Zweites Buch. Die Arbeit.


Erstes Capitel. Die Hülfsmittel dessen, dem Alles mangelt.

Die Grotte entließ ihre Besucher nicht ohne Weiteres. Der Eintritt war nicht bequem gewesen, doch der Ausgang bot noch viel bedeutendere Schwierigkeiten. Gilliatt legte dennoch den Heimweg zurück und begab sich niemals wieder in die Höhle. Er hatte darin nicht gefunden, was er suchte, und seine Zeit gestattete ihm keine weitere Befriedigung seiner Neugier.

Ohne Säumen begann er seine Schmiedearbeit. Da ihm Handwerkszeug fehlte, mußte er dasselbe anfertigen.

Das Wrack lieferte ihm das Brennmaterial, die See war sein Triebrad, der Wind sein Blasebalg, ein Felsblock ersetzte den Amboß, sein natürliches Talent diente ihm statt der Wissenschaft, seine Willenskraft als Macht.

Gilliatt begann seine Arbeit mit brennendem Eifer.

Das Wetter zeigte sich seinem Streben geneigt. Es war immer noch trocken und die Aequinoctialwinde übten ihre Herrschaft auf die schonendste Weise. Trotz der Märzzeit blieb es stille. Die Tage nahmen zu. Das Himmelsblau, die sanfte Bewegung des Meeres, die Heiterkeit des Mittags, schienen jede böse Absicht auszuschließen. Die See lächelte im Sonnenschein. Ein zärtliches Vorspiel würzt künftigen Verrath. Das Meer ist mit dergleichen Liebkosungen nicht geizig. Hat man es mit diesem Weibe zu thun, so hüte man sich vor seinem Lächeln.

Es wehten nur gelinde Lüfte; der hydraulische Blasebalg arbeitete um so besser. Starker Wind wäre hinderlich gewesen.

Gilliatt hatte eine Säge. Er verfertigte sich eine Feile. Mit ersterer bearbeitete er das Holz, mit letzterer die Metalle. Auch bediente er sich der Feuer- und der Kneipzange, dieser eisernen Hände des Schmieds. Erstere packt, letztere formt; die eine versieht die Dienste des Daumens, die andere vertritt den Zeigefinger.

Das Handwerkszeug ist ein Organismus. Gilliatt verschaffte sich allmälig Hülfstruppen und schmiedete sich seine Waffenrüstung.

Aus einem Reifholz machte er ein Schirmdach für seinen Feuerheerd.

Eine seiner ersten Sorgen war das Aussondern und Ausbessern der Blockrollen. Auch setzte er die Räder und Kästen der Flaschenzüge wieder in Stand, trennte alles Splitterwerk von den zerbrochenen Balken und stutzte ihre Enden zu; wie wir schon sagten, besaß er zur Ausführung seiner Zimmerarbeiten eine Menge Schiffstrümmer, die er früher aufgespeichert und ihren Formen und Stoffen gemäß geordnet hatte. Das Holz der Strandeiche und Kiefer lag auf seinem bestimmten Platz, wie Krummhölzer, Katzsparren und Decklukeinfassungen auf dem ihrigen. Er konnte dieser Hülfsmittel seiner Zeit nothwendig bedürfen. –

Jeder, der eine Zugwinde herstellen will, muß nicht nur Balken und Flaschenzüge, sondern auch Seile haben. Gilliatt verbesserte die Kabeltaue und Grelinge. Er spannte die zerrissenen Segel und es gelang ihm, die aus ihren Säumen gezogenen Halbseile zu Troß umzuarbeiten. Mit diesem fügte er das Tauwerk zusammen. Leider konnten diese künstlichen Ausbesserungen sich nicht lange halten, ohne zu verfaulen, weshalb Gilliatt eilen mußte, sie in Tätigkeit zu setzen. Aufgelöste Seile hatte er freilich benutzt, aber es fehlte ihm an Theer.

Als das Tauwerk hergestellt war, setzte Gilliatt die Ketten in Stand.

Dank des spitzen Vorsprungs seines Ambosses gelang es ihm, plumpe, aber haltbare Ringe zu schmieden. Mit diesen verband er die Enden der zerrissenen Ketten und verlängerte sie.

Auf eigene Hand schmieden, ist mehr als unbequem. Dennoch kam Gilliatt zum Ziel. Freilich hatte er nur kleine, wenig massenhafte Gegenstände herzustellen, die er mit Hammer und Zange formte, indem er jedes dieser Werkzeuge in einer Hand gefaßt hielt.

Weshalb wandte er alle diese Mühe an? Wir werden es erfahren.

Er mußte die Schneide seiner Axt und die Zähne seiner Säge mehrmals schärfen. Um die Letzteren spitzen zu können, hatte er sich eine dreieckige Feile verfertigt.

Bei irgend einer Gelegenheit bediente er sich des Gangspills der Durande. Der Kettenhaken zerbrach. Er schmiedete einen neuen daraus. Mit Hülfe seiner Zangen und seines Meißels, den er in der Weise eines Schraubenschlüssels anwandte, unternahm er es, die beiden Räder des Schiffes zu zerlegen. Es gelang ihm. Man wird nicht vergessen haben, daß dies keine Unmöglichkeit war. Die Räder hatten eine eigenthümliche Construction. Die Treträder, welche sie umgaben, schützten sie. Aus den Brettern der Letzteren zimmerte Gilliatt zwei Kisten, in denen er alle Theile der beiden Laufräder, sorgfältig numerirt, aufbewahrte.

Sein Stück Kreide leistete ihm hierbei kostbare Dienste. Die beiden Kisten stellte er auf den sichersten Platz des Schiffsverdecks.

Nach Beendigung dieser Vorarbeiten stand Gilliatt der Hauptschwierigkeit seines Unternehmens gegenüber.

Es war ein Leichtes gewesen, die Räder zu zerlegen; schwer hielt es aber, dasselbe mit der Maschine zu thun.

Ueberdies hatte Gilliatt keine klare Anschauung von dem Bau des Getriebes.

Wenn er auf’s Gerathewohl zu Werke ging, konnte er der Maschine unverbesserlichen Schaden zufügen, und selbst, wenn er die Unklugheit eines Versuchs hätte begehen wollen, mußte er andere Werkzeuge haben als solche, wie man sie in einer Höhle statt der Schmiede, mit Hülfe eines Zugwindes statt des Blasebalges und auf einem als Amboß dienenden Kiesel anfertigen kann. Das Streben, die Maschine auseinanderzulegen, war von der Gefahr, dieselbe zu zerstören, begleitet.

Man glaubte einer unausführbaren Sache in’s Auge zu sehen.

Dem Anschein nach stand Gilliatt vor einer Schranke, die Unmöglichkeit heißt.

Was war zu beginnen?

Er hatte seine Idee.

Nicht wissen, was thun, treibt zum Versuchen. Die Unentschlossenheit ist eine Träumerei und wird durch ihre Neugierde zur Kraft. Wissen bringe manchmal aus der Fassung giebt oft schlechten Rath. Hätte Gama Kenntnisse gehabt, so wäre er vor dem Vorgebirge der Stürme zurückgewichen, und Columbus würde Amerika nicht entdeckt haben, wenn er ein guter Kosmograph gewesen wäre.

Der zweite Besteiger des Montblanc war ein Gelehrter, Saussure; der erste ein Schäfer, Balmat.

Diese Fälle bilden gleichwohl, wie wir im Vorbeigehen bemerken wollen, die Ausnahme und verringern den Werth der eigentlichen Wissenschaft nicht im Geringsten. Der Unwissende kann finden, der Gelehrte allein kann erfinden.

Die Barke lag immer noch in der Bucht des »Mannes«, wo ihr das Meer nichts anhaben konnte, vor Anker und Gilliatt hatte, wie man sich erinnern wird, Alles so hergerichtet, daß sie ihm völlig bequem zur Hand war. Er ging hin und maß sorgsam die Größe ihres Querbalkens an mehreren Stellen, namentlich die Hauptkoppel, dann kehrte er zur Durande zurück und maß den großen Durchmesser des Maschinenbodens, welchen er, ohne die Räder, um zwei Fuß schmäler als den größten Querbalken der Barke fand, so daß die Maschine in dieser Platz hatte.

Wie konnte man sie aber hineinschaffen?

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Zweites Capitel. Gilliatt’s Meisterstück kommt dem des Lethierry zu Hülfe.

Kurze Zeit darauf hätte ein Fischer, welcher toll genug gewesen wäre, sich zu solcher Jahreszeit in dieser Gegend aufzuhalten, seine Kühnheit durch den Anblick einer ganz eigentümlichen Geschichte zwischen den Douvres-Felsen belohnt gefunden.

Er hätte nämlich Folgendes wahrgenommen: Vier starke Balken gingen in gleichen Zwischenräumen von der einen Klippe zur andern und waren auf die haltbarste Art, durch Einzwängen in die Felsen, befestigt. An dem kleinen Douvre ruhten und endigten ihre äußersten Spitzen gegen Vorsprünge des Felsens; an dem großen Douvre waren ihre andern Enden von einem kräftigen Arbeiter, der auf dem einzurammenden Balken selbst stehen mußte, mit starken Hammerschlägen in die steilen Böschungen getrieben worden.

Diese Balken waren etwas länger, als der Zwischenraum breit war, so daß sie äußerst fest hielten und etwas schräg lagen. Ihr spitzer Winkel war dem großen und ihr stumpfer dem kleinen Douvre zugekehrt. Sie schossen schwach und ungleichmäßig ab, was ein Fehler war. Davon abgesehen, hätte man glauben können, sie seien zur Aufnahme eines Docks angelegt worden. An diesen vier Balken waren vier Krahnen angebracht, alle mit Tauen und Hemmungen; gewagt und sonderbar schien dabei nur das zu sein, daß sich der Flaschenzug mit den beiden Rollen an dem einen und der einfache Kloben am entgegengesetzten Ende des Balkens befand. Dieses Abweichen von der Regel war zu groß, um nicht gefährlich werden zu können, wahrscheinlich aber für das Unternehmen, welches hier ausgeführt werden sollte, zweckdienlich. Die Flaschenzüge waren stark und die Kloben fest.

An diesen Krahnen befanden sich Kabel, welche von Weitem wie Fäden aussahen, und unter diesem luftigen Apparate von Flaschenzügen und Gerüsten glaubte man an jenen Fäden den gestrandeten Rumpf der Durande hangen zu sehen.

Aber so weit war es noch nicht. Senkrecht unter den Balken waren acht Oeffnungen in dem Deck angebracht, vier Backbord und vier Tribord von der Maschine, und acht andere gerade unter diesen im Kiele. Die Taue, welche senkrecht von den Flaschenzügen herabliefen, wurden durch die Tribordöffnungen in den Schiffsraum eingeführt, gingen dann unter dem Kiele und der Maschine fort, gelangten wieder durch die Oeffnungen am Backbord in das Schiff, stiegen von Neuem durch das Deck in die Höhe und waren schließlich um die vier Kloben an den Balken geschlungen; hier faßte sie eine Art Hißtau und vereinigte sie zu einem einzigen Kabel, welches ein einziger Arm lenken konnte. Ein Haken und eine durchbohrte Rolle, durch deren Loch dies Kabel lief und sich abhaspelte, vollendeten den Apparat und hemmten ihn nötigenfalls.

Durch dieses Zusammenlaufen der Taue mußten die vier Krahnen zu gleicher Zeit arbeiten und so die Arbeit gleichmäßig vertheilt werden. Es gehörte die richtige Zügelung der vorhandenen Kräfte, ein starkes Steuerruder in der Hand eines gewandten Piloten dazu, dies Unternehmen auszuführen. Die sehr geniale Befestigung des Hißtaues hatte einiges von den vereinfachenden Eigenschaften der heutigen Weston-Winden und des alten, von Vitruve erfundenen Polyspaston. Gilliatt war darauf gekommen, ohne Vitruve, der nicht mehr, und ohne Weston, der noch nicht lebte, zu kennen. Die Länge der Kabel wechselte mit der ungleichen Abschüssigkeit der Balken und hob diesen Fehler zum Theil wieder auf. Taue waren gefährlich, die weißen Stricke konnten reißen; Ketten wären besser gewesen, aber sie hätten sich schlecht von den Winden abgehaspelt.

Dies Alles war zwar voller Fehler, aber als die That eines einzigen Menschen staunenerregend.

Uebrigens wollen wir die Beschreibung jetzt abbrechen.

Man wird es begreiflich finden, daß wir viele Einzelheiten, welche die Sache zwar für Fachgenossen deutlicher, für Andere aber unverständlicher macht, mit Schweigen übergehen.

Die Spitze des Maschinenrauchfangs ging zwischen den beiden Mittelbalken hindurch.

Gilliatt hatte, ohne es zu ahnen, und unbewußt Unbekanntes nachahmend, nach drei Jahrhunderten den Mechanismus des Zimmermans von Salbris wiederhergestellt, jenen rohen und fehlerhaften Mechanismus, gefährlich für den, welcher wagen sollte, mit ihm zu arbeiten.

Aber selbst die gröbsten Fehler verhindern eine Maschine nicht, so gut als möglich zu arbeiten; sie hinkt, aber es geht doch. Der Obelisk auf dem Sanct-Peter-Platze zu Rom ist gegen alle Regeln der Statik aufgestellt worden. Czaar Peter’s Wagen war so gebaut, daß er bei jedem Schritt umzufallen schien, und doch rollte er vorwärts. Wie viele Ungehörigkeiten an der Maschine zu Marly! Alles an ihr war falsch und doch gab sie Ludwig XIV. zu trinken.

Wie dem auch sei, Gilliatt hatte Vertrauen und war sogar von dem Erfolge so fest überzeugt, daß er am Tage seiner Abreise in den beiden Bordseiten der Barke zwei Paar eiserner Ringe einließ, welche eben so weit von einander abstanden, als die vier Ringe auf der Durande, welche die vier Ketten des Rauchfangs festhielten.

Gilliatt hatte seinen Plan jedenfalls schon fix und fertig; denn da alle Aussichten gegen ihn waren, so wollte er wenigstens alle Vorsicht auf seiner Seite haben.

Er that Dinge, welche unnütz schienen; ein Beweis aufmerksamen Vorbedachtes!

Seine Art, vorwärts zu gehen, hätte, wie wir schon bemerkt haben, einen einfachen Beobachter, ja sogar einen Sachverständigen, außer Fassung gebracht.

Ein Zeuge seiner Arbeiten, der zum Beispiel gesehen hätte, wie er mit unerhörter Anstrengung und mit Lebensgefahr acht bis zehn große Nägel, welche er selbst geschmiedet hatte, in den Fuß der beiden Douvres beim Anfange der Durchfahrt einschlug, hätte schwerlich verstanden, wozu sie dienen sollten, und sich wahrscheinlich gefragt, was diese ganze Arbeit bezwecke.

Hätte er dann gesehen, wie Gilliatt das Stück des Vordertheils, welches, wie man sich erinnert, am Strande festhaftete, maß, hieraus ein sehr festes Greling an seinem obern Rande befestigte, mit Axtschlägen die ausgefugten Balken, welche es festhielten, lostrennte, es mit Hülfe der abnehmenden Fluth, welche es von unten vorwärts stieß, während er nach oben zog, aus der Straße schleppte und schließlich mit großer Mühe dieses schwere Planken- und Balkengerüst, welches breiter, als die Einfahrt in die Meerenge selbst war, mittelst des Greling an den Nägeln, welche er in dem Grund des kleinen Douvre eingetrieben hatte, befestigte; dies Alles würde ein Beobachter vielleicht noch weniger verstanden und sich gesagt haben, daß, wenn Gilliatt, um sich seine Arbeit zu erleichtern, die Straße zwischen den Douvres durch diese Barrikade isoliren wollte, er nur nöthig gehabt hätte, sie während der Fluth fallen zu lassen, die sie dann stromabwärts geführt hätte.

Gilliatt hatte aber wahrscheinlich seine Gründe für seine Arbeit.

Um die Nägel in den Grund des Douvre einzutreiben, benutzte er alle Spalten in dem Granit, vergrößerte sie nach Bedürfniß und trieb zuerst Holzkeile und dann in diese die eisernen Nägel hinein.

Dasselbe machte er an den beiden andern Felsen, welche sich östlich, auf dem andern Ende der Klippenreihe befanden; er schlug in alle Sprünge Holzstückchen ein, als wenn er auch diese Risse für eine etwaige Aufnahme von Krampen vorbereiten wollte; dies schien aber nur eine einfache Voraussetzung zu sein; denn er befestigte keine Nägel in ihnen. Selbstverständlich konnte er kluger Weise in seiner schlimmen Lage seine Materialien nur im Augenblick der höchsten Noth und je nach Maß und Bedürfniß verwenden. Noch eine neue Schwierigkeit zu allen schon vorhandenen.

Nach Vollendung der ersten Arbeit begann eine zweite. Gilliatt ging unverzüglich von der einen an die andere und unternahm entschlossen dieses Riesenwerk. –

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Drittes Capitel. Sub re.

Der Mensch, welcher sich all diesen Arbeiten unterzog, hatte ein schreckliches Aussehen bekommen.

Gilliatt rieb bei diesen vielfachen Anstrengungen seine ganzen Kräfte auf einmal auf und konnte sie nur schwer wiederersetzen.

Einerseits hatten ihn Entbehrungen, anderseits Erschöpfung abgemagert. Sein Kopf- und Barthaar war lang geworden. Er besaß nur noch ein ganzes Hemde. Seine Füße waren bloß; denn den einen Schuh hatte ihm der Wind und den andern das Meer entführt. Splitterchen sprangen während der Arbeit von dem rohen und sehr gefährlichen Ambosse, dessen er sich bediente, los und brachten ihm an Händen und Armen kleine Wunden bei, welche eigentlich mehr Schrammen, als Wunden waren, aber in Folge der scharfen Luft und des Seewassers sehr schmerzten.

Er war hungrig, durstig und es fror ihn.

Sein Behälter mit süßem Wasser war leer, sein Roggenmehl aufgebraucht, er besaß nur noch etwas Biskuit, das er mit den Zähnen zerbrechen mußte, da es ihm an Wasser, um es aufzuweichen, fehlte.

Allmälig, Tag für Tag nahmen seine Kräfte ab und entzog ihm der fürchterliche Felsen die Lebenskraft.

Trinken, Essen, Schlafen, nichts war für ihn nothwendiger geworden.

Er aß, wenn es ihm gelang, eine Seemuschel oder Krabbe zu fangen, und trank, wenn er sah, daß sich ein Seevogel auf einer Felsenspitze niederließ. Er kletterte dann dort hin und fand daselbst eine Lache mit etwas süßem Wasser. Er trank nach dem Vogel, bisweilen auch mit ihm zusammen, denn die Möven und Schwalben hatten sich an ihn gewöhnt und flogen nicht fort, wenn er sich näherte. Gilliatt fügte ihnen, selbst wenn er ganz ausgehungert war, nichts Böses zu. Wie man sich erinnern wird, war er in Bezug auf Vögel abergläubisch, während sich diese ihrerseits vor seinen verwirrten und zerzausten Haaren und seinem langen Barte nicht mehr fürchteten, denn diese Umwandlung in seinem Aussehen beruhigte sie; sie fanden in ihm keinen Menschen mehr, sondern hielten ihn für ein wildes Thier.

Die Vögel und Gilliatt waren jetzt gute Freunde. Diese Armen halfen sich gegenseitig. So lange Gilliatt Gerste gehabt, hatte er ihnen kleine Brocken von den Kuchen, die er sich machte, hingeworfen; dafür zeigten sie ihm jetzt die Stellen, an denen sich Wasser fand.

Er aß die Muscheln, welche in gewisser Beziehung den Durst löschten, roh; die Krabben kochte und röstete er zwischen zwei glühend gemachten Steinen, da er keinen Topf hatte, wie die Wilden auf der Insel Feroë.

Unterdessen näherten sich einige Vorboten des Aequinoctiums. Es war Regen eingetreten, aber ein feindlicher. Kein Guß- und Platzregen, sondern lange, feine, gefrorne, durchdringende, scharfe Spitzen, welche Gilliatts Kleider bis auf die Haut und seine Haut bis auf die Knochen durchbohrten. Dieser Regen gab ihm wenig zu trinken und durchnäßte ihn sehr.

Hülfe ließ dieser des Himmels unwürdige Regen ihm nicht zu Theil werden; dagegen barg er viel Elend für Gilliatt und verfolgte ihn länger, als eine Woche hindurch, bei Tage und bei Nacht. Dieser Regen war eine schlechte That von oben.

Nachts schlief er in seinem Felsloche nur, wenn er sich bei der Arbeit zu sehr angestrengt hatte. Die großen Seemücken stachen ihn und er erwachte mit Pusteln bedeckt.

Er hatte das Fieber, es hielt ihn aufrecht; denn das Fieber regt auf und doch tödtet es. Instinktmäßig kaute er Flechten oder sog an den Blättern der wilden Cochlearia, den magern Schößlingen der trockenen Spalten auf den Klippen. Im Uebrigen beschäftigte er sich wenig mit seinen Leiden, denn er hatte keine Zeit, sich ihretwegen von seiner Beschäftigung abzuhalten. Die Maschine der Durande befand sich in gutem Zustande. Das genügte ihm.

In jedem Augenblicke zwang ihn seine Arbeit, sich bald im Nassen, bald im Trocknen aufzuhalten. Er ging in das Wasser und wieder aus ihm, wie man aus einem Zimmer seiner Wohnung in ein anderes geht.

Seine Kleider trockneten aber nicht mehr. Sie waren von dem Regenwasser, welches nie versiegte, und von dem Seewasser, welches nie trocknet, durchdrungen, so daß Gilliatt völlig im Nassen lebte.

Man gewöhnt sich daran, im Nassen zu leben. Die armen Irländer: fast nackte Greise, Mütter, junge Mädchen, Kinder, welche den Winter in freier Lust unter Platzregen und Schnee, in den Häuserwinkeln der Straßen London’s eng zusammengekauert zubringen, sind stets durchnäßt und leben und sterben so.

Naß sein und Durst haben. Gilliatt ertrug diese sonderbare Qual. Er biß manchmal in den Aermel seiner Theerjacke.

Das Feuer, welches er anmachte, erwärmte ihn kaum; denn in freier Luft ist es nur eine halbe Hülfe; man verbrennt auf der einen Seite und erfriert auf der andern.

Gilliatt, schweißtriefend, zitterte vor Kälte.

Alles ringsum widerstand ihm in einer Art furchtbaren Schweigens. Er fühlte sich überall angefeindet.

Die Dinge haben ein finsteres Non possumus und ihre Trägheit ist eine dunkle Warnung.

Ein unendlicher schlechter Willen umgab Gilliatt. Er hatte Hitze und Frost. Das Feuer verzehrte ihn, das Wasser machte ihn erstarren, der Durst brachte ihm Fieber, der Wind zerriß seine Kleider und der Hunger durchwühlte seinen Magen. Er hielt den Druck einer erschöpfenden Gesammtheit aus. Ein ruhiger und großartiger Widerstand, der augenscheinlich die Unverantwortlichkeit des Unglücks besaß, aber voll einer gewissen wilden Einmüthigkeit war, drängte von allen Seiten auf Gilliatt ein, der es fühlte, wie er sich unerbittlich auf ihn stützte. Kein Mittel, um sich ihm zu entziehen. Er war fast wie eine Person. Gilliatt hatte die Empfindung, als ob ein dunkler Haß und Widerwillen danach strebe, ihn zu verkleinern und der ihn nur zur Flucht treiben wollte; aber, da er blieb, seine unbesiegbaren Feindseligkeiten auf ihn ausschüttete. Da man ihn nicht hinauswerfen konnte, so warf man ihn zu Boden. Welches »Man?« Das Unbekannte. Das würgte und drückte ihn zusammen und nahm ihm Platz und Athem. Er wurde von der Unsichtbarkeit gefoltert. Jeden Tag drückte sich diese geheimnißvolle Schraube um eine Umdrehung tiefer.

Gilliatt’s Lage mitten unter solchen beunruhigenden Ereignissen glich einem unehrlichen Zweikampfe, in welchem ein Verräther hilft.

Das Bündniß der finstern Mächte hatte ihn umschlossen. Er faßte den Plan, sich ihrer zu entledigen. So jagt der Gletscher die erratischen Blöcke fort.

Scheinbar, fast ohne damit in Berührung zu kommen, zerfetzte und zerriß ihn dies geheime Bündniß, es brachte ihn zum Aeußersten und machte ihn, so zu sagen, vor dem Kampfe kampfunfähig. Deshalb arbeitete er doch mit weniger Unterbrechungen, als früher; aber je mehr das Werk vorrückte, desto mehr ging es mit dem Arbeiter zurück.

Der doppelte Douvre, dieser Drachen aus Granit mitten auf offener See, hatte Gilliatt aufgenommen, erhalten, eintreten und ihn arbeiten lassen. Dieser Empfang glich der Gastfreundschaft eines offenen Rachens.

Die Wüste, das weite Meer, der Raum, wo es für den Menschen Gefahren giebt, die stille Unfreundlichkeit der Erscheinungen, welche ihrem Laufe folgen, das große allgemeine Gesetz der Unversöhnlichkeit und des Widerstandes, die Ebbe und Fluth, die Klippe, jene schwarze Plejade, von der jede Spitze einen Drehstern, den Mittelpunkt unzähliger, allen Richtungen zueilender Sterne bildet, ein unverständliches Bündniß der Gleichgültigkeit der Dinge gegen die Verwegenheit eines Wesens, der Winter, das Unwetter und die ringsum wogende See hüllten Gilliatt ein, umzogen ihn immer dichter, schlossen sich gewissermaßen über ihm und schlossen ihn von den Lebenden ab, wie eine Zelle, welche um einen Menschen in die Höhe steigt. Alles gegen, nichts für ihn; er war allein, verlassen, schwach, zerschlagen, vergessen; seine Proviantkammer leer, sein Handwerkszeug zerbrochen oder unbrauchbar; Hunger und Durst quälten ihn am Tage, und die Kälte in der Nacht; er hatte Wunden und Risse, Lumpen auf seinen Geschwüren, Löcher in den Kleidern und Wunden im Fleische, zerrissene Hände, blutende Füße, abgemagerte Glieder, bleiche Gesichtsfarbe und Feuer in den Augen.

Ein herrliches Feuer: den sichtbaren Willen. Das Auge des Menschen ist so beschaffen, daß sich in ihm die Tugend des Menschen wiederspiegelt; es sagt uns, was für ein Mensch in uns lebt. Wir versichern uns durch das Licht, welches unter unsern Lidern ruht. Kleine Geister blinzeln mit den Augen, große schleudern Blitze. Glänzt nichts hinter der Pupille, so denkt auch nichts im Gehirne und es liebt nichts im Herzen. Wer liebt, will; und wer will, blitzt und leuchtet. Der Entschluß bringt dem Blicke jenes wunderbare Feuer, welches aus dem Verbrennen der furchtsamen Gedanken entsteht.

Die Beharrlichen sind die Erhabensten. Wer tapfer ist, hat nur einen Antrieb; der Wachsame nur ein Mittel, der Muthige nur eine Tugend; der in Wahrheit Beharrliche ist hingegen wirklich groß. Fast das ganze Geheimniß großer Herzen liegt in dem einen Worte: Perseverando. Die Beständigkeit ist für den Muth, was die Rolle für den Hebel: die beständige Erneuerung des Stützpunktes. Möge das Ziel auf der Erde oder im Himmel sein; ihm entgegenstreben, darin beruht Alles; im ersten Falle ist es ein Columbus, im zweiten ein Jesus. Das Kreuz ist so einfach, daher sein Ruhm. Sein Gewissen nicht überlegen und seinen Willen nicht entwaffnen lassen, dadurch leidet und siegt man. In moralischen Dingen schließt Fallen ein Steigen nicht aus. Aus dem Falle entspringt die Auferstehung. Die Mittelmäßigen lassen sich durch ein scheinbares Hinderniß zurückschrecken; die Starken nicht. Untergang ist ihnen nur Möglichkeit, Sieg Gewißheit. Man konnte Stephan alle möglichen guten Gründe anführen, damit er sich nicht steinigen lasse. Die Verachtung vernünftiger Gegengründe schafft jenen erhabenen besiegten Sieg, welcher Märtyrerthum heißt.

