streckte die Flamme drunten, als ob sie von einem eigenen Willen beseelt gewesen wäre, eine ihrer Zungen nach dem großen abgestorbenen Epheustamm hinaus, der die Michelle Fléchard zugekehrte Mauer des Schlößchens übersponnen hatte. Als ob dieses Netz von dürren Ranken erst jetzt durch die Gluth entdeckt worden wäre, so züngelte diese nun gierig darauf hin und klomm mit der gräßlichen Behändigkeit eines Lauffeuers daran empor. Im Nu hatte die Flamme das zweite Stockwerk erreicht und leuchtete von der Mauer her in den Saal hinein. In hellem Glanz hoben sich mit einem Mal die drei schlummernden Kleinen ab, ein reizendes Häuflein von verschränkten Aermchen und Beinchen und lächelnden blonden Lockenköpfchen mit geschlossenen Wimpern. Die Mutter erkannte ihre Kinder und stieß einen entsetzlichen Schrei aus, einen unnennbaren Jammerschrei, wie er nur den Müttern eigen ist, einen Schrei wild und rührend, wie sonst nichts auf Erden. Wenn ihn ein Weib ausstößt, so gellt eine Wölfin daraus hervor, und stößt ihn eine Wölfin aus, so glaubt man ein Weib zu hören. Homer nennt den Verzweiflungsschrei der Hekuba ein Gebell, und so war auch der Schrei von Michelle Fléchard eher ein Gebrüll zu nennen als ein Schrei. Dieses Gebrüll war es, das der Marquis von Lantenac vernommen hatte.

Er war, wie wir bereits wissen, stehen geblieben, und zwar zwischen der Schlucht und der Mündung des Durchgangs, durch welchen Halmalo ihn aus dem Thurm hinausgeleitet. Zwischen dem über ihm verschlungenen Gesträuch hindurch sah er die Brücke in Flammen, deren Widerschein den Thurm röthete, und durch eine andere Lichtung der Zweige, auf der entgegengesetzten Seite, über seinem eigenen Haupt, am Rande des Plateaus, dem brennenden Schloß gegenüber und von der Feuersbrunst taghell überstrahlt, die verstörte Jammergestalt eines über die Schlucht vorgebeugten Weibes. Dieses Weib, das den Schrei ausgestoßen hatte, war aber nicht mehr Michelle Fléchard; es war eine Medusa. Die Elenden sind auch die Schreckenbringenden. Die Bäuerin war zur Eumenide verklärt, und das unbedeutende, gewöhnliche, unwissende, stumpfsinnige Weib aus dem Dorf war urplötzlich zur epischen Größe der Verzweiflung emporgewachsen, denn ein wilder Schmerz dehnt die Seele ins Gigantische aus. Diese Mutter war jetzt die Mutterliebe selber; Alles, was ein menschliches Empfinden erschöpft, ist übermenschlich, und so bäumte sie sich denn auch am Rand dieser Schlucht, vor diesem Gluthenmeer, vor diesem Verbrechen, wie eine Beherrscherin der Unterwelt, mit dem Schrei eines Thiers und den Geberden einer Göttin; flammende Flüche schleuderte ihr Haupt wie das Schlangenhaupt der Gorgo, und man konnte nichts gebieterisch Erhabeneres sehen als den Blick ihrer thränenverschwommenen Augen, als diesen Blick, der ein Wetterstrahl war auf die Feuersbrunst, Der Marquis aber horchte auf die abgebrochenen, herzzerreißenden Laute, die ihm gleichsam aufs Haupt herunterhagelten und die mehr ein Schluchzen waren als ein Reden.

– Ach! großer Gott! Meine Kinder! Meine Kinder sind es! Zu Hilfe! Feuer! Feuer! Feuer! Mordbrenner seid Ihr ja! Ist denn Niemand hier? Meine Kinder müssen ja verbrennen! Ach! ist das ein Tag! Georgette! Meine Kinder! Gros-Alain! René-Jean! Was soll denn das Alles bedeuten? Wenn ich nur wüßte, wer meine Kinder da hineingethan hat? Sie schlafen. Ich bin verrückt! Es ist nicht möglich. Hilfe!

Unterdessen war in La Tourgue und auf dem Plateau Alles lebendig geworden. Das ganze Lager lief um das brennende Gebäude zusammen. Kaum waren die Belagerer mit den Kugeln fertig, und schon wartete ihrer ein neuer Kampf. Gauvain, Cimourdain, Guéchamp ertheilten Befehle. Was thun? Aus dem kärglichen Bächlein in der Schlucht ließen sich mit knapper Noth ein paar Eimer Wasser schöpfen. Immer höher stieg die Bestürzung. Der Vorsprung des Plateaus stand voller Leute, die mit verstörten Gesichtern hinüberschauten; und was sie sahen, war auch entsetzlich, und sie mußten es mit ansehen und konnten nicht helfen. An den brennenden Epheuranken hatte das Feuer das oberste Stockwerk erreicht, in dem eine Unmasse von Stroh aufgespeichert lag, über das es herfiel. Schon stand der ganze Dachboden in Flammen; sie tanzten förmlich darin hin und her voll düsterer Freude, denn es war, als fache ein verruchter Hauch diesen Scheiterhaufen an, als hause hier, in einen Funkenwirbel verwandelt, der schauervolle Imânus, als sei er zu einem mörderischen Gluthendasein neu erwacht und als flackere seine ungeheuerliche Seele nun als Feuersbrunst auf. Das mittlere Stockwerk war zwar noch nicht ergriffen worden, weil die hohe Decke und die dicken Mauern die Flammen noch abhielten, aber der verhängnißvolle Augenblick rückte immer näher; an den Dielen der Bibliothek leckte die Feuersbrunst des Erdgeschosses und den Plafond streichelte die Feuersbrunst der Dachkammer; schon streifte die Kinder der gräßliche Kuß des Todes; unten ein Keller voll Lava und oben ein Gewölbe voll glühenden Kohlen. Ein Loch im Fußboden, und Alles versank im Pechpfuhl; ein Loch in der Decke, und Alles wurde unter den knisternden Heubündeln begraben.

René-Jean, Gros-Alain und Georgette waren noch nicht erwacht; sie schliefen den tiefen urkräftigen Schlaf der Kindheit, und zwischen den Flammen und dem Rauch, die vor den Fenstern ab und zuwogten, sah man sie, wie von einem Heiligenschein umstrahlt, friedlich, anmuthig und regungslos in ihrer Feuergrotte daliegen wie drei Jesuskindlein, die voller Vertrauen in einer Hölle eingeschlummert sind, und ein Tiger selbst hätte weinen müssen, wenn er diese Rosen in diesem Gluthofen erblickt hätte und diese Wiegen in diesem Grab. Drüben aber rang die Mutter die Hände: Feuer! Ich rufe Feuer! Ist denn Alles taub, daß mir Niemand antwortet? Sie verbrennen mir meine Kinder! So kommt doch her, Ihr Leute von dort drüben! Bin schon seit so viel Tagen unterwegs und muß sie so wiederfinden! Feuer! Hilfe! Es sind ja kleine Engel! Wenn man bedenkt, daß es kleine Engel sind! Was haben sie denn gethan, die unschuldigen Würmer? Mich hat man erschossen und sie verbrennt man! Wer macht denn das Alles nur? Hilfe! Rettet meine Kinder! Hört Ihr mich nicht? Ein Hund, mit einem Hund hätte man Erbarmen! Meine Kinder! Meine Kinder! Sie schlafen! Ach! Georgette! Dort sehe ich dem lieben Ding seinen kleinen Bauch! René-Jean! Gros-Alain! Ja, so heißen sie. Ihr seht wohl, daß ich die Mutter bin. Was heut zu Tage geschieht, ist ja niederträchtig. Tag und Nacht bin ich gelaufen. Erst heute Morgen habe ich noch mit einer Frau gesprochen. Hilfe! Hilfe! Feuer! Ist man denn lauter Ungeheuer hier? Es ist geradezu abscheulich! Der Aelteste ist keine fünf Jahre alt, das Kleine noch keine zwei. Dort sehe ich ihre nackten Beinchen. Sie schlafen, o Du gütige Mutter Gottes! Die Hand des Himmels giebt sie mir zurück und die Hand der Hölle nimmt sie mir wieder weg. Und so weit habe ich gehen müssen! Meine Kinder, die ich mit meiner Milch getränkt habe! Und war noch unglücklich darüber, daß ich sie nicht finden konnte! So habt doch Erbarmen mit mir! Meine Kinder begehr ich zurück; ich muß meine Kinder wieder haben! Ach! Es ist wirklich wahr, daß sie da drüben mitten im Feuer sind! Da seht nur meine armen Füße, die ich mir blutig lief. Hilfe! Es ist nicht möglich, daß es Menschen giebt in der Welt, und daß man die armen Kleinen so zu Grunde gehen läßt! Hilfe! Mörder! So was ist ja noch nie vorgekommen. O die Mordbrenner! Was ist denn das für ein gräßlich Haus! Gestohlen hat man sie mir, um sie umzubringen! Jesus Maria, ist das ein Elend! Ich will meine Kinder! O ich weiß garnicht mehr, was ich thun könnte! Sie dürfen nicht sterben. Hilfe! Hilfe! Hilfe! Wenn sie mir so wegsterben, o dann möcht ich den lieben Herrgott umbringen!

Während dieser fürchterlichen Beschwörung der Mutter rief es auf dem Plateau und in der Schlucht durcheinander:

– Eine Leiter her!

– Man hat keine Leiter.

– Wasser!

– Wir haben keins!

– Da droben im Thurm, im zweiten Stock, ist eine Thür!

– Sie ist von Eisen.

– Schlagt sie ein!

– Es geht nicht!

Und immer verzweifelter heulte die Mutter: Feuer! Hilfe! Aber so macht doch! Oder dann tödtet mich! Meine Kinder! Meine Kinder! O das entsetzliche Feuer! Holt sie heraus oder schmeißt mich hinein! Und in den kurzen Pausen, die diese Wehrufe von einander trennten, hörte man die Feuersbrunst ruhig weiterprasseln.

Der Marquis, seine Tasche befühlend, berührte den eisernen Schlüssel. Dann ging er auf das Gewölbe zu, durch das er sich geflüchtet hatte, bückte sich und trat in die soeben verlassene Galerie zurück.

II.

Von der steinernen zur eisernen Thür.

Eine ganze Armee, außer sich, vor einer unlösbaren Aufgabe, viertausend Mann, unfähig, drei Kindern zu Hilfe zu kommen, das war die Situation. Leitern waren keine da, und die von Javené war ausgeblieben; wie wenn sich ein Krater aufthut, griff die Feuersbrunst immer mehr um sich. Der Versuch, mit dem Wasser aus dem beinah versiegten Bach zu löschen, wäre kaum weniger lächerlich gewesen, als wenn man ein Glas Wasser über einen Vulkan ausschütten wollte.

Cimourdain, Guéchamp und Radoub waren in die Schlucht, Gauvain wieder in den Saal des zweiten Stockwerks von La Tourgue gestiegen, wo sich der Drehstein mit dem geheimen Ausgang und die eiserne Thür der Bibliothek befanden, wo der Imânus die Schwefellunte angezündet und von wo aus das Feuer sich verbreitet hatte. Dorthin hatte Gauvain zwanzig Sappeurs mitgenommen, denn nur wenn die eiserne Thür gesprengt wurde, konnte geholfen werden. Sie war verzweifelt gut verschlossen. Man versuchte es zunächst mit Beilhieben, aber die Aexte brachen.

– Auf diesem Eisen, sagte einer der Sappeurs, springt der Stahl wie Glas.

Die Thür bestand auch in der That aus doppelten, mit Riegelnägeln aneinander geschmiedeten, je drei Zoll dicken Platten von Eisenblech. Nun stemmte man Eisenstangen darunter, um sie aus den Angeln zu heben; die Eisenstangen brachen.

– Wie Schwefelfaden, sagte der Sappeur.

Düster murmelte Gauvain vor sich hin: Nur mit Kanonenkugeln wäre der Thür beizukommen. Ein Geschütz müßte hier heraufgeschafft werden können.

– Erst noch die Frage, sagte der Sappeur.

Eine momentane Niedergeschlagenheit hatte Platz gegriffen. Alle die ohnmächtigen Arme hielten inne, und stumm, besiegt, bestürzt, starrten die Männer die abscheuliche, unerschütterliche Thür an. Ein rother Widerschein schimmerte darunter hervor, denn dahinter nahm die Feuersbrunst immer zu und unheimlich triumphirend lag der gräßliche Leichnam des Imânus in der Nähe. Noch ein paar Minuten vielleicht und das Schlößchen sank in sich zusammen. Was noch versuchen? Es war keine Hoffnung mehr, und mit bitterem Ingrimm, den Blick auf den verdrehten Stein und auf die Lücke in der Mauer geheftet, rief Gauvain: Und dem Marquis von Lantenac hat dieses Loch zur Flucht verholfen!

– Wie zur Rückkehr, sagte eine Stimme, und in dem Mauerrahmen des geheimen Ausgangs erschien ein weißes Haupt.

Es war wirklich der Marquis. Gauvain, der ihn seit langen Jahren so nah nicht gesehen hatte, that einen Schritt rückwärts und wie versteinert verharrten alle Anwesenden in ihrer zufälligen Stellung.

0319

Der Marquis kehrte mit einem seiner Kinder zurück.

Der Marquis hielt einen großen Schlüssel in der Hand. Mit einem herrischen Blick brachte er einige Sappeurs, die vor ihm standen, zum Weichen, ging schnurstracks auf die eiserne Thür los, bückte sich unter die Wölbung und steckte den Schlüssel ins Loch. Das Schloß knarrte; die Thür sprang auf und mit festem Fuß und hohem Haupte trat der Marquis in den Flammenpfuhl, der dahinter sichtbar wurde, hinein. Schaudernd folgte ihm Alles mit den Blicken. Kaum hatte er in dem brennenden Saal einige Schritte gethan, so sank, vom Feuer angefressen und vom Tritt des Marquis erschüttert, der Fußboden hinter ihm zusammen, so daß jetzt zwischen ihm und der Thür ein Abgrund klaffte. Aber er wendete den Kopf nicht um, und man sah ihn weiterschreiten, bis er im Rauch verschwand. Was war aus ihm geworden? Hatte sich ein neuer Krater unter ihm geöffnet? War ihm blos gelungen, mit zu Grunde zu gehen? Das wußte Keiner. Man hatte eine Mauer von Gluth und Rauch vor sich und hinter dieser Mauer befand sich, todt oder lebendig, der Marquis.

III.

Das Erwachen der Kinder, die man einschlafen sah.

Endlich hatten die Kinder die Augen wieder aufgeschlagen.

Die Feuersbrunst, welche den Bibliotheksaal noch nicht ergriffen hatte, warf einen rosenrothen Widerschein gegen die Decke, eine Art Morgenroth, das den Kindern unbekannt war. Sie schauten hin und Georgette träumte sich sogar hinein. Alle Herrlichkeiten des Elements entfalteten sich vor ihren Blicken. In der dunkeln und goldigen Pracht der ungeberdigen Rauchsäulen tummelten sich die schwarze Hydra und der blutrothe Drache. Lange davonfliegende Feuerbrände zogen Flammenstreifen durch die Finsterniß, als wären sie hintereinander herstürzende, kämpfende Kometen. Eine Feuersbrunst ist eine Verschwenderin, welche die Juwelen ihrer Gluthherde in alle Winde streut, und nicht umsonst ist der Diamant identisch mit der Kohle. In der Mauer des dritten Stockwerks waren Risse entstanden, aus denen ganze Kaskaden von Edelsteinen in die Schlucht hinabperlten, und in Lawinen von Goldstaub stoben die entzündeten Hafer- und Strohmassen des Dachbodens aus den Fenstern, und aus den Haferkörnern waren Amethysten und aus den Strohhalmen Karfunkel geworden.

– Nett! sagte Georgette.

Sie saßen alle Drei aufrecht.

– Ha! schrie die Mutter; sie erwachen!

René-Jean stand zuerst auf, dann Gros-Alain und dann Georgette. René-Jean streckte die Aermchen, trat ans Fenster und sagte: Es ist so warm.

– So warm, wiederholte Georgette.

Nun rief die Mutter zu ihnen herauf: Meine Kinder! René! Alain! Georgette!

Die Kinder schauten rings um sich und suchten das Alles zu begreifen. Was Männer mit Grausen erfüllt, weckt bei Kindern nur die Neugierde. Je leichter aber Jemand in Staunen geräth, desto schwerer geräth er in Furcht; wer unwissend ist, ist auch unerschrocken, und Kinder sind ja so unschuldig, daß sie selbst die Hölle, wenn sie sich vor ihnen aufthäte, noch bewundern würden.

– René! Alain! Georgette! wiederholte die Mutter.

René-Jean wendete den Kopf um, denn diese Stimme hatte ihn aus seiner Zerstreutheit herausgerissen; das Gedächtniß der Kinder ist kurz, aber ihre Erinnerungen lassen sich um so rascher wachrufen; ihre ganze Vergangenheit ist für sie ein einziges Gestern; René-Jean fand es nur selbstverständlich, daß er seine Mutter wiedersah, und da, unter den Wunderdingen, die ihn umgaben, ein verworrenes Gefühl der Hilfsbedürftigkeit in ihm aufkam, schrie er: Mama!

– Mama! schrie Gros-Alain.

– Mam! schrie Georgette und streckte die Aermchen nach ihr aus.

– Meine Kinder! brüllte die Mutter.

Jetzt standen sie alle Drei am Fenstersims; glücklicherweise wüthete die Feuersbrunst vor diesem Fenster gerade nicht.

– Es ist zu heiß, sagte René-Jean und setzte noch hinzu: Es brennt mich. Und er blickte wieder nach seiner Mutter: Komm doch her, Mama!

– Her, Mam! wiederholte Georgette.

Mit zerrauftem Haar, zerfetzt, blutend, hatte sich die Mutter von Strauch zu Strauch in die Schlucht hinabgleiten lassen, wo Cimourdain und Guéchamp sich, ganz wie droben im Thurm Gauvain, ihre Ohnmacht eingestehen mußten. Um sie her wimmelte es von Soldaten, die über ihr unnützes Zuschauen ganz außer Fassung geriethen. Die unerträgliche Hitze blieb völlig unbeachtet; Alles war in die Betrachtung der ragenden Brücke, der steilen Pfeiler, der hohen Stockwerke, der unerreichbaren Fenster und der Notwendigkeit schleunigsten Eingreifens versunken. Volle drei Etagen! Ein Hinaufklimmen war undenkbar. Radoub, verwundet, mit einem Säbelstich in der Schulter und einem weggeschossenen Ohr, war, von Schweiß und Blut triefend, herbeigestürzt, und erkannte Michelle Fléchard.

– Sieh da, sagte er, die Füsilirte! Sind Sie denn aus dem Grab auferstanden?

– Meine Kinder! schrie die Mutter.

– Ganz recht, antwortete Radoub; für die Gespenster haben wir keine Zeit.

Und nun machte er einen vergeblichen Versuch an einem der Brückenpfeiler hinaufzusteigen. Er krallte seine Nägel in die Fugen und kletterte ein paar Sekunden; aber die Steinschichten waren glatt, ohne jeden Bruch oder Vorsprung; das Mauerwerk war noch so unversehrt wie am ersten Tag, und Radoub glitt wieder herab. Fürchterlich wüthete die Feuersbrunst weiter. Im Rahmen des gerötheten Fensters sah man die drei blonden Köpfchen auftauchen, und Radoub erhob die geballte Faust zum Himmel, als suche er dort Jemand mit den Blicken, und rief: Ist das eine Aufführung, Du Herrgott?

Auf den Knieen hielt die Mutter einen Brückenpfeiler umfangen und schrie: Gnade!

Durch das Prasseln der Flammen hindurch erdröhnte ein dumpfes Gekrach. Klirrend fielen droben die gesprungenen Scheiben der Wandschränke herab. Das Gebälk gab offenbar schon nach. Hier konnte keine menschliche Kraft mehr Hilfe schaffen. Ein Augenblick noch, so mußte Alles in sich zusammenbrechen, und während man nichts mehr erwartete als die Schlußkatastrophe, hörte man die kleinen Stimmen immer ängstlicher herabrufen: Mama! Mama!

Der Gipfelpunkt des Entsetzens war erreicht.

Plötzlich erschien am Fenster, das dem, wo die Kinder standen, zunächst lag, vor dem purpurrotem Hintergrund der Feuerbrunst eine hohe Gestalt. Mit stieren Blicken staunte jetzt Alles zu ihr hinauf. Droben, im Bibliotheksaal, im Gluthofen, war ein Mann; schwarz hob er sich ab vom Schein der Flammen; nur das Haar schimmerte weiß, und man erkannte jetzt den Marquis von Lantenac. Der schauerlich ragende Greis verschwand wieder, kam aber bald darauf mit einer ungeheuern Leiter zurück. Er hatte die gegen die Wand der Bibliothek gelehnte Rettungsleiter geholt und zum Fenster geschleppt. Er packte sie bei dem einen Ende und ließ sie mit der vollendeten Meisterschaft eines Athleten über den Mauerkranz in die Schlucht hinabgleiten. Von unten streckte Radoub, außer sich vor Freude, die Hände danach aus, faßte sie an und rief, indem er sie an die Brust preßte: Es lebte die Republik!

– Es lebe Seine Majestät der König! antwortete der Greis.

– Meinetwegen schreie Du den blühendsten Unsinn in die Welt, murrte Radoub; der liebe Herrgott bist Du doch.

Sowie die Verbindung zwischen der Schlucht und dem brennenden Saal durch die Leiter hergestellt war, eilten zwanzig Mann herbei und faßten, Radoub voran, von oben bis herab gegen die Sprossen gelehnt, in gleichmäßigen Zwischenräumen Posto darauf, wie die Maurer, wenn sie Backsteine hinauf oder hinunter schaffen. Ganz oben auf dieser Leiter von Holz und von Menschen stand Radoub dicht vor dem Fenster, der Feuersbrunst zugekehrt. Von allen Gemüthsbewegungen gleichzeitig durchschüttert, drängte sich das ganze auf der Haide und der Böschung zerstreute kleine Heer zum Plateau, zur Schlucht, zur Plattform des Thurms.

Wieder verschwand der Marquis und kehrte dies Mal mit einem der Kinder zurück, dem nächstbesten, das er hatte greifen können; es war Gros-Alain, welcher jammerte: Ich fürchte mich.

Der Marquis reichte Gros-Alain dem Sergeanten hin; dieser reichte ihn seinerseits dem unter und hinter ihm lehnenden Soldaten, der ihn in ähnlicher Weise weiter beförderte. Während der erschrockene, schreiende Gros-Alain auf diesem Wege von Arm zu Arm hinuntergelangte, kam der abermals verschwundene Marquis mit René-Jean ans Fenster zurück, der sich unter Thränen wehrte und Radoub ins Gesicht schlug, als er diesem vom Marquis überliefert ward. Und zum dritten Mal eilte Lantenac in den flammenerfüllten Saal zu der allein noch übrig gebliebenen Georgette; da sie ihm zulächelte, fühlte dieser Mann von Erz, wie ihm etwas Feuchtes in die Augen trat und fragte:

– Was hast Du für einen Namen?

– Orgette, sagte sie.

Er nahm die immer noch lächelnde Kleine auf den Arm, und im Augenblick, wo er sie Radoub einhändigte, bewältigte der blendende Abglanz der Unschuld auch dieses steilragende, verdüsterte Gewissen und der Greis gab dem Kind einen Kuß.

– Das kleine Mädel! jubelten die Soldaten, und unter schwärmerischen Zurufen glitt nun auch Georgette von Arm zu Arm zur Erde nieder. Die alten Grenadiere klatschten in die Hände, stampften mit den Füßen, schluchzten, und Georgette lächelte noch immer.

Unten an der Leiter stand die Mutter, athemlos, von Sinnen, von all dem Unerwarteten berauscht, unmittelbar aus der Hölle hinabgeschleudert ins Paradies. Auch die Ueberfülle der Wonne reißt das Herz in Stücke. In ihren weit ausgestreckten Armen empfing sie zuerst Gros-Alain, dann René-Jean, dann Georgette; sie bedeckte sie, ohne sie mehr von einander unterscheiden zu können, mit Küssen, brach in ein krampfhaftes Gelächter aus und fiel ohnmächtig zu Boden.

– Gerettet, Alle! donnerte es in die Weiten.

Gerettet waren in der That Alle, mit Ausnahme des Greises. Aber an den dachte kein Mensch, vielleicht er selber am Wenigsten.

Er blieb eine Zeit lang sinnend am Fenster stehen, als wolle er dem flammenden Schlund eine Frist geben, um sich zu entscheiden. Dann schwang er sich ohne jegliche Hast, gemächlich und stolz, auf das Gesims und stieg ohne umzuschauen, aufrecht gegen die Sprossen gelehnt, die Feuersbrunst hinter sich und dem Abgrund zugewendet, mit der stummen Majestät eines Phantoms allmälig an der Leiter herab. Wer noch darauf stand, eilte hinunter. Alle Anwesenden überlief ein Schauer, und wie vor einem übermenschlichen Gesicht wich Jedermann vor dem niederschreienden Greis in heiliger Scheu zurück. Feierlich tauchte er immer tiefer in die Finsterniß, die sich unter ihm dehnte, und näherte sich der vor ihm zurückfluthenden Menge. In seinen marmorblassen Zügen war kein Zucken, in seinem geisterhaften Auge kein Aufblitzen zu entdecken; mit jedem Schritt, den er jenen Männern entgegenthat, die in der Dunkelheit ihre starren Blicke auf ihn hefteten, erschien er größer; die Leiter bebte und stöhnte unter seinen gespenstischen Tritten, und man hätte ihn für die Statue des Kommandeurs halten können, der in die Gruft zurückkehrte.

0327

Dann stieg der Marquis, aufrecht gegen die Sprossen gelehnt, an der Leiter herab.

Als der Marquis unten angelangt war, als er den Fuß von der letzten Sprosse auf festen Boden gesetzt hatte, senkte sich eine Hand auf seine Schulter. Er drehte sich um.

– Ich verhafte Dich, sagte Cimourdain.

– Ich stimme Dir bei, sagte Lantmac.

Sechstes Buch

Nach dem Sieg der härteste Kampf

I.

Lantenac gefangen

Der Marquis war wirklich in die Gruft zurückgekehrt. Man führte ihn ab. Sofort wurde, unter Cimourdain’s strenger Aufsicht das ebenerdige in den Stein gehauene Verließ von La Tourgue geöffnet, eine Lampe, ein Krug Wasser, ein Kommislaib und ein Strohbündel hineingeschafft, und bevor noch eine Viertelstunde verflossen war, seitdem die Hand des Priesters den Marquis berührt hatte, schloß sich bereits hinter Lantenac die Thür seines Kerkers. Gleich darauf – es schlug in der Ferne auf dem Kirchthurm von Parigné gerade elf – begab sich Cimourdain zu Gauvain und sagte zu ihm: Ich werde ein Kriegsgericht einsetzen, ohne jedoch Dich beizuziehen. Du bist ein Gauvain und Lantenac ist ein Gauvain. Ihr seid zu nahe verwandt, als daß Du sein Richter sein könntest, und ich tadele es, daß Egalité über Capet mit abgeurtheilt hat. Das Kriegsgericht wird aus drei Richtern bestehen, einem Offizier, dem Hauptmann Guéchamp, einem Unteroffizier, dem Sergeanten Radoub, und mir, dem Präsidenten. Mit Allem, was von jetzt ab geschehen soll, hast Du Dich nicht zu befassen. Wir halten uns an den Beschluß des Konvents und werden ganz einfach die Identität des vormaligen Marquis von Lantenac feststellen. Morgen die Gerichtssitzung, übermorgen die Guillotine. Die Vendée ist todt.

Gauvain machte nicht die geringste Einwendung, und Cimourdain, von dieser seiner endgültigen Aufgabe völlig in Anspruch genommen, verließ ihn, denn es blieben noch Stunden zu bestimmen und Lokalitäten zu wählen. Wie Lequinio zu Granville, Tallien zu Bordeaux, Châlier zu Lyon, Saint-Just zu Straßburg, pflegte er bei den Hinrichtungen zugegen zu sein; diese Gewohnheit des Richters, dem Henker zuzuschauen, galt für ein gutes Beispiel und war von den dreiundneunziger Schreckensmännern den französischen Parlamenten und der spanischen Inquisition entlehnt worden.

Nicht minder in Anspruch genommen war auch Gauvain.

Vom Wald her blies ein rauher Wind. Gauvain überließ es Guéchamp, die nöthigen Befehle zu ertheilen, ging in sein Zelt am Waldsaum, auf dem Rasenplatz vor La Tourgue, und hüllte sich in seinen Mantel. Dieser Mantel war mit einer Kapuze versehen und mit jener einfachen Borte besetzt, in der die prunklos republikanische Auszeichnung der Korpskommandanten bestand. Dann wandelte er auf der blutigen Wiese, wo der Sturm auf La Tourgue begonnen hatte, auf und nieder. Er war ganz ungestört. Das Feuer, dem nunmehr keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, brannte weiter. Radoub war bei den Kindern und der Mutter, fast ebenso mütterlich wie diese. Das Brückenschlößchen war beinahe vernichtet; die Sappeurs isolirten nur noch den Gluthherd. Man warf Gruben auf für die Todten, verband die Verwundeten, riß die Barrikade nieder, entfernte die Leichen aus den Gemächern und von den Treppen, reinigte den Schauplatz des Gemetzels und schaffte den fürchterlichen Kehricht des Sieges bei Seite. Die Soldaten besorgten mit militärischer Hurtigkeit, was man das Hauswesen einer beendigten Schlacht nennen könnte. Aber von dem Allen sah Gauvain nichts. Kaum daß er, aus seiner Träumerei heraus, einen Blick auf den Wachtposten vor der Bresche warf, der auf Cimourdains Befehl verdoppelt worden war. Der Wiesenfleck, wo er gewissermaßen eine Zuflucht gesucht hatte, lag etwa hundert Schritt von der Bresche, deren schwarzen Schlund er in der Dunkelheit unterscheiden konnte. Dort hatte vor drei Stunden der Angriff begonnen; dort war Gauvain in den Thurm eingedrungen; dort befand sich der Saal, wo die Barrikade gestanden; jener Saal führte in den Kerker des Marquis, welcher durch den Wachtposten der Bresche bewacht wurde, und jedes Mal, wenn Gauvains Blick diese Bresche streifte, tönte ihm wie Grabgeläute ein verworrener Nachhall der Worte ins Ohr: »Morgen die Gerichtssitzung, übermorgen die Guillotine.«

Die Feuersbrunst, wiewohl begrenzt und durch die Sappeurs mit allem verfügbaren Wasser begossen, erlosch nicht ohne Widerstand und wirbelte stellenweise noch Flammen auf; hin und wieder hörte man das Gekrach des Gebälks und der aufeinander einstürzenden Stockwerke, und dann sprühte das Schlößchen, wie eine geschwungene Fackel, ganze Wirbel von Funken; der äußerste Horizont erglänzte wie bei einem Blitzstrahl und La Tourgue warf plötzlich einen riesenhaften Schlagschatten bis zum Waldsaum hinüber.

Gauvain, der langsamen Schritts in der Dunkelheit vor der Bresche auf und abging, kreuzte zuweilen beide Hände hinter der Kapuze seines Soldatenmantels, die er über den Kopf geschlagen hatte, und sann.

II.

Gauvain in Gedanken

Es war ein unergründlich tiefes Hinbrüten; hatte doch eine unerhörte Verwandlung soeben stattgefunden. Der Marquis von Lantenac hatte sich verklärt, und diese Verklärung hatte Gauvain mit angesehen. Nie hätte er geglaubt, daß irgend welche Verwickelung von Umständen dergleichen Dinge mit sich bringen könne, und nie, selbst im Schlaf nicht, geahnt, daß so etwas möglich sei. Das Unerwartete, dieses unbestimmte, mit den Menschen spielende herrische Walten, hatte ihn erfaßt und hielt ihn fest. Unter seinen Augen war das Unmögliche, Sichtbare, Greifbare, Unvermeidliche, Unerbittliche Wirklichkeit geworden. Wie stellte sich nun er, Gauvain, zu dieser Thatsache? Nicht Ausflüchte zu suchen galt es hier; es galt, einen Schluß zu ziehen. Es war eine Frage an ihn gerichtet worden, welcher er nicht ausweichen durfte, und wer richtete diese Frage an ihn? Die Ereignisse, und die Ereignisse nicht allein, denn wenn die wandelbaren Ereignisse anfragen, steht die unwandelbare Gerechtigkeit dahinter und fordert Antwort. Hinter der Wolke, die ihren Schatten auf uns wirft, leuchtet der Stern, und wir können, uns dem Licht ebenso wenig entziehen wie dem Schatten.

Gauvain bestand ein Verhör. Er erschien vor einem Richter, einem furchtbar strengen Richter: seinem eigenen Gewissen. Er empfand ein innerliches Taumeln; seine festesten Vorsätze, seine bestimmtesten Versprechungen, seine unwiderruflichsten Entschlüsse, das Alles kam in den Grundfesten seiner Willenskraft in ein Wanken. Wie Erdbeben, so giebt es auch Seelenbeben. Je mehr er dem Gesehenen nachgrübelte, desto tiefer wühlte sich die Umwälzung. Ihm, der als Republikaner das Wahre erfaßt zu haben glaubte und auch erfaßt hatte, erschien nun urplötzlich eine höhere Wahrheit, über der politischen Idee die rein menschliche. Was in ihm vorging, ließ sich nicht bemänteln; der Thatbestand fiel schwer ins Gewicht; Gauvain, der in diesen Thatbestand mit verflochten war, konnte sich nicht zurückziehen, und trotz Cimourdains Versicherung: »Mit Allem, was von jetzt ab geschehen soll, hast Du Dich nicht zu befassen«, fühlte er in seinem Innern etwas Aehnliches wie ein Baum, der von seiner Wurzel losgerissen wird. Jeder Mensch hat eine Grundlage, und jede Erschütterung dieser Grundlage versetzt den Menschen in namenlose Verwirrung; diese Verwirrung war über Gauvain gekommen, und er drückte beide Hände gegen seine Stirn, als wolle er das Richtige daraus hervorpressen.

Eine solche Situation klar zusammenzufassen war kein Leichtes; es gab sogar nichts Schwereres; großmächtige Zahlen ragten vor ihm auf, aus denen er eine Summe ziehen sollte; ein ganzes Schicksal zusammen addiren, wem schwindelt davor nicht? Er machte den Versuch; er rang nach Aufklärung; er mühte sich ab, seine Gedanken zu sammeln, das oder jenes heimliche Widerstreben zu überwältigen, die Thatsachen der Reihe nach zu prüfen und sie sich selber zu erläutern.

Wer hat sich nicht schon einen Selbstbericht erstattet und ist nicht, an Wendepunkten seines Lebens, mit sich zu Rath gegangen, um sich einen Weg. für den Vorstoß oder für den Rückzug vorzuzeichnen?

Gauvain hatte etwas Unerklärliches geschaut. Gleichzeitig mit dem irdischen Kampf war ein himmlischer ausgefochten worden, der Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen; in diesem Kampf war ein steinern Herz überwunden worden, und wenn man alle Verdüsterungen dieses Herzens in Betracht zieht, die Gewaltthätigkeit, die Selbsttäuschung, die Blindheit, die krankhafte Verstocktheit, den Hochmuth, die Eigenliebe, so war hier wirklich ein Wunder geschehen: der Sieg der Menschheit über den Menschen. Das Menschliche hatte über das Unmenschliche triumphirt. Und wie hatte es einen Riesen an Zorn und Haß niedergeworfen? Durch welche Mittel? Mit welchen Waffen, welcher Kriegsmaschine? Durch eine bloße Kinderwiege.

Gauvain war wie durch ein Meteor geblendet. Mitten im sozialen Kampf, im Auflodern aller Feindseligkeiten und Rachegelüste, im dunkelsten, wildesten Moment des Aufeinanderprallens, in der Stunde, wo das Verbrechen in seinen hellsten Flammen und der Haß in seiner vollsten Finsterniß aufging, in diesem Augenblick der Schlacht, wo Alles zur Waffe wird und wo das Handgemenge so verhängnißwuchtig tobt, daß man nicht mehr weiß, auf welcher Seite die Gerechtigkeit, die Ehrlichkeit, die Wahrheit zu suchen sind, hatte das unbekannte Etwas, der geheimnißvolle Seelenmahner, über dem menschlichen Licht- und Schattenwiderstreit, urplötzlich den großen ewigen Strahlenborn leuchten lassen. Ueber dem düstern Zweikampf des Falschen und des nur bedingt Richtigen war mit einem Mal, in tiefster Ferne, das Antlitz der Wahrheit erschienen und die Macht der Schwachen zum Durchbruch gekommen. Man hatte drei armselige, kaum geborene, kaum ihrer selbst bewußte, verlassene, verwaiste, vereinsamte, stammelnde, lächelnde Wesen den Sieg davontragen sehen über den Bürgerkrieg, über die systematische Wiedervergeltung, über die gräßliche Logik der Gegenwehr, über den gewaltsamen Tod, das Gemetzel, den Brudermord, die Raserei, den verbissenen Groll, kurz über alle Gorgonen; man hatte eine verruchte, zu einem Verbrechen gedungene Feuersbrunst mißlingen und fehlschlagen gesehen, gesehen, wie ein unmenschlicher Vorbedacht entwaffnet und vereitelt wurde, gesehen, wie die überlieferte Grausamkeit des Mittelalters, die alte unerbittliche Menschenverachtung, die erfahrungsmäßigen angeblichen Nothbehelfe der Kriegführung mitsammt der Staatsräson und den eingefleischten, angemaßten Vorurtheilen eines grausamen Greisenthums in nichts zerstoben waren vor dem blauen Blick Solcher, die noch nicht gelebt hatten: eigentlich ein natürlicher Vorgang, denn wer noch nicht gelebt hat, hat auch noch nicht gesündigt; er ist die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die weiße Reinheit, und in den kleinen Kindern verkörpern sich die Engel des Himmels.

Ein nutzbringend Schauspiel, ein guter Rath, eine Lehre war’s für die maßlosen Kämpfer eines unbarmherzigen Kampfes, plötzlich zu sehen, wie sich im Angesicht all der Unthaten, all der Frevel, all der Parteiwuth, der Blutgier, der scheiterhaufenanfachenden Rache, des fackelschwingenden Todes die Allmacht der Unschuld über die unzählige Legion von Greueln erhob. Und die Unschuld hatte gesiegt. Und jetzt konnte man sagen: Nein, es giebt keinen Bürgerkrieg, es giebt keine Barbarei, giebt keinen Haß, kein Verbrechen, keine Finsterniß mehr, dies Heer von Unholden zu zerstreuen genügte ein einzig Morgenroth: die Kindheit.

0335

In keinen Kampf, niemals, hatte sowohl das Göttliche wie das Teuflische sichtbarlicher eingegriffen. Der Kampfplatz war ein Gewissen gewesen, das Gewissen Lantenacs, und nun brach, noch heißer und noch entscheidender, in einem andern Gewissen der Kampf los, in Gauvains Gewissen. Ein Mensch, welch ein Schlachtfeld! Göttern, Ungeheuern und Riesen sind wir preisgegeben, unsern eigenen Gedanken, und diese wilden Ringer, wie oft zerstampfen sie uns die Seele!

Immer tiefer versank Gauvain in sein Grübeln.

Der Marquis von Lantenac, eingeschlossen, bestürmt, verurtheilt, in Bann und Acht, festgekeilt wie ein Löwe in der Arena, wie der Nagel in der Zange, in seiner kerkergewordenen Höhle gefangen und allenthalben bedrängt von einer feurigen Eisenmauer, hatte ihr zu entrinnen vermocht; er war wie durch ein Wunder entkommen; ihm war ein Meisterstück gelungen, in einem solchen Krieg das schwerste unter allen, die Flucht. Er hatte wieder Besitz ergriffen von seinem Wald, um sich darin zu verschanzen, von der ganzen Umgegend, um darin zu kämpfen, von der Finsterniß, um darin zu verschwinden. Er war der schreckenverbreitende Auf- und Niedertaucher wieder, der düstere Irrfahrer, das Oberhaupt der Unsichtbaren, der Anführer der unterirdischen Männer, der Herr der Wälder. Gauvain hatte den Sieg, Lantenac aber seine Freiheit errungen. Er hatte fortan die vollste Sicherheit, den unbegrenzten Raum, die unerschöpfliche Wahl seiner Schlupfwinkel vor sich; er war ungreifbar, unentdeckbar, unerreichbar; der gefangene Löwe war der Falle entsprungen und in diese Falle war er zurückgekehrt, hatte freiwillig, aus eigenem Antrieb, willkürlich, den Wald und den Schatten und die Geborgenheit und das Asyl seiner Freiheit verlassen, um sich tollkühn in die entsetzlichste Gefahr zu begeben, ein erstes Mal, als er sich in das Gebäude stürzte, das ihn mit dem Untersinken in den Flammen bedrohte, und dann noch ein zweites Mal, als er an jener Leiter hinabstieg, die ihn seinen Feinden überantwortete und die, eine Rettungsleiter für die Anderen, für ihn die Leiter zum Grab war. Und weshalb hatte er das Alles gethan? Um drei Kinder dem Tode zu entreißen. Und was wollte man jetzt mit diesem Mann beginnen? Ihm den Kopf vor die Füße legen. Für drei Kinder – waren es seine Kinder? Nein; gehörten sie wenigstens seiner Familie an? Nein; seiner Kaste? – Nein – für die drei Kinder einer Bettlerin, die nächstbesten, für unbekannte, zerlumpte, halbnackte Findlinge hatte dieser Edelmann, dieser Fürst, dieser Greis, der Gerettete, der Befreite, der Sieger – denn solch ein Entrinnen ist ein Triumph – Alles gewagt, Alles aufs Spiel gesetzt, Alles wieder in Frage gestellt und hatte, in demselben Augenblick, da er die Kinder zurückgab, seinen bis dahin verhaßten, nunmehr aber verehrungswürdigen Kopf mit gebieterischer Ueberlegenheit zurückgebracht und dem Henker angeboten. Und was geschah jetzt? Das Gebotene war angenommen worden. Lantenac hatte die Wahl gehabt zwischen fremdem Leben und zwischen seinem eigenen und hatte sich majestätisch für seinen Tod entschieden. Und den wollte man ihm jetzt zuerkennen, ihm den Tod zur Belohnung seines Heldenthums, wollte auf eine hochherzige That mit einer barbarischen antworten und der Revolution diese Blöße geben! Wie klein müßte da die Republik erscheinen neben dem Marquis! Während der Mann der Vorurtheile und der Unterdrückung, plötzlich umgewandelt, in die Menschheit zurückkehrte, sollten sie, die Männer der Befreiung und der Unabhängigkeit, im Bürgerkrieg verharren, in der Routine des Blutvergießens, im Brudermord! Das göttliche Gesetz der Vergebung, der Selbstverleugnung, der Erlösung, der Opferfreudigkeit sollte also den Verfechtern des Irrthums heilig sein und den Soldaten der Wahrheit nicht! Wie? Sollte man etwa an Großmuth hinter dem Gegner zurückbleiben? Diese Niederlage über sich ergehen lassen? In der Vollkraft sich als der schwächere Theil erweisen, siegreich morden und die Behauptung möglich machen, es ständen auf der Seite der Monarchie Die, welche die Kinder retten, und Die, welche Greise umbringen, seien unter den Republikanern zu suchen? Dieser tapfere Soldat, dieser gewaltige Achtziger, dieser entwaffnete, eher geraubte als gefangene Feind, mitten aus einer edlen That herausgerissen, mit seiner eigenen Erlaubniß festgenommen, noch mit den Schweißperlen einer erhabenen Opferthat auf der Stirn, sollte die Stufen des Schaffotts hinansteigen, wie man hineinsteigt zur Apotheose? An das Fallbeil sollte dieses Haupt ausgeliefert werden, von den bittenden drei Seelen der geretteten kleinen Engel umschwebt? Und bei dieser Selbsterniedrigung seiner Henker sollte Lantenacs Antlitz lächeln und das Antlitz der Republik erröthen? Und in seinem, Gauvains, des Befehlshabers, Beisein sollte das geschehen? Und er, der es verhindern konnte, sollte sich nicht rühren, sich zufrieden geben mit der stolzen Abfertigung: »Mit dem, was von jetzt ab geschehen soll, hast Du Dich nicht zu befassen?« Würde er nicht zu sich selber sagen müssen, daß in solchen Fällen eine Abdankung die Mitschuld ist? Und müßte er sich nicht eingestehen, daß der, welcher eine so ungeheuerliche That zuläßt, noch verwerflicher handelt, als der sie vollbringt, weil er nebenbei noch die Rolle des Feiglings spielt?

Aber hatte er nicht bereits versprochen, den Tod des Marquis herbeizuführen? Hatte er, Gauvain, der Mann der Milde, nicht erklärt, daß Lantenac als Ausnahme außer dem Bereich der Milde stehe und daß er ihn Cimourdain überantworten werde? Diesen Kopf war er schuldig; er zahlte ganz einfach seine Schuld ein. Aber war es denn auch noch derselbe Kopf? Bis jetzt hatte Gauvain in Lantenac lediglich den barbarischen Gegner gesehen, den fanatischen Vorkämpfer des Königthums und der Feudalzustände, den Schlächter der Gefangenen, den durch den Bürgerkrieg losgelassenen Mörder, den Blutmenschen, und jenen Menschen fürchtete er nicht; gegen den Wütherich konnte er wüthen, dem Unversöhnlichen die Unversöhnlichkeit entgegensetzen. So wäre die Sache äußerst einfach und der vorgeschriebene Weg mit düsterer Leichtigkeit einzuhalten gewesen; den Tödtenden tödten war weiter nichts als die gerade Linie des Gräßlichen. Jetzt aber war diese gerade Linie ganz unvermuthet unterbrochen worden und hinter ihrer Krümmung that sich, wie durch eine Offenbarung, ein neuer Gesichtskreis auf. Der unbekannte, verwandelte Lantenac betrat die Bühne. Dem Ungeheuer entstieg ein Held, ja, mehr noch als ein Held, ein Mensch, und mehr noch als eine Seele, ein Gemüth. Gauvain hatte keinen Würger mehr, einen Retter hatte er vor sich. Er war niedergeworfen durch einen himmlischen Lichtstrom; Lantenac hatte ihm einen Donnerschlag der Güte ins Herz geschmettert.

Und dieser verklärte Lantenac sollte Gauvain nicht auch verklären? Was? Auf diesen Strahlenstoß sollte kein Rückstoß erfolgen? Der Mann der Vergangenheit sollte voran- und der Mann der Gegenwart zurückschreiten? Der Mann der Grausamkeit und des Aberglaubens sollte, auf plötzlich ausgebreiteten Schwingen einherschwebend, den Mann des Ideals von oben herab im Staub und in der Nacht kriechen sehen, weiterkriechen im ausgefahrenen Geleise der Rohheit, indessen er, Lantenac, in den Lüften hinsegelte, erhabenen Begegnungen zu?

Und dann noch dies Andere: die Familie! Das Blut, das Gauvain vergießen sollte – denn es vergießen lassen, hieß es selber vergießen – war es nicht sein eigenes? Sein Großvater war gestorben, aber sein Großonkel lebte, und dieser Großonkel war der Marquis. Mußte derjenige der beiden Brüder, der im Grab lag, nicht daraus hervorsteigen, um zu verhindern, daß der andere hinabgestoßen werde? Mußte er nicht seinem Enkel befehlen, fortan diese Krone von weißem Haar, die Schwester seiner eigenen Strahlenkrone, zu ehren, und blitzte nicht zwischen Gauvain und Lantenac der Entrüstungsblick eines Todten? Hatte die Revolution denn die Entartung der Gemüther zum Zweck? War sie gemacht worden, um die Bande der Familie zu sprengen und alles menschliche Fühlen zu ersticken? Im Gegentheil, 89 war ja über der Welt aufgegangen, um diese höchsten Wahrheiten zur Geltung zu bringen und nicht, um sie zu verneinen, denn die Bastillen niederwerfen, heißt die Menschheit befreien, die Feudalherrschaft abschaffen, heißt die Familie begründen. Da der Urheber der Ausgangspunkt der Autorität ist, und da die Autorität dem Urheber innewohnt, giebt es keine andere Autorität als die des Vaters; daher die berechtigte Herrschaft der Bienenkönigin, die ihr Volk gebiert und ihre Königswürde der Mutterschaft entlehnt; daher der Widersinn des Menschenkönigs, der, ohne der Vater zu sein, dennoch der Herr sein will; daher die Absetzung dieses Königs; daher die Republik. Was ging aus dem Allen hervor? Die Familie, die Menschheit, die Revolution. Die Revolution war die Thronbesteigung der Völker und im Grund ist das Volk nichts anderes als das Individuum. Die Frage war so gestellt, ob jetzt, da Lantenac in die Menschheit zurückgekehrt war, Gauvain seinerseits nicht in die Familie zurückkehren werde; die Frage war, ob Oheim und Neffe sich in der höheren Lichtregion zusammenfinden sollten oder ob dem Fortschreiten des Oheims ein Rückschritt des Neffen entsprechen müsse. Auf diese Frage also lief Gauvains erregte Auseinandersetzung mit seinem Gewissen hinaus, und die Antwort schien sich von selber zu ergeben: Rettung für Lantenac.

Wohl, aber Frankreich?