Alle Anstrengungen Gilliatt’s schienen sich an das Unmögliche anzuklammern, der Erfolg war gering oder langsam und er mußte viel ausgeben, um wenig zu erhalten; aber eben das läßt ihn als großartig und leidenschaftlich erscheinen.

Um vier Balken über einem Wracke aufzurichten, und in diesem den rettbaren Theil loszulösen und für sich allein herzustellen, um an diesem Strande wieder Krahnen mit ihren Tauen anzubringen, dazu hätte es so vieler Vorbereitungen, Arbeiten und Anstrengungen, so vieler Nächte auf hartem Lager und so vieler Tage voller Qual bedurft, daß darin das Elend der einsamen Arbeit bestand. Unheil in der Ursache, Noth in der Folge. Gilliatt hatte mehr gethan als das Elend angenommen, er hatte es gewollt. Aus Furcht vor einem Mitarbeiter, denn ein Mitarbeiter hätte zum Nebenbuhler werden können, suchte er keinen Genossen. Das vernichtende Unternehmen, die Gefahr, den Zweifel, die sich selbst vervielfältigende Arbeit, den möglichen Untergang des Retters bei der Rettung, den Hunger, das Fieber, die Entbehrungen, den Widerstand, alles das auf sich allein zu nehmen, hatte er die Selbstsucht gehabt.

Er befand sich unter einer Art von furchtbarer Luftpumpe. Die Lebenskraft zog sich allmälig von ihm zurück, aber er bemerkte es kaum.

Die Erschöpfung der Kräfte erschöpft nicht den Willen. Glauben ist erst die zweite Macht; Wollen die erste. Die Berge, welche nach dem Sprüchworte der Glauben versetzt, sind nichts gegen das, was der Willen thut. Alles was Gilliatt an Kraft verlor, gewann er an zäher Ausdauer wieder. Das Zusammenschrumpfen des physischen Menschen unter der zurückschreckenden Wirkung dieser wilden Natur diente nur zur Vergrößerung des moralischen Menschen.

Gilliatt fühlte keine Müdigkeit oder, um besser zu sagen, er erkannte sie nicht an. Die Weigerung der Seele, den abnehmenden Kräften des Körpers zuzustimmen, ist eine unendliche Kraft.

Gilliatt sah die Fortschritte, welche seine Arbeit machte, aber nur diese. Er war elend, ohne es zu wissen. Sein Ziel, welches er beinahe erreicht hatte, wich ihm nicht aus den Augen. Er litt all jenes Leiden, ohne daß ihm ein anderer Gedanke als der »Vorwärts« kam. Sein Werk stieg ihm zu Kopfe. Der Willen wurde trunken. Man kann sich auch geistig berauschen und ein solcher Rausch heißt Heldenmuth.

Gilliatt war gewissermaßen ein Hiob des Oceans; aber ein Hiob, welcher stritt, kämpfte, den Widerwärtigkeiten Trotz bot, siegte und wenn das Wort für einen armen Matrosen, welcher Krabben und Muscheln fischte, nicht zu groß ist – ein Hiob Prometheus.

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Viertes Capitel. Sub umbra.

Nachts öffnete Gilliatt manchmal seine Augen, betrachtete den Schatten und fühlte sich fremdartig bewegt.

Es bemächtigte sich seiner die Angst.

Der Schatten übt einen gewissen Druck aus.

Das tiefe Dunkel, das zu durchdringen unmöglich ist, eine Mischung von Licht mit diesem Dunkel; man weiß nicht, welchem besiegten und düstern Licht; aufgelöste Helle, bei der es undeutlich ist, ob sie Sonne oder Asche; Millionen von Lichtern und doch kein Licht; ein weiter Brand, welcher sein Geheimniß nicht sagt: ein Zerstieben des Feuers in Staub, der einem stillstehenden Fluge von Funken gleicht, die Unordnung des Strudels und die Unbeweglichkeit des Grabes, die Aufgabe, welche eine Oeffnung im Abgrunde bietet, ein Räthsel, welches sein Gesicht zeigt und verbirgt, die verschleierte Unendlichkeit der Finsterniß: das ist die Nacht. Dieses Bündniß drückt auf den Menschen.

Diese Bereinigung aller Geheimnisse auf ein Mal, der Geheimnisse der Welt und des Unheils häuft sich über dem Menschen zusammen.

Der Druck des Schattens wirkt umgekehrt auf die verschiedenen Gattungen der Seele. Der Mensch erkennt sich unvollkommen vor der Nacht. Er sieht das Dunkel und fühlt die Schwäche. Der schwarze Himmel ist der blinde Mensch, der Mensch, welcher der Nacht in’s Angesicht blickt, stürzt hin, kniet nieder, wirft sich zu Boden, legt sich flach auf die Erde, verkriecht sich in ein Loch oder sucht Flügel. Fast immer will er dieser ungestalteten Gegenwart des Unbekannten entfliehen; frägt sich, was es ist, zittert, beugt sich, ist unwissend; bisweilen will er auch fortgehen.

Wohin gehen?

Dorthin.

Dorthin? Was ist das und was giebt es dort?

Diese Neugierde sucht augenscheinlich verbotene Dinge, denn auf dieser Seite sind alle Brücken rings um den Menschen abgebrochen. Die Arche der Unendlichkeit fehlt; aber das Verbotene zieht an, denn es ist ein Strudel. Wohin der Fuß nicht geht, kann der Blick dringen; wo der Blick still steht, kann der Geist noch weiter. Es giebt keinen Menschen, der nicht wagt, so schwach und gebrechlich er auch immer sein mag; seiner Natur nach, spürt und sucht der Mensch vor der Nacht. Für die Einen ist sie ein Fallen, für die Andern ein Steigen. Das Schauspiel ist düster. Das Unbestimmbare mischt sich hinein.

Ist die Nacht heiter, ist sie ein Schattengrund. Ist sie stürmisch, ist sie ein Nebelgrund. Die Unbegrenztheit entzieht sich und bietet sich zu gleicher Zeit an, verschlossen für die Versuche und geöffnet für die Vermuthungen. Unzählige Lichtstreifen machen die bodenlose Dunkelheit noch schwärzer. Blitzende und funkelnde Gestirne. Dinge, welche erwiesenermaßen in dem Unbekannten existiren; schreckliche Herausforderung, eine Berührung dieser Helle zu versuchen. Es sind die Maßstäbe der Schöpfung in dem Absoluten, die Marken der Entfernung, dort wo es keine Entfernungen mehr giebt; ein scheinbar unmögliches und doch wirkliches Aufzählen der Ebbe der Tiefen. Ein mikroskopischer Punkt, welcher glänzt, dann ein andrer, noch ein andrer und wiederum ein andrer, es ist die Undurchdringlichkeit, die Endlosigkeit. Dieses Licht ist ein Heerd, dieser Heerd ein Stern, dieser Stern eine Sonne, diese Sonne ein All, dieses All ein Nichts. Jede Zahl ist in der Unendlichkeit Null.

Dieser Welten, welche nichts sind, giebt es wirklich. Indem man sie anerkennt, fühlt man den Unterschied, welcher das Nichtssein von dem Nichtsein trennt.

Das Unerreichbare mit dem Unerklärbaren bildet den Himmel.

Aus dieser Betrachtung löst sich eine erhabene Erscheinung los: Das Großwerden der Seele durch das Staunen.

Die Scheu vor dem Heiligen ist dem Menschen eigentümlich; das Thier kennt sie nicht. Die Vernunft findet in diesem erhabenen Schrecken ihren Untergang und ihren Prüfstein.

Der Schatten ist einfach, daher der Schreck; zu gleicher Zeit ist er auch zusammengesetzt, daher die Ohnmacht. Seine Einheit drückt auf unsern Geist und raubt ihm die Lust, Widerstand zu leisten. Durch seine Vielfältigkeit bewirkt er, daß man ihn rings um sich, auf allen Seiten, erblickt; man scheint seine plötzliche Ankunft fürchten zu müssen. Man giebt sich so zu sagen hin und hütet sich. Man ist in der Gegenwart des Alls, daher die Unterwerfung, und in der Wahrheit, daher das Mißtrauen. Die Einheit des Schattens enthält ein Vielfaches. Geheimnißvolles Vielfaches, sichtbar in der Materie, fühlbar im Geiste. Das bewirkt Schweigen; ein Grund, noch wachsamer zu sein.

Die Nacht – der Verfasser hat es schon an andern Stellen gesagt – ist der eigentliche und normale Zustand der abgesonderten Schöpfung, von welcher wir einen Theil ausmachen. Der Tag, kurz in der Dauer, wie im Raume, ist nur eine Sternennähe.

Das nächtliche Wunder des Alls vollführt sich nicht ohne Reibung und jede Reibung einer solchen Maschine ist eine Verletzung des Lebens. Diese Reibungen der Maschine nennen wir das Böse. Wir fühlen in dieser Dunkelheit das Uebel, das geheime Leugnen der Gottheit, die verhüllte Schmähung der Thatsachen lehnt sich gegen das Ideale auf. Das Uebel macht durch eine unbestimmbare, tausendköpfige Teratologie die weite Gesammtheit des Alls, verwickelt sich und findet sich überall ein, um Widerstand zu leisten. Es ist der Sturm und verzögert den Gang des Schiffes, es ist das Chaos und fesselt das Entstehen einer Welt. Das Gute hat die Einheit, das Böse die Allgegenwart. Das Böse zerstört das Leben, was ganz logisch ist; es bewirkt, daß die Fliege von dem Vogel und der Planet vom Komet verschlungen wird. Das Uebel ist ein Strich durch die Schöpfung.

Die nächtliche Dunkelheit macht vollkommen schwindlig. Wer in sie eindringt, sinkt in ihr unter und geht in ihr zu Grunde. Keine Anstrengung hält einen Vergleich mit dieser Prüfung der Dunkelheit aus. Es ist das Studium eines Nichts.

Kein bestimmter Ort, wo der Geist ruhen könnte; Ausgangspunkte ohne Endpunkt; ein Gewirr sich widersprechender Lösungen; alle Verzweigungen des Zweifels, sich zu derselben Zeit einstellend, die Verästelung der Erscheinungen, welche sich ohne aufzuhören unter einem unbestimmten Drucke entblättern, alle Gesetze, sich gegenseitig ineinander stürzend, ein unergründliches Durcheinander, welches ein Vegetiren der Mineralien und Lebendigwerden der Vegetation bewirkt, den Gedanken wägt, die Liebe strahlen läßt und die Anziehung liebt; die ungeheure Reihe von Angriffen aller Fragen, welche sich in der endlosen Dunkelheit entwickeln. Das Ungewisse, welches das Unbekannte zur Welt bringt; die kosmische Gleichzeitigkeit in voller Erscheinung, nicht für den Blick, sondern für die Vernunft, in dem großen unendlichen Raum und das sichtbar geordnete Unsichtbare, das ist die Finsterniß. Der Mensch steht unter ihr.

Er kennt nicht die Einzelheiten, trägt aber, im Verhältnis zu seinem Geiste, das furchtbare Gewicht der Gesammtheit. Dieser Druck trieb die chaldäischen Schäfer zur Sternkunde. Unfreiwillige Enthüllungen dringen aus den Poren der Schöpfung; ein Austritt der Wissenschaft findet gewissermaßen von selbst statt und gewinnt den Unwissenden. Jeder Einsiedler wird unter diesen geheimnißvollen Eindrücken, oft ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, ein Naturphilosoph.

Die Dunkelheit ist untheilbar; bewohnt, ohne Ortswechsel von dem Absoluten, und auch mit Ortswechsel. Man bewegt sich in ihr, das beunruhigt. Eine heilige Bildung durchläuft ihre Entwicklungsstufen daselbst. Vorbedachtsamkeiten, Mächte und gewollte Bestimmungen arbeiten dort gemeinsam ein unermeßliches Werk aus. Ein fürchterliches und schreckliches Leben ist darin. Es giebt dort große Zusammenhäufungen unter den Gestirnen, die Sternen-, die Planetenfamilie, die Milchstraße, das Quid divinum der Strömungen, der Ausflüsse der Polarisationen und der Anziehungen; die Umarmung und die Abstoßung, eine prächtige Ebbe und Fluth allgemeinen Gegensatzes, die Unwägbarkeit frei mitten unter Brennpunkten; die Lebenskraft in den Kugeln, das Licht außerhalb der Kugeln, das umherirrende Atom, das zerstreute Samenkorn, befruchtende Curven, Begegnungen des Zusammendringens und des Kampfes, unerhörte Vorbereitungen, Entfernungen, welche Träumen gleichen, schwindelnde Umkreisungen, Versinken ganzer Welten in das Unberechenbare, Wunder, welche sich gegenseitig in der Dunkelheit verfolgen, einen Mechanismus, stetes Sphärenrauschen auf der Flucht, Räder, deren Umdrehungen man fühlt; der Gelehrte behauptet, der Unwissende fühlt und zittert; es besteht und entfernt sich; es ist unerkämpfbar, unerreichbar, unnahbar. Man ist bis zur Niedergeschlagenheit überzeugt, fühlt eine unbestimmte, schwarze Erscheinung auf sich, kann nichts fassen und wird durch das Ungreifbare zerdrückt.

Ueberall das Unbegreifliche, nirgends das Unverständliche.

Und dazu tritt noch die furchtbare Frage: Ist dieses Innewohnen ein Wesen?

Man ist im Dunkel, man hört und sieht es.

Indessen geht und rollt die dunkle Erde weiter; die Blumen sind sich dieser riesenhaften Bewegung bewußt; das Leinkraut öffnet sich um elf Uhr Abends und die Meerlilie um fünf Uhr Morgens. Ueberwältigende Regelmäßigkeit.

In andern Tiefen schafft sich der Wassertropfen eine Welt, keimt das Aufgußthierchen, tritt die großartige Fruchtbarkeit aus dem Samenfaden, bereitet das Unergründbare seine Größe aus und offenbart sich die Umkehrung der Unendlichkeit; eine Diatrome erzeugt in einer Stunde dreizehnhundert Millionen neue.

Welche Zusammenstellung aller Räthsel auf ein Mal!

Das Unverkleinerliche zeigt sich.

Man wird zum Glauben gezwungen. Glauben aus Zwang, das ist der Erfolg. Aber glauben genügt nicht, um ruhig zu sein. Der Glauben hat eine unbeschreibbare und merkwürdige Sucht nach Formen. Daher die Religionen. Nichts ist so drückend, als ein Glauben ohne Umriß.

Was man auch immer denkt und will, welchen Widerstand man auch immer in sich fühlt; den Schatten anblicken, heißt nicht anblicken, sondern betrachten.

Was soll man aus diesen Erscheinungen machen! Wie sich unter ihrem Zusammentreffen bewegen! Dieses Räthsel zu lösen, ist unmöglich. Welche Träumerei allen diesen Endpunkten anpassen? Wie viele tief verborgne, gleichzeitige, stammelnde, sich durch ihre eigne Menge verdunkelnde Enthüllungen, scheinbares Lallen des Wortes! Der Schatten ist ein Schweigen, aber dieses Schweigen sagt Alles. Eine Mittelkraft löst sich davon majestätisch ab: Gott ist der unbegreifbare Begriff, der im Menschen lebt. Die Vernunftschlüsse, die Anklagen, die Verneinungen und die Religionen gehen darüber hinfort, ohne ihn zu verringern. Diesen Begriff bestätigt der Schatten in seiner Gesammtheit, aber Verwirrung liegt auf allem Uebrigen. Furchtbare Immanenz. Der unbeschreibbare Einklang der Kräfte offenbart sich durch das Bestehen des Gleichgewichts in dieser ganzen Dunkelheit. Das All schwebt; nichts fällt. Die unaufhörliche und unermeßbare Ortsveränderung geht ohne Unfall und Bruch vor sich. Der Mensch nimmt an dieser Bewegung des Vorrückens Theil und die Menge der Schwankungen, welche er erfährt, nennt er das Geschick. Wo fängt das Geschick an? Wo hört die Natur auf? Welchen Unterschied giebt es zwischen einem Ereigniß und einer Zeit, zwischen einem Kummer und einem Regen, zwischen einer Tugend und einem Stern? Ist eine Stunde nicht eine Welle? Die sich bewegenden Räder greifen beständig ineinander ein und setzen, ohne dem Menschen zu antworten, ihre hartherzigen Umdrehungen fort. Der Sternenhimmel ist eine Erscheinung von Rädern, Balanciers und Gegengewichten; die höchste Betrachtung, verdoppelt durch das höchste Nachsinnen; die ganze Wirklichkeit; noch mehr: das ganze Insichversenken. Nichts geht darüber hinaus. Man fühlt sich ergriffen in der Gewalt dieses Schattens ohne die Möglichkeit eines Entweichens; sieht sich in den Zähnen dieses Rades, bildet einen wesentlichen Bestandteil eines unbeachteten Alls und fühlt das Unbekannte in sich mit einem Unbekannten außer sich geheimnißvoll Brüderschaft schließen. Das ist die höchste Verkündigung des Todes. Welche Qual und welches Entzücken zu gleicher Zeit! Dem Unendlichen anhängen und dadurch dazu geführt werden, sich selbst eine notwendige Unsterblichkeit, vielleicht eine mögliche Ewigkeit zuzuschreiben; in dem wunderbaren Wogen dieser Sündfluth des allgemeinen Lebens die unertränkbare Beharrlichkeit des Ich fühlen! Die Sterne betrachten und ausrufen: Ich bin eine Seele, wie Ihr! Die Finsterniß betrachten und ausrufen: Ich bin ein Abgrund, wie Du!

Dieses Riesenhafte ist die Nacht.

Das Alles, durch die Einsamkeit noch vergrößert, drückte auf Gilliatt.

Verstand er es? Nein.

Fühlte er es? Ja.

Gilliatt war ein großer, wirrer Geist und ein großes, wildes Herz.

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Fünftes Capitel. Gilliatt weis’t der Barke ihr Stellung an.

Die von Gilliatt ausgesonnene Rettung der Maschine war, wie wir schon sagten, ein ächtes Riesenunternehmen; und man kennt seine Geduld bei diesem Riesenunternehmen und ebenso seinen Fleiß. Der Fleiß geht bis in das Wunderbare, die Geduld bis in den Tod. So fand zum Beispiel ein Gefangener, Thomas, auf dem St. Michaelsberge Mittel, die Hälfte einer Mauer in einen Strohsack zu stecken. Zu Tulle schnitt im Jahre 1820 ein anderer Gefangener Blei auf der als Spazierplatz dienenden Plattform des Gefängnisses. Woher nahm er das Messer? Man kann es nicht ahnen. Er schmolz dieses Blei; aber mit welchem Feuer? Man weiß es nicht. Er goß dieses geschmolzene Blei, aber in was für eine Form? Man weiß es. In eine Form aus Brodkrume; und mit Hülfe dieses Bleies und dieser Form machte er einen Schlüssel und öffnete damit ein Schloß, von dem er nie etwas anders sah, als das Loch. Solch unerhörte Geschicklichkeit besaß auch Gilliatt. Er wäre die steile Böschung von Boisrosé hinauf- und wieder hinabgeklettert. Er war der Trenck einer Brandung und der Latude einer Maschine.

Das Meer, sein Gefangenwärter, überwachte ihn.

Uebrigens, wir müssen es gestehen, so undankbar und schlecht auch der Regen war, so zog Gilliatt doch Vortheil aus ihm. Er hatte seinen Vorrath von süßem Wasser einigermaßen wieder hergestellt; aber sein Durst war unlöschbar und er leerte seinen Wasserbehälter fast eben so schnell, als er ihn füllte.

Eines Tages, ich glaube, es war am letzten April oder ersten Mai, war Alles fertig.

Die Maschine war zwischen den acht Tauen der Krahnen auf jeder Seite zwischen vier gleichsam eingeschlossen. Die sechszehn Oeffnungen, durch welche diese Kabel liefen, waren auf der Brücke und unter dem Kiele durch Schnitte mit der Säge angebracht, die Dielen gleichfalls mit der Säge, das Gerüst mit der Axt, das Eisenwerk mit der Feile und die Fütterung mit zwei Meißeln bearbeitet worden. Der Theil des Kiels, über welchem sich die Maschine befand, war viereckig losgetrennt, so daß er mit der Maschine gehoben werden konnte und ihr als Stütze diente. Diese ganze furchtbare Last hielt nur an einer Kette, welche selbst nur noch mit einem Feilenstriche zusammenhing. Ist Alles so weit vorgeschritten und dem Ende so nahe, dann ist Eile Klugheit.

Das Meer stand niedrig, der Augenblick war günstig.

Es war Gilliatt gelungen, den Radbaum, dessen äußerste Enden hinderlich sein und das Aufwinden stören konnten, loszumachen und dieses schwere Stück senkrecht im Innern der Maschine selbst anzubringen.

Es war Zeit, zu Ende zu kommen. Zwar fühlte sich Gilliatt, wie wir schon gesagt haben, nicht matt, da er es nicht sein wollte, aber wie sah es mit seinem Handwerkszeug aus. Die Schmiede war allmälig unbrauchbar geworden, der Amboß gesprungen, der Blasebalg begann schlecht zu arbeiten und da der kleine Wasserfall Meerwasser enthielt, so hatte sich in den Gelenken des Apparats Salz niedergeschlagen und hinderte deren Spiel.

Gilliatt ging zum »Mann,« musterte die Barke, überzeugte sich, daß in ihr Alles in Ordnung war, besonders die vier Ringe am Tri- und Backbord, lichtete dann den Anker und kehrte rudernd mit ihr zu den beiden Douvres zurück, deren Zwischenraum sie durchließ, da das Wasser tief und die Oeffnung breit genug war. Gilliatt wußte bereits seit dem ersten Tage, daß man die Barke bis unter die Durande bringen konnte.

Dies Unternehmen war jedoch sehr schwer; es erforderte die Genauigkeit eines Juweliers; und das Einführen der Barke in die Klippe war um so mißlicher, als es für Gilliatts Zwecke mit dem Sterne, also mit dem Steuer zuerst geschehen mußte. Auch war es wichtig, daß ihr Mast und Takelwerk vor dem Wracke, auf der Seite des Schlupfhafens, blieben.

Diese vermehrten Schwierigkeiten machten das Unternehmen selbst für Gilliatt unbequem. Es handelte sich nicht mehr, wie bei der Klippe »der Mann,« um einen Barrenschlag, man mußte Alles zusammen thun: stoßen, ziehen, schleppen und sondiren. Gilliatt gebrauchte nicht weniger als eine Viertelstunde dazu, aber Alles lief gut ab.

In fünfzehn bis zwanzig Minuten war die Barke unter der Durande angebracht und von ihr beinahe festgeschlossen. Gilliatt gabelte sie mit ihren beiden Ankern so ein, daß der stärkste dem heftigsten Winde, welchen er zu fürchten hatte, dem West, entgegenarbeitete. Hierauf senkte er mit einem Hebel und der Winde die beiden Kisten in die Barke hinab, welche die abgenommenen Räder enthielten und deren Schlingen ganz fest waren. Diese beiden Kisten sollten als Ballast dienen.

Dann befestigte Gilliatt an dem Haken der Ketten der Winde die Schlingen des Balancirtaues, welches für die Krahne als Hemmung bestimmt war.

Für das, was Gilliatt vorhatte, waren die Fehler der Barke ebenso viele gute Eigenschaften; sie hatte kein Deck, die Belastung mußte auf den Kiel drücken und sie dadurch mehr Fahrwasser erhalten. Da sich ihr Mast vorn, vielleicht zu weit nach vorn, befand, so mußte die Belastung leichter von Statten gehen und da sich der Mast außerhalb des Wracks befand, so konnte nichts die Abfahrt hindern. Die Barke war wie ein Huf, auf dem Meere ist nichts so fest und beständig, als diese Hufform.

Plötzlich bemerkte Gilliatt, daß das Meer stieg. Er blickte sich um, woher der Wind komme.

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Sechstes Capitel. Plötzlich eine Gefahr.

Nur eine schwache Brise wehte, und zwar aus Westen; eine schlechte Gewohnheit, welche der Wind aber zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche liebt.

Die Fluth in der Douvre-Klippe verhält sich beim Steigen, je nach der Richtung des Windes, verschieden. Je nachdem sie die Brise treibt, dringt die See bald von Ost und bald von West in diese Meeresenge ein. Kommt sie von Ost, so ist sie gut und sanft; von West hingegen ungestüm. Das kommt daher, weil der Ost, welcher vom Lande herweht, wenig Kraft hat, der West aber, welcher über dem atlantischen Ocean streicht, das ganze Wehen der Unendlichkeit mit sich bringt. Selbst eine scheinbar ganz leichte Brise, welche aus Westen kommt, ist beunruhigend. Sie rollt die großen Wellen aus unbegrenzter Ferne herbei und treibt zu viel Wasser auf ein Mal in den engen Schlund.

Ein Wasser, welches sich in einem Abgrund verliert, ist immer furchtbar. Es ist mit dem Wasser, wie mit der Menge, welche auch flüssig ist. Das, was eindringen kann, ist geringer, als das, was eintreten will, daraus entsteht die Vernichtung für die Menge und das Zucken für das Wasser. So lange der West regiert und wäre es der schwächste Hauch, so haben die Douvres täglich zweimal diesen Angriff auszuhalten. Das Meer hebt sich, die Fluth steigt; der Felsen widersteht; der kleine Hafen öffnet sich nur spärlich, die mit Gewalt eingetriebene Woge springt und brüllt und die hohle See schlägt rasend die beiden innern Seiten der Straße. Bei dem geringsten Westwinde bieten die beiden Douvres folgendes eigenthümliche Schauspiel; draußen auf dem Meere die Ruhe; innen die Aufregung. Diese beschränkte und unbegrenzte Wuth hat nichts mit einem Sturm gemein; sie ist nur eine Rebellion der Wogen, aber schrecklich. Die Winde aus Nord und Süd fassen die Klippe von der Seite und regen die Wellen in der Straße nur wenig auf. Im Osten grenzt der Eingang, wie man sich erinnern wird, an den Felsen »der Mann;« die gefährliche Oeffnung des Westens befindet sich an dem entgegengesetzten Ende, genau zwischen den beiden Douvres.

An dieser Westöffnung befand sich Gilliatt mit der gescheiterten Durande und der festgeankerten Barke.

Ein Unglück schien unvermeidlich und drohte schon, denn es verfügte über eine zwar geringe, aber doch hinreichende Menge des ihm nothwendigen Windes.

Binnen wenig Stunden mußte das Anschwellen der wachsenden Fluth einen furchtbaren Kampf in der Douvres-Enge beginnen. Die ersten Wellen brandeten schon. Dieses Anschwellen, die Springfluth des ganzen atlantischen Oceans, hatte die Gesammtheit des Meeres hinter sich. Kein Windstoß, kein Zorn, sondern eine einfache Alles beherrschende Welle, mit einer Schnellkraft in sich, welche Amerika verläßt, um an Europa sich zu brechen und einen Schlag von zweitausend Meilen besitzt. Diese Welle, die Riesenbrandung des Oceans, mußte auf die Oeffnung in der Klippe stoßen, sich an den beiden Douvres, den Eingangsthürmen und Pfeilern der Straße, brechen, durch die Fluth und das Hinderniß anschwellen, von den Felsen zurückgeworfen und von dem Winde übertrieben der Klippe Gewalt anthun, mit dem ganzen Strudel des besiegten Widerstandes und der vollen Wuth der gefesselten Welle zwischen den beiden Mauern eindringen, dort die Durande und die Barke finden und beide zerbrechen.

Gegen diese Möglichkeit bedurfte es eines Schildes, den Gilliatt besaß.

Man mußte die Fluth daran verhindern, mit ihrer ganzen Gewalt einzudringen, ihr verbieten zu steigen, wodurch sie zerstören mußte, ihr den Durchgang verlegen, ohne ihr den Eintritt zu verweigern, ihr widerstehen und nachgeben, dem Drucke der Welle auf den Schlupfhafen, worin die ganze Gefahr bestand, zuvorkommen, an Stelle des Einstürmens ein gemächliches Eindringen setzen, der Woge ihre Aufregung und rohe Kraft nehmen, diese Wuth zur Sanftmuth zwingen und das aufregende Hinderniß durch ein beruhigendes ersetzen.

Gilliatt, der stärker als der Starke, Gemsenmanöver in den Gebirgen und Sapajou-Unternehmen in den Wäldern vollführte, der bei den schwankend und schwindelig machenden Sprüngen den kleinsten Kieselstein zu benutzen wußte, der in das Wasser sprang, aus dem Wasser sprang, im Kielwasser schwamm und den Felsen, mit einem Strick zwischen den Zähnen und einem Messer in der Hand, zu erklettern verstand, – löste mit der ihm eigenthümlichen Geschicklichkeit das Greling, welches, schwebend und an die Böschung des kleinen Douvre gelehnt, den Vordertheil der Durande hielt; machte aus dicken Tauenden eine Art von Haspeln, welche dies Panneau an den großen, in den Granit eingelassen Nägeln befestigen sollten, ließ auf diesen Haspeln jene, einer Schleusenthür ähnliche Planken-Armatur spielen, bot ihre Seite, wie man es mit dem Backen eines Steuerruders macht, dem Wasser dar, welches eines ihrer Enden vorwärts trieb und an den großen Douvre führte, während die Tauhaspeln auf dem kleinen Douvre ihr anderes Ende zurückhielten, bewerkstelligte auf dem großen Douvre, mit Hülfe der schon im Voraus eingeschlagenen Nägel, dieselbe Art der Befestigung, wie auf dem kleinen, schloß dieses mächtige Balkengerüst innig an den doppelten Pfeiler des Schlupfhafens auf, kreuzte auf dieser Barre eine Kette, wie ein Degengehänge über einem Panzer, und in weniger als einer Stunde wendete sich dieser Verschluß gegen die Fluth und vertrat den Eingang in die Straße zwischen den Klippen, wie eine Thür.

Dieses mächtige Gerüst einer gewaltigen Masse von Balken und Planken, welches liegend ein Floß und stehend eine Mauer bildete, war von Gilliatt mit Hülfe der Fluth und mit zauberhafter Geschicklichkeit angebracht worden. Das Kunststück war fertig geworden, bevor die steigende Fluth Zeit hatte, es wahrzunehmen.

In diesem Falle hätte Jean Bart wieder das berühmte Wort angewandt, welches er jedesmal dem Meere zurief, wenn er einen Schiffbruch geschickt vermied: » Angeführt den Engländer!« Wie man weiß, nannte Jean Bart den Ocean, wenn er ihn beleidigen wollte, den Engländer.

Nachdem Gilliatt die Meerenge so versperrt hatte, dachte er an die Barke. Er rollte genug Kabel auf die beiden Anker ab, daß sie mit der Fluth steigen konnte, ein ähnliches Verfahren, wie das, welches die alten Seeleute »mit Knoten ankern« nannten. Bei alle dem wurde Gilliatt nicht überrascht, denn er hatte an Alles schon vorher gedacht; ein Sachverständiger hätte es an den beiden, mit ihren glatten Klobenwerken an dem Sterne der Barke befestigten Rollen gesehen, über welche zwei Grelinge liefen, deren Enden schief durch die Ringe der beiden Anker gingen.

Indessen war die Fluth schon bis zur halben Höhe gestiegen; in einem Augenblicke kann schon der Schlag ihrer Wellen, selbst wenn sie ruhig sind, kräftig werden. Was Gilliatt erwartet hatte, ging in Erfüllung. Die Fluth rollte kräftig gegen die Barke, stieß gegen sie, stauchte sich an ihr auf und ging dann unter ihr durch. Draußen war es die hohle See, drinnen ein Eintröpfeln. Gilliatt hatte eine Art von caudinischen Engpässen für das Meer ersonnen und es dadurch besiegt.

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Siebentes Capitel. Eher Entwickelung, als Lösung.

Der schreckliche Augenblick war gekommen.

Es handelte sich jetzt darum, die Maschine in die Barke zu bringen.

Einige Augenblicke hindurch stützte Gilliatt seine Stirn auf seine linke Hand, den linken Ellbogen auf die rechte Hand und dachte nach; dann stieg er auf das Wrack, von dem ein Theil, die Maschine, losgemacht werden, der andere aber, der Rumpf, zurückbleiben sollte, und schnitt die vier Seile, welche am Back- und Tribord der Durande die vier Ketten des Schlotes festhielten, durch. Da die Seile nur aus Hanf bestanden, so gelang ihm das mit seinem Messer.

Die vier Ketten hingen frei und ohne Anhang an dem Schlote hinab.

Von dem Wracke stieg er in den Apparat, welchen er gemacht hatte, schlug mit dem Fuße gegen die Balken, untersuchte die Flaschenzüge und Rollen, berührte die Kabel, prüfte die Ansatzstücke, überzeugte sich, daß das weiße Tauwerk nicht tief durchnäßt war, daß nichts fehlte und sich nichts bog, sprang dann von dem hohen Lukenrande auf das Deck und stellte sich neben die Winde in den Theil der Durande, welcher an den Douvres bleiben sollte. Dort war sein Platz während der Arbeit.

Ernst und nur von nützlicher Erregung erregt, warf er einen Blick auf die Krahne, ergriff hierauf eine Feile und begann die Kette, welche Alles in der Schwebe hielt, zu durchschneiden.

Man hörte das Knirschen der Feile unter dem Grollen des Meeres.

Die Kette der Winde, welche an dem Balancir-Tau befestigt war, befand sich dicht neben seiner Hand, so daß er sie leicht fassen konnte.

Plötzlich hörte man ein Krachen. Die Kette, welche von der Feile zerschnitten wurde, war mehr als halb durchgefeilt und eben gerissen; der ganze Apparat fing zu schwanken an. Gilliatt hatte nur noch Zeit, sich auf das Balancirtau zu stürzen.

Die zerrissene Kette peitschte den Felsen, die acht Kabel dehnten sich aus, der ganze losgesägte und losgeschnittene Theil riß sich vom Wracke los, der Bauch der Durande öffnete sich und der auf die Kabel drückende Eisenboden der Maschine erschien unter dem Kiele.

Hätte Gilliatt nicht zeitig das Tau ergriffen, so wäre ein Sturz erfolgt. Jetzt war aber seine furchtbare Hand da und so wurde es nur ein Herabsinken.

Als Jean Bart’s Bruder, Peter Bart, jener starke und kluge Trunkenbold, jener arme Fischer aus Dünkirchen, welcher den Großadmiral von Frankreich duzte, die in der Bai von Ambleteure verlorene Galeere Langeron rettete und um diese schwere schwimmende Masse aus der Mitte der Brandung jener gefährlichen Bai herauszuschaffen, das große Segel im Flattern mit Meerbinsen zusammenband, als er wollte, daß diese Binsen, sich selbst zerbrechend, das Segel dem Winde zum freien Spiel überließen, vertraute er sich dem Brechen der Binsen ebenso an, wie Gilliatt dem Reißen der Kette; es war dieselbe merkwürdige Kühnheit, von demselben überraschenden Erfolge gekrönt.

Das Tau, welches Gilliatt gefaßt hatte, hielt gut und arbeitete wunderbar. Wie man sich erinnern wird, war es dazu bestimmt, den Kräften, welche aus mehreren in eine zusammengezogen waren und einer gemeinsamen Bewegung gehorchten, das Gleichgewicht zu halten. Es hatte einige Aehnlichkeit mit einer Boyleine, wirkte aber nicht auf ein Segel, sondern auf einen Mechanismus.

Gilliatt stehend und die Hand an der Winde, fühlte, so zu sagen, dem Apparate den Puls.

Hier zeigte sich Gilliatt’s Erfindungsgabe auf das Deutlichste.

Ein auffallendes Ineinandergreifen fand statt.

Während die völlig losgelöste Maschine der Durande gegen die Barke hinabstieg, hob sich diese gegen jene hin. Das Wrack und das Rettungsboot halfen sich gegenseitig, gingen einander entgegen, suchten sich und ersparten sich die halbe Arbeit.

Die Fluth schwoll ohne Geräusch zwischen den beiden Douvres an, hob die Barke und näherte sie der Durande; sie war mehr als besiegt, sie war gezähmt. Der Ocean bildete einen Theil des Mechanismus.

Das steigende Wasser hob die Barke nicht rückwärts, sondern sanft und beinahe vorsichtig, als wenn sie aus Porzellan gewesen wäre.

Gilliatt hatte die Kräfte dieser beiden Arbeiter, des Wassers und des Apparates, vereint, gegeneinander abgemessen und regelte, unbeweglich an der Winde stehend, gleich einer fürchterlichen Bildsäule, der alle Bewegungen auf einmal gehorchen, die Geschwindigkeit des Sinkens nach der des Steigens.

Kein Springen in der Fluth, kein Schwanken in den Krahnen. Es war ein merkwürdiges Zusammenspielen aller dienstbar gemachten Naturkräfte. Einerseits war die Anziehungskraft der Maschine, andererseits die Fluth das Boot. Die Anziehungskraft der Gestirne – die Fluth – und die der Erde – die Schwere – schienen sich mit einander verständigt zu haben, um Gilliatt zu dienen. Ihr Gehorsam kannte weder Zögerung noch Aufenthalt, und durch den Willen eines Geistes wurden diese unthätigen Kräfte zu thätigen Hülfsmitteln. Von Minute zu Minute schritt das Werk vor; der Zwischenraum zwischen der Barke und dem Wrack verminderte sich unmerklich. Die Annäherung geschah schweigend und gewissermaßen für den Menschen, welcher zugegen war, furchtbar. Das Element hatte einen Befehl erhalten und führte ihn aus.

Fast in demselben Augenblick, als die Fluth zu steigen aufhörte, hörten auch die Kabel auf sich abzurollen. Plötzlich, aber ohne Bewegung, standen die Flaschenzüge still. Die Maschine hatte, wie unter der Leitung einer Hand, in der Barke Platz genommen. Sie stand in ihr gerade, aufrecht, unbeweglich und fest. Die Stützplatte ruhte mit ihren vier Ecken senkrecht auf dem Kiele.

Es war vollbracht.

Gilliatt blickte überwältigt hin.

Das arme Wesen war von der Freude nicht verwöhnt. Er beugte sich unter einem unermeßlichen Glücke, fühlte, wie alle seine Glieder zitterten, und er, der bis dahin keine Verwirrung gekannt hatte, begann vor seinem Siege zu beben.

Er betrachtete die Barke unter dem Wracke und die Maschine in der Barke. Er schien es nicht zu glauben. Man hätte sagen können, er war auf das nicht vorbereitet, was er gethan hatte. Ein Wunder war unter seinen Händen hervorgegangen und er erblickte es mit Staunen.

Dieses Staunen dauerte nur kurze Zeit.

Gilliatt machte eine Bewegung wie Jemand, der erwacht, stürzte auf die Säge zu, schnitt die acht Taue durch, sprang dann in die Barke, von welcher ihn jetzt, Dank ihrem Steigen durch die Fluth, eine Entfernung von höchstens zehn Fuß trennte, ergriff eine Rolle mit Troß, machte vier Schlingen, steckte sie durch die Ringe, welche er schon früher angebracht hatte, und befestigte an Bord der Barke auf beiden Seiten die vier Ketten des Schlotes, welche noch vor einer Stunde an Bord der Durande festsaßen.

Nachdem der Rauchfang angeschlossen war, machte Gilliatt den oberen Theil der Maschine los. Ein viereckiges Stück der Brückenplatte der Durande hing daran fest. Gilliatt schlug es ab und befreite die Barke von diesem überflüssigen Ballaste von Planken und Brettern, welche er auf den Felsen warf. Nützliche Erleichterung!

Uebrigens war die Barke, wie man wohl erwarten konnte, unter der großen Last der Maschine fest geblieben und hatte sich nur wenig gesenkt. Die Maschine der Durande war zwar schwer, aber nicht so wuchtig, als der Steinhaufen und die Kanone, welche die Barke schon früher von Herm geholt hatte.

So war Alles beendet und er brauchte die Maschine nur noch fortzufahren.

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Achtes Capitel. Der Erfolg eben so schnell wiedergenommen, als gegeben.

Alles war noch nicht beendigt.

Gilliatt mußte den Schlupfhafen wieder öffnen, welchen das Vordertheil der Durande verschloß, und die Barke sofort aus der Klippe schaffen, das lag klar auf der Hand. Auf offenem Meere ist jede Minute kostbar. Der Wind war schwach, kaum ein Kräuseln zeigte sich auf hoher See; der sehr schöne Abend versprach eine ebenso schöne Nacht. Das Meer war stillstehend, aber die Ebbe begann sich schon fühlbar zu machen; der Augenblick war für die Abfahrt äußerst günstig. Er verließ mit der Ebbe die Douvres, landete mit der Fluth in Guernesey und konnte mit Tagesanbruch in St. Sampson sein.

Aber ein unerwartetes Hinderniß stellte sich ein. Trotz seiner Vorsicht hatte Gilliatt eine Kleinigkeit vergessen.

Die Maschine war frei, der Rauchfang aber nicht.

Die Fluth hatte dadurch, daß sie die Barke dem in der Luft schwebenden Wrack näherte, die Gefahren des Herablassens verringert und die Rettung abgekürzt; aber in Folge dieser Verminderung des Zwischenraums blieb der obere Theil des Schlotes in dem klaffenden Rahmen stecken, welchen gewissermaßen der offene Kiel der Durande bildete. Der Rauchfang wurde von ihm festgehalten, als ob er zwischen vier Mauern gesteckt hätte.

Die Dienstleistung der Wellen wurde durch diesen hinterlistigen Streich gestört.

Wie es schien, hatte das zum Gehorsam gezwungene Meer einen Hintergedanken. Die Ebbe konnte das Werk der Fluth vielleicht zerstören.

Der etwas mehr als drei Klafter hohe Schornstein steckte acht Fuß tief in der Durande; das Niveau des Wassers war im Begriff um zwölf Fuß zu sinken und der Schornstein, indem er mit dem Holländer dem Meeresgrund näher kam, gewann oben einen Spielraum von vier Fuß, konnte also in’s Schwanken gerathen.

Wie lange mochte es währen, ehe er diese Freiheit erlangte? – Sechs Stunden.

Nach Verlauf derselben war es nicht weit mehr von Mitternacht. Doch wie konnte man zu jener Zeit eine Ausschiffung versuchen? In welchen Canal sollte das Fahrzeug sich durch die Klippen winden, in denen sich schon bei Tage Niemand zurechtfand? Und wer wollte sich in jenen Hinterhalt von Untiefen wagen?

Gilliatt war gezwungen, den folgenden Tag abzuwarten.

Sechs verlorene Stunden konnten ihm mindestens zwölf andere kosten.

Er durfte nicht einmal daran denken, den Eingang des Felsgäßchens zu öffnen, um weiter arbeiten zu können.

Gilliatt mußte sich auch ausruhen.

So lange er sich zwischen den Douvresklippen befand, hatte er alles Andere gethan, nur nicht die Arme gekreuzt; dies that er jetzt zum ersten Mal.

Diese gezwungene Pause erzürnte und empörte ihn fast, als hätte er selber sie verschuldet. Was würde Deruchette sagen, sähe sie mich hier müßig stehen? fragte er sich.

Und doch bedurfte er so nothwendig des Sammelns neuer Kräfte.

Der Holländer stand jetzt zu seiner Verfügung und er beschloß die Nacht auf ihm zu verbringen.

Er holte sein Schaffell von dem großen Douvre, speiste einige Schlüsselmuscheln und Seekastanien und trank, da er großen Durst halte, fast den ganzen Wasserrest seiner Schiffsflasche. Dann hüllte er sich in das Fell, dessen Wolle ihm wohl that, legte sich wie ein Wächterhund in die Nähe seiner Maschine, zog die Galerienue über seine Augen und sank in Schlummer.

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Neuntes Capitel. Die Warnungen der See.

Wie von einer Springfeder emporgeschnellt, erwachte er plötzlich inmitten der Nacht.

Er öffnete die Augen.

Die Douvres über seinem Haupt erglänzten wie vom Wiederschein einer starken, hellen Kohlengluth. Die ganze schwarze Façade war von diesem Licht beleuchtet.

Woher kam dies Feuer?

Aus dem Wasser.

Das Meer schien in Flammen zu stehen. So weit das Auge reichte, wogte es wie Feuersgluth, doch hatte dieselbe nicht den gewöhnlichen rothen Schein, auch kein Knistern, keine Hitze und Purpurröthe, nicht das kleinste Geräusch begleitete sie. Ein weitverbreiteter bleicher Glanz zitterte über dem Wasser. Es war keine Feuersbrunst, sondern ein Seegespenst.

Die Erscheinung glich der fahlen Gluth, welche eine Flamme, das Erzeugniß eines Traumes, in dem Innern einer Todtengruft entzündete.

Man mache sich eine Vorstellung von einer in Brand gesetzten Finsterniß.

Die Nacht, die unermeßliche, aufgestörte und verwirrte Nacht, schien der Brennstoff des eisigen Feuers zu sein. Das Dunkel trat als Element in dies Lichtphantom. Alle Fischer des Canals kennen das phosphorische Leuchten, welches Warnungen für die Seefahrer enthält.

Bei diesem Leuchten verlieren alle Gegenstände ihre wirkliche Beschaffenheit. Ein geisterhaftes Wesen durchdringt sie und läßt sie durchsichtig erscheinen. Die Felsen sind nur noch Umrisse. Ankertaue gleichen rothglühenden Eisenstangen. Fischernetze glänzen im Wasser wie ein Maschenwerk von Feuer. Die eine Hälfte des Ruders ist Ebenholz, die andere, im Wasser befindliche, funkelt wie Silber. Tropfen, die in’s Meer zurückfallen, verwandeln sich in Sterne. Jede Barke läßt einen Kometenschweif hinter sich. Matrosen, deren Kleider durchfeuchtet sind, gleichen brennenden Menschen. Taucht man seine Hände in die Fluth, so tragen sie beim Herausziehen glühende Handschuhe, doch ist es ein todtes Feuer, das nicht brennt. Der nasse Arm wird zum glimmenden Brand. Alle im Meer befindlichen Dinge rollen mit der Flammenströmung hinweg. Die Fische sind feurige Zungen und zerrissene Blitze, welche in einem bleichen Abgrund züngeln.

Jenes helle Leuchten war durch Gilliatt’s geschlossene Augenlider gedrungen. Nur ihm verdankte er sein Erwachen. Es war hohe Zeit aufzustehen.

Nach der Ebbe folgte jetzt eine neue Fluth.

Der Schornstein der Maschine, welcher während Gilliatt’s Schlaf frei geworden war, stand im Begriff, von dem über ihm gähnenden Wrack gepackt zu werden.

Er stieg langsam empor.

Nur noch ein Fuß fehlte und er fuhr wieder in die Durande.

Die Fluth braucht etwa eine halbe Stunde, um einen Fuß hoch zu steigen. Längere Zeit blieb Gilliatt also nicht, wenn er die schon in Frage stehende Rettung völlig ausführen wollte.

Er richtete sich blitzschnell empor.

So sehr die Verhältnisse ihn auch drängten, konnte er doch nicht umhin, das Meerleuchten einige Minuten nachdenklich zu betrachten.

Er kannte die See aus dem Grunde. Wider ihren Willen und oft von ihr gemißhandelt, war er lange Zeit ihr Gefährte gewesen. Das geheimnißvolle Wesen, welches Ocean heißt, konnte nichts beabsichtigen, was Gilliatt verborgen geblieben wäre.

Er eilte schnell zu den Hißtauen, ließ sie langsam nach, ergriff dann, da der Gabelanker ihn nicht mehr hinderte, den Bootshaken des Holländers, stützte sich an die Felswand und steuerte nach dem, einige Klafterlängen jenseits der Durande liegenden Ausgang des Felsengäßchens. Es machte Raum, wie die Matrosen von Guernesey sagen. In weniger als zehn Minuten war der Holländer aus dem Bereich unterhalb des Wrack. Es stand nicht länger zu befürchten, daß der Schornstein wieder in die Schlinge der Durande gerieth. Mochte die Fluth immerhin steigen.

Er betrachtete erst das Meerleuchten und lichtete dann die Anker, doch nicht um abzufahren, sondern weil er den Holländer auf’s Neue und zwar in der Nähe des Ausgangs befestigen wollte.

Bisher hatte er sich nur der beiden Anker seines eigenen Fahrzeuges bedient, ohne den kleinen Anker der Durande zu benutzen, welchen er, wie man weiß, in den unterseeischen Klippen auffand. Er bewahrte ihn für dringende Fälle in einem Winkel des Holländers, nebst einem Vorrath von dreidrähtigen Seilen und Hißtau-Blockrollen und seinem Ankertau, das er im Voraus mit sehr spröden Feuerflaschen versehen hatte. Gilliatt warf auch diesen dritten Anker, was auf lebhafte Besorgniß und doppelte Vorsicht schließen ließ.

Das phosphorische Leuchten, welches er überwachte und unverwandt beobachtete, bedrohte ihn vielleicht, während es ihm zu gleicher Zeit nützte. Ohne dasselbe wäre er ein Gefangener des Schlafs geblieben und die Nacht hätte ihn betrogen. Jenes Licht erweckte und erleuchtete ihn. Es bewirkte in den Klippen eine trübe Tageshelle, die Gilliatt zwar beunruhigte, ihm aber insofern diente, als sie die Gefahr zeigte und seinen Abzug möglich machte. Wollte er von nun an die Segel spannen, war der Holländer mit der Maschine frei und unbehindert.

Gilliatt schien indeß weniger und weniger an eine Abreise zu denken. Als er den Holländer quer vor Anker gelegt hatte, holte er die stärkste Kette aus seinem Lagerhaus, befestigte jedes ihrer Enden an zwei Nägeln, von denen der eine in den kleinen, der andere in den großen Douvre geschlagen war und verstärkte so das Bollwerk von Futterdielen und Balken, welches die an der Außenseite kreuzweis gespannte Kette bereits sicherte. Weit entfernt, die Einfahrt zu öffnen, versperrte er dieselbe vollends.

Das Meerleuchten dauerte zwar noch fort, nahm aber allmählig ab. Der Tag begann zu dämmern.

Plötzlich lauschte Gilliatt.

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Zehntes Capitel. Wen’s juckt, der kratze sich.

Er glaubte in unermeßlicher Ferne ein schwaches, undeutliches Geräusch zu hören.

Bisweilen entsteigen der Tiefe grollende Laute.

Er lauschte zum zweiten Mal. Das leise Tönen ließ sich wieder vernehmen. Gilliatt schüttelte den Kopf, wie Jemand, der da weiß, um was es sich handelt.

Einige Minuten später befand er sich am entgegengesetzten Ende des Felsgäßchens, das bis jetzt offen war und trieb mit starken Hammerschlägen große Nägel in den Granit der beiden Eisfelsen, dieses, dem Mann benachbarten Ausgangs, eine Vorkehrung, die er früher an der Einfahrt der Douvres getroffen hatte.

Die Spalten dieser Felsen waren alle ausgebessert und mit kernigem Eichenholz gefüllt. Da die Klippe gerade hier aus sehr mürbem Gestein bestand, diente sie vielen Eidechsen zur Wohnung und Gilliatt war im Stande, noch mehr Nägel darin anzubringen, als am entgegengesetzten Fundament der beiden Douvres.

Plötzlich, als würde es ausgelöscht, endigte das Meerleuchten und die mit jedem Augenblick abnehmende Morgendämmerung herrschte an seiner Stelle.

Als Gilliatt die Nägel eingeschlagen hatte, schleppte er Balken, Taue und Ketten herbei und begann, ohne die Augen eine Secunde von seiner Arbeit zu wenden, den Ausgang des Passes mit Bohlen zu versperren, indem er diese in horizontaler Richtung befestigte und durch Taue zusammenfaßte, eine der lockern Verschanzungen, welche die heutige Wissenschaft anerkennt und mit dem Namen Wellenbrecher belegt hat.

Wer mit eigenen Augen – zum Beispiel in Rocquaine, Guernesey oder Bourg-d’eau in Frankreich, die Wirkung beobachtet hat, welche einige in den Fels gerammte Pfähle hervorbringen, begreift die Bedeutung dieser so einfachen Vorkehrung. Der Wellenbrecher ist eine Zusammensetzung der Verschärfung, die man in Frankreich épi und in England dick nennt. Wellenbrecher sind die »spanischen Reiter« der Festungswerke, die im Wasser zur Abwehr des Sturmes erbaut werden. Nur mit Hülfe dieser Macht kann man gegen das Meer kämpfen.

Die Sonne hatte inzwischen vollkommen heiter ihre Himmelsbahn betreten. Das Meer war still, die Luft klar.

Gilliatt beschleunigte seine Arbeit. Auch er war ruhig und doch lag Angst in seiner Hast.

Mit großen Sätzen eilte er von Fels zu Fels, von der Verschanzung zum Magazin und wieder zurück nach der Verschanzung. Bald schleppte er einen Katzsparren, bald eine Verdeckslukeneinfassung herbei. Die Nützlichkeit seiner Ansammlung von Zimmerwerk erwies sich. Es war klar, daß Gilliatt einem vorhergesehenen Ereigniß gegenüber stand.

Eine starke Eisenstange diente ihm als Hebebaum, mit dessen Hülfe er die Balken fortschaffte.

Das Werk ging so schnell von Statten, daß man sagen konnte, es wuchs empor, anstatt ausgeführt zu werden. Wer nie der Arbeit eines Pioniers zugesehen hat, kann sich keine Vorstellung von einer solchen Eile machen.

Der östliche Eingang war noch enger als der westliche. Er hatte nur eine Breite von fünf oder sechs Fuß. Dies kam Gilliatt zu Statten. Da der zu befestigende Platz nur klein war, mußte die Verschanzung jedenfalls besser Stich halten, und konnte überdies leichter hergestellt werden. Die querliegenden Bohlen genügten also, senkrecht einzurammende waren überflüssig.

Als Gilliatt die ersten Balken vor dem Eingang angebracht hatte, stieg er auf dieselben und lauschte.

Das Grollen der See ließ sich deutlicher vernehmen.

Gilliatt setzte seine Arbeit fort. Er vervollständigte sie durch die beiden Krahnbalken der Durande, welche er mit dem Querbalken zusammenfügte, indem er durch die Blockrollenräder der letzteren Hißtaue zog, und diese um das Gebälk befestigte. Das Ganze durchschürzte er dann mit Ketten.

Das vollständige Machwerk war nichts Anderes als eine Art Geflechte, dessen Stäbe durch Bohlen vertreten wurden, während Ketten die Weidengerten waren.

Gilliatt vervielfachte die Befestigungen und schlug die fehlenden Nägel in die Verschanzung.

Da er viele Eisenstangen in dem Wrack vorgefunden hatte, konnte er einen großen Vorrath von Nägeln schmieden.

Während seiner Arbeit zermalmte er Schiffszwieback mit den Zähnen. Er hatte Durst, ohne ihn löschen zu können, denn es fehlte ihm an süßem Wasser. Den Rest in seiner Schiffsflasche trank er bereits am vorigen Abend.

Er fügte noch vier oder fünf Balken zu den übrigen und stieg dann zum zweiten Mal auf die Verschanzung, um zu lauschen.

Das ferne Geräusch war verstummt. Alles schwieg.

Das Meer lag in stiller Herrlichkeit da. Es verdiente jedes Madrigal, welches die Bürger ihm widmen, wenn sie mit seinem Betragen zufrieden sind: »ein Spiegel« – – – »ein See« – – – »Oel« – – – »ein Schäker« – – – »ein Hammel« – – Die tiefe Himmelsbläue war des dunkeln Meergrüns würdig – Saphir und Smaragd, die einander bewundern durften. Sie hatten einander nichts vorzuwerfen. Kein Wölkchen in den Lüften, keine Schaumflocken aus dem Wasser. Eine strahlende Aprilsonne stieg über all‘ dieser Pracht empor. Das Wetter konnte nicht schöner sein.

Am äußersten Horizont strich eine lange schwarze Reihe von Zugvögeln dahin. Sie flogen schnell und näherten sich der Erde. Es hatte den Anschein, als wären sie auf der Flucht.

Gilliatt fuhr fort, den Wellenbrecher zu erhöhen, so weit die Krümmung der Felsen es gestattete.

Gegen Mittag dünkte ihm der Sonnenschein heißer, als natürlich war.

Die Mittagsstunde ist entscheidend für den Tag. Gilliatt stand auf dem festen Flechtwerk, das er soeben vollendet hatte, und begann seine unbegrenzte Umgebung zu beobachten.