Hier wechselte das schwindelnde Problem plötzlich die Gestalt. Wie? Frankreich lag in den letzten Zügen! Frankreich stand offen, ausgesetzt, ohne Bollwerk; es hatte keinen Wallgraben mehr: Deutschland drang über den Rhein; es hatte keine Mauern mehr: Italien stieg über die Alpen und Spanien über die Pyrenäen. Ihm blieb nur der große Schlund des Ozeans, nur den Abgrund hatte es noch für sich. Dem den Rücken zuwendend, konnte es freilich, auf seine Meere gestützt, dem ganzen Festland die Stirne bieten. Eigentlich war diese Stellung unüberwindlich. Aber nein, diese Stellung war im Rücken bedroht. Dieser Ozean gehört Frankreich nicht mehr. Auf diesem Ozean hausten die Engländer. England wußte allerdings nicht, wie es hinüberkommen sollte, doch siehe da! Es fand sich ein Mann, der ihm eine Brücke bauen wollte, ein Mann, der ihm die Hand reichte, ein Mann, der zu Pitt, zu Craig, zu Cornwallis, zu Dundas, zu den Piratenschiffen sagte: Kommt! Ein Mann, der eben hinüberschreien wollte: Da, England, nimm Frankreich hin! Und dieser Mann war der Marquis von Lantenac und diesen Mann hielt man fest. Nach drei Monaten der Hartnäckigkeit, der Verfolgung, der Hetzjagd, war man seiner endlich habhaft geworden. Gerade war auf den Fluchbeladenen die Hand der Revolution niedergefahren; die zusammengekrampfte Faust von 93 hatte den royalistischen Henker beim Kragen gefaßt, und durch eine Fügung jenes geheimnißvollen Vorbedachts, der von oben herab in die irdischen Ereignisse eingreift, erwartete just in seinem eigenen Stammkerker dieser Muttermörder die Strafe, der mittelalterliche Mensch im mittelalterlichen Burgverließ; die Steine seines Kastells standen wider ihn auf und schlossen sich über ihm, und der sein Vaterland gefangen geben wollte, wurde selber gefangen gegeben durch sein Haus. Das Alles hatte Gott augenscheinlich also angeordnet; die Stunde der Gerechtigkeit hatte geschlagen; die Revolution hatte diesen öffentlichen Widersacher festgenommen; er konnte nicht mehr kämpfen, nicht mehr handeln, nicht mehr schaden; in jener Vendée, die über so viele Arme gebot, war er der einzige Kopf; mit ihm ging der Bürgerkrieg zu Ende; er war gefangen und damit Alles zum tragisch glücklichen Abschluß gekommen; nach so vielen Blutszenen und Metzeleien saß er hinter Schloß und Riegel, und sterben sollte nun auch Der, welcher getödtet hatte. Und dieser Mann hätte einen Retter finden sollen? Cimourdain, das heißt 93, hielt Lantenac, das heißt die Monarchie, in seiner Faust und es sollte sich eine Hand rühren, um der eisernen Kralle diese Beute zu entreißen? Lantenac, derjenige, in dem sich jene Garbe von Plagen zusammenflocht, die man die Vergangenheit nennt, der Marquis von Lantenac lag im Grab; die schwere Pforte der Ewigkeit schlug hinter ihm zu, und es sollte Jemand nahen und von außen den Riegel wieder wegschieben? Dieser soziale Uebelthäter war todt und mit ihm der Aufruhr, der brudermörderische Kampf, der unmenschlich geführte Krieg, und ihn sollte Jemand zurückrufen ins Leben? O wie würde der Todtenkopf dazu lachen! Recht so, würde dieses Gespenst grinsen, da habt ihr mich wieder, ihr dummen Tröpfe! Und wie würde er dann wieder an seine verruchte Arbeit gehen! Mit welcher freudigen Unversöhnlichkeit würde er sich wieder in den Pfuhl des Hasses und der Kriegswuth stürzen! Wie würden, schon am nächsten Tag, die Häuser in Brand gesteckt, die Gefangenen hingeschlachtet, die Verwundeten niedergemacht, die Weiber erschossen werden!

Und jene That, die Gauvain also blendete, maß er ihr denn auch wirklich keinen übertriebenen Werth bei? Drei Kinder waren verloren, und Lantenac hatte sie gerettet. Aber weshalb waren sie verloren? Waren sie’s nicht durch Lantenacs Schuld? Wer hatte jene Wiegen jener Feuersbrunst ausgesetzt? War’s nicht der Imânus? Und was war der Imânus? Das Werkzeug des Marquis. Verantwortlich ist der Befehlshaber. Der Mordbrenner war also kein Anderer als Lantenac. Was hatte er demnach so Bewundernswerthes gethan? Nichts, als daß er von seinem Vorsatz abließ. Nachdem er das Verbrechen zur Hälfte begangen, war er davor zurückgebebt, hatte sich selber Abscheu eingeflößt. Der Schrei der Mutter hatte jenen Rest von angestammtem menschlichen Mitleid in ihm aufgerührt, der als eine Art Ablagerung des allgemeinen organischen Lebens jeder Seele, sogar der ungeheuerlichsten, innewohnt. Bei jenem Schrei hatte er sich umgewendet und war aus der Nacht, in der er sich verlor, zum Licht zurückgekehrt und hatte die Wirkung seines Verbrechens aufgehoben. Sein ganzes Verdienst bestand lediglich darin, daß er nicht bis zum Schluß der Unmensch gewesen.

Und für ein so geringes Verdienst sollte man ihm Alles wiedergeben? Den offenen Raum, die Gefilde, die Ebenen, die Lüfte, den Tag, den Wald ihm wiedergeben, daß er ihn für seine rebellischen Zwecke, die Freiheit, daß er sie zur Knechtung, die Existenz, daß er sie zur Vertilgung anderer ausnütze?

Oder konnte man etwa einen Versuch machen, sich mit ihm zu verständigen, mit seiner gebieterischen Seele zu unterhandeln, ihm bedingungsweise die Befreiung vorzuschlagen, ihn zu fragen, ob er sein Leben mit dem Versprechen erkaufen wolle, sich fortan jeder weiteren Auflehnung und Feindseligkeit zu enthalten? Wie verfehlt wäre solch ein Anerbieten gewesen und welch ein Triumph für ihn! Und mit welch stolzer Geringschätzung könnte er dem Fragenden die Antwort ins Angesicht schlagen: Die Entwürdigungen behaltet für Euch und tödtet mich!

Mit diesem Mann war in der That nichts Anderes zu beginnen, als ihn zu tödten oder zu befreien. Bei ihm gipfelte sich Alles; er war stets bereit, zu entschweben oder sich zu opfern; er war der Adler und der Abgrund seiner selbst, ein psychisches Räthsel. Ihn tödten, welch ein Alp! Ihn befreien, welch eine Verantwortung! War Lantenac frei, so mußte in der Vendée Alles wieder von Neuem begonnen werden; von Neuem mußte man ringen mit dem Lindwurm, dem man den Kopf nicht abgeschlagen. In einem Nu, wie der Blitz, würde die verglimmende Flamme beim ersten Wiedererscheinen dieses Mannes aufflackern, und dieser Mann würde nicht eher ruhen, als bis ihm sein fluchwürdiger Plan gelungen, demzufolge, wie ein Sargdeckel, die Monarchie über die Republik und England über Frankreich geschraubt werden sollte. Lantenac retten, hieß Frankreich opfern; Lantenacs Leben bedeutete den Tod einer Menge von unschuldigen, dem Bürgerkrieg aufs Neue anheimfallenden Wesen, Frauen und Kinder so gut wie Männer; es bedeutete die Landung der Engländer, den Rückprall der Revolution, die Verwüstung der Städte, ein zerfleischtes Volk, eine verblutende Bretagne, ein der Klaue zurückerstattetes Opfer. Und mitten in einem Meer von verworrenen Lichterscheinungen und durcheinander gekreuzten Strahlen sah Gauvain, wie sich allmälig vor seiner hinträumenden Seele das Problem abklärte und aufrichtete: Freigebung des Tigers.

Und dann trat die Frage wieder in ihrer ersten Gestalt an ihn heran; der Sisyphosblock, das Sinnbild des inneren Widerstreits im Menschen, rollte wieder zurück. War Lantenac denn auch wirklich der Tiger? Er mochte ein Tiger gewesen sein; aber war er auch jetzt noch einer? Gauvain empfand die peinlich schwindelnden Windungen des Gedankens, der wie die Schlange in sich selber zurückschnellt. Ließ sich denn schließlich auch nach redlichster Prüfung die Opferthat Lantenacs, seine stoische Selbstverleugnung, seine majestätische Uneigennützigkeit in Abrede stellen? Vor dem aufgerissenen Rachen des Bürgerkrieges der Humanität huldigen, in den Konflikt der untergeordneten Wahrheiten die höhere Wahrheit schleudern, den Beweis führen, daß es über den Königsthronen, über den Revolutionen, über den irdischen Streitfragen noch das endlos zärtliche Hinschmelzen der Seele giebt, die Pflicht der Starken, den Schwachen zu beschützen, die Rettungspflicht der Geretteten gegen die Rettungsbedürftigen, die Vaterpflicht aller Greise gegen alle Waisen – diese Herrlichkeiten zur Geltung bringen und das eigene Haupt dafür einsetzen, General sein und auf den Krieg, auf die Schlachten, auf die Revanche verzichten, Royalist sein und zu einer Wage greifen und auf die eine Schale den König von Frankreich, eine fünfzehnhundertjährige Monarchie, die wiederherzustellenden alten Gesetze, die wiedereinzuführende alte gesellschaftliche Ordnung und auf die andere Schale die nächstbesten drei Bauernkinder legen und den König, den Thron, das Scepter, die fünfzehn Jahrhunderte leicht befinden gegen eine dreifache Unschuld – das Alles sollte so viel sein wie nichts, und Der dies vollbracht, sollte der Tiger bleiben und als Bestie ausgerottet werden? Nein, zehnmal nein! Ein Unmensch war es nicht, der soeben noch den Abgrund des Bürgerkrieges mit dem Strahl einer göttlichen That erhellt hatte! Aus dem Schwertschwinger war ein Lichtspender geworden; der Höllenfürst war wieder Lucifer der Engel. Durch sein Opfer hatte sich Lantenac von allen früher verübten Greueln losgekauft; er hatte sich durch seinen zeitlichen Untergang moralisch gerettet, hatte sich eine neue Unschuld erkämpft, hatte seine eigene Begnadigung unterschrieben, denn es besteht ein Recht der Selbstverzeihung, und von nun an war Lantenac ehrwürdig. Er hatte das Außerordentliche bereits geleistet, und nun kam die Reihe an Gauvain; Gauvain war ihm die Antwort schuldig. Der Widerstreit der edlen und unedlen Leidenschaften hatte dermalen die Welt in ein Chaos zurückgestoßen und diesem hatte Lantenac die Humanität abgerungen; Gauvain fiel nun die Aufgabe zu, dem Chaos noch ein Zweites abzuringen, die Familie. Was mußte geschehen? Konnte Gauvain unterlassen, was Gott selber ihm zutraute? Nimmermehr, und aus seinem Tiefsten heraus flüsterte ihm eine Stimme zu: Retten wir Lantenac! – Nun denn, entgegnete eine andere, thue es nur, arbeite den Engländern nur in die Hände, desertire, lauf über zum Feind, rette Lantenac und werde zum Verräther am Vaterland!

Und er schauderte in sich zusammen.

O Du Träumer, Deine Lösung des Problems ist keine Lösung. – Vor Gauvain stieg in der Finsterniß, die ihn umgab, die düster lächelnde Sphinx auf. Seine Situation glich einem grauenhaften Kreuzweg, in den die widersprechenden Wahrheiten einmündeten und sich einander gegenüberstellten, und wo die drei höchsten Güter des Lebens einander anstarrten: die Menschheit, das Vaterland, die Familie. Jede dieser Wahrheiten ergriff der Reihe nach das Wort und der Reihe nach sagte jede etwas Richtiges. Wie sollte da gewählt werden? Eine um die andere schien den Berührungspunkt der Weisheit und der Billigkeit entdeckt zu haben und mahnte: So mußt Du handeln. Aber mußte wirklich so gehandelt werden? Ja und Nein. Die Vernunft rieth zu Dem, das Gefühl zu Jenem, und die beiden Rathschläge bildeten einen Gegensatz. Die Vernunft ist blos unser Hirn und geht vom Menschlichen aus; das Gefühl ist oft das Gewissen der Weltseele und geht demnach aus vom Uebermenschlichen. Darum auch hat das Gewissen die mindere Klarheit, aber die größere Macht. Und dennoch, was liegt in der strengen Vernunft nicht für eine Gewalt! Gauvain schwankte in grausamer, Rathlosigkeit zwischen zwei Abgründen hin und her: den Marquis verderben oder ihn retten. In einen von beiden mußte er sich stürzen; aus welchem von beiden aber rief die Pflicht?

III.

Der Mantel des Kommandanten.

Die Pflicht und abermals die Pflicht: vor Cimourdain stieg sie düster, vor Gauvain bedrohlich empor, einfach vor Jenem und vor Diesem vielseitig, widerspruchsvoll, verwickelt.

Mittlerweile hatte es Zwölf und Eins geschlagen.

Ohne daß er es merkte, hatte sich Gauvain allmälig der Bresche genähert.

Die Feuersbrunst war zu einer sterbenden Gluth verglommen, deren Widerschein auf das gegenüberliegende Plateau fiel und es in den Zwischenräumen, wo der Rauch sie nicht umwölkte, matt erhellte. Dieser stoßweise auflebende und plötzlich wieder erlöschende Schimmer gab den Gegenständen ein unverhaltnißmäßiges Aussehen und die Schildwachen des Lagers tauchten wie Gespenster darin auf. Aus seiner Traumwelt heraus folgte zuweilen Gauvains Blick mechanisch diesem Untergehen des Qualms im Aufleuchten und des Aufleuchtens im Qualm. Das Auf- und Abwogen der Gluth entsprach einigermaßen der innern Fluth und Ebbe seiner Seele.

Plötzlich warf zwischen dem Aufwirbeln zweier Rauchwolken ein davonfliegender Feuerbrand des verglimmenden Gluthherdes ein grelles Licht auf die höchste Stelle des Plateaus und beschien dort mit röthlichem Glanz die Umrisse eines Karrens. Gauvain schaute hinüber. In diesem Karren, um welchen berittene Gendarmen hielten, glaubte er das Fuhrwerk wiederzuerkennen, das er vor einigen Stunden, bei Sonnenuntergang, durch Guechamp’s Fernrohr betrachtet hatte. Es standen Menschen darauf, die etwas abzuladen schienen, und zwar etwas Schweres, das hin und wieder dumpf durcheinander klirrte; was es eigentlich war, hätte sich schwerlich bestimmen lassen; dem Aussehen nach mochte es wohl Balkenwerk sein. Zwei von den Männern schafften eben eine dreieckige flache Kiste herab, die auf die Erde gestellt wurde. Da erlosch der Feuerbrand und Alles verschwamm wieder im Dunkeln. Nachdenklich starrte Gauvain noch immer hinüber nach dem Plateau, auf dem Laternen angezündet worden waren und undeutliche Gestalten ab und zugingen, die Gauvain, von unten und diesseits der Schlucht, nur dann wahrnahm, wenn sie zum äußersten Rand des Plateaus vortraten. Man hörte auch Stimmen, konnte jedoch keine Worte unterscheiden. Hier und da ertönte es wie von Hammerschlägen auf Holz oder gab jenen eigenthümlichen metallischen Klang, der das Wetzen einer Sense begleitet. Es schlug Zwei.

Langsam wie Einer, der nach zwei Schritten vorwärts am liebsten drei andere wieder rückwärts thun möchte, ging Gauvain auf die Bresche zu. Als er näher kam, erkannte ihn die Schildwache trotz der Dunkelheit an der

goldenen Borte seines Mantels und präsentirte das Gewehr. Nun trat Gauvain in den ebenerdigen Saal, der jetzt in eine Wachtstube umgewandelt worden; die Laterne, die von der Decke herunterhing, gab gerade so viel Licht, daß man durch das Gemach schreiten konnte, ohne über die am Boden auf Stroh ausgestreckten Soldaten des Postens zu stolpern, die fast alle schliefen. Da wo sie vor wenig Stunden noch gekämpft, schlummerten sie jetzt, zwar nicht gerade bequem, denn auf den mangelhaft gekehrten Steinplatten kam mancher noch auf ein von der Schlacht übrig gebliebenes Eisen- oder Bleigeschoß zu liegen; aber sie waren müde und rasteten wenigstens aus. Auf dieser gräßlichen Stätte des ersten Angriffs war gebrüllt, geheult, mit den Zähnen geknirscht, geschlagen, gewürgt, geröchelt worden; auf diesem Fußboden, der ihnen nun als Lager diente, waren gar viele der Ihrigen getroffen niedergestürzt; das Stroh, auf dem sie ruhten, trank das Blut ihrer Kameraden; jetzt war Alles vorüber, man hatte das Blut fortgespült, die Säbel abgewischt; die Todten waren todt und die Ueberlebenden friedlich eingeschlummert. So will es der Krieg. Und auch in der nächsten Nacht sollte ebenso friedlich geschlafen werden.

Als Gauvain erschien, erhoben sich Diejenigen, die blos dämmerten, und unter diesen der Kommandirende des Wachtpostens, vom Boden. Gauvain deutete nach der Kerkerthür und sagte: Machen Sie mir auf. Die Riegel wurden zurückgeschoben und Gauvain trat durch die geöffnete Thür ein, die sich sofort wieder hinter ihm schloß.

Siebentes Buch.

0343

Mittelalter und Neuzeit.

I.

Der Ahnherr.

Auf einer Steinplatte des Gefängnisses, neben der viereckigen Oeffnung des unterirdischen Verließes, brannte eine Lampe; weiter hinten war auch der Wasserkrug mit dem Kommisbrod und das Bündel Stroh. Da der Kerker in den Felsen gehauen war, wäre der Einfall, dieses Stroh in Brand zu stecken, dem Insassen übel bekommen, denn er hätte, ohne den geringsten Schaden anrichten zu können, unfehlbar im Rauch ersticken müssen.

Im Augenblick, wo sich die Thür in den Angeln drehte, schritt der Marquis in seinem Gefängniß auf und nieder, mit der mechanischen Unruhe des Löwen im Käfig. Beim Geräusch der auf- und zugehenden Pforte erhob er den Kopf, und die Lampe zwischen Gauvain und ihm leuchtete den Beiden von unten ins Gesicht. Sie schauten einander an, mit einem Blick, vor dem Jeder erstarrte. Dann brach Lantenac in schallendes Gelächter aus und rief: – Guten Tag, mein Herr. Es sind nun schon hübsch viele Jahre, daß mir das Glück nicht mehr zutheil geworden, mit Ihnen zusammen zu treffen. Sie haben die Gewogenheit, mir einen Besuch abzustatten. Ich danke Ihnen. Es kommt mir ganz erwünscht, ein klein wenig zu plaudern, denn ich war bereits auf dem besten Weg, mich zu langweilen. Ihre guten Freunde vergeuden die Zeit mit allerlei Weitschweifigkeiten, mit Feststellungen der Identität und Kriegsgerichten. Ich ginge rascher zu Werk. Bemühen Sie sich nur ganz herein – ich bin hier zu Hause. Nun, was sagen denn Sie zu Allem, was sich jetzt abspielt? Recht originell, nicht wahr? Es war einmal ein König und eine Königin; der König war der König; die Königin war Frankreich. Den König hat man enthauptet und die Königin mit Robespierre vermählt; dieser Herr und diese Dame haben eine Tochter bekommen, die man die Guillotine heißt und deren Bekanntschaft ich allem Anschein nach morgen früh machen werde. Es soll mir ein Vergnügen sein, gerade so vorzüglich, mein Herr, wie das, Sie hier bei mir zu sehen. Führt Sie etwa diese Angelegenheit her? Wären Sie wohl gar zum Henker avancirt? Wenn Sie mir hingegen einen bloßen Freundschaftsbesuch zugedacht haben, so bin ich unendlich gerührt. Sie wissen vielleicht nicht mehr, was ein Edelmann ist. Nun wohl, hier steht Einer: ich. Sehen Sie sich das sonderbare Ding nur an; das glaubt Ihnen an Gott; das glaubt an Althergebrachtes, glaubt an die Familie, an seine Vorfahren, an das Beispiel seines Vaters, an die Loyalität, an die Treue gegen den Landesherrn, an die Achtung vor den überlieferten Gesetzen, an eine Tugend, an eine Gerechtigkeit und das würde Sie mit Freuden füsiliren lassen. Aber bitte, gefälligst Platz zu nehmen, auf dem Stein zwar, denn in diesem Salon kann ich Ihnen keinen Fauteuil anbieten; doch wer im Unrath lebt, kann sich auch am Boden niedersetzen. Glauben Sie ja nicht, daß ich mit dieser Aeußerung eine beleidigende Absicht verbinde, denn was wir den Unrath nennen, das nennen Sie die Nation und von mir werden Sie doch schwerlich verlangen, daß ich mitrufe: Freiheit, Gleichheit, Verbrüderung. Wir stehen hier in einem alten Gemach meines Hauses; vor Zeiten sperrten die Herren die Hintersassen, jetzt sperren die Hintersassen die Herren hinein. Dergleichen Albernheiten heißt man eine Revolution. In sechsunddreißig Stunden soll mir auch, so scheint es, der Hals abgeschnitten werden. Ich sehe nicht ein, was ich daran aussetzen sollte. Nur hätte man wenigstens so höflich sein können, mir meine Dose herunterzuschicken, die ich droben im Spiegelzimmer ließ, wo Sie als kleines Kind oft gespielt haben und auf meinen Knieen geritten sind. Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen auch mittheilen, daß Sie den Namen Gauvain führen und daß sonderbarerweise edles Blut in Ihren Adern fließt, ja weiß Gott, dasselbe Blut wie in den meinen, und daß dies Blut aus mir einen Mann von Ehre macht und aus Ihnen etwas Anderes. Jeder hat seine Eigenheiten. Sie werden mir vielleicht bemerken, das sei nicht Ihre Schuld; nun, meine ist es auch nicht. Mein Gott, man kann ja ein Uebelthäter sein, ohne es zu wissen; das liegt an der Luft, in der man lebt, und in Zeiten, wie wir sie jetzt haben, ist man für sein Handeln keineswegs verantwortlich; die Revolution, die nimmt jede einzelne Nichtswürdigkeit auf ihre Kappe, und all Ihre großen Verbrecher sind die leibhaftige Unschuld. Einfaltspinsel sind’s! Sie zu allermeist. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Bewunderung ausspreche. Ja, ich bewundere einen Jungen, der wie Sie, von hoher Geburt, eine hervorragende Stellung im Staat einzunehmen und ein edles Blut zu vergießen hat für eine edle Sache, einen Vikomte von La Tour-Gauvain, einen bretonischen Fürsten, der von rechtswegen Herzog und von erbschaftswegen Pair von Frankreich sein könnte, so ziemlich Alles, was ein vernünftiger Mensch hienieden verlangen dürfte, und der seinen Spaß daran findet, dem, der er ist, zum Trotz der zu sein, der Sie sind, so daß er schließlich seinen Feinden als ein Bösewicht und seinen Freunden als ein Dummkopf erscheinen muß. Da fällt mir eben ein, empfehlen Sie mich doch auch dem Herrn Abbé Cimourdain.

Der Marquis sprach behaglich und gelassen, ohne irgend etwas besonders zu betonen, mit einer Salonstimme, mit klarem, ruhigem Blick und mit den Händen in den Westentaschen. Nachdem er innegehalten, um aufzuathmen, begann er wieder: – Ich will Ihnen nicht verschweigen, daß ich Alles aufgeboten habe, um Ihnen das Leben zu nehmen. Wie Sie mich hier sehen, habe ich zu dreien Malen, ich selber, eigenhändig eine Kanone auf Sie abgefeuert, ein unfeines Verfahren, ich gebe es zu, aber es hieße von einer irrigen Voraussetzung ausgehen, wenn man sich einbilden wollte, daß in Kriegszeiten der Feind bemüht sei, sich Einem gefällig zu erweisen, und wir führen ja Krieg, Herr Neffe, mit Feuer und Schwert, und es läßt sich auch nicht in Abrede stellen, daß der König hingerichtet worden ist. Ein anmuthiges Jahrhundert das!

Er schwieg abermals und hob dann wieder an: – Wenn man bedenkt, daß dies Alles unterblieben wäre, hätte man nur Voltaire gehenkt und Rousseau auf eine Galeere gesetzt! O die geistreichen Männer, welch ein Krebsschaden! Ei, zum Teufel, was können Sie ihr denn vorwerfen, dieser Monarchie? Sie hat allerdings den Abbé Pucelle in seine Abtei von Corbigny zurückgeschickt mit der freien Wahl der Fahrgelegenheit und der Bewilligung einer beliebigen Reisedauer, und was Ihren Herrn Titon anbelangt, der mit Verlaub ein rechter Wüstling war und bei den Dirnen vorsprach, eh er dem wunderthätigen Diakonus Paris nachlief, so wurde er vom Schloß von Vincennes nach dem Schloß von Ham in der Picardie übergeführt, welches, ich leugne es nicht, allerdings ein ziemlich garstiger Aufenthaltsort ist. Das waren die Beschwerdepunkte; ich erinnere mich noch ganz gut; ich habe meiner Zeit auch mitgeschrieen; ich bin so einfältig gewesen wie Sie.

Der Marquis griff an seine Tasche, als wolle er die Tabaksdose herausnehmen und fuhr fort: Aber so bösartig nicht. Man redete, um eben zu reden. Es wurde auch Unfug getrieben mit den Untersuchungen und Eingaben, und nachher kamen die Herren Philosophen; statt der Verfasser hat man ihre Schriften verbrannt; die Hofintriguen haben mitgespielt; dann kamen auch alle die Dummköpfe wie Turgot, Quesnay, Malesherbes, die Physiokraten und Konsorten, und die Hetzerei ging los. Die Schmieranten und Versifexe haben den ganzen Wirrwarr in Szene gesetzt. Die Encyclopädisten! Diderot! d’Alembert! O über die nichtsnutzigen Tröpfe! Daß ein anständiger Mann wie jener König von Preußen sich in dergleichen verrennen konnte. Wie hätte ich an seiner Stelle die Tintenkleckser sammt und sonders aus dem Weg geschafft! Ha, wir Andern, wir wußten noch mit der Rechtspflege umzugehen. Hier diese Mauer mit den Räderspuren erzählt noch davon. Wir machten Ernst. Nein, nein, fort mit dem Schreiberpack! So lange es noch Leute giebt wie einen Arouët, wird es auch Leute geben wie Marat; so lange noch Krakehler Papier verkratzen, werden Spitzbuben morden; so lange die Tinte fließt, werden die schwarzen Flecken nicht ausbleiben, und so lange eine Menschenpfote einen Gänsekiel halten wird, werden die frivolen Albernheiten in niederträchtige Albernheiten ausarten. Die Verbrechen werden durch die Bücher in die Welt gesetzt. Das Wort Chimäre hat einen doppelten Sinn: es bezeichnet einen Traum und bezeichnet ein Ungeheuer. Wie bereitwillig giebt man sich mit leeren Redensarten zufrieden! Was faselt ihr mir da vor von Rechten? Von Menschenrechten, Volksrechten! Läßt sich etwas Hohleres, etwas Stupideres, etwas Unmöglicheres, etwas Inhaltloseres aushecken? Ich, wenn ich sage: Havoise, die Schwester Conans II., brachte dem Grafen Hoël von Nantes und Cornouailles die Grafschaft Bretagne mit in die Ehe; von diesem vererbte sich die Krone auf Alain Fergant, den Oheim von Bertha, welche sich mit dem souveränen Herrn zu La Roche-sur Yon, Alain dem Schwarzen, vermählte und ihm Conan den Kleinen, den Ahnen von Guy oder Gauvain von Thouars, dem Gründer unseres Stamms, gebar, – wenn ich so spreche, so spreche ich eine bestimmte Thatsache aus und leite ein bestimmtes Recht davon ab. Auf welche Rechte aber berufen sich Ihre Strolche, Ihre Gaudiebe, Ihre Hungerleider? Auf die Gotteslästerung und auf den Königsmord. Und das soll nicht niederträchtig sein? O welche Hallunken! Es thut mir leid für Sie, mein Herr, aber Sie sind aus jenem stolzen bretonischen Geschlecht; Sie wie ich stammen von Gauvain von Thouars ab, auch von jenem großen Herzog von Montbazon, der französischer Pair und Großkreuz des königlichen Hausordens war, der die Vorstadt von Tours stürmte, im Gefecht von Arques verwundet wurde und in seinem sechsundachtzigsten Lebensjahr als Oberstjägermeister von Frankreich auf seinem Schloß von Couzières in der Touraine verstarb. Ich könnte Ihnen ferner noch vom Herzog von Laudunois, dem Sohn der Freifrau von La Garnache, erzählen, von Claude von Lothringen, Herzog von Chevreuse, und von Henri von Lenoncourt und von Françoise von Laval-Boisdauphin; aber wozu? Der junge Herr haben die Ehre, ein Simpel zu sein, und wollen durchaus mit meinem Stallknecht rangiren. Ich sage Ihnen nur so viel, daß ich schon ein betagter Mann war, als Sie noch in den Windeln lagen. Ich habe Ihnen oft das Rotznäschen geputzt und möchte es wieder thun, denn Sie haben das Kunststück geliefert, mit den Jahren kleiner zu werden. Seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben, ist Jeder von uns seiner Wege gegangen, ich den rechtschaffenen, Sie den entgegengesetzten. Wozu das Alles führen wird, weiß ich zwar nicht, aber das weiß ich, daß Ihre Herren Freunde famose Schurken sind, O ja, es ist Alles recht schön und gut; ich muß es loben; der Fortschritt ist kolossal; in der Armee hat man die Strafe des dreitägigen Wassertrinkens für die Säufer abgeschafft; man hat das Maximum, den Konvent, den Bischof Gobel, die Herren Chaumette und Hébert und rottet die ganze Vergangenheit mit Stumpf und Stiel aus, von der Bastille bis herab zum Kalender, in dem die Heiligen durch Gemüsesorten ersetzt werden. Schön, Ihr Herren Bürger, herrscht nur zu, regiert, macht es Euch bequem, thut Euch gütlich, genirt Euch nicht. Dafür bleibt die Religion doch die Religion; dafür füllt das Königthum doch fünfzehn Jahrhunderte in unserer Geschichte aus; und dafür steht der alte französische Adel doch über Euch, auch wenn Ihr ihn köpft. Und über Eure Nörgeleien am historischen Recht der Dynastien zucken wir nur die Achseln. Hilperich war blos ein Mönch Namens Daniel und wurde durch Rainfried untergeschoben, um Karl Martell zu ärgern; das Alles wissen wir so gut wie Ihr. Aber darum handelt sich es nicht; es handelt sich darum, ein großes Reich zu sein, das alte Frankreich, dieses herrlich organisirte Land: an der Spitze die geheiligte Person des Monarchen, dann die Prinzen, dann die Würdenträger der Krone für den Krieg zu Land und zu See, für die Artillerie, für die Oberleitung und Pflege der Finanzen, dann die souveräne und subalterne Justiz, dann das Steuerwesen und die Staatseinnahmen und zuletzt die drei verschiedenen Abstufungen der Königlichen Polizei. Das war schön und vornehm angeordnet; Ihr habt es zerstört, habt die Eintheilung der Provinzen zerstört, Ihr jämmerlichen Ignoranten, ohne auch nur zu ahnen, was die Provinzen bedeuten sollten. In Frankreichs Genius konzentrirte sich der Genius des ganzen Kontinents und jede französische Provinz vertrat eine europäische Tugend, die Pikardie die deutsche Offenherzigkeit, die Champagne die schwedische Großmuth, Burgund den holländischen Gewerbefleiß, das Languedoc die polnische Rührigkeit, die Gascogne den spanischen Ernst, die Provence die italienische Klugheit, die Normandie den griechischen Scharfsinn, das Dauphiné die schweizerische Treue. Von dem Allen habt Ihr nichts gemerkt; Ihr habt zerbrochen, zertrümmert, zerschmettert, niedergerissen, in aller Seelenruhe, wie die Bestien. Ah, Ihr wollt keinen Adel mehr? Nun gut, Ihr sollt auch keinen mehr haben. Ergebt Euch denn darein; verzichtet nur gleich auf die Paladine, auf die Helden; gute Nacht, du alte Größe! Zeigt mir heut zu Tage einen d’Assas! Ihr seid Alle besorgt um Eure Haut; es ist vorbei mit jenen ritterlichen Kämpfern von Fontenoy, die den Feind grüßten, ehe sie losschlugen, vorbei mit den Heroen in seidenen Strümpfen, die bei der Belagerung von Lerida gefochten, vorbei mit jenen stolzen Schlachten, wo die Federbüsche wie Meteore einherstürmten; Ihr seid ein bankrott gewordenes Volk; Ihr werdet die Nothzucht der Invasion über Euch ergehen lassen, und wenn ein zweiter Alarich kommt, wird er keinen zweiten Klodwig finden; wenn Abderrahman wiederkehrt, wird kein Karl Martell, wenn die Sachsen wiederkehren, wird kein Pipin da sein. Ihr werdet kein Agnadel, kein Rocroy, kein Lens, Staffarde, Neerwinden, Steinkirchen, La Marsaille, Rocoux, Laufeld, Mahon mehr erleben, kein Marignan mit seinem Franz I., kein Bouvines mit seinem Philipp August, der mit der einen Hand den Grafen Renaud von Boulogne und mit der anderen den Grafen Ferrand von Flandern gefangen nimmt. Nur zu einem Azincourt werdet Ihr es bringen, aber ohne dabei einen Oriflammenträger zu haben wie den edlen Herrn von Bacqueville, der sich, in seine Fahne gewickelt, niederhauen läßt. Aber geht, geht nur immer Eures Wegs und seid die Männer der Neuzeit und werdet klein.

Der Marquis machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: – Aber uns laßt groß bleiben. Bringt die Könige um, die Edelleute, die Priester, zerstört, verheert, guillotinirt, tretet mit Füßen Alles, setzt Eure Stiefelsohlen auf die Ueberlieferungen der Vergangenheit, trampelt auf dem Thron herum, stampft die Altäre nieder, schmettert Gott in den Staub und tanzt darüber hinweg! Das ist Eure Sache. Ihr seid Verräther und Feiglinge, unfähig, Euch für etwas hinzugeben und aufzuopfern. Ich bin zu Ende. Jetzt lassen Sie mich guillotiniren, Herr Vikomte. Ich habe die Ehre, Ihr Allergehorsamster zu sein.

Und er setzte noch hinzu: Nicht wahr, ich habe Ihnen die Leviten gelesen? Warum sollte ich nicht? Ich bin ja todt.

– Sie sind so frei, sagte Gauvain. Und er trat auf den Marquis zu, knöpfte den Mantel auf, warf ihm denselben über die Schultern und zog ihm die Kapuze über die Stirn. Sie waren Beide in einer Größe.

– Ei, was thust Du denn da? fragte der Marquis.

– Lieutenant! schließen Sie auf! rief Gauvain mit lauter Stimme. Die Thür wurde geöffnet.

– Riegeln Sie die Thür gleich wieder hinter mir zu! befahl Gauvain und stieß den staunenden Marquis zum Kerker hinaus.

Der ebenerdige Saal, der jetzt eine Wachtstube war, hatte, wie man sich erinnern wird, keine andere Beleuchtung als die einer Hornlaterne, die Alles ganz trübe erscheinen ließ und mehr Nacht verbreitete als Licht. In diesem verschwommenen Dämmerdunkel sahen die noch wach gebliebenen Soldaten einen hochgewachsenen Mann in dem Mantel und der Kapuze des Kommandanten dem Ausgang zu vorüberschreiten und salutirten. Langsam trat der Marquis zur Bresche und durch diese, nicht ohne sich mehrmals die Stirn anzurennen, vor den Thurm hinaus. Dort präsentirte ihm die Schildwache, welche Gauvain zu erkennen glaubte, das Gewehr. Als er draußen war, auf dem Grasplatz, zweihundert Schritte vom Wald, mit dem unbegrenzten Raum und der Nacht und der Freiheit und dem Leben vor sich, stand er eine Weile regungslos, wie Einer, dem ohne sein Zuthun etwas durch Ueberraschung aufgenöthigt worden und der nun nach Benutzung der offenen Thür, mit sich selbst im Unklaren, zaudert und, bevor er weitergeht, erst seine Gedanken sammelt. Nach einigen Momenten aufmerksamer Ueberlegung, erhob er die rechte Hand, drückte den Mittelfinger gegen den Daumen und sagte, indem er ein Schnippchen schlug: Meinetwegen!

Als er den Wald betrat, war der Kerker, in welchem Gauvain zurückgeblieben, schon längst wieder verriegelt.

II.

Das Kriegsgericht

In der damaligen Militärjustiz herrschte so ziemlich die Willkür. Dumas hatte wohl in der gesetzgebenden Versammlung Grundzüge zu einem Kodex für die Kriegsgerichte entworfen und seine Arbeit war auch durch Talot im Rath der Fünfhundert wieder aufgenommen worden, aber die endgiltige Gesetzgebung für die Armee ist das Werk des Kaiserreichs. So war zum Beispiel zur Revolutionszeit den Kriegsgerichten noch nicht vorgeschrieben, beim Einsammeln der Stimmen mit der untersten Charge zu beginnen. Im Jahre 93 vereinigten sich so gut wie alle Befugnisse eines solchen Gerichtshofs in der Person des Präsidenten; er wählte die Votanten, bestimmte die beizuziehenden Chargen, entschied über den Abstimmungsmodus, kurz war Machthaber und Richter in einer Person.

Zum Sitzungslokal war durch Cimourdain der ebenerdige Saal ausersehen, wo die Barrikade gestanden hatte und wo sich jetzt der Wachtposten befand. Alles sollte möglichst abgekürzt werden, sowohl der Weg vom Gefängniß zur Verhandlung, wie von dieser zum Schaffott. Hier hatte sich das Gericht, Cimourdain’s Anordnung zufolge, um zwölf Uhr Mittags versammelt. Die ganze äußere Ausstattung bestand aus drei Strohsesseln, einem Tisch aus Tannenholz, darauf zwei brennende Lichter und dahinter ein hoher Schemel: die Sessel für die Richter, der Schemel für den Angeklagten. An jedem Ende des Tisches stand noch ein anderes Tabouret für den Auditor, der ein Fourier, und für den Schriftführer, der ein Korporal war. Auf dem Tisch befand sich ferner noch eine Stange von rothem Siegellack, ein kupfernes Amtssiegel, zwei Tintenfässer, Schreibpapier und zwei ihrer ganzen Größe nach entfaltete gedruckte Plakate, das eine mit der Bekanntmachung, daß Lantenac außer dem Gesetz stehe, das andere mit der Verordnung des Konvents. Ueber dem mittleren Stuhl erhoben sich ein paar dreifarbige Fahnen. In diesen prunklos derben Zeiten verlor man mit der Ausschmückung nicht viel Zeit und konnte im Handumdrehen eine Wachtstube in einen Gerichtssaal umwandeln. Der mittlere Sessel, der Präsidentenstuhl, war der Kerkerthür zugewendet. Soldaten bildeten das Publikum, und hinter dem für den Angeklagten bestimmten Schemel standen zwei Gensdarmen.

Cimourdain saß auf seinem Platz, zu seiner Rechten den Hauptmann Guéchamp als ersten Richter und als zweiten zur Linken den Sergeanten Radoub. Er hatte einen Hut mit dreifarbigem Federbusch auf, seinen Säbel an der Seite und in der Schärpe seine zwei Pistolen. Der grimmige Ausdruck seines Gesichts wurde durch die hochrothe Narbe noch gesteigert.

Radoub, der sich schließlich hatte verbinden lassen, trug ein Tuch um den Kopf gewickelt, auf dem ein Blutflecken zu sehen war, welcher allmälig um sich griff.

Die Sitzung hatte noch nicht begonnen. Beim Gerichtstisch stand eine Staffette, deren Pferd man draußen scharren hörte, und Cimourdain schrieb folgende Worte nieder: »Bürger und Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses, Lantenac ist gefangen und wird morgen guillotinirt.« Er setzte das Datum hinzu, unterschrieb die Depesche, faltete und versiegelte sie und reichte sie dann dem Boten, der sich damit entfernte. Hierauf sagte Cimourdain mit lauter Stimme: Man öffne das Gefängniß.

Die zwei Gensdarmen schoben die Riegel zurück, schlossen auf und traten hinein. Cimourdain hob den Kopf in die Höhe, verschränkte die Arme, schaute nach der Thür und rief: Man führe den Gefangenen vor.

Da erschien unter der Wölbung der Thür zwischen den zwei Gensdarmen ein Mann.

Cimourdain zuckte zusammen, als er ihn erblickte: Gauvain! rief er aus und setzte dann hinzu: Den Gefangenen will ich haben.

– Der bin ich, sagte Gauvain.

– Du?

– Ich.

– Und Lantenac?

– Ist frei.

– Frei?

– Ja.

– Ausgebrochen?

– Ausgebrochen.

Zitternd stammelte jetzt Cimourdain: Allerdings dies Schloß hier ist ja sein; er kennt alle Schliche; sein Gefängniß hat wohl einen geheimen Ausgang; daran hätte ich denken sollen; es wird ihm eben gelungen sein, zu entrinnen, ohne irgend welcher fremden Hilfe zu bedürfen.

– Ihm ward geholfen.

– Zur Flucht?

– Zur Flucht.

– Und wer verhalf ihm dazu?

– Ich.

– Du?!

– Ja, ich.

– Du sprichst im Traum!

– Ich bin zu ihm in den Kerker gegangen, war dort mit ihm allein, habe meinen Mantel von den Schultern genommen und um die seinen geworfen; habe ihm die Kapuze über das Gesicht zurückgeschlagen, dann hat er sich statt meiner entfernt; ich bin statt seiner geblieben, und hier stehe ich.

– Das hast Du nicht gethan!

– Ich habe es gethan.

– Es ist rein unmöglich.

– Es ist so.

– Bringt mir Lantenac!

– Er ist schon weit. Die Soldaten, die ihn im Kommandantenmantel sahen, haben ihn für mich gehalten und an sich vorübergehen lassen. Es war noch Nacht.

– Du redest irre.

– Ich rede die Wahrheit.

Nach einer Pause stotterte Cimourdain: Aber dann verdienst Du ja …

– Den Tod, sagte Gauvain.

Cimourdain’s Gesicht war blaß geworden wie ein abgeschnittener Kopf; er saß regungslos da, wie vom Blitz gerührt. Es war, als athme er nicht mehr, und Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Endlich sprach er mit etwas festerer Stimme: Man lasse den Gefangenen niedersitzen.

Gauvain nahm seinen Platz auf dem Schemel ein. – Gensdarmen, hob Cimourdain wieder an, zieht die Säbel.

Es war dies die gebräuchliche Form, wenn Jemand eines Verbrechens angeklagt war, das durch den Tod bestraft wurde.

Die Gensdarmen zogen blank. Cimourdain’s Stimme hatte ihre ganze gewohnte Festigkeit wiedergewonnen. Angeklagter, sagte er, stehen Sie auf.

Er redete Gauvain nicht mehr mit Du an.

III.

Die Abstimmung.

Gauvain erhob sich.

– Wie heißen Sie? fragte Cimourdain.

– Gauvain.

Nun nahm das Verhör seinen weiteren Verlauf.

– Wer sind Sie?

– Ich bin Oberkommandant der Streifkolonne vom Departement Côtes-du-Nord.

– Sind Sie mit dem flüchtig Gewordenen blutsverwandt oder verschwägert?

– Ich bin sein Großneffe.

– Sie haben Kenntniß von der Verordnung des Konvents?

– Dort liegt sie gedruckt auf dem Tisch.

– Haben Sie betreffs dieser Verordnung etwas zu bemerken?

– Ich habe zu bemerken, daß ich sie mit unterzeichnete, daß ich die Vollstreckung in Aussicht stellte und daß ich selber das von mir unterschriebene Plakat anschlagen ließ.

– Wählen Sie sich einen Vertheidiger.

– Ich werde mich selber vertheidigen.

– Sie haben das Wort.

Cimourdain beherrschte sich wieder; nur glich diese Selbstbeherrschung weniger der Seelenruhe eines Menschen als der Starrheit eines Felsens. Gauvain blieb eine Weile stumm und in sich gekehrt.

– Was können Sie zu Ihrer Vertheidigung vorbringen? mahnte Cimourdain.

Langsam erhob Gauvain das Haupt und antwortete, ohne Jemand anzublicken: Dies Eine: mich hat ein Umstand verhindert, einen anderen in Betracht zu ziehen; eine gute That, allzusehr in der Nähe beschaut, hat mir hundert Missethaten verdeckt; ein Greis einerseits und andererseits die Kinder, das Alles hat sich zwischen mich und meine Pflicht gedrängt. Ich habe die eingeäscherten Dörfer vergessen, die verwüsteten Felder, die erschossenen Gefangenen, die niedergemachten Verwundeten, die hingerichteten Weiber, habe das an England verrathene Frankreich vergessen und den Mörder des Vaterlandes in Freiheit gesetzt. Ich bin schuldig. Indem ich also spreche, könnte man vielleicht glauben, ich spräche gegen mein Interesse, aber das wäre ein Irrthum: ich rede mir selber das Wort, denn wenn der Schuldige seine Schuld erkennt, so rettet er das Einzige, was zu retten sich der Mühe verlohnt, die Ehre.

– Ist das Alles, was Sie zu Ihrer Vertheidigung zu sagen haben? fragte Cimourdain.

– Ich füge noch hinzu, daß, wie mir als dem Kommandanten obgelegen hätte, mit gutem Beispiel voranzugehen, Ihnen als den Richtern jetzt ein gleiches obliegt.

– Worin soll das gute Beispiel bestehen?

– In meinem Tod.

– Sie finden ihn also gerechtfertigt?

– Und nothwendig.

– Setzen Sie sich.

Nun erhob sich der Fourier und verlas in seiner Eigenschaft als Auditor erstens den Beschluß, der den vormaligen Marquis von Lantenac in die Acht erklärte, zweitens die Verordnung des Konvents, welcher über Jeden die Todesstrafe verhängte, welcher einem gefangenen Rebellen zur Flucht verhelfen würde, und schloß mit den der Verordnung beigefügten wenigen Zeilen, durch welche, gleichfalls bei Todesstrafe, strengstens verboten wurde, dem obengenannten Rebellen Beistand und Vorschub zu leisten, und welche die Unterschrift trugen: »Der Kommandant der Streifkolonne, Gauvain.«

Nachdem dies geschehen, setzte sich der Auditor wieder. Cimourdain schlug die Arme über einander und sagte: Angeklagter, merken Sie wohl auf, und Ihr Anwesenden hört, schaut und schweigt. Jetzt waltet das Gesetz. Ich lasse abstimmen. Die einfache Majorität soll entscheiden. Der Reihe nach und in Gegenwart des Angeklagten, denn die Gerechtigkeit hat nichts zu verheimlichen, werden die Richter ihr Urtheil fällen. Ich ertheile dem ersten Richter das Wort; Hauptmann Guéchamp, reden Sie.

Der Hauptmann Guéchamp schien weder Cimourdain noch Gauvain zu sehen; seine gesenkten Wimpern versteckten seine unbeweglichen Augen, die zu dem Plakat des Konvents hinüberstarrten, als starrten sie in einen Abgrund: Der Wortlaut des Gesetzes, sagte er, ist klar. Ein Richter aber ist mehr und weniger als ein Mensch, weniger, denn er darf kein Herz haben, und mehr, denn er führt das Schwert. Im Jahr 414 der römischen Zeitrechnung ließ Manlius seinen eigenen Sohn das Verbrechen, ohne seinen Befehl gesiegt zu haben, mit dem Leben büßen. Die verletzte Disziplin erheischte diese Sühne. Im vorliegenden Fall nun ist das Gesetz verletzt worden und das Gesetz steht noch über der Disziplin. Das Vaterland schwebt in Folge einer Anwandlung von Mitleid wieder in Gefahr. Auch das Mitleid kann zum Verbrechen anwachsen. Der Kommandant Gauvain hat dem Rebellen Lantenac zur Flucht verholfen. Gauvain ist schuldig. Ich stimme für Todesstrafe.

– Schriftführer, sagte Cimourdain, nehmen Sie zu Protokoll: »Hauptmann Guéchamp Todesstrafe.«

Während der Korporal schrieb, erhob Gauvain die Stimme und sprach: Sie haben ein gerechtes Urtheil gefällt, Guéchamp, und ich danke Ihnen dafür.

– Jetzt hat der zweite Richter das Wort, begann wieder Cimourdain. Reden Sie, Sergeant Radoub.

0351

Radoub stand auf und wendete sich gegen Gauvain.

Radoub stand auf, wendete sich gegen Gauvain und machte vor dem Angeklagten die Honneurs; dann rief er: Ja, wenn das so ist, so köpft mich mit, denn hier lege ich bei allen Himmeldonnerwettern mein heiligstes Ehrenwort darauf ab, ich möchte gehandelt haben erstens wie der Alte und zweitens wie mein Kommandant. Als ich sah, wie sich der achtzigjährige Patron ins Feuer warf, um die drei Thierchen zu retten, da habe ich gesagt: Weißkopf, Du bist ein braver Kerl! Und wenn ich jetzt erfahre, daß durch meinen Kommandanten der Alte Eurer dummen Guillotine aus dem Rachen gerissen worden ist, Gott verdamm mich, da muß ich sagen: Kommandant, Sie sollten mein General sein, denn Sie sind ein ganzer Mann, und hol mich der Teufel! Ihnen würde ich das Ludwigskreuz anhängen, wenn es noch Kreuze und heilige Ludwige und dergleichen gäbe. Ja Wetter! Soll etwa von nun an der höhere Blödsinn Trumpf sein? Wenn dafür die Schlacht von Valmy und die Schlacht von Jemappes und die Schlacht von Fleurus und die Schlacht von Wattignies gewonnen worden sind, so muß man’s nur gleich heraussagen. Wie! da ist der Kommandant Gauvain, der seit vier Monaten all die royalistischen Kaffern nach Noten zu Paaren treibt und der die Republik mit seinem Säbel aus dem Gedränge heraushaut und der das Dol ins Werk gesetzt hat, wozu doch wahrhaftig eine gewisse Pfiffigkeit gehörte, und wenn man einmal einen solchen Mann hat, so giebt man sich alle Mühe, ihn wieder loszuwerden, und will ihm, anstatt ihn zum General avanciren zu lassen, gar noch die Gurgel abschneiden? Da möchte man doch gleich kopfüber über das Geländer vom Pont-Neuf springen; Ihnen aber, Bürger Gauvain, meinem Kommandanten, sage ich, daß, wenn Sie, anstatt mein General zu sein, mein Korporal wären, ich Ihnen sagen würde, daß Sie vorhin strohdummes Zeug gesagt haben. Der Alte hat wohl daran gethan, die Kinder zu retten; Sie haben wohl daran gethan, den Alten zu retten; und wenn man die Leute für jede gute That guillotinirt, dann soll das Donnerwetter dreinfahren; dann weiß ich nicht mehr, was die Uhr geschlagen hat, dann sehe ich nicht ein, wo man aufhören soll. Ja, ist das Alles denn auch wirklich wahr? Man muß sich wirklich zwicken, um zu sehen, daß man nicht träumt. Mir steht der Verstand still. Hätte vielleicht der Alte die kleinen Dinger bei lebendigem Leibe verbrennen und mein Kommandant dem Alten den Hals entzweischneiden lassen sollen? Nun gut, schneidet den Hals auch mir entzwei; mir kann es schon recht sein. Noch Eins: nehmen wir an, die Kleinen wären umgekommen, so war das Bataillon Bonnet-Rouge entehrt. Wäre das etwa in der Ordnung gewesen? Nun dann fressen wir einander nur gleich auf dem Kraut! In der Politik weiß ich ebenso gut Bescheid wie Sie Alle und habe oft genug im Klub vom Bezirk Les Piques gesessen. Hol es der Teufel! Wir gehen nachgerade den Krebsgang. Kurzum, mir ist Alles zuwider, was den Nachtheil hat, zu bewirken, daß man sich schließlich garnicht mehr zurechtfinden kann. Warum, zum Henker, lassen wir uns denn umbringen? Damit man uns unseren Kommandanten umbringt? Nichts da, Frau Tante. Meinen Kommandanten will ich zurückhaben; ich muß ihn haben meinen Kommandanten; heute gefällt er mir noch immer besser als gestern. Den auf die Guillotine schicken – lächerbar! Von dem Allem wollen wir ein für allemal nichts wissen; ich habe herumgehorcht, und was auch gesagt werden mag, Punktum, aus der Geschichte wird nichts.