Das Meer war nicht nur ruhig, sondern träge. Kein Segel ließ sich erblicken. Der Himmel war noch immer klar, doch hatte das Blau sich in Weiß verwandelt. Dieser Umstand befremdete ihn. Am westlichen Horizont zeigte sich ein kleiner Fleck von krankhafter Farbe. Er behauptete unbeweglich seinen Platz, nahm aber an Umfang zu. In der Nähe der unterseeischen Klippen bemerkte man ein sanftes, leises Kräuseln der Fluth. Gilliatt hatte wohl gethan, seinen Wellenbrecher zu bauen.

Ein Unwetter zog herauf.

Der Abgrund hatte sich entschieden, eine Schlacht zu liefern.

Drittes Buch. Durande und Deruchette.


Erstes Capitel. Geplauder und Rauch.

Vielleicht ist der menschliche Körper nur ein Schein. Er verbirgt unser wahres Wesen; er legt sich wie eine dichte Masse um unser Licht oder unsern Schatten. Unser wahres Wesen ist die Seele. Wenn wir es genau nehmen, so ist unser Angesicht eine Maske, welche das wahre, eigentliche Gesicht, das der Seele, verbirgt. Wenn man einmal den wahren Menschen, das wahre Menschenantlitz hinter dieser Fleisch-Maske sehen könnte, welche Ueberraschungen würde diese Enthüllung bieten! Der allgemeine Irrthum besteht darin, daß man den äußeren Menschen für das wahre Wesen hält. Manches junge Mädchen z. B. würde, in ihrer wirklichen Gestalt gesehen, als ein Vogel erscheinen.

Ein Vogel in Gestalt eines Mädchens – kann es etwas Reizenderes geben? Wollt Ihr ein solches Wesen kennen lernen, so seht Euch Deruchette an: Sie ist ein Vögelchen in einem Mädchenleib, ein herzig Vögelchen! Wenn man sie sieht, möchte man ihr zurufen: Guten Morgen, kleine Bachstelze! Man steht nicht die Flügel, aber man hört das Zwitschern, bisweilen sogar einen Gesang. Das Zwitschern steht unter, der Gesang über der Menschenstimme; er ist voll geheimnißvoller Offenbarungen. Ein Mädchen ist eine fleischgewordene Engelsseele. Wenn die Jungfrau Weib wird, entflieht der Engel und kommt erst wieder, wenn er der Mutter eine kleine Seele bringt. Die künftige Mutter bleibt lange Zeit ein Kind; das »kleine Mädchen« lebt noch fort im »jungen Mädchen«, und dieses kleine, junge Mädchen ist eine Grasmücke. Beim Anblick einer solchen Grasmücke denkt man unwillkürlich: Wie lieb ist doch von ihr, daß sie nicht fortfliegt! Dies herzige kleine Wesen wird heimisch, es fliegt von Zweig zu Zweig, oder vielmehr von Zimmer zu Zimmer; man sieht es überall, es kommt und geht, es nähert und entfernt sich und kommt wieder; es putzt die Federn oder kämmt die Haare; man hört das leise Geräusch seines Flügelschlages; es singt uns etwas, wir antworten; dann fragen wir etwas: statt der Antwort zwitschert die kleine Grasmücke. Man spricht nicht mit ihr, man plaudert. Das Plaudern ist eine Erholung, ein Ausruhen vom Sprechen. Ach, es plaudert sich so angenehm mit solch‘ einem kleinen Wesen! Es hat etwas vom Himmel an sich; es ist ein blauer Gedanke, der sich mit unseren schwarzen Gedanken vermählt. Wir wissen ihm Dank, daß es bei seiner leichten, ungreifbaren Flüchtigkeit es doch so gut mit uns meint, uns seinen Anblick zu gönnen; denn ein so luftiges Wesen hat sicher auch die Gabe, sich unsichtbar zu machen. Das Schöne hienieden ist das Nothwendige. Es giebt auf Erden wenig so bedeutende Pflichten, als die, reizend zu sein. Der Wald müßte verzweifeln ohne Singvögelchen. Freude ausströmen, Glück ausstrahlen, Helles, farbenreiches Licht über das Dunkel dieser Erde breiten, die Vergoldung des Schicksals, die Harmonie, die Grazie, die Anmuth sein, heißt uns einen Dienst erweisen. Die Schönheit wirkt wie eine Wohlthat des Himmels; wir fühlen uns ihr zu Dank verpflichtet, obgleich sie weiter nichts thut, um sich diesen unseren Dank zu verdienen, als daß sie eben schön ist. Es giebt Wesen, welche einen feenhaften Zauber über ihre Umgebung verbreiten; zuweilen wissen sie dies selber nicht, doch gerade hierdurch wird ihre Gewalt über uns eine unumschränkte; denn nichts ist reizender, nichts verführerischer, als die ihrer selbst unbewußte, ahnungslose Schönheit. Ihre Gegenwart verklärt, ihre Nähe erwärmt wie das Sonnenlicht; wir freuen uns ihres nur flüchtigen Grußes und sind beglückt, wenn sie bei uns verweilt; sie ist Leben. Durch ihre bloße Gegenwart macht sie das Haus, das sie umfängt, zum Eden; aus ihren Poren strömen Paradieses-Wonnen; und alle diese Wunder bewirkt sie ohne ihr Hinzuthun, nur durch ihr bloßes Dasein.

Das Lächeln eines solchen Wesens birgt eine geheime Kraft in sich, welche, das Gewicht der Ketten mindert, an welcher die ganze Creatur gemeinsam schleppt. So ein Lächeln ist göttlich. Dieses Lächeln hatte Deruchette; oder vielmehr: Deruchette war dieses Lächeln. Es giebt Etwas, was unserm innern Wesen mehr gleicht, als unser Angesicht: das ist unsere Physiognomie. Und wieder giebt es Etwas, was uns noch ähnlicher sieht, als unsere Physiognomie: das ist unser Lächeln. Die lächelnde Deruchette, das war Deruchette.

Es steckt den Bewohnern von Jersey und Guernesey eine ganz eigenthümliche Anziehungskraft im Blute. Die Frauen und Mädchen besonders sind frische, blühende Rosen. Das zarte Weiß ihrer Hautfarbe ist englischen, die blühende Frische normännischen Ursprungs. Sie haben rosige Wangen und blaue Augen; doch fehlt es diesen schönen blauen Augensternen an Glanz; die englische Erziehung hat ihn gedämpft. Das klare feuchte Blau dieser englischen Augen wird unwiderstehlich sein, wenn ihm einst das französische Feuer Glanz verleihen wird. Bis jetzt aber sind die Engländerinnen noch unbeeinflußt vom französischen Wesen geblieben. Deruchette war keine Französin, sie war auch keine Engländerin. Nicht Guernesey, St. Pierre-Port war ihr Geburtsort; aber Mess Lethierry hatte sie erzogen. Sie sollte zu einem Herzblättchen erzogen werden. Sie war eins geworden. Vielleicht wußte sie kaum den Sinn des Wortes Liebe zu fassen; dennoch machte es ihr Vergnügen, Liebe einzuflößen; doch ohne Arg, müssen wir hinzufügen. Sie dachte nicht an’s Heirathen.

Deruchette hatte ganz allerliebste kleine Händchen und eben solche Füßchen. » Vier Fliegenfüßchen,« sagte Mess Lethierry. Sie war von der Natur und vom Glück nicht eben stiefmütterlich behandelt. Sanftmuth und Güte waren ihr in ihrer eigenen Person verliehen, mit Familie und Reichthum war sie in der Person ihres Oheims, Mess Lethierry ausgestattet; ihre Arbeit bestand in der Kunst zu leben; ihr Talent war der Gesang einiger Volkslieder, ihre Wissenschaft war die Schönheit, ihr Geist die Unschuld, ihr Herz die Unwissenheit. Sie hatte jene anmuthige Trägheit der Creolin, welche mit Unbesonnenheit und Lebhaftigkeit gepaart ist. Zu der neckischen Fröhlichkeit des Kindes gesellte sich ein Hang zur Schwermuth. Die Art ihrer Kleidung verrieth die Insulanerin, sie war elegant, ohne den Anforderungen des Geschmacks im strengsten Sinn des Wortes Rechnung zu tragen. Ihr Nacken war verführerisch, ihre Stirne frei und offen; sie hatte kastanienbraunes Haar, eine weiße Haut mit einigen kleinen Sommersprossen, volle, kräftige Lippen, welche die Sonne jenes unbeschreiblich verführerischen Lächelns verklärte. Das war Deruchette.

Wenn die Dämmerung ihre grauen Nebelschleier über das Meer ausbreitete, wenn die Wogen mit einer Art Erschrecken den kühlen Hauch der Nacht auf ihrem Nacken fühlten, sah man zuweilen eine kolossale Masse ihre unförmigen Umrisse in den düstern Wasserspiegel tauchend, in die Bucht von St. Sampfon einlaufen. Dieses Ungeheuer schnaufte und röchelte wie ein wildes Thier; es dampfte wie ein Vulkan und wie eine ungeheure Wasserschlange wälzte es sich durch den Wogenschaum, einen langen Streif hinter sich lassend und näherte sich der Stadt. Es gab dem Meer mit seinen starken Flossen grimmige Fußtritte und spie Flammen und Rauch aus seinem schwarzen Rachen. Das war Durande.

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Zweites Capitel. Die ewige Geschichte von Utopien.

Ein Dampfschiff war im Jahre 182* in den Gewässern des Canals noch eine Seltenheit, ein angestauntes Meerwunder. Es war für die normännischen Seeleute eine lange Zeit ein Gegenstand des Schreckens, der Bestürzung. Heute können die Dampfer dort zu Dutzenden auf dem Meere kreuzen, ohne auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Höchstens richten Sachkundige ihr Augenmerk auf den Schornstein, um an der Farbe des Rumpfes zu erkennen, ob die Schiffe ihre Kohlen aus Wales oder aus Newcastle bezogen. Alles Andere ist ihnen gleichgültig. Man beschränkt die Aeußerungen seiner Teilnahme auf ein: »Willkommen!« wenn die Schiffe anlangen, und wünscht ihnen eine »glückliche Reise!« wenn sie sich entfernen.

Im ersten Viertel des gegenwärtigen Jahrhunderts jedoch erregte die Erfindung dieser merkwürdigen Maschine die allgemeinste Verwunderung. Die Bewohner der Inseln des Canals betrachteten den Rauch der Dampfschiffe mit scheelen Blicken. Die Puritaner dieses Archipelagus, welche es der Königin von England übel genommen, daß sie gegen die Vorschrift der Bibel 1 sich bei der Entbindung chloroformiren ließ, tauften das erste Dampfschiff, welches, die Erfindung mit Ruhm krönend, die Wogen des Canals mit scharfem kräftigem Fluge durchschnitt: »das Teufelsboot« ( Devil-Boat). Diese guten Fischer, welche ehemals Katholiken waren, jetzt Calvinisten sind und immer bigott sein werden, sahen ein Dampfschiff für eine schwimmende Hölle an. Einer ihrer Geistlichen ließ sich über diese Frage folgendermaßen vernehmen: Gott hat Feuer und Wasser von einander geschieden. Was Gott geschieden hat, darf der Mensch das vereinigen? 2 Gleicht dieses eiserne feuerspeiende Ungethüm nicht dem Leviathan? Heißt das nicht, das Chaos in die menschliche Ordnung wieder einführen? Es war wohl nicht das erste Mal, daß man den Fortschritt als eine Rückkehr zum Chaos darstellte.

» Phantasterei, grober Irrthum, tolle Ideen, lächerliche Abgeschmacktheit!« Das war der Wahrspruch, den die Akademie der Wissenschaften zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Napoleon I. gab, als er die Dampfschifffahrts-Frage ihrer Begutachtung vorlegte. Man kann es den Fischern von St. Sampson nicht verargen und sie sind gewiß zu entschuldigen, wenn sie sich in der Wissenschaft nur bis zu der Höhe der Pariser Mathematiker erhoben; was aber die Religion betrifft, so darf man von den Bewohnern einer so kleinen Insel wie Guernesey nicht mehr gesunde Vernunft als von denen eines Continents wie Amerika erwarten.

Als im Jahr 1807 in Amerika das erste Dampfschiff »Foulton«, von Levingstone kommandirt, in die See stach – seine Maschine war von Watt aus England hingesandt, und außer der Schiffsmannschaft befanden sich nur ein Franzose Namens André Michaud und noch ein anderer Passagier an Bord – wollte ein Zufall, daß der Tag der Abfahrt der 17. August war. Da nahmen die Methodisten das Wort; und ihre Prediger predigten von allen Kanzeln und verfluchten diese Erfindung, welche sie ein Blendwerk des Teufels nannten. Sie erklärten, daß nicht umsonst der Sieben-zehnte des Monats zu dieser Schifffahrt des Teufels festgesetzt sei; denn sieben sei die Zahl der Köpfe und zehn die der Hörner des Thieres der Apokalypse. In Amerika wurde das Thier der Apokalypse, und in Europa das der Genesis gegen das Dampfschiff aufgeboten. Das war der ganze Unterschied. Die Gelehrten erklärten diese Erfindung für unausführbar, die Geistlichen verwarfen sie als gottlos. Die Wissenschaft verurtheilte, die Religion verdammte sie. Fulton war eine Abart von Lucifer. Die einfachen Küsten- und Landbewohner stießen mit in das allgemeine Horn, weil sie den Kopf über eine Erfindung schüttelten, die einen dicken Querstrich durch das Register ihrer langjährigen Erfahrung machte.

Es gehörte ein Mann wie Lethierry dazu, um in dieser Zeit das Unternehmen zu wagen, einen Dampfer von Guernesey nach St. Malo zu führen. Er allein war im Stande, den Gedanken mit der Freiheit des Denkers aufzufassen und mit der Kühnheit des Seemanns auszuführen. Mit seinem französischen Geiste faßte er die Idee, mit seinem englischen führte er sie aus.

Bei welcher Gelegenheit? Das werden wir sogleich erfahren.

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Drittes Capitel. Rantaine.

Ungefähr vierzig Jahre vor dem Zeitabschnitt, in welchen unsere Erzählung fällt, stand in dem Weichbilde von Paris, nahe bei der Rundmauer, zwischen dem Wolfsgraben und dem Grabmal von Issoire, ein verdächtiges Haus. Es war eine einsam gelegene Spelunke, vielleicht Mördergrube. Hier wohnte mit Weib und Kind ein Biedermann von Bandit, welcher früher Advokatenschreiber gewesen war und jetzt ganz einfach das Handwerk eines Diebes ausübte. Später stand er vor dem Assisenhofe. Diese Familie hieß Rantaine. In der alten Spelunke war nur eine Kommode, worauf zwei gemalte Porzellantassen standen. Jede derselben hatte eine Inschrift. »Aus Freundschaft« lautete die eine, »Aus Achtung« die andere. Das Kind wuchs in einer Kammer mit dem Verbrechen auf. Es erhielt, da beide Eltern aus dem kleineren Bürgerstand waren, eine gewisse Erziehung. Seine bleiche, in Lumpen gehüllte Mutter lehrte es lesen, wenn ihre Mitwirkung bei dem Handwerk ihres Mannes und ihr eigenes Geschäft, die Prostitution, ihr dazu Zeit ließen. Wurden die Eltern durch ihre beiderseitigen Beschäftigungen abgerufen, so blieb das Crucifix in dem aufgeschlagenen Buche an der Stelle, wo man aufgehört hatte, liegen, und das Kind saß träumerisch davor.

Eines Tages waren Vater und Mutter, welche die Polizei bei einem Verbrechen auf frischer That ertappt hatte, unsichtbar geworden.

Das Kind verschwand ebenfalls.

Lethierry begegnete auf einer seiner Reisen einem Abenteurer; er zog ihn aus irgend einer schlimmen Sache, fühlte sich ihm dann durch einen Gegendienst verpflichtet, fand Gefallen an ihm, nahm ihn mit nach Guernesey und machte ihn, nachdem er in ihm einen tüchtigen Küstenfahrer entdeckt, zum Theilnehmer seines Geschäftes. Dieser Abenteurer war der kleine Rantaine, der inzwischen herangewachsen war.

Rantaine hatte, wie Lethierry, einen sehr starken Nacken, einen breiten, sogenannten Lastträger-Rücken und die Lenden des Farnesischen Herkules. Lethierry und Rantaine waren fast von gleicher Gestalt; sie hatten auch denselben Gang. Beide neben einander von hinten gesehen, hätte man für Brüder halten können. Von vorne war es anders. Lethierry hatte ein offenes Gesicht und ein aufrichtiges Gemüth. Rantaine hatte ein verschlossenes Gesicht und ein verstecktes, mißtrauisches Wesen. Er war in der Waffenführung sehr geübt, spielte die Harmonika, putzte ein Licht auf zwanzig Schritt durch einen Pistolenschuß, konnte prächtig boxen, recitirte Verse aus der Henriade und legte Träume aus. Er wußte »die Gräber von St. Denis« von Treneuil auswendig. Nach seiner Aussage war er mit dem Sultan von Calcutta, »welchen die Portugiesen Zamorin nennen« sehr befreundet. Wäre uns ein Blick in sein Gedenkbuch gestattet gewesen, so hätten wir unter anderen auch folgende Notiz gefunden: » In Lyon ist in der Mauerritze einer gewissen Gefängnißzelle in St. Joseph eine Feile verborgen.« Er sprach mit einer bedächtigen Langsamkeit und nannte sich den Sohn eines Ritters vom heiligen Ludwig. Seine Wäsche war ungleich und verschieden gezeichnet. Niemand war im Punkte der Ehre so empfindlich als er; er schlug sich leicht, und wenn er es that, tödtete er den Gegner.

Er hatte im Blick Etwas von einer Theater-Mutter.

Die Kraft, der List als Hülle dienend, das war Rantaine.

Einer seiner famosen Faustschläge, welchen er auf einem Jahrmarkt auf einen »Mohrenkopf« geführt, gewann ihm das Herz Lethierry’s. Man war in Guernesey in völliger Unkenntniß über die Vergangenheit dieses Mannes. Seine Abenteuer waren sehr bunt. Wenn die Schicksale in Charaktermasken auf dem Markt des Lebens erschienen, so hätte das Rantaine’s die Hanswurstjacke tragen müssen.

Er hatte die Welt gesehen und das Leben kennen gelernt. Er war ein Weltumsegler. Seine verschiedenen Berufsarten glichen einer Tonleiter. In Madagascar war er Koch gewesen; in Sumatra Vogelabrichter, in Honolulu General. Auf den Inseln Gallapagos war er religiöser Tagesschriftsteller, in Oomrawuttee Dichter und in Haiti Freimaurer gewesen. In dieser letzteren Eigenschaft hielt er in Grand-Goave eine Leichenrede, von welcher die dortigen Lokalblätter folgendes Fragment aufbewahrt haben: … »So leb‘ denn wohl, schöne Seele! In dem azurfarbigen Himmelsgewölbe, wohin Du jetzt Deinen Flug nehmen wirst, begegnest Du wahrscheinlich dem guten Abbé Leander Crameau von Klein-Goave. Sage ihm, daß es Dir nach einer zehnjährigen ehrenvollen Wirksamkeit gelungen sei, den Bau der Kirche Anse-à-Veau zu vollenden. Lebe wohl jetzt, dahingeschiedener Geist, Muster eines Freimaurers!« Seine Freimaurermaske hinderte ihn, wie man sieht, nicht, die falsche Nase des Katholicismus zu tragen. Die Erstere machte ihm die Männer des Fortschritts, die Letztere die Männer der stabilen Ordnung geneigt. Er gab sich für einen Weißen von reinem unvermischten Blute aus und haßte die Schwarzen. Dennoch hätte er sicherlich Soulouque bewundert. In Bordeaux war er im Jahre 1815 ganz kupfergrün gewesen. Um diese Zeit entstieg der Rauch des Royalismus seiner Stirn in Form einer ungeheuren weißen Feder. Er brachte sein Leben damit hin, plötzlich zu verschwinden, wieder aufzutauchen und wieder zu verschwinden. Er kannte die türkische Sprache; anstatt »guillotinirt« sagte er »neboisirt.« In Tripolis war er bei einem Thaleb Sklave gewesen; hier wurde ihm die türkische Sprache eingeprügelt. Man stellte ihm die Aufgabe, jeden Abend an den Thüren der Moscheen den Gläubigen den Koran vorzulesen. Allem Anschein nach war er ein Renegat.

Er war zu Allem, ja sogar noch zu Schlimmerem fähig. Er konnte zu gleicher Zeit lachen und die Stirn runzeln. » In der Politik schätze ich nur diejenigen, welche fremden Einflüssen unzugänglich sind,« sagte er. Er sagte ferner: »Ich bin für die Aufrechthaltung der Sittlichkeit,« und: »Man muß die Pyramide von Grund auf neu bauen.« Er war eher lustig, als alles Andere, aber die Form seines Mundes strafte seine Worte Lügen. In den Augenwinkeln hatte er ein Faltennetz, in welchem sich alle möglichen dunkeln Gedanken bergen konnten. Das Geheimniß seiner Physiognomie war nur hier zu entziffern. Die »Krähenfüßchen« neben seinen Augenwinkeln glichen eher zwei Geierkrallen. Sein Schädel war oben niedrig und an den Schläfen breit, und sein unförmiges, mit Haarbüscheln bedecktes Ohr schien zu sagen: Sprecht nicht mit dem wilden Thier, das diese Höhle verbirgt.

Eines schönen Morgens war Rantaine aus Guernesey verschwunden.

Der Geschäftstheilnehmer Lethierry’s war »verduftet« und hatte dem »Geschäft« nichts als die leere Kasse zurückgelassen.

In jener Kasse befanden sich außer dem muthmaßlichen Gelde Rantaine’s fünfzigtausend Francs, welche Lethierry gehörten.

Lethierry hatte sich als Küstenfahrer und Schiffszimmermann durch vierzigjährige redliche Arbeit ein Vermögen von hunderttausend Francs zusammengespart. Rantaine stahl ihm die Hälfte davon.

Obgleich halb ruinirt, verlor Lethierry doch nicht den Muth, sondern dachte nur daran, wie er durch neue Anstrengungen das verlorene Gut wieder gewinnen könne. Ein Mann von Herz kann wohl sein Vermögen, aber nie den Muth verlieren. Man sprach damals viel von dem neu erfundenen Dampfboot. Lethierry kam auf den Gedanken, mit der so angefeindeten und verrufenen Maschine Fulton’s einen Versuch zu wagen. Durch die Dampfschifffahrt wollte er den normännischen Archipelagus mit Frankreich verbinden. Er setzte den ganzen Rest seines Vermögens an die Ausführung dieses Planes. Sechs Monate nach der Flucht Rantaine’s sah man aus dem Hafen von St. Sampson ein dampfendes Schiff in See gehen. Die verdutzten Inselbewohner glaubten, es brenne. Es war der erste Dampfer, welcher den Canal befuhr. Dieses Schiff, welches der Haß und die Verachtung der Guerneseyer gleich nach seiner Abfahrt mit dem Spitznamen »Lethierry’s Galiotte« beehrten, kündigte an, daß er regelmäßige Fahrten von Guernesey nach St. Malo unternehmen würde.

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Viertes Capitel. Das Teufelsschiff.

Dies Unternehmen stieß im Anfang, wie man sich denken kann, auf große Schwierigkeiten. Die Besitzer von Segelschiffen, welche, wie der Dampfer Lethierry’s die Reise von der Insel Guernesey nach den französischen Küsten machten, waren sämmtlich außer sich. Sie bezeichneten dies Unternehmen als ein Angriff auf die heilige Schrift, einen Eingriff in ihre Monopol-Rechte und suchten bei der Geistlichkeit Schutz gegen die ihnen angethane, schwere Unbill. Einige Seelenhirten ließen es sich denn auch angelegen sein, dagegen zu donnern und Bannstrahlen zu schleudern. Einer von ihnen, der ehrwürdige Herr Elihu, erklärte das Dampfschiff für eine Freigeisterei und nur die Segelschiffe für orthodox. Man bemerkte ganz deutlich Teufelshörner auf den von Lethierry’s Dampfer eingeführten Ochsen. Die Unternehmung wurde lange Zeit durch solche gehässige Reden und Verfolgungen aller Art erschwert. Nach und nach aber fanden doch einige vernünftige Leute, daß das Hornvieh durch die bedeutend abgekürzte Zeit der Ueberfahrt weniger zu leiden habe und daher frischer und wohlerhaltener an Ort und Stelle eintreffe, weshalb das Fleisch gesunder, kräftiger und wohlschmeckender sei. Auch selbst die Widerspänstigsten und Böswilligsten mußten zuletzt anerkennen, daß die Reise auf einem Dampfschiff weit gefahrloser, sicherer, schneller und wohlfeiler als die auf den Segelbooten, und die Abfahrt- und Heimkehrzeit zuverlässig sei, daß dieser bedeutend schnellere Transport der Frische der Waaren, ganz besonders aber der so beliebten und vortrefflichen Guerneseyer Butter und den Fischen, sehr zu Statten komme. Man mußte sich endlich entschließen, der so geschmähten, so verwünschten und verspotteten Galiotte Lethierry’s folgende Vorzüge nachzurühmen: Größere Sicherheit der Reise, Regelmäßigkeit des Verkehrs, bequemere Art des Transportes, wodurch eine größere Ausdehnung des Handels und eine Vermehrung des Waarenabsatzes erzielt wurde. Es lag also auf der Hand, daß wenn wirklich das Teufelsboot sich den Gesetzen der Bibel gegenüber als Freigeist erweise, dennoch den Inseln des Canals und besonders Guernesey einen wesentlichen Dienst leiste. Einige starke Geister der Insel gingen sogar so weit, dem verrufenen Teufelsboot in allem Ernste das Wort zu reden. Einer dieser starken Geister war der Sieur Landoys. Die Achtung, welche Sieur Landoys, der Gerichtsschreiber, dem Teufelsschiff zollte, war um so anerkennenswerther, weil derselben eine sehr schätzbare Unparteilichkeit zu Grunde lag. Sieur Landoys war nämlich ein persönlicher Gegner Mess Lethierry’s, dem er es nicht vergeben konnte, daß er ein Mess, dagegen er, Landoys, nur ein Sieur war. Obgleich Schreiber im Hafen von St. Pierre, gehörte Letzterer doch zu der Pfarrei von St. Sampson. In jener Pfarrei waren aber nur zwei Männer ohne Vorurtheil, er selber und Mess Lethierry. Aus diesem einfachen Grunde haßten sich Beide. »Was sich gleicht, stößt sich ab,« sagt das Sprüchwort.

Nichtsdestoweniger bewahrte Sieur Landoys so viel Freiheit der Gesinnung, daß er, ungeachtet seines persönlichen Widerwillens gegen den Besitzer desselben, für das Teufelsschiff Partei ergriff. Kaum hatten die Bewohner von Guernesey von dieser erklärten Anhängerschaft Sieur Landoys‘ Notiz genommen, als sich nach und nach und in nicht gar langer Zeit eine förmliche »Partei Teufelsschiff« bildete. Und der sich immer steigernde Erfolg dieser Unternehmung, die immer heller in das Licht tretenden Vorzüge derselben, der dadurch wachsende Wohlstand der Bevölkerung von Guernesey errangen zuletzt, einige wenige Ausnahmen abgerechnet, die allgemeinste Anerkennung. Das Teufelsschiff war für sämmtliche Bewohner der Inseln des Canals ein Gegenstand der Bewunderung geworden.

Heut, nach vierzig Jahren, würde man diese Bewunderung belächeln; denn das Teufelsschiff war im Vergleich zu unseren heutigen eleganten, bequemen Dampfschiffen ein Barbar, ein Urwäldler.

Zwischen unsern heutigen großen transatlantischen Dampfern und dem Feuer- und Räderschiff, mit welchem Denis Papin im Jahre 1707 auf der Fulda einen Versuch machte, ist kaum ein geringerer Unterschied als zwischen dem Dreidecker » Montebello«, der 200 Fuß lang, 50 Fuß breit ist, einen großen Mast von 115 Fuß Höhe und 3000 Tonnen Gehalt hat, 1100 Mann, 10,000 Kugeln und 160 Kartätschladungen trägt, im Gefecht von jedem Bord 3300 Pfund Eisen speit – und dem dänischen Kriegsschiff des zweiten Jahrhunderts, das angefüllt mit Steinen, Bogen und Keulen, in den Sümpfen von Wester-Saruy gefunden wurde und im Rathhaus von Flensburg noch aufbewahrt wird.