Und Radoub setzte sich. Seine Wunde hatte sich wieder geöffnet und von der Stelle, wo ihm das Ohr abgeschossen worden, rann ihm das Blut tropfenweise durch die Binde am Hals herab.

– Sie stimmen also für Freisprechung des Angeklagten? fragte ihn Cimourdain.

– Ich stimme dafür, daß er zum General ernannt werde, antwortete Radoub.

– Ich will wissen, ob Sie für seine Freisprechung stimmen?

– Ich stimme für seine Ernennung zum obersten Posten der Republik.

– Sergeant Radoub, stimmen Sie, Ja oder Nein, für Freisprechung des Kommandanten Gauvain?

– Ich stimme dafür, daß man mir an seiner Stelle den Kopf abschneide.

– Freisprechung, sagte Cimourdain. Schriftführer, nehmen Sie zu Protokoll: »Sergeant Radoub Freisprechung.«

Nachdem der Korporal geschrieben, bemerkte er: Die Stimmen sind also getheilt.

Nun kam die Reihe an Cimourdain. Er stand auf, nahm seinen Hut ab und legte ihn auf den Tisch. Er war weder bleich noch fahl mehr; sein Gesicht war erdfarbig geworden. Wenn alle Anwesenden in Leichentüchern da gelegen hätten, es hätte keine tiefere Stille geherrscht als jetzt. Mit feierlicher, gedehnter und fester Stimme sagte Cimourdain: Angeklagter, die Verhandlung ist geschlossen. Im Namen der Republik und mit zwei Stimmen gegen eine …

Er stockte und hielt inne; zauderte er, sich für den Tod, oder zauderte er, sich für das Leben zu erklären? Alles stand athemlos. Jetzt fuhr er fort: Verurtheilt Sie das Kriegsgericht zum Tod.

Auf Cimourdain’s Gesicht malte sich die Marterqual des düsteren Triumphes. Als Jakob sich durch den Engel, den er in der Finsterniß überwunden hatte, segnen ließ, zuckte wohl solch ein entsetzliches Lächeln über sein Antlitz. Nur dies eine flüchtige Aufblitzen und Cimourdain’s Züge erstarrten wieder zu Marmor; er setzte sich, bedeckte sich und fügte hinzu:

– Gauvain, die Hinrichtung wird morgen bei Sonnenaufgang vollzogen.

Gauvain erhob sich, grüßte und entgegnete: Ich spreche dem Gerichtshof meinen Dank aus.

– Man führe den Verurtheilten zurück, befahl Cimourdain. Auf seinen Wink hin that sich die Kerkerthür wieder auf; Gauvain trat ein und die Thür ging zu. Die Gensdarmen blieben mit blankem Säbel rechts und links als Schildwachen davor stehen. Radoub wurde ohnmächtig fortgetragen.

IV.

Nach dem Richter Cimourdain Cimourdain der Gebieter

Ein Lager ist ein Wespennest, zumal in Revolutionszeiten. Gern und rasch tritt der dem Soldaten innewohnende Stachel des Bürgersinns hervor und trägt kein Bedenken, sich, nachdem der Feind verjagt worden, am eigenen Anführer zu vergreifen. Im Hin- und Hersummen der tapferen Schaar, die La Tourgue eingenommen hatte, machten sich verschiedene Strömungen geltend; die erste richtete sich gegen den Kommandanten Gauvain, als Lantenac’s Flucht bekannt wurde. Der Augenblick, da man Gauvain aus dem Kerker treten sah, in dem man den Marquis festzuhalten glaubte, wirkte wie ein elektrischer Funke, denn im Nu hatte sich im ganzen Lager die Nachricht davon verbreitet und durch das kleine Heer zog ein brummend Geflüster: Jetzt gehen sie mit Gauvain wohl ins Gericht, aber sie machen uns nur blauen Dunst vor. Da traue Einer den Junkern und Pfaffen! Erst haben wir gesehen, wie ein Vikomte einem Marquis das Leben gerettet hat, und nun werden wir sehen, wie der Priester den Vikomte freispricht. Als man aber Gauvain’s Verurtheilung erfuhr, erhob sich ein anderes Murren. Das ist doch etwas stark! Unser Chef, unser wackerer Chef, unser junger Kommandant, ein Held! Er ist Vikomte, allerdings; aber deshalb sind seine Verdienste um die Republik gerade um so höher anzuschlagen. Was? ihn, den Befreier von Pontorson, von Villedieu, von Pont-au-Beau, den Sieger von Dol und von La Tourgue, den Mann, dem wir unsere Unüberwindlichkeit verdanken, den rechten Arm der Republik in der Vendée, den Feldherrn, der seit fünf Monaten die Chouans in Schach hält und alle Böcke von Léchelle und Konsorten wieder gut macht, den wagt dieser Cimourdain zum Tode zu verurtheilen? Und warum? Weil er einen Greis rettete, der drei Kinder gerettet hat? Ein Soldat, der von Priesterhand fällt, ist das nicht unerhört?

In diesen und ähnlichen Worten machte sich der Mißmuth der siegreichen und unzufriedenen Truppe Luft. Cimourdain war von einem finstern Grollen umgeben. Viertausend Mann gegen einen einzigen, man sollte meinen, das sei ein wirksames Gegengewicht, aber nein: diese Viertausend waren blos eine Menschenmenge, und Cimourdain war ein Wille. Man wußte, daß sich Cimourdain’s Stirn gar leicht in Falten zog, und das genügte, um das Armeekorps in Respekt zu halten. In jenen strengen Zeiten brauchte sich hinter Jemand nur der Schatten des Wohlfahrtsausschusses zu erheben, um ihn bedrohlich erscheinen zu lassen und die Verwünschungen zu einem Gelüster zu dämpfen und das Geflüster zum Schweigen zu bringen. Nach wie vor diesem Gemurmel blieb Cimourdain der unumschränkte Gebieter über Gauvain’s wie über aller Anderen Schicksal. Man wußte, daß man von ihm nichts fordern durfte und daß er lediglich auf die übermenschliche, ihm allein verständliche Stimme seines Gewissens hören werde. Von ihm hing Alles ab. Er allein konnte das Urtheil, das er als Präsident des Kriegsgerichts gefällt hatte, als Zivilkommissär wieder umstoßen. Ihm allein stand das Recht der Begnadigung zu. Kraft seiner unbegrenzten Vollmacht bedurfte es nur eines Winks von ihm, und Gauvain war frei; Cimourdain war der Herr über Leben und Tod; ihm nur gehorchte die Guillotine, und in dieser tragischen Situation war er der Mann der Entscheidung.

Der Tag ging bereits zur Neige. Man konnte nur abwarten, was der nächste Morgen bringen würde.

V.

Im Kerker

Aus dem Gerichtssaal war wieder eine Wachtstube geworden, in welcher wie am Abend zuvor, ein doppelter Posten aufzog, und vor der Kerkerthür schritten zwei Schildwachen auf und nieder.

Gegen Mitternacht kam ein Mann mit einer Laterne in der Hand her, gab sich zu erkennen und ließ sich das Gefängniß aufschließen. Er trat hinein, und die Thür blieb hinter ihm zugelehnt.

Dunkel und still war’s im Kerker. Cimourdain that einen Schritt vorwärts in diese Finsterniß, stellte die Laterne auf den Fußboden hin und blieb unbeweglich. Die gleichmäßigen Athemzüge eines Schlafenden drangen an sein Ohr durch die Schatten der Nacht und sinnend lauschte er dem friedlichen Hauch Gauvain’s, der an der Rückwand des Kerkers auf dem Bündel Stroh in tiefem Schlummer lag. So geräuschlos wie möglich schlich er sich dicht an ihn heran und betrachtete ihn mit einem Blick so zärtlich und so unaussprechlich, wie ihn nur eine Mutter haben kann, wenn sie ihren Säugling anschaut. Dieser Blick war wohl stärker als er, denn er drückte sich, wie oft Kinder thun, beide Fäuste gegen die Augen und rührte sich nicht. Nachdem er eine Weile so gestanden, kniete er nieder, nahm Gauvain’s Hand und führte sie zu seinen Lippen. Gauvain machte eine Bewegung, schlug staunend die Augen auf wie Jeder, der nicht von selber aufwacht, und erkannte beim trüben Schein der Laterne Cimourdain. – Sieh da, sagte er. Sie sind’s, mein Lehrer. Mir träumte, fügte er hinzu, meine Hand küsse den Tod.

Cimourdain empfand jene Erschütterung, mit der uns zuweilen das plötzliche Hervorbrechen einer Gedankenfluth durchzuckt, und diese Fluth geht hier und da so stürmisch hoch, daß sie die Seele zu ertränken droht. Dem tiefsten Herzen Cimourdain’s konnte sich nur ein einziger Laut entringen: Gauvain!

Und beide blickten einander in die Augen, Cimourdain mit jenen Flammen darin, welche die Thränen verbrennen, Gauvain mit seinem sanftesten Lächeln.

– Diese Narbe hier auf Ihrer Stirn, sagte Gauvain, indem er sich auf den Ellenbogen stützte, ist der Säbelhieb, den Sie für mich aufgefangen haben. Gestern noch standen Sie neben mir und mir zulieb im Kugelregen, und wenn die Vorsehung Sie nicht an meine Wiege gestellt hätte, wo wäre ich jetzt? Mitten in Finsternissen. Daß ich jetzt einen Begriff habe von der Pflicht, verdanke ich Ihnen allein, denn in Banden war ich geboren, in Banden des Vorurtheils, und Sie haben mich davon befreit, haben meinem Wachsthum Spielraum gegeben und haben aus etwas, das schon eingepfercht war wie eine Mumie, wieder ein Kind gemacht. In eine Seele, die sonst hätte verkrüppeln müssen, haben Sie ein Gewissen gepflanzt. Ohne Sie hätte ich mich zum Zwerg entwickelt. Durch Sie lebe ich. Ich war nur ein Vikomte und Sie haben mich zum Bürger herangezogen; ich war nur ein Bürger und herangezogen haben Sie mich zu einem Geist; durch Sie bin ich als Mann für die Existenz auf Erden und als Seele für die im Himmel reif geworden. Sie haben mir, um in das Menschliche einzudringen, den Schlüssel der Wahrheit, und um einzudringen ins Übermenschliche, den Schlüssel des Lichts gegeben. O mein Lehrer, wie dank ich Ihnen, daß Sie mein Schöpfer gewesen!

Cimourdain setzte sich neben ihn auf das Strohlager und sagte: Laß uns zu Nacht essen mit einander.

Gauvain brach sein schwarzes Brod und reichte es Cimourdain, der die eine Hälfte davon nahm; dann hielt er ihm den Wasserkrug hin.

– Trink Du zuerst, sagte Cimourdain.

Gauvain gehorchte und gab dann den Krug an Cimourdain. Er hatte blos einen Schluck gethan; Cimourdain hingegen trank in langen Zügen. Ueberhaupt war bei diesem Liebesmahl Gauvain der Hungrige und Cimourdain der Durstige, ein Beweis für die Ruhe des Einen und die fieberhafte Aufregung des Andern.

Nun verbreitete sich in diesem Kerker eine geheimnißvolle Verklärtheit. Die beiden Männer unterhielten sich mit einander:

– Die großen Dinge sind im Werden, sagte Gauvain. Die jetzige Thätigkeit der Revolution ist eine räthselhafte, und hinter dem sichtbaren Werk geht das unsichtbare seinen Gang; das eine verdeckt das andere. Das sichtbare Werk ist grausam, das unsichtbare erhaben. Das Alles leuchtet mir ein in diesem Augenblick. Ein seltsames, herrliches Schauspiel. Freilich hat man sich mit dem vorgefundenen Material behelfen müssen; daher dieses außergewöhnliche 93. Unter einem Gerüst von Barbarei wird der Humanität ein Tempel aufgebaut.

– Jawohl, erwiderte Cimourdain. Aus diesem Uebergangszustand wird sich der endgiltige entwickeln, das heißt ein Parallelismus von Recht und Pflicht, verhältnißmäßig gesteigerte Besteuerung, obligatorischer Kriegsdienst, eine Ausgleichung ohne Ausnahmen, und über Allen und Allem die gerade Linie des Gesetzes, die logische Republik.

– Die ideale Republik, entgegnete Gauvain, wäre mir die liebste. Und nach einer Pause fuhr er fort: O mein Lehrer, wo findet in Allem, was Sie da erwähnt haben, die Hingebung, die Aufopferung, die Selbstverleugnung, die großmüthige Verkettung der wohlwollenden Gefühle, mit einem Wort die Nächstenliebe ihren Platz? Ein allgemeines Gleichgewicht ist viel werth, noch mehr aber die allgemeine Harmonie. Ueber der Wage steht doch noch das Saitenspiel. Durch Ihre Republik wird der Mensch gemessen, eingetheilt, geregelt; meine trägt ihn zum blauen Himmel empor; beide unterscheiden sich gerade so von einander wie ein mathematischer Lehrsatz und ein Adler. – Du verlierst Dich in den Wolken. – Und Sie verlieren sich in der Berechnung. – Diese Harmonie versteigt sich ins Reich der Träume. – Das thut die Algebra auch. – Durch einen Euklid möchte ich den Menschen konstruirt wissen. – Und ich, meinte Gauvain, durch einen Homer.

Cimourdains strenges Lächeln schien Gauvain Halt gebieten zu wollen:

– Dichterphantasten! Durch die Poeten laß Dich nicht bestechen.

– O ich kenne das. Laß Dich durch keinen Lufthauch bestechen, nicht bestechen durch Alles, was strahlt, durch Alles, was duftet, durch die Blumen, durch die Sternbilder. – Von dergleichen läßt sich auch nicht leben. – Wissen Sie das so genau? Auch die Ideen sind in ihrer Art eine Speise; eine Hälfte unseres Wesens nährt sich von Gedanken. – Nur keine Utopien. Die Republik ist ein Einmaleins, und wenn ich Jedem gegeben, was ihm unbedingt zukommt … – Sind Sie Jedem noch das schuldig, was ihm nicht unbedingt zukommt. – Was meinst Du damit? – Damit meine ich die unendliche Reihe von gegenseitigen Konzessionen, zu welchen Alle gegen jeden Einzelnen verpflichtet sind und auf denen das ganze soziale Leben beruht. – Außerhalb des strengbegrenzten Rechts giebt es nichts mehr. – Oder Alles. – Ich sehe nur Eins vor mir, die Gerechtigkeit. – Und ich sehe höher. – Was stände wohl noch über der Gerechtigkeit? – Die Billigkeit.

Zuweilen hielten Beide inne, als folgte ihr Blick einem vorüberschwebenden Leuchten. – Drücke Dich bestimmt aus, hob Cimourdain wieder an; ich wette, Du vermagst es nicht. – Wohlan. Sie erstreben den obligatorischen Kriegsdienst. Gegen wen? Gegen Mitmenschen. Ich strebe ihn nicht an, weil ich den Frieden anstrebe. Sie wollen den Elenden geholfen, ich aber will das Elend abgeschafft wissen. Sie verlangen die fortschreitende Besteuerung; ich bin jeder Besteuerung abgeneigt und möchte die allgemeinen Ausgaben auf ein Minimum zurückführen, das durch den sozialen Ueberschuß gedeckt würde. – Was willst Du damit wieder sagen?

– Weiter nichts, als schafft vor Allem das Berufsparasitenthum ab, den Priester, den Richter, den Soldaten. Beutet ferner Eure Reichthümer aus; leitet den Dünger statt in die Kloake auf die Felder; drei Viertel des Bodens liegen brach; macht Frankreich einmal urbar; bebaut die nutzlosen Triften; vertheilt die Gemeindegründe; gebt jedem Menschen einen Acker und jedem Acker einen Menschen. Im Augenblick, wo wir sprechen, gewinnt der französische Bauer der Erde nur die Möglichkeit ab, sich vier Mal des Jahres mit Fleisch zu nähren, und dieselbe Erde könnte, bei einer praktischeren Verwendung, dreihundert Millionen Menschen, ja ganz Europa erhalten. Zieht doch Nutzen aus der urkräftigen, unbeachteten Bundesgenossin, aus der Natur. Macht Euch jeden Windhauch dienstbar, jeden Wasserfall, jede magnetische Strömung. Unser Planet ist von einem Netz von unterirdischen Adern durchwoben, und in diesen Adern fließt Wasser, Oel und Feuer die Menge; diese Adern schneidet auf und verwerthet das Wasser für Eure Brunnen, das Oel für Eure Lampen, das Feuer für Euren Herd. Vertieft Euch in die Schwankungen der Wellen, in die Ebbe und die Fluth, in dieses gewaltige Hin- und Herwogen. Was ist der Ozean Anderes als eine ungeheure verlorene Kraft? Wie thöricht ist es doch von der Erde, daß sie das Meer nicht für sich arbeiten läßt! – Da segelst Du schon mitten im Traum. – Das heißt mitten in der Wirklichkeit.

– Und das Weib, fuhr Gauvain fort, was macht Ihr aus dem? – Was es ist, antwortete Cimourdain, die dienende Gefährtin des Mannes.

– Einverstanden, aber unter einer Bedingung. – Welche? – Daß der Mann seinerseits der dienende Gefährte sei des Weibes.

– Bist Du bei Sinnen? rief Cimourdain; der Mann und dienen? Nimmermehr. Der Mann ist der Herr; ich erkenne nur eine Oberherrschaft an, die am häuslichen Herd; dort ist der Mann ein König. – Einverstanden, aber unter einer Bedingung. – Und die wäre? – Daß die Frau dort eine Königin sei. – Du begehrst also für den Mann und für das Weib… – Gleichberechtigung. – Gleichberechtigung? Weißt Du denn auch, was Du sprichst? Zwei grundverschiedene Wesen! – Darum habe ich Gleichberechtigung gesagt, nicht absolute Gleichheit.

Wieder entstand eine Pause, etwas wie eine Waffenruhe für diese zwei aufeinanderblitzenden Geister; dann brach Cimourdain das Schweigen: Und das Kind, wem gehört das? – Zuerst dem Vater, der es zeugt, dann der Mutter, die es zur Welt bringt, dann dem Lehrer, der es unterrichtet, dann der Heimath, die es zum Mann erzieht, dann der Mutter im höheren Sinn, dem Vaterland, und endlich der Mutter im allerhöchsten Sinn, der Menschheit. – Und Gott übergehst Du? – Jede dieser Bildungsstufen, Vater, Mutter, Lehrer, Heimath, Vaterland, Menschheit ist ja eine Sprosse der Himmelsleiter, die zu ihm emporsteigt.

Cimourdain verstummte und Gauvain setzte hinzu: Wer die letzte Sprosse erreicht hat, ist bei der Gottheit angelangt, die sich dann vor ihm aufthut und ihn in sich aufnimmt.

Cimourdain machte die Geberde, mit der man einen Andern aus der Ferne zu sich nimmt: Kehre auf die Erde zurück, Gauvain. Das Mögliche wollen wir verwirklichen. – Drum sorgt vor Allem dafür, daß es unten Euren Händen nicht zum Unmöglichen werde. – Verwirklichen läßt sich das Mögliche immer. – Immer nicht. Wenn man mit der Hoffnung zu derb umgeht, so tödtet man sie. Nichts ist wehrloser als das werdende Ei. – Aber man muß die Hoffnung immerhin anfassen und sie durch das kaudinische Joch der Wirklichkeit treiben und dem Rahmen der Thatsachen anbequemen. Der abstrakte Begriff muß zu Fleisch und Blut werden; was er an Schönheit und Größe einbüßt, gewinnt er dafür an Nützlichkeit und an Gehalt. Das Recht muß sich in das Gesetz hineinzwängen, und ist dies einmal geschehen, dann wohnen auch dem Gesetz die ewigen Eigenschaften des Rechts inne, und dann ist das erreicht, was ich das Mögliche nenne. – Das Mögliche reicht auch weiter. – So, nun ergehst Du Dich schon wieder in Träumen. – Das Möglichste ist ein geheimnißvoller Adler, der stets über den Menschen kreist. – Diesen Adler muß man einfangen. – Aber lebendig. Ich denke so, fuhr Gauvain fort: Nur immer voran. Wenn Gott gewollt hätte, daß der Mensch zurückschreite, hätte er ihm die Augen nicht vorn in den Kopf gesetzt. Richten wir nur immer den Blick dem Morgenroth, dem Aufblühen, dem Werden zu. Jedes Abfallen bedingt ein Hervorkeimen, und das Aechzen des absterbenden Baumes ruft dem Samenkorn entgegen: Sprieß auf! Jedes Jahrhundert wird sein Werk vollbringen, heute noch das staatliche, morgen das allgemein menschliche. Heute handelt es sich um das Recht; morgen wird sich’s um den Lohn handeln. Lohn und Recht sind im Grunde genommen eins. Der Mensch lebt nicht, um leer auszugehen, denn indem Gott Leben schafft, übernimmt er eine Verpflichtung; das Recht ist der angeborene Lohn und der Lohn das zur Geltung gekommene Recht.

Gauvain sprach mit der Innigkeit eines Propheten und Cimourdain lauschte; die Rollen waren vertauscht; jetzt schien der Schüler der Lehrer zu sein.

– Deine Gedanken fliegen rasch, murmelte Cimourdain. – Weil ich wohl etwas eilen muß, sagte Gauvain mit einem Lächeln. – Mein theurer Lehrer, begann er wieder, der Unterschied zwischen unseren beiden Träumen liegt darin, daß Ihnen die obligatorische Kaserne, mir die Schule vorschwebt; Ihr Ziel ist der Soldat und meines ist der Bürger; Sie streben den furchteinflößenden Menschen an, ich den sinnenden; Sie gründen die Republik des Schwertes; ich gründe …. Das heißt, unterbrach er sich, gründen würde ich eine Republik der Geister.

Cimourdain senkte den Blick auf die Steinplatten des Kerkers und sagte: Und bis dahin, was willst Du haben? – Was schon ist. – Du klagst also die Gegenwart nicht an? – Nein. – Weshalb nicht? – Weil sie ein Sturm ist und ein Sturm immer weiß, was er thut; für einen Eichbaum, den er entwurzelt, braust er vielen Wäldern ein frischeres Leben zu. Die menschliche Kultur litt an einer Pest und dieser Orkan befreit sie davon. Vielleicht ist er nicht wählerisch genug, aber wie wäre das auch möglich bei einer solchen Reinigungsaufgabe? Von so verderblichen Dünsten ist die Luft geschwängert, daß ich die Wuth der Windsbraut wohl begreife. Uebrigens, fuhr Gauvain fort, was kümmert mich der Sturm, wenn ich einen Kompaß, was kümmern mich die Ereignisse, wenn ich mein Gewissen habe! Und mit jener gedämpften Stimme, die oft die feierlichste ist, setzte er hinzu: Es lebt Jemand, den man unter allen Umständen walten lassen soll. – Wer? fragte Cimourdain. Gauvain deutete nach oben, und Cimourdain, dessen Blick die Richtung des erhobenen Fingers verfolgte, glaubte durch das Gewölbe des Kerkers hindurch den Sternenhimmel leuchten zu sehen.

Abermals schwiegen Beide.

– Was Du herbeisehnst, begann dann Cimourdain, ist größer, als es die Natur zuläßt. Ich wiederhole es: Du greifst über das Mögliche hinaus; das sind Utopien. – Nein, das ist der Endzweck. Wenn nicht, wozu das gesellschaftliche Zusammenleben? Warum dann nicht ganz bei der Natur bleiben, im Zustand der Wildheit? Otahiti ist ein Paradies, aber ein Paradies, in dem nicht gedacht wird, und solch einem stumpfsinnigen Paradies würde ich eine geistig thätige Hölle noch vorziehen. Doch nein, fern sei uns auch solch eine Hölle! Lassen Sie uns eine menschliche Gesellschaft werden, die über die Schranken der Natur hinauswächst! Wenn zum Naturzustand nichts Weiteres hinzukommen sollte, weshalb aus ihm heraustreten? Dann begnügt Euch mit der Arbeit wie die Ameise und mit dem Honig wie die Biene und entscheidet Euch für die fleißige Thierheit statt für die gebietende Intelligenz. Sobald Ihr der Natur etwas beifügt, werdet Ihr nothwendigerweise größer als sie, denn beifügen heißt mehren und mehren heißt vergrößern. Die Gesellschaft ist die sublimirte Natur und ich beanspruche für sie Alles, was dem Bienenkorb, Alles, was dem Ameisenhaufen fehlt, die Prachtbauten, die Künste, die Poesie, die Helden der That und die Helden des Gedankens. Der Mensch kann unmöglich dazu verurtheilt sein, ewig Lasten zu tragen. Nein, nein, fort mit den Parias, mit den Sklaven, mit den Galeerenruderern, mit den Verdammten! Jedes Attribut des Menschen sei ein Sinnbild der höhern Kultur und ein Gefäß des Fortschritts! Freiheit für die Geister, Gleichheit für die Herzen, Verbrüderung für die Seelen! Kein Joch mehr, nein! Um Schwingen auszubreiten und nicht um Ketten zu schleppen sind wir geschaffen. Darum nicht weiter gekrochen am Boden! Ich verlange, daß sich die Larve zum Schmetterling verkläre, daß sich der Wurm in eine lebendige, davonstiegende Blume verwandle, verlange….

Er hielt inne. Sein Auge glühte; seine Lippen bewegten sich noch, aber er sprach nicht mehr.

Durch die nur angelehnte Thür drang das Geräusch der Außenwelt bis in den Kerker. Erst vernahm man gedämpfte Trompetenklänge, wahrscheinlich die Reveille, dann das Dröhnen von Gewehrkolben: draußen wurden die Schildwachen abgelöst; und endlich entstand, ziemlich nah beim Thurm, eine Bewegung, die man, soweit man sich in der Dunkelheit davon Rechenschaft zu geben vermochte, für ein Hin- und Herschieben von Brettern halten konnte, welches von regelmäßigen dumpfen Hammerschlägen begleitet war.

Cimourdain erblaßte und lauschte hin, aber Gauvain sah und hörte nicht. Immer tiefer war er in seine Träumerei versunken. Er schien nicht einmal mehr zu athmen, so war er in den Anblick dessen verloren, was aus der visionenerfüllten Wölbung seiner Stirn vor ihm aufstieg. Zuweilen durchzuckte ihn ein seliges Aufschauern und immer glänzender strahlte das Morgenleuchten seines Auges.

Nachdem die Beiden geraume Zeit stumm dagesessen, fragte Cimourdain: Woran denkst Du?

– An die Zukunft, sagte Gauvain und sank in seine Betrachtungen zurück. Er bemerkte nicht, daß Cimourdain sich vom Strohlager erhob, auf das dieser sich neben ihm niedergelassen hatte; Cimourdain aber bewegte sich rücklings, den Blick bis zu Ende auf den sinnenden Jüngling zärtlich geheftet, langsamen Schritts der Thür zu und entfernte sich so aus dem Kerker, der gleich darauf wieder geschlossen wurde.

VI.

Bei Sonnenaufgang

Es dauerte nicht mehr lange, so graute der Morgen und mit dem Morgengrauen tauchte über dem Wald von Fougères, auf dem Plateau vor La Tourgue, etwas Seltsames, Unbewegliches, Befremdendes auf, das die Vögel des Himmels hier noch nie gesehen hatten. Es war über Nacht aufgebaut oder besser aufgepflanzt worden und sein Profil hob sich vom Horizont in lauter harten, geraden Linien ab, die an die Form eines hebräischen Buchstabens oder einer Hieroglyphe aus dem alten egyptischen Räthselalphabet erinnerten. Der erste Begriff, den dieses Ding im Beschauer weckte, war der der Zwecklosigkeit. Man fragte sich, wozu es dort auf jener Fläche von glühendem Haidekraut stand. Dann aber überlief Einen ein Schauder. Man hatte ein auf vier Posten ruhendes Podium vor sich. An dem einen Ende dieses Podiums ragten zwei lange Pfähle hoch aufgerichtet in die Luft und an dem Querbalken, der sie oben mit einander verband, hing ein rechtwinkeliges Dreieck, das im blauen Morgenhimmel schwarz erschien. Am anderen Ende war eine Leiter angebracht. Am Podium zwischen den beiden Pfählen, also unter dem Dreieck, gewahrte man eine Art Riegelwand, aus zwei beweglichen Hälften bestehend, die zusammen, wenn die obere auf der unteren ruhte, ein rundes, dem Umfang eines menschlichen Halses so ziemlich entsprechendes Loch bildeten. Die obere Hälfte griff rechts und links in eine Fuge an die Pfähle ein und konnte so hinaufgezogen und heruntergelassen werden. Dermalen waren die beiden Hälften mit ihren halbkreisförmigen Einschnitten von einander getrennt. Am Fuß der zwei Pfähle mit dem Dreieck bemerkte man ferner ein Brett mit Scharnieren, das sich schaukelförmig heben und senken ließ. Neben diesem Brett stand ein langer und zwischen den beiden Pfählen, gegen den Rand des Podiums zu, ein viereckiger Korb. Das Ganze war, mit Ausnahme des eisernen Dreiecks, von Holz und roth angestrichen. Man sah ihm an, daß es von Menschenhand gezimmert worden, so häßlich, kleinlich und armselig war es, und dennoch schaute es so entsetzlich drein, daß es verdient hätte, durch Rachegenien hergetragen worden zu sein. Dies ungestaltete Balkenwerk war die Guillotine. Ihr hart gegenüber ragte aus der Schlucht ein anderes Ungeheuer, La Tourgue; das steinerne Ungeheuer bildete die Folie zum hölzernen. Es läßt sich fast behaupten, daß Holz und Stein, wenn vom Menschen einmal gestaltet, aufhören, Holz und Stein zu sein und etwas vom Wesen ihrer Bearbeiter annehmen. Ein Gebäude ist zugleich auch ein Grundsatz und eine Maschine eine Idee. La Tourgue war jenes verhängnißvolle Ergebniß der Vergangenheit, welches in Paris die Bastille hieß, in England der Londoner Tower, in Deutschland der Spielberg, in Spanien das Eskurial, zu Moskau der Kreml und das Kastell Sant‘-Angelo zu Rom. In La Tourgue hatten sich fünfzehnhundert Jahre zusammengedrängt, das ganze feudale Mittelalter mit seinem Lehenswesen und seiner Leibeigenschaft; in der Guillotine verkörperte sich das eine Jahr 93, und diese zwölf Monate hielten jenen fünfzehn Jahrhunderten die Wage. La Tourgue war die Monarchie; die Guillotine war die Revolution. Welch tragisches Gegenüber! Auf der einen Seite die Schuld, auf der anderen die Verfallzeit, hier die unentwirrbare soziale Verwickelung, Hörige und Herren, Sklaven und Gebieter, Bürgerthum und Adel, eine Unmasse von Gesetzbüchern, jedes abgezweigt in eine andere Unmasse Gewohnheitsrechte, das Bündniß des Richters und des Priesters, die zahllosen Unterbindungen aller Lebensadern, der Fiskus, die Salz- und Kopfsteuer, die todte Hand, die Ausnahmestellungen, die Privilegien, der königliche Vorbehalt des Bankrotts, das Szepter, der Thron, die Willkür, das Gottesgnadenthum; dort ein einfaches Fallbeil. Dem Knoten gegenüber das Schwert. Wie lange hatte La Tourgue in dieser Einsamkeit gebieterisch gewaltet! Da stand es noch mit seinen Mauervorsprüngen, aus denen einst siedendes Oel und brennendes Pech und geschmolzenes Blei hinabströmte, mit seinem Verließ voll Gebeinen, mit seiner Folterkammer, mit der ungeheuren Tragik seines Vorlebens, eine unselige Gestalt, die im Schatten dieses von ihr beherrschten Waldes fünfzehn Jahrhunderte wilder Ruhe genossen; für die ganze Umgegend war dieser Thurm die einzige Macht, die einzige Respektsperson, der einzige Schrecken gewesen; er hatte regiert, barbarisch und unumschränkt, und sah nun plötzlich etwas, nein mehr als etwas, Jemand vor sich und gegen sich aufstehen, der ebenso gräßlich war, die Guillotine. Dem Stein scheint zuweilen ein räthselhaftes Schauen innezuwohnen, als könne die Statue beobachten, der Thurm lauern, der Palast betrachten. So war es jetzt auch, als ob La Tourgue, die Guillotine mit den Augen verschlingend, an sich selber die Frage richte, was das sei. Jenes Etwas schien aus der Erde herausgewachsen zu sein, und so verhielt es sich auch in der That; aus dieser verhängnißvollen Erde war ein verhängnißvoller Baum aufgeschossen; aus diesem Boden, den so viel Schweiß, so viele Thränen, so viel Blut gedüngt hatte, aus diesem Boden, in den so viele Gruben und Gräber, Höhlen und Fallen gegraben worden, aus diesem Boden, in dem alle Opfergattungen jeder Gattung von Tyrannei moderten, aus diesem Boden, der auf so vielen Abgründen lag und in den so manche Unthaten wie ebensoviel fruchtbare Samenkörner versenkt waren, aus diesem tiefdurchfurchten Boden war zur gegebenen Stunde jene unbekannte Rächerin, jene blutdürstige schwertführende Maschine emporgestiegen, und 93 hatte zu der alten Welt gesagt: Da bin ich. Mit vollem Recht konnte die Guillotine dem Thurm zurufen: Ich bin Deine Tochter. Und der Thurm seinerseits fühlte – denn dergleichen lebt ein dunkles Räthselleben –, daß ihm diese seine Tochter das Leben nahm. Wie verstört blickte er zu der drohenden Erscheinung hinüber, man hätte fast meinen können, er fürchte sich davor. Seine ungeheuerliche Granitmasse war in ihrer majestätischen Verruchtheit durch jene zwei Balken mit dem Dreieck überboten und mit Abscheu bebte die gestürzte vor der neueingesetzten Allmacht zurück. Die Kriminalgeschichte und die Geschichte der Feudaljustiz starrten einander an. Die Gewaltthätigkeit von ehemals verglich sich mit der jetzigen und die alte Festung, das alte Gefängniß, die alte Herrenburg, die einst vom Geheul entzweigerissener armer Sünder widerhallte, der kampfunfähig und nutzlos gewordene, geschändete, entwaffnete, seiner Krone beraubte Krieg- und Mordbau, dieser Steinhaufen, der nun gerade so viel werth war wie ein Häuflein Asche, dieser abscheuliche, imponirende Leichnam, in dem noch die Seelenschwingungen greuelvoller Jahrhunderte nachzitterten, sah jetzt mit Grauen die gegenwärtige Stunde an sich vorüberziehen. Dem Gestern schauderte vor dem Heute; die alte Grausamkeit erkannte und erduldete das Entsetzen der Neuzeit; das schon ins Nichts Hinschwindende riß vor dem Werkzeug der Schreckenstage seine Geisteraugen auf und das Phantom betrachtete das Gespenst.

Die Natur ist unbarmherzig; sie übt die Gnade nicht, vor den menschlichen Freveln mit ihren Blumen, ihrem Wohllaut, ihren Strahlen und Düften zurückzuhalten, und erdrückt den Menschen lieber unter dem Kontrast ihrer göttlichen Pracht und seiner sozialen Häßlichkeit; sie erläßt ihm auch nicht einen Schmetterlingsflügel, auch nicht einen Vogeltriller; mitten im Mord, mitten in der Rache, mitten in der Barbarei, muß er den Anblick der heiligen Dinge ertragen und darf sich nicht dem unendlichen Vorwurf der allgemeinen Milde und dem unerbittlich heitern Blau des Himmels entziehen.

Mitten im blendenden Glanz der Ewigkeit muß die Mißgestalt der menschlichen Satzungen sich in ihrer ganzen Nacktheit bloßstellen. Der Mensch zerbricht und zermalmt; der Mensch zerstört und tödtet, aber der Sommer bleibt der Sommer, die Lilie bleibt Lilie, das Gestirn Gestirn.

Nie war die frische Morgensonne lieblicher aufgegangen als an diesem Tag. Ein lauer Wind wiegte die Grashalmen hin und her; weich schmiegten sich Dunstflocken durch die Zweige und ganz durchweht vom Athemhauch der Quellen dampfte der Wald von Fougères wie ein großer duftender Altar. Das blaue Firmament, die weißen Wolken, das klare, durchsichtige Wasser, das Grün der Blätter, jene harmonische Farbentonleiter, die vom Aquamarin aufsteigt bis zum Smaragd, die brüderlichen Baumgruppen, die Rasenteppiche, die tiefgedehnten Landflächen, das Ganze war von jener Reinheit durchdrungen, mit der die Natur dem Menschen von Ewigkeit her ins Gewissen redet. Und unter dem Allem machte sich des Menschen verruchtes Treiben schamlos breit; aus dem Allem erhoben sich die Festung und das Schaffot, der Krieg und das Hochgericht, die Verkörperungen des blutgierigen Zeitalters und der blutigen Minute, die Nachteule der Vergangenheit und die Fledermaus der Zukunftsdämmerung. Der leuchtende Himmel aber, der im Angesicht der blühenden, duftenden, liebenden und liebenswerthen Schöpfung auch La Tourgue und die Guillotine in Morgenstrahlen badete, schien den Menschen zu sagen: Da seht, was ich thue und was Ihr thut. So kann ein gewaltiger Mahnruf oft hervorklingen aus dem Licht der Sonne.

Dieses Schauspiel hatte zahlreiche Zuschauer. Die viertausend Mann der kleinen Expeditionsarmee standen in Schlachtordnung auf dem Plateau, zu drei Seiten der Guillotine, um die sie, um uns bildlich auszudrücken, die Figur eines lateinischen großen E beschrieben, in dessen längerer Linie die Batterie die Mitte einnahm. Die rothe Maschine war zwischen den drei Fronten, diesen Mauern von Soldaten, die sich zu zwei Seiten bis zum Rande des Plateaus ausdehnten, wie eingesperrt; nur die vierte Seite, die der Schlucht und dem Thurm zugekehrte, war frei. Das Ganze bildete also ein längliches Viereck, in dessen Zentrum sich das Schaffot erhob. Je höher die Sonne stieg, desto mehr verkürzte sich der Schatten, den die Guillotine warf. Die Kanoniere standen mit glimmender Lunte bei ihren Geschützen. Aus der Schlucht qualmte ein sanfter bläulicher Rauch, das letzte Lebenszeichen der hinsterbenden Feuersbrunst. Dieser Rauch umschwamm, ohne ihn jedoch zu verschleiern, den Thurm von La Tourgue, dessen ragende Plattform den ganzen Horizont beherrschte. Plattform und Guillotine waren nur durch die Breite der Schlucht von einander getrennt, so daß man hüben und drüben mit einander sprechen konnte. Auf diese Plattform hatte man den Gerichtstisch und den Sessel mit den dreifarbigen Fahnen geschafft und am immer sonnigeren Hintergrund hob sich die Steinmasse der Festung und oben drüber auf dem Präsidentenstuhl und unter den Trikoloren die Gestalt eines mit verschränkten Armen dasitzenden Mannes schwarz ab, Cimourdain’s Gestalt. Er war wie am Abend zuvor als Zivilkommissar gekleidet und trug den Hut mit dreifarbigem Federbusch, an der Seite einen Säbel und im Gürtel seine Pistolen. Er schwieg. Es schwieg Alles. Mit gesenktem Blick standen die Soldaten Gewehr bei Fuß, so dicht neben einander, daß sie einander mit den Ellenbogen berührten, aber dennoch flüsterte keiner mit seinem Nebenmann. In dumpfem Hinbrüten ließen sie diesen ganzen Krieg vor ihrem Geist vorüberziehen mit all seinen Kämpfen, mit den kugelsprühenden Hecken, die sie so muthig angriffen, mit den Schwärmen von anstürmenden Bauern, die ihre Tapferkeit zurückgeworfen, mit den eroberten Festungen, den gewonnenen Schlachten, den Triumphen allen, und jetzt ward ihnen, als verkehre sich in Schande ihr ganzer Ruhm. Eine düstere Erwartung schnürte jede Brust zusammen. Auf der Plattform der Guillotine sah man im wachsenden Morgenglanz, der sich majestätisch über den Himmel ausbreitete, den Henker auf- und niederschreiten.

Plötzlich vernahm man den gedämpften Schall von umflorten Trommeln, ein schauerliches Wirbeln, das immer näher kam. Die Front that sich auf und ließ einen Zug durch, der sich nach dem Blutgerüst bewegte, voran die verschleierten Trommeln, dann eine Kompagnie Grenadiere mit umgekehrtem Gewehr, dann ein Peloton Gendarmen mit blankem Säbel, dann der Verurtheilte, Gauvain, der frei einherschritt, ohne Fesseln, in kleiner Uniform, den Degen an der Seite, und endlich ein anderes Peloton Gendarmen. Gauvain’s Antlitz war noch von jener sinnigen Glückseligkeit umflossen, die ihn verklärt hatte, als er zu Cimourdain gesagt: »Ich denke an die Zukunft,« und es ließ sich nichts Erhabeneres denken als dieses fortleuchtende Lächeln. Sein erster Blick, als er die düstere Stätte erreichte, galt, die Guillotine verschmähend, der Plattform des Thurms, denn er wußte, daß Cimourdain es für seine Pflicht halten werde, der Hinrichtung beizuwohnen. Ihn suchte sein Auge und fand ihn auch dort oben.

Cimourdain ward erdfahl und eisstarr. Die neben ihm Stehenden konnten seinen Athemzug nicht vernehmen.

Als er Gauvain ankommen sah, war auch nicht das leiseste Zucken an ihm zu bemerken gewesen.

Unterdessen ging Gauvain auf die Guillotine zu, schaute aber, während er so dahinwandelte, immer noch zu Cimourdain hinüber, der auch ihn unverwandt anschaute. Es war, als stütze sich Cimourdain auf diesen Blick.

Nun war Gauvain am Fuße des Schaffots angelangt und bestieg es, gefolgt von dem Offizier, der die Grenadiere befehligte. Er schnallte den Degen los und überreichte ihn dem Offizier; dann nahm er die Halsbinde ab und reichte sie dem Henker. Nie war er so schön gewesen; er strahlte wie ein Traumbild. Seine braunen Locken flatterten im Wind; damals war es nicht Brauch, dem Verurtheilten das Haar abzuschneiden, sein Nacken war lieblich anzusehen wie der eines Weibes und sein Blick heldenmüthig und erhaben wie der eines Erzengels. So stand er traumhaft auf dem Blutgerüst. Auch diese Stätte ist ein Gipfel, und auf diesem Gipfel thronte Gauvain befriedet und von der Sonne wie mit einem Glorienschein umwoben.

0367

Gnade! Gnade! rief es von allen Seiten.

Nun trat der Henker mit einem Strick in der Hand an ihn heran, um ihn zu binden, und jetzt, im Augenblick, wo sie ihren jungen Führer wirklich dem Beil verfallen sahen, hielten es die Soldaten nicht länger aus; den Kriegern sprengte diese Minute das Herz, und man hörte etwas Unerhörtes, das Aufschluchzen einer Armee. – Gnade! Gnade! rief es von allen Seiten. Einige fielen auf die Knie; Andere warfen ihre Gewehre weg und erhoben die Arme zur Plattform des Thurms nach Cimourdain. – Nimmt man denn für das Ding da keine Ersatzmänner an? schrie ein Grenadier, indem er auf die Guillotine deutete; hier bin ich! Und wie außer sich riefen Alle wieder: Gnade! Gnade! und selbst Löwen hätten bei diesem Anblick der Rührung und des Schreckens sich nicht erwehrt, denn es ist etwas Furchtbares um die Thränen eines Soldaten. Selbst der Henker hielt inne und stand rathlos. Da sprach vom Thurm herab eine abgebrochene, leise Stimme, deren Worte doch Jedermann vernahm:

– Dem Gesetz die Ehre!

Jetzt kannte man den Ausspruch der Unerbittlichkeit. Cimourdain hatte entschieden. Der Armee überlief ein Schauder. Der Henker zögerte nicht länger; er trat näher.

– Warten Sie, sagte Gauvain. Und gegen Cimourdain gewendet, winkte er ihm mit seiner freigebliebenen Rechten einen Scheidegruß zu; dann ließ er sich binden. – Pardon, noch eins, sagte er, als dies geschehen war, zum Henker, und rief mit lauter Stimme: Es lebe die Republik!

Dann wurde er auf das Schaukelbrett gelegt; der verruchte Ring schloß sich hinter seinem anmuthigen stolzen Haupt; sanft hob ihm der Henker das Haar vom Nacken und drückte an der Feder. Das eiserne Dreieck löste sich vom Querbalken und glitt erst langsam, dann blitzschnell herab; ein gräßlich Dröhnen und …

In demselben Augenblick dröhnte es ebenso gräßlich von drüben her. Dem Dröhnen des Fallbeils antwortete das Dröhnen eines Schusses. Cimourdain hatte eine der Pistolen aus seinem Gürtel gerissen und jagte sich, im Moment, da Gauvains Kopf in den Korb rollte, eine Kugel durch das Herz. Aus seinem Mund brach ein Blutstrom und er sank todt in den Sessel zurück.

So entschwebten sie denn miteinander, diese zwei Seelen, tragisch verschwistert und so innig in einander hinschmelzend, daß der Schatten der einen im Licht der anderen zerfloß.

Victor Hugo

Ende.

Drittes Buch.

Halmalo.

I.

Und der Geist war im Wort.

Nun erhob auch der Greis langsam das Haupt.

Der Mann, der zu ihm gesprochen, war ungefähr dreißig Jahre alt. Seine Stirn war von der Seeluft gebräunt; in eigentümlicher Mischung schaute in ihm der Scharfblick des Matrosen aus den treuherzigen Augen des Bauern. Wuchtig hielt er die Ruder in seinen beiden Fäusten fest. Er hatte etwas Kindliches. Im Gürtel trug er ein Dolchmesser, zwei Pistolen und einen Rosenkranz.

– Wer sind Sie? fragte der Greis. – Sie haben es gehört.

– Und was wollen Sie von mir?

Der Mann ließ die Ruder los, kreuzte die Arme und sagte:

– Sie umbringen.

– Sie können es, sagte der Greis.

– Halten Sie sich bereit, sprach der Mann mit erhobener Stimme.

– Bereit wozu?

– Zu sterben.

– Warum? fragte der Greis.

Es entstand eine Pause. Der Mann schien ein paar Augenblicke über die Frage zu staunen. Dann erwiderte er:

– Sie haben’s gehört: ich will Sie umbringen.

– Und ich frage Sie, warum?

In den Augen des Matrosen erglänzte ein flüchtiger Blitz:

– Weil Sie meinen Bruder umgebracht haben.

Der Greis entgegnete ruhig: Nachdem ich ihm zuvor das Leben gerettet.

– Das ist wahr; Sie haben ihn zuerst gerettet und dann umgebracht.

– Nicht ich.

– Wer denn sonst?

– Seine Schuld.

Mit noch größerem Staunen als zuvor sah der Matrose den Greis an; aber bald darauf zog sich seine Stirne wieder in drohende Falten zusammen.

– Wie heißen Sie? fragte der Greis.

– Ich heiße Halmalo, doch meinen Namen brauchen Sie nicht zu wissen, um von mir umgebracht zu werden.

In diesem Augenblick ging die Sonne auf. Ein heller Strahl fiel auf den Matrosen und leuchtete ihm ins trotzige Gesicht. Forschend betrachtete ihn der Greis. Das Geschützfeuer grollte noch immer aus der Ferne, aber mit Unterbrechungen und stoßweise wie in letzten Zuckungen. Ueber den Horizont senkte sich eine dichte Dampfwolke. Das Boot trieb, von keinem Ruderer mehr gelenkt, willenlos ins Weite. Der Matrose zog mit der rechten Hand eine seiner Pistolen und mit der Linken seinen Rosenkranz aus dem Gürtel. Aufstehend, hoch emporgerichtet fragte der Greis:

– Glaubst du an einen Gott?

– Unseren Vater im Himmel, versetzte der Matrose und schlug ein Kreuz.

– Hast du deine Mutter noch?

– Ja. Und er bekreuzte sich nochmals. Dann sagte er:

– Es muß sein. Ich schenke Ihnen nur noch eine Minute, gnädiger Herr. Und er schob den Hahn an seinem Pistol zurück.

0055

Es muß sein, ich schenke Ihnen nur noch eine Minute, gnädiger Herr!

– Warum hast du »gnädiger Herr« zu mir gesagt?

– Weil Sie ein Herr sind; das sieht man Ihnen an.

– Hast du einen Herrn?

– Ja, und einen Großen. Einen Herrn muß doch Jeder haben.

– Wo ist er, dein Herr?

– Das weiß ich nicht. Fort. Er heißt der Herr Marquis von Lantenac; er ist auch noch Vikomte von Fontenay und Fürst und Herr von Sept-Forêts. Gesehen habe ich ihn zwar nie, aber deshalb bleibt er nicht minder mein Herr.

– Und wenn du ihn sähst, würdest du ihm wohl gehorchen?

– Sicherlich. Wär ich doch ein Heide, wenn ich ihm nicht gehorchen wollte! Zuerst ist man Gott Gehorsam schuldig, dann dem König, weil er Gott am nächsten steht, und dann dem Herrn, weil er dem König am nächsten steht. Aber davon ist jetzt die Rede nicht: Sie haben meinen Bruder umgebracht und darum müssen jetzt auch Sie umgebracht werden.

– Daß ich ihn umgebracht habe, antwortete der Greis, daran that ich recht.

Der Matrose preßte die Finger krampfhaft um sein Pistol und sagte:

– Machen wir ein Ende.

– Meinetwegen, erwiderte der Greis, und setzte ruhig hinzu:

– Wo ist der Priester?

Der Matrose sah ihn fragend an:

– Der Priester?

– Ja wohl, der Priester. Deinen Bruder habe ich nicht ohne Beichte sterben lassen; den Priester bist du mir schuldig.

– Ja, wenn ich ihn hätte, entgegnete der Matrose, und fuhr dann fort:

– Als ob man hier auf offener See einen Priester holen könnte! Immer dumpfer ertönte der konvulsivische Geschützdonner des fernen Todeskampfes.

– Die, welche dort drüben sterben, haben einen, sagte der Greis.

– Schon wahr, murmelte der Matrose. Sie haben den Herrn Schiffsprediger.

Der Greis fuhr fort:

– Du vergreifst dich am Heil meiner Seele, und das fällt schwer ins Gewicht. Der Matrose schaute sinnend vor sich nieder.

– Und mit meinem Seelenheil, sagte der Greis, vernichtest du zugleich auch dein eigenes. Höre mich an: du dauerst mich. Nachher kannst du’s ja noch immer halten, wie du willst. Ich habe der Pflicht die Ehre gegeben, sowohl als ich vorhin deinem Bruder das Leben rettete, wie auch als ich es ihm wieder nahm, und jetzt gebe ich abermals der Pflicht die Ehre, wenn ich versuche, dir dein Seelenheil zu retten. Gieb wohl Acht; was ich sagen werde, bezieht sich unmittelbar auf dich. Hörst du die Kanonenschüsse dort drüben? In diesem Augenblicke sterben dort Männer, röcheln Verzweifelnde, Gatten, die ihre Frauen, Väter, die ihr Kind, Brüder, die, wie du, ihren Bruder nicht mehr wiedersehen werden. Und das Alles durch wessen Schuld? Durch deines Bruders. Du glaubst an einen Gott, nicht wahr? Aber dann mußt du auch wissen, daß in diesem Augenblick Gott leidet in seinem allerchristlichsten Sohn, dem König von Frankreich, der ein Kind ist gerade wie das Jesuskind, und den sie in den Thurm des Temple gesperrt haben; daß Gott leidet, so weit die ganze Bretagne reicht, in seiner Kirche, leidet in seinen geschändeten Kathedralen, leidet in seinen zerrissenen heiligen Büchern, leidet in seinen entweihten Andachtstätten, leidet in seinen hingemordeten Dienern. Warum haben wir uns eingeschifft allesammt auf jenem Wrack, das jetzt eben untergeht? Nur um Gott zu Hilfe zu eilen. Wenn dein Bruder ein treuer Knecht gewesen wäre, wenn er mit Klugheit, Eifer und Ernst seine Pflicht erfüllt hätte, dann wäre das Unglück mit dem Geschütz unterblieben, dann wäre die Korvette nicht beschädigt worden, wäre nicht von ihrem Kurs abgewichen, wäre nicht jenen gottvergessenen Kreuzern in die Hände gefallen, und wir, wir würden Alle, jetzt zur Stunde, als tapfere Kriegs- und Seeleute an der heimatlichen Küste landen, den Säbel in der Faust, mit fliegender Lilienfahne, stark an Zahl und stark an frischer Freudigkeit, und würden den wackeren Bauern der Vendée das Vaterland retten helfen, den König retten helfen, Gott retten helfen. Das wollten wir thun; das würden wir thun; das soll ich, der einzig Überlebende, noch immer thun. Aber du, du verhinderst es. In diesem Kampf der Gottlosen gegen die Priester, der Königsmörder gegen den König, des Höllenfürsten gegen Gott ergreifst du die Partei des Höllenfürsten. Dein Bruder war sein erster Helfershelfer; der zweite bist du. Was er begonnen, das führst du zu Ende. Du stehst den Königsmördern bei gegen den Thron, stehst den Gottlosen bei gegen die Kirche, nimmst Gott die letzte Hilfe weg in der Noth. Weil ich nicht da sein werde an des Königs Stelle, müssen die Dörfer weiterbrennen, die Weiber weiterweinen, die Priester weiterbluten, muß die Bretagne weiterleiden, der König seine Ketten weitertragen und unser Heiland weiterwanken gen Golgatha in Schmach und Schmerzen. Und wer wird das Alles auf dem Gewissen haben? Du. Nun, du hast ja die freie Wahl. Ich durfte zwar von dir gerade das Gegentheil erwarten; etwas Täuschung, und ja! im Grunde hast du ganz Recht: habe ich nicht deinen Bruder erschießen lassen? Dein Bruder ist muthig gewesen: ich habe ihn belohnt; er ist schuldig gewesen, und ich habe ihn bestraft. Er hat sich an seiner Pflicht versündigt, ich nicht, und was ich that, das würde ich wieder thun, und, das schwöre ich dir bei unserer hochheiligen Anna von Auray, die uns in die Herzen schaut: gerade wie ich deinen Bruder erschießen ließ, hätte ich im gleichen Fall meinen leiblichen Sohn erschießen lassen. Jetzt handle nach Gutdünken, aber ich bedaure dich. Du hast deinen Kapitän angelogen; du willst ein Christ sein und bist ohne Treu und Glauben; du willst ein Bretone sein und hast keine Ehre im Leibe; deiner Redlichkeit bin ich anvertraut worden; dein Verrath hat Ja dazu gesagt, und nun wirfst du Allen, denen du gelobt hast, mich zu retten, meinen Kopf vor die Füße. Weißt du auch, wen du dabei strafst? Dich! Du raubst dem König mein Leben und schenkst dafür deine Seele der Hölle. Aber laß dich nicht abhalten, begehe nur dein Verbrechen, thu’s! Dein Antheil an der ewigen Seligkeit ist dir feil und werthlos – gut. Dir also wird es zuzuschreiben sein, daß der Satan siegen wird, dir, daß die Heiden die Kirchen niederreißen, dir, daß sie fortfahren werden, die Glocken zu Kanonen umzugießen, um dann zu tödten mit dem, was den Seelen einst das Leben geben half. Jetzt, im Augenblick, da ich zu dir spreche, wird deine Mutter vielleicht zerrissen durch die Glocke, die deine Taufe eingeläutet hat. Aber geh, hilf nur dem bösen Feind, thu’s nur. Ja, ich habe deinen Bruder verurtheilt, doch wisse, daß ich ein Werkzeug bin des Allmächtigen. Du aber wirfst dich zum Richter auf über die Maßregeln Gottes – was? Du wirst nun wohl ins Gericht gehen mit dem Blitz des Himmels? Unglückseliger, du wirst gerichtet werden durch ihn. Bedenke wohl, was du thust. Weißt du auch nur, ob ich frei von jeglicher Todsünde aus der Welt gehe? Nein. Aber kehre dich daran nicht, und führe deinen Vorsatz nur aus! Es steht dir vollkommen frei, mich der Hölle in den Rachen zu schleudern und dich selber mit. Unser Beider Verdammniß liegt in deiner Hand. Die Verantwortlichkeit dafür trifft aber vor Gott nur dich. Wir sind allein, und ringsum gähnt der Abgrund. Vorwärts! Mach ein Ende! Vollbring’s! Ich bin ja alt, und du bist jung, ich bin wehrlos und du in Waffen. Losgedrückt! Feuer!

Während der Greis, hochaufrecht und mit einer Stimme, die das Rauschen der Wogen gewaltig übertönte, also sprach, ließen ihn die Schwankungen der Wellen einmal im Dunkeln, dann wieder im Sonnenlicht erscheinen. Der Matrose war kreideweiß geworden; große Schweißtropfen perlten ihm von der Stirn; er zitterte wie das Blatt im Wind; zuweilen führte er den Rosenkranz an seine Lippen. Als der Greis zu sprechen aufhörte, warf er sein Pistol hin und fiel nieder aus die Knie:

– Seien Sie barmherzig, gnädiger Herr! rief er ihn an, verzeihen Sie mir! Aus Ihnen redet der liebe Gott. Ich habe mich versündigt, und mein Bruder hat sich versündigt. Alles will ich thun, um wieder gut zu machen, was er verbrach. Machen Sie aus mir, was Ihnen beliebt. Befehlen Sie, und ich gehorche.

– Ich erbarme mich deiner, sagte der Greis.

II.

Bauerngedächtniß kann ebenso nützlich sein wie Feldherrntalent.

Die mitgenommenen Vorräthe kamen den beiden Flüchtlingen sehr zu Statten, denn, auf vielfache Umwege angewiesen, brauchten sie volle sechsunddreißig Stunden, bis sie die Küste erreichten. Sie verbrachten die nächstfolgende Nacht auf hoher See, aber es war eine schöne Nacht, nur etwas zu mondhell für Leute, die ungesehen bleiben wollen.

Zu Anfang mußten sie sich von Frankreich wieder etwas entfernen, wieder gegen Jersey zu. So kam’s, daß sie die letzte Geschützsalve der niedergedonnerten Korvette noch hörten, das letzte Gebrüll eines tödtlich getroffenen Löwen. Nun trat eine große Stille ein.

Diese Korvette »Claymore« endete in ähnlicher Weise wie der »Vengeur«; aber für sie blieb der Nachruhm aus. Der Kampf gegen das Vaterland läßt kein anerkanntes Heldenthum aufkommen.

Halmalo war geradezu überraschend: er verrichtete wahre Wunder seemännischen Geschicks und Scharfsinns. Diese aus dem Stegreif entworfene Fahrt durch die Klippen, die Wellenschläge und das Auflauern des Feindes war eine Musterleistung.

Nun hatte der Wind nachgelassen, und die See war fügsamer geworden, Halmalo wich vor les Caux des Minquiers aus, beschrieb einen Halbkreis um la Chaussée aux Boeufs und rastete einige Stunden in dem kleinen Schlupfhafen aus, der sich dort an der Nordseite zur Ebbezeit vorfindet; dann stahl er sich, den Kurs wieder nach Süden nehmend, zwischen Granville und den Chausey-Inseln durch, ohne von den beiden Wachtposten von Chausey und von Granville bemerkt zu werden, und lief in die Bucht von Saint-Michel ein, ein kühnes Unterfangen, wenn man die geringe Entfernung von Cancale in Betracht zieht, wo die Kreuzer einen Ankerplatz hatten. Am zweiten Tag Abends, etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang, landete er, den Mont Saint-Michel im Rücken, an einer Stelle des Strandes, wo sich gewöhnlich Niemand hinwagt, weil dort immer ein Auffahren im Sande zu befürchten steht.

Glücklicherweise hatten sie gerade hohe See. Halmalo trieb das Boot mit einem möglichst kräftigen Ruck ans Land, befühlte die Sandfläche, that dann, als er sie hinlänglich fest befunden, einen Sprung aus der Jolle und zog sie ans Ufer.

Der Greis folgte nach und suchte sich genau zu orientiren.

– Gnädiger Herr, sagte Halmalo, wir sind hier beim Ausfluß des Couesnon und haben an Steuerbord Beauvoir und Huisnes an Backbord. Geradeaus sehen Sie den Kirchthurm von Ardevon.

Der Greis bückte sich und nahm ein Stück Zwieback aus dem Boot; dann sagte er zu Halmalo:

– Nimm du den Rest.

Halmalo legte, was von der Ochsenzunge übrig war, zu dem Zwieback, lud den Sack auf die Schulter und fragte:

– Soll ich den gnädigen Herrn führen oder soll ich ihm folgen?

– Keins von Beiden.

Halmalo schaute den Greis verwundert an, und dieser fuhr fort:

– Wir werden uns trennen, Halmalo. Selbzweit gehen taugt nicht. Entweder zu Tausend oder Jeder für sich allein. Und sich unterbrechend, zog er aus einer seiner Taschen eine grünseidene Schleife, die beinah die Form einer Kokarde hatte und in deren Mitte eine goldene Lilie gestickt war.

– Kannst du lesen? begann er nun wieder.

– Nein.

– Schon recht; das Lesen thut nicht gut. Hast du ein scharf Gedächtniß?

– Ja.

– Schön. Und jetzt merke wohl auf, Halmalo: Du wirst rechts gehen und ich links, ich gegen Fougères zu, du gegen Bazouges. Den Sack behältst du bei dir; er giebt dir das Aussehen eines Bauern. Deine Waffen verstecke. Schneide dir einen Stock, krieche über die Aecker – der Roggen steht ja hoch –, schleiche die Hecken entlang, steige über die Pfahlzäune, um ins Freie zu kommen, meide Menschen, Wege und Brücken, halte dich in gehöriger Entfernung von Portorson … Ach so! du mußt ja über den Couesnon; wie willst du hinüberkommen?

– Durchschwimmen.

– Gut; es giebt übrigens eine Furt; weißt du vielleicht wo?

– Zwischen Ancey und Vieux-Mel.

– Ganz recht; ich sehe, daß du wirklich hier zu Hause bist.

– Aber es wird Nacht. Wo werden der gnädige Herr schlafen?

– Meine Sache; wo wirst du schlafen?

– In irgend einer Höhlung. Bevor ich Matrose wurde, war ich ein Bauer.

– Den Matrosenhut wirf ins Wasser! er könnte dich verrathen. Du wirst doch irgendwo eine andere Kopfbedeckung auftreiben können?

– O ja, eine Regenkappe, die giebt’s überall. Der nächstbeste Fischer wird mir seine verkaufen.

– Gut. Nun höre weiter: Du kennst doch die Wälder hier herum?

– Alle.

– In der ganzen Umgegend?

– Von Noirmoutier bis Laval.

– Kennst du sie auch bei ihren Namen?

– Die Wälder, die Namen, Alles.

– Und wirst auch nichts vergessen?

– Nichts.

– Gut, und jetzt aufgepaßt! Wie viel Stunden Wegs kannst du in einem Tag wohl zurücklegen?

– Zehn, fünfzehn, wenn’s noththut zwanzig.

– Es wird noththun. Verliere kein Wort von Allem, was ich dir jetzt sagen werde: Zunächst begiebst du dich in den Wald von Saint-Aubin.

– Bei Lamballe?

– Ja. Am Rande der Schlucht zwischen Saint-Rieul und Plédéliac steht ein großer Kastanienbaum. Bei dem hältst du still. Sehen wirst du Niemand.

– Aber es wird doch Jemand da sein; weiß schon.

– Du wirst das Zeichen geben. Kennst du das Zeichen auch?

Halmalo blies die Backen auf, wendete sich gegen das Meer und stieß den Eulenruf aus. Man hätte darauf geschworen, dieses »Huhu« ertöne aus tiefster Waldesnacht, so echt war’s und schauerlich.

0063

Halmalo schaute den Greis verwundert an.

– Gut, sagte der Greis; du bist ein Wissender.

– Hier, setzte er hinzu, indem er Halmalo die grünseidene Schleife hinhielt, hier hast du meine Kommandoschleife. Stecke sie zu dir. Einstweilen ist noch viel daran gelegen, daß mein Name unbekannt bleibe. Aber die Schleife genügt schon. Diese Lilie hat Madame, die Königin Antoinette, in ihrem Gefängniß mit eigener Hand gestickt.

Halmalo beugte das Knie und griff mit bebender Hand nach der Schleife, die er zu seinen Lippen führte; aber plötzlich innehaltend, fragte er mit innerem Grauen:

– Darf ich denn auch?

– Küssest du das Kruzifix nicht auch? Also.

Und Halmalo küßte die Lilie.

– Steh auf, sagte der Greis. Halmalo stand auf und verwahrte die Schleife an seiner Brust.

– Gieb wohl Acht, fuhr der Greis fort. Die Ordre lautet: Zu den Waffen – ohne Pardon. Beim Kastanienbaum giebst du also das Zeichen, und zwar zu dreien Malen. Nach dem dritten Mal wird ein Mann aus der Erde steigen.

– Aus einem Loch unten an einem Baum; weiß schon.

– Dieser Mann ist Planchenault, auch Coeur-de-Roi geheißen. Dem zeigst du die Schleife vor, und er wird verstehen. Nachher schleichst du auf Wegen, deren Wahl ich dir überlasse, in den Wald von Astillé; dort wirst du einen hinkenden Mann treffen, der den Beinamen Mousqueton führt, und der niemals Pardon giebt. Dem sagst du, daß ich ihn lieb habe, und daß er seine Gemeinden auf die Beine bringen soll. Ferner verfügst du dich in den Wald von Couesbon, eine Stunde von Ploërmel. Dort giebst du abermals das Zeichen und wirst einen Mann aus einer Öffnung hervorkriechen sehen, den Seneschall von Ploël, Herrn Thuault, welcher Mitglied der sogenannten konstituirenden Versammlung war, aber ein Rechtschaffener. Dem sagst du, er möge das Schloß von Couesbon in Stand setzen, ein Besitzthum des ausgewanderten Marquis von Guer. Schluchten, Buschwerk, ungleiches Terrain, läßt sich ausnützen; Herr Thuault ist ein gerader, besonnener Mann. Hieraus gehst du nach Saint-Ouen-les-Toits, wo du mit Jean Chouan sprechen wirst, der in meinen Augen der eigentliche Anführer ist, und von dort in den Wald von Ville-Anglose, wo du Guitter, auch Saint-Martin zubenannt, aufsuchen wirst, um ihm zu sagen, er solle ein Auge haben auf einen gewissen Courmesnil, Schwiegersohn des alten Goupil aus Préfeln und Rädelsführer der Jakobinerbande von Argentan. Präge dir Alles genau ins Gedächtniß! Ich gebe dir nichts Schriftliches mit, weil dergleichen nie schriftlich besorgt werden soll. La Rouarie hat ein Namensverzeichniß niedergeschrieben, und Alles kam heraus. Dann ermittelst du im Wald von Rougefeu einen Mann, der Miélette heißt und immer einen langen Stock mit eiserner Spitze führt.

– Mit so einem Stock setzt man über die breitesten Gräben.

– Kannst du das auch?

– Ich müßte keine Bretone und kein Bauersmann sein! Der Springstock ist ja unser Freund in der Noth; den Arm dehnt er aus und verlängert die Beine.

– Verringert demnach den Feind und verkürzt den Weg.

– Mit meinem Springstock habe ich einmal drei Salzwächter zurückgeschlagen, die mit Säbeln bewaffnet waren.

– Wann war das?

– Vor zehn Jahren.

– Da herrschte ja der König noch.

– Freilich.

– Damals also lehntest du dich auf?

– Gewiß.

– Gegen wen?

– Ja, das weiß ich nicht recht. Ich war Salzschmuggler.

– So.

– Sie nannten es eben den Kampf gegen die Salzsteuer. Haben denn die Salzsteuer und der König etwas mitsammen gemein?

– Ja. Nein …. Aber das sind Dinge, die du nicht zu verstehen brauchst.

– Ich bitte den gnädigen Herrn, mir zu verzeihen, daß ich so frei war, den gnädigen Herrn zu fragen.

– Fahren wir fort: Kennst du La Tourgue?

– Ob ich es kenne! Dort bin ich ja her.

– Wie so her?

– Nun ja, weil ich aus Parigné bin.

– Allerdings: Parigné liegt ganz nah bei La Tourgue.

– Ob ich es kenne, das große runde Schloß! Es ist ja das Stammschloß meines gnädigen Herrn! Ein großes eisernes Thor ist daran, welches das alte Schloß von dem neuen absperrt; mit Kanonen könnte man’s nicht sprengen. In dem neuen Schloß ist auch das berühmte Buch über den heiligen Bartholomäus zu sehen, das die Leute ehemals zu betrachten kamen. Ganz klein habe ich auf dem Grasplatz gespielt, wo die vielen Frösche sind. Und der unterirdische Gang erst! Den weiß vielleicht kein Mensch mehr außer mir.

– Ein unterirdischer Gang. – Was willst du damit sagen?

– Das war für die früheren Zeiten, damals als La Tourgue noch belagert wurde. Da konnten die Leute sich durch den Gang flüchten, der unter der Erde bis tief in den Wald hineinführt.

– Einen solchen Gang giebt es allerdings im Schloß La Jupellière und auch in dem von La Hunaudaye und im Thurm von Champéon, aber in La Tourgue ist nichts dergleichen vorhanden. – Ja doch, gnädiger Herr. Die Durchgänge, von denen der gnädige Herr sprechen, sind mir zwar unbekannt. Ich weiß blos um den zu La Tourgue, weil dort eben meine Heimath ist. Aber außer mir dürfte schwerlich Jemand darum wissen. Man sprach davon nicht; es war verboten, weil man den Gang zur Zeit des Herrn von Rohan im Krieg benutzt hatte. Mein Vater kannte das Geheimniß und hat mir’s gezeigt. So kenne denn auch ich den geheimen Eingang und den geheimen Ausgang; vom Wald kann ich in den Thurm und vom Thurm in den Wald gelangen, ohne daß mich Einer sieht. Und deshalb findet der Feind auch Niemand mehr, wenn er in das Schloß eindringt. Ja, so ist das eingerichtet in La Tourgue; ich weiß es genau.

– Du bist offenbar im Irrthum, erwiderte der Greis, nachdem er eine Weile nachgesonnen, wenn etwas Derartiges da wäre, müßte ich es kennen.

– Gnädiger Herr, ich bin meiner Sache gewiß. Es ist ein Stein, der sich dreht.

– So, so! Nun ja, von Steinen wißt ihr Bauern alles Mögliche zu erzählen, von Steinen, welche sich drehen, welche singen oder welche des Nachts an den Bach gehen, um zu trinken. Ammenmärchen.

– Wenn ich aber dem gnädigen Herrn sage, daß ich selber gesehen habe, wie sich der Stein drehte.

– Wie viel Andere haben ihn nicht auch singen hören! La Tourgue, mein Sohn, ist ein sicheres, festes Castell und leicht zu vertheidigen; allein wer sich auf einen unterirdischen Weg verlassen wollte, um zu entkommen, der wäre auf dem Holzweg.

– Aber gnädiger Herr…..

– Verlieren wir keine Zeit, unterbrach ihn der Greis mit einem Achselzucken, und kommen wir auf das Wichtigere zurück.

Dieser entschiedene Ton setzte jedem weiteren Betheuern eine Schranke.

– Fahren wir fort, sagte der Greis. Von Rougefeu, hörst du wohl, geht es dann in den Wald von Montchevrier; dort haust Benedicite, das Oberhaupt der Zwölf, auch Einer von den Rechten. Während er die Gefangenen füsiliren läßt, pflegt er sein »Benedicite« zu beten. Ja, nur keine Empfindelei in Kriegszeiten. Von Montchevrier gehst du …. Fast hätte ich das Geld vergessen, fiel er sich plötzlich ins Wort, und zog aus seiner Tasche eine Börse und ein Portefeuille, die er Halmalo übergab: Das Portefeuille hier enthält dreißigtausend Livres in Assignaten, etwas wie drei Livres zehn Sous. Die Scheine sind zwar falsch, aber die echten sind deshalb um keinen Heller mehr werth. In dem Beutel, paß auf, sind hundert Louisdor. Es ist meine ganze Baarschaft; hier brauche ich so kein Geld mehr, und es ist auch besser, wenn keines bei mir gefunden werden kann. Jetzt höre weiter: Von Montchevrier begibst du dich nach Antrain zu Herrn von Frotté, von Antrain nach La Jupellière zu Herrn von Rochecotte, von La Jupellière nach Noirieux zu dem Abbé Baudoix. Kannst du das Alles auswendig behalten?

– Wie das Vaterunser.

– In Saint-Brice-en-Cogles sprichst du mit Herrn Dubois-Guy, in dem befestigten Marktflecken Morannes mit Herrn von Turpin und in Château-Gonthier mit dem Fürsten von Talmont.

– Darf ich mit einem Fürsten denn auch sprechen?

– Sprichst du nicht auch mit mir?

Halmalo verneigte sich.

– Jeder, dem du die Lilie von Madame vorzeigst, wird dich willkommen heißen. Vergiß nicht, daß du Ortschaften berühren wirst, wo patschfüßiges Gebirgsvolk haust. Du wirst dich dann verkleiden müssen. Geht ganz leicht; so dumm sind diese Republikaner, daß Einen Keiner beachtet, wenn man nur einen blauen Rock, den dreieckigen Hut und die dreifarbige Kokarde trägt. Regimenter giebt es ja nicht mehr, Uniformen auch nicht; die Abtheilungen haben keine Nummern mehr und Jeder steckt sich in den Trödel, der ihm gerade paßt. Hernach gehst du nach Saint-Hervé zu Gaulier, auch Grand-Pierre geheißen; dann nach Parné, wo Männer mit geschwärzten Gesichtern im Quartier liegen; sie schießen mit Kies und mit doppelter Pulverladung, um mehr Lärm zu machen; daran thun sie auch recht; aber vor Allem schärfe ihnen ein: nur immer todtschlagen, todtschlagen, todtschlagen! Dann gehst du ins Lager von La Vache-Noire, das auf einer Anhöhe mitten im Wald von La Charnie liegt, ferner ins Lager von L’Avoine, ferner ins Lager Camp-Vert, ferner ins Lager von Les Fourmies, ferner nach Le Grand-Bordage, das auch Le Haut-du-Pré genannt wird; dort wohnt eine Wittwe, deren Tochter Treton, den sie auch »den Engländer« nennen, geheirathet hat. Le Grand-Bordage gehört zur Gemeinde von Quelaines. Auch Epineux-le-Chevreuil, Sillé-le-Guillaume, Parannes und die nächstliegenden Waldungen wirst du bereisen. Allenthalben wirst du Freunde treffen; die schickst du zur Grenzscheide von Ober- und Nieder-Maine. Endlich wirst du noch Jean Treton in der Gemeinde von Baisges, Sans-Regret in Le Bignon, Chambord in Bonchamps, die Gebrüder Corbin in Maisoncelles in Saint-Jean-sur-Erve le Petit-sans-Peur aufsuchen, der auch Bourdoiseau heißt. Wenn du das Alles besorgt und Jedem die Parole gegeben hast »Zu den Waffen – ohne Pardon«, wirst du dich der großen katholisch-königlichen Armee anschließen, wo sie zur Zeit gerade kampiren wird. Dort meldest du dich bei den Herren d’Elbée, von Lescure, von La Rochejacquelein, kurz bei den Chefs, die dann noch am Leben sein werden, und zeigst Ihnen meine Kommandoschleife vor. Sie werden sie schon erkennen; du bist zwar nur ein Matrose, aber Cathelineau ist auch nicht mehr als ein Fuhrmann. Du wirst ihnen in meinem Namen Folgendes verkünden: Es ist nun an der Zeit, beide Kriege zugleich zu führen, den großen und den kleinen; der große macht lautern Lärm, der kleine ausgiebigere Geschäfte; die Vendée ist allerdings gut, aber die Chouans sind ärger, und im Bürgerkrieg ist das Aergste stets das Beste, denn der Werth einer Kriegführung läßt sich überhaupt nur nach dem angerichteten Schaden bemessen.

Und in einen anderen Ton übergehend, fuhr der Greis fort:

– Von Allem, was ich dir da gesagt habe, hast du vielleicht nicht jedes Einzelne, den Sinn aber des Ganzen gewiß begriffen. Ich habe Vertrauen zu dir gefaßt, als ich zusah, wie du unser Boot lenktest; ohne je Geometrie gelernt zu haben, wußtest du doch die überraschendsten, scharfsinnigsten Schwenkungen zu erdenken; wer mit einer Barke so umzugehen versteht, gibt auch einen Lootsen ab für eine Volkserhebung; der Art nach, wie du mit der See fertig geworden bist, darf ich von dir erwarten, daß du alle meine Aufträge in entsprechender Weise ausführen wirst. Vernimm jetzt meine letzten Worte, die du den Generälen mittheilen sollst, dem Sinne nach, so gut du es eben vermagst – es wird schon richtig sein:

Ich ziehe den Krieg im Busch dem Krieg auf offenem Felde vor und trage kein besonderes Gelüste darnach, hunderttausend Bauern vor den Gewehrsalven der Blauen und der Artillerie des Herrn Carnot regelrecht in Reih und Glied zu stellen. Innerhalb eines Monats will ich fünfmalhunderttausend Schützen auf dem Anstand stehen haben in den Wäldern. Die republikanischen Regimenter sind mein Wild; meine Soldaten sollen Jäger sein; ich bin der Stratege des Busches…. ah, schon wieder ein Ausdruck, der dir nicht geläufig ist; thut aber nichts; klar wird dir schon dieses sein: Keinen Pardon! überall eine Falle. Weniger Gelehrsamkeit und mehr Hinterlist! Du wirst hinzufügen, daß wir die Engländer auf unserer Seite haben. Nehmen wir die Republik in ein Kreuzfeuer! Europa kommt uns zu Hilfe. Zertreten wir die Revolution! Im Osten hat sie den Krieg mit den Königreichen; im Westen erhebe sich der Kreuzzug der Dörfer! So wirst du zu ihnen sprechen. Hast du verstanden?

– Ja. Dreinfahren mit Feuer und mit Schwert!

– Recht so.

– Niemals Pardon geben.

– Keinem, recht so.

– Ich werde überall hingehen.

– Aber Vorsicht, denn hier zu Lande wird man leicht ein stiller Mann.

– Mich kümmert das wenig. Man weiß so nie, ob man den ersten Schritt nicht in den letzten Schuhen thut.

– Tapfer gesprochen.

– Und wenn man mich nach dem Namen des gnädigen Herrn fragt?

– Der muß noch verschwiegen werden. Du wirst einfach die Wahrheit sagen, daß du ihn nicht weißt. – Und wo werde ich den gnädigen Herrn wiederfinden?

– Wo ich gerade zugegen sein werde.

– Aber wie soll ich das erfahren?

– Von selbst, denn Jedermann wird es wissen. Ehe acht Tage vergehen, will ich von mir reden lassen, will den König und die Kirche durch Strafgerichte rächen, und du wirst schon erkennen, daß ich es bin, von dem geredet wird.

– Ich weiß schon.

– Also nichts vergessen.

– Seien Sie ganz unbesorgt.

– Und jetzt behüte dich Gott. Geh!

– Alles werde ich thun, wie Sie gesagt, werde gehen, werde sprechen, werde befehlen.

– Gut.

– Und wenn mir’s gelingt…

– Mach‘ ich dich zum Sanct-Ludwigsritter.

– Wie meinen Bruder, und wenn mir’s nicht gelingt, mögen Sie mich erschießen lassen.

– Wie deinen Bruder.

– Einverstanden, gnädiger Herr.

Der Greis senkte das Haupt und verfiel in strenges Sinnen. Als er wieder aufblickte, war er allein. Ein schwarzer, schwindender Punkt, verlor sich Halmalo schon am Horizont. Die Sonne war eben untergegangen. Die großen und kleinen Möven kamen heimgeflogen von draußen, vom Meer. Man fühlte jene Bangigkeit durch die Lüfte zittern, welche der Nacht vorangeht. Mitten unter dem Schmettern des Unkenrufs umflatterten die Wasserschnepfen mit schrillem Schrei die Pfützen, an denen sie gesessen; die Raben, Krähen, Dohlen stimmten ihr abendliches Gekrächze an; alle Vögel des Strandes lockten einander herbei. Von einem menschlichen Wesen keine Spur; in der Bucht kein Segel, kein Bauer drüben auf dem Gefild. So weit das Auge reichte, auf der öden Fläche die tiefste Einsamkeit. Die großen Sanddisteln schauerten zusammen; vom weißverdämmernden Himmel strömte noch über See und Küste ein fahler Widerschein, und fernab auf der finsteren Ebene schillerte hin und wieder ein Teich wie eine hingenagelte große Zinnplatte, indeß ein Windhauch landeinwärts hinstrich über die Fluthen.

Viertes Buch

0263

I

Der Tod fährt vorbei

Diesen ganzen Tag über war die Mutter, die wir mitten auf ihrer Irrfahrt verlassen, unterwegs gewesen. Sie wußte ja überhaupt von nichts Anderem mehr, als tagtäglich unausgesetzt vorwärts zu gehen. Wenn sie, vor Erschöpfung niedersinkend, im nächstbesten Winkel einschlummerte, so konnte dabei ebenso wenig von einem Ruhen die Rede sein, wie von einer Nahrung, wenn sie, dem Vogel gleich, der ein einzelnes Korn aufpickt, hin und wieder etwas zu sich nahm. Sie aß und schlief eben gerade soviel, wie nothwendig war, um nicht leblos zusammenzubrechen.

In einer verlassenen Scheune hatte sie die letzte Nacht zugebracht; ein Bürgerkrieg räumt ja allenthalben aus, und so hatte sie denn auf einem öden Feld vier Wände gefunden, eine offene Thür und unter einem Ueberrest von Dach ein wenig Stroh; darauf hatte sie sich hingelegt. Neben sich hörte sie das Rascheln der huschenden Ratten und über sich, durch das durchlöcherte Dach, sah sie die Sterne aufgehen. Einige Stunden darauf war sie, mitten in der Nacht, aus dem Schlaf gefahren und hatte sich wieder auf den Weg gemacht, um noch vor der Mittagshitze soweit wie möglich zu kommen. Im Sommer ist die zwölfte Nachtstunde für den Fußgänger barmherziger als die zwölfte Stunde des Tages.

Sie verfolgte, so gut sie eben konnte, den ihr vom Bauern in Vantortes summarisch vorgezeichneten Weg und hielt die Richtung gegen Sonnenuntergang ein, fortwährend »La Tourgue« vor sich hinflüsternd. Nebst den Namen ihrer drei Kinder war ihr kaum mehr ein anderes Wort geläufig als dieses. Während sie so vor sich hinging, grübelte sie; sie überdachte alle Abenteuer, die sie erlebt, überdachte Alles, was sie gelitten, Alles was ihr begegnet und was sie hatte hinnehmen müssen an Erniedrigungen, Alles was ihr zugemuthet, was von ihr begehrt und bewilligt worden, bald um ein Obdach, bald um ein Stück Brod, bald wieder um eine bloße Auskunft über ihren Weg. Ein elend Weib ist unglücklicher als ein elender Mann, weil sie immer möglicherweise noch andere Gefühle wecken kann als das Mitleid. O über dieses gräßliche Umherirren! Ihr war übrigens Alles ganz einerlei, wenn sie nur ihre Kinder wiederfand.

Schon beim Morgengrauen dieses Tages hatte sie im nächstgelegenen Dorf Menschen gesehen. Noch war das Dunkel der Nacht nicht geschwunden, und doch standen an der Hauptstraße des Orts einige Hausthüren halb offen und neugierige Gesichter schauten aus den Fenstern. Das Ganze glich einem aufgeschreckten Bienenkorb. Die Leute waren durch Wagengerassel und Eisengeklirr geweckt worden.

Auf dem Platz vor der Kirche stand eine verblüffte Gruppe und betrachtete mit vorgestreckten Köpfen einen Karren, der vom Hügel her gegen das Dorf zufuhr. Auf diesem vierräderigen Wagen, vor dem fünf Pferde an Ketten eingespannt waren, bemerkte man unter einer Blahe, die einem Bahrtuch ähnlich sah, eine unförmige Masse, die auf einer Menge aufgeschichteter Balken zu liegen schien. Voran und hinterher ritten je zehn Männer, welche dreieckige Hüte trugen und über deren Schultern etwas hervorragte wie gezogene Säbel. Das Alles bewegte sich langsam vorwärts und hob sich tiefschwarz vom fahlen Himmel ab, Wagen, Pferde, Reiter, Alles schwarz, und dahinter der aufdämmernde Morgen. Im Dorf angelangt, schlug es die Richtung nach dem Platz ein. Mittlerweile war es schon ein wenig Tag geworden, und nun konnte man das Ganze, das einer Schattenkavalkade glich, so stumm war die Eskorte, deutlich unterscheiden. Die Reiter waren Gensdarmen, in der That mit gezogenem Säbel, und die Blahe war wirklich schwarz.

Die bejammernswerthe irrende Mutter hatte in dem Augenblick den Platz erreicht und sich den zusammengelaufenen Bauern genähert, wo auch die Gensdarmen mit dem Karren ankamen. In der Gruppe wurde fragend und antwortend hin und hergeflüstert: Was ist das?

– Die Guillotine fährt vorbei. – Woher? – Von Fougères. – Und wohin? – Ich weiß nicht. Man sagt, nach einem Schloß gegen Parigné zu. – Nach Parigné? – Laßt sie fahren, wohin sie will, wenn sie nur hier nicht hält!

Dieser große Karren, der wie mit einem Bahrtuch bedeckt war, die Pferde, die schweigenden Gensdarmen, das Kettengeklirr in der Dämmerstunde, machten einen gespenstischen Eindruck. Der Zug bewegte sich über den Platz und verschwand. Da das Dorf in einer Vertiefung zwischen zwei Hügeln lag, erschien er jedoch den Bauern, die wie versteinert stehen geblieben waren, nach einer Viertelstunde auf der andern Anhöhe gegen Westen zu noch ein Mal. Die schweren Räder wurden in den Geleisen hin und hergerüttelt; die Ketten des Karrens zitterten im Morgenwind, und die Säbel glitzerten unter der aufgehenden Sonne. Jetzt bog es um die Ecke und fort war’s.

In demselben Augenblick war im Bibliotheksaal Georgette zwischen den schlafenden Brüdern erwacht und wünschte ihren rosigen Füßchen einen guten Tag.

II.

Der Tod spricht

Die Mutter hatte das schwarze Ding, dessen Bedeutung sie weder begriff noch zu begreifen versuchte, vorbeifahren sehen, aber dabei etwas ganz Anderes vor Augen gehabt: ihre Kinder draußen im Dunklen. Auch sie verließ, kurze Zeit, nachdem der Zug vorüber war, das Dorf auf demselben Weg und folgte in einiger Entfernung der zweiten Abtheilung Gensdarmen. Plötzlich fiel ihr das Wort Guillotine wieder ein; Guillotine! Michelle Fléchard, diese Wilde, wußte nicht, was das sei; aber ein gewisser Instinkt warnte sie davor; ohne daß sie verstanden hätte warum, überlief sie ein Schauder; es schien ihr entsetzlich, hinter dem Ding herzugehen, und nach links von der Straße abbiegend, verlor sie sich unter Bäumen; diese Bäume gehörten zum Wald von Fougères.

Nachdem sie eine Zeit lang umhergeirrt, gewahrte sie am Saum des Waldes den Kirchthurm und die Dächer eines Dorfes; darauf schritt sie zu, denn sie war hungrig. Die Ortschaft lag innerhalb des militärischen Rayons der Blauen und war von einem republikanischen Wachtposten besetzt. Michelle Fléchard ging auf den Marktplatz los. Auch dieses Dorf war voller Aufregung und Angst. Ein Menschenauflauf drängte sich gegen die Stufen des Gemeindehauses, und oben auf dem Perron stand ein Mann, der ein großes entfaltetes Blatt Papier in den Händen hielt; hinter ihm ein paar Soldaten zur Bedeckung, rechts ein Tambour, links ein Zettelankleber mit Kleistertopf und Pinsel. Auf der Altane über der Thür stand, in Bauernkleidern, aber mit umgebundener dreifarbiger Schärpe, der Bürgermeister. Der Mann mit dem Blatt Papier war ein öffentlicher Ausrufer. Er trug sein Reisebandelier und an diesem eine Ledertasche, woraus zu ersehen war, daß er von Dorf zu Dorf wanderte und durch die ganze Gegend etwas bekannt zu machen hatte. Im Augenblick, wo Michelle Fléchard näher trat, hatte er das Papier entfaltet, und begann jetzt mit lauter Stimme, den Inhalt vorzulesen: »Französische eine und untheilbare Republik.«

Der Tambour schlug einen Wirbel. In der Menge entstand gewissermaßen ein Hin- und Herwogen; die Einen nahmen die Mützen ab; Andere drückten den Hut tiefer in die Stirn. Zu jener Zeit und in jener Gegend ließen sich die politischen Gesinnungen beinahe mit Gewißheit an der Kopfbedeckung erkennen; die Schlapphüte waren royalistisch, die Mützen republikanisch. Das verworrene Gemurmel verstummte; man horchte auf, und der Ausrufer fuhr fort: »In Gemäßheit der Uns vom Wohlfahrtsausschuß ertheilten Befehle und Vollmachten …«

Abermals schlug der Tambour einen Wirbel. Der Ausrufer las weiter: »und zur Vollziehung des Dekrets des Nationalkonvents, welches die in Waffen ergriffenen Rebellen als außer dem Gesetz stehend erklärt und die Todesstrafe über Jeden verhängt, der ihnen ein Asyl gewährt oder zur Flucht verhilft …«

– Was ist das, ein Asyl? fragte mit gedämpfter Stimme ein Bauer seinen Nachbar.

– Weiß nicht, antwortete dieser.

Der Ausrufer machte eine Bewegung mit seinem Papier: »Laut Artikel 17 des Gesetzes vom 30. April, welches die Kommissäre und Unterkommissäre bei den im Feld stehenden Truppentheilen mit unumschränkter Gewalt ausstattet, sind hiermit als außer dem Gesetz stehend erklärt…«

Der Ausrufer hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »die unter folgenden Namen oder Beinamen bekannten Individuen…«

Alles lauschte hin. Mit dröhnender Stimme las der Ausrufer die Namen: »Lantenac, Räuber…«

– Das ist ja der gnädige Herr, murmelte ein Bauer. Und durch die Menge flüsterte es: Der gnädige Herr.

Der Ausrufer wiederholte: »Der vormalige Marquis von Lantenac, Räuber. Der Imânus, Räuber…«

Zwei Bauern warfen einander einen Seitenblick zu: Es ist Gouge-le-Bruant. – Ja, Brise-bleu.

Indessen fuhr der Ausrufer fort: »Grand-Francoeur, Räuber…«

– Ein geistlicher Herr, murmelte es durch die Menge. – Ja, der Herr Abbé Turmeau. – Freilich, irgendwo beim Wald von La Chapelle ist er Pfarrer. – Und Räuber, setzte ein Mann mit einer Mütze hinzu.

– »Boisnouveau, Räuber,« las der Ausrufer weiter: »Die zwei Brüder Pique-en-Bois, Räuber. Houzard, Räuber…«

– Das ist Herr von Quélen, sagte ein Bauer.

– »Panier, Räuber, Place-Nette, Räuber…«

– Herr Jamois.

Ohne sich durch diese Erläuterungen stören zu lassen, fuhr der Ausrufer fort: »Guinoiseau, Räuber. Chatenay genannt Robi, Räuber…«

– Guinoiseau, flüsterte ein Bauer, das ist Le Blond, und Chatenay ist aus Saint-Ouen.

– »Hoisnard, Räuber,« las der Ausrufer weiter.

Und in der Menge wurde bemerkt: Der ist aus Ruillé. – Ja, er heißt auch Branche-d’Or. – Sein Bruder hat beim Sturm auf Pontorson das Leben lassen müssen. – Hoisnard-Malonniecre, ja. – Ein schmucker Bursch von neunzehn Jahren.

– Achtung! mahnte der Ausrufer. Jetzt kommen die Letzten: »Belle-Vigne, Räuber. La Musette, Räuber. Sabre-tout, Räuber. Brin d’Amour, Räuber.

Bei diesem schäkerhaften Spitznamen (er bedeutet: Ein bischen Liebe) stieß ein Bauernbursch ein Mädel mit dem Ellenbogen in die Seite, und das Mädel schmunzelte dazu.

– »Chante-en-hiver, Räuber,« fuhr der Ausrufer fort. »Le Chat, Räuber…«

– Das ist Moulard, meinte ein Bauer.

– »Tabouze, Räuber…«

– Der heißt Gauffre, meinte ein Anderer. – Es sind zwei Brüder, die Tabouze, setzte ein Weib hinzu. – Lauter brave Kerle, brummte ein Bursch.

Der Ausrufer schwenkte das Papier, und der Tambour trommelte. – »Genannte Individuen,« begann der Ausrufer wieder, »sollen, wo immer sie auch aufgegriffen werden mögen, nach Feststellung ihrer Identität sofort hingerichtet werden.«

Es entstand eine allgemeine Bewegung.

– »Und wer denselben ein Asyl gewährt oder zur Flucht verhilft,« las der Ausrufer weiter, »wird einem Kriegsgericht überwiesen und gleichfalls hingerichtet. Gezeichnet…«

Jetzt herrschte atemlose Stille.

– »Gezeichnet: der Kommissär des Wohlfahrtsausschusses, Cimourdain.«

– Ein Priester, bemerkte ein Bauer. – Ja, der frühere Pfarrer von Parigné, bestätigte ein zweiter. – Turmeau und Cimourdain, sagte ein Bürgersmann, ein weißer Priester und ein Blauer. Und ein anderer Bürgersmann fügte hinzu: Schwarz sind alle Zwei.

Der Gemeindevorsteher auf der Altane nahm den Hut ab und rief: Es lebe die Republik!

Dann wurde durch einen neuen Trommelwirbel bekannt gegeben, daß der Ausrufer noch nicht zu Ende gesprochen habe; in der That winkte dieser mit der Hand und sagte: Aufgepaßt! Jetzt verlese ich die letzten Zeilen der amtlichen Verordnung. Sie sind gezeichnet vom Chef der Streifkolonne von Les Côtes-du-Nord, vom Kommandanten Gauvain.

– Hört! rief es aus der Menge.

Und der Ausrufer hob an: »Bei Todesstrafe…«

Alles verstummte.

– »Bei Todesstrafe ist, in Anbetracht obiger Verordnung, Jedem verboten, Hilfe und Vorschub den genannten neunzehn Rebellen zu leisten, welche gegenwärtig im Schloß La Tourgue umzingelt und belagert sind.«

– La Tourgue?! schrie eine Stimme, eine Weiberstimme, die Stimme der Mutter.

III.

Bauernklatsch.

Michelle Fléchard stand mitten im Gedränge. Sie hatte nicht zugehorcht; aber wenn man auch nicht horcht, so hört man, und so hatte sie das Wort La Tourgue gehört und war in die Höhe gefahren: Was? wiederholte sie, La Tourgue?

Alles sah zu ihr hin. Sie war in Fetzen.

– Die sieht aus wie eine Räuberdirne, murmelte es.

Eine Bäuerin, die einen Korb mit Buchweizenfladen am Arm trug, flüsterte ihr zu: Seid doch still!

0258

Eine Bäuerin flüsterte ihr zu: Seid doch still.

Michelle Fléchard starrte die Frau verwundert an. Sie verstand schon wieder nicht. Dieser Name, La Tourgue, war ihr wie ein Blitz durchs Herz gefahren, und nun verfinsterte sich Alles wieder. Hatte sie denn nicht ein Recht, zu fragen? Und warum schaute man sie so groß an?

Unterdessen hatte der Tambour zum letzten Mal gewirbelt; der Zettelankleber hatte die Bekanntmachung angeschlagen; der Bürgermeister war ins Gemeindehaus zurückgetreten; der Ausrufer hatte sich zu seinem Rundgang aufgemacht und die Menge verlief sich. Aber eine Gruppe war vor dem Plakat stehen geblieben. Zu dieser Gruppe trat Michelle Fléchard hin. Es war von den in Acht und Bann erklärten Insurgenten die Rede, und unter den Bauern befanden sich auch Bürgersleute, also unter den Weißen auch Blaue.

– Thut nichts, sagte ein Bauer, alle haben sie damit noch lange nicht, und neunzehn sind eben nur neunzehn. Sie haben weder Rion, noch Benjamin Moulins und Goupil aus der Gemeinde von Andouillé ebensowenig.

– Und auch Lorieul aus Monjean nicht, bemerkte ein Zweiter. Und andere Stimmen setzten weitere Namen hinzu.

– Dummes Geschwätz, sagte ein alter Weißkopf mit harten Gesichtszügen. Alles ist aus, wenn sie den Lantenac einmal haben.

– Den haben sie aber noch nicht, brummte einer von den Burschen.

– Mit Lantenac wird dem Aufstand das Herz ausgebrochen, fuhr der Greis fort. Stirbt Lantenac, so stirbt auch die Vendée.

– Was ist das denn eigentlich mit diesem Lantenac, fragte einer der Bürgersleute.

– Das ist ein vormaliger Marquis.

Und ein Anderer setzte hinzu: Einer, der die Weiber umbringt.

– Das ist wahr, sagte Michelle Fléchard, welche zugehört hatte. Man wendete sich nach ihr um, und sie fuhr fort: Ja, ich selber bin ja erschossen worden.

Das klang sonderbar; man betrachtete, und zwar etwas schief, diese Lebendige, die sich für todt ausgab. Unheimlich genug sah sie aus, bei der kleinsten Gelegenheit erbebend, verstört, verwildert, unstet, vor lauter Erschrockenheit ein Gegenstand des Schreckens. In der Verzweiflung eines Weibes liegt eine Hilflosigkeit, die ins Furchtbare hinüberspielt. Man glaubt ein Wesen vor sich zu haben, das außerhalb des gewöhnlichen menschlichen Schicksals schwebt. Doch die Bauern fassen die Dinge derber auf, und schon brummte Jemand: Die spionirt wohl.

– Aber so seid doch still und geht Eures Weges! sagte die gute Frau zu ihr, die sie bereits gewarnt hatte.

– Ich thue ja nichts Böses, antwortete Michelle Fléchard. Ich suche meine Kinder.

Die Bäuerin schaute die Leute an, die Michelle Fléchard anschauten, und erklärte, mit den Augen zwinkernd, indem sie den Finger an die Stirn legte: Die ist von Sinnen.

Dann nahm sie sie bei Seite und gab ihr einen Buchweizenfladen. Michelle Fléchard biß gierig hinein, ohne auch nur zu danken. – Ja, meinten die Bauern, sie frißt wie das liebe Vieh; sie ist wirklich von Sinnen.

Und langsam zerstreute sich die übrig gebliebene Gruppe.

Nachdem Michelle Fléchard gegessen hatte, sagte sie zu der Bäuerin: Gut, jetzt bin ich satt. Wo geht es nach La Tourgue?

– Nun kommt es schon wieder über sie! rief die Bauernfrau.

– Nach La Tourgue muß ich. Zeigt mir den Weg nach La Tourgue.

– Nun und nimmer, entgegnete die Bäuerin. Damit Ihr Euch umbringen laßt? Den Weg weiß ich übrigens garnicht. Ja, seid Ihr denn wirklich verrückt? Hört einmal, arme Frau, Ihr schaut recht müde aus. Wollt Ihr nicht ein wenig bei mir rasten?

– Ich raste nie, sagte die Mutter.

– Sie hat ganz wunde Füße, murmelte die Bäuerin.

– Ich habe Euch ja gesagt, fuhr Michelle Fléchard fort, daß man mir meine Kinder gestohlen hat; ein kleines Mädel und zwei Knaben. Ich komme aus der Waldhöhle. Fragt nur Tellmarch den Caimand oder den Mann, den ich drüben auf dem Feld angetroffen habe. Der Caimand hat mich ja geheilt; es scheint, daß etwas an mir gebrochen war. Das Alles sind lauter Dinge, die mir widerfahren sind. Da ist noch der Sergeant, Radoub, auch den könnt Ihr fragen. Der wird es Euch schon sagen, denn er hat uns ja im Wald gefunden. Es sind ihrer Drei; drei Kinder sind es; ich kann es Euch versichern. Wenn ich Euch sage, daß der Aelteste René-Jean heißt. Ich will Alles beweisen. Und der Andere heißt Gros-Alain und das Kleine Georgette. Mein Mann ist todt. Sie haben ihn umgebracht. Er war Pächter zu Siscoignard. Ihr habt ein gutmüthig Gesicht, geht, zeigt mir den Weg! Ich bin keine Närrin; ich bin eine Mutter. Meine Kinder habe ich verloren und jetzt suche ich nach ihnen. Weiter nichts. Ich weiß nicht recht, woher ich komme. Diese Nacht habe ich in einer Scheune auf dem Stroh geschlafen. Nach La Tourgue muß ich gehen. O ich bin keine Diebin. Ihr seht ja, daß ich die Wahrheit spreche. Meine Kinder sollte man mir doch wiederfinden helfen. Ich bin hier fremd. Sie haben mich erschossen, aber ich weiß nicht recht wo.