Es liegt ein Zeitraum von hundert Jahren – 1707 bis 1807 – zwischen dem Papin’schen und Fulton’schen Schiffe. Lethierry’s Galiotte war ohne Zweifel gegen diese beiden »Versuche« ein Fortschritt zu nennen ohne mehr als ein, den übrigen sich anreihender Versuch zu sein. Doch fiel er meisterhaft aus. Jeder Embryo der Wissenschaft zeigt sich unter diesem zwiefachen Gesichtspunkt: als Fötus ein Ungeheuer, als Keim ein Wunder.

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Fünftes Capitel. Mess Lethierry macht Carriere.

Das Teufelsschiff machte vortreffliche Geschäfte. Mess Lethierry sah schon im Geist den Augenblick herankommen, wo sich sein Titel Mess in Monsieur verwandeln würde. In Guernesey wird man nicht so schnell Monsieur; dort geht alles langsam, stufenweise, der Mensch hat eine ganze Leiter zu erklettern, ehe er Monsieur wird. Die erste Stufe dieser Leiter ist der Vorname, man sagt schlechtweg: Peter, oder Hans u. s. w. Die zweite Stufe macht den Peter zum »Nachbar Peter;« die dritte nennt ihn »Vater Peter;« die vierte »Sieur Peter,« die fünfte »Mess Peter,« die sechste und letzte Stufe giebt ihm den Titel »Monsieur Peter.«

Diese Leiter, welche sich aus dem Fußboden erhebt, reicht bis in die Wolken. Die ganze Hierarchie Englands klettert auf ihr empor. Ihre Sprossen sind folgende: die erste über dem Monsieur ( gentleman) stehende ist: Esquire (Schild-Knappe); die zweite: Sir (Rentier); die dritte: Baronet; die vierte: Lord, Laird in Schottland; die fünfte: Baron; die sechste: Vicomte; die siebente: Graf, ( Earl in England, Jarl in Norwegen); dann folgen der Marquis, der Herzog, der Pair von England, dann der Prinz von Geblüt und endlich der König. Die Staffeln dieser Leiter führen von der untersten Volksschicht bis zum Bürgerstand, vom Bürgerstand bis zur Freiherrnschaft, von der Freiherrnschaft bis zur Pairschaft, von dieser zum Königthum.

Mess Lethierry hatte es ganz allein dem Teufelsboot zu verdanken, daß er »Etwas« geworden war. Aber der Bau seines Schiffes erforderte große Summen; er hatte sowohl in Bremen als in St. Malo Geld aufnehmen müssen. Nach Ablauf jedes Jahres trug er an beiden Orten einen Theil seiner Schulden ab.

Er hatte außerdem, gleichfalls auf Kredit, am Eingang des Hafens von St. Sampson ein schönes steinernes, noch ganz neues Haus gekauft, das zwischen Meer und Garten liegend, eine Ecke bildete. Er hatte diese Ecke mit einer Inschrift versehen: Die Muthigen ( Les Bravées). Dieses Haus, dessen Nordseite einen Theil der Hafenmauer bildete, hatte eine Doppelreihe von Fenstern. Es besaß so zu sagen zwei Fassaden, eine nördliche und eine südliche, eine Meer- und eine Garten-Façade, denn seine Landseite war von einem prachtvollen Blumengarten umgeben. Demnach hatte es eine Sturm- und eine Rosenseite.

Diese verschiedenen Façaden waren für seine beiden Bewohner wie geschaffen, die Meerseite war Mess Lethierry’s Reich, die Rosenseite bewohnte Miß Deruchette.

Das Haus der Muthigen erfreute sich bald eines großen Rufes, denn Mess Lethierry war im Laufe der Zeit ein Mann des Volks geworden. Diese Beliebtheit verdankte er theilweise seiner persönlichen Güte, seiner Aufopferungsfähigkeit und seinem Muth – denn er hatte gar Vielen das Leben gerettet – zum Theil aber auch dem Erfolg seiner Unternehmung und den Vortheilen, welche er dem Orte zuwandte, indem er Abfahrt und Ankunft des Dampfers nach St. Sampson verlegte. Dieser Vorzug wurde dem Hafen von St. Sampson sehr beneidet, weil er mit großem Nutzen verbunden war; es wurden mehrere Versuche gemacht, dem Ort das ihm von Lethierry eingeräumte Vorrecht zu entziehen, besonders wollte St. Pierre, als Hauptort, dasselbe für sich in Anspruch nehmen, allein Mess Lethierry wies alle Anträge zurück. Er hatte einmal für St. Sampson eine Vorliebe: es war sein Geburtsort. »Diese Stadt hat mich in’s Meer geworfen,« sagte er.

Daher schrieb sich seine große Popularität am Orte. Sein Stand als steuernzahlender Eigenthümer machte ihn zum angesehenen Mann. Der arme Matrose Lethierry hatte schon fünf Stufen der Guerneseyer socialen Leiter erklommen und sich allmälig zum Mess emporgearbeitet; nun setzte er den Fuß auf die letzte Stufe: er war nahe daran, Monsieur zu werden. Das Ende dieser Leiter aber war der Anfang einer andren, welche Lethierry’s Blick eine unbegrenzte Aussicht eröffnete. Was konnte nicht noch alles aus ihm werden, wenn er Monsieur war? Vom Monsieur bis zum Esquire war nur ein Schritt. Wer weiß, ob nicht eines Tages sein Name im Guerneseyer Almanach in der Rubrik: » Gentry and Nobility « glänzen, und man neben seinem Namen die drei stolzen Buchstaben: » Esq.« lesen würde? Lethierry, Esq., das klingt!

Lethierry aber hatte keinen Ehrgeiz, oder höchstens nur den, sich nützlich zu machen; darin suchte er sein Glück, seine Freude. Den Menschen nützlich und nothwendig zu sein, schmeichelte ihm mehr als alle Beliebtheit. Es gab, wie wir schon gesagt, nur zwei Gegenstände seiner Neigung, also auch seines Ehrgeizes: Durande und Deruchette.

Wie dem auch sei, er hatte in die See-Lotterie gesetzt und eine Quinterne gewonnen. Die Quinterne hieß: das Fahrzeug Durande.

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Sechstes Capitel. Die heilige Durande.

Lethierry, welcher der Vater seines Schiffes war, ließ es auch taufen. Er nannte es Durande. Wir werden es also von jetzt an nicht mehr Teufels-Schiff, sondern Durande nennen; und bitten, allem Buchdruckerbrauch zum Trotz, diesen Namen nicht mehr gesperrt zu drucken, denn wir müssen darin der Auffassung Lethierry’s Rechnung tragen, für welchen die Durande kein Ding, sondern fast eine Person war.

Durande und Deruchette ist ein und derselbe Name. Deruchette ist das Diminutiv von Durande. Dieses Diminutiv ist in dem Westen von Frankreich sehr gebräuchlich.

Man giebt den Namen der Heiligen dort alle ihre Diminutive und Augmentative. Wenn man die ganze Litanei dieser Diminutive und Augmentative hört, ist man versucht zu glauben, daß dieselbe eine Reihenfolge von verschiedenen Namen sei. Diese Identität der Schutzpatrone und Schutzpatroninnen bei der Verschiedenheit der Namen ist dort nichts Seltenes. Die heilige Elisabeth heißt zum Beispiel: Lise, Lisette, Lisa, Elisa, Isabelle, Lisbeth, Bethsy. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Mahout, Malcon, Malo und Magloire verschiedene Namen eines und desselben Heiligen sind. Die Sache kommt übrigens hier gar nicht in Betracht.

Die heilige Durande wurde in Angoumois und in der Charente verehrt. Ob sie eine richtige Heilige ist, ist eine andere Frage. Die Bollandisten mögen darüber entscheiden. Gewiß ist, daß sie in oben genannten Oertlichkeiten als Heilige verehrt wurde und ihre besonderen Kapellen hatte.

Als Lethierry noch ein junger Matrose in Rochefort war, machte er die Bekanntschaft dieser Heiligen wahrscheinlich in der Gestalt irgend einer liebenswürdigen Tochter der Charente, vielleicht jener Grisette mit den hübschen wohlgepflegten Nägeln. Zur Erinnerung an diese Jugendschwärmerei gab er den Beiden, die ihm das Liebste waren, diesen Namen: dem Fahrzeug Durande, dem Mädchen Deruchette.

Er war der Vater der Einen und der Oheim der Anderen.

Deruchette war nicht allein seine Nichte, sondern auch sein Pathchen: er hatte sie über die Taufe gehalten. Sie war eine Waise, die Tochter seines verstorbenen Bruders; er hatte sie an Kindesstatt angenommen und vertrat Vater- und Mutterstelle bei ihr. Er hatte ihr die heilige Durande zur Patronin gegeben und nannte sie, zum Unterschied von Durande, Deruchette.

Deruchette erblickte, wie schon mitgetheilt wurde, in St. Pierre-Port das Licht der Welt. So lange der Oheim in Dürftigkeit lebte und die Nichte noch in der Kindheit stand, kümmerte sich Niemand um diesen Namen; als der Matrose ein Gentleman und das Mädchen eine Miß geworden war, erregte der Name Deruchette Anstoß. Warum gerade Deruchette? Es ist ein Name wie jeder andere, meinte der Gentleman Lethierry. Es wurden mehrere Versuche gemacht, die Nichte umzutaufen. Eine schöne Dame aus der guten Gesellschaft von St. Sampson, die Frau eines ehemaligen Schmiedes und jetzigen Rentiers, bestand darauf, Deruchette Nancy zu nennen. Mess Lethierry fragte: warum nicht lieber » Lons, der Salzsieder?« Die schöne Frau gab ihr Spiel nicht so leicht verloren. Schon am nächsten Tage schlug sie Mess Lethierry einen andern Namen vor. »Nein, Mess Lethierry, Deruchette ist doch ein zu verwünschter Name,« sagte sie, »wir wollen Eure Nichte lieber Marianne nennen. Verteufelter Name, das! erwiederte der Onkel; er ist aus den Namen zweier häßlicher Thiere: Mari (Ehemann) und âne (Esel) zusammengesetzt. Sie behielt ihren Namen Deruchette.

Man darf aus diesem Ausspruch jedoch nicht auf Lethierry’s Antipathie gegen die Ehe schließen. Nein, er war durchaus dafür, daß Deruchette sich verheirathen solle. Nur ging er in der Wahl eines Eidams äußerst vorsichtig zu Werke. Lethierry wollte seine Nichte mit einem Manne nach seinem Zuschnitt verbinden; es mußte ein Mann sein, der die Arbeit nicht scheute und Deruchette’s hübsche weiße Händchen schonte. Beim Manne liebte er die rauhe, gebräunte Hand, das Frauenhändchen aber konnte nach seiner Meinung nicht zart, nicht weiß genug sein. Um Deruchette’s zierliche Hände zu schonen, hatte er sie zu einer Dame erzogen. Sie hatte eine feine Ausbildung genossen. Er hielt ihr einen Musiklehrer, schenkte ihr ein Fortepiano, eine kleine Bibliothek und ein kleines Arbeitskörbchen. Sie las jedoch mehr als sie nähte, und musicirte mehr als sie las. Mess Lethierry war ganz damit einverstanden, er wollte sie so. Er verlangte von ihr nichts, als daß sie reizend sein sollte. Sie war eher zu einer Blume als zu einer Hausfrau erzogen. Wer das Wesen und den Character des Seemannes studirt hat, wird das begreifen. Das Rauhe liebt das Zarte. Um das Ideal ihres Oheims zu erfüllen, mußte Deruchette reich sein. Dieses Ziel verfolgte Mess Lethierry, und das Mittel zur Erreichung desselben war ihm sein Dampfboot. Er hatte Durande mit der Sorge betraut, den Brautschatz Deruchette’s zu beschaffen.

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Siebentes Capitel. Das Lied Bonny Dundee.

Deruchette bewohnte das schönste Zimmer seines schönen Hauses am Hafen. Es hatte zwei Fenster und war mit den zierlichsten Möbeln von geflammtem Mahagoniholz ausgestattet. Ihr allerliebstes kleines Bett (das Nestchen der Grasmücke) war in das Dunkel grün und weiß karirter Vorhänge gehüllt; es hatte die Aussicht nach dem Garten und dem Hügel, welchen das Schloß du Vallekrönte. Jenseits dieses Hügels lag das Gespensterhaus.

Deruchette hatte in diesem Zimmer ihr Fortepiano und ihre Noten. Sie begleitete sich selbst ihr Lieblingslied »Bonny Dundee,« ein schottisches Volkslied mit einer melancholischen Weise. Aller Zauber der Abenddämmerung lag in diesem Liede, alle Frische des Morgenroths in ihrer Stimme; das gab einen seltsam reizenden Contrast. Man sagte: Miß Deruchette ist am Clavier – und die Vorübergehenden standen still, der frischen Stimme und der wehmüthigen Weise zu lauschen.

Deruchette hatte die Gabe, den Frühling fest zu halten; wo sie war, da war Freude, Sonnenlicht und Blumenduft, da war der Lenz in seiner ganzen Pracht. Sie war schön, doch eigentlich mehr hübsch als schön, mehr niedlich als hübsch zu nennen. »Sie ist so schön und so fein wie eine Prinzessin aus dem Feenreich,« sagten die alten Freunde Lethierry’s. Sie hatte prachtvolles Haar: »Einen Zopf wie ein Ankerthau,« sagte Lethierry.

Seit ihrer frühesten Kindheit war Deruchette bezaubernd gewesen. Man fürchtete etwas für ihre Nase; aber die Kleine hatte es sich in den Kopf gesetzt, hübsch zu werden; die Nase schien sich das gemerkt zu haben, denn sie mäßigte ihren Ehrgeiz, welcher in dem Streben nach Größe bestand, und wurde, wie alle übrigen Formen ihres reizenden Gesichtchens, allerliebst.

Deruchette nannte ihren Oheim niemals anders als »Vater.«

Er erlaubte ihr, sich mit der Blumenzucht zu beschäftigen, ja er gestattete sogar, daß sie sich ein wenig in der Wirtschaft umsah; sie begoß ihre Zitterrosen, ihre purpurfarbenen Königskerzen, ihre Flammenblumen und ihr Benedictenkraut mit eigener Hand und zog rosenfarbiges Habichtskraut und Sauerklee von derselben Farbe. Das Klima, welches in dortiger Gegend der Blumenzucht besonders günstig ist, kam ihr vortrefflich zu Statten; ihre Blumen gediehen wunderbar. Sogar der Versuch, die Aloe in Beete zu verpflanzen, gelang ihr, und was noch schwieriger ist: das silberblättrige Fünffingerkraut wuchs zum Erstaunen. Sie hatte eine glückliche Hand. Auch ihren kleinen Gemüsegarten hielt sie vortrefflich im Stande. Nach den Radieschen kam der Spinat, nach dem Spinat kamen die Erbsen. Sie verstand sich auf die Zucht des holländischen Blumenkohls, und pflanzte das Brüßler Kraut im Juli um; im August gab es Rüben, im September krausen Endiviensalat, schöne runde Pastinakwurzeln im Herbst, und im Winter Rabunzen. Mess Lethierry ließ die kleine Gärtnerin gewähren, so lange sie nicht einen allzu eifrigen Gebrauch von dem Spaten und dem Rechen machte. Für die gröbere Gartenarbeit hatte er ihr zwei Mägde, Grace und Douce beigegeben – zwei Namen, welche in Guernesey eingebürgert sind. Grace und Douce besorgten Haus und Garten; ihnen bewilligte Mess Lethierry das Recht, rothe Hände zu haben.

Mess Lethierry’s Zimmer, ein kleines Kabinet, war dem Besitzer der Durande wegen des freien Blickes, den es über den ganzen Hafen gestattete, besonders werth; es stand mit einem Saal im Erdgeschosse in Verbindung, dessen Thür in der Hausflur neben der Eingangsthür lag, von welcher aus die verschiedenen Treppen in die oberen Räume des Hauses führten. Das Kabinet Mess Lethierry’s war mit seiner Hängematte, seinem Chronometer und seiner Pfeife möblirt; es befanden sich außerdem noch ein Tisch und ein Stuhl darin. Die Balken der Decke waren mit Kalk beworfen, die Wände der Stube ebenfalls; rechts neben der Thür hing die Karte des normännischen Archipelagus. Unten am Rande derselben standen die Worte: W. Faden, 5, Charing Cross. Geographer to His Majesty ; an der linken Seite der Thür hing eines jener großen baumwollenen Taschentücher, worauf die Signale aller Marinen der ganzen Erde sich in bunten Farben befinden. In den vier Ecken prangten die Flaggen von Frankreich, Deutschland, Spanien und die der vereinigten Staaten Amerika’s; in der Mitte die Flagge von England.

Douce und Grace machten ihren Namen keine Unehre. Douce war nicht übel und Grace nicht häßlich. Ihr Charakter und ihr Aeußeres umschifften, um mich bildlich auszudrücken, mit ziemlichem Geschick die gefährlichen Klippen ihrer Namen. Douce, welche nicht verheirathet war, hatte einen »Galant.« Auf den Inseln des Canals ist dieses Wort ebenso gebräuchlich, wie die Sache selbst, die es bezeichnet. Die Dienstleistungen dieser beiden weiblichen Wesen zeichneten sich durch jene creolenartige Langsamkeit aus, welche den Dienstboten des normannischen Archipels eigen ist. Grace war kokett und hübsch; sie schaute unaufhörlich nach dem Horizont, und zwar mit der Unruhe einer Katze. Dies kam daher, weil auch sie, wie Douce, einen Galant, und wie man sagte, außer diesem noch einen Ehemann hatte, welcher Matrose war, und dessen Rückkehr von der Reise sie ein Wenig fürchtete. Indeß das geht uns nichts an. Der Unterschied zwischen Grace und Douce bestand darin, daß in einem weniger strengen und sittenreinen Hause Douce eine Magd geblieben, Grace aber zur Kammerjungfer avancirt wäre. Die Talente, welche gewöhnlich eine solche zieren, und deren Vorhandensein wir bei Grace vermuthen, fanden bei einem so unschuldigen jungen Mädchen wie Deruchette nicht den geeigneten Boden. Im Uebrigen wußten weder Mess Lethierry noch seine Nichte etwas von den Liebschaften ihrer beiden Mägde.

Der an Mess Lethierry’s Kabinet stoßende niedrige Saal im Erdgeschoß, eine Art Halle, mit Kamin, Bänken und Tischen versehen, hatte im vorigen Jahrhundert einem Conventikel von protestantischen französischen Flüchtlingen als geheimer Versammlungsort gedient. Die steinerne Wand war mit einem einzigen Bild, nämlich mit einem Pergament in schwarzem Rahmen geziert, worauf alle Heldenthaten von Bénigens Boussuet, Bischof von Meaux, verzeichnet waren. Einige arme Pfarrkinder dieses Adlers, welche sich von den durch den Widerruf des Edictes von Nantes hervorgerufenen Verfolgungen durch die Flucht nach Guernesey zu schützen suchten, hatten dieses Pergament als Zeugniß ihrer Verehrung an dieser Wand aufgehängt. Wem es gelang, die schwerfällige Handschrift auf dem vergilbten Pergamente zu entziffern, konnte folgende, nur sehr wenig bekannte Notizen lesen: »Am 29. October des Jahres 1685, Demolirung der Kirchen in Morcef und Nanteuil, Resultat eines an den König gerichteten Gesuches des Bischofs von Meaux.« – »Am 2. April des Jahres 1686, Gefangennahme der Herren Cochard, Vater und Sohn, wegen Ausübung ihrer Religionsgebräuche, auf Bitten des Herrn Bischofs von Meaux; wurden nach Abschwörung ihres Glaubens frei gegeben.« – »Am 28. October des Jahres 1699 sandte der Bischof von Meaux dem Herrn von Pontchartrain eine Denkschrift, welche die Notwendigkeit darlegte, die Fräulein von Chalandes und von Neuville, welche protestantisch sind, dem Hause der Neuen-Katholikinnen in Paris zu überweisen.« – »Am 7. Juli des Jahres 1703 wurden auf den, durch den Bischof von Meaux nachgesuchten Befehl des Königs, der Bürger Baudouin und dessen Frau, schlechte Katholiken aus Fublaines, im Hospital eingesperrt.«

Am Ende des Saales, in der Nähe der Thür von Lethierry’s Kabinet, war ein kleiner, mit einem Gitter versehener Bretterverschlag, welcher den Hugenotten bei ihren Zusammenkünften als Kanzel gedient hatte. Jetzt wurde er, mit einem Gitter nebst einer kleinen Thür versehen, als Bureau des Dampfbootes Durande benutzt, dem Mess Lethierry in eigener Person vorstand. Ein großes Contobuch, welches aufgeschlagen auf einem Pult von Eichenholz ruhte, vertrat die Stelle der Bibel.

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Achtes Capitel. Der Mann, welcher Rantaine durchschaut hatte.

So lange er mit der Schifffahrt vertraut war, hatte Lethierry die Durande geführt, ohne je unter einem andern Capitain zu stehen noch irgend eines Lootsen zu bedürfen; allein wie gesagt, es kam eine Stunde, wo er einen Stellvertreter suchen mußte. Seine Wahl fiel auf Sieur Clubin aus Torteval, einen schweigsamen Mann, der in der ganzen Küstengegend im Ruf der strengsten Rechtlichkeit stand. Dieser Mann wurde Lethierry’s alter ego und Stellvertreter.

Sieur Clubin war, obgleich er äußerlich eher einem Advocaten als einem Matrosen glich, doch ein Seemann von seltenen Fähigkeiten. Er besaß alle Talente, welche sein Beruf mit seinen stets wechselnden Gefahren erheischt. Er war ein ebenso geschickter Schiffslader, Mastwächter und Hochbootsmann, als ein kraftvoller Ruderer, erfahrener Lootse und beherzter Capitain. Es fehlte ihm auch keinesweges an Klugheit, die er bisweilen bis zur Waghalsigkeit trieb, was auf der See nicht hoch genug zu veranschlagen ist. Er sah wahrscheinlichen Gefahren mit Vorsorge entgegen, ohne die Möglichkeit des Entrinnens aus dem Auge zu verlieren. Man konnte ihn zu den Seemännern zählen, welche einer bekannten, bedrohlichen Lage trotzen und nie des ruhmvollen Erfolges halber Abenteuer suchen. Er besaß so viel Sicherheit, als das Meer nur irgend einem Menschen lassen kann. Sieur Clubin war überdies ein berühmter Schwimmer. Er gehörte zu den Menschen, die wohlvertraut mit der Wellengymnastik, im Wasser bleiben, so lange man es verlangt, und beim Havre-des-Pas zu Jersey beginnend, La Colette umschwimmen, die Fahrt bis zur Eremitage und dem Elisabeth-Schloß ausdehnen und nach zwei Stunden wieder bei dem Ausgangspunkt anlangen. Seine Heimath war Torteval, und das Gerücht sagte, er habe öfter die gefürchtete Strecke zwischen Hanois und dem Vorgebirge von Painmont durchschwommen.

Was Mess Lethierry am meisten für Clubin einnahm, war die Thatsache, daß dieser Rantaine durchschaut und Lethierry von der Unredlichkeit dieses Menschen in Kenntniß gesetzt hatte. »Rantaine wird Sie bestehlen,« – hatte er ihm gesagt.

Diese Prophezeiung hatte sich bestätigt. Mess Lethierry hatte, freilich in Sachen von geringer Wichtigkeit, mehr als einmal Clubin’s bis zur Peinlichkeit getriebene Rechtlichkeit auf die Probe gestellt und überließ ihm die Führung seiner Angelegenheiten ohne jeden Rückhalt. »Vollkommene Gewissenhaftigkeit verdient volles Vertrauen« – sagte er.

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Neuntes Capitel. Ein Bericht über weite Reisen.

Da Mess Lethierry sich in einem anderen Anzug unbehaglich fühlte, trug er beständig Schifferkleider und zog sogar die Matrosenjacke seiner Lootsentracht vor. Deruchette rümpfte darüber ihr kleines Näschen. Nichts ist so allerliebst, als anmuthige Züge, von Zorn belebt. – »Pfui, lieber Vater, Du riechst nach Theer!« rief sie und gab ihm einen leichten Schlag auf seine plumpe Schulter.

Der brave alte Seeheld lieferte die überraschendsten Erzählungen von seinen Reisen. Er hatte auf Madagaskar Vogelfedern gesehen, die so groß waren, daß man mit dreien derselben das Dach eines ganzen Hauses decken konnte, und in Indien fand er Sauerampferblätter von neun Fuß Länge. In Neuholland sah er einmal Heerden von Truthähnen und Gänsen, denen ein Vogel, Namens Agami, anstatt des sonst üblichen Hirtenhundes diente. Er war auf Elephantenkirchhöfen gewesen. In Afrika hatte er die Gorilla’s, eine Art Tigermenschen von sieben Fuß Größe, gesehen. Er kannte die Sitten und Gebräuche sämmtlicher Affen vom wilden Macaco, welchen er den Bravo nannte, bis auf den Brüllaffen, dem er den Beinamen des bärtigen Macaco gab. In Chili hatte er beobachtet, wie ein Affenweibchen die Jäger durch Entgegenhalten ihres Jungen rührte. In Californien fand er einen umgestürzten Baum, in dessen hohlem Stamm ein Reiter sammt dem Pferde hundertfünfzig Schritte weit vordringen konnte. In Marokko sah er, wie die Baskiren und Mozabiten einander mit Eisenstangen bekämpften; letztere, weil sie sich nicht als »Kelb,« das heißt Hunde, behandelt wissen wollten, und die Baskiren, weil sie empört waren, den Khamsis, d. h. der fünften Kaste gleichgestellt zu werden. Auf einer Reise in China war er Augenzeuge, wie der Seeräuber Chan-thong-quan-larh-Quoi in kleine Stücke geschnitten wurde, weil er den »Ap« einer Dorfschaft umgebracht hatte, und in Thu-dan-mot erlebte er, daß ein Löwe eine alte Frau entführte und im vollen Trabe mit derselben aus der Stadt rannte. Bei seiner Anwesenheit in Saïgun wohnte er dem Einzug der »großen Schlange« bei, die aus Canton anlangte, um im Tempel Cho-len’s das Fest Quannam’s, der Schutzgöttin der Schiffer zu feiern. In Rio Janeiro hatte er gesehen, wie die brasilianischen Damen Abends kleine blasenartige Kugeln aus Gaze in’s Haar steckten. Diese enthielten jede eine Phosphorfliege und glichen einem Haarschmuck von Sternen. In Uruguay bekämpfte er Ameisenlöwen und in Paraguay Vogelspinnen, die zottiges Fell und die Größe eines Kinderkopfes hatten. Sie bedecken mit ihren Tatzen einen Raum, der eine Drittel-Elle im Durchmesser beträgt, und ihre Haare dringen dem Menschen, der sie angreift, wie Pfeile in die Haut und erzeugen darin Geschwüre. Am Flusse Arinos, einem Arm des Tocantins, in den nördlichen Urwäldern von Diamantina, hatte er mit eigenen Augen das furchtbare Fledermausvolk, die Mureilagos gesehen, Menschen, die mit weißen Haaren und rothen Augen zur Welt kommen, in düstern Wäldern hausen, am Tage schlafen und im Stockfinstern jagen und fischen, weil sie bei Mondschein fast nichts erkennen können. Als er einst eine Expedition in der Gegend von Beiruth mitmachte, wurde aus einem Zelt des Feldlagers ein Regenmesser gestohlen, worauf ein Hexenmeister, dessen Anzug aus zwei oder drei bandartigen Lederstreifen bestand – worin er einem Manne glich, der nur In Hosenträger gekleidet ist – ein so rasendes Geklapper mit Schellen hervorbrachte, die an der Spitze eines Horns befestigt waren, daß eine Hyäne den Regenmesser wieder an Ort und Stelle brachte. Sie war die Diebin gewesen. Diese glaubwürdigen Geschichten klangen so sehr wie Märchen, daß sie Deruchette ein ausnehmendes Vergnügen machten.