Die Bäuerin schüttelte den Kopf und sagte: Hört einmal, Frau, in Revolutionszeiten muß man nicht Sachen daherreden, die kein Mensch versteht; das könnte Euch noch in den Thurm bringen.

– Aber La Tourgue! schrie die Mutter. Liebe Frau, bei unserem Heiland und bei der guten heiligen Jungfrau Maria im Himmel bitte ich Euch, liebe Frau, ich beschwöre Euch, mit gefaltenen Händen, sagt mir, wie komme ich nach La Tourgue!

Jetzt wurde die Bäuerin zornig: Ich weiß es nicht, und wenn ich es wüßte, würde ich es Euch erst recht nicht sagen. Das sind Plätze, wo es nicht geheuer ist, und da geht man nicht hin.

– Ich gehe doch hin, sagte die Mutter und machte sich auf den Weg. Die Bäuerin sah ihr nach und brummte: Aber essen muß sie doch. Und ihr nachlaufend, legte sie ihr einen Fladen in die Hand: Da nehmt, für den Abend!

Michelle Fléchard nahm den Fladen, aber antwortete nicht, wendete den Kopf nicht um und ging weiter. Bei den letzten Häusern des Dorfes begegnete sie drei zerlumpten, barfüßigen kleinen Kindern. Sie trat zu ihnen hin und sagte: Das ist das Gegentheil: zwei Mädchen und ein Knabe. Und da die Kinder den Fladen betrachteten, schenkte sie ihn her. Die Kleinen langten danach und fürchteten sich. Sie aber ging waldeinwärts.

IV.

Ein Irrthum.

Am selben Tage, beim Morgengrauen, hatte sich in der verworrenen Dunkelheit des Waldes auf der Straße zwischen Javené nach Lécousse Folgendes zugetragen: Jeder Weg im Bocage ist ein Hohlweg, besonders aber die sehr tiefgelegene Straße, die von Javéne über Lécousse nach Parigné führt. Diese Straße, die von Vitré kommt und die Ehre gehabt hat, die Karosse der Frau von Sévigné hin- und herzuschütteln, macht nebenbei noch sehr scharfe Krümmungen und gleicht überhaupt mehr einer Schlucht als einem Weg; sie ist rechts und links mit Hecken wie zugemauert und in Folge dessen zu einem Hinterhalt geeignet wie sonst keine.

Früh Morgens also, eine Stunde bevor Michelle Fléchard auf einer anderen Seite des Waldes in jenes erste Dorf gekommen war, wo ihr der schauerliche Karren mit der Gensdarmen-Eskorte erschien, wimmelte es im Dickicht, durch das sich bei der Brücke über den Couesnon die Straße von Javené hinzieht, von unsichtbaren Männern hinter den Zweigen. Diese Männer waren Bauern und trugen alle den »Grigo«, jenen Kittel aus Ziegenhaar, der im sechsten Jahrhundert die bretonischen Könige und im achtzehnten die Bauern kleidete. Bewaffnet waren sie theils mit Flinten, theils mit Aexten. Die mit den Aexten hatten soeben aus trockenen Reisigbündeln und Holzklötzen in einer Lichtung eine Art Scheiterhaufen errichtet, den man blos mehr anzustecken brauchte. Die mit den Flinten waren auf beiden Seiten der Straße aufgestellt und schienen auf etwas zu warten. Wer durch das Laubwerk hätte hindurchschauen können, hätte hinter den Lücken zwischen den Zweigen an jedem Drücker einen Finger und allenthalben gesenkte Gewehrlaufe erblickt. Die Leute lagen auf der Lauer und alle Büchsen waren gegen die Straße gerichtet, die fahl sich abhob in der Morgendämmerung. Durch das Zwielicht flüsterten Stimmen:

– Weißt Du es auch gewiß? – Wenigstens habe ich es gehört. – Daß sie vorbeifahren wird? – Man sagt, sie sei in der Gegend. – Sie soll nicht wieder hinaus. – Brennen muß sie. – Dafür sind wir ja hier, volle drei Dörfer. – Ja, aber die Bedeckungsmannschaft? – Die wird niedergemacht. – Doch ist es auch gewiß, daß sie diesen Weg fährt? – Man sagt so. – Dann käme sie also von Vitré? – Warum denn nicht? – Aber es wurde doch gesagt, sie komme von Fougères. – Fougères oder Vitré, gleichviel, sie kommt aus der Hölle. – Ja. – Und dorthin muß sie zurück. – Gewiß. – Also fährt sie nach Parigné? – So scheint es. – Das soll sie nicht. – Nein. – Freilich nicht, nein, nein! – Aufgemerkt!

Und in der That war das Schweigen jetzt am Platz, denn es begann schon ein wenig zu tagen.

Plötzlich hielten die lauschenden Männer den Atem an; sie hatten Pferdegetrampel und das Rollen eines Wagens gehört, und, zwischen den Zweigen durchblickend, sahen sie die undeutlichen Umrisse eines langen Karrens, auf dem etwas lag und der mit einer Reitereskorte den Hohlweg heraufkam.

– Da ist sie, flüsterte Derjenige, der das Kommando zu führen schien.

– Ja, sagte Einer, der hinausspähte, unter Bedeckung.

– Wieviel Mann?

– Zwölf.

– Es hieß doch, sie seien ihrer zwanzig.

– Zwölf oder zwanzig, alle müssen hin werden.

– Nur abwarten, bis sie uns recht in den Schuß kommen.

Bald darauf bogen Karren und Eskorte um die Ecke, und waren da.

– Der König hoch! rief der Anführer der Bauern, und hundert Flintenschüsse fielen mit einem Knall. Als der Rauch zerstob, war auch die Eskorte zerstoben. Sieben Reiter waren gefallen, die fünf andern geflohen. Die Bauern eilten zum Karren hin.

0279

Das ist ja die Guillotine garnicht, das ist nur eine Leiter.

– Da schau, rief der Anführer, das ist ja die Guillotine garnicht; das ist nur eine Leiter.

Und wirklich, die Ladung des Karrens bestand einzig und allein in einer langen Leiter. Die beiden Pferde waren verwundet niedergestürzt, der Fuhrmann erschossen, aber nur aus Versehen.

– Gleichviel, sagte der Anführer, eine Leiter unter Kavalleriebedeckung ist immerhin verdächtig, und in der Richtung von Parigné … Was gilt’s? Die Leiter sollte nach La Tourgue.

– Ins Feuer mit ihr! schrieen die Bauern, und die Leiter wurde verbrannt. Während dessen war der unheimliche Karren, dem sie aufgelauert hatten, auf einer andern Straße schon zwei Meilen weiter in jenem Dorf, wo ihn Michelle Fléchard bei Sonnenaufgang vorbeifahren sah.

V.

Vox in deserto.9

Als Michelle Fléchard die drei Kinder verließ, denen sie ihren Buchweizenfladen geschenkt hatte, streifte sie aufs Gerathewohl durch den Wald. Da man ihr den Weg nicht sagen wollte, mußte sie ihn schon selber finden. Zuweilen setzte sie sich, wanderte dann weiter und setzte sich wieder. Auf ihr lastete jene Müdigkeit, die von den Muskeln bis ins Mark der Knochen übergeht, die Sklavenmüdigkeit, und eine Sklavin war sie auch, die Sklavin ihrer verlorenen Kinder, ihrer Muttersehnsucht, ihrer Angst, jede versäumte Minute könnte möglicherweise die Trennung zu einer ewigen machen. Sklavin einer Pflicht, welche kein Recht neben sich duldet, nicht einmal das Recht, aufzuatmen. Aber sie war sehr matt, so erschöpft, daß jeder neue Schritt in Frage gestellt war; hatte sie zu diesem einen Schritt überhaupt noch die Kraft? Seit Sonnenaufgang war sie unterwegs; ein Dorf oder sogar nur ein Haus war ihr nicht mehr zu Gesicht gekommen. Zuerst schlug sie den richtigen, dann den unrechten Pfad ein, und schließlich stand sie rathlos mitten im Einerlei des Dickichts. Näherte sie sich dem Ziel? War sie bald am Ende ihrer Leiden angelangt? Ihr Weg war der Weg zum Kreuz und sie empfand die Todesschwäche der letzten Station. Wenn sie jetzt zusammenbräche und stürbe? Es trat ein Augenblick ein, wo ihr das Weitergehen als ein Ding der Unmöglichkeit erschien. Am Himmel sank schon die Sonne; es dunkelte bereits im Wald; die Pfade verloren sich in Grasflächen und sie wußte nicht, was aus ihr werden sollte; keinen Halt hatte sie mehr auf Erden, außer ihrem Gott. Sie rief um Hilfe, aber Niemand antwortete.

Sie blickte um sich her, und es fiel ihr eine Stelle auf, wo sich das Dickicht lichtete; in dieser Richtung schleppte sie sich fort und befand sich plötzlich im Freien. Vor ihr lag ein Thalgrund, der kaum breiter war als ein Laufgraben und in dem ein klares Wässerchen zwischen Steingeröll rieselte. Jetzt erst wurde sie auf ihren quälenden Durst aufmerksam; sie stieg zum Bächlein nieder, trank, und, da sie nun schon einmal kniete, verrichtete sie auch ein Gebet. Als sie wieder aufstand, suchte sie sich zu orientiren. Sie schritt über das Rinnsal weg. Hinter dem kleinen Thalgrund dehnte sich, soweit der Blick reichte, eine weite mit niedrigem Gesträuch bewachsene Ebene, welche, vom Bett des Baches ab verlorenerweise steigend, die ganze Breite des Horizonts einnahm. Der Wald war die Einsamkeit, diese Ebene die Wüste; im Wald konnte man hinter jedem Busch vielleicht einem Menschen begegnen, aber hier auf dem Plateau war weit und breit nicht die geringste Spur von Leben zu entdecken; nur ein paar Vögel, die den Ort zu fliehen schienen, flatterten über dem Haidekraut davon.

Und nun, im Angesicht dieser endlosen Verlassenheit, mit wankenden Knien und wie irrsinnig, ließ die verstörte Mutter den wunderlichen Schrei in die Wüstenei hinausgellen: Ist denn Niemand hier?

Sie wartete auf eine Antwort.

Dies Mal wartete sie nicht vergebens. Vom fernen Horizont her erhob sich eine dumpfe, tiefe Stimme, die von Echo zu Echo wiederholt wurde, etwas wie ein Donnerrollen oder ein Kanonenschuß, der die Frage der Mutter mit einem Ja zu erwidern schien.

Dann wurde es wieder still. Die Mutter raffte sich neu gestärkt auf; es war doch wenigstens etwas zugegen; ihr war, als habe sie jetzt Jemand, mit dem sich reden ließ. Der Labetrunk und das Gebet gaben ihr Kraft, und sie schritt aufwärts, der Stelle des Plateaus zu, wo sich die ungeheure, ferne Stimme erhoben hatte.

Plötzlich sah sie am äußersten Horizont einen hohen Thurm emporragen. Der Thurm stand einsam, von der untergehenden Sonne röthlich angeglüht, in der wilden Gegend, in einer Entfernung von über einer Meile; hinter ihm verlor sich in Nebeln eine verschwimmende grünliche Baumwand, der Wald von Fougères. Der Thurm stand an eben derselben Stelle des Horizonts, von wo aus der rollende Lärm ertönt war, den Michelle Fléchard als eine Art Zuruf begrüßt hatte. Also rührte der Lärm wohl vom Thurm her. Die Mutter hatte das Plateau erstiegen, und vor ihr lag jetzt eine flache Ebene; auf dieser schritt sie in der Richtung des Thurms voran.

VI.

Situation.

Der Augenblick war da. Der Unerbittliche war über den Unbarmherzigen gekommen. Cimourdain hielt Lantenac in seiner Hand. Der alte rebellische Royalist saß in seiner Höhle gefangen; an eine Flucht war nicht zu denken und Cimourdains Plan zufolge sollte der Marquis in der Heimath, an Ort und Stelle, auf seinem Grund und Boden und gewissermaßen in seinem eigenen Haus enthauptet werden; damit das Beispiel recht unvergeßlich bleibe, sollte die mittelalterliche Burg den Kopf ihres mittelalterlichen Herrn fallen sehen. Zu diesem Zweck hatte Cimourdain die Guillotine von Fougères herbestellt, und diese war, wie wir wissen, auch bereits unterwegs. Lantenacs Tod war der Tod der Vendée und der Tod der Vendée die Rettung Frankreichs. Cimourdain wankte nicht; ihm wurde wohl bei der blutigen Erfüllung seiner Pflicht.

Der Marquis war schon so gut wie hingerichtet; darüber machte sich Cimomdain keine Sorgen; aber ein anderer Gedanke beunruhigte ihn. Es mußte ein gräßlicher Kampf werden und Gauvain, der ihn leitete, war der Mann nicht, blos zuzuschauen; der junge Führer hatte schon so oft mit eingehauen wie ein alter Soldat. Wenn er sich nun mitten ins Gewühl hineinstürzte? Wenn er umkäme? Gauvain! Cimourdains Kind, der einzige irdische Gegenstand seiner Einzelliebe! Bis jetzt hatte Gauvain wohl Glück gehabt, aber das Glück ist wandelbar, und davor zitterte Cimourdain, durch ein seltsam Geschick zwischen zwei Menschen hingestellt, die denselben Namen trugen und für deren einen er Vernichtung, für deren andern er Leben ersehnte. Der Kanonenschuß, der Georgette weckte und die Mutter aus ihrer rathlosen Einsamkeit herbeirief, hatte sich damit nicht begnügt. Der Zufall oder der Soldat, der das Geschütz gerichtet, hatte es gefügt, daß durch die Kugel, die doch nur mahnen sollte, das eiserne Gitterwerk, das die große Schießscharte der ersten Etage des Thurmes markirte und schloß, getroffen, zerfetzt und zur Hälfte losgebrochen wurde. Diesen Schaden auszubessern, hatten, die Belagerten keine Zeit mehr gehabt.

Mit den Munitionsvorräthen hatte der Imânus blos geprahlt; sie waren in Wirklichkeit sehr gering. Ueberhaupt war die Situation – der Umstand muß betont werden – noch kritischer, als die Belagerer es sich vorstellten. Wäre genug Pulver vorhanden gewesen, so hätten die Vertheidiger La Tourgue, sich und den Feind mit in die Luft gesprengt; es war das ihr Traum; aber die Mittel reichten nicht aus. Es kamen auf den Mann kaum dreißig Schüsse; Flinten, Karabiner und Pistolen gab es die Menge, aber nur wenig Patronen. Um ein ununterbrochenes Feuer zu ermöglichen, waren sämmtliche Waffen geladen worden; aber wie lange konnte dies Feuer andauern, das zugleich genährt und aufgespart werden wollte? Darin lag die Schwierigkeit. Zum Glück – ein entsetzliches Glück – würde hauptsächlich Mann gegen Mann, mit blanker Waffe, Säbel oder Dolchmesser, gekämpft, also mehr gerungen als geschossen werden. Mit der Hoffnung auf ein derartiges Gemetzel trösteten sich die Vertheidiger.

Das Innere des Thurmes schien uneinnehmbar. Im ebenerdigen Saal, in den die Bresche mündete, stand der Abschnitt, jene von Lantenac kunstvoll errichtete Barrikade, die den Eingang wehrte; dahinter ein langer Tisch mit geladenen Büchsen, Stutzen, Karabinern, Musketen, Aexten und Dolchmessern. Da das an den Saal stoßende Kerkerverließ zur Sprengung des Thurmes nicht hatte benutzt werden können, hatte der Marquis die Thür dazu verschließen lassen. Ueber diesem Saal lag die Kammer des ersten Stockwerks, zu der man nur durch eine sehr enge Wendeltreppe gelangen konnte. Diese Kammer, in der sich wie im unteren Saal ein Tisch mit schußbereiten Waffen befand, nach denen man die Hand blos auszustrecken brauchte, war durch die große Schießscharte erhellt, deren Gitter durch die Kanonenkugel zerschlagen worden. Von hier aus stieg die Wendeltreppe zur runden Kammer des zweiten Stockwerks, wo die eiserne Thür des Brückenschlößchens angebracht war; dieser Raum hieß entweder »das Zimmer mit der eisernen Thür« oder »das Spiegelzimmer,« weil dort unmittelbar auf dem nackten Stein an verrosteten Nägeln viele kleine Spiegel hingen, ein sonderbarer Luxus an einer sonst so verwahrlosten Stätte. Da sich die obersten Kammern nicht erfolgreich vertheidigen ließen, war das Spiegelzimmer der Ort, den Manesson-Mallet, eine maßgebende Autorität in derartigen Dingen, »die letzte Stellung« nennt, »in der den Belagerten meistens nichts mehr übrig bleibt, als zu kapituliren.« Es handelte sich, wie gesagt, darum, dem Feind das Vordringen in diesen Raum unmöglich zu machen. Trotzdem durch mehrere Schießscharten Licht genug hereinfiel, brannte hier eine Fackel; diese Fackel, die, gleich der des ebenerdigen Saales, in einem eisernen Halter stand, war durch den Imânus, und zwar in nächster Nähe der geschwefelten Lunte, angezündet worden, in einer gräßlichen Absicht.

Im Hintergrund des ebenerdigen Zimmers war, wie in einer homerischen Höhle, für Hunger und Durst gesorgt; große Schüsseln mit Reis, mit Buchweizensuppe und gehacktem Kalbfleisch, runde Kuchen aus Mehl und gedünstetem Obst und Krüge voll Aepfelwein standen dort auf einem quer über zwei Böcke gelegten Brett. Jeder konnte nach Belieben zugreifen.

Der Kanonenschuß hatte eine allgemeine Spannung hervorgerufen. In der nächsten halben Stunde mußte es ja zur Entscheidung kommen. Vom Thurm herab beobachtete der Imânus die Bewegungen der Feinde. Lantenac halte Befehl gegeben, sie heranrücken zu lassen, ohne einen Schuß zu thun. Sie sind ihrer Viertausendfünfhundert, hatte er gesagt; draußen ein paar umzubringen, wäre nutzlos. Wartet damit, bis sie drinnen sind, hier gleicht es sich wieder aus. Und lachend hatte er hinzugesetzt: Gleichheit, Verbrüderung. Der Imânus sollte, einer Verabredung gemäß, den Anmarsch der Blauen durch ein Hornsignal ankündigen.

Hinter dem Abschnitt und auf den untersten Treppenstufen aufgestellt, in stummer Erwartung, hielt Jeder mit der einen Hand sein Gewehr, mit der anderen seinen Rosenkranz. Die Situation war vollkommen klar. Die Stürmenden hatten eine Bresche zu ersteigen, eine Barrikade zu nehmen, drei über einander liegende Säle nach einander in hartem Kampf zu erobern und unter einem Kugelregen zwei Wendeltreppen Stufe für Stufe dem Gegner abzuringen. Die Belagerten hatten weiter nichts zu thun, als zu sterben.

VII.

Vor dem Angriff.

Seinerseits traf Gauvain die letzten Vorkehrungen für den Angriff und gab Cimourdain und Guéchamp noch einige ergänzende Winke. Cimourdain sollte, wie schon gesagt worden, ohne in die Aktion einzugreifen, das Plateau bewachen und Guéchamp hatte den Befehl, im Wald mit dem Gros der Truppen eine beobachtende Stellung einzunehmen. Es war ausgemacht worden, daß sowohl die tiefgelegene Batterie am Waldsaum wie die hohe Batterie auf dem Plateau nur im Fall eines Hervorbrechens oder eines Fluchtversuches feuern sollten. Gauvain hatte sich, zu Cimourdains heimlichem Bedauern, das Kommando über die Sturmkolonne vorbehalten.

Eben war die Sonne untergegangen.

Ein Thurm auf freiem Felde gleicht einem Schiff auf offener See und muß auch in ähnlicher Weise angegriffen werden; es ist dies mehr ein Entern als ein Stürmen, wobei die Kanonen überflüssig werden und wie alles Ueberflüssige wegfallen; was können auch Kanonen einer fünfzehn Fuß dicken Mauer anhaben? Ein Loch an der Stückpforte, dessen Eingang die Einen vertheidigen und die Anderen erzwingen, Beile, Messer, Pistolen, Fäuste und Zähne, mehr braucht es nicht.

0287

Gauvain wußte, daß es kein anderes Mittel gab, La Tourgue zu bewältigen; aber er wußte auch, daß es nichts Mörderischeres giebt als einen Kampf Brust gegen Brust; er kannte aus seinen Kinderjahren her die gewaltige innere Einrichtung des Thurms und stand in tiefernsten Gedanken. Da rief Guéchamp, der, einige Schritte weiter, den Horizont gegen Parigné zu durch ein Fernrohr betrachtete, plötzlich: Ah! endlich!

Dieser Ausruf riß Gauvain aus seiner Träumerei:

– Guechamp, was giebt’s?

– Kommandant, dort kommt die Leiter.

– Unsere Rettungsleiter?

– Jawohl.

– Wie? erst jetzt?

– Ja, Kommandant, und ich war schon in Sorgen. Der Reiter, den ich nach Javéne abgeschickt, ist ja längst zurück.

– Ich weiß.

– Er hat auf dem Zimmerhof von Javené eine Leiter in der erforderlichen Länge vorgefunden, hat sie requirirt, auf einen Karren bringen und unter Bedeckung von zwölf Mann Kavallerie nach Parigné abgehen lassen. Er selber hat die Leiter noch fortfahren sehen und ist dann in gestrecktem Galopp hergesprengt.

– Ja, und hat das Alles gemeldet. Er hat auch noch hinzugefügt, der Karren werde, da er kräftig bespannt und schon gegen zwei Uhr fortgefahren sei, vor Sonnenuntergang hier eintreffen. Das weiß ich schon; was weiter?

– Was weiter, Kommandant? Untergegangen ist die Sonne bereits, und der Karren mit der Leiter war noch nicht da.

– Wie ist das nur möglich? Aber wir müssen dennoch angreifen. Die halbe Stunde ist vorüber. Einen Aufschub würde der Feind mißdeuten.

– Es kann angegriffen werden, Kommandant.

– Aber die Rettungsleiter haben wir doch nöthig.

– Allerdings.

– Und die haben wir nicht.

– Wir haben sie.

– Wieso?

– Darum sagt ich ja: Endlich kommt sie! Gerade weil sie nicht kam, habe ich mir die Straße von Parigné hierher durch das Fernrohr betrachtet und bin jetzt beruhigt. Dort drüben, Kommandant, können Sie den Karren, von den Reitern eskortirt, die Anhöhe herunterfahren sehen.

Gauvain nahm das Glas und schaute hin: In der That, da ist er. In der Dunkelheit läßt sich nicht Alles mehr unterscheiden; aber man sieht ja die Reiter. Es ist kein Zweifel. Nur scheint mir die Bedeckung stärker, als Sie gesagt hatten, Guechamp.

– Mir auch.

– Sie haben ungefähr noch eine Viertelmeile hierher.

– In fünfzehn Minuten ist die Leiter da, Kommandant.

– Nun kann gestürmt werden.

Was hergefahren kam, war wirklich ein Karren, aber der nicht, den die Beiden meinten.

Als Gauvain sich umwendete, erblickte er den Sergeanten Radoub, der in militärischer Positur, aufrecht und gesenkten Blicks mit Achtung dastand.

– Was ist, Sergeant Radoub?

– Bürger Kommandant, wir, die Leute vom Bataillon Bonnet-Rouge, möchten Sie um eine Vergünstigung bitten.

– Die wäre?

– Uns doch wieder mitsterben zu lassen.

– Ah so! sagte Gauvain.

– Wollen Sie uns die Liebe erweisen?

– Aber … je nach Umständen, antwortete Gauvain.

– Sehen Sie, Kommandant, seit der Affaire von Dol gehen Sie haushälterisch mit uns um. Wir sind noch unser Zwölf.

– Nun?

– Wir fühlen uns zurückgesetzt.

– Ihr gehört zur Reserve.

– Wir gehören lieber zur Avantgarde.

– Aber ich bedarf Eurer für den entscheidenden Ruck gegen Ende der Aktion. Ich bewahre Euch auf.

– Leider.

– Und dann, zur Sturmkolonne gehört Ihr ja schon; Ihr marschirt ja mit.

– Hinterher. Paris hat ein Recht voraus zu marschiren.

– Ich will mir es überlegen, Sergeant Radoub.

– Jetzt gleich, Kommandant. Eine bessere Gelegenheit wird sich kaum finden lassen. Heute gilt es eine Mordsuppe einzubrocken oder auszuessen. Es setzt was ab. An La Tourgue wird sich mehr als Einer die Finger verbrennen. Da bitten wir denn um die Gunst, mitthun zu dürfen.

Der Sergeant hielt inne, drehte seinen Schnurrbart und fuhr mit bewegter Stimme fort:

– Und dann, Kommandant, in dem Thurm, wissen Sie, sind unsere drei kleinen Kerlchen, unsere Kinder, die Kinder des Bataillons, und diese Schandfratze von einem Himmelsakramenter, dieser sichere Brise-bleu, dieser sichere Imànus Gouge-le-Bruand oder Bouge-le-Gruand oder Fouge-le-Truand, der Gottsdonnerwetterschuft des Teufels, bedroht unsere Kinder, sage unsere Kinder, unsere drei Würmer, Kommandant. Und wenn auch alle Schwerenoth dazwischenfährt, es soll ihnen kein Leids geschehen; verstanden, Obrigkeit? Wir leiden es nicht. Vor Kurzem habe ich die Waffenruhe benutzt und bin auf das Plateau gestiegen und habe sie durch die Fenster betrachtet; ja, sie sind wirklich da; vom Rand der Schlucht aus kann man sie sehen, und ich habe sie auch gesehen, und sie haben sich vor mir gefürchtet, die lieben Dinger. Kommandant, wenn Ihnen nur ein einziges Härchen an ihren kleinen Engelsperrücken gekrümmt wird, ich schwör es, Kreuzmillionenschockdonnerwetter, bei Allem was nur irgendwie heilig ist, so ziehe ich, der Sergeant Radoub, die alten Knochen des himmlischen Vaters zur Rechenschaft. Wir wollen unsere drei Rangen retten oder draufgehen, so spricht das Bataillon; das ist unser gutes Recht, Hagelstrambach! Draufgehen alle Zwölf, Kommandant, versteht sich, mit allem schuldigen Respekt.

Gauvain reichte Radoub die Hand und sagte: Ihr seid die Tapfern unter den Tapfern und sollt stürmen. Ich will die Arbeit zwischen Euch theilen; sechs vorn, um den Impuls zu geben, und sechs bei der Arrièregarde, um nachzuschieben.

– Kommandire wiederum ich die Zwölf?

– Gewiß.

– Dann dank ich, Kommandant, denn ich gehöre zur Avantgarde.

Und Radoub machte die Honneurs und trat in die Reihen zurück. Gauvain sah nach der Uhr, flüsterte Guéchamp ein paar Worte ins Ohr, und die Sturmkolonne wurde formirt.

VIII.

Rede und Gebrüll.

Cimourdain, der seinen Posten auf dem Plateau noch nicht bezogen hatte und neben Gauvain stand, trat zu einem Trompeter hin und sagte: Blase noch einmal zur Unterhandlung.

Der Trompeter blies und das Horn antwortete. Auch auf die zweite Anfrage antwortete das Horn.

– Was soll das? sagte Gauvain zu Guéchamp. Was will nur Cimourdain?

Cimourdain schwenkte sein weißes Tuch und näherte sich dem Thurm.

– Ihr Männer da droben, rief er mit lauter Stimme, kennt Ihr mich?

– Ja, erwiderte eine Stimme, die Stimme des Imânus, von den Zinnen des Thurms herab.

Beide Stimmen tauschten nun Rede und Gegenrede aus, und man vernahm folgendes Gespräch:

– Ich bin der Abgesandte der Republik.

– Du bist der frühere Pfarrer von Parigné.

– Ich bin der Bevollmächtigte des Wohlfahrtsausschusses.

– Du bist ein Priester.

– Ich bin der Vertreter des Gesetzes.

– Du bist ein Renegat.

– Ich bin der Kommissär der Revolution.

– Du bist ein Abtrünniger.

– Ich bin Cimourdain.

– Du bist der Satan.

– Ihr kennt mich?

– Wir verabscheuen dich.

– Ihr möchtet mich wohl gern in Eurer Gewalt haben?

– Wir sind hier unser Achtzehn, die ihren Kopf hergeben würden für den Deinen.

– Nun denn, ich bin bereit, meine Person an Euch auszuliefern.

– Vom Thurm gellte ein wildes Auflachen und der Schrei: Komm!

Das Schweigen höchster Spannung herrschte im Lager. Cimourdain fuhr fort: Ich stelle nur eine Bedingung.

– Welche?

– Hört mich.

– Sprich.

– Ihr haßt mich doch?

– Ja.

– Ich, ich liebe Euch und bin Euer Bruder.

– Bruder Kain, rief die Stimme vom Thurm.

– Schmäht nur, aber hört, entgegnete Cimourdain in einem eigenthümlichen Ton, der streng und mild zugleich klang. Ihr seid arme, irrgeleitete Menschen. Ich bin Euer Freund. Ich bin das Licht und rede zu der Unwissenheit. Im Licht wohnt Bruderliebe, und eine gemeinsame Mutter haben wir ja, das Vaterland. Also hört. Später werdet Ihr oder werden Eure Kinder oder Kindeskinder noch erfahren, daß Alles, was in diesem Augenblick geschieht, die Erfüllung höherer Gesetze fördert, und daß hinter der Revolution Gott steht. Soll sich bis zur Stunde, die in jedes Gewissen, auch in das Eure, Klarheit bringen und wo jeder Fanatismus, auch der unsere, schwinden wird, soll sich bis zum Aufdämmern jener großen Morgenröthe nicht eine Seele finden, die sich Eurer Verfinsterung erbarmt? Ich trete vor Euch hin und biete Euch meinen Kopf, mehr noch, ich reiche Euch die Hand und bitte Euch um die Gnade, Euch sterbend retten zu dürfen. Ich bin mit unbegrenzter Vollmacht ausgestattet und kann also erfüllen, was ich verspreche. In diesem Augenblick der Entscheidung strenge ich einen letzten Versuch an. Ja, ein Bürger ist, der zu Euch redet, und dieser Bürger ist zugleich ein Priester. Der Bürger bekämpft Euch, aber der Priester darf zu Euch stehen. Hört auf mich. Viele von Euch haben Weib und Kinder. Ich ergreife die Partei Eurer Weiber und Eurer Kinder, ergreife sie gegen Euch selber. O meine Brüder …

– Predige nur zu, grinste der Imânus.

– Brüder, fuhr Cimourdain fort, laßt die fluchwürdige Stunde nicht schlagen. Es soll hier zu einem Gemetzel kommen, und Viele der Unsern, die hier vor Euch stehen, werden morgen die Sonne nicht mehr aufgehen sehen; ja, es werden Viele von uns fallen, und Euch ist Allen der Tod gewiß. Uebt Barmherzigkeit an Euch selber. Wozu dies Blutbad, wenn es überflüssig ist? Wozu so viele Menschen umbringen, wenn deren zwei genügen?

– Zwei? fragte der Imânus.

– Ja wohl, zwei.

– Wer?

Lantenac und ich. Und mit gesteigertem Affekt sprach Cimourdain: Zwei Männer sind hier zu viel auf der Welt: für uns Lantenac und ich für Euch. Nehmt mein Anerbieten an, und Alle sollt Ihr das Leben behalten: gebt uns Lantenac und nehmt dafür mich hin. Lantenac wird guillotinirt werden und mit mir könnt Ihr anfangen, was Euch beliebt.

– Pfaffe, brüllte der Imânus, wenn wir Dich hätten, wir würden Dich auf glühenden Kohlen rösten.

– Thut das, sagte Cimourdain und fuhr dann fort: Ihr, die Verurtheilten im Thurm, könnt Euch binnen einer Stunde sammt und sonders Eures Leben und Eurer Freiheit erfreuen. Ich trage Euch die Rettung entgegen. Geht Ihr drauf ein?

Jetzt brach der Imânus los: Nicht allein bist Du ein Schurke; Du bist auch noch ein Narr. Ja, warum hältst Du uns überhaupt denn hin? Wer heißt Dich überhaupt zu uns reden? Wir unsern gnädigen Herrn ausliefern? Ja, was forderst Du denn da?

– Seinen Kopf, und Euch biete ich dafür …

– Deine Haut, denn Dich würden wir bei lebendigem Leib schinden wie einen Hund, Pfarrer Cimourdain. Aber nein, sein Kopf ist uns Deine Haut nicht werth. Hebe Dich weg.

– Es wird gräßlich werden. Zum letzten Mal, besinnt Euch.

Während dieses düstern Wortwechsels, den sowohl die in, wie die vor dem Thurm mit anhörten, wurde es Nacht. Der Marquis von Lantenac schwieg und ließ den Imânus reden; bei Feldherren ist dieser düstere Egoismus ein Vorrecht ihrer Verantwortlichkeit.

Mit dröhnender Stimme rief der Imânus über Cimourdain hinweg ins Weite: Männer, die Ihr uns angreift, unsern Vorschlag habt Ihr gehört; er ist ein für allemal gemacht, und nichts haben wir daran zu ändern. Nehmt ihn an, wo nicht wehe! Wollt Ihr? Wir geben Euch die drei Kinder zurück, die hier sind und Ihr sichert uns Allen das Leben und freien Abzug.

– Allen, ja, erwiderte Cimourdain, mit Ausnahme eines Einzigen.

– Wessen?

– Lantenacs.

– Der gnädige Herr! unsern gnädigen Herrn ausliefern? Nie.

– Lantenac müssen wir haben.

– Nie.

– Unter der Bedingung allein können wir uns verständigen.

– Dann fangt an.

Es wurde wieder still. Der Imânus gab das Hornsignal und stieg zu den Seinen herab. Der Marquis zog den Degen. Schweigend faßten die neunzehn Belagerten im ebenerdigen Saal hinter dem Abschnitt Posto und knieten nieder. Sie hörten, wie die Sturmkolonne mit regelmäßigem Schritt in der Dunkelheit gegen den Thurm heranmarschirte, immer näher; plötzlich stand die Kolonne still, dicht vor der Mündung der Bresche. Und jetzt, immer noch auf den Knieen, legten Alle durch die Schießscharten des Abschnittes auf den Feind an, und Einer unter ihnen, Pfarrer Turmeau genannt Grand-Francoeur, erhob sich und sprach, in seiner Rechten den Säbel und in der Linken ein Kruzifix schwingend, mit feierlicher Stimme:

– Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!

Alles feuerte, und der Sturm begann.

IX.

Titanen gegen Riesen

Es war auch in der That gräßlich, denn den gräßlichsten Traum übertraf noch dieses Handgemenge. Um etwas Aehnliches zu finden, müßte man zu den großen Zweikämpfen im Aeschylos oder zu den alten Metzeleien aus der Feudalzeit zurückgreifen, zu jenen »Angriffen mit kurzen Klingen«, die bis ins siebzehnte Jahrhundert hineinreichen, tragische Erstürmungen, bei denen man durch das Hinterpförtchen vordrang und die der alte Kriegsmann der Provinz Alentejo folgendermaßen beschreibt: »Nachdem die Mine ihre Schuldigkeit gethan, gehen die Belagerer mit blechbeschlagenen Brettern, Rundschilden, Sturmdächern, sowie auch reichlich mit Handgranaten versehen, vorwärts und bemächtigen sich der Verschanzungen oder Abschnitte, indem sie deren Vertheidiger durch eine lebhafte Attacke aus denselben vertreiben.«

Der Schauplatz des Angriffs war fürchterlich; es war eine jener Breschen, welche die Fachmänner »gewölbte Breschen« nennen, das heißt kein offener Durchbruch unter freiem Himmel, sondern, wie man sich wohl noch entsinnen wird, ein Riß durch die Mauer. Das Pulver hatte wie ein Bohrer gearbeitet, und seine Wirkung war so kräftig gewesen, daß es den Thurm mehr als vierzig Fuß über der Minenkammer gesprengt hatte; aber dennoch war es nur ein Spalt, und die praktikable Oeffnung der Bresche, die in den ebenerdigen Saal führte, erinnerte mehr an einen stechenden Lanzenstoß als an den schneidenden Hieb einer Axt. Es war eine Punktion an der Seite des Thurms, ein langer, durchdringender Einbruch, etwas wie ein horizontaler Schacht, ein darmartig geschlängelter, unmerklich aufsteigender Durchgang durch eine fünfzehn Fuß dicke Mauer, eine Art Cylinder, dessen ungestalte Höhlung von Hindernissen, Fallen und sonstigen Gefahren strotzte und in dem man mit der Stirn gegen den Granit, mit den Füßen gegen den Schutt, mit den Blicken gegen die Nacht stieß. Diese schwarze Wölbung gähnte die Angreifer gleich einem Schlund an, dessen Ober- und Unterkiefer durch die Steine der zerrissenen Mauer gebildet wurden, und starrte von Zacken wie ein Haifischrachen von Zähnen. Durch dieses entsetzliche Loch mußte man ein- und ausgehen; drinnen hagelte es Kugeln, und drüber hinaus, das heißt in dem niedrigen Parterresaal, erhob sich der Abschnitt.

Nur das Aufeinanderprallen der Sappeurs in den Galerien, wenn die Gegenmine die Mine durchschnitten hat, oder die Metzeleien mit dem Beil im Zwischendeck eines in der Seeschlacht geenterten Schiffes lassen sich mit diesem über alles Maß gräßlichen Grubenkampf an Gräßlichkeit vergleichen. Nichts Schaudervolleres als ein Blutbad in einem geschlossenen Raum.

Im Augenblick, wo die erste Woge der Belagerer hereinbrach, bedeckte sich die ganze Barrikade mit Blitzen, als schlügen unterirdische Wetterstrahlen ein. Der angreifende Donner antwortete dem Donner im Hinterhalt und zwischen den hin- und herknallenden Schüssen schmetterte Gauvain’s Ruf: »Drauf los!« dann der Ruf des Marquis: »Fest gegen den Feind!« dann der Ruf des Imânus: »Zu mir, die Männer von le Maine!« dann wieder das Geklirr der einhauenden Säbel und, Schlag auf Schlag, gräßliche lückenreißende Gewehrsalven. Die Fackel, die an der Wand hing, warf einen verschwommenen Flimmer auf das Entsetzliche; unterscheiden konnte man nichts; über Allem dehnte sich eine röthliche Schwärze, und wer hereindrang, wurde plötzlich blind und taub, taub vor Lärm und blind vor Rauch. Die Verwundeten lagen unter dem Geröll herum. Man trat auf Leichen, stampfte auf Wunden, quetschte gebrochene Gliedmaßen, aus denen sich ein Geheul erhob, und wurde in die Füße gebissen von Sterbenden. Die Stille, die zuweilen entstand, war noch abscheulicher als das Getümmel; man hörte, wie unter schauerlichem Ringen nach Athem, zähneknirschend, röchelnd, fluchend, Brust an Brust gerauft wurde; dann brach der Donner wieder los. Ein Blutbach rann durch die Bresche in die Dunkelheit hinaus und staute sich draußen im Gras zu einer dampfenden Lache. Fast hätte man glauben können, es blute der Thurm selber aus seiner riesigen Seitenwunde.

Merkwürdigerweise war von all dem Lärm im Freien kaum etwas zu vernehmen; rings um die angegriffene Festung, im Wald wie auf dem Plateau, herrschte in der stichdunkeln Nacht ein unheimlicher Friede. Drinnen wüthete die Hölle; draußen schwieg das Grab. Dieser Anprall von Menschen, die sich in der Finsterniß hinwürgten, das Gewehrfeuer, das Geschrei, das Wuthgebrüll, das ganze rasende Getümmel verhallte zwischen den Steinmassen der Mauern und Gewölbe; durch den luftkargen Raum wurde der Schall erstickt, und dem Gemetzel gesellte sich noch die Beklemmung zu. So wenig war außerhalb des Thurms von Allem zu hören, daß die kleinen Kinder in der Bibliothek weiterschliefen.

Mit der Hartnäckigkeit der Vertheidigung wuchs die Erbitterung des Angriffs. Es bietet keine Verschanzung größere Schwierigkeiten als diese Art Barrikaden mit einspringendem Winkel, und was den Belagerten an numerischer Stärke abging, das wurde durch die Vortheile ihrer Stellung ausgeglichen. Die Sturmkolonne erlitt bedeutende Verluste. Draußen am Fuß des Thurms in einer langgestreckten Zeile aufgestellt, drang sie langsam durch die Mündung der Bresche vor, immer kürzer werdend, wie eine Schlange, die in ein Mauerloch schlüpft.

Gauvain bewegte sich im dichtesten Gewühl des ebenerdigen Saals, mitten im Kugelregen, mit der Tollkühnheit des jungen Feldherrn und der Zuversicht des Mannes, der noch nie verwundet worden. Da er sich eben umwendete, um einen Befehl zu ertheilen, beleuchtete das Aufblitzen eine Gewehrsalve in seiner nächsten Nähe ein Gesicht.

– Cimourdain! rief er, was wollen Sie hier? Es war richtig Cimourdain.

– Ich will bei Dir sein, antwortete er.

– Aber Sie setzen ja Ihr Leben aufs Spiel!

– Und Du, was thust Du mit dem Deinen?

– Mein Hiersein ist nothwendig, Ihres nicht.

– Wo Du bist, muß auch ich sein.

– Nicht doch, liebster Lehrer.

– Doch, mein Kind.

Und Cimourdain blieb bei Gauvain.

Auf den Steinplatten des Saals häuften sich die Todten. Wiewohl die Barrikade immer noch Stand hielt, schließlich mußte sie offenbar der Uebermacht erliegen. Wohl waren die Angreifenden ohne Deckung, die Angegriffenen hingegen in sicherer Hut; wohl fielen für einen der Vertheidiger zehn der Belagerer; aber diese füllten ihre Lücken wieder aus und vermehrten sich, während Jene an Zahl abnahmen. Die neunzehn Belagerten befanden sich Alle hinter dem Abschnitt, gegen den ja der Sturm gerichtet war; sie hatten bereits Verwundete und Todte und konnten höchstens mehr ihrer fünfzehn weiterkämpfen. Einer der Wildesten, Chant-en-hiver, ein untersetzter Bretone, mit krausem Haar, war gräßlich verstümmelt; er hatte ein Auge verloren und die Kinnlade war ihm zerschmettert worden. Da er noch gehen konnte, schleppte er sich zur Wendeltreppe, stieg in die Kammer des ersten Stocks hinauf, um dort zu beten und zu sterben, und lehnte sich, weil ihm der Athem ausging, bei der großen Schießscharte gegen die Mauer.

Unten wurde das Gemetzel vor der Barrikade mit jedem Augenblick grauenvoller.

– Belagerte! rief Cimourdain, einen stillen Moment zwischen zwei Salven erhaschend, soll denn noch länger Blut fließen? Ihr seid verloren. Ergebt Euch. Bedenkt, daß wir unser viertausendfünfhundert sind gegen Euch neunzehn, das heißt über zweihundert gegen Einen. Drum streckt die Waffen!

– Lassen wir die sentimentalen Stilübungen, entgegnete der Marquis.

Und zwanzig Kugeln sausten als Antwort von der Barrikade herab.

Die Verschanzung stieg nicht bis zur Decke hinauf; dieser Umstand, der den Belagerten erlaubte, darüber hinwegzuschießen, erlaubte aber auch den Angreifenden, hinüberzuklettern. – Sturm auf die Barrikade! rief Gauvain. Meldet sich Einer, der hinauf will?

– Ich, sagte Radoub der Sergeant.

X.

Radoub

Den Belagerungstruppen stand eine große Ueberraschung bevor: Nachdem Radoub, der mit sechs Mann seines Bataillons an der Spitze der Sturmkolonne durch die Bresche gedrungen war – jetzt lagen von den sechs Parisern bereits vier todt am Boden –, nachdem also Radoub gerufen hatte: »Ich!« sah man ihn, statt voranzustürzen, zurückweichen und gebückt, geduckt, fast hinkriechend zwischen den Beinen der Soldaten, den Eingang der Bresche wieder erreichen und hinauseilen. War er geflohen? Radoub und Flucht? Wie reimte sich das wohl zusammen?

Als Radoub ins Freie kam, rieb er sich, noch ganz blind von all dem Rauch, die Augen, gleichsam um das Grauen der Nacht daraus wegzuwischen, und untersuchte beim Sternenschein die Mauer. Gleich darauf nickte er zufrieden mit dem Kopf wie Jemand, der zu sich selber sagt: Gut, ich habe mich nicht geirrt. Er hatte bemerkt, daß der tiefe Riß der explodirten Mine sich über der Bresche bis zu jener Schießscharte im ersten Stockwerk hinaufzog, deren Vergitterung durch eine Kanonenkugel eingeschlagen und losgelöst worden war. Die verbogenen Eisenstäbe hingen halb zerschmettert herunter, so daß ein Mann schon durchschlüpfen konnte, durchschlüpfen freilich, aber wie ließ sich denn das Fenster erreichen? Durch den Riß vielleicht, doch dazu war die Gewandtheit einer Katze erforderlich. Dem Sergeanten Radoub war eine solche Gewandtheit eigen; er gehörte zu jener Gattung von Kämpfern, welche Pindar »die geschmeidigen Athleten« nennt. Bei einem alten Soldaten kann sich unter Umständen die Behendigkeit der Jugend erhalten. Radoub, der früher bei den Gardes-françaises gedient hatte, war noch kein Vierziger und unbeschadet seiner herkulischen Stärke ein flinker Gesell. Er stellte seine Muskete hin, legte sein Wehrgehäng ab, zog Waffenrock und Weste aus und behielt nur seinen Säbel, den er zwischen die Zähne nahm, und seine zwei Pistolen, die er mit den Kolben nach oben in seinen Hosengurt steckte. Allen Ballastes also entledigt begann er unter den Augen desjenigen Theils der Kolonne, der noch nicht in die Bresche vorgedrungen war, an den Steinen des Mauerrisses wie über die Stufen einer Treppe hinaufzuklettern. Daß er keine Schuhe anhatte, kam ihm dabei nur zu Statten, denn nichts ist schmiegsamer als ein nackter Fuß; mit den Zehen in die Vertiefungen des Steins festgekrallt, arbeitete er sich mit Händen und Knieen empor. Es war ein mühseliges Steigen, etwas wie ein Aufklimmen an der gezähmten Klinge einer Säge. Ein wahres Glück, sagte er zu sich selber, daß Niemand im ersten Stock ist, sonst käm ich nicht so gemüthlich weiter.

Er hatte eine Höhe von wohlgemessenen vierzig Fuß in dieser Weise zu bewältigen, und dabei waren ihm noch die vorstehenden Kolben seiner Pistolen etwas hinderlich. Auch wurde, je höher er stieg, der Riß in der Mauer desto enger, so daß die Schwierigkeiten immer wuchsen und mit der Tiefe des Abgrunds die Gefahr eines Sturzes verhältnißmäßig zunahm.

Endlich hatte er den Sims der Schießscharte erreicht; er schob das verdrehte, gelockerte Gitter bei Seite, schwang sich, da die Oeffnung nun weitaus groß genug war, mit einer gewaltigen Kraftanstrengung empor, stemmte sich mit einem Knie auf den Fenstervorsprung, packte mit der einen Hand links und mit der andern rechts den festgebliebenen Stummel einer Eisenstange und bog, mit dem Säbel zwischen den Zähnen an beiden Fäusten über der Untiefe hängend, den Oberkörper in die Schießscharte vor. Nur noch ein Satz, und er stand im Saal des ersten Stockwerks.

Da erschien am Fenster eine Gestalt; urplötzlich tauchte vor Radoub etwas Grauenvolles in der Dunkelheit auf, ein blutiges Gesicht mit einem ausgeschlagenen Auge und einer zerschmetterten Kinnlade, und diese einäugige Schreckensmaske starrte ihn an. Nun langte die Gestalt mit ihren zwei Händen aus der Finsterniß heraus nach Radoub, und die eine zog ihm mit einem einzigen Griff die beiden Pistolen aus dem Gürtel, während die andere ihm dem Säbel zwischen den Zähnen wegriß.

Radoub war wehrlos. Ihm glitt das Knie auf der abschüssigen Brüstung der Schießscharte zurück; kaum konnte er sich noch mit seinen festgekrampften Händen an den zwei abgebrochenen Gitterstäben halten und hinter ihm klaffte ein vierzig Fuß tiefer Abgrund.

Die Schreckensgestalt war Chante-en-hiver, welcher, im Rauch, der von unten aufstieg, erstickend, sich zu der Fensteröffnung emporgerafft und dort wieder ein wenig erholt hatte, weil ihn die frische Nachtluft, die er jetzt einathmete, erquickte und ihm das Blut an den Wunden gerinnen machte. Plötzlich war auch vor ihm eine dunkle Gestalt aufgetaucht, und da Radoub, mit den Händen an die Eisenstäbe angeklammert, sich entweder ins Leere hinabstürzen oder entwaffnen lassen mußte, hatte ihm Chante-en-hiver mit entsetzlicher Kaltblütigkeit die Pistolen vom Gürtel und den Säbel aus den Zähnen gewissermaßen abpflücken können. Und jetzt entspann sich ein unerhörter Zweikampf, der Zweikampf zwischen dem Wehrlosen und dem Verwundeten, in dem der Sterbende offenbar Sieger bleiben mußte, denn eine Kugel genügte, um Radoub in den Abgrund niederzuschmettern, der unter ihm gähnte.

Zum Glück für Radaub konnte Chante-en-hiver die Pistolen, die er Beide in einer Hand hielt, nicht sofort verwenden und bediente sich einstweilen des Säbels, mit dem er einen Stoß nach Radoub’s Schulter führte. Durch diesen Stoß aber wurde Radoub zugleich verwundet und gerettet. Ohne Waffen, doch im Besitz seiner Vollkraft und seiner Wunde nicht achtend, die übrigens auch nicht gefährlich war, schwang er sich, die Gitterstäbe loslassend, voran, setzte mit mächtigem Sprung über die Fensterbrüstung und stand nun dicht vor Chante-en-hiver, der den Säbel weggeworfen hatte, und mit einem Pistol in jeder Hand, sich auf den Knieen aufrichtend, in unmittelbarster Nähe auf ihn anlegte, aber nicht sofort losdrückte, weil ihm vor Schwäche der Arm zitterte.

Radoub lachte dem Zögernden ins Gesicht: – Du Pfuiteufelslarve, schrie er ihn an, willst mir wohl gar bange machen mit Deinem Boeuf-à-la-mode-Rüssel? Donnerwetter, Dir haben sie die Schnauze nach Noten beschädigt.

Chante-en-hiver zielte noch immer.

– Nichts für ungut, Kamerad, lachte Radoub weiter, aber die blauen Bohnen haben Dir die Fratze recht gediegen zugestutzt. Armer Junge, Dir hat Bellona die Physiognomie zertrümmert. Nun ja, spuck ihn nur einmal heraus, Deinen kleinen Pistolenknaller, lieber Alter.

Der Schuß fiel und fuhr Radoub so hart am Kopf vorbei, daß er ihm das halbe Ohr mit fortriß. Chante-en-hiver erhob den andern Arm mit dem zweiten Pistol, aber Radoub ließ ihn nicht mehr zum Zielen kommen. – Ich habe genug, rief er, an dem einen abgeschossenen Ohr. Zwei Mal hast Du mich schon verwundet. Jetzt ist die Reihe an mir.

Und aus Chante-en-hiver losstürzend, fiel er ihm in den Arm, so daß die Kugel in die Wand einschlug, und schüttelte ihn bei der Kinnlade. Der Bauer stieß ein Gebrüll aus und sank in Ohnmacht. Radoub schritt über ihn weg und ließ ihn liegen. Jetzt da mein Ultimatum an Dich ergangen ist, sagte er, rühr Dich nicht mehr. Bleibe ruhig liegen, bösartige Blindschleiche. Du wirst wohl begreifen, daß es juxlos für mich wäre, Dich zu vertilgen. Krieche nur nach Herzenslust am Boden herum, Mitbürger meiner Pantoffeln. Stirb; das ist immerhin etwas; dann siehst Du wenigstens ein, daß Dir Dein Herr Pfarrer lauter dummes Zeug vorgeschwatzt hat. Fahr ab in das große Problem, Bauernseele.

Und er sprang in den Saal hinein. Stockfinstere Nacht, brummte er vor sich hin. Da Chant-en-hiver in den Zuckungen der Agonie heulte, drehte sich Radoub abermals um: Thu mir nur den einzigen Gefallen, und sei still, Du latenter Bürger. Mit Deinen Privatangelegenheiten befasse ich mich nicht weiter, und Dir den Rest zu geben, verschmäh ich. Laß mich ungeschoren.

Und unschlüssig fuhr er sich, während er Chante-en-hiver betrachtete, mit der Hand durch die Haare.

– Holla, was fang ich nur gleich an? Alles wäre schön und gut, aber da steh ich jetzt wie der Ochs am Berge. Ueber zwei Schüsse hätte ich verfügen können; Du hast den Stoff vergeudet, einfältiger Tropf, und dazu noch dieser Malefizrauch, der einem die Augen beizt. … Au! unterbrach er sich, da er zufällig sein Ohr berührt hatte, und wendete sich wieder zu Chante-en-hiver: Was hast Du jetzt davon, mir ein Ohr konfiszirt zu haben? Uebrigens entbehre ich das noch lieber als sonst etwas; es ist so nur ein Zierrath. Du hast mir auch die Schulter aufgeritzt, aber darauf pfeif ich. Gieb Deinen Geist in Frieden auf, ich verzeihe Dir, Landbewohner.

Er lauschte. Das Getöse im ebenerdigen Saal war schauderhaft. Der Kampf tobte toller denn je.

– Da drunten gehts hoch her, meinte er. Sie gröhlen »Vivat der König«; allen Respekt davor: sie krepiren mit Anstand.

Er stieß mit dem Fuß gegen seinen Säbel, hob ihn vom Boden auf und sagte noch zu Chante-en-hiver, der sich nicht mehr regte und vielleicht schon todt war: Siehst Du, Waldmensch, ein Säbel oder ätsch, das bleibt sich für das, was ich vorhatte, ganz gleich. Ich nehm ihn nur aus alter Freundschaft wieder zu mir. Meine Pistolen aber, die gehen mir ab. Hol Dich der Teufel, Du Kaffer! Wetter, was fang ich jetzt an? So richte ich hier nichts aus.

Er trat weiter vor und schaute um sich her, um sich zu orientiren. Da erblickte er plötzlich im Halbdunkel hinter dem Mittelpfeiler einen langen Tisch mit undeutlich schimmernden Gegenständen. Er tastete hin. Es waren Stutzbüchsen, Pistolen, Karabiner, eine ganze Reihe sorgfältig geordneter Feuerwaffen, die nur darauf zu warten schienen, daß ein Schütze sie zur Hand nehme. Diese Waffensammlung war der Kriegsvorrath, den die Belagerten für die zweite Phase des Kampfes aufgestapelt hatten.

– Man bediene sich beim Büffet, rief Radoub und warf sich freudestrahlend drüber her.

Jetzt konnte er walten wie ein Verhängniß.

Die Thür der Treppe, welche in das obere und untere Stockwerk führte, stand weit offen hinter dem Tisch mit den Waffen. Radoub ließ seinen Säbel fallen, faßte mit jeder Hand ein doppelläufiges Pistol an und entlud Beide zugleich unter der Thür aufs Gerathewohl in die Wendeltreppe; dann griff er nach einem Karabiner, mit dem er gleichfalls feuerte, und schoß ferner noch eine schwergeladene Stutzbüchse, die kartätschenähnlich fünfzehn Rehposten ausspieh. Darauf hin schöpfte er wieder Athem und schrie mit Donnerstimme die Treppe hinab: – Es lebe Paris! Dann, eine zweite Stutzbüchse packend, die noch dicker war als die Erste, legte er auf die gewundene Höhlung der Wendeltreppe an und wartete.

Die Bestürzung im Erdgeschoß war unbeschreiblich; gegen dergleichen sinnverwirrende Überraschungen hält kein Widerstand mehr Stich. Von den drei Schüssen, die Radoub abgefeuert, hatten zwei Kugeln getroffen; die Eine hatte den ältern Pique-en-Bois niedergestreckt, die Andere Herrn von Quélen genannt Houzard.

– Sie sind oben! rief der Marquis, und mit diesem Ruf war auch der Rückzug entschieden. Nicht rascher fliegt ein aufgeschreckter Schwarm Vögel davon, als jetzt Alles nach der Treppe stürzte. Der Marquis drängte selber zur Flucht: – Macht schnell, sagte er; der Muth besteht hier im Entrinnen. Im zweiten Stock sammeln wir uns: dort nehmen wirs wieder auf.

Er war der Letzte, der die Barrikade verließ, und dieser seiner Tapferkeit verdankte er das Leben, denn, hinter der Thür des ersten Stockwerks verschanzt, den Finger am Drücker der Stutzbüchse, lauerte Radoub den Entweichenden auf. Die Ersten, die um die Krümmung der Treppe bogen, erhielten die Ladung mitten in die Brust und wurden niedergeschmettert. Wäre der Marquis zuerst geflohen, so war auch er des Todes. Ehe Radoub zu einer andern Flinte greifen konnte, eilten die Andern vorüber; der Marquis kam zuletzt und stieg weniger rasch hinauf als seine Leute. Sie glaubten Alle, das erste Stockwerk wimmle von Soldaten und stürmten, ohne auch nur hineinzuschauen, in die zweite Etage, ins Spiegelzimmer, wo sich die eiserne Thür, wo sich die geschwefelte Lunte befand, und wo kapitulirt werden mußte oder gestorben.

Gauvain, den das Gewehrfeuer auf der Treppe nicht weniger überrascht hatte als seine Gegner und der nicht begreifen konnte, von wannen ihm diese Hilfe kam, hatte sie sich, ohne weiter darüber nachzugrübeln, zu Nutzen gemacht und mit den Seinen über die Barrikade setzend, die Belagerten mit dem Degen im Rücken bis zum ersten Stockwerk verfolgt. Dort fand er Radoub, der salutirend meldete: – Nur auf zwei Worte, Kommandant: Der Urheber bin ich; ich habe mich an Dol erinnert, es gehalten wie Sie und den Feind in ein Kreuzfeuer genommen.

– Der Schüler macht mir alle Ehre, sagte Gauvain mit einem Lächeln.

Wenn man eine geraume Zeit im Finstern zugebracht hat, gewöhnen sich die Augen schließlich daran wie die Nachtvögel; so bemerkte denn Gauvain, daß Radoub ganz mit Blut bedeckt war.

– Aber Kamerad, da bist ja verwundet!

– Ist nicht der Rede werth, Commandant. Ein Ohr mehr oder weniger, was hat das zu bedeuten? Ich hab auch einen Säbelstich abgekriegt, aber ich pfeife drauf. Wer eine Fensterscheibe eindrückt, schneidet sich immer ein wenig in die Finger. Uebrigens ist auch noch fremdes Blut dabei.

In dem von Radoub eroberten ersten Stock wurde nun eine Zeit lang gerastet. Man schaffte eine Laterne herbei. Cimourdain kam herauf und berieth sich mit Gauvain. Es mußte auch in der That Alles reiflich überlegt werden. Die Belagerer waren im Unklaren über die Absichten der Belagerten; sie wußten von deren Munitionsmangel nichts, ahnten nicht, daß es ihnen an Pulver gebrach, und da der zweite Stock die letzte haltbare Vertheidigungslinie war, konnte möglicherweise in der Treppe eine Mine angebracht worden sein.

So viel jedoch war gewiß: zu entrinnen vermochte der Feind nicht. Wer nicht gefallen war, saß oben wie unter Schloß und Riegel; Lantenac war in einer Mausefalle. Mit dieser Gewißheit durfte man sich wohl schon etwas Zeit lassen, um die beste Lösung auszuersinnen, und da man schon viele Verluste zu beklagen hatte, wollte man bei diesem neuen Angriff möglichst wenig Menschenleben opfern. Dieser letzte Sturm schien mit großen Gefahren verbunden, und aller Wahrscheinlichkeit nach war dabei ein verheerendes erstes Feuer auszuhalten.

Der Kampf war also unterbrochen. Im Besitz des Erdgeschosses und ersten Stockwerks, warteten die Belagerer, daß ihn der Kommandant wieder aufnehme. Gauvain und Cimourdain aber hielten noch immer Kriegsrath, und Radoub wohnte der Besprechung schweigend bei. Auf ein Mal wagte er, schüchtern salutirend, eine Frage: – Kommandant?

– Was wünschen Sie, Radoub?

– Verdiene ich nicht eine kleine Belohnung?

– Freilich. Verlange, was Du immer magst.

– So verlange ich, wiederum der Erste zu sein.

Das durfte ihm allerdings nicht abgeschlagen werden, und gethan hätte er es übrigens auch ohne Erlaubniß.

XI.

Die Verzweifelten

Während man sich im ersten Stock berieth, verschanzte man sich im zweiten. Im Erfolg steckt etwas wie Raserei, in der Niederlage die Tollwuth; ein wahnsinniger Zusammenstoß stand bevor. Den Sieg aus nächster Nähe winken sehen, berauscht; unten herrschte die Hoffnung, von allen Seelenkräften die mächtigste, wenn die Verzweiflung nicht wäre. Oben aber herrschte Verzweiflung, klare, überlegte, grausige Verzweiflung. Die erste Sorge der Belagerten, nachdem sie die Zufluchtstätte erreicht hatten, die letzte, die ihnen noch zu Gebot stand, war, den Eingang zu versperren. Die Thür verschließen, war unnütz, praktischer hingegen, die Treppe zu verrammeln, denn in einer solchen Situation ist ein Hinderniß, hinter welchem man sehen und kämpfen kann, einer verriegelten Pforte vorzuziehen. Der Raum war durch die Fackel erhellt, die der Imânus bei der Schwefellunte an der Maurer angebracht hatte. In diesem zweiten Stockwerk stand eine jener starken und schweren Truhen aus Eichenholz, in denen, vor Erfindung der Kasten mit Schubladen, Kleider und Wäsche aufbewahrt wurden; diese Truhe schleiften nun die Belagerten zur Treppenthür hin und zwängten sie in aufrechter Stellung so fest hinein, daß die Oeffnung der Breite nach ganz verstopft war und nur oben unter dem Gewölbe ein enger Raum freiblieb, der blos einen einzigen Mann durchließ und also den Vortheil bot, daß man die Eindringlinge einzeln niedermachen konnte; ob irgend Jemand sich durchwagen würde, war überhaupt zweifelhaft. Nachdem der Eingang nun versperrt war, gönnten sich die Männer etwas Ruhe und zählten sich. Von den Neunzehn waren nur noch sieben übrig, darunter der Imânus; außer diesem und dem Marquis waren sie Alle verwundet, nichtsdestoweniger aber sehr lebendig, denn in der Hitze des Gefechts behält Jeder, der nicht tödtlich getroffen ist, seine Rührigkeit. Die fünf Verwundeten waren Chatenay genannt Robi, Guinoiseau, Hoisnard Branche-d’Or, Brin-d’Amour und Grand-Francoeur. Die andern waren sämmtlich gefallen. Munition gab es keine mehr. Der Vorrath war erschöpft. Man zählte die Patronen, und es stellte sich heraus, daß die Sieben blos noch vier Schüsse abfeuern konnten. Es war also der Augenblick gekommen, wo es zu sterben galt. Man war hingedrängt zum furchtbar gähnenden Abgrund, und zwar an den äußersten Rand. Mittlerweile hatte der Angriff wieder begonnen, bedächtig und deshalb um so bedrohlicher. Man hörte, wie die Aufsteigenden die Treppe Stufe für Stufe mit den Gewehrkolben prüften. Kein Entrinnen; wohin auch? Durch die Bibliothek? Drüben auf dem Plateau standen die Kanoniere mit glimmender Lunte bei ihren Geschützen. Oder hinauf in die obersten Stockwerke? Wozu? Sie führten zur Plattform, und dort blieb kein anderer Ausweg, als sich vom Thurm herabzustürzen. Die sieben Ueberlebenden dieses epischen Kampfes sahen sich in dieser runden Mauer, welche sie zugleich schützte und preisgab, unerbittlich eingeschlossen und festgehalten; ohne gefangen zu sein, waren sie doch schon Gefangene. Jetzt ergriff der Marquis das Wort: Freunde, Alles ist verloren. Und nach einer Pause setzte er hinzu: Grand-Francoeur wird nun wieder der Abbé Turmeau.

Alle knieten mit ihren Rosenkränzen nieder. Immer lauter dröhnten die Kolbenschläge der Belagerer auf der Treppe. Grand-Francoeur, der mit Blut übergossen war, weil ihm ein Streifschuß einen Theil der Kopfhaut weggerissen hatte, erhob in der Rechten das Kruzifix. Der Marquis, wenn auch im Grund ein Skeptiker, war gleichfalls niedergekniet.

– Jeder, sagte Grand-Francoeur, bekenne jetzt lautvernehmlich seine Sünden; zuerst Sie, gnädiger Herr.

– Ich habe getödtet, antwortete der Marquis.

– Ich habe getödtet, beichtete Hoisnard.

– Ich habe getödtet, beichtete Guinoiseau.

– Ich habe getödtet, beichtete Brin-d’Amour.

– Ich habe getödtet, beichtete Chatenay.

– Ich habe getödtet, beichtete der Imânus.

Und Grand-Francoeur hob wieder an: Im Namen des dreieinigen Gottes ertheile ich Euch die Absolution. Fahrt hin in Frieden.

– Amen, setzten Alle hinzu.

– Jetzt laßt uns sterben, sagte der Marquis, indem er aufstand.

– Und weiter tödten, sagte der Imânus.

Nun schmetterten die Kolbenstöße bereits gegen die Truhe, welche die Thür versperrte.

– Denkt nur noch an Euren Gott, sagte der Priester. Die Erde ist für Euch nicht mehr vorhanden.

– Ja, bemerkte der Marquis, wir liegen schon im Grab.

Und alle neigten die Stirn und schlugen an ihre Brust. Nur der Marquis und der Geistliche standen aufrecht. Jeder Blick war gesenkt; der Abbé betete; die Bauern beteten; der Marquis brütete vor sich hin, und die Truhe erdröhnte schauerlich wie unter Hammerschlägen. Da erhob sich plötzlich hinter den Betenden eine frische, kräftige Stimme und rief: Hatte ich’s nicht gesagt, gnädiger Herr?

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Da erhob sich plötzlich hinter den Betenden eine kräftige Stimme.

Staunend wendeten sich Alle um. Die Mauer hatte eine Lücke. Diese Lücke rührte davon her, daß ein Stein, der vollständig, aber nur nicht mit Mörtel, an die übrigen angepaßt und unten und oben mit einer Angel versehen war, sich auf der Angel wie ein Weghaspel halb umgedreht hatte, und so auf beiden Seiten, rechts und links eine sehr enge Oeffnung darbot, die jedoch immerhin ein einzelner Mann noch als Durchgang benutzen konnte. Hinter dieser ungeahnten Thür erblickte man die obersten Stufen einer Wendeltreppe und über der höchsten Stufe ein dem Marquis wohlbekanntes Gesicht.

XII.

Ein Retter

– Du bist’s, Halmalo?

– Ja ich, gnädiger Herr. Da sehen Sie nun, daß es das wirklich giebt, Steine, die sich drehen lassen, und daß man heraus kann von hier. Ich komme gerade recht, aber machen Sie schnell. In zehn Minuten sind wir mitten im Wald.

– Ehre sei Gott in den Höhen, sagte der Priester.

– Retten Sie sich, gnädiger Herr, rief es aus Aller Mund.

– Ihr Alle zuerst, gebot der Marquis.

– Vor Allen Sie, gnädiger Herr, bat der Abbé Turmeau.

– Nein, ich zuletzt. Und mit strenger Miene fuhr der Marquis fort: Nur jetzt keinen edlen Wettstreit. Zur Großmuth fehlt uns die Zeit. Ihr seid verwundet, und ich befehle Euch, zu leben und zu fliehen. Rasch den Ausweg benutzt! Ich danke Dir, Halmalo.

– Herr Marquis, fragte der Abbé Turmeau, sollen wir uns denn trennen?

– Unten, freilich. Entkommen muß man immer nur einzeln.

– Wollen der gnädige Herr einen Sammelplatz bestimmen?

– Ja, eine Lichtung im Walde, Pierre-Gauvaine. Kennt Ihr den Ort?

– Alle, ja.

– Morgen um Mittag bin ich dort, und wer noch gehen kann, finde sich ein.

– Es soll geschehen.

– Und dann fangen wir den Krieg von Neuem an, sagte der Marquis.

Unterdessen hatte Halmalo bei einem Druck gegen den Stein bemerkt, daß derselbe festsaß und daß die Lücke nicht mehr geschlossen werden konnte. – Gnädiger Herr, mahnte er, lassen Sie uns eilen; der Stein giebt nicht mehr nach. Ich habe den Durchgang öffnen können, vermag aber nicht, ihn wieder zuzumachen.

Der seit vielen Jahren unbenutzt gebliebene Stein war wirklich wie verwachsen mit seinem Scharnier und widerstand fortan jeder Anstrengung.

– Gnädiger Herr, hob Halmalo nochmals an, ich hoffte, den Weg versperren zu können, und hoffte, daß dann die Blauen beim Eintreten garnichts vorfinden und nicht verstehen würden, wie Alles in Rauch und Nebel zerstoben sei. Aber nun will der Stein nicht mehr. Der Feind wird die Lücke wahrnehmen und kann uns verfolgen. Darum lassen Sie uns wenigstens keine Minute verlieren. Schnell die Treppe hinunter, Jedermann,

Der Imânus legte Halmalo die Hand auf die Schulter: Wie viel Zeit braucht man Kamerad, um durch diesen Gang zu einer Stelle des Waldes zu gelangen, wo man ganz sicher ist?

– Keiner ist doch schwer verwundet? fragte Halmalo.

– Keiner, wurde ihm geantwortet.

– Unter diesen Umständen reicht eine Viertelstunde hin.

– Kommt also, fuhr der Imânus fort, der Feind erst in einer Viertelstunde herein …?

– So kann er uns verfolgen, einholen aber nicht.

– Aber, sagte der Marquis, schon in fünf Minuten werden sie hier sein; länger kann ihnen diese alte Truhe nicht widerstehen. Noch ein paar Kolbenschläge, und sie ist gesprengt. Eine Viertelstunde? Ja, wer vermag denn den Feind eine volle Viertelstunde hindurch aufzuhalten?

– Ich, versetzte der Imânus.

– Du, Gouge-le-Bruant?

– Ja, ich, gnädiger Herr. Hören Sie nur: Von Euch sechsen sind fünf verwundet. Mir hingegen ist nicht einmal die Haut aufgeritzt worden.

– Auch mir nicht, sagte der Marquis.

– Sie, gnädiger Herr, sind der Anführer; ich bin blos ein Soldat; der Anführer und ein Soldat sind zweierlei.

– Nun ja. Jeder von uns hat seine besondere Pflicht.

– Nicht doch, gnädiger Herr. Wir haben, Sie und ich, eine und dieselbe Pflicht, nämlich die, Ihr Leben zu retten. Kameraden, sprach der Imânus, zu den Uebrigen gewendet«, es gilt, den Feind hinzuhalten und die Verfolgung möglichst lang zu hintertreiben. Hört also: Ich besitze noch meine ungeschmälerte Kraft und habe keinen Tropfen Blut verloren; da ich unverletzt bin, habe ich mehr Ausdauer als jeder Andere. Darum geht, aber laßt mir Eure Waffen zurück; ich werde einen guten Gebrauch davon machen und getraue mir, dem Feind eine starke halbe Stunde hindurch zu schaffen zu geben. Wie viel Pistolen sind noch geladen?

– Viere.

– Legt sie auf den Boden hin.

Man that ihm den Willen.

– Gut denn, ich bleibe. Ich will schon noch ein Wörtchen zu ihnen reden. Jetzt geht, und schnell!

Auf dem Gipfelpunkt einer Situation fallen die äußerlichen Formen des Dankes weg, und kaum gönnte man sich die Zeit, mit dem Imânus einen Händedruck zu wechseln.

– Auf baldiges Wiedersehen, sagte der Marquis.

– Nein, gnädiger Herr, darauf hoffe ich nicht; wir sehen uns so bald nicht wieder, denn ich werde sterben.

Alle betraten jetzt, Einer nach dem Andern, die enge Treppe, voran die Verwundeten. Während sie hinabstiegen, zog der Marquis einen Bleistift aus seiner Brieftasche und schrieb auf den Stein, der nicht mehr gedreht werden konnte und den Durchgang offen ließ, ein paar Worte.

– Kommen Sie, gnädiger Herr, mahnte Halmalo; die Anderen sind schon unterwegs.

– Und er verschwand im Treppenraum; der Marquis folgte nach, und der Imânus allein blieb zurück.

XIII.

Ein Henker

Von den vier Pistolen, die auf den Steinplatten lagen, denn gedielt war der Saal nicht, nahm der Imânus in jede Hand eine und ging schräg auf die Treppenthür zu, welche vermittelst der Truhe versperrt und geschlossen war. Offenbar besorgten die Angreifer irgend eine Ueberraschung, einen jener Verzweiflungsausbrüche, die den Sieger wie den Besiegten in eine gemeinsame Schlußkatastrophe verwickeln. In demselben Maß wie die erste Attacke ungestüm gewesen, war die letzte langsam und vorsichtig. Die Truhe konnten oder wollten vielleicht die Belagerer nicht einschlagen, und so hatten sie denn blos den Boden derselben mit Kolbenstößen gesprengt und durch den Deckel mit dem Bajonett Löcher durchgebrochen, durch die sie in den Saal zu schauen versuchten, bevor sie sich hineinwagten. Durch diese Lücken drang der Schein der Laternen, womit die Treppe beleuchtet war, und hinter einer der Oeffnungen gewahrte der Imânus eines jener hereinspähenden Augen. So fuhr er mit dem Lauf eines seiner Pistolen hinein und drückte los: der Schuß fiel und zu seiner großen Zufriedenheit vernahm der Imânus einen entsetzlichen Schrei; die Kugel hatte Auge und Hirn durchbohrt, und der lauernde Soldat war rücklings die Treppe hinuntergestürzt. Den unteren Theil des Deckels hatten die Angreifer an zwei Stellen erheblich beschädigt und zwei schießschartenartige breite Ritzen hineingeschnitten, wovon der Imânus nun die eine benutzte, um den Arm durchzustecken und sein zweites Pistol in die Masse der Belagerer aufs Gerathewohl abzufeuern; wahrscheinlich sprang dieser Schuß an der Mauer ab, denn man hörte vielfach aufschreien, als wären drei oder vier Menschen getödtet oder verwundet worden, und auf der Treppe entstand ein wirres Getöse, wie wenn Leute eine Stellung aufgeben und sich zurückziehen. Der Imânus schleuderte die beiden entladenen Pistolen bei Seite, packte die zwei letzten und blickte, die Waffen fest in den Fäusten haltend, durch die Scharten der Truhe. Seine Vermuthung bestätigte sich. Die Soldaten waren weiter hinabgestiegen und auf den drei oder vier sichtbaren Stufen der Treppenkrümmung wanden sich ein paar Sterbende. Nun wartete der Imânus ab. – Immerhin soviel Zeit gewonnen, dachte er. Da gewahrte er einen Mann, der auf dem Bauch heraufkroch, und zugleich erschien weiter unten, hinter dem Mittelpfeiler, an den sich die Stufen anlehnten, der Kopf eines Feindes. Auf diesen Kopf legte der Imanus wieder an und schoß. Mit einem Schrei sank auch dieser Soldat zurück. Und nun packte der Imânus das letzte geladene Pistol, das er in seiner linken Hand hielt mit der rechten, aber plötzlich durchzuckte ihn ein gräßlicher Schmerz, und an ihm kam jetzt die Reihe, in ein Gebrüll auszubrechen. Ihm wühlte ein Säbel in den Eingeweiden. Eine Faust, die des herangekrochenen Mannes,, hatte zu einer der unteren Lücken der Truhe hereingelangt und dem Imânus eine Klinge in den Leib gebohrt. Die Wunde war entsetzlich, der Bauch von oben nach unten aufgeschlitzt. Dennoch fiel der Imânus nicht zu Boden; er knirschte nur mit den Zähnen und murmelte: Auch gut.

Dann schleppte er sich taumelnd bis zur Fackel zurück, die neben der eisernen Thür brannte, legte sein Pistol weg, nahm die Fackel herunter und senkte sie, mit seiner linken Hand die hervorquellenden Eingeweide zurückhaltend, mit der Rechten nach der geschwefelten Lunte, die Feuer fing und aufflackerte; hierauf ließ er die Fackel wieder fallen und auf den Steinplatten weiterbrennen, griff abermals nach seinem Pistol und raffte sich, bereits am Boden liegend, noch auf, um mit seinem sterbenden Hauch die feurige Lunte anzufachen. Rasch glomm diese weiter, unter der Thür weg, dem Brückenschlößchen zu. Und nun, da ihm das Abscheulichste gelungen, stolzer auf sein Verbrechen als auf seinen Opfermuth, fand dieser Mann, der eben noch ein Held gewesen und jetzt nur mehr ein Mörder war, dieser Mann, dem schon der Tod im Herzen saß, ein Lächeln. – Sie werden an mich denken, murmelte er: An ihren Kindern räche ich das unsrige, den kleinen König in seinem Gefängniß.

XIV.

Auch der Imânus flüchtet

In diesem Augenblick entstand ein gewaltiger Lärm; über die wuchtig zurückgeworfene Truhe stürzte sich ein Mann mit blankem Säbel in den Saal. – Ich bin’s Radoub; wer will Hiebe? Zum Teufel mit dem ledernen Abwarten! ich will’s darauf ankommen lassen. Einem habe ich übrigens schon heimgeleuchtet. Jetzt packe ich Euch Alle an. Ob mit oder ohne Reisegesellschaft, hier bin ich. Wie viel seid Ihr?

Radoub war in der That ohne alle Reisegesellschaft. Nach der Verheerung, die der Imânus auf der Treppe angerichtet, hatte Gauvain, der das Springen einer maskirten Flattermine befürchtete, seine Leute zurückkommandirt und berieth sich wieder mit Cimourdain.

Radoub, säbelschwingend am Eingang dieses dunklen Gemachs, in dem nur noch der fahle Schimmer der erlöschenden Fackel zitterte, wiederholte seine Frage: Ich bin allein; wie viel seid denn Ihr? Und als Niemand antwortete, that er ein paar Schritte vorwärts. Da sprühte aus der Fackel einer jener Lichtstrahlen, die zuweilen einem verglimmenden Feuer entsteigen und die man ein Gluthenschluchzen nennen möchte: Der ganze Saal wurde dadurch erhellt. Radoub sah die kleinen Wandspiegel schillern, trat vor einen hin, betrachtete sein blutiges Gesicht und sein herabhängendes Ohr und murrte: Scheußliche Beeinträchtigung eines gewinnenden Aeußern!

Dann wendete er sich um, ganz verblüfft, das Gemach leer zu treffen: Niemand da, rief er; Präsenzstärke gleich Null.

Jetzt erst fiel sein Blick auf den gedrehten Stein, die Lücke und die Wendeltreppe. – Ah so! Nun verstehe ich. Ausgeflogen! So kommt doch, Kameraden! Alle herauf! Sie sind auf und davon, abgeschoben, ausgekniffen, durchgebrannt, verduftet. Dieser lumpige alte Thurm hat Sprünge und macht Sprünge. Durch das Loch hier haben sie sich gedrückt, die Kanaillen! Und da soll Einer mit Pitt und dem Koburger fertig werden, wenn dergleichen Dummheiten erlaubt sind! Der liebe Herrgott des Gottseibeiuns hat ihnen seine Protektion angedeihen lassen! Es ist keine Katze mehr da!

Da knallte ein Pistolenschuß; die Kugel fuhr Radoub am Ellenbogen vorbei und schlug sich an der Wand platt.

– Aber nein, es ist doch Jemand da. Wer hat die Gewogenheit gehabt, so gefällig zu sein?

– Ich, antwortete eine Stimme.

0311

Ein Windstoß riß den Rauchschleier entzwei.

Radoub streckte den Kopf vor und entdeckte im Halbdunkel die Gestalt des Imânus. – Ah, rief er, Einen wenigstens habe ich. Die Anderen sind abgefahren, aber Dich halten wir fest.

– Meinst Du? entgegnete der Imânus.

Radoub that einen Schritt und blieb dann stehen. – Hollah, Du dort am Boden, wer bist Du?

– Ich bin Einer, der am Boden Denen, die aufrecht stehen, ins Gesicht lacht.

– Was hältst Du da in der rechten Hand?

– Ein Pistol.

– Und in der Linken?

– Meine Gedärme.

– Ich nehme Dich gefangen.

– Fehlgeschossen.

Und der Imânus lehnte sich über die glimmende Lunte, hauchte noch seinen letzten Athemzug darüber aus und starb.

Kurz darauf standen Gauvain, Cimourdain und die Anderen im Gemach. Alle starrten nach der Lücke in der Mauer. Man forschte jeden Winkel aus und durchstöberte die Treppe; sie mündete in die Schlucht. Die Flucht war Thatsache. Den Imânus wollte man aufrütteln, aber er war todt. Gauvain untersuchte, beim Schein einer Laterne, die Oeffnung, durch welche die Belagerten entwichen waren; auch er hatte früher von diesem Drehstein erzählen hören, aber auch er hatte das Gerücht für eine Fabel gehalten. Bei näherer Betrachtung des Steins bemerkte er, daß etwas mit Bleistift darauf geschrieben stand; er leuchtete hin und las die Worte: »Auf Wiedersehen, Herr Vikomte. Lantenac.«

Mittlerweile war Guéchamp heraufgekommen. Der Gedanke an eine Verfolgung mußte von vornherein aufgegeben werden. Die Flucht war einmal gelungen und es ließ sich an der Sache nichts ändern, denn die Flüchtigen hatten die ganze Gegend mit Busch, Dickicht, Schluchten und Bewohnern für sich, mochten wohl auch schon weit fort sein, und wo hätte man sie überhaupt suchen sollen? Der ganze Wald von Fougères war ein einziges ungeheures Versteck. Was nun? Alles mußte wieder von vorn angefangen werden. Gauvain und Guéchamp tauschten ihren Verdruß und ihre Vermuthungen aus. Cimourdain hörte tiefernst zu, ohne selber ein Wort zu sprechen.

– Da fällt mir eben unsere Leiter wieder ein, nun, Guéchamp? fragte Gauvain.

– Die ist nicht eingetroffen, Kommandant.

– Wir haben den Karren unter Gendarmenbedeckung doch herfahren lassen.

– Auf dem war aber keine Leiter, erwiderte Guéchamp.

– Was denn sonst?

– Die Guillotine, sagte Cimourdain.

XV.

Es thut nicht gut, eine Uhr und einen Schlüssel in dieselbe Tasche zu stecken.

Der Marquis von Lantenac war so weit noch nicht, als man oben meinte, war aber nichtsdestoweniger vor jeder Gefahr, eingeholt zu werden, vollständig sicher. Er war Halmalo gefolgt. Die Treppe, auf der sie Beide hinter den übrigen Flüchtlingen hinabstiegen, lief hart bei der Schlucht und den Brückenpfeilern in einen engen gewölbten Durchgang aus, und dieser Durchgang mündete wieder in eine tiefe natürliche Erdspalte, die sich nach der einen Seite zur Schlucht, nach der andern in den Wald hinzog. Diese jedem Blick entrückte Zerklüftung des Bodens krümmte sich unter undurchdringlichem Gestrüpp durch. Hier Jemand einzufangen, war ein Ding der Unmöglichkeit; wer sich einmal in diese Erdspalte gerettet hatte, brauchte sich blos wie eine Schlange zu verkriechen, um gänzlich ungreifbar zu werden. Die Mündung des geheimen Durchgangs unten an der Treppe war mit Dornhecken so dicht verwachsen, daß es den Erbauern der unterirdischen Galerie zwecklos erschienen war, sie anderweitig zu schließen. Der Marquis hatte sich jetzt nur mehr zu entfernen. Auch für eine Verkleidung brauchte er nicht zu sorgen, denn nach seiner Ankunft in der Bretagne hatte er sein Bauernkostüm nicht wieder abgelegt; er hielt das für vornehmer. Blos schnallte er sein Degengehänge los und warf es von sich.

Als Halmalo aus dem Durchgang in die Erdspalte getreten war, waren die fünf Andern, Guinoiseau, Hoisnard Branche-d’Or, Brin-d’Amour, Chatenay und Abbé Turmeau bereits auf und davon.

– Die haben sich nicht lange besonnen, sagte Halmalo.

– Mache es auch so, versetzte der Marquis.

– Der gnädige Herr befiehlt, daß ich ihn verlassen soll?

– Gewiß. Du weißt es ja schon: Auf der Flucht muß man stets allein sein; oft kommt, wo Zwei nicht durchkommen, Einer durch. Beisammen würden wir die Aufmerksamkeit auf uns lenken, und Du könntest mich, ich Dich in eine üble Lage bringen.

– Der gnädige Herr kennt also die Gegend?

– Ja.

– Und beim Sammelplatz von La Pierre-Gauvaine bleibt’s, gnädiger Herr?

– Morgen Mittag.

– Ich werde dort sein, wir Alle. Ach! gnädiger Herr, unterbrach sich Halmalo selber, wenn ich bedenke, daß wir auf hoher See fuhren, wir Beiden allein, daß ich Sie tödten wollte, daß Sie mein gnädiger Herr waren, daß Sie es nur zu sagen brauchten und es doch nicht gesagt haben! Sind Sie ein Mann! – England, sagte der Marquis, es giebt kein anderes Mittel mehr. In vierzehn Tagen müssen die Engländer landen.

– Ich habe dem gnädigen Herrn noch über alles Mögliche Rechenschaft abzulegen. Die Aufträge sind besorgt.

– Das soll morgen an die Reihe kommen.

– Also auf Wiedersehen morgen, gnädiger Herr.

– Noch eins; bist Du hungrig?

– Wohl möglich, gnädiger Herr; ich hatte es so eilig, daß ich nicht mehr weiß, ob ich heute gegessen habe.

Der Marquis zog eine kleine Chokoladentafel aus der Tasche, brach sie mitten durch und theilte mit Halmalo.

– Gnädiger Herr, bemerkte dieser noch, zu Ihrer Rechten haben Sie die Schlucht, zu Ihrer Linken den Wald.

– Schön. Verlaß mich jetzt, und gehe Deiner Wege.

Halmalo gehorchte. Er tauchte in die Dunkelheit unter; noch ein Rascheln im Gesträuch, dann nichts mehr. Wenige Sekunden darauf wäre es unmöglich gewesen, ihm auf die Spur zu kommen. Diese buschige unentwirrbare Bocage-Gegend war der Bundesgenosse jedes Entrinnens; man verschwand nicht, man zerstob darin, und diese Leichtigkeit, mit der Alles sich nach den vier Winden zerstreuen konnte, war der Grund, weshalb die republikanischen Armeen sich vor dieser immer zurückweichenden Vendée und ihren so bedrohlich flüchtigen Kriegern scheute.

Der Marquis stand unbeweglich. Er gehörte zu jenen Charakteren, die durchaus nichts empfinden wollen; aber diesmal konnte er sich des wohlthuenden Gefühls nicht erwehren, nach all dem Blut und den Greueln wieder die frische Luft einzuathmen. Sich gänzlich gerettet wissen, nachdem man gänzlich verloren gewesen, in vollster Geborgenheit ausruhen, nachdem man schon in sein Grab geschaut, aus dem Tod ins Leben zurückkehren, das mußte sogar einen Lantenac bewegen, und obwohl ihm die Situation nicht neu war, konnte er von seiner unerschütterlichen Seele eine momentane Erschütterung nicht fernhalten; er mußte zugeben, daß er zufrieden war; doch bald drängte er diese Erregung, die fast einem Aufjubeln ähnlich sah, zurück. Er zog seine Repetiruhr und ließ sie schlagen. Wie viel Uhr? Zu seiner größten Verwunderung erst zehn. Wenn man einen jener entscheidenden Momente des Daseins, wo Alles in Frage steht, eben durchlebt hat, muß man immer staunen, daß so inhaltsschwere Minuten nicht länger gewesen sind als die gleichgiltigen. Der Kanonenschuß, der den Sturm ankündigte, war etwas vor Sonnenuntergang gelöst und La Tourgue eine halbe Stunde darauf, bei sinkender Nacht, zwischen sieben und acht, von der Kolonne angegriffen worden. Also war der kolossale Kampf, der gegen acht begonnen hatte, um zehn schon aus gewesen, und dieses ganze Heldengedicht hatte nicht über hundertundzwanzig Minuten gedauert. Katastrophen brechen zuweilen mit Blitzesschnelle herein; es sind dies die malerischen Verkürzungen der Ereignisse. Bei reiferer Ueberlegung hätte man es übrigens wunderbar finden müssen, wenn nicht dem also gewesen wäre, denn daß ein verschwindend kleines Häuflein einer so erdrückenden Uebermacht volle zwei Stunden widerstanden hatte, war merkwürdig genug, und sicherlich war sie weder kurz noch überstürzt zu nennen, jene Schlacht zwischen neunzehn und viertausendfünfhundert Gegnern.

Nun war es aber Zeit, von hinnen zu gehen. Halmalo mußte schon weit fort sein, und der Marquis hielt es nicht für rathsam, länger zu verweilen. Er steckte seine Uhr wieder zu sich, aber nicht in die Tasche, aus der er sie hervorgezogen, weil er bemerkt hatte, daß sie dort mit dem ihm vom Imânus eingehändigten Schlüssel der eisernen Thür in Berührung kam, und deshalb fürchtete, dieser Schlüssel möchte das Glas zerschlagen. Als er schon im Begriff war, seinerseits links einzubiegen, um sich nach dem Wald aufzumachen, glaubte er einen matten Glanz wahrzunehmen, der zu ihm herableuchtete. Er wendete sich um, und zwischen den scharfen Umrissen des Astwerks, die sich von einem gerötheten Himmel plötzlich bis in ihre kleinsten Einzelheiten deutlich abhoben, sah er die Schlucht durch einen weitgedehnten Schimmer beleuchtet. Von dieser war er aber nur wenige Schritte entfernt und ging schon darauf zu, als er sich eines Bessern besann und den Entschluß faßte, sich der Helle lieber nicht auszusetzen; woher sie auch kommen mochte, seine Sache war es jedenfalls nicht, sich darum zu kümmern. Schon hatte er die ihm von Halmalo bezeichnete Richtung eingeschlagen und näherte sich dem Wald; da, auf ein Mal, tönte in sein tiefes Versteck, durch das undurchdringliche Gestrüpp zu ihm herab ein fürchterlicher Schrei, der vom Rand des über der Schlucht ragenden Plateaus niederzugellen schien. Der Marquis schaute wieder hinauf und blieb stehen.

  1. Eine Stimme in der Wüste.

Erstes Buch.


Auf hoher See.

Im Wald von La Saudraie.

Ende Mai 1793 wurde eines der Pariser Bataillone, die unter Santerre in die Bretagne eingerückt waren, zu einem Streifzug durch den schauerlichen Wald von La Saudraie, Bezirk Astillé, kommandirt. Dieses Bataillon war nur dreihundert Mann stark, denn es hatte in jenen harten Kriegszeiten sehr nothgelitten – Zeiten episch heldenhaften Ringens, wo von den sechshundert Freiwilligen des ersten Pariser Bataillons siebenundzwanzig, des zweiten dreiunddreißig und des dritten siebenundfünfzig Mann aus der Argonne und den Schlachten von Valmy und Jemmappes zurückgekehrt waren.

Die Bataillone, die von Paris nach der Vendée abmarschirten, zählten neunhundertundzwölf Mann und führten jedes drei Geschütze. Ihr Zustandekommen war ein sehr rasches gewesen: Den 25. April, also zur Zeit, da Gohier die Justiz und Bouchotte das Kriegswesen leiteten, war vom Stadtbezirk Bon-Conseil der Vorschlag ausgegangen, in die Vendée Freiwilligenbataillone zu entsenden; hierauf hatte ein Mitglied des Stadtraths Namens Lubin Bericht darüber erstattet, und am ersten Mai hatte Santerre bereits zwölftausend Mann nebst einem Bataillon Artillerie und dreißig Feldgeschützen zusammen. Trotz aller Eile war die Art und Weise der Mobilmachung so vorzüglich, daß sie heutzutage der Einteilung der Linienkompagnien zu Grunde gelegt wird; es ist dadurch das frühere numerische Verhältniß zwischen Truppe und Unteroffizieren ein anderes geworden.

Unter dem Datum des 28. April war vom Pariser Stadtrath an die Freiwilligen von Santerre die Ordre ergangen: »Keine Gnade, keinen Pardon!« Ende Mai waren von den zwölftausend Parisern achttausend gefallen.

Das Bataillon, welches im Walde von La Saudraie operirte, rückte sehr behutsam vor. Von Hast keine Spur, ein fortwährendes Spähen nach rechts und links, vor sich hin und rückwärts: »Der Soldat muß ein Auge im Rücken haben«, meinte Kleber. Marschirt wurde schon lang. Wie viel Uhr oder welche Tageszeit es sein mochte, hätte sich schwer bestimmen lassen, denn in einem so urwüchsigen Dickicht weicht ein gewisses abendliches Dämmern auch der hellsten Mittagssonne nicht.

0002

Deshalb drangen die Soldaten so vorsichtig weiter.

Tragische Erinnerungen knüpften sich an diesen Wald: In diesem Gestrüpp hatte, schon im November 1792, der Bürgerkrieg seine Gräuelthaten begonnen; der wilde, hinkende Mousqueton war dieser Baumnacht entstiegen, die nunmehr ein Grab unzähliger Opfer schaudervollsten Mordes, eine Stätte des Entsetzens war; deshalb drangen die Soldaten so vorsichtig weiter in die Tiefen. Und doch blühte Alles rings um sie her und wob sich von allen Seiten zu einer zitternden Mauer von zartbelaubten, kühlfächelnden Zweigen zusammen; hin und wieder schillerte ein Sonnenstrahl in die grünende Finsterniß hinein und auf der Erde dehnte sich ein dichtüppiger Rasenteppich, gestickt und verbrämt mit Schwertlilien, Narcissen, lenzduftigem Safran und jenen kleinen Blumen, die das schöne Wetter ankündigen, und allen Moosgattungen in jeder erdenklichen Form durcheinanderwimmelnd, hier gekrümmt wie eine Raupe und dort gezackt wie ein Stern. Langsamen Schritts und schweigend bahnten sich die Soldaten einen Weg durch das leise auseinandergeschobene Astwerk, indem die Vögelchen über ihren Bajonetten weiterzwitscherten.

0003

Ein fortwährendes Spähen nach rechts und links.

Früher, in friedlichen Zeiten, hatte in den Gebüschen von La Saudraie die »Houiche-ba« florirt, so heißt dort nämlich das nächtliche Jagen auf jene Vögelchen; jetzt wurde nur noch Jagd gemacht auf Menschen.

In diesem Wald gediehen an hochstämmigen Holzarten nur Birke, Buche und Eiche; das ebene, mit Moos und Gras dichtbewachsene Terrain gab keinen Laut von sich unter den Tritten der schreitenden Männer; wenn sich ausnahmsweise ein Fußpfad zeigte, so war’s nur auf einer ganz kurzen Strecke; vor lauter Stechpalmen, Schlehdornen, Farrenkräuterstauden, Heuhecheln und Brombeerhecken konnte man einen Menschen auf eine Entfernung von nur zehn Schritten unmöglich gewahr werden.

Ein Reiher oder ein Wasserhuhn, die zuweilen durch die Wipfel hinflatterten, deuteten an, daß ein Sumpf in der Nähe war.

Der Zug bewegte sich auf gut Glück hin immer vorwärts, gespannt und besorgt, Gesuchtes zu finden.

Hin und wieder zeigten abgebrannte oder ausgetretene Stellen, kreuzförmig aufgerichtete Stöcke, blutige Zweige die Spuren menschlichen Aufenthaltes: hier war Menage gekocht, dort Messe gelesen worden, und dort hatte man die Verwundeten gepflegt. Aber die hier ausrasteten, waren verschwunden – wohin? vielleicht schon in weite Ferne; vielleicht auch mochten sie nur wenige Schritte weit mit zielenden Stutzen im Hinterhalt liegen. Einstweilen war der Wald wie ausgestorben. Das Bataillon marschirte mit steigender Vorsicht; Einsamkeit und Mißtrauen halten gleichen Schritt. Weit und breit keine Seele, also ein Grund mehr zur Besorgniß in dieser berüchtigten Einöde; wie nahe lag da die Wahrscheinlichkeit einer listig gestellten Falle.

Dreißig Grenadiere unter der Führung eines Sergeanten gingen in beträchtlicher Entfernung vom Kern des Bataillons als Eclaireurs voraus, mit ihnen die Marketenderin.

Marketenderin schließen sich überhaupt lieber der Avant-Garde an: es ist dies zwar mit Gefahr verbunden, aber man bekommt dabei doch etwas zu sehen, und die Neugierde ist einmal eine der Aeußerungen weiblicher Tapferkeit.

Plötzlich durchzuckte jeden Einzelnen dieses kleinen Vortrabs jener den Jägern wohlbekannte Schauer, wenn sie auf ein Wild gestoßen sind. Mitten aus einem Dickicht heraus hatte man etwas wie ein Aufathmen vernommen, und nun schien es auch, als ob es sich im Laubwerk rührte. Die Soldaten winkten einander zu.

In den Späher- und Lauscherdienst der Eclaireurs braucht kein Offizier einzugreifen; was geschehen soll geschieht schon von selbst. Vor Ablauf einer Minute war die verdächtige Stelle bereits umstellt und ein Kreis von Gewehrläufen darauf gerichtet; von allen Seiten her hatten die Soldaten den dunkeln Mittelpunkt des Dickichts aufs Korn genommen und erwarteten, den Finger am Drücker und den Blick auf das verdächtige Objekt geheftet, nur noch das Kommando des Sergeanten, um einen Kugelregen hinzusenden.

Da, im Moment, wo der Sergeant abfeuern lassen wollte, rief die Marketenderin: Halt!

0007

Da rief die Marketenderin: Halt!

Sie hatte es gewagt, einen Blick durch das Buschwerk zu thun und setzte nun, zu den Soldaten gewendet, hinzu:

– Kameraden, schießt nicht!

Hierauf eilte sie ins Dickicht. Die Uebrigen folgten ihr nach, und wirklich fand sich Jemand in dem Versteck vor.

Mitten im dichtesten Gestrüpp, am Rande einer jener kleinen kreisförmigen Lichtungen, die in den Wäldern durch Kohlenmeier entstehen, welche die Baumwurzeln rundum versengen, saß in einem von Zweigen gebildeten Nest, einer Art Laubkammer, die wie ein Alkoven nach einer Seite hin halb offen stand, ein Weib mit einem Säugling an der Brust und zwei blondlockigen schlafenden Kindern auf dem Schooß.

Das also war der Feind.

– Sie, was thun Sie hier? rief die Marketenderin.

Das Weib blickte von dem Säugling zu ihr auf.

– Sind Sie verrückt, hier so zu sitzen, fuhr die Marketenderin fort, und fügte dann hinzu:

– Nur noch eine Minute, und Sie waren über den Haufen geschossen!

Und zu den Soldaten gewendet, erklärte sie:

– Es ist ein Weib.

– Donnerwetter! so viel sehen wir auch, sagte einer von den Grenadieren.

– In den Wald rennen, um sich über den Haufen schießen zu lassen, begann die Marketenderin von Neuem, ist so was Dummes je dagewesen!

Das Weib, verblüfft und starr vor Bestürzung, glotzte wie im Traum all die Gewehre, Säbel, Bajonette und wilden Gesichter um sich an.

Die beiden Kinder wachten auf und schrieen.

Das eine rief: Mich hungert.

Das andere: Mutter, ich fürchte mich.

Der Säugling trank ruhig weiter.

– Am Gescheutesten bist du dran, sagte die Marketenderin zu ihm.

Die Mutter war vor Entsetzen sprachlos.

– Nur nicht ängstlich, rief ihr der Sergeant zu, wir sind das Bataillon Bonnet-rouge.

Das Weib erzitterte am ganzen Leibe und starrte in des Sergeanten hartes Gesicht, von dem eigentlich nur die Brauen, der Schnurrbart und die zwei kohlschwarz glühenden Augen sichtbar waren.

– Vormals das Bataillon von der Croix-Rouge, erläuterte die Marketenderin.

Und der Sergeant fuhr fort:

– Wer bist du, meine Dame?

Immer noch starrte das Weib schaudernd zu ihm hinüber. Sie war jung, blaß, abgezehrt, und trug, wie alle bretonischen Bäuerinnen, nur ganz zerfetzt, die große Kapuze und die mit einer Schnur um den Hals zurückgeschlagene Wolldecke. Mit der Gleichgültigkeit der Verwilderung ließ sie ihren Busen entblößt. Ihre nackten Füße bluteten.

– Es ist eine Arme, sagte der Sergeant.

Und die Marketenderin begann wieder in ihrem soldatisch weiblichen, nur so verstohlen mildanklingenden Ton:

– Wie heißen Sie?

Das Weib stammelte leise, fast unverständlich vor sich hin:

– Michelle Fléchard.

Die Marketenderin fuhr dem Säugling mit ihrer breiten Hand streichelnd über das Köpfchen und fragte:

– Wie alt ist der Käfer?

Da die Mutter keine Antwort gab, wiederholte sie ihre Frage:

– Wie alt das Ding da ist, möcht ich wissen.

– Ach so, sagte nun die Mutter, achtzehn Monate.

– Ei, das ist ja schon altes Eisen, sagte die Marketenderin. Das hat lang genug an der Brust gelegen. Das muß entwöhnt werden. Wollen’s mit Suppe füttern.