Die Figur am Bugspriet der Durande war das Band zwischen dem Fahrzeug und dem Mädchen. Man nennt auf den normannischen Inseln diese als Zierrath des Schiffsvordertheils außerhalb desselben angebrachte grobgeschnitzte hölzerne Figur »Puppe.« Daher schreibt sich die in jener Gegend gebräuchliche Redensart: » être entre poupe et poupée« 3

Die Puppe der Durande war Mess Lethierry besonders theuer. Er hatte dem Zimmermann befohlen, sie Deruchette möglichst ähnlich zu formen. Sie schien mit der Axt ausgehauen zu sein; es war ein Klotz, der sich bemühte, einem hübschen Mädchen zu gleichen.

Mess Lethierry hatte hinsichtlich dieses ziemlich unförmlichen Blocks seine Illusionen. Er betrachtete ihn mit der Andacht eines Gläubigen, und sah in dieser Figur wirklich Deruchette. Sie glich ihr wie das Dogma der Wahrheit, wie das Götzenbild der Gottheit.

Lethierry hatte zweimal wöchentlich – am Dienstag und Freitag – eine große Freude: am ersten Tag sah er die Durande abfahren und am zweiten sah er sie heimkehren. Er stützte dann den Arm auf sein Fenstersims, betrachtete sein Werk und war glücklich. Er empfand etwas von der göttlichen Genugthuung des Schöpfers. Die Bibel sagt: »Und er sahe, daß es gut war.«

Am Freitag war sein Erscheinen am Fenster so gut wie ein Signal. Wenn er seine Pfeife anzündete, sagte man: »Ah, das Dampfschiff zeigt sich am Horizont!« Ein Rauch verkündigte den andern.

Wenn die Durande in den Hafen gelaufen war, befestigte man ihr Ankertau an einem eisernen Ring, der in das Fundament des Hauses eingemauert war. Während der Nächte bis zum nächsten Dienstag schlief Lethierry wunderbar fest in seiner Hängematte: er wußte, daß neben ihm im Hause Deruchette im Schlummer ruhte, während auf der andern Seite Durande angekettet lag. Ihr Ankerplatz befand sich in der Nähe der Hafenglocke. Vor der Thür des Hauses war nämlich ein kleiner Ausladeplatz.

Dieser Hafendamm, das Haus, der Garten, die von Hecken eingefaßten Gäßchen und selbst die meisten der benachbarten Gebäude sind jetzt nicht mehr vorhanden. Das ganze Terrain wurde angekauft, um den Granit von Guernesey auszubeuten. Gegenwärtig sieht man dort nichts als die Arbeitshöfe der Steinhauer.

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Zehntes Capitel. Ein Blick auf die in Aussicht stehenden Freier.

Deruchette wuchs heran, allein sie verheirathete sich nicht.

Mess Lethierry hatte sie zur feinen Dame erzogen; die feine Dame machte Ansprüche an den künftigen Gatten. Eine solche Erziehung kann ihre bedenklichen Folgen haben. Allein nahm die Nichte es in diesem Punkte schon genau, so war der Oheim noch viel wählerischer. Er wollte nicht allein für seine Nichte, sondern auch für seine Tochter einen Gatten haben. Nicht allein Deruchette, auch Durande sollte sich vermählen; er wollte für seine beiden Lieblinge einen und denselben Mann; der Führer der Einen sollte zugleich der Leiter der Anderen sein. Ein tüchtiger Schiffscapitain war für ihn das Ideal eines Ehemannes. Wer im Stande ist, ein Schiff zu lenken – so meinte Mess Lethierry – wird ohne allen Zweifel auch eine Frau gut zu leiten wissen. Sieur Clubin, welcher nur fünfzehn Jahre jünger war als Mess Lethierry, konnte nur der vorläufige Führer der Durande sein. Der Erbe seiner Schöpfung mußte ein junger kräftiger Lootse, ein eben so kluger als tüchtiger und derber Seemann sein. Der Gatte seiner lieblichen Deruchette sollte also auch der Herr und Leiter seiner theuren Durande werden. Warum sollten diese beiden Schwiegersöhne nicht in einen einzigen verschmolzen werden? Dies war seine Lieblings-Idee geworden. Er hatte sich, so gut wie seine Nichte, ein Bild von dem Zukünftigen entworfen. Ein sonnenverbrannter, brauner Mastkorbwächter, ein Seeathlet, das war sein Ideal.

Nicht ganz so dachte Deruchette; sie hatte rosigere Träume.

Wie dem auch sei, es schien, als hätten Oheim und Nichte einander das Wort gegeben, sich in dem Zukünftigen nicht zu übereilen. Als Deruchette eine reiche Erbin geworden war, hatte sie Anträge in großer Menge. Freilich sind dergleichen Vorschläge nicht immer die annehmbarsten. Das wußte auch Mess Lethierry sehr wohl; er ließ deshalb einen Freier nach dem andern ziehen, indem er zwischen den Zähnen murmelte: »Goldene Braut, kupferne Freier.« Mess Lethierry wartete. Deruchette desgleichen.

Mess Lethierry war – für einen Engländer eine kaum glaubliche Eigenschaft – kein großer Verehrer der Aristokratie; er wies den Antrag eines Gonduel von Jersey und eines Buguet-Nicolin von Serk zurück. Man ging sogar so weit, auf das Allerbestimmteste zu erklären – doch können wir nicht unterlassen, an der Glaubwürdigkeit dieser Versicherung zu zweifeln – daß Mess Lethierry den Antrag eines Aristokraten von Aurigny, ja sogar den eines Gliedes der Familie Edu, welche ohne alle Frage von »Eduard der Bekenner« abstammt, abgelehnt habe.

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Eilftes Capitel. Mess Lethierry’s Antipathie.

Mess Lethierry hatte einen großen Fehler. Er haßte, nicht eine Person, sondern eine Sache: den Priester. Als er eines Tages las – denn Mess Lethierry las zuweilen – es war in einem Buch von Voltaire – und ihm die Worte aufstießen: »Die Priester sind Katzen,« da legte er das Buch bei Seite und man hörte ihn zwischen den Zähnen murmeln: »Katzen? – hm – dann bin ich ein Hund.«

Man muß an die vielfachen Verfolgungen denken, die Mess Lethierry von den Priestern der verschiedenen Confessionen, den Lutheranern, Calvinisten und Katholiken in Folge der Schöpfung seines Teufelsschiffes zu erdulden hatte. Der revolutionäre Fortschritts-Versuch in der Schifffahrt des normännischen Archipelagus, der kleinen Insel Guernesey die Wohlthat und die Ehre einer neuen bewunderungswürdigen Erfindung angedeihen zu lassen, war, wir verhehlen es nicht, eine verdammungswürdige Frechheit. Es ist hier, wir bitten es zu bemerken, nicht von der jetzigen Geistlichkeit die Rede, welche fast in allen Kirchen dem liberalen Fortschritt huldigt. Jede Gelegenheit, durch donnernde Kanzelreden der großartigen Unternehmung Mess Lethierry’s Hindernisse in den Weg zu legen, ward von der Geistlichkeit jener Zeit mit Eifer ergriffen. Verabscheut von dem Clerus, verabscheute Mess Lethierry ihn wiederum; der Haß der Geistlichkeit diente dem seinigen als Milderungsgrund.

Gestehen wir es nur, dieser Haß war bei ihm eine Gemüthseigenthümlichkeit, die nicht erst des Priesterhasses zu ihrer Anregung bedurfte. Er war, wie er sagte, jenen Katzen gegenüber der Hund. Er war ihr Gegner aus Ueberzeugung und, was noch viel zwingender ist, aus Instinct. Er fühlte die verborgenen Krallen dieser Katzen, und er zeigte ihnen die Zähne. Oft geschah es, wir müssen es gestehen, zur Unzeit und am unrichtigen Ort. Alles unterschiedslos in einen Topf zu werfen, ist ein Unrecht. Es giebt keinen gesunden Haß in Bausch und Bogen. Er war ein Philosoph, einigermaßen auf Kosten der Vernunft. Es giebt eine Unduldsamkeit der Duldsamen, ebenso wie eine Heftigkeit der Besonnenen. Mess Lethierry’s angeborene Gutmüthigkeit ließ jedoch einen eigentlichen Haß nicht aufkommen. Er war niemals Angreifer; er begnügte sich damit, Angriffe zu pariren. Er hielt sich die Priester vom Leibe. Sie hatten ihm Böses zugefügt; er vergalt nicht Böses mit Bösem, sondern hatte nur einfach kein Wohlwollen für sie. Der ganze Unterschied zwischen dem Haß der Priester und seinem eigenen bestand darin, daß jener voll leidenschaftlicher Erbitterung, der seinige dagegen nichts als Widerwille war.

So klein die Insel Guernesey ist, sie hatte dennoch Platz genug für zwei Confessionen. Die Katholiken wie die Protestanten besaßen ihr besonderes Gotteshaus. In Deutschland, in Heidelberg z. B., macht man weniger Umstände; dort wird eine Kirche in zwei Hälften getheilt; die eine ist für Calvin, die andere für St. Peter bestimmt; Beide sind durch eine Scheidewand von einander getrennt, um die gegenseitigen Faustschläge und Püffe der Bekenner der verschiedenen Confessionen zu verhüten. Die Katholiken haben drei Altäre, die Protestanten desgleichen. Eine einzige Glocke ladet die Bekenner beider Religionen zur Andacht ein. Diese Glocke ruft zu Gott und zu dem Teufel. Jedenfalls eine äußerst praktische Einrichtung, eine kostenersparende Vereinfachung.

Das deutsche Phlegma duldet eine solche Nachbarschaft. In Guernesey jedoch hat jede Religion ihr besonderes Haus. Es giebt dort eine rechtgläubige und eine ketzerische Pfarrei. Zwischen diesen hatte Mess Lethierry die Wahl. Er wählte keine von Beiden.

Dieser Matrose, dieser Philosoph, dieser Emporkömmling des Arbeiterstandes war im Grunde nicht so einfach, als es den Anschein hatte. Er hatte seine Meinungen und bestand mit Hartnäckigkeit auf denselben. In Bezug auf die Priester war er unerschütterlich. Er hätte selbst einen Montlosier ausstechen können.

Mess Lethierry erlaubte sich zuweilen, in sehr unangemessener Weise über die Religion zu spotten; so nannte er z. B. zur Beichte gehen »sein Gewissen kämmen.« Sein Bischen Schreibekunst – es war nur ein ganz kleines Bischen, gewissermaßen eine bei Wind und Wetter gehaltene Nachlese – bestand aus orthographischen Fehlern. Auch seine Aussprache hatte ihre Fehler. Als nach der Schlacht bei Waterloo der Friede zwischen dem Frankreich Ludwigs XVIII. und dem England Lord Wellingtons geschlossen wurde, sagte Mess Lethierry: »Bourmont hat die Vereinigung der beiden feindlichen Lager verhandelt. Einmal schrieb er statt »Papstthum« – » Papstdumm.« Wir glauben nicht, daß er dies absichtlich gethan.

Seine Feindschaft gegen das Papstthum machte ihm übrigens die Anglikaner nicht zu Freunden. Er war ebenso wenig von den protestantischen Predigern als von den katholischen Pfarrern geliebt. Den gewichtigsten Dogmen gegenüber kam sein Unglaube rückhaltslos zum Ausbruch. Ein Zufall führte ihn in eine Predigt des ehrwürdigen Herrn Jaquemin Herode über die Hölle. Dieser ehrenwerthe Geistliche schilderte mit großer Beredsamkeit von der Kanzel herab die Strafen der ewigen Verdammniß, die Pein des höllischen Feuers, den Zorn und die Rache des höchsten Wesens, dessen unerbittliche Strenge, dessen niemals endenden Zorn. Nach Beendigung dieser glänzenden Rede hörte Jemand Mess Lethierry zu einem der Anwesenden mit gedämpfter Stimme sagen: »Seht, Nachbar, ich habe so meine eigenen Ideen über den lieben Gott; ich bilde mir ein, daß er gut ist.« Den Gährungsstoff dieses Atheismus hatte Mess Lethierry aus Frankreich mitgebracht.

Obgleich Guerneseyer von Geburt, nannte man doch Mess Lethierry wegen seines unreinen Geistes »den Franzosen.« Er selber machte übrigens durchaus kein Hehl aus seinen revolutionären Ansichten; nichts hatte dies wohl klarer bewiesen, als der Bau des sogenannten Teufelsschiffes. »Das Jahr 1789 hat mich gesäugt,« sagte er. Die neunundachtziger Milch ist keine gute Milch.

Uebrigens war Mess Lethierry in seinem Thun und Lassen durchaus nicht immer consequent. In kleinen Ländern ist es auch schwierig, es zu sein. In Frankreich erkauft man die Wohlthat eines ruhigen, friedlichen Lebens dadurch, daß man den Schein bewahrt; in England durch ein anständiges Verhalten. Letzteres macht außer einer wohlgeordneten Cravatte und der Heiligung des Sonntags noch eine Menge anderer kleiner Anstandsregeln zur Pflicht. »Sorgen zu müssen, daß Keiner mit dem Finger auf uns deute,« ist ein schreckliches Gesetz. Mit dem Finger auf Jemand zeigen ist das Diminutiv des Bannfluches. Die kleinen Städte wimmeln von Gevatterinnen und Frau Basen, welche Meisterinnen in jener isolirenden Bosheit sind, die der Bannfluch, durch das umgekehrte Opernglas gesehen, das Anathem im verjüngten Maßstabe ist. Die Muthigsten fürchten die Stachelreden dieser Klatsch-Basen. Man mag sich unerschrocken dem Kartätschenfeuer aussetzen, man mag dem Sturme trotzen, aber man flieht vor Madame Pimbeche.

Selbst Mess Lethierry »goß aus Furcht vor Madame Pimbeche zuweilen Wasser in seinen Wein.«

Er vermied die Geistlichen, doch er schloß ihnen nicht geradezu die Thür. Bei feierlichen Gelegenheiten empfing er den katholischen Herrn Kaplan sowohl wie den lutherischen Herrn Rector mit gebührendem Respect in seinem Hause; ja, er begleitete sogar zuweilen seine Nichte in die Kirche; wir wissen aber schon, daß Deruchette diese nur viermal des Jahres, nämlich an den großen Festen, besuchte.

Sei dem aber wie ihm wolle, diese Inconsequenzen peinigten das philosophisch-freigeistige Gewissen Mess Lethierry’s, und je öfter er durch äußere Rücksichten gezwungen war, sich, wie er es nannte, etwas zu vergeben, um so schroffer ward die Scheidewand, die ihn von den Dienern der Kirche trennte; er rächte sich für diese gezwungenen Inconsequenzen durch Spott und Lästerung. Sein von Natur so harmloses Wesen war in diesem einen Punkt voll Bitterkeit. Alle Versuche, ihn zu bessern, blieben erfolglos.

Mess Lethierry war und blieb ein Feind der Pfaffen; er war als Pfaffenfeind geboren.

Seine revolutionäre Geringschätzung erstreckte sich auf die ganze Geistlichkeit. Worin eigentlich der Unterschied der verschiedenen Confessionen lag, wußte er kaum, und der große Fortschritt, nicht an die wirkliche Gegenwart des Herrn im Abendmahl zu glauben, fand deshalb bei Mess Lethierry keine besondere Anerkennung. Seine Blindheit und Unwissenheit in diesen Dingen ging so weit, daß er die Würde eines Abts nicht von der eines Pfarrers zu unterscheiden wußte. Ein »ehrwürdiger Doctor« war in seinen Augen dasselbe, was ein »ehrwürdiger Vater« war. Er sagte: » Wesley ist nicht besser als Loyola.« Wenn er einem Pastor mit seiner Frau am Arme begegnete, wandte er sich ab und sagte: Pfui! ein verheiratheter Priester! Er erzählte, daß er auf seiner letzten Reise nach England die » Frau Bischöfin von London« gesehen habe. Die Empörung, welche dergleichen Ehebündnisse in ihm erzeugten, grenzte an Zorn. – »Ein Weiberrock darf keinen Weiberrock ehelichen,« sagte er. In seinen Augen waren die Priester ein Geschlecht für sich. Seine Rede war: »Weder Frau, noch Mann, ein Priester.« –

» Heirathe wen Du willst, nur keinen Pfaffen!« sagte er zu Deruchette.

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Zwölftes Capitel. Sorglosigkeit ist unzertrennlich von Anmuth.

Hatte Mess Lethierry ein Mal etwas gesagt, so war es gesagt, und er vergaß es nie. Deruchette ließ auch gar manches kleine Wörtchen fallen, doch sobald sie es ausgesprochen, war es auch vergessen. Darin unterschieden sich Oheim und Nichte.

Deruchette war durch ihre feine Erziehung ein wenig verhätschelt; sie war, so zu sagen, Selbstherrscherin in ihrem kleinen Reiche. Die Bedeutung des Wortes Verantwortlichkeit kannte sie nicht. Eine Erziehung, welche ihr Augenmerk mehr auf die heiteren, gefälligen und angenehmen, als auf die ernsten Seiten des Lebens richtet, ist gefährlich. Vielleicht ist es eine Unklugheit, sein Kind zu schnell glücklich machen zu wollen.

Deruchette glaubte, wenn sie nur zufrieden wäre, sei Alles gut; gab es doch für Mess Lethierry kein größeres Glück, als sein Goldtöchterchen heiter und froh zu sehen. Das Glaubensbekenntniß ihres Oheims war auch das ihrige; sie begnügte sich damit, vier Mal im Jahre, und zwar an den Hauptfeiertagen, das Gotteshaus zu besuchen. Man sah sie zum ersten Mal zu Weihnachten in ihrem Sonntagsstaat zur Kirche gehen. Vom Leben kannte sie noch nichts. Sie besaß alle Eigenschaften, um gelegentlich einmal wahnsinnig zu lieben. Einstweilen lebte sie in sorgloser Heiterkeit.

Wie eine Lerche trillerte Deruchette ihr heiteres Lied, sie kam, ging, plauderte, scherzte, zerpflückte Gänseblümchen und haschte nach großen Schmetterlingen mit sammtenen Flügeln, umflatterte selber wie ein Schmetterling ihre Blumen; kurz, sie lebte lustig in den Tag hinein. Dazu denke man sich noch die Freiheit englischer Sitte. In England ist ein junges Mädchen die freieste Person der Welt; sie ist ihre eigene Herrin, darf mit ihrer Freiheit schalten und walten wie sie will. Später legt die Pflicht beengende Fesseln um ihren Nacken; wenn sie sich vermählt, wird sie Sklavin. Das Kind, die Jungfrau hat alle Freiheit, die verheirathete Frau besitzt keine.

Deruchette stand jeden Morgen auf, ohne sich von den Handlungen des vergangenen Tages Rechenschaft abzulegen; es hätte sie in die allergrößeste Verlegenheit versetzt, wenn Jemand sie gefragt hätte, was sie in der vergangenen Woche gethan habe. Dessenungeachtet hatte Deruchette Stunden, in welchen eine geheimnißvolle Schwermuth sie erfaßte. Der klarste Himmel kann sich plötzlich umwölken. Doch wenn die Wolken vorübergezogen, dann wird der Himmel wieder heiter, blau und strahlend. Deruchette lachte über ihre Schwermuth, die sie nicht verstand. Sie lachte über ihre Heiterkeit, deren Grund sie ebenso wenig kannte.

Deruchette spielte mit Allem. Sie hatte stets irgend eine Schelmerei in Vorrath. Die jungen Burschen peinigte sie mit Spöttereien und Bosheiten. Ich glaube, sie hätte sogar dem Teufel irgend einen Schabernack gespielt. Sie war hübsch, aber ihre Unschuld machte ihre Schönheit gefährlich. Sie war zu einem Lächeln ebenso schneit bereit, wie ein junges Kätzchen zu einem Pfotenschlag. Um so schlimmer für den Gekratzten! Deruchette lächelte; wehe dem, der dieses Lächeln nicht vergessen konnte, denn – Deruchette vergaß, daß sie gelächelt halte; sie lebte nur in der Gegenwart, das Gestern kannte sie nicht mehr. So geht es denen, die zu glücklich sind. Bei Deruchette schwand die Erinnerung an Vergangenes, wie der Schnee schmilzt.

  1. I. Buch Mosis Capitel III. Vers 16.: Du sollst mit Schmerzen gebären.
  2. I. Buch Mosis Cap. I. Vers 4.
  3. poupe – Hintertheil des Schiffes.

Viertes Buch. Gilliatt’s Flöte.


Erstes Capitel. Morgenröthe oder Feuersgluth?

Gilliatt hatte niemals mit Deruchette gesprochen; er hatte sie, wie den Morgenstern, nur immer von fern gesehen.

Als sie ihm auf dem Wege von St Pierre-Port nach Valle begegnete, und zu seiner Ueberraschung seinen Namen in den Schnee schrieb, war Deruchette sechszehn Jahre alt. Den Tag zuvor hatte Mess Lethierry zu ihr gesagt: »Mit den Kindereien hat es jetzt ein Ende, Deruchette. Du bist ein großes Mädchen.«

Der Name Gilliatt, von diesem Kind in den Schnee geschrieben, war für den Träger desselben verhängnißvoll geworden.

Bis jetzt hatte Gilliatt noch mit keinem weiblichen Wesen verkehrt. Wenn er eine Frau oder ein Mädchen sah, lief er davon; er war niemals der »Galant« irgend einer Bäuerin gewesen, nur im alleräußersten Fall sprach er mit einer Frau; sogar vor einer Alten nahm er Reißaus; er fürchtete sich vor dem schönen Geschlecht.

Einmal in seinem Leben hatte er eine Pariserin gesehen. Sie hatte auf der Reise Guernesey berührt; ein zu jener Zeit seltenes Ereigniß. Gilliatt hörte diese Pariserin in folgender Weise das ihr zugestoßene Mißgeschick erzählen: »Ich bin sehr ärgerlich, mein Hut ist naß geworden! Er ist aprikosengelb, und diese Farbe ist die empfindlichste von der Welt.«

Später fand Gilliatt in einem Buche ein altes Modekupfer. Zum Andenken an diese Pariserin klebte er das Bild an die Wand. An Sommerabenden versteckte er sich zuweilen hinter den Felsen der Bucht Houmet-Paradis und sah den Bäuerinnen zu, wie sie, in ihre lange Hemden gehüllt, in der See badeten. Eines Tages hatte er gesehen, wie die Hexe von Torteval hinter einer Hecke ihr Strumpfband befestigte. Er war noch ganz jungfräulich.

Den Weihnachtsmorgen, an welchem Deruchette ihm begegnet war und lachend seinen Namen in den Schnee geschrieben hatte, kam er wieder nach Hause, ohne sich besinnen zu können, warum er eigentlich ausgegangen war. Der Abend kam; er legte sich zu Bett, allein er konnte nicht schlafen, weil er an tausend Dinge dachte: – erstens hielt er es an der Zeit, die schwarzen Rettige im Garten zu pflanzen; – dann wunderte er sich, daß ihm heute das Schiff von Serk nicht begegnet war; sollte ihm wohl ein Unglück zugestoßen sein? – daß er blühenden Hauswurz gesehen, war ein Wunder in dieser Jahreszeit. – Er wußte niemals genau, in welchem Verhältniß er eigentlich zu der verstorbenen alten Frau, seiner früheren Hausgenossin, gestanden; er meinte, sie müsse wohl jedenfalls seine Mutter gewesen sein, und gedachte ihrer mit doppelter Zärtlichkeit. Dann erinnerte er sich des Brautschatzes, der in dem ledernen Koffer verschlossen war. Und von dem ledernen Koffer mit dem Brautschatz schweiften seine Gedanken zu dem ehrwürdigen Herrn Jaquemin Herode; er vermuthete, daß dieser würdige Mann wohl eines Tages Dechant von St. Pierre-Port werden könne, wodurch das Rectorat von St. Sampson vakant würde. Er dachte, daß der Tag nach Weihnachten der siebenundzwanzigste nach dem Neumond wäre, und daß in Folge dessen die Fluth um drei Uhr 21 Minuten, die Halbebbe um sieben Uhr 15, die Ebbe um neun Uhr 33 Minuten und die Halbfluth um zwölf Uhr 39 Minuten eintreten würde. Er erinnerte sich mit allen Einzelheiten an die Tracht des Hochländers, der ihm die Flöte verkauft hatte. Die seltsame Tracht stand ihm stets vor Augen, die Gestalt verfolgte ihn wie ein Gespenst. Er begann zu phantasiren; dann entschlummerte er. Er erwachte erst am hellen Tage, und sein erster Gedanke war Deruchette.

In der nächsten Nacht sah er im Traume immer wieder nur den schottischen Soldaten. Dann träumte er auch von dem alten Rector Jaquemin Herode. Als er erwachte, dachte er wieder an Deruchette, und gerieth in heftigen Zorn gegen sie. Er bedauerte, daß er nicht mehr ein kleiner Knabe wäre, weil er ihr dann sicher die Fenster eingeworfen hätte.

Dann aber dachte er wieder, wenn er ein kleiner Knabe wäre, so lebte seine Mutter noch, und er begann wie ein Kind zu weinen.

Er nahm sich vor, drei Monate nach Chousey oder nach den Minquiers zu reisen; allein er reiste nicht.

Doch betrat er nie wieder den Weg von St. Pierre-Port nach Valle. Er bildete sich ein, der von Deruchette in den Schnee geschriebene Namen Gilliatt sei für alle Zeiten in die Erde eingegraben, und alle Vorübergehenden müßten ihn lesen.

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Zweites Capitel. Der Eintritt in eine unbekannte Welt.

Betrat aber Gilliatt nicht mehr den Weg von St. Pierre-Port nach Valle, so ging er dafür alle Tage in die Gegend des Hauses von Mess Lethierry. Er hatte dabei durchaus keine Absicht, es traf sich ganz zufällig, daß er immer an jenen Ort kam; und merkwürdiger Weise wählte er auch ohne alle Absicht immer den Weg, der dicht an der Mauer von Deruchette’s Garten vorbeiführte.

Eines Tages sagte eine Bäuerin, die eben aus dem Garten Mess Lethierry’s kam, zu einer anderen Frau: »Miß Deruchette ißt gern Spargel.«

Am nächsten Tage legte Gilliatt auf seinem kleinen Grundstück mit vieler Mühe ein schönes Spargelbeet an.

Die Mauer des Gartens an den Bravées war sehr niedrig; man konnte mit der größesten Bequemlichkeit hinübersteigen. Dieser Gedanke erschreckte Gilliatt. Er hätte es nimmer gewagt, hinüberzusteigen. Aber das konnte doch keinem Vorübergehenden verwehrt sein, die Stimmen derer, die im Garten oder in den Zimmern sprachen, zu hören. Er horchte nicht, aber er hörte.

Ein Mal hörte er, wie die beiden Mägde, Grace und Douce mit einander zankten. Dieser Zank berührte Gilliatt’s Ohr wie die lieblichste Musik.

Ein anderes Mal hörte er eine Stimme, die ganz anders, ach! viel, viel schöner als alle übrigen klang; das mußte Deruchette’s Stimme sein! Er ergriff die Flucht.

Aber die Worte, die jene Stimme gesprochen, blieben seinem Gedächtniß für immer eingeprägt; in jedem Augenblick wiederholte er sie sich. Die Stimme hatte gesagt: »Würden Sie mir wohl die Ginster ablassen?«

Nach und nach wurde Gilliatt kühner; ungesehen von Deruchette, wagte er stundenlang nach ihrem Fenster empor zu schauen. Einmal hörte er sie ihr Lieblingslied Bonny Dundee singen; freilich wurde er sehr blaß, allein er war so muthig, zu bleiben, bis das Lied zu Ende war.

Der Frühling kam. Um diese Zeit hatte Gilliatt eine Vision; er sah den Himmel offen, und erblickte Deruchette, wie sie ihren Lattig begoß.

Bald hatte er sich die Stunden gemerkt, wo sie in den Garten kam; er gewöhnte sich daran, sie kommen und gehen zu sehen; man gewöhnt sich an das Gift. Oft umflatterte sein Blick mit dem Schmetterling um die Wette die Hagebuttenlaube, worin sie mit ihrem Oheim saß und plauderte, und er belauschte dann mit athemloser Spannung ihr Gespräch mit Mess Lethierry. Die Worte kamen ganz deutlich an sein Ohr.

Schon so weit war Gilliatt im Lande des Unbekannten vorgedrungen. Er lauschte! Ja, das Menschenherz ist ein alter Spion!

Noch ein anderes Plätzchen, wo Deruchette sich zuweilen niederließ, kannte Gilliatt.

Auch ihre Lieblingsblumen hatte er sich gemerkt; er wußte, daß sie den Geruch der Winde allen andern Blumendüften vorzog. Nach der Winde erhielt die Nelke, nach der Nelke der Jasmin, nach dem Jasmin das Gaisblatt den Vorzug; dann erst kam die Rose. Die Lilie sah sie gern, doch athmete sie niemals ihren Duft ein.

Nach der Wahl ihrer Lieblingsblumen beurtheilte Gilliatt Deruchette; der besondere Duft jeder einzelnen Blume bedeutete für ihn irgend eine besondere Geistes- oder Körperschönheit der Geliebten.

Nur der Gedanke, mit ihr zu sprechen, trieb ihm das Haar zu Berge.

Eine alte Weberfrau, welche ihr Gewerbe von Zeit zu Zeit in die Nähe der Bravées trieb, hatte Gilliatt schon mehrmals lauschend und spähend an der Gartenmauer angetroffen. Sollte wohl diese alte Frau auf den Gedanken gekommen sein, daß hinter dieser Mauer, an welcher Gilliatt wie angewurzelt stand, ein junges Mädchen sei? Schlug dieser alten Frau denn unter ihren Lumpen ein Herz, welches dem Alter und dem Elend zum Trotz, sich noch in die schöne Blüthenzeit des Lebens, das auch ihr einst lächelte, versetzen konnte? Zauberte ihre Phantasie ihr im Winter die Sonnenwelt des Frühlings vor die Seele? Wir können es nicht sagen. So viel aber ist gewiß, daß sie einmal ganz dicht an Gilliatt vorbeistreifte, ihn mit ihrem alten runzligen Gesicht so freundlich wie ein junges Mädchen anlächelte und ihm zuraunte: »Das macht heiß! Nicht wahr?«

Gilliatt vernahm das Wort; er erschrak und wiederholte mit leisem Murmeln die Frage: Das macht heiß? Was will die Alte damit sagen?

Den ganzen Tag wiederholte er sich dieses Wort und grübelte unaufhörlich seinem Sinne nach; allein vergebens, er verstand es nicht.

Eines Abends badeten fünf bis sechs junge Mädchen, die eigens zu dem Zweck aus L'Ancresse gekommen waren, in der Bucht des Houmet-Paradis. Gilliatt konnte sie ganz deutlich von seinem Zimmer aus sehen. Heftig schlug er das Fenster zu und wendete sich ab. Er bemerkte, daß ein nacktes Weib ihm Schauder einflößte.

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Drittes Capitel. Das Lied Bonny Dundee findet ein Echo auf dem Hügel.

Hinter der Umzäunung des zu den Bravées gehörigen Gartens befand sich ein von Stechpalmen, Moos und Brennnesseln völlig überwachsener Mauerwinkel; eine baumartig in die Höhe geschossene wilde Malve und eine hohe Königskerze sproßten zwischen dem Steingerölle empor. In diesem Schlupfwinkel brachte Gilliatt seinen ganzen Sommer zu. Die Eidechsen hatten sich schon an den stillen friedlichen Träumer gewöhnt, und wärmten sich zutraulich neben ihm auf den von der Sonne durchglühten Steinen. Der Sommer war schön; laue Lüfte kühlten die Hitze der Atmosphäre und spielten mit den Locken Gilliatt’s, über dessen Haupt die Wolkenbilder sich kreuzten. Er saß im Rasen; rund um ihn her war tiefer Friede, eine Ruhe, welche nur der Gesang der Vögel mit fröhlichem Leben unterbrach. Gilliatt hielt sich mit beiden Händen die brennende Stirn und fragte sich: Warum schrieb sie nur meinen Namen in den Schnee? Der Wind wehte heftig vom Meer herüber. Von Zeit zu Zeit hörte man das Signalhorn der Steinsprenger in der Baudue, welches den Vorübergehenden verkündete, daß sogleich eine Mine springen würde, und man sich vorsehen solle. Man konnte den Hafen von St. Sampson nicht sehen; nur die Spitzen der Masten ragten über den Bäumen hervor; es kamen Möwen und setzten sich darauf, schossen wieder hinab und flogen mit dem Winde davon. Gilliatt hatte einmal seine Mutter sagen hören, daß Frauen sich in Männer verliebten, so etwas käme bisweilen vor. Aha! dachte Gilliatt, ich begreife! Deruchette ist in mich verliebt, warum hätte sie sonst meinen Namen in den Schnee geschrieben? Gilliatt wurde tief betrübt. Er sagte sich: Aber auch sie denkt ebenso an mich; das ist wohl sicher. Er dachte daran, daß Deruchette reich, er aber arm sei. Er fand, daß das Dampfboot eine verwünschte Erfindung sei. Er konnte sich nie erinnern, den wie Vielten im Monat man schriebe; so gedankenlos blickte er auf Alles um ihn her.

Eines Abends schloß Deruchette, wie sie es gewöhnlich vor dem Schlafengehen zu thun pflegte, die Fenster. Die Nacht war finster. Plötzlich hörte sie Musik; sie ließ das Fenster geöffnet und lauschte. Es war ihr Lieblingslied Bonny Dundee, das Jemand auf dem gegenüberliegenden Hügel oder am Fuße der Thürme des Schlosses Du Balle auf der Flöte blies; doch bemühte sie sich vergebens, den nächtlichen Flötenspieler zu erkennen.

Seit jener Zeit wiederholte sich von Zeit zu Zeit, besonders in dunkeln Nächten, diese geheimnißvolle Musik.

Deruchette war nicht sonderlich davon erbaut.

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Viertes Capitel. Ein Vormund und ein Oheim, ehrwürdige Orakel, Verdammen Serenaden als nächtlichen Spectakel.

(Vers aus einer alten Comödie.)

Vier Jahre waren seit der Zeit verflossen, wo Gilliatt Deruchette zum ersten Mal gesehen.

Deruchette zählte fast einundzwanzig Jahre und war noch immer unvermählt.

Es hat irgend Jemand einmal irgendwo gesagt: Eine fixe Idee ist ein Bohrer, der mit jedem Jahre um eine Windung tiefer eindringt. Wenn man ihn im ersten Jahr aus dem Kopf herausdrehen will, reißt man die Haare mit; im zweiten Jahre auch die Haut; im dritten zersprengt man den Schädel; im vierten aber reißt man das ganze Hirn heraus.

Gilliatt’s fixe Idee hatte das vierte Jahr erreicht. Er hatte noch kein Wort mit Deruchette gewechselt. Er dachte fortwährend an das reizende Mädchen; das war Alles. Ein Mal, als sie vor der Thür ihres Hauses mit Mess Lethierry sprach, hatte er es gewagt, dicht an ihr vorbei zu gehen. Er glaubte bemerkt zu haben, daß Deruchette lächelte. War dieser Glaube ein Wahn? Wir wissen es nicht, doch sind wir von der Ueberzeugung tief durchdrungen, daß ein Lächeln bei Deruchette eben keine Unmöglichkeit war.

Gilliatt brachte noch immer seine nächtlichen Ständchen, Mess Lethierry war verdrießlich darüber; das nächtliche Flötengedudel unter Deruchette’s Fenster gefiel ihm durchaus nicht. Er konnte die romantische Schwärmerei nicht leiden; denn er war ein praktischer Mann, der, wie in Allem, so auch in der Liebe, den geraden, offenen Weg den Schleichwegen vorzog. Er wollte seine Nichte verheirathen, aber ganz einfach, ohne Roman und ohne Musik. Es dauerte ziemlich lange, bis er aufmerksam wurde; doch als er endlich dem Jäger auf die Spur gekommen war, ruhete er nicht eher, bis er wußte, wer es war. Er legte sich daher in einer jener finstern Nächte, die der Flötenspieler sich vorzugsweise zu seinem Vortrag ausersah, auf die Lauer. Als er Gilliatt erkannte, fuhr er mit den Fingern in seinen Backenbart, wie er zu thun Pflegte, wenn er grimmig war, und brummte vor sich hin: »Was hat das Thier da unten zu flöten?« Er liebt Deruchette, das ist klar. Du opferst deine Zeit unnütz, mein Junge. Wer um Deruchette werben will, der muß sich geraden Wegs an mich wenden, aber nicht Flöte blasen!«

Zu jener Zeit aber geschah etwas, was die Bewohner von St. Sampson und der Umgegend schon lange als bevorstehend erwartet hatten. Dies wichtige Ereigniß war die Ernennung des ehrwürdigen Herrn Jaquemin Herode zum Dechanten von St. Pierre-Port, welche neue Würde der geistliche Herr sogleich nach dem Eintreffen seines Nachfolgers, des neuen Rectors von St. Sampson, antreten sollte.

Dieser sein Nachfolger in dem bisher verwalteten Amte war ein normännischer Gentleman, ein gewisser Herr Joë Ebenezer Caudray, englisch geschrieben Cawdry.

Man wußte von dem zukünftigen Rector so mancherlei Dinge, welche die Wohlwollenden zu seinem Vortheil, die Mißgünstigen zu seinem Nachtheil auslegten. Man wußte, daß er jung und arm war; doch wurde seine Jugend durch große Gelehrsamkeit und seine Armuth durch große Hoffnung für die Zukunft aufgewogen. Er war der Neffe und Erbe des alten wohlhabenden Dechanten von St. Asaph; wenn der Dechant die Augen schloß, war der Neffe ein reicher Mann. Andrerseits gehörte Herr Ebenezer Caudray durch verwandtschaftliche Beziehungen zu hochgestellten Personen fast zu der Klasse der Honoratioren. Was seine Lehre betrifft, so beurtheilte man dieselbe in verschiedener Weise. Er war Anglikaner, allein nach dem Ausspruch des Herrn Bischof Tillotson sehr »freigeistig,« das heißt, sehr streng. Das Pharisäerthum war ihm zuwider; er hielt sich mehr zu dem Presbyterium als zu dem Episcopat. Er träumte noch von der Urkirche, welche Adam das Recht zuerkannte, Eva zu wählen, und wo Frumentanus, Bischof von Hierapolis, ein Mädchen entführte und zu seiner Gattin machte, indem er zu ihren Eltern sagte: » Sie will es und ich will es; Du, Vater, bist fortan nicht mehr ihr Vater, Du, Mutter, nicht mehr ihre Mutter: Ich bin der »Engel« von Hierapolis, und ihr Vater ist Gott.« Wir können es nicht als Wahrheit verbürgen, man behauptete aber damals, daß M. Ebenezer Caudray den Text: Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren, dem von ihm höher geschätzten Text: Das Weib ist Fleisch von des Mannes Fleisch. Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Manne folgen, unterordnete. Uebrigens ist dieses Bestreben, die väterliche Gewalt zu beschränken und unter dem Deckmantel der Religion jede Form der Eheschließung anzuerkennen, dem Protestantismus überhaupt, doch ganz besonders dem in England und in Amerika eigen.

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Fünftes Capitel. Wie sich die öffentliche Meinung über das Unternehmen Lethierry’s vernehmen ließ.

Mess Lethierry hatte seine Schlußrechnung gemacht. Er war zufrieden; seine Schulden in Bremen und St. Malo waren getilgt und außerdem das »Haus der Muthigen« von seiner drückenden Hypothekenlast befreit. Die Durands hatte nicht nur bis jetzt ihre Schuldigkeit gethan, sie war auch zu gleicher Zeit ein produktives Kapital in den Händen ihres Besitzers geworden, das eine glänzende Zukunft in Aussicht stellte. Sie brachte jetzt einen jährlichen Reingewinn von tausend Pfund Sterling, der sich mit jedem Jahr noch vermehrte. Die Durande war also im eigentlichen Sinne des Wortes das Vermögen Mess Lethierry’s, und nicht nur das seinige, sondern auch das des Landes.

Man hatte, um den Transport der Ochsen zu erleichtern, welcher am meisten einbrachte, die beiden kleinen Boote von der Durande entfernt. Das war vielleicht eine Unklugheit; denn es stand ihr jetzt nur noch ein einziges Fahrzeug, die Schaluppe, zu Gebot. Freilich war diese ein ganz vortreffliches Schiff.

Es waren seit dem Zeitpunkte, als sich Rantaine mit der Kasse Mess Lethierry’s entfernt hatte, zehn Jahre verflossen.

Merkwürdig, daß man in ganz Guernesey nicht etwa der Unternehmung selber und ihrer vortrefflichen Leitung, sondern lediglich dem Zufall das erstaunliche Glück zuschrieb, welches die Durande machte. Der sich daraus entwickelnde Wohlstand ihres Besitzers wurde als eine Ausnahme betrachtet. Man bezeichnete das ganze Unternehmen als eine glücklich abgelaufene Narrheit. Es hatte Jemand in Cowes auf der Insel Wight diese Narrheit nachgemacht, doch ohne denselben glücklichen Erfolg zu erzielen. Dieser unglückliche Versuch hatte die Actionäre des Unternehmens ruinirt. Mess Lethierry war der Meinung, der Mißerfolg dieser Spekulation müßte jedenfalls das Resultat einer schlechten Construktion der Maschine sein. Man zuckte die Achseln über diese seine Meinung. Es ist das Schicksal aller Erfindungen, überhaupt alles Neuen, daß es von Anfang an die ganze Welt zum Gegner hat. Die öffentliche Meinung ist bei dem allergeringsten faux pas sogleich mit ihrem Verdammungsurtheil bei der Hand.

Eines der commerciellen Orakel des normannischen Pelagus zu jener Zeit war der Pariser Banquier Jauge. Man erzählt sich, daß, als Jemand seinen Rath und seine Hülfe für die Errichtung einer Dampfschifffahrt in Anspruch nehmen wollte, dieser würdige Mann diesem Jemand den Rücken kehrte, mit den Worten: » Wie könnt Ihr von mir erwarten, daß ich Silber in Dampf verwandle

Die Segelschiffe hingegen fanden ohne die geringsten Schwierigkeiten und überall ihre Commanditen. In Guernesey war die Durande eine Thatsache, aber der Dampf nicht Princip geworden. So tief ist der Haß zwischen der Negation und dem Fortschritt. Man sagte von Lethierry: »Es ist gut, aber zum zweiten Male thut er es nicht.« Sein Beispiel fand daher, ungeachtet des augenscheinlichen Erfolgs der Unternehmung, keine Nachahmer. Niemand hätte es gewagt, eine zweite Durande zu bauen.

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Sechstes Capitel. Wie Schiffbrüchige Einem begegnen können.

Die Aequinoctialstürme kündigen sich im Kanal zeitig an. Die Enge dieses Meeres hemmt und steigert den Wind. Schon im Monat Februar erschüttern die Westwinde die Wogen und machen die Schifffahrt unsicher. Die Küstenbewohner sehen nach dem Nothzeichen und ängstigen sich für die Schiffe, welche unterwegs sind. Das Meer erscheint wie ein Hinterhalt; unsichtbare Kriegstrommeten rufen zum Kampf; mit furchtbaren Athemzügen schnauben und stöhnen die Winde; hinter dem verdüsterten Gewölk bläht das Antlitz des Sturmes die Backen auf.

Ist aber der Sturm auf dem Meere gefährlich, so ist es der Nebel nicht weniger.

Der Nebel war zu allen Zeiten der Schrecken der Seeleute.

In gewissen Nebeln schweben mikroskopische Krystalle von Eis, welchen Mariott den Hof des Mondes, die Nebensonnen und Nebenmonde zuschreibt.

Die stürmischen Nebel reihen sich zu Bildungen an einander, indem verschiedene Dünste, von ungleichem specifischem Gewicht, sich mit den Ausdünstungen des Wassers vermischen, welche sich regelmäßig über einander häufen und so den dichten Nebel in Schichten theilen, wodurch derselbe eine bestimmte sichtbare Gestaltung gewinnt; zu unterst erscheint der Jod, über dem Jod der Schwefel, über diesem das Brom, und über dem Brom der Phosphor. Indem dadurch nach einem gewissen Verhältniß eine elektrische und magnetische Spannung entsteht, erklären sich viele Phänomene; das St. Elme-Feuer von Columbus und Magellan, die durch die Himmelszeichen fliegenden Sterne des Seneca, die beiden Flammen Castor und Pollux, wovon Plutarch spricht, die römische Legion, deren Speere Cäsar brennen zu sehen glaubte, die Spitze des Schlosses Duino in Friaul, welche Funken sprühte, als die Schildwache sie mit der Spitze ihrer Lanze berührte, und vielleicht auch die Lichterscheinungen von unten herauf, welche die Alten die Erdenblitze des Saturn nannten. Am Aequator erscheint ein ungeheurer immerwährender Nebel, wie um den Erdkreis geschlungen; das ist der Cloud-ring, der Wolkenring. Der Cloud-ring kühlt die tropische Gegend eben so ab, wie der Golfstrom die Pole erwärmt. Hier befindet sich die »Pferdebreite«, Horse latitude; die Schiffer des vorigen Jahrhunderts warfen nämlich in dieser Gegend die Pferde in das Meer, in Zeiten des Sturmes, um sich zu erleichtern, in ruhigen Zeiten, um den Wasservorrath zu ersparen. Columbus sagte: »Nube abajo es muerte.« Der niedrige Nebel ist der Tod. Die Etrusker, welche für die Meteorologie dasselbe sind, was die Chaldäer für die Sternkunde, hatten zwei Priesterschaften, eine für das Gewitter, die andere für den Nebel. Die Gewitterdeuter beobachteten die Blitze, die Wasserdeuter den Nebel. Das Collegium der alten Auguren des Tarquinius wurde von den Tyrern, den Pelasgern, den Phöniziern und von allen Mittelmeerschiffern der Urzeit um Rath gefragt. Man sagte damals die Entstehung des Sturmes voraus; diese aber ist auf das Genaueste verbunden mit der Entstehung des Nebels, ja, es ist im Grunde ein und dasselbe Phänomen. Es giebt auf dem Ocean drei Nebelregionen, eine aequatoriale und zwei polare; die Seeleute geben ihnen nur einen Namen: Der schwarze Topf.

Auf allen Seestrecken, und besonders auf der des Kanals, sind die Aequinoctialstürme gefahrdrohend; sie machen urplötzlich Nacht auf dem Meer. Eine Gefahr des Nebels, auch wenn er nicht sehr dicht ist, besteht darin, daß man die Veränderung des Grundes in Folge der Veränderung der Farbe der Oberfläche nicht erkennen kann; dadurch entsteht eine schlimme Verheimlichung der Klippen und Untiefen, welchen man sich nähert, ohne es zu ahnen. Oft gestatten die Stürme dem Schiff auf seinem Wege keine, andere Vorsichtsmaßregel, als die Segel einzuziehen oder Anker zu werfen.

Es werden eben so viel Schiffbrüche durch Nebel wie durch Sturm veranlaßt.

Trotzdem kam nach einem sehr heftigen Nordwind, welcher auf einen jener Nebeltage folgte, das Postschiff Cashmere wohlbehalten aus England an. Es lief im Hafen von St. Pierre ein beim ersten Strahle des Tages, der vom Meer aufstieg, in demselben Moment, wo das Schloß Cornet durch einen Kanonenschuß den Anbruch des Tages verkündigte. Der neue Pfarrer von St. Sampson befand sich unter den Passagieren dieses Schiffes.

Kurz nach der Ankunft des Cashmere verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, daß dieses Boot während der Nacht auf dem Meere von einer Schaluppe angerufen worden sei, auf welcher sich eine schiffbrüchige Mannschaft befunden habe.

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Siebentes Capitel. Der Schläfer im Felsenstuhl.

In dieser Nacht war Gilliatt, als der Wind sich gelegt hatte, fischen gegangen; doch wagte er sich nicht in das Meer hinaus, sondern hielt sich dicht an der Küste.

Zur Zeit der Fluth kehrte er wieder nach Hause zurück; es mochte wohl um die zweite Nachmittagsstunde sein, die Sonne schien hell und strahlend. Als er am Kuhhorn vorüberkam, sah er einen Schatten in der Nische des Gild-Holm-‚Ur. Als er nahe genug herangekommen war, um deutlich erkennen zu können, sah er, daß dieser Schatten ein Mensch war, der auf dem Felsenstuhl saß. Das Meer war schon sehr hoch gestiegen, die Wogen umzingelten das Kuhhorn, die Rückkehr war unmöglich. Gilliatt gab nun dem Mann im Felsenstuhl durch Zeichen zu verstehen, daß Gefahr im Anzüge sei; dieser jedoch beantwortete mit keiner Miene seine Zeichensprache; er schlief.

Dieser Mann trug einen schwarzen Anzug. – Er sieht aus wie ein Priester, dachte Gilliatt. Er kam ihm ganz nahe und sah, daß er ein junger Mann war.

Er kannte ihn nicht.

Das Meer war nun schon so hoch gestiegen, daß er die Füße des Schläfers erreichen konnte, wenn er sich auf den Rand des Schiffes stellte. Er that dieses, indem er zu gleicher Zeit beide Arme in der Richtung des Felsenstuhles ausstreckte. Diese Stellung brachte ihn in die äußerste Gefahr; wäre er in diesem Augenblick in das Meer gestürzt, so hätte er schwerlich je wieder die Oberfläche desselben geschaut, denn er hätte sich unfehlbar in dem engen Raum zwischen dem Kuhhorn und seiner Schaluppe den Kopf an den Felsen zerschmettert. Er ergriff den Schläfer am Fuß.

– Heda, was macht Ihr hier?

Der Jüngling erwachte.

– Ich genieße die schöne Aussicht, sagte er.

Er erhob sich nun und setzte hinzu:

– Ich komme von der Reise, habe die ganze Nacht ans dem Meere kein Auge geschlossen, und wollte mich durch einen Spaziergang am Strande erfrischen; dies Plätzchen hier lockte mich wegen der herrlichen Fernsicht, die es bietet, doch wollten die müden Augen nicht länger offen bleiben. – Ihr traft mich eingeschlafen hier auf diesem Felsenstuhl. –

– In zehn Minuten hätte Euch die Fluth in’s Meer gespült.

– Pah!

– Springt in mein Schiff.

Gilliatt hielt mit dem Fuß die Barke fest, umklammerte mit einer Hand den Felsen und bot die andere dem Fremden dar; dieser erfaßte sie und schwang sich leicht und behend in das Fahrzeug. Es war ein außerordentlich schöner junger Mann. Gilliatt ergriff nun das Ruder und in zehn Minuten war er an seinem Hause angelangt.

Der junge Fremde trug einen runden Hut und eine weiße Kravatte. Sein langer schwarzer Rock war bis an den Hals zugeknöpft. Blondes Haar bedeckte sein Haupt wie eine Krone; er hatte ein fast weibliches Gesicht, ein reines Auge und ernste Züge.

Unterdessen hatte die Barke das Land erreicht; Gilliatt befestigte das Ankertau in dem eisernen Ring; als er sich umdrehte, reichte ihm die schöne weiße Hand des Fremdlings ein Goldstück.

Er schob diese Hand sanft zurück.

Es entstand eine Pause. Der Jüngling nahm zuerst wieder das Wort.

– Ihr habt mir das Leben gerettet, sagte er.

– Kann sein, antwortete Gilliatt.

Die Barke war nun befestigt; sie sprangen Beide an’s Land. Der junge Fremde wiederholte:

– Ich verdanke Euch mein Leben.

– Was thut das?

Dieser Antwort Gilliatt’s folgte abermals eine Pause.

– Seid Ihr aus diesem Kirchspiel? fragte nun der Fremde Gilliatt.

– Nein, war die Antwort.

– Zu welchem Kirchspiel gehört Ihr denn?

Gilliatt erhob die Hand gen Himmel und sagte:

– Zu jenem.

Der junge Mann grüßte und verließ ihn.

Nach einigen Augenblicken kehrte er jedoch zurück, zog ein Buch aus seiner Tasche und reichte es Gilliatt.

– Erlaubt mir wenigstens, Euch dieses anzubieten.

Gilliatt nahm es.

Es war eine Bibel.

Einen Augenblick darauf sah Gilliatt den jungen Mann den Weg nach St. Sampson einschlagen.

Da stand er, gelehnt an die Brustwehr, und sah dem sich Entfernenden so lange nach, als ihn sein Auge verfolgen konnte; dann aber senkte er den Kopf, vergaß seine neue Bekanntschaft, den Felsenstuhl und Alles, was eben jetzt noch seine Seele beschäftigt hatte, denn diese seine Seele hatte nur für ein einziges Bild, das der Geliebten, Raum.

Eine Stimme, die ihn bei seinem Namen rief, weckte ihn aus seinen Träumereien.

– He, Gilliatt!

Er kannte den Klang dieser Stimme.

– Was giebt es, Sieur Landoys?

Es war in der That Sieur Landoys, welcher in einer Entfernung von etwa hundert Schritten in seinem kleinen Phaeton an ihm vorüberfuhr. Er machte einen Augenblick Halt, um Gilliatt anzurufen, schien jedoch große Eile zu haben.

– Wichtige Neuigkeiten, Gilliatt, große Ereignisse. – Es hat sich etwas zugetragen –

– Wo?

– Im Hause der Muthigen.

– Was?

– Ich bin zu weit von Euch entfernt, um Euch Alles erzählen zu können.

Gilliatt erbebte.

– Verheirathet sich Miß Deruchette?

– Nein. Sie muß.

– Was meint Ihr?

– Gehet hin, so werdet Ihr es erfahren.

Sir Landoys trieb sein Pferd an, und wie der Wind sauste der kleine Wagen dahin.

Fünftes Buch. Der Revolver.


Erstes Capitel. Das Wirthshaus am Hafen.

Sieur Clubin war ein Mann, welcher es verstand, seine Zeit abzuwarten, wenn er etwas vorhatte.

Er war klein und gelb und stark wie ein Stier. Vergebens hatte es das Meer versucht, sein wachsgelbes Gesicht zu bräunen; es blieb ein Wachsgesicht, und sogar sein Auge hatte etwas von dem Licht einer Wachskerze. Sein Gedächtniß ließ ihn niemals im Stich, es war von einer ganz merkwürdigen Unfehlbarkeit. Hatte er nur ein einziges Mal einen Menschen gesehen, so hatte er ihn fest im Gedächtniß wie in ein Notizbuch verzeichnet. Der lakonische Blick dieses Mannes packte Jeden gleichsam mit festen Fingern. Sein Augapfel bewahrte jedes Bild, das sich ihm einmal eingeprägt hatte; und mochten auch Jahre darüber hingegangen sein und das Alter die Gesichtszüge verändert haben, Sieur Clubin erkannte in dem gefurchten Gesicht das frühere junge Gesicht wieder. Es war unmöglich, das Gedächtniß dieses Mannes auch nur einen Augenblick zu täuschen. Sieur Clubin war wortkarg, nüchtern und kalt; niemals begleitete er seine Worte auch nur mit der geringsten Bewegung. Seine offene, redliche Miene nahm auf der Stelle für ihn ein. Viele Leute hielten ihn für naiv; er hatte eine gewisse Falte im Augenwinkel, welche ihm ein erstaunlich dummes Ansehen gab. Wir haben schon seine außerordentlichen Fähigkeiten als Seemann geschildert; auch sein Charakter als Mensch und Bürger ließ nichts zu wünschen übrig; er war in jeglicher Beziehung ein Muster. Keiner war so fromm, so heilig, als Sieur Clubin; es gab keinen gewissenhafteren, keinen redlicheren Menschen, als Sieur Clubin. Wem er verdächtig erscheinen konnte, der war sicherlich selbst ein verdächtiges Subject. Er war befreundet mit einem Wechsler, Namens Rebuchet, in St. Malo. Dieser Mann sagte: » Keinem Anderen als Sieur Clubin würde ich mein ganzes Geschäft anvertrauen.« Sieur Clubin war Wittwer. Seine verstorbene Frau stand in dem Rufe eben so großer Gewissenhaftigkeit, als er selber. Sie stand im Ruf einer unerschütterlichen Tugend. Hätte ihr jemals der Amtmann den Hof gemacht, so hätte sie es ganz sicher dem Könige angezeigt; und wäre der liebe Gott in sie verliebt gewesen, so hätte sie es sicher dem Pfarrer gebeichtet. Das Ehepaar Clubin war der personificirte Ausdruck des englischen Wortes » respectabel.« Sie galten in. ganz Torteval für Muster des Anstandes. War Madame Clubin der Schwan, so war Herr Clubin das Hermelin. Er wäre an einem Flecken gestorben. Wenn er eine Stecknadel fand, so ruhete er nicht eher, als bis er ihren Eigenthümer entdeckte. Den Fund eines Packets Streichhölzer hätte er ohne alle Frage veröffentlicht. Eines Tages gab er dem Gastwirth von St. Servau fünfundsechszig Centimes zurück mit den Worten: »Freund‘, Ihr habt Euch, als ich vor drei Jahren hier frühstückte, um fünfundsechszig Centimes verrechnet.«

Das war ein großer Beweis von Ehrlichkeit. Er kniff dabei die Lippen mit einem seltsamen Ausdruck zusammen. Er schien ungehalten. Worüber? Wahrscheinlich über die Gauner.