Die Mutter erholte sich allmälig von ihrem Schrecken. Die zwei wachgewordenen Kleinen waren eher neugierig als ängstlich. Sie staunten die schönen Federbüsche der Soldaten an.

– Ach! sagte die Mutter, sie sind recht hungrig, und setzte dann noch hinzu: Mir ist die Milch ausgegangen.

– Sollen schon was zu essen kriegen, rief der Sergeant ihr zu, und du auch. Aber das ist nicht Alles. Was hast du für politische Gesinnungen?

Das Weib schaute den Sergeanten an, ohne ihm zu antworten.

– Hast du mich nicht verstanden?

Darauf erwiderte sie:

– Ganz klein bin ich ins Kloster gekommen, aber ich habe geheirathet; ich bin keine Klosterfrau geworden. Bei den Schwestern habe ich französisch reden lernen. Unser Dorf ist angezündet worden. Wir sind so schnell davongelaufen, daß ich nicht einmal Schuhe angezogen habe.

– Nach deinen politischen Gesinnungen frage ich.

– Das weiß ich nicht.

– Blos weil es Kundschafterinnen giebt hier herum, fuhr der Sergeant fort. Dergleichen wird von uns mit blauen Bohnen traktirt. Na, so sprich einmal! Eine Zigeunerin bist du doch nicht? Du hast doch ein Vaterland?

– Ich weiß nicht, antwortete sie.

– Was? du weißt nicht, wo deine Heimath ist?

– Ah so, meine Heimath – o doch.

– Nun also, wie heißt dein Vaterland, deine Heimath?

– Die Maierei von Siscoignard in der Gemeinde von Azé.

Jetzt war an den Sergeanten die Reihe gekommen, verblüfft dreinzuschauen. Nachdem er einen Augenblick nachdenklich dagestanden, begann er wieder:

– Wie hast du gesagt?

– Siscoignard.

– Das ist aber noch immer kein Vaterland, so ein Nest.

– Aber so heißt meine Heimath, sagte die Frau, schien dann eine Minute lang über etwas nachzusinnen, und fügte schließlich hinzu:

– Nun versteh ich’s, mein Herr: Sie sind aus Frankreich; ich bin aus der Bretagne.

– Und was weiter?

– Ja, das ist nicht die nämliche Heimath.

– Aber das nämliche Vaterland! schrie der Sergeant.

Die Frau erwiderte hierauf nur:

– Ich bin aus Siscoignard.

– Gut; lassen wir’s gelten, dein Siscoignard, entgegnete der Sergeant. Dort ist also deine Familie her?

– Ja.

– Und was treiben sie, die Leute?

– Sie sind alle gestorben. Ich habe niemand mehr.

Der Sergeant, der sich nicht ganz ungern reden hörte, inquirirte weiter:

– Eltern hat man doch, zum Teufel! oder hat sie gehabt. Wer bist du? Heraus mit der Sprache!

Das Weib lauschte in dumpfem Staunen den drei Worten »hat sie gehabt«, die schon mehr wie ein Niesen als wie eine menschliche Rede klangen.

Die Marketenderin fühlte das Bedürfniß, sich ins Mittel zu legen. Sie begann abermals den Säugling zu streicheln und klopfte den zwei anderen Kindern auf die Backen.

– Wie heißt der Milchegel da? fragte sie. Aber nein, es ist offenbar ein Mädel.

– Georgette, antwortete die Mutter.

– Und der Aelteste? denn der wenigstens ist doch ein Mannsbild, der Schlingel dort.

– René-Jean.

– Und der Jüngere, der ja auch ein Mannsbild ist und noch dazu zwei Backen hat wie ein Trompeter?

– Das ist mein Dicker, Alain.

– Nett sind sie, die kleinen Kerle, sagte die Marketenderin; das stolzirt euch schon so einher wie etwas Vernünftiges.

Der Sergeant aber ließ nicht ab:

– Heraus jetzt mit der Sprache, meine Dame! Hast du ein Haus?

– Ich habe eins gehabt.

– Wo?

– In Azé.

– Und warum bist du nicht mehr in diesem Haus?

– Weil man mir’s verbrannt hat.

– Wer?

– Ich weiß nicht – so eine Schlacht eben.

– Woher kommst du?

– Von dort drüben her.

– Wohin gehst du?

– Ich weiß nicht.

– Zur Sache endlich: Wer bist du?

– Ich weiß nicht.

– Was, du weißt nicht, wer du bist?

– Wir sind eben Leute, die sich flüchten.

– Mit welcher Partei hältst du’s?

– Ich weiß nicht.

– Stehst du zu den Blauen oder stehst du zu den Weißen? Zu wem stehst du?

– Zu meinen Kindern steh ich.

Es entstand eine Stille; dann sagte die Marketenderin:

– Ich habe nie eins gehabt, ein Kind: ich war immer so in Eile.

– Aber von deinen Eltern weißt du doch etwas? hob der Sergeant wieder an. Heraus damit, meine Dame: wie war’s mit deinen Eltern bestellt? Ich heiße Radoub; ich bin Sergeant; ich stamme aus der Straße Cherche-Midi wie mein Vater und meine Mutter; ich kann von meinen Eltern erzählen. Erzähle du uns von den Deinigen. Sage uns, was das für Leute gewesen sind.

– Fléchard nannten sie sich. Weiter ists nichts mit ihnen.

– Allerdings, ein Fléchard heißt Fléchard, gerade wie ein Radoub Radoub heißt. Aber man treibt doch irgend ein Gewerbe? Womit haben sie sich beschäftigt? Womit beschäftigen sie sich? Wie haben sie sich durch die Existenz fléchardirt, deine Fléchards?

– Sie waren Bauersleute. Mein Vater war verstümmelt und arbeitsunfähig von wegen der Stockprügel, die der gnädige Herr, sein und unser gnädiger Herr, ihm hatte geben lassen, was noch aus Güte geschah, weil mein Vater ein Kaninchen weggenommen hatte, weswegen man zum Tod verurtheilt wurde; aber der gnädige Herr war barmherzig gewesen und hatte gesagt: Gebt ihm bloß hundert Stockprügel; und so ist mein Vater ein Krüppel geworden.

– Weiter.

– Mein Großvater war ein Hugenott. Der hochwürdige Herr Pfarrer hat ihn auf eine Galeere schicken lassen. Ich war noch ganz klein.

– Weiter.

– Meines Mannes Vater war ein Salzschmuggler. Der König hat ihn erhängen lassen.

– Und dein Mann, was treibt der?

– Dieser Tage hat er sich geschlagen.

– Für wen?

– Für den König.

– Weiter.

– Nun ja, und für seinen gnädigen Herrn.

– Weiter.

– Nun ja, und für den hochwürdigen Herrn Pfarrer.

– Himmelherrgottsakramentsochsen! platzte ein Grenadier heraus.

Das Weib fuhr vor Entsetzen in die Höhe.

– Sie sehen, werthe Frau, daß wir echte Pariser sind, sagte die Marketenderin verbindlich.

Das Weib faltete die Hände und rief:

– Jesus, Maria und Joseph!

– Nur keine abergläubischen Faxen, ermahnte sie der Sergeant.

Die Marketenderin setzte sich neben sie und zog den ältesten Knaben zu sich her, der es auch gern geschehen ließ. Kinder beruhigen sich gerade so, wie sie erschrecken: man weiß nicht weshalb; sie haben einen geheimnißvollen innerlichen Tastsinn.

– Sie arme gute Frau vom Land, Sie haben da ein nett Paar Rangen; das ist immerhin etwas. Man sieht ihnen ihr Alter an: der Größere geht ins fünfte Jahr, der Andere ins vierte. Aber das muß ich sagen, der Wurm, den Sie an der Brust haben, ist ein verteufelter Vielfraß. O du kleines Ungeheuer, ob du wohl aufhören wirst, deine Mama so abzugrasen!

Wissen Sie Frau, Sie müssen keine Furcht haben. Eigentlich sollten Sie sich ins Bataillon aufnehmen lassen und es machen wie ich. Mich heißen sie die Husarin; ein Spitzname, was? Aber lieber will ich so heißen als Mamsell Bicorneau wie meine Mutter. Ich bin die Marketenderin, heißt so viel wie eine Person, welche Erfrischungen herumreicht, wenn man sich zusammenkartätscht und abschlachtet, wenn der Teufel los ist, was? Wir haben ungefähr den gleichen Fuß; ich werde Ihnen ein Paar von meinen Schuhen geben. Ich habe den 10. August mitgemacht zu Paris. Westermann hat von meinem Schnaps getrunken. Ich habe auch Ludwig XVI., das heißt Ludwig Capet köpfen sehen. Er wollte nicht dran; ist auch ganz begreiflich; wenn man bedenkt, daß er am 13. Januar noch Kastanien gebraten hat und gelacht mit seiner Familie! Als man ihn mit Gewalt auf das Fallbrett legte, wie man’s nennt, trug er weder Rock noch Schuhwerk mehr, blos das Hemd, eine gesteppte Weste, eine graue Tuchhose und grauseidene Strümpfe. Der Fiaker, in dem er angefahren kam, war grün angestrichen. Sehen Sie, Sie thäten am besten, mit uns zu gehen; wir sind ein Bataillon von lauter guten Kerlen; Sie wären dann die Marketenderin Nummer zwei; Sie werden den Rummel bald los haben; ich will Ihnen schon zeigen, wie einfach das Geschäft ist: da hat man sein Fäßchen mit der Schelle und geht eben in den Lärm, ins Pelotonfeuer, in die Kanonenschüsse, kurz mitten in die Suppe hinein und ruft: Nun, Kinder, mag Keiner eins trinken? Das ist die ganze Hexerei. Von mir kriegt Jeder einen Schluck, auf Ehre ja, die Weißen wie die Blauen, obschon ich blau bin und das in der Wolle gefärbt; aber trinken dürfen sie Alle; das hat eine trockene Leber, so ein Verwundeter, und dann sucht sich ja der Tod die Leute nicht nach ihrem Glaubensbekenntniß aus. Im Angesicht des Todes sollten die Menschen einander eine Hand geben. Eigentlich ist es etwas Einfältiges, so eine Keilerei.

Kommen Sie nur mit! Wenn ich aus dem Leben muß, können Sie dann das Geschäft fortsetzen.

Ich sehe nur so aus, wissen Sie; im Grunde bin ich ein gutmüthiges Weib und ein braver Kerl; vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten.

Als die Marketenderin schwieg, murmelte die Arme vor sich hin:

– Unsere Nachbarin hieß Marie-Jeanne und unsere Magd Marie-Claude. Unterdessen belehrte der Sergeant Radoub den einen Grenadier:

– Sei still! Du hast die Frau erschreckt. In Damengesellschaft flucht man nicht.

– Aber, entgegnete der Grenadier, es ist denn doch die reine Seekrankheit für die Intellektualität eines honetten Menschen, wenn man solche chinesische Kaffern sieht, denen der gnädige Herr den Schwiegervater zum Krüppel gehauen, denen der hochwürdige Herr Pfarrer den Großvater ins Zuchthaus, denen der König den Vater an den Galgen gebracht hat, und die sich zuguterletzt noch herumholzen und eine Rebellion anfangen und sich abtakeln lassen für den König, den gnädigen Herrn und den hochwürdigen Herrn Pfarrer!

– Keine Widerreden! rief der Sergeant.

– Man schweigt ja schon, murrte der Grenadier; aber verdrießen darf es Einen, wenn eine so nette Frau wie die sich der Gefahr aussetzt, blos für den Jux eines Pfaffen den Schädel eingeschlagen zu bekommen.

– Mann, sagte der Sergeant, wir sind hier nicht im Club unseres Stadtviertels; darum sei kein Cicero.

Und er wendete sich wieder zu dem Weib: – Aber dein Mann, meine Dame? Was treibt er? Was ist aus ihm geworden?

– Nichts: man hat ihn ja umgebracht.

– Wo denn?

– Im Busch.

– Wann?

– Vor drei Tagen.

– Und wer?

– Ich weiß nicht.

– Was? Du weißt nicht, wer dir deinen Mann umgebracht hat?

– Nein.

– War’s ein Blauer oder war’s ein Weißer?

– Eine Flintenkugel war’s.

– Und vor drei Tagen?

– Ja.

– Wozugegen war’s?

– Bei Ernée. Dort ist er gefallen, ja.

– Und du, was treibst du, seitdem du deinen Mann verloren hast?

– Ich trage meine Kinder fort.

– Wohin willst du sie tragen?

– Vorwärts.

– Und wo schläfst du?

– Auf der Erde.

– Und wovon nährst du dich?

– Von nichts.

Der Sergeant machte jene militärische Grimasse, wobei der Schnurrbart bis zur Nasenspitze hinaufgezogen wird:

– Also von nichts?

– Heißt das von Schlehen, von Brombeeren, wenn noch welche vom vergangenen Jahre her übrig geblieben sind, dann auch von Heidelbeeren und von den Schößlingen am Farrenkraut.

– Allerdings gleichbedeutend mit nichts.

Das älteste Kind schien zu verstehen und sagte:

– Mich hungert.

Da zog der Sergeant ein Stück Kommisbrod aus der Tasche und reichte es der Mutter hin. Diese brach das Brod in zwei Theile, die sie den Kindern gab. Gierig fielen die Kleinen darüber her.

– Für sich hat sie nichts behalten, brummte der Sergeant.

– Sie hat eben keine Lust zum Essen, sagte ein Soldat.

– Sie ist eben die Mutter, entgegnete der Sergeant.

Die Kinder hielten inne:

– Trinken! sagte das Eine: – Trinken! wiederholte das Andere.

– Giebt’s denn kein Wasser in dem verteufelten Wald? sagte der Sergeant.

Da nahm die Marketenderin den kleinen kupfernen Becher, der neben dem Glöckchen an ihrem Gürtel hing, drehte den Hahn des Fäßchens, das sie querüber an einem Riemen trug, ließ ein paar Tropfen in den Becher rinnen und setzte ihn den Kindern an die Lippen.

Das ältere trank und verzog das Gesicht. Das jüngere spuckte aus.

– Aber es ist doch etwas Gutes, sagte die Marketenderin.

– Ein Schwerenöther? fragte der Sergeant.

– Und noch dazu vom besten. Es sind halt Bauern, antwortete sie, indem sie den Becher auswischte.

Der Sergeant begann abermals:

– So viel steht also fest, meine Dame, daß du davonläufst?

– Ich muß ja wohl.

– Immer querfeldein, so auf gut Glück hin?

– Erst renne ich aus Leibeskräften, dann geh ich nur noch, und nachher fall ich hin.

– Traurige Wirtschaft, das! meinte die Marketenderin.

– Es wird ja gerauft, stammelte das Weib. Ringsum ist Alles eine große Schießerei. Ich weiß nicht, was sie gegen einander haben. Meinen Mann haben sie mir umgebracht. Weiter versteh ich nichts davon.

Der Sergeant stampfte mit seinem Flintenkolben auf die Erde, daß es klirrte: – Ja, ein dummer Krieg, hol mich der Teufel!

– Gestern Nacht, fuhr das Weib fort, haben wir uns in einer Höhlung schlafen gelegt.

– Selb Vieren?

– Selb Vieren.

– Schlafen gelegt?

– Schlafen gelegt.

– Also aufrecht schlafen gelegt, bemerkte der Sergeant. Und zu den Soldaten gewendet:

– Kameraden, sagte er, eine Höhlung heißt in der Sprache dieser Eingeborenen ein alter, hohler, abgestorbener Baum, in den ein Mensch nur hineinschlüpfen kann wie ein Säbel in die Scheide. Aber was ist da zu machen? Es gehört einmal nicht zu den Naturnotwendigkeiten, daß Jeder in Paris geboren wird.

– In einem Baumstamm übernachten! staunte die Marketenderin, und dazu mit drei Kindern!

– Und wenn nun die Heulerei der Kleinen losging, fuhr der Sergeant fort, muß es den Leuten, die ihr Weg vorüberführte und die gar nichts sehen konnten, ganz schnurrig vorgekommen sein, einen Baum »Papa« und »Mama!« schreien zu hören.

– Es ist noch Sommer, gottlob! seufzte das Weib. Und sie starrte zu Boden, in Ergebung, mit dem Staunen der Geschöpfe, die einer Naturgewalt unterliegen.

Schweigend umstanden die Soldaten dieses Elend: eine Wittwe, drei Waisen, auf der Flucht, ausgestoßen, preisgegeben dem ringsum grollenden Krieg, dem Hunger, dem Durst, ohne eine andere Nahrung als das Gras des Feldes, ein anderes Obdach als den freien Himmel. Der Sergeant trat näher und betrachtete den Säugling. Da ließ die Kleine die Mutterbrust los, wendete langsam das Köpfchen um und schaute mit einem Lächeln aus seinen schönen blauen Augen in das unheimlich wilde, struppige, borstige Gesicht, das sich hinbeugte über sie. Der Sergeant richtete sich wieder auf: es rann ihm eine große Thräne längs der Wange herab und blieb wie eine Perle an der Spitze seines Schnurrbarts hängen. Mit fester Stimme sprach er:

– Kameraden, aus der ganzen Bescheerung läßt sich schließen, daß dem Bataillon Vaterfreuden bevorstehen. Alles einverstanden? Die drei Kleinen werden an Kindesstatt angenommen.

– Die Republik hoch! riefen die Grenadiere.

– Abgemacht, sagte der Sergeant und streckte beide Arme über die Mutter und die Kleinen aus:

– Hier seht ihr also die Kinder des Bataillons Bonnetrouge.

Die Marketenderin sprang vor Freude in die Höhe und rief:

– Recht so, drei Köpfe unter einer Kappe. Dann drückte sie schluchzend, überschwänglich die arme Wittwe an ihr Herz und sagte:

– Wie doch die Kleine schon so muthwillig dreinschaut!

– Hoch die Republik! ertönte es nochmals aus Aller Mund, und der Sergeant sprach zur Mutter:

– Komm mit, Bürgerin.

Zweites Buch.

0015

Die Korvette »Claymore«.

I.

Englisch-französische Mischung.

Im Frühling 1793, während Frankreich, von allen Seiten her gleichzeitig angegriffen, sich mit einem pathetischen Intermezzo, dem Sturz der Gironde, beschäftigte, trug sich auf der Inselgruppe des Kanals Folgendes zu.

Eines Abends, am 1. Juni, auf Jersey, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang, bei nebliger Witterung, die für eine heimliche Abfahrt gerade in Folge ihrer Gefährlichkeit günstig ist, segelte eine Korvette aus der kleinen öden Bucht von Bonnenuit. Das Fahrzeug hatte eine französische Mannschaft an Bord, gehörte jedoch zu der englischen Flottille, die wie ein Vorposten bei der östlichen Spitze der Insel ihre Station hatte. Die englische Flottille stand unter dem Kommando des Fürsten von la Tour-d’Auvergne, aus dem Geschlechte der Bouillon, und auf seinen Befehl war die Korvette mit einem eigenen und dringenden Auftrag detachirt worden.

Diese in Trinity-House unter dem Namen »The Claymore« eingetragene Korvette war scheinbar ein Fracht-, in Wirklichkeit aber ein Kriegsschiff. Trotz ihrem schwerfälligen, friedfertig merkantilen Aussehen, war ihr keineswegs zu trauen, denn bei ihrem Bau hatte man einen Doppelzweck im Auge gehabt: List, um womöglich zu täuschen, und Kraft, um nöthigen Falls zu kämpfen. Für den heutigen Nachtdienst hatte die Ladung des Zwischendecks dreißig kurzen Marinegeschützen von schwerem Kaliber den Platz räumen müssen. In Voraussicht eines Sturmes oder vielmehr um dem Fahrzeug seine harmlose Figur zu belassen, waren dieselben eingezogen, das heißt mit dreifachen Ketten dergestalt nach innen zu festgehalten, daß die Mündungen die überdies zugestopften Lucken kaum berührten; von außen war also nichts sichtbar; auch die Stückpforten waren geblendet, jede Oeffnung geschlossen; kurz die Korvette trug gewissermaßen eine Maske. Die ordonnanzmäßigen Korvetten führen ihre Geschütze nur auf dem Verdeck; dieses Schiff hingegen, für Trug und Ueberfall berechnet, war so gebaut, daß, wie wir bereits wissen, die Batterie nicht auf dem Deck, sondern im Zwischendeck untergebracht war. Obgleich nach einem massiven, gedrungenen Modell konstruirt, war der »Claymore« den Schnellseglern beizuzählen; seine Schale war so fest wie sonst keine zweite in der englischen Marine und im Gefecht blieb seine Leistungsfähigkeit kaum hinter der einer Fregatte zurück, obwohl er an Stelle des Besanmastes einen ungleich kleineren mit einer einfachen Brigantine führte. Von seltenem Scharfsinn zeugte das ausgezeichnete geschweifte Fugenwerk am Steuer, welches auf den Werften von Southampton mit fünfzig Pfund Sterling bezahlt worden war.

Die ausschließlich französische Schiffsmannschaft bestand aus übergelaufenen Matrosen und war von Emigranten befehligt. Unter diesen sorgfältig ausgesuchten Leuten befand sich auch nicht Einer, der nicht ein guter Seemann, ein guter Soldat und ein guter Royalist gewesen wäre; Alle bekannten sie sich zu dem dreifach schwärmerischen Kultus: Schiff, Waffe, König. Behufs einer eventuellen Landung war ihnen ein halbes Bataillon Marinetruppen beigegeben worden. Kapitän der Korvette war der Graf du Boisberthelot, Ritter des Sankt-Ludwigsordens und einer der verdienstvollsten Marineoffiziere des früheren Regime, Lieutenant der Chevalier von La Vieuville, der bei den Gardes-françaises die Kompagnie kommandirt hatte, in welcher Hoche Sergeant gewesen, und Lootse Philipp Gacquoil, der geschickteste Fachmann von ganz Jersey.

Daß das Fahrzeug etwas Außerordentliches vorhatte, unterlag keinem Zweifel, umsomehr als ein Mann an Bord gekommen war, dem man irgend ein Wagniß zutrauen mußte. Es war ein hochgewachsener Greis, rüstig, von aufrechter Haltung und strengen Gesichtszügen; sein Alter genau festzustellen hätte schwer fallen dürfen, da er zugleich bejahrt und doch wieder jung erschien – eine jener Gestalten voller Furchen und voller Kraft, mit weißem Haar auf der Stirn und einem Blitz im Auge, an Körperstärke Vierziger und Achtziger an geistigem Ansehen. Während er die Korvette bestieg, hatte man durch den klaffenden Schlitz seines Schiffermantels wahrnehmen können, daß er sogenannte »Bragou-Bras« oder Pumphosen trug, ferner hohe Stiefel und eine Jacke aus Ziegenfell, das seidengestickte Leder nach außen, das rauhe, borstige Haar nach innen zugekehrt, also ganz wie ein bretonischer Bauer gekleidet war. Jene altmodischen bretonischen Jacken ließen sich auf zweierlei Arten tragen, sowohl an Festtagen wie bei der Arbeit, je nachdem man sie nach der glatten oder der behaarten Seite wendete; so ging man die Woche über im Pelz, am Sonntag in der Stickerei.

Der Bauernanzug dieses Greises war überdies, gleichsam zur Vervollständigung seiner trügerisch beabsichtigten Echtheit, an Knieen und Ellenbogen wie durch langjährigen Gebrauch abgenutzt, und auch der grobe Tuchmantel glich dem heruntergekommenen Erbstück einer Fischerfamilie. Als Kopfbedeckung trug der Mann den Hut von hoher Form mit breiter Krämpe, der, wenn man letztere in der wagerechten Stellung läßt, ländlich aussieht, kriegerisch aber, wenn man sie auf einer Seite vermittelst einer Schnur und Kokarde aufstülpt. Er trug ihn nach Bauernmanier einfach mit hängender Krämpe, ohne Schnur noch Kokarde.

Der Gouverneur der Insel und der Fürst von la Tour-d’Auvergne hatten ihn persönlich an Bord geführt und untergebracht, und der geheime Agent des Prinzen, Gélambre, ein ehemaliger Garde-du-corps des Herrn Grafen von Artois, der schon die Einrichtung der Kajüte selber überwacht hatte, war trotz seinem alten Adel in der Rücksicht und Hochachtung so weit gegangen, dem Greis die Reisetasche nachzutragen. Auch hatte sich Herr von Gélambre, als er das Schiff wieder verließ, vor dem Bauern tief verneigt; Lord Balcarras hatte ihm noch zugerufen: »Glück auf, General!« und der Fürst von la Tour-d’Auvergne: »Lieber Vetter, auf Wiedersehen!«

0020

Herr v. Gélambre hatte sich vor dem Bauern tief verneigt.

»Der Bauer.« So wurde der Passagier auch wirklich gleich nach seinem Erscheinen vom Schiffsvolk in jenen wortkargen Gesprächen bezeichnet, die Seeleute mit einander führen; doch wenn ihnen auch der Schlüssel des Räthsels fehlte, so viel wußten sie immerhin, daß jener Bauer ebensowenig ein Bauer war wie der »Claymore« ein Kauffahrer.

Bei spärlichem Wind ging die Korvette unter Segel, steuerte an Boulay-Bay vorüber und blieb noch eine gute Weile lavirend in Sicht, bis sie, immer mehr zusammenschrumpfend, in der sinkenden Nacht verschwand.

Eine Stunde später schickte Gélambre von seiner Wohnung in Saint-Hélier aus folgende kurze Zeilen via Southampton an den Herrn Grafen von Artois ins Hauptquartier des Herzogs von York: »Königliche Hoheit, die Abfahrt hat soeben stattgefunden. Erfolg gesichert. In acht Tagen steht die ganze Küste in Flammen, von Granville bis Saint-Malo.«

Vier Tage vorher war dem Abgeordneten Prieur vom Marne-Departement, Kommissär des Nationalkonvents bei der Armee von Cherbourg, derzeit in Granville beschäftigt, durch einen geheimen Eilboten und von derselben Hand wie obige Depesche geschrieben, dies Billet zugestellt worden: »Bürger Abgeordneter, den 1. Juni, zur Ebbezeit, wird die Kriegskorvette mit maskirter Batterie »The Claymore« auslaufen, um einen Mann an die französische Küste zu bringen, dessen Personalbeschreibung anbei folgt: hoher Wuchs, alt, Haar weiß, Bauernkleider und Aristokratenhände. Morgen ein Näheres. Er wird am zweiten in der Frühe landen. Alarmiren Sie die Kreuzer, kapern Sie die Korvette, lassen Sie den Mann guillotiniren.«

II.

Ueber Schiff und Passagier Nacht.

Die Korvette, anstatt südlich gegen Sainte-Catherine zuzusegeln, hatte ihren Kurs nach Norden, dann nach Osten gerichtet und war schließlich resolut zwischen Serk und Jersey in die Meerenge eingedrungen, die man le Passage de la Deroute nennt. Damals gab es weder auf dem einen noch auf dem anderen Ufer einen Leuchtthurm.

Die Sonne war völlig untergegangen und die Nacht dunkler als es sonst im Sommer zu sein pflegt; eine Mondnacht, aber ein Himmel, eher an die Aequinoktial- als an die Sonnenwendezeit erinnernd, so gleichmäßig war er mit schweren Wolken ausgefüttert; demnach konnte, aller Wahrscheinlichkeit nach, der Mond erst im Untergehen, bei seiner Berührung mit dem Horizont sichtbar werden. Einige Wolken hingen sogar bis auf das Meer herab und bedeckten es mit Nebeln.

Die allseitige Dunkelheit war jedoch günstig. Der Lootse Gacquoil hatte den Plan, Jersey links und Guernesey rechts liegen lassend, nach einer kühnen Durchfahrt zwischen Les Hanois und Les Douvres in irgend eine Bucht an der Küste von Saint-Malo einzulaufen; dieser Weg war zwar weniger kurz als der über Les Minquiers, aber sicherer, da die französischen Kreuzer bis auf weiteren Befehl Ordre hatten, vor Allem die Strecke zwischen Saint-Helier und Granville im Auge zu behalten.

Mit Aufgebot aller Mittel hoffte Gacquoil, unvorhergesehene Zwischenfälle abgerechnet, bei einigermaßen günstigem Wind die französische Küste vor Tagesgrauen zu erreichen.

Bis jetzt ging Alles nach Wunsch; die Korvette war eben an Gros-Nez vorbeigesegelt; das Wetter schien, wie der Seemann sagt, schmollen zu wollen; der Wind wurde stärker und die Wellen bewegter; aber gerade dieser Wind war gut und die See ging hoch, ohne deshalb stürmisch zu sein. Nur bekam bei gewissen Wogenschlägen das Vordertheil des Fahrzeugs etwas zu viel Senkung.

Der »Bauer«, den Lord Balcarras »General« genannt, und zu dem der Fürst von la Tour-d’Auvergne »Lieber Vetter« gesagt, hatte den Matrosenschritt und spazierte ruhig und gravitätisch auf dem Deck auf und nieder. Daß das Schiff heftig hin und hergeworfen wurde, schien er nicht zu bemerken.

0023

Der Bauer spazierte ruhig und gravitätisch auf und nieder.

Von Zeit zu Zeit zog er aus der Tasche seines Wammses ein Schokoladetäfelchen, von dem er ein Stück abbrach und verzehrte: trotz seinem weißen Haar hatte er noch alle seine Zähne. Nur den Kapitän redete er zuweilen leise und bündig an, sonst keine Seele, und dieser hörte ehrerbietig zu, als hielte er eher seinen Passagier als sich selber für den eigentlich Kommandirenden.

Der »Claymore« fuhr nun, in Nebel eingehüllt, sehr geschickt die gedehnte, steile Nordküste von Jersey entlang, dem Lande möglichst nah, wegen der gefürchteten Klippe Pierres de Leeq, die sich in der Mitte der Meerenge zwischen Jersey und Serk befindet. Gacquoil, aufrecht beim Steuer, die Richtung von Grève de Leeq Gros-Nez, Plémont der Reihe nach angebend, ließ die Korvette einigermaßen blindlings, aber mit vollkommener Sicherheit, wie Einer, der zum Haus gehört und das ganze Winkelwerk des Meeres kennt, zwischen all den Verkettungen von Hindernissen einhergleiten. Das Vordertheil des Schiffes hatte kein Licht, aus Furcht vor einem Entdecktwerden in diesen so argwöhnisch überwachten Gegenden. Man wünschte sich zu dem Nebel Glück. Jetzt war man bei La Grande-Etaque, und die Finsterniß so dicht, daß man die ragenden Umrisse des Pinacle kaum zu unterscheiden vermochte. Auf dem Thurm von Saint-Ouen hörte man die zehnte Stunde schlagen, ein Zeichen, daß man immer noch den Wind im Rücken hatte. Die Gunst der Elemente ließ nicht nach; die See ging höher, weil man sich nicht weit von La Corbière bewegte.

Kurz nach Zehn geleiteten der Graf du Boisberthelot und der Chevalier von La Vieuville den »Bauern« nach seiner Kajüte, die keine andere war als die des Kapitäns. Beim Eintreten sagte der Greis mit gedämpfter Stimme:

– Sie wissen, meine Herren, das Geheimniß muß gewahrt werden. Kein Wort also, bis die Mine springt. Sie allein kennen hier meinen Namen.

– Wir würden ihn mitnehmen ins Grab, antwortete Boisberthelot.

– Ich für mein Theil, erwiderte der Greis, verschweige ihn, selbst im Angesicht des Todes.

So verabschiedeten sich die Drei.

III.

Adelig-bürgerliche Mischung.

Der Kapitän und sein Lieutenant stiegen wieder aufs Deck und gingen plaudernd neben einander auf und ab. Sie unterhielten sich offenbar über ihren Passagier. Dies im großen Ganzen ihr Gespräch, das ihnen der Wind vom Mund in die Nacht entführte.

– Es wird sich bald zeigen, ob er der rechte Mann ist, brummte Boisberthelot dem Chevalier halblaut ins Ohr.

– Einstweilen ist er ein Fürst, entgegnete La Vieuville.

– Beinahe.

– Französischer Edelmann, aber bretonischer Fürst.

– Wie die La Trémoille, wie die Rohan.

– Mit denen er auch verschwägert ist.

Boisberthelot begann wieder:

– In Frankreich und in den Galawagen des Königs ist er der Marquis, gerade wie ich Graf bin und Sie Chevalier.

– Eine verschollene Mär, die Galawagen! rief La Vieuville. Jetzt ist der Karren Trumpf.

Nach einer Pause sagte Boisberthelot:

– In Ermangelung eines französischen Fürsten behilft man sich schon mit einem Bretonen.

– Wenn die Tauben nicht mehr gebraten herumfliegen, so …. Nein, wenn kein Adler herumfliegt, begnügt man sich mit einem Raben.

– Ein Geier wäre mir lieber, erwiderte Boisberthelot.

– Allerdings! meinte La Vieuville, ein Schnabel und zwei Klauen.

– Es wird sich ja zeigen.

– Hoffentlich, antwortete La Vieuville, denn zu lang schon thut ein Führer Noth. Ich sage wie Tinténiac: »Nur einen Führer und Patronen!« Sehen Sie, Graf, ich kenne sie so ziemlich, alle möglichen und unmöglichen Führer, die von gestern, die von heut und die von morgen: nicht Einer hat den Soldatenschädel, den wir gerade brauchen. In dieser verteufelten Vendée muß der General auch ein Inquisitor sein; den Feind abhetzen muß er, ihm jede Mühle, den Busch, den Graben, die Erdscholle streitig machen, ihm faule Händel zwischen die Beine werfen, Alles verwerthen, nichts aus den Augen verlieren, viel massakriren, abschrecken, den Schlaf und die Barmherzigkeit davonjagen. Zur Stunde giebt es in jener Armee von Bauern wohl Helden, aber keine Kommandeurs. Von Elbée ist eine Null, Lescure ein kranker Mann, Bonchamps ein Pardonirer: Mitleid dummes Zeug! La Rochejacquelein mag einen prächtigen Infanterielieutenant abgeben; Silz weiß mit der Taktik, aber nicht mit den Nothbehelfen des Freischaarenkriegs umzugehen. Cathelineau ist ein naiver Fuhrmann, Stofflet ein durchtriebener Förster, Bérard ein untauglicher, Boulainvilliers ein lächerlicher, Charette ein abscheulicher Mensch; den Barbier Gaston will ich hier gar nicht erwähnen, denn Sapperlot noch einmal! weshalb liegen wir der Revolution in den Haaren, und was soll uns von den Republikanern unterscheiden, wenn wir den Edelleuten Perrückenmacher als Kommandanten zumuthen?

– Diese Schandrevolution steckt eben auch uns mit an.

– Wie eine Räude – ganz Frankreich.

– Ja, die Räude des dritten Standes, fuhr Boisberthelot fort. Nur England kann uns davon kuriren.

– Und das wird es auch, verlassen Sie sich darauf, Kapitän.

– Einstweilen bleibt’s etwas Unappetitliches.

– Und wie! Ueberall Plebs; die Monarchie mit Stofflet, dem Förster des Herrn von Maulevrier als Generalissimus, braucht die Republik um den Portiersohn des Herzogs von Castries, Seine Excellenz Herrn Staatsminister Pache, nicht zu beneiden. Ein sauberes Gegenüber, dieser Vendéer Krieg: auf der einen Seite der Bierbrauer Santerre und auf der andern Gaston, der Haarkünstler.

– Mein lieber La Vieuville, auf diesen Gaston halte ich gewissermaßen etwas. Er hat sich in seinem Rayon von Guéménée nicht übel benommen und dreihundert Blaue ganz hübsch zusammengepfeffert, die zuvor noch ihre eigene Grube graben mußten.

– Recht brav, aber das hätte ich gerade so gut besorgt.

– Ei der Tausend, ich auch.

– Große Kriegsthaten, begann La Vieuville abermals, beanspruchen bei dem, der sie vollbringen soll, Noblesse; sie geziemen den Rittern kurzweg und nicht einem Ritter vom Kamm.

– Und dennoch, entgegnete Boisberthelot, giebt es in jenem dritten Stand anständige Menschen. Da haben Sie zum Beispiel einen gewissen Uhrmacher Joly, vormals Sergeant beim Regiment Flandern: Der Mann geht Ihnen unter die Vendéer und sammelt eine Bande bei der Küste; nun hat er aber einen Sohn, der als Republikaner bei den Blauen dient, während er zu den Weißen hält. Schließlich Zusammenstoß, Gefecht. Der Vater nimmt seinen Sohn gefangen und jagt ihm eine Kugel durch das Hirn.

– Der ist allerdings nicht ohne, sagte La Vieuville.

– Ein monarchischer Brutus, setzte Boisberthelot hinzu.

– Unerträglich bleibt es aber trotz alledem doch, unter dem Kommando eines Coquereau zu stehen, eines Jean-Jean, Moulins, Focart, Bouju oder Chouppes!

– Lieber Chevalier, drüben beim Feind ärgern sie sich genau so. Wir stecken voll geringer Leute und sie voll Adel. Oder meinen Sie, daß die Sansculotten ein Wohlgefallen finden an Bürgergeneralen wie dem Grafen von Canclaux, dem Vicomte von Miranda, dem Vicomte von Beauharnais, dem Grafen von Valence, dem Marquis von Custine, dem Herzog von Biron?

– Ein tolles Durcheinander!

– Und dem Grafen von Chartres nun gar!

– Dem Sohn von Egalité? Apropos, wann wird denn der Vater wohl einmal König?

– Niemals.

– Er rückt dem Throne näher. Seine Verbrechen kommen ihm zu Statten.

– Aber seine Laster gestatten ihm nicht, zu kommen, sagte Boisberthelot. Und nach einer Pause setzte er wieder hinzu:

– Und doch hatte er eine Aussöhnung angestrebt. Er hatte den König besucht. Ich war dabei, in Versailles, wie ihm auf den Rücken gespuckt wurde.

– Von der großen Treppe herab?

– Ja.

– Geschah ihm ganz recht.

– Unter uns nannten wir ihn Philipp, »das liebe Vieh«.1

– Eine Glatze, ein Gesicht voller Beulen, ein Königsmörder – ekelhaft! Und La Vieuville setzte noch hinzu:

– Ich war bei Quessant mit ihm zusammen.

– Auf dem »Saint-Esprit?«

– Ja.

– Wäre er dem Signal gefolgt, das ihm befahl, unter dem Wind des Admiralsschiffs von d’Orvillers zu bleiben, so hätte er die Engländer am Durchbrechen verhindert.

– Gewiß.

– Hat er sich damals wirklich bis zum Kiel hinab verkrochen?

– Das nicht. Aber behaupten muß man es doch, sagte La Vieuville und brach in Lachen aus.

– Dummköpfe giebt’s einmal, ergänzte Boisberthelot. Nehmen Sie nur zum Beispiel jenen Boulainvilliers, den Sie soeben erwähnt: ich hab ihn gekannt, hab ihn wirthschaften sehen. Zu Anfang waren die Bauern mit Piken bewaffnet; hatte sich der Mensch wahrhaftig in den Kopf gesetzt, sie auf die Pike abzurichten! Er ließ ihnen Handgriffe einüben: Pike schräg! oder: Schleift die Pike, Spitze herab! Liniensoldaten aus diesen Wilden zu machen, war seine Marotte. Er glaubte, ihnen beibringen zu können, wie man Carrés mit vorgeschobenen Schützen oder hohle Vierecke formirt. Dabei radebrechte er die Kommandosprache von Olims Zeiten, und nannte den Feldwebel noch Rottmeister wie unter Ludwig XIV. Er war förmlich darauf versessen, all die Wilderer zu einem Regiment zusammenzuschweißen; er hatte regelrechte Kompagnien organisirt, deren Sergeanten jeden Abend einen Kreis um ihn bilden mußten, um die Parole und Gegenparole vom Leibkompagnie-Sergeanten des Obersten zu empfangen, der sie dem Leibkompagnie-Sergeanten des Majors zuflüsterte, welcher sie wiederum seinem nächsten Nachbar übermittelte und so von Ohr zu Ohr bis herab zum letzten Mann. Einmal sogar kassirte er einen Offizier, der sich mit bedecktem Haupte erhoben hatte, als ihm der Sergeant die Parole geben sollte. Wie das anschlug, können Sie sich schon vorstellen. Dem Strohkopf ging nicht ein, daß Rüpel rüpelhaft geführt sein wollen, und daß sich aus Waldmenschen keine Kasernenmenschen machen lassen. Ich hab ihn wirthschaften sehen, diesen Boulainvilliers.

Sie thaten ein paar Schritte, Jeder mit eigenen Gedanken beschäftigt. Dann wurde das Gespräch wieder aufgenommen:

– Apropos, bestätigt sich’s auch, daß Dampierre gefallen ist?

– Ja wohl, Kapitän.

– Vor Condé?

– Im Lager von Pamars. Eine Kanonenkugel.

Boisbertheloi seufzte.

– Der Graf von Dampierre! Auch Einer von den Unsern, der zu den ihren zählte.

– Er reise glücklich!« sagte La Vieuville.

– Und Mèsdames? wo sind die?

– In Triest.

– Immer noch?

– Immer. Und La Vieuville setzte heftig hinzu:

– O über diese Republik! So viel Verwüstungen um einer Bagatelle willen! Wenn man bedenkt, daß diese Revolution aus einem Defizit von ein paar Millionen herausgewachsen ist! …

– Kleine Ausgangspunkte niemals unterschätzen, bemerkte Boisberthelot.

– Uns geht doch Alles schief, fuhr La Vieuville fort.

– Leider: La Rouarie ist todt und Du Dresnay versimpelt. Sind das traurige Parteihäupter, diese Bischöfe sammt und sonders, dieser Coucy von La Rochelle und dieser Beaupoil Saint-Aulaire von Poitiers und dieser Mercy von Luçon mit seiner verliebten Frau von l’Eschasserie …..

– Welche eigentlich Servanteau heißt, denn Sie werden ja wissen, Kapitän, daß l’Eschasserie ein Gutsname ist.

– Und dieser falsche Bischof von Agra, der nebenbei Pfarrer ist von Dingsda!

– Von Dol! Er heißt Guillot von Folleville. Hat übrigens Kourage, denn er schlägt sich.

– Priester, wenn wir Soldaten brauchen! Bischöfe, die keine Bischöfe, und Generale, die keine Generale sind! …

– Nicht wahr, Kapitän, unterbrach La Vieuville, Sie haben doch den »Moniteur« in Ihrer Kajüte?

– Allerdings.

– Was wird denn gegenwärtig in Paris gespielt?

– »Paul und Adele« und »die Höhle«.

– Ins Theater möcht ich wieder einmal.

– Sie werden nicht lang mehr darauf warten, denn in einem Monat sind wir in Paris. Und nachdem er einen Augenblick nachgerechnet, fügte Boisberthelot hinzu:

– Allerspätestens. Lord Hood weiß es von Herrn Windham.

– Aber wenn dem so ist, Kapitän, gehen die Dinge gar so schief nicht.

– Am Schnürchen würden sie gehen, nur muß der Krieg in der Bretagne ordentlich geführt werden.

La Vieuville schüttelte den Kopf und fragte dann:

– Kapitän, wird unsere Marine-Infanterie ausgeschifft?

– Wenn es die Beschaffenheit der Küste zuläßt, ja, wonicht, nein. Der Krieg muß je nach Umständen in ein Ding hineinhageln oder hineinschleichen, zumal der Bürgerkrieg, der immer einen Nachschlüssel in der Tasche haben soll. Was geschehen kann, wird geschehen. Die Hauptsache ist und bleibt aber der Chef. Und halb in Gedanken that Boisberthelot die Frage:

– La Veuville, was halten Sie von dem Chevalier von Dieuzie?

– Dem Jungen?

– Ja.

– Als Kommandeur?

– Ja.

– Wieder nur ein Taktiker fürs Flachland. Mit dem Busch wird nur der Bauer fertig.

– Dann bleibt Ihnen auch nichts Anderes übrig, als den General Stofflet und den General Cathelineau in Geduld hinzunehmen.

La Vieuville stand eine Minute nachdenklich; dann sagte er:

– Ein Prinz müßte kommen, ein französischer Prinz, ein Prinz von Geblüt, ein echter Prinz.

– Sie meinen? Durchgebrannte Prinzen…

– Fürchten das Feuer – ich weiß schon, Kapitän; man muß aber den aufgerissenen Ochsenaugen der Bauernburschen etwas zu verschlingen geben.

– Lieber Chevalier, unsere Prinzen werden fernbleiben.

– Wir werden uns drein ergeben.

Boisberthelot fuhr sich mit einer mechanischen Geberde über die Stirn, als wolle er einen Gedanken herauspressen, und sagte schließlich:

– Nun versuchen wir’s vorläufig mit diesem General.

– Er hat wenigstens einen Namen.

– Glauben Sie, daß er ansprechen wird?

– Wenn er nur nicht ohne ist! antwortete Vieuville.

– Das heißt, entsetzlich, sagte Boisberthelot.

Der Graf und der Chevalier schauten einander an.

– Sie haben den richtigen Ausdruck gefunden, Herr du Boisberthelot: entsetzlich. Das ist es, was Noth thut. In dem Krieg auf’s Messer, der gegenwärtig ausgekämpft wird, ist die Blutgier das Zeitgemäße. Die Königsmörder haben Ludwig XVI. das Haupt abgeschlagen; wir wollen dafür den Königsmördern die Glieder vom Leib reißen. Ja, unser General muß die generalgewordene Unerbittlichkeit sein. In Anjou und im oberen Poitou, wo die Führer sich auf die Großmüthigen hinausspielen, wird mit der Stange in der Barmherzigkeit herumgefahren: nichts kommt vom Fleck; im Marais und in der Gegend von Retz ist man entsetzlich: da steckt Alles. Blos weil Charette entsetzlich ist, behauptet er gegen Parrain das Feld. Hyäne wider Hyäne.

Boisberthelot mußte die Antwort schuldig bleiben, denn ein Verzweiflungsschrei schnitt La Vieuville plötzlich die Rede ab, und gleichzeitig erdröhnte etwas, das nichts sonst Gehörtem gleichkam. Beides, der Schrei und dieses Etwas aus den untern Schiffsräumen.

Kapitän und Lieutenant stürzten zum Zwischendeck, vermochten jedoch nicht, in dasselbe einzudringen. Alle Artilleristen stürmten ihnen fassungslos entgegen.

Ein furchtbares Ereigniß hatte stattgefunden.

0039

IV.

Tormentum belli.2

Ein Geschütz der Batterie, ein Vierundzwanzigpfünder, war losgerissen.

Im ganzen Seeleben giebt es vielleicht keinen gleich schrecklichen Moment. Es ist dies das Furchtbarste, was einem Kriegsschiff auf offener See begegnen kann. Ein Geschütz, das seine Bande entzweibricht, verwandelt sich urplötzlich wie in ein übernatürliches Wesen. Die Maschine ist zum Ungeheuer geworden, und diese Masse rollt nun mit den Sprüngen einer Billardkugel auf ihren Rädern umher, seitwärts, wenn das Schiff der Breite nach, vorwärts, wenn es der Länge nach bewegt wird; sie kommt und geht, steht still, als sänne sie über etwas nach, rast dann von Neuem wieder auf und davon, wie ein Pfeil von einem Ende des Fahrzeugs zum andern fliegend: das schlägt Pirouetten und entwischt, schnellt hin und bäumt sich, stößt, schmettert, mordet, vernichtet. Es gleicht einem Sturmbock, der nach Willkür eine Mauer berennt; dabei ist der Sturmbock von Erz und die Mauer von Holz. Es ist, als ob sich die Materie, dieser ewige Sklave, befreit hätte, um Rache zu nehmen, als löse die Bosheit der sogenannten leblosen Dinge sich los und breche plötzlich vor, die Geduld abschüttelnd, dumpf räthselhaft antobend gegen Alles; es giebt nichts Unwiderstehlicheres als solch Wüthen der willenlosen Masse. Der tollgewordene Metallblock vereinigt die Sprungkraft des Panthers mit der Schwerfälligkeit des Elephanten, der Behendigkeit der Maus, der Ausdauer der Axt, der Unberechenbarkeit der Windsbraut, dem Zickzack des Blitzes, der Taubheit der Gruft; er wiegt zehntausend Pfund und hüpft hin und wieder wie der Spielball eines Kindes, in sinnverwirrendem Wechsel zwischen schwindelnden Kreisen und geradwinkligem Abspringen. Und was vermag da der Mensch? Was soll er beginnen? Ein Sturm legt sich, ein Wirbelwind saust vorüber, ein Orkan erlahmt, ein geborstener Mast läßt sich ersetzen, ein Leck verstopfen, eine Feuersbrunst löschen. Wie aber soll man vor dieser kolossalen erzenen Bestie bestehen? wo sie anfassen? Einem Köter kann man zureden, einen Stier stutzig machen, eine Schlange einschläfern, einen Tiger fortschrecken, einen Löwen zähmen; diesem Ungeheuer, dem losgebrochenen Geschütz gegenüber vermag man nichts: man kann es nicht tödten: es ist leblos, und dennoch hat es eine Existenz, eine grausige, von Naturkräften ihm verliehene Existenz: Das Schiff, dessen Fußboden es schaukelt, wird von den Wellen und diese werden von dem Wind in Bewegung erhalten; die Vertilgungsmaschine ist ihr Spielzeug; Schiff, Wellen, Windstöße, Alles greift in einander und haucht ihr eine elementarische Seele ein. Wie ist diesem Causalsystem beizukommen? Wie diesem übermenschlichen Räderwerk des Schiffbruchs Halt zu gebieten? und wie läßt es sich berechnen, dieses abwechselnde Kommen und Gehen, Wiederkehren, Stehenbleiben und Anprallen? Jeder einzelne Stoß gegen die Verkleidung des Fahrzeugs kann sie entzweisprengen. Wie die Ursachen dieses mäandrischen Herumtobens ergründen? Man hat es mit einem Geschoß zu thun, das sich fortwährend eines Bessern zu besinnen, die vermuthete Richtung zu ändern, räthselhafte Absichten zu haben scheint. Kann man etwas aufhalten, dem man ausweichen muß? Die fürchterliche Kanone tummelt sich, stürmt voran, zurück, schlägt nach allen Seiten aus, entwischt, braust vorbei, spottet aller Voraussicht, rennt jedes Hinderniß über den Haufen, zermalmt die Menschen, als wären es Fliegen. Die ganze Entsetzlichkeit der Situation liegt in der Beweglichkeit des Fußbodens: wie läßt sich ankämpfen gegen eine schiefe Fläche, deren Launen ewig wechseln? So ein Fahrzeug trägt gewissermaßen einen Blitz zwischen den Lenden, der aus dem Kerker hinausstrebt, etwas wie ein Donnerschlag, der über einem Erdbeben dahin rollt.