Jeden Dienstag führte Sieur Clubin die Durande nach St. Malo. Er kam daselbst des Abends an, hielt sich zwei Tage auf, um seine Geschäfte zu besorgen, und kehrte dann Freitag früh mit seinem beladenen Schiff wieder nach Guernesey zurück.

Zu jener Zeit befand sich dicht am Hafen ein kleines Wirthshaus, welches man die Herberge zum Johannes nannte.

Das war das Absteigequartier Sieur Clubin’s, denn es befand sich in diesem Hause zu gleicher Zeit das französische Bureau der Durande.

Die Zollbeamten und Küstenwärter aßen dort zu Mittag. Sie hatten ihren besonderen Tisch. Die Zollbeamten von Binic trafen dort mit ihren Collegen aus St. Malo zusammen.

Es kamen auch häufig Schiffscapitäne dorthin, welche ebenfalls, wie die Zollbeamten, ihren besonderen Tisch hatten.

Sieur Clubin setzte sich bald an diesen, bald an jenen Tisch; er war an beiden gleich gern gesehen, doch zog er in der Regel die Gesellschaft der Zollbeamten und Küstenwärter vor.

Man speiste sehr gut in diesem Hause. Ein gewisser Herr Gertrais-Gaboureau präsidirte an der Tafel der Schiffscapitäne. Dieser Mensch war eigentlich kein Mensch, sondern ein Barometer. Seine langjährigen Erfahrungen zur See hatten aus ihm einen unfehlbaren Wetterpropheten gemacht. Er bestimmte genau das Wetter des nächsten Tages vorher. Er erkannte den Wind durch das Gehör. Er fühlte der Fluth den Puls und sagte zu den Wolken: zeigt mir Eure Zunge, das heißt den Blitz. Er war der Arzt der Wogen, der Brisen, des Sturmes; der Ocean war sein Kranker; er kannte den Zustand der Klimate und die Pathologie der Jahreszeiten aus dem Grunde. Er haßte England eben so sehr, als er den Ocean liebte; er hatte die englische Marine nur studirt, um ihre schwachen Seiten kennen zu lernen. Er beurtheilte die Nationen nach ihren Marinen. England nannte er Trinity House, Schottland Northern commissioners, Irland Ballast board.

Selten war der Gegenstand des Gesprächs an dem Tische der Capitäne und an dem der Zollbeamten und Küstenaufseher derselbe. Dies war jedoch ausnahmsweise in den ersten Tagen des Februar, bis zu welchem Zeitpunkte unsere Geschichte vorgeschritten ist, der Fall. Der Capitän des Dreimasters Tamaulipas, Namens Zuela, welcher aus Chili gekommen war und wieder dorthin zurückkehren wollte, nahm dieses Mal die Aufmerksamkeit sämmtlicher Anwesenden in Anspruch. An der Tafel der Capitäne besprach man seine Schiffsladung, an dem Tische der Zollbeamten und Küstenwärter gaben seine Schliche den Stoff zur Unterhaltung. Der Capitän Zuela aus Copiapo hatte den Unabhängigkeitskrieg mitgemacht, und zwar in der unabhängigsten Weise. Er hielt es bald mit Bolivar, bald mit Morillo, auch wohl mit Beiden zugleich, wie es ihm Vortheil brachte. Er war Allerweltsdiener, und als solcher reich geworden. Er war Bonapartist, Bourbonist, Absolutist, Atheist, Katholik, und huldigte dem Liberalismus. Er war Alles, that Alles, wenn es ihm etwas einbrachte. Er gehörte zu der großen Partei, die man die Fraction »Nimm« nennen könnte. Von Zeit zu Zeit machte Herr Zuela Handelsreisen nach Frankreich, und wenn man dem Gerücht Glauben schenken darf, machte er dadurch, daß er politischen Flüchtlingen und Emigrirten, auch wohl bankerotten Kaufleuten die Hand zur Flucht bot, ganz ausgezeichnet gute Geschäfte; er nahm Alle, Schufte wie Ehrenmänner, in sein Schiff auf, wenn sie nur bezahlten. Die Polizei wußte er dadurch zu täuschen, daß er die verdächtigen Passagiere nicht im Hafen aufnahm, sondern von irgend einer einsamen Stelle am Strande durch eines seiner Boote abholen ließ. Er hatte auf seiner letzten Seereise den in contumaciam verurtheilten Berton entschlüpfen lassen, und dieses Mal wollte er, wie man sich erzählte, mehrere Personen, die sich in der Affaire an der Bidassoa compromittirt hatten, mitnehmen. Die Polizei hatte ein wachsames Auge auf ihn. Es war damals eine wahre Fluchtepoche. Die Restauration war eine Reaction. Die Revolutionen führen Emigrationen, die Restaurationen Verfolgungen herbei. Während der ersten acht Jahre nach der Wiedereinsetzung der Bourbonen beherrschte ein panischer Schrecken die Finanzen, die Industrie und den Handel. Der Letztere stand auf einem Vulkan. Die Bankerotte waren an der Tagesordnung. »Rette sich, wer kann!« – war der Wahlspruch der Politik geworden. Lavalette war geflohen, Lefevre Desnouettes Delon hatte die Flucht ergriffen. Die außerordentlichen Gerichtshöfe wütheten, mehr noch Trestaillon. Man floh die Brücke von Saumur, die Esplanade von La Réole, die Mauer des Observatoriums von Paris, den Thurm von Taurias in Avignon – düstere Schattenbilder, welche die Reaction in das Buch der Geschichte verzeichnet, und welchen noch heute die Spuren jener blutigen Hand anhaftet. In London hatte der sich nach Frankreich verzweigende Prozeß Thistlewood, in Paris der sich nach Belgien, nach der Schweiz und Italien verzweigende Prozeß Trogoff die Ursachen der Besorgniß und der heimlichen Flucht vermehrt und selbst die höchsten Schichten der damaligen Gesellschaft fast bis zur Entvölkerung unterwühlt. Alles zitterte und floh. Sich und sein Hab‘ und Gut in Sicherheit zu bringen, war das Einzige, woran man dachte. Wer verdächtig befunden wurde, war verloren. Man floh nach Texas, man rettete sich nach Peru oder Mexico. Die Männer von der Loire, damals Räuber, heute Nabobs, hatten jene Colonie, das berühmte »Zufluchtsfeld« in Texas gegründet. Béranger sang: Ihr Wilden, wir sind Franzosen, habt Mitleid mit unserem Ruhm! Die einzige Rettung war Auswanderung. Nichts aber ist weniger leicht als die Flucht. Dieses einsylbige Wörtlein bezeichnet einen Abgrund von Elend. Wer flüchtet, hat mit tausend Hindernissen zu kämpfen; sehr vornehme, sogar berühmte Personen mußten Verbrecher-Schleichwege wählen, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Es fehlt aber diesen Armen an der die Verbrecher auszeichnenden Geschicklichkeit; es giebt nichts Linkischeres, als die Rechtlichkeit vor dem Richterstuhl.

Nur für den Unredlichen ist die Flucht leicht und sogar mit Vortheilen verbunden. Es war durchaus nichts Ungewöhnliches, irgend einen vor den Gesetzen Englands oder Frankreichs Flüchtenden in fremdem Lande als Hohenpriester oder als Großmogul wieder auftauchen zu sehen. Es wurde ein bestimmter Industriezweig, den Flüchtlingen für Geld und gute Worte Gelegenheit zur Flucht zu bieten. Wer sich nach England flüchten wollte, wandte sich an die Schmuggler; wer nach Amerika zu flüchten beabsichtigte, wandte sich an Betrüger von so alter Praxis, wie der Capitän Zuela.

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Zweites Capitel. Clubin bemerkt Jemanden.

Zuela speiste zuweilen in dem Wirthshaus am Hafen. Sieur Clubin kannte ihn von Ansehen.

Man konnte Sieur Clubin nicht nachsagen, daß er stolz sei; er verschmähte es nicht, die oberflächliche Bekanntschaft von Banditen und Spitzbuben zu machen; zuweilen hatte er sogar freundschaftliche Beziehungen mit Einem oder dem Anderen dieser gefährlichen Spitzbuben angeknüpft; man bemerkte öfter, wie er ihnen im Vorübergehen die Hand reichte oder einen Gruß zuwinkte. Er sprach englisch mit dem Schmuggler und radebrecht spanisch mit dem »Contrabandist.« Sieur Clubin hatte darüber seine eigenen Grundsätze: Der Zweck heiligt die Mittel. – Auch das Böse kann dem Guten zu Nutz und Frommen gereichen. – Es kommt dem Wildhüter zu Statten, wenn er sich zuweilen mit dem Wilddieb unterhält. – Der Pilot muß den Piraten kennen lernen, denn der Pirat ist eine Klippe. Sieur Clubin sagte ferner: Ich bin der Arzt, der das Gift kostet. Wer kann gegen solche Grundsätze etwas einzuwenden haben? Alle Welt gab dem Sieur Clubin Recht; man hatte durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß Sieur Clubin mit Gesindel verkehrte; man hätte es für eine lächerliche Abgeschmacktheit gehalten, wenn er sich aus Furcht vor übler Nachrede nicht mit diesen Leuten eingelassen hätte. Wer konnte bei einem so ausgezeichneten Ehrenmann, wie Sieur Clubin etwas Arges darin finden? Man war so vollkommen davon überzeugt, daß Alles, was Sieur Clubin zu thun für gut fand, zum Besten der Durande geschah, daß er überall nur den Vortheil seines Capitäns im Auge hatte. Den Ruf Sieur Clubin’s konnte Nichts erschüttern. Der Krystall nimmt keine Flecken an. Seine Sünden waren nur Scheinsünden, und als solche ihm im Voraus vergeben. Man kannte seine Klugheit; man wußte, daß sein vertraulicher Umgang mit den Spitzbuben nur das Resultat dieser Klugheit war; daher dienten derartige Klugheitsrücksichten seiner Ehrlichkeit nur als Relief.

Sieur Clubin stand in dem Ruf der Treuherzigkeit und Offenheit, demungeachtet mußte man ihm eine ganz außerordentliche Geschicklichkeit zuerkennen. Es ist dieser scheinbare Widerspruch eine der Variationen des ehrlichen Mannes, welche ungemein geschätzt werden. Sieur Clubin besaß die so sehr geschätzte Vereinigung dieser beiden Eigenschaften. Wenn man ihn im Gespräch mit einem Spitzbuben überraschte, so hatte dies durchaus nichts Beunruhigendes; man wußte, Sieur Clubin war ein Ehrenmann; wenn er es für gut fand, mit Spitzbuben zu verkehren, so mußte er seine Wohlbegründeten Absichten dabei haben, und es fiel Keinem auch nur im Entferntesten ein, dabei etwas zu finden, oder ihn wohl gar deshalb zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Dreimaster Tamaulipas war zur Abfahrt gerüstet und sollte in acht Tagen in See gehen.

An einem Dienstag Nachmittag kam die Durande noch bei hellem Tageslicht in St. Malo an. Sieur Clubin bewachte, wie gewöhnlich, das Einlaufen in den Hafen des Dampfbootes, denn er hatte als treuer, für den Vortheil seines Herrn bedachter Diener sein Falkenauge überall. Als das Schiff sich dem Hafen näherte, bemerkte er auf dem Strande an einem sehr einsamen Orte zwischen zwei Felsen zwei Männer, welche miteinander sprachen. Er nahm das Fernrohr zur Hand, und erkannte den Einen derselben als den Capitän Zuela; es schien, daß ihm auch der Andere nicht unbekannt war.

Dieser Andere hatte eine robuste Gestalt; sein breiter Hut und sein übriger Anzug gab ihm das Ansehen eines Quäkers; auch hatte er den zu Boden gerichteten Blick dieser Secte.

Als Sieur Clubin in das Wirthshaus am Hafen kam, erfuhr er, daß der Dreimaster Tamaulipas gerüstet und in acht Tagen in See ginge.

Es ergab sich später, daß Sieur Clubin auch noch speciellere Erkundigungen eingezogen hatte.

Bei einbrechender Nacht ging er zu einem Waffenhändler in der Straße St. Vincent und sagte zu ihm:

– Wißt Ihr, was ein Revolver ist?

– Ja, antwortete dieser, es ist eine amerikanische Erfindung.

– Eine Pistole, welche immer von Neuem anfängt zu reden.

– Jawohl, welche stets der Frage die Antwort auf dem Fuße folgen läßt. –

– Und dann die Frage wiederholt.

– Ganz recht. Diese Pistole hat einen Lauf, welcher sich dreht.

– Und worin sich fünf bis sechs Kugeln befinden.

Der Waffenhändler schnalzte mit der Zunge, zum Zeichen seiner Verehrung für diese amerikanische Erfindung, und setzte mit wichtiger Miene hinzu:

– Es ist dieses eine ganz vortreffliche Waffe, Sieur Clubin, eine Erfindung, die ihren Weg machen wird.

– Ich wünschte einen Revolver mit sechs Kugeln zu kaufen.

– Ich habe keine.

– Wie das? Ihr seid ja Waffenhändler.

– Es ist eine funkelnagelneue Erfindung, Sieur Clubin, die so eben erst auftauchte. Man bedient sich in Frankreich noch immer der einfachen Pistole.

– Teufel!

– Ich führe diesen Artikel noch nicht.

– Teufel!

– Doch könnt Ihr bei mir ganz vortreffliche Pistolen kaufen.

– Ich brauche einen Revolver.

– Nun ja – ich begreife – ein Revolver ist schon besser, als eine einfache Pistole – wartet einmal – ich besinne mich – da ist –

– Was?

– In St. Malo –

– Ein Revolver?

– Ja.

– Zu verkaufen?

– Ja.

– Wo?

– Ich glaube es zu wissen – ich werde mich erkundigen –

– Wann kann ich mir die Antwort holen?

– Ihr macht da einen ganz vortrefflichen Kauf – ich kann Euch diesen Revolver empfehlen –

– Wann kann ich mir die Antwort holen?

– Wenn ich Euch sage, die Waffe ist gut, so könnt Ihr sie auf meine Verantwortung kaufen –

– Wann kann ich mir die Antwort holen?

– Wenn Ihr das nächste Mal nach St. Malo kommt.

– Verrathet nicht, daß der Revolver für mich ist, sagte Clubin.

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Drittes Capitel. Clubin nimmt Etwas mit und bringt es nicht wieder.

Sieur Clubin belud die Durande mit einer gewissen Anzahl Ochsen und Passagiere, und trat, wie gewöhnlich, am Freitag Morgen die Rückreise nach Guernesey an. Als das Schiff den Hafen verlassen und dem Kapitain die Zeit vergönnt war, die Kommandobrücke für einige Augenblicke zu verlassen, ging Clubin in seine Koje, schloß sich ein, nahm ein ihm gehörendes Felleisen, packte Kleidungsstücke, Bisquit, ein Pfund Cacao, einige Schachteln mit Eingemachtem in eine Abtheilung desselben und legte in die andere sein Chronometer und sein Fernglas. Dann schloß er das Felleisen sorgfältig zu und befestigte in beiden Ohren desselben ein Thau, um es im Notfall aufhissen zu können. Dann stieg er in den unteren Schiffsraum hinab, trat in das Kabelgat, und kam mit einem jener knotigen und an dem Ende mit einem Haken versehenen Stricke, deren sich die Kalfaterer auf dem Meere und die Diebe auf dem Lande bedienen, auf das Verdeck zurück.

Als Clubin in Guernesey angelangt war, ging er nach Torteval; daselbst hielt er sich eine Stunde auf. Er nahm den Hakenstrick und das Felleisen dorthin mit und brachte beides nicht wieder nach Guernesey zurück.

Sagen wir es ein für alle Mal: das Guernesey, von welchem hier die Rede ist, ist das ehemalige, nicht das jetzige Guernesey. Das alte Guernesey ist verschwunden; man würde höchstens in den Dörfern noch Spuren davon vorfinden, dort mag es wohl noch leben; in den Städten ist es todt. Was wir hier von Guernesey sagen, gilt auch von Jersey. St. Helier ist so gut als Dieppe, St. Pierre-Port so gut als Lorient. Dank dem bewunderungswürdigen Geist der Initiative, der dieses muthige kleine Inselvolk auszeichnet, hat sich seit vierzig Jahren der ganze Archipelagus des Canals geändert. Da, wo ehemals Schatten war, ist heute Licht.

Zu jenen Zeiten, die schon durch ihre Entfernung historisch sind, wurde der Schleichhandel sehr stark betrieben. Die Westküste von Guernesey war wie besät mit Schmugglerschiffen. Mehr als genau unterrichtete Personen, welche noch bis in die kleinsten Details die Dinge zu schildern im Stande sind, welche vor einem halben Jahrhundert passirten, wissen jetzt noch die Namen mehrerer der damaligen Schiffe zu nennen. Gewiß ist, daß beinahe in jeder Woche einige, entweder in Plainmont oder in der Bucht der Heiligen einliefen. Sie kamen und gingen mit einer gewissen Regelmäßigkeit fast wie die heutigen Dampfboote. In der Nähe von Serk befand sich eine Grotte, welche man den Laden nannte, weil an dieser Stelle die Schmuggler ihre Waaren verkauften. Diese Leute hatten damals ihre besondere Sprache, welche heut zu Tage Niemand mehr verstehen würde; dieses Idiom verhielt sich ungefähr zur spanischen Sprache, wie das der Levante zur italienischen.

An vielen Orten des englischen und französischen Uferlandes, bestand zwischen Kaufleuten und Schleichhändlern ein geheimes Einverständniß. Mehr als ein renommirtes Handelshaus öffnete dieser seine Thür, natürlich nur die Hinterthür; und gar mancher angesehene Handelsherr verdankte dem Schleichhandel seine Reichthümer. Wenigstens behauptete Séguin dieses von Bourgain und Bourgain von Séguin. Wir können die Wahrheit ihrer Aussage nicht verbürgen; vielleicht verleumdeten sie sich gegenseitig. Wie dem auch sei, der von den Gesetzen verdammte und verfolgte Schleichhandel stand mit der Finanzwelt, also mit der besten Gesellschaft, auf sehr gutem Fuße.

Eben dies gewährte ihm Schutz gegen die Gesetze; man sah den Schleichhändlern durch die Finger, weil sie Mitwisser vieler Geheimnisse waren. Es gab keine verschwiegnere Leute, als die Schmuggler, keine ehrlichere Spitzbüberei, als der Schleichhandel. Der Schleichhandel ohne Verschwiegenheit war eine Unmöglichkeit, seine Geheimnisse waren eben so heilig wie das Beichtgeheimniß.

Nichts konnte das gegebene Wort eines Schmugglers wankend machen. Ein Alkade in Oyarzun ließ eines Tages einen Schmuggler foltern; er sollte gestehn, wer ihn mit geheimen Geldvorschüssen unterstützte. Er gestand Nichts. Der ihm die Geldvorschüsse geliefert hatte, war der Alkade selber. Der eine der beiden Mitschuldigen mußte, um vor den Augen der Welt dem Gesetz zu genügen, den anderen foltern lassen; der andere hatte die Folterqualen ausgestanden, um den Eid zu brechen.

Die beiden berühmtesten Schmuggler, welche zu jener Zeit in Plainmont verkehrten, hießen Blasco und Blasquito. Sie waren Namensvettern, was in dem katholischen Spanien für eine Verwandtschaft gilt, und zwar deshalb, weil Beide denselben Schutzpatron im Himmel haben – in der That, ein beinahe ebenso inniges Band, als auf Erden denselben Vater zu haben!

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Viertes Capitel. Plainmont.

Plainmont, nahe bei Torteval, ist einer der drei Winkel von Guernesey. Es befindet sich dort auf der äußersten Spitze des Kaps ein hoher, von Rasen bedeckter Bergrücken, der das Meer beherrscht.

Diese Höhe ist sehr einsam, um so einsamer, da man ein Haus daselbst bemerkt. Dieses Haus gesellt zu dem Gefühl der Einsamkeit noch den Eindruck der Furcht.

Es ist, wie man sagt, ein Gespensterhaus. Verhext oder nicht: jedenfalls ist sein Anblick ein unheimlicher.

Es steht mitten im Grünen, ist von Granit erbaut und hat nur ein einziges Stockwerk.

Es hat nichts von einer Ruine; es ist vollkommen wohnlich. Die Mauern sind dicht und das Dach ist fest. Es fehlt diesen Mauern kein Stein, dem Dach kein Schiefer. Der von Ziegelsteinen gebaute Schornstein ist unversehrt. Dieses Haus kehrt dem Meere den Rücken zu; es zeigt diesem nur eine leere Wand. Betrachtet man indessen diese Wand genauer, so bemerkt man in derselben ein zugemauertes Fenster. Die beiden Giebel haben drei Fensterluken: eine nach Osten, die beiden andern nach Westen. Alle drei sind vermauert. Nur die Landseite hat eine Thür und Fenster. Die Thür ist vermauert, die beiden Fenster des Erdgeschosses ebenfalls. Im ersten Stock sind zwei offene Fenster, deren Anblick das Haus doppelt unheimlich macht. Die zugemauerten Fenster sind weniger schreckenerregend, als diese beiden offenen, deren Oeffnung bei hellem Tage schwarz erscheint. Sie haben weder Scheiben noch Rahmen; es sind schwarze Mauerlöcher, welche wie zwei leere Augenhöhlen aussehen. Im Innern des Hauses ist Alles roh; man sieht hinter diesen beiden dunkeln Luken nichts, als die nackte Steinwand. Man glaubt ein Leichenhaus zu sehen. Keine menschliche Wohnung nah und fern, lautlose Stille rings umher. Nur Brennesseln welche der Wind bewegt, streifen den Fuß der Mauer. Dennoch hört man, wenn man das Ohr dicht an die Wand hält, bisweilen ein Geräusch wie der Flügelschlag aufgescheuchter Vögel. Ueber der Thür dieses Hauses sind die Buchstaben ELM-PBJLG und das Datum 1780 eingegraben. Des Nachts fällt das trübe Mondlicht darauf.

Das Meer schlingt sich wie ein Gürtel um dieses Haus, seine Lage ist herrlich, und darum um so grauenvoller. Die Schönheit dieses Ortes wird zum Räthsel. Warum nur ist jenes Haus nicht bewohnt? Ist es nicht gut gebaut, und in wohnlichem Zustande? Woher kommt es nur, daß es so einsam und verlassen ist? Rings umher vortreffliches Erdreich; doch kein Pflug, der es beackert; keine Menschenhand, die den Pflug leitet, um Nutzen aus dem guten Boden zu ziehen. Hat dieses Haus denn keinen Herrn? Die Thür ist vermauert. Warum? Was geht in seinem Inneren vor? Wenn Nichts, warum wohnt Niemand darin? Warum flieht Alles vor diesem einsamen Gebäude? Ist es denn wirklich unbewohnt von menschlichen Wesen? Hausen nur Raubvögel und Geister darin? Geht Niemand über die Schwelle dieser vermauerten Thür? Nur Regen, Wind und Hagel erzwingen sich den Eingang durch die offenen Fenster, und lassen im Innern ihre verheerenden Spuren zurück. Nur der Sturm rast durch diese nackten Mauern. Birgt dieses Haus irgend ein Verbrechen? Scheint es doch, als müßte dies Haus des Nachts in seiner trostlosen Oede um Hülfe rufen. Schon am hellen Tage bietet es einen unheimlichen Anblick dar, wie wohl in der Nacht? Ist es nicht als ob diese Mauern ein tiefes, unergründliches Geheimniß bärgen? Ein heiliger Schrecken herrscht in diesen Mauern. Der Schatten, den sie in sich bergen, ist nicht bloßer Schatten, nein, es ist der dunkle Schooß, in dem das Unbekannte wohnt. Wenn die Sonne untergegangen ist, wenn die Fischer heimkehren und der Vögel Lied verstummt, wenn der Schäfer seine Heerde heimwärts treibt und sich das kriechende Gewürm zwischen dem Steingerölle ein Plätzchen für die Nachtrast sucht, wenn des Himmels Sternenaugen glänzen, und sich ein kühler Wind erhebt, und wenn die Nacht den dunkeln Schleier über die ganze Erde breitet, dann stehen die beiden Fenster dieses unheimlichen Hauses offen und schauen mit ihren hohlen Augen in die schwarze Nacht hinein. Des Volkes Aberglaube machte dieses herrenlose Haus zum Eigenthum der Nacht, zum Zufluchtsort der Nachtgeister und der armen Seelen die Erlösung hoffend und ersehnend die Luft in diesen Räumen mit ihren Klagen füllen. Der stumpfsinnige, und doch zu gleicher Zeit auch tiefsinnige Glaube des Volkes macht dieses Haus zum Eigenthum der Geister. »Es ist ein Gespensterhaus«, damit ist alles gesagt.

Bildet sich der Aberglaube seine Meinung, so hat auch die Vernunft das Recht ihrer Meinung. Sie erklärt die Sache ganz einfach. Dieses Haus, sagt sie, ist ein alter Beobachtungsposten aus der Zeit der Revolutionskriege, des Kaiserreichs und des Schmuggels. Nach Beendigung des Krieges wurde der Posten aufgegeben; das Haus aber hat man stehen lassen, um es gelegentlich wieder einmal zu benutzen. Man hat die Thür und die Fenster des Erdgeschosses vermauert, um es vor Verunreinigung zu bewahren und unzugänglich für Menschen zu machen; und durch die Vermauerung der Fenster an seinen drei Seeseiten suchte man es gegen Beschädigung durch die Süd- und Westwinde zu sichern. Das ist Alles.

Die Unwissenden und Abergläubigen blieben bei ihrer Meinung. Erstens ist dieses Haus nicht während der Revolutionskriege erbaut. Es trägt an seiner Thür das Datum 1780, sei also älter als die Revolution. Zweitens war dieses Haus auch nicht zu einem Wachthaus bestimmt. Es trägt die Buchstaben ELM-PBLJG; diese seien die doppelte Namenschiffer zweier Familien, und nach altem Brauche bedeute dies, daß das Haus zur Wohnung für ein junges Gattenpaar bestimmt gewesen sei. Es war also ehemals bewohnt. Warum ist es jetzt nicht mehr bewohnt? Wenn man die Thür und die übrigen Fenster zumauerte, warum ließ man gerade jene beiden Fenster offen? Man hätte sämmtliche Fenster oder keins zumauern müssen. Warum gerade die Fenster der Südseite, und nicht auch die der Nordseite vermauern? Ist denn die Nordseite weniger den Verheerungen der Stürme und des Unwetters ausgesetzt, als die Südseite.

Die Abergläubigen sind ganz sicher im Unrecht; aber auch die vernünftigen Leute haben nicht Recht. Die Sache war und blieb ein Räthsel.

Gewiß ist nur, daß dies Haus den Schmugglern eher nützlich als schädlich erscheinen soll. Der Schreck nimmt allen Dingen ihre wahren Verhältnisse. Ohne Zweifel würden viele Spukgestalten, die der Aberglaube in die Räume dieses Hauses versetzt, sich durch natürliche, wirkliche menschliche Gestalten von Fleisch und Blut ersehen lassen, welche sich in nächtlicher Weile in diese Mauern flüchteten, und die Furcht des Volkes benutzten, um sich ungestört und ungehindert dort Beschäftigungen hinzugeben, welche das Auge des Gesetzes fürchten mußten.

Die Polizei war zu jener Zeit und ganz besonders in den kleineren Ländern noch kein so wohlorganisirtes Institut als heute; sie ließ der Kühnheit der Abenteurer und Verbrecher einen viel größeren Spielraum, als dieses jetzt der Fall ist.

Fügen wir dem Gesagten noch hinzu, daß dieses Haus ein um so erwünschterer Schlupfwinkel für die Schmuggler war, weil es sich durch seine Lage den beobachtenden Blicken