In einer Sekunde war die ganze Mannschaft auf den Beinen. Verschuldet hatte Alles der Stückmeister, der die Schraubenmutter der Kette nicht genug geschlossen und die vier Räder des Geschützes mangelhaft befestigt hatte, wodurch die Schwelle und die Einfassung gelockert, die zwei Scheiben aus dem richtigen Verhältniß gebracht und schließlich die Anhalttaue verschoben worden waren; so ging denn das Stückwerk auseinander, und die Laffette war gelockert. Feste Anhalttaue, die den Rückstoß verhindern, wurden zu jener Zeit noch nicht gebraucht. Als nun eine starke Welle gegen die Stückpforte anprallte, wurde die nachlässig befestigte Kanone zurückgetrieben, die Kette riß, und das verhangnißvolle Rasen durch das Zwischendeck nahm seinen Lauf.

0031

Um sich dieses ungeheuerliche Hingleiten deutlich zu machen, braucht man blos an das Herabrinnen des Tropfens längs einer Fensterscheibe zu denken.

Im Augenblick, wo die Kette riß, waren die Artilleristen im Zwischendeck zugegen, einzeln oder in Gruppen, mit den Vorbereitungen beschäftigt, welche Seeleute für den Fall eines Angriffs zu treffen pflegen. Durch eine Senkung des Schiffes nach vorn ins Rollen gebracht, bohrte die Kanone sich durch all diese Leute hindurch und zermalmte mit einem Ruck vier Mann, dann schnitt sie, durch eine Seitenbewegung des Fahrzeugs aus der Bahn geschleudert, einen fünften Unglücklichen mitten entzwei und rannte gegen Backbord auf ein Geschütz, das sofort von der Laffette stürzte. In diesem Augenblick war der oben vernommene Verzweiflungsschrei ertönt. Alle Artilleristen stürmten die Leitertreppe hinauf, und im Handumdrehen stand das Zwischendeck leer.

Das kolossale Geschütz blieb sich selber überlassen, sein eigener Herr und Herr über das ganze Schiff, das nun seinem Wüthen preisgegeben war. Die Matrosen, lauter Leute, die im Kampfgewühl nur ein Lachen hatten, jetzt standen sie zitternd da, in unbeschreiblichem Entsetzen.

Boisberthelot und La Neuville, sonst die Unerschrockenheit selber, starrten noch immer wortlos, farblos, rathlos vom Treppenrand hinab, als sie sich plötzlich bei Seite geschoben fühlten durch Jemand, der auch sofort ins Zwischendeck hinunterstieg.

Es war ihr Passagier, der »Bauer«, von dem sie eben zuvor gesprochen hatten.

Auf der untersten Sprosse der Leitertreppe stand dieser Mann stille.

V.

Vis et vir.3

Wie der leibhaftige Wagen aus der Apokalypse fuhr die Kanone im Zwischendeck ab und zu, und der zitternde Schein der Laterne, die unter dem Vordersteven der Batterie hing, umwob die ganze Erscheinung mit einem zwischen Licht und Schatten schwindelnd hin und herwogenden Flimmer. Die Umrisse des Geschützes verschwanden in der Schnelligkeit seiner Flucht; bald huschte es schwarz durch die Helle, bald schimmerte es weißlich durch das Dunkel. Es führte sein Vertilgungswerk immer weiter: vier andere Kanonen hatte es bereits zertrümmert und in die Schiffswand zwei Lücken gebrochen, glücklicherweise über der Wasserlinie, aber doch so, daß bei stärkeren Windstößen die Wellen hineinschlagen mußten. Tollwüthend stürmte es gegen das Fugenwerk an; zwar leisteten die sehr starken Spanten noch Widerstand, denn das Krummholz besitzt eine eigenthümliche Festigkeit; aber man hörte sie unter dieser ungeheuren Keule krachen, die in unfaßlicher Allgegenwart von jeder Seite zugleich auf sie einhieb. Das Schrot, wenn man es in einer Flasche hin und herschüttelt, schlägt nicht toller und unmittelbarer um sich. Immer wieder rasten die vier Räder über die Todten weg und zerschnitten, zerlegten, zerrissen die fünf Leichen in zwanzig herumgeschleuderte Fetzen; die Köpfe schienen noch aufzuschreien, und auf dem Boden folgte ein rieselnder Blutstrom den Schwankungen des Schiffes. Die mehrfach beschädigte Schiffsverkleidung ging bereits auseinander. Und bei alledem fortwährend der dämonische Lärm.

Der Kapitän, der seine Fassung bald wiedergewonnen hatte, ließ durch die Luke Alles ins Zwischendeck hinabwerfen, was den wilden Lauf der Kanone irgendwie hemmen konnte, die Matratzen, die Hängematten, die Segel- und Tauvorräthe, die Säcke der Mannschaft und die Ballen falscher Assignatscheine,4 von denen eine ganze Ladung an Bord war, denn diese Niederträchtigkeit hielt man englischerseits für kriegsrechtlich erlaubt. Aber was nützte das Alles, da sich Niemand hinuntertraute, um es so zu ordnen, daß ein Vortheil daraus hätte erwachsen können? Wenige Minuten und das Ganze beinah war zu Charpie zerfetzt.

Die See ging gerade hoch genug, um dem Unheil möglichst Vorschub zu leisten. Ein Sturm wäre noch wünschenswerther gewesen, denn er hätte die Kanone vielleicht umgeworfen, und sobald sie nur einmal nicht mehr auf den Rädern lief, konnte man ihr beikommen. Unterdessen wurden die Verheerungen immer bedrohlicher. Schon waren die Masten, welche, im Balkenwerk des Kiels wurzelnd, durch alle Etagen der Fahrzeuge wie große runde Pfeiler emporragen, stellenweise gesplittert und sogar geborsten. Der Fockmast hatte unter den konvulsivischen Stößen des Geschützes einen Riß bekommen, und selbst der Mittelmast war beschädigt. Die Batterie ging in die Brüche; von dreißig Geschützen waren zehn bereits kampfunfähig. Die Lücken in der Schiffsverkleidung mehrten sich, und das Wasser begann schon einzudringen.

Der alte Passagier unten an der Treppe des Zwischendecks schien zu Stein erstarrt. Regungslos und mit strengem Blick schaute er der Verwüstung zu. Ein Schritt vorwärts schien ein Ding der Unmöglichkeit. Jede Bewegung der entfesselten Kanone rückte den Untergang näher. In kürzester Frist konnte der Schiffbruch nicht mehr abgewendet werden. Sterben oder dem Unheil Halt gebieten, zu etwas mußte man sich aufraffen, aber zu was? Und welch ein ungleicher Kampf! Galt es doch, diesen entsetzlichen, wahnsinnigen Block festzuhalten, mit einem Blitze zu raufen, einen Donnerschlag niederzudonnern.

– Chevalier, fragte Boisberthelot, glauben Sie an Gott?

La Vieuville antwortete: – Ja, heißt das nein, oder zuweilen doch.

– Beim Sturm?

– Ja, und in Augenblicken wie jetzt.

– Uns kann in der That auch nur Gott weiter helfen, sagte Boisberthelot.

Alles schwieg, nur der höllische Lärm der Kanone nicht, und von außen antwortete die andringende Fluth den Schlägen des Geschützes mit den Schlägen ihrer Wellen; es war, als ob zwei Hämmer einander wechselseitig ablösten.

Plötzlich erschien in dem unzugänglichen Raum, wo die ausgerissene Kanone wie in einem Cirkus umhertollte, ein Mann mit einer Eisenstange. Es war der Urheber der Katastrophe, jener Stückmeister, dessen Fahrlässigkeit Alles verschuldet hatte, und der nun, da er den Schaden angerichtet hatte, ihn auch wieder gut machen wollte. Er hatte mit der einen Hand nach einer Nothspake, mit der anderen nach einem geschlungenen Tau gegriffen und war so durch die Luke ins Zwischendeck gesprungen.

Und nun begann ein titanisches Schauspiel: das Ringen der Kanone mit dem Kanonier; eine Schlacht zwischen Materie und Intelligenz, ein Zweikampf zwischen Mensch und Sache.

0042

Der Mann hatte in einer Ecke Posto gefaßt.

Der Mann hatte in einer Ecke Posto gefaßt und wartete, Stange und Tau krampfhaft festhaltend, mit der ganzen Spannkraft seiner Muskeln wie auf zwei ehernen Säulen wider eine Spante gestemmt und im Boden wurzelnd, todtenbleich, in tragischer Ruhe.

Er wartete auf den Moment, wo das Geschütz an ihm vorbeirollen würde.

Der Kanonier war mit seiner Kanone vertraut, und ihn dünkte, auch sie müsse ihn kennen. Hatte er doch schon lange Zeit mit ihr zusammen gelebt und – wie so oft – seinem dienstbaren Ungeheuer die Hand in den Rachen gesteckt. Jetzt redete er sie an, wie der Herr seinen Hund:

– Komm her!

Vielleicht war sie ihm lieb geworden. Er schien es zu wünschen, daß sie auf ihn zukommen möge. Aber auf ihn zukommen, hieß so viel, wie über ihn kommen, und dann war er ja verloren; wie konnte er der Zermalmung entgehen? Das war die Frage, und Alle starrten entsetzt auf ihn herab. In jeder Brust stockte der Athem, nur vielleicht in der des Greises nicht, der als finsterer Zeuge bei den zwei Fechtern im Zwischendeck stand. Auch ihn konnte die Kanone zerschmettern. Er rührte sich nicht, und unter den Füßen Aller lenkten die blinden Wellen die Schlacht.

Im Augenblick, wo der Artillerist seine Kanone zum Zweikampf Brust an Brust herausforderte, fügten es die Schwankungen der Fluth zufällig so, daß das Geschütz auf einen Moment wie vor Staunen innehielt:

– So komm doch! sagte der Mann.

Es war, als ob ihn das Ding verstünde. Plötzlich sprang es auf ihn zu. Der Mann wich aus, und die unerhörte Schlacht begann: das Zerbrechliche rang mit dem Unverwundbaren, der Thierbändiger von Fleisch und Bein griff die erzene Bestie an, die Seele eine Kraft. Das Alles ging in einem Helldunkel vor sich gleich einem verschwimmenden übernatürlichen Gesicht. Eine Seele! seltsam; es war, als ob auch die Kanone eine hätte, aber eine Seele von lauter Haß und Wuth. Dies blinde Ungeheuer schien Augen zu haben und dem Menschen aufzulauern. Es steckte, wenigstens hätte man es fast glauben mögen, etwas Hinterlistiges in diesem Klumpen. Auch er wartete den günstigen Zeitpunkt ab. Man hätte ihn für ein Rieseninsekt aus Eisen mit oder scheinbar mit der Willenskraft eines Dämons halten können. Stellenweise sprang er, eine kolossale Heuschrecke, bis zur niedrigen Decke der Batterie empor, fiel dann wie der Tiger auf seine Klauen, auf seine vier Räder zurück und machte wieder Jagd auf den Menschen. Dieser, geschmeidig, behend, gewandt, glitt gleich einer Schlange zwischen den züngelnden Blitzen einher. Alle Stöße aber, denen er so flink zu entschlüpfen verstand, trafen das Schiff und setzten die Zerstörung fort.

An der Kanone war ein Stück von der zerrissenen Kette zurückgeblieben und hatte sich, wer kann sagen wie? um die Schraube hinten am Knauf geschlungen, so daß eines der Enden an der Laffete hing, während das andere, freie, in wilden Kreisen um das Geschütz herumflog, zehnmal beweglicher noch als das Geschütz selber. Die Schraube hielt es wie mit geschlossener Hand fest und nun schlug diese Kette, mit zehn Geißelhieben für jeden Hieb des Sturmbocks, in gräßlichem Wirbel um sich, eine eiserne Peitsche in eherner Faust. Dadurch war der Kampf noch schwieriger geworden. Und dennoch kämpfte der Mensch weiter. Hier und da war sogar er der Verfolger. Er schlich mit seiner Stange und seinem Tau längs der Schiffsverkleidung hin, und die Kanone, die ihn zu verstehen und eine Ueberlistung zu befürchten schien, entfloh, hinterher der gewaltige Jäger.

Dergleichen Dinge können nicht von Dauer sein. Auf einmal, als ob sie zu sich selber gesagt hätte: Nein, jetzt muß es ein Ende nehmen! blieb die Kanone stehen. Man fühlte, daß die Entscheidung herannahte. Hinter dieser scheinbaren Unentschlossenheit schien oder war – denn Allen galt das Geschütz für beseelt – ein gräßlicher Vorsatz verborgen. Plötzlich stürzte es auf den Artilleristen los. Dieser sprang bei Seite und rief ihm ein lachendes »da capo!« nach. Wie um sich zu rächen, rannte das Ungeheuer eine Backbordkanone um und fuhr dann, von der unsichtbaren Schleuder, der es als Stein diente, wieder fortgeschnellt, nach Steuerbord, wo es anstatt des abermals ausweichenden Mannes drei Kanonen niederriß. Dann, wie blind und seiner selbst nicht mehr bewußt, wandte es dem Mann den Rücken, durchmaß die ganze Länge der Batterie, beschädigte die Steven und schlug eine Lücke in die Vorderwand. Der Mann hatte sich neben die Treppe geflüchtet, nicht weit von dem zuschauenden Greis, und hielt seine Nothspake bereit. Das schien die Kanone zu merken, und ohne sich die Mühe des Umwendens zu geben, flog sie rücklings mit der Schnelligkeit eines Axthiebs auf den Mann zu, der, eingekeilt in seinen Winkel, verloren war. Die ganze Mannschaft that einen Schrei. Aber der bisher so unbewegliche alte Passagier, rascher als jene gräßlich verkörperte Raschheit selbst, hatte vorstürzend und auf die Gefahr hin, zermalmt zu werden, einen übergebliebenen Ballen falscher Assignate erfaßt und vor die Räder der Kanone geschleudert. Diese entscheidende, halsbrecherische That mit mehr Sicherheit und Genauigkeit auszuführen, wäre selbst einem Solchen nicht gelungen, der mit allen im Buche von Dunosel über »das Exerzieren mit Marinegeschützen« beschriebenen Kunstgriffen vertraut gewesen wäre.

Der Ballen war von durchschlagender Wirkung, wie oft auch ein Kiesel einen Felsblock festhalten oder ein Baumzweig einer Lawine eine andere Richtung geben kann. Die Kanone strauchelte. Der Artillerist seinerseits wußte sofort diesen ungeheuren Vortheil auszubeuten und stemmte seine Eisenstange einem der Hinterräder zwischen die Speichen. Das Geschütz stand still; dann neigte es sich etwas seitwärts. Der Mann benutzte die Stange so lang als Hebel, bis er es ins Schwanken brachte, und endlich, als die schwere Masse mit dem Gedröhne einer herunterfallenden Glocke niedergesunken war, stürzte er blindlings, von Schweiß strömend darüber her, um dem zu Boden geworfenen Scheusal die Schlinge seines Taues um den Hals von Erz zu legen. Es war vorüber. Der Mensch hatte gesiegt, die Ameise gegen den Mastodonten Recht behalten, ein Zwerg den Donner zu seinem Gefangenen gemacht.

Die Soldaten und Seeleute klatschten Beifall. Mit Tauen und Ketten eilte die ganze Schiffsmannschaft herbei, und um ein Handumdrehen stand die Kanone wieder an Ort und Stelle.

Der Artillerist sagte salutirend zum Passagier:

– Mein Herr, Ihnen verdanke ich das Leben.

Der Greis aber hatte seine theilnahmslose Haltung wieder angenommen und antwortete mit keiner Silbe.

VI.

Die zwei Wagschalen.

Wohl hatte der Mensch gesiegt, aber dasselbe ließ sich auch von der Kanone behaupten, denn die Gefahr eines unmittelbaren Schiffbruchs war zwar geschwunden, aber die Korvette damit keineswegs gerettet. Die Wirkungen des Unfalls zu beseitigen, schien ein Ding der Unmöglichkeit: An der Schiffsverkleidung zählte man bis zu fünf Lücken, wovon eine sehr beträchtliche beim Bugspriet; zwanzig Kanonen auf dreißig lagen darnieder. Auch das eingefangene, wieder an Ort und Stelle gebrachte Geschütz versagte den Dienst, weil die Knaufschraube verdreht war und man es in Folge dessen nicht mehr hätte richten können. Die Batterie war auf neun Stück zusammengeschmolzen. Ein Leck machte sofortige Abhülfe durch die Pumpen nothwendig. Das Zwischendeck bot jetzt, da man es betreten durfte, einen gräßlichen Anblick. Das Innere eines Käfigs, in dem ein Elephant gewüthet, weist keine größere Verwüstung auf.

Wie viel der Korvette auch daran liegen mußte, nicht erblickt zu werden, so lag die gebieterische Nothwendigkeit der unmittelbaren Rettung doch ungleich näher, und man sah sich gezwungen, zur Beleuchtung des Verdecks an den Brüstungen einige Laternen anzubringen.

Während der ganzen Dauer dieses tragischen Zwischenfalls, wobei die Lebensfrage alles Denken in Anspruch nahm, hatte man sich um die Außenverhältnisse blutwenig gekümmert. Indessen hatte sich der Nebel verdichtet und die Witterung verändert; der Wind war mit dem Schiffe ganz nach Gutdünken umgegangen; die Route war nicht eingehalten worden, und man befand sich nun, von Jersey und Guernesey nicht mehr gedeckt, weiter südlich, als beabsichtigt war. Die See ging höher; mächtige Wellen leckten mit gefahrverkündenden Zungen an den offenen Wunden der Korvette. Das Meer wurde bedrohlich; die Brise artete in Windsbraut aus; es war ein Unwetter, vielleicht auch ein Sturm im Anzug. Ueber die vierte Woge hinaus konnte man nichts mehr unterscheiden.

Während die Seeleute die Beschädigungen im Zwischendeck, soweit dies vorläufig in aller Eile möglich war, ausbesserten, die Lücken beseitigten und die verschont gebliebenen Geschütze wieder in Stand setzten, war der alte Passagier wieder auf das Verdeck gestiegen und lehnte am Mittelmast.

Ihm war eine Bewegung, die in der Nähe stattgefunden, ganz entgangen; der Chevalier von La Vieuville hatte nämlich auf beiden Seiten des Mittelmastes die Marinetruppen in Schlachtordnung aufstellen und die in der Takelage beschäftigten Matrosen durch einen grellen Pfiff auf die Raaen kommandiren lassen. Nun trat Graf du Boisberthelot zu dem Passagier hin; hinter ihm her schritt ein Mann in beschmutzten Kleidern, verstört, athemlos, und doch mit einem Ausdruck der Zufriedenheit auf dem Gesicht; es war der Artillerist, der sich zu so gelegener Zeit als Thierbändiger ausgezeichnet und die Kanone bemeistert hatte.

Der Graf salutirte vor dem »Bauern« und sagte:

– Herr General, hier wäre der Mann.

Der Artillerist blieb aufrecht, mit gesenktem Blick in vorschriftsmäßiger Positur stehen.

– Herr General, setzte Graf du Boisberthelot hinzu, sind Sie nicht der Meinung, in Anbetracht dessen, was der Mann soeben geleistet, könnten seine Vorgesetzten schon etwas für ihn thun?

– Der Meinung bin ich.

– Wollen Sie demnach befehlen, antwortete Boisberthelot.

– Befehlen Sie; Sie sind der Kapitän.

– Sie aber der General, antwortete Boisberthelot. Der Greis betrachtete den Mann; dann sprach er:

– Tritt näher.

Hierauf that der Artillerist einen Schritt vorwärts. Der Greis wendete sich gegen den Grafen du Boisberthelot, nahm das Ludwigskreuz von dessen Brust und heftete es an den Kittel des Kanoniers.

– Hurrah! riefen die Matrosen. Die Marinesoldaten präsentirten das Gewehr. Der Passagier aber fügte, auf den von seinem Glück geblendeten Artilleristen deutend hinzu:

0047

– So, nun führe man ihn zum Tode!

Der Jubel war zur Bestürzung erstarrt. Und mitten in einer Grabesstille erhob der Greis die Stimme und sprach:

– Dieses Schiff ist durch Fahrlässigkeit dem Verderben ausgesetzt worden. Zur Stunde ist es vielleicht verloren. An Bord sein, heißt so viel wie vor dem Feind stehen. Ein Schiff auf hoher See ist ein Heer im Gefecht; der Sturm verbirgt sich zwar, aber er verschwindet nicht; das ganze Meer ist ein einziger Hinterhalt. Pulver und Blei für jedes Vergehen im Feld! Ein Vergehen läßt sich nie wieder gut machen. Der Muth muß belohnt, der Leichtsinn bestraft werden.

Diese Reden fielen in gleichmäßigen Zwischenräumen, langsam, feierlich, so zu sagen im Takte der Unerbittlichkeit, wie Axthiebe gegen einen Baum. Und der Greis, mit einem Blick auf die Soldaten, befahl:

– Sofort!

Der Mann, an dessen Brust das Ludwigskreuz erglänzte, senkte das Haupt.

Auf ein Zeichen des Grafen du Boisberthelot stiegen zwei Matrosen ins Zwischendeck hinunter und kamen mit einem Leichentuch zurück. Der Schiffsgeistliche, welcher, seitdem in See gestochen worden war, in der Offizierskajüte im Gebet lag, begleitete sie. Ein Sergeant ließ zwölf Mann vor die Front treten, die er je sechs in zwei Reihen ausstellte. Ohne einen Laut von sich zu geben, trat der Kanonier in die Mitte. Der Priester, mit einem Kruzifix in der Hand, verfügte sich an seine Seite.

– Vorwärts Marsch! kommandirte der Sergeant, und der Zug bewegte sich langsam nach dem Vordertheil des Schiffes: die beiden Matrosen mit dem Leichentuch folgten. Auf der Korvette herrschte düsteres Schweigen; fern her grollte ein Wetter.

Einige Minuten darauf hallte eine Gewehrsalve einem Blitz folgend hinaus in die Nacht; dann wurde es wieder still, und man vernahm das Geräusch, welches ein schwerer Gegenstand verursacht, der ins Wasser geworfen wird.

Der alte Passagier lehnte noch immer an dem Mittelmast: er hatte die Arme übereinandergeschlagen und sann über etwas nach. Boisberthelot aber flüsterte, mit dem Zeigefinger hinweisend, dem Chevalier die Worte zu:

– Jetzt hat die Vendée einen Kopf.

VII.

Wer den Anker lichtet, setzt in eine Lotterie.

Was sollte die Korvette ferner noch für Schicksale erleben?

Die Wolken, die im Lauf dieser Nacht den Wellen fortwährend näher gerückt waren, hatten sich schließlich so tief gelegt, daß es keinen Horizont mehr gab und die ganze Meeresfläche wie mit einem Mantel zugedeckt war. Nebel und nichts als Nebel – unter allen Umständen eine Gefahr, selbst für ein unbeschädigtes Fahrzeug. Und zu dem Nebel gesellte sich noch eine hohle See!

Die Zeit war nicht unbenutzt verstrichen. Man hatte den Tiefgang der Korvette dadurch vermindert, daß man Alles hinauswarf, was von den Verwüstungen der Korvette hatte weggeräumt werden können, die unbrauchbaren Geschütze, die zerschlagenen Laffetten, das verbogene oder losgebrochene Fugenwerk, die zertrümmerten Holz- und Eisentheile; man hatte die Stückpfosten geöffnet und die Leichen nebst den zusammengelesenen Gliedmaßen im Segeltuch eingewickelt über ein Brett ins Meer hinuntergleiten lassen.

Mit der See war beinah nicht mehr auszukommen, nicht etwa weil der Sturm in allernächster Zeit loszubrechen drohte – im Gegentheil, der Orkan, den man in der Ferne toben hörte, schien eher nachzulassen und das Unwetter sich gegen Norden verziehen zu wollen; aber der immer noch sehr hohe Wellenschlag wies auf schlechten Grund hin und die starke Brandung konnte der Korvette, die, krank wie sie war, den Erschütterungen nur einen mangelhaften Widerstand entgegenzusetzen vermochte, verhängnißvoll werden. Gacquoil stand am Steuerrad, vor sich hinbrütend.

0054

Gacquoil stand am Steuerrad.

Zum bösen Spiel gute Miene machen, ist bei Seeoffizieren Brauch; darum redete La Vieuville, der für Nothlagen ein lustiges Naturell bei der Hand hatte, Meister Gacquoil an:

– Nun, Lootse, da verpufft ja der Sturm. Den Himmel kitzelt’s, aber zum Niesen bringt er’s nicht. Werden mit einem blauen Auge davonkommen. Wind wird’s eben geben, weiter nichts.

Gacquoil antwortete ernsthaft: – Wer den Wind hat, hat auch die Fluth.

Weder lustig noch traurig, so hält’s der echte Seemann. Die Antwort bedeutete indessen nichts Gutes.

Fluth haben heißt bei einem lecken Schiff so viel wie schnell trinken. Deshalb hatte Gacquoil seinen Ausspruch mit einem leisen Stirnrunzeln gewissermaßen unterstrichen. Vielleicht auch mochten La Vieuville’s scherzhafte, ans Leichtfertige grenzenden Worte zu bald auf die Katastrophe mit der Kanone und dem Kanonier erfolgt sein. Es giebt Dinge, die kein Glück bringen auf hoher See. Das Meer hat seine Geheimnisse; man weiß nie, wie man eigentlich mit ihm daran ist; darum Vorsicht.

La Vieuville fühlte, daß hier doch der Ernst am Platze sei und fragte: – Lootse, wo sind wir jetzt?

– Wir sind in der Hand Gottes, sagte dieser.

Ein Lootse ist ein Machthaber: man muß ihn immer gewähren lassen, auch im Reden. Reden thun übrigens diese Leute wenig. La Vieuville entfernte sich wieder. Auf die Frage, die er an den Lootsen gestellt hatte, antwortete der Horizont, denn plötzlich wurde das Meer frei. Der Nebel, der auf den Wellen lungerte, war allenthalben geborsten; in blassem Dämmerschein breitete sich das dunkle Durcheinanderwühlen der Wogen unabsehbar aus, und man gewahrte Folgendes: Oben eine feste, deckelförmige Wolkenmasse, die jedoch nicht mehr bis zur See herunterreichte; östlich eine weißliche Helle, das Grauen des Tages, westlich, wo der Mond unterging, einen anderen fahlen Schimmer, so daß am Horizont, zwischen der dunklen Fluth und dem dunklen Himmel, zwei dünne, fahle Lichtstreifen einander gegenüberlagen. Von diesen beiden Lichtstreifen hob sich, schwarz, aufrecht, unbeweglich, der Schattenriß von Gegenständen ab: im Occident am mondbeschienenen Himmel ragten, senkrecht wie keltische Peulvens, drei hochgezackte Felsen; im Orient beim bleichdämmernden Sonnenaufgang in bedrohlich geordneter Reihe, durch gleichmäßige Zwischenräume von einander getrennt, acht Segel. Die drei Felsen waren ein Riff, die acht Segel ein Geschwader; im Rücken hatte man die berüchtigten Klippen Les Minquiers und vor sich die französischen Kreuzer; gegen Abend den Abgrund, gegen Morgen das Blutbad; man schwamm zwischen einem Schiffbruch und zwischen einer Schlacht. Dem Schiffbruch gegenüber hatte die Korvette einen durchlöcherten Rumpf, schadhaftes Takelwerk, in der Wurzel erschütterte Masten; der Schlacht gegenüber eine Artillerie, von welcher einundzwanzig Kanonen auf dreißig unbrauchbar und von deren Bedienung die besten todt waren.

Der Widerschein der Sonne war sehr matt und man hatte um sich her noch immer die Nacht, vielleicht sogar auf längere Zeit hinaus, wenn sich die Wolken nicht verzogen, die schwer und dicht zusammengeballt wie ein festes Gewölbe anzusehen waren.

Derselbe Wind, der zuvor die Nebel verjagt hatte, trieb nun die Korvette gegen Les Minquiers; gänzlich erschöpft und zerrüttet, gehorchte sie kaum mehr dem Steuer; es war weniger ein Segeln als ein widerstandsloses, fluthgepeitschtes Hinrollen. Das schauerliche Riff Les Minquiers war damals noch zackiger als jetzt. Mehrere Thürme dieser Hochveste der Untiefen sind durch die unablässige Zerstückelungsarbeit des Meeres abgetragen worden. Auch die Gestalt der Klippen ist eine veränderliche und es liegt ein Sinn darin, daß der Ausdruck »lame«, womit der Franzose die Meereswelle bezeichnet, zugleich Klinge bedeutet, denn jedes Branden entspricht in der That einem Sägeschnitt. Les Minquiers damals berühren, hieß untergehen.

Was das Geschwader anbelangt, so war es dasselbe Geschwader von Cancale, welches seitdem unter jenes Kapitän Duchesne’s Führung berühmt wurde, welchen Lequinio den »Père Duchesne« nannte.

Die Lage war mehr als bedenklich. Während des Kampfes mit der Kanone war die Korvette unmerklich von der beabsichtigten Route abgewichen und eher auf Granville als auf Saint-Malo zugefahren. Jetzt hinderte, selbst wenn das Schiff ganz unversehrt geblieben wäre, die Klippe eine Rückkehr nach Jersey und das Geschwader ein Einlaufen in eine französische Bucht.

Im Uebrigen blieb der Sturm richtig aus, aber, wie es der Lootse vorausgesagt, die See ging sehr hoch, und wild rollten die Wellen unter den heftigen Windstößen über dem zerklüfteten Grund. Das Meer giebt seine ganze Absicht niemals kund; in seinen Untiefen schlummert alles Mögliche, sogar etwas wie Chikane. Es ließe sich fast behaupten, daß das Meer ein nur ihm allein bekanntes Verfahren beobachtet; es dringt vor und entweicht, macht einen Vorschlag und nimmt ihn zurück, entwirft ein Unwetter, und giebt es wieder auf, verspricht den Untergang, ohne sein Wort zu halten, droht gegen Norden zu, um nach Süden hin den Streich zu führen. So hatte man die ganze Nacht hindurch an Bord des »Claymore«, mitten im Nebel, das Losbrechen des Orkans befürchtet, den das Meer nun widerrufen hatte, widerrufen, aber mit welcher Tücke! Es hatte den Sturm in Aussicht gestellt und machte nun Ernst mit der Klippe. Auch das war Schiffbruch, nur in verschiedener Form. Und als ob zwei Feinde einander in die Hände arbeiten wollten, gesellte sich noch zu der Gefahr des Scheiterns die Gefahr der ungleichen Schlacht. La Vieuville aber bekam sein tapferes Lachen:

– Schiffbruch hier und Treffen dort.. Karambolage müssen wir machen.

VIII.

9 = 380.

Die Korvette war nicht mehr um Vieles besser daran als ein Wrack. Aus dem fahlen hin und widerschwimmenden Zwielicht, aus dem schwarzen Gewölk, aus den unbestimmten Schwankungen am Horizont, aus dem geheimnißvollen Aufschauern der Wellen wehte ein todesfeierlicher Hauch. Den Wind ausgenommen, der feindselig das Fahrzeug umbrauste, war Alles still. In stummer Majestät entstieg die letzte Stunde ihrer Nacht. Man fühlte sich eher einer Vision als einem Angriff gegenüber. Nichts regte sich auf den Klippen und drüben auf den Schiffen nichts. Allenthalben ein ungeheures Schweigen. War man noch in der Wirklichkeit oder schwebte ein Traumbild über den Wassern? Es giebt Schifferlegenden, die von derartigen Erscheinungen berichten: die Korvette war wie hingezaubert zwischen den Kraken und die Gespensterflotte.

Graf du Boisberthelot ertheilte dem Chevalier halblaut einige Befehle, mit welchen sich dieser ins Zwischendeck begab; dann ergriff er sein Fernrohr und trat zu Gacquoil hin, der, immer noch am Steuerrad, Alles aufbot, um die Korvette in der Richtung des Wellenschlags zu erhalten, denn wenn Wind und See sie von der Seite faßten, war sie rettungslos verloren.

– Lootse, sagte der Kapitän, wo sind wir?

– Auf Les Minquiers.

– Auf welcher Seite?

– Auf der schlimmen.

– Der Grund?

– Lauter Felsen.

– Können wir uns vor Anker legen?

– Sterben kann man immer, antwortete der Lootse.

Der Kapitän richtete das Glas nach Westen und untersuchte das Riff; dann wendete er sich nach Osten nach den Schiffen, die dort in Sicht waren. Wie mit sich selber redend, fuhr Gacquoil fort:

– Les Minquiers. Die lustige Möve ruht darauf aus, wenn sie aus Holland vorbeikommt und die große Seemöve mit den schwarzumränderten Flügeln.

Der Kapitän hatte die Schiffe gezählt. Es waren ihrer in der That acht, die, in ganz korrekter Ordnung ihr kriegerisches Profil über dem Wasserspiegel zeigten. In der Mitte konnte man die hohe Gestalt eines Dreideckers unterscheiden.

– Kennen Sie die Segel? fragte der Kapitän den Lootsen.

– Gewiß! antwortete Gacquoil.

– Nun?

– Es ist das Geschwader.

– Das französische Geschwader?

– Das Geschwader des Teufels. Es entstand eine Pause.

– Vollzählig? hob du Boisberthelot wieder an.

– Nein.

Jetzt erinnerte sich der Kapitän, daß ja dem durch Valazé dem Nationalkonvent am 2. April erstatteten Bericht zufolge, zehn Fregatten und sechs Linienschiffe im Kanal kreuzten.

In der That, sagte er, es könnten ihrer sechszehn sein, und dort sind ihrer nur acht.

– Die übrigen, bemerkte Gacquoil, lungern weiter drüben herum, die ganze Küste entlang, und spioniren.

– Ein Dreidecker, zwei Fregatten ersten Ranges, fünf Fregatten zweiten Ranges, murmelte der Kapitän, während er durch das Fernrohr schaute, vor sich hin.

– Aber auch ich habe spionirt, murrte Gacquoil in den Bart hinein.

– Schönes Material, sagte der Kapitän. Habe auf jedem seiner Zeit ein Weilchen kommandirt.

– Ich habe sie mir in der Nähe angesehen, meinte Gacquoil. Ich verwechsle keins mit dem anderen; habe ihre Personalbeschreibung im Hirnschädel drin. Der Kapitän trat nun sein Fernrohr an Gacquoil ab:

– Lootse, unterscheiden Sie das Linienschiff genau?

– Ja, Herr Kapitän, es ist der Dreidecker »La Côte d’Or«.

– Den sie umgetauft haben, bemerkte der Kapitän. Früher hieß er: »Les Etats de Bourgogne«. Neues Schiff. Hundertachtundzwanzig Kanonen.

Er nahm ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche und schrieb die Zahl 128 auf. Dann fragte er weiter:

– Lootse, wie heißt das erste Segel an Backbord?

– »L’Expérimentée«.

– Fregatte ersten Ranges. Zweiundfünfzig Kanonen. Wurde vor zwei Monaten in Brest ausgerüstet. Und der Kapitän notirte abermals: 52.

– Lootse, fuhr er fort, wie heißt das zweite Segel an Backbord?

– »La Dryade«.

– Fregatte ersten Ranges. Vierzig Achtzehnpfünder. War in Indien, hat eine schöne militärische Laufbahn hinter sich. Und er schrieb unter die Zahl 52 die Zahl 40; dann blickte er wieder auf:

– Und an Steuerbord?

– Lauter Fregatten zweiten Ranges, Herr Kapitän. Es sind ihrer fünfe.

– Wie heißt die nächste beim Dreidecker?

– »La Résolue«.

– Zweiunddreißig Achtzehnpfünder. Und die zweite?

– »La Richemont«.

– Desgleichen. Weiter.

– »L’Athée«.

– Kurioser Name das, um in See zu stechen. Weiter.

– »La Calypso«.

– Weiter.

– »La Preneuse«.

– Fünf Fregatten von je zweiunddreißig. Und der Kapitän schrieb unter die vorhergehenden Zahlen: 160.

– Lootse, sagte er dann. Sie erkennen sie doch genau?

– Und Sie, erwiderte Gacquoil, Sie kennen sie genau, Herr Kapitän. Das Erkennen hat schon etwas für sich, aber das Kennen ist mehr werth.

Der Kapitän, mit seinem Notizbuch beschäftigt, addirte zwischen den Zähnen: Hundertachtundzwanzig, zweiundfünfzig, vierzig, hundertundsechzig. In diesem Augenblick betrat La Vieuville wieder das Verdeck.

– Chevalier, rief ihm der Kapitän entgegen, wir haben dreihundertundachtzig Geschütze vor uns.

– Gut, sagte La Vieuville.

– Sie kommen von der Inspektion, La Vieuville: Wie viel Geschütze bleiben uns schließlich übrig?

– Neun.

– Gut, sagte nun auch Boisberthelot.

Er nahm das Fernrohr dem Lootsen aus der Hand und richtete es wieder nach dem Horizont. Die acht Schiffe, stumm und schwarz, schienen sich nicht zu rühren; nur wurden sie allmälig größer: sie rückten langsam näher.

La Vieuville machte die Honneurs und sagte:

– Herr Kapitän, ich habe dieser Korvette »Claymore« von vornherein nicht getraut. Es ist immer fatal, urplötzlich an Bord eines Fahrzeugs zu kommen, das Einem weder bekannt noch vertraut ist. Ein englisches Schiff, wenn auch Franzosen es führen, das thut nicht gut. Die verdammte Kanone war uns ein Beweis dafür. Ich melde gehorsamst, daß ich die Inspektion vorgenommen habe: Anker trefflich, nicht Roheisen, geschweißtes Stabeisen, starke Flügel. Taue vorzüglich, handlich, von vorschriftsmäßiger Länge, hundertundzwanzig Faden. Reichliche Munition. Sechs Todte. Jedes Geschütz kann hunderteinundsiebzig Mal feuern.

– Weil es nur noch ihrer neun sind, murmelte der Kapitän vor sich hin, indem er wieder das Fernrohr über den Horizont schweifen ließ. Langsam aber stetig rückte das Geschwader heran.

Die Geschütze des »Claymore«, Caronaden genannt, hatten zwar das für sich, daß sie blos drei Mann Bedienung erforderten, hatten aber hinwider gegen sich, daß sie weniger weit und sicher trafen als die gewöhnlichen Kanonen; deshalb mußte man das Geschwader um so viel näher rücken lassen.

Der Kapitän ertheilte seine Befehle mit leiser Stimme. Lautlose Stille herrschte am Bord. Das Verdeck wurde ohne das übliche Glockensignal zum Gefecht klar gemacht. Dem Feinde gegenüber war die Korvette ebenso kampfunfähig wie den Wellen. Man verwerthete die wenigen noch verfügbaren Vertheidigungsmittel so gut es eben ging; trug auf den Laufplanken und auf dem Back das zur Wiederherstellung der Takelage etwa erforderliche Tau- und Takelwerk zusammen und richtete die Verbandstelle her.

Nach dem damaligen Brauch wurde die Schanzverkleidung auf Deck vorgespannt, was zwar gegen das Gewehrfeuer, nicht aber gegen die Artillerie Schutz gewährte. Man schaffte die Kugelmaße herbei, trotzdem zu der Prüfung der Kaliber die Zeit kaum mehr hinreichte. Hatte doch Niemand so mannigfaltige Zwischenfälle vorhersehen können. Jeder Matrose bekam eine Patronentasche und steckte ein Paar Pistolen und ein Dolchmesser in den Gürtel. Die Hängematten wurden zusammengelegt, die Geschütze gerichtet, die Musketen, die Enterbeile und Haken bereitgehalten, die Stückpatronen und Kugeln vertheilt, die Pulverkammer geöffnet. Jeder trat an seinen Posten, und das Alles in düsterer Eile, mit dem Schweigen, das im Gemach eines Sterbenden herrscht.

Und nun ankerte die Korvette. Sie hatte sechs Anker wie die Fregatten; man warf sie alle sechs, vorn den Tagsanker, über das Heck den schweren Werfanker, den Leichtern der See, den Raumanker der Klippenseite zu, an Steuerbord vorn den Teyanker und den Pflichtanker an Backbord.

Die am Leben gebliebenen Geschütze wurden alle neun auf einer Seite dem Feinde zu in Batterie aufgepflanzt.

Die acht Schiffe hatten indessen, ebenso schweigsam, ihre Gefechtstellung eingenommen, und segelten jetzt in einem Halbkreis heran, von dem les Minquiers die Sehne bildeten. In diesem Halbkreis gefangen und übrigens schon durch seine Anker festgehalten, lehnte sich der »Claymore« an les Minquiers, das heißt an den Schiffbruch an. Man hätte ihn mit einem von der Meute umringten Eber vergleichen können; nur kläfften die Verfolger nicht, sondern zeigten stumm die Zähne. Jeder Theil schien auf den Andern zu warten.

Die Kanoniere des »Claymore« standen mit der Lunte in der Hand bereit.

Boisberthelot sagte zu La Vieuville:

– Den ersten Schuß möchte ich mir nicht nehmen lassen! Und La Vieuville antwortete:

– Wer für etwas stirbt, darf sich das Bischen Koketterie schon erlauben.

IX.

Einer entkommt.

Der Passagier hatte das Verdeck nicht verlassen; ohne eine Miene zu verziehen, schaute er zu.

– Herr General, sagte Boisberthelot, der vor ihn hingetreten war, wir sind nunmehr festgeklammert an unser Grab und werden es auch nicht fahren lassen. Eingekeilt zwischen Feind und Riff, bleibt uns außer der Gefangenschaft oder dem Schiffbruch nur eine Wahl, der Schlachtentod. Kämpfen ist noch besser als Scheitern; lieber als ich ertrinke, laß ich mich zusammenschießen; im Feuer stirbt sich’s schöner als im Wasser. Dieses Sterben haben jedoch nur wir Kleinen zu besorgen, nicht aber Sie mit uns. Sie sind der Bevollmächtigte des Prinzen, sind zu einer großen Sendung auserwählt, zum Oberbefehl über unsere Truppen in der Vendée. Wenn Sie fallen, fällt vielleicht die monarchische Fahne; also müssen Sie leben, und wie unsere Pflicht erheischt, daß wir hier ausharren, so erheischt die Ihrige, daß Sie sich retten; deshalb, Herr General, werden Sie das Schiff verlassen. Ich stelle Ihnen ein Boot und einen Ruderer zur Verfügung; auf Umwegen die Küste zu erreichen, ist nicht unmöglich; es ist noch nicht Tag; die Wellen gehen hoch; auf dem Meer ist es noch dunkel; Sie werden entkommen. Unter gewissen Umständen heißt Flucht nicht mehr Flucht, sondern Sieg.

Der Greis gab durch ein langsames Senken seines strengen Hauptes seine Zustimmung zu erkennen, und Boisberthelot rief mit lauter Stimme:

– Soldaten und Matrosen! …

Sofort ließ vom Steuer bis zum Bugspriet Jeder von seiner Beschäftigung ab und schaute nach dem Kapitän, welcher also fortfuhr:

– Der Mann, der sich hier unter uns befindet, ist der Vertreter Seiner Majestät des Königs. Er ward unserer Obhut anvertraut; wir müssen ihn unserer Sache erhalten. Die Krone Frankreichs bedarf seiner. In Ermangelung eines unserer Prinzen wird, wir hoffen es wenigstens, er das Oberhaupt der Vendée sein. Er ist ein großer Führer im Feld. Mit uns sollte er in Frankreich landen; jetzt muß er es ohne uns versuchen. Wenn der Führer gerettet wird, so ist auch die Sache gerettet.

– Ja! ja! ertönte es von allen Seiten. Und der Kapitän sprach weiter:

– Auch er wird ernstliche Gefahren bestehen müssen. Das Ufer zu erreichen, ist nichts weniger als leicht. Um der hohen See zu trotzen, wäre ein großes Boot nöthig; er aber muß ein kleines nehmen, damit ihn die Kreuzer nicht bemerken. Die Aufgabe besteht darin, an irgend einer entlegenen Stelle zu landen, womöglich näher bei Fougères als bei Coutances; gewachsen ist dieser Aufgabe nur ein vielerfahrener Seemann, ein unermüdlicher Ruderer, der auf jener Küste geboren und mit ihren kleinsten Einzelheiten vertraut ist. Es ist jetzt gerade noch so weit dunkel, daß das Boot die Korvette verlassen kann, ohne entdeckt zu werden, um so mehr als der Pulverdampf mit Nächstem das Seinige beitragen wird. Mit einem kleinen Boot läßt sich schon, eben weil es klein ist, über die versteckten Klippen hinwegkommen; wo der Panther stecken bleibt, schlüpft das Wiesel durch. Für uns giebt es kein Entrinnen, wohl aber für ihn. Das Boot wird sich mit voller Ruderkraft entfernen und dem Feind unsichtbar bleiben, dem wir übrigens, wie gesagt, unterdessen Stoff genug zur Unterhaltung geben werden – nicht wahr?

– Ja! ja! stimmte Alles ein. – Jede Minute ist kostbar, schloß der Kapitän. Wer meldet sich?

– Ich, sprach eine Stimme, und ein Matrose trat in der Dunkelheit vor die Front.

X.

Entkommt er wirklich?

Einige Minuten später stieß die kleine Kapitänsjolle vom Schiff ab. Es saßen zwei Männer darin: vorn der Matrose, der sich gemeldet hatte, hinten der Passagier. Es war immer noch ganz finster. Der Matrose ruderte, wie Boisberthelot befohlen hatte, mit aller Gewalt auf les Minquiers los. Einen andern Ausweg gab es ja nicht.

Am Boden der Jolle lagen Mundvorräthe, ein Sack voll Zwieback, eine geräucherte Zunge und ein Fäßchen Wasser.

Im Augenblick, wo die Zwei sich entfernten, lehnte sich La Vieuville, im Tode noch ein unverdrossener Spötter, über den Hintersteven der Korvette hinunter und rief der Jolle seinen Abschiedsgruß nach:

– Famos zum Fliehen, unschätzbar zum Ertrinken.

– Herr, sagte der Lootse, lassen wir den Scherz bei Seite.

Das Boot war hurtig abgestoßen, und hatte bald eine ziemlich bedeutende Strecke zurückgelegt. Wind und Wellen halfen dem Ruderer nach, und immer rascher schaukelte, hinter den hohen Wellen den Blicken entrückt, das kleine Boot im Zwielicht von dannen.

Auf dem Meer lag es wie düstere Erwartung: da, plötzlich, durch das gedehnte, ungestüm geschäftige Schweigen des Elements, brach eine Stimme, die, verstärkt durch das Sprachrohr wie durch den ehernen Mund an der Maske der griechischen Tragödie, beinah übermenschlich klang. Es war Kapitän du Boisberthelot’s Stimme:

– Leute des Königs, donnerte er, nagelt die Lilienflagge an den großen Mast. Unsere letzte Sonne geht auf.

Und die Korvette löste eines seiner Geschütze.

– Es lebe der König! rief die Mannschaft.

Drüben vom Horizont her ertönte ein anderer, mächtiger, in der Ferne verhallender und dennoch deutlich vernehmbarer Ruf:

– Es lebe die Republik!

Und ein Lärm wie von dreihundert Donnerschlägen rollte über die See.

Der Kampf begann. Das Meer verhüllte sich in Dampf und Blitze. Von allen Seiten bohrten sich die Gischtstrahlen, die unter den einschlagenden Kugeln aufspringen, in die Wogen. Der »Claymore« spie seine Flammen nach den acht Schiffen aus, und diese beschossen aus ihrer Halbmondstellung mit allen Batterien die Korvette. Der Horizont leuchtete feuerroth; ein Vulkan schien dem Meer entstiegen zu sein, und der Wind zerrte diesen ungeheuren Schlachtenpurpur hin und her, in welchem die Schiffe geisterhaft auftauchten und wieder schwanden, und von dem die Korvette wie ein schwarzes Skelett vom brennenden Hintergrund sich abhob. Hoch in den Lüften vom Mittelmast des »Claymore« sahen die zwei Männer in der Jolle noch die Lilienflagge wehen. Sie schwiegen Beide.

Das dreieckige Riff les Minquiers, eine kleine unterseeische Trinacria, hat einen weitern Umfang als die ganze Insel Jersey. Das Plateau, zu dem es sich emporgipfelt, überragt die Wasserfläche bei der höchsten Fluth; nordöstlich davon erheben sich in einer Reihe sechs mächtige Felsblöcke, die einer stellenweise eingesunkenen großen Mauer gleichen. Hindurchfahren kann zwischen dem Plateau und den sechs Klippen nur ein Boot mit sehr schwachem Tiefgang. In diesen Kanal, der in die offene See mündet, lenkte der Matrose, der sich zur Rettung des Passagiers erboten hatte, jetzt ein. Auf diese Art schoben sich les Minquiers allmälig zwischen die Schlacht und die Jolle; rechts und links den dichtgegenüberstehenden Felsen ausweichend, schlängelte diese sich mit Gewandtheit weiter. Schon war hinter dem Riff der Kampfplatz verschwunden, und schon begannen die Röthe am Horizont und das wilde Getöse der Kanonade in Folge der zunehmenden Entfernung abzunehmen; aber aus der Hartnäckigkeit des Feuers ließ sich schließen, daß die Korvette tapfer ausharrte und ihre hunderteinundneunzig Salven bis auf die letzte abgeben wollte. Ueber ein Kurzes hatte das Boot Schlacht und Klippe im Rücken, und befand sich längst außer Tragweite eines Geschosses auf offener See. Nach und nach hellten sich die äußern Umrisse des Meeres auf, die unmittelbar im Dunkel wieder verschwimmenden Lichtpunkte breiteten sich aus; die quirlenden Schaumkämme brachen in Strahlenbüschel auseinander und ein weißer Schimmer wiegte sich auf der Halbfläche der Wogen. Es wurde Tag.

Dem Feind war das Boot zwar entronnen, doch das Schwierigste war noch nicht überstanden: man hatte keine Kugel mehr, aber immerhin den Schiffbruch zu gewärtigen, auf wilder See, in dieser schwindend kleinen Nußschale ohne Deck, ohne Segel, ohne Mast, ohne Kompaß, in einem Atom, dem nichts zu Gebote stand als zwei Ruder, um den zwei Riesen Ozean und Orkan zu entfliehen.

Und nun, inmitten dieser unendlichen Einsamkeit, sein Antlitz erhebend, blaß gefärbt vom fahlen Widerschein des Morgens, starrte der Mann, welcher vorn in der Jolle saß, dem Manne, der ihm gegenüber saß, in die Augen und sagte zu ihm:

– Ich bin der Bruder von dem, der auf Ihren Befehl erschossen wurde.

  1. Im Französischen Bourbon le Bourbeux, was unter Beibehaltung des Wortspieles im Deutschen nicht wiederzugeben ist.
  2. Das Werkzeug des Krieges.
  3. Kraft und Mann, hier soviel wie die rohe Naturgewalt gegenüber der schwachen Menschenkraft.
  4. Assignaten waren die von der revolutionären Regierung herausgegebenen Banknoten, die massenhaft im Ausland, namentlich in England, nachgemacht und von den Feinden der Republik, besonders den entflohenen Adligen, nach Frankreich geschmuggelt wurden, um die Assignaten zu entwerthen und dadurch den Kredit der Republik zu schädigen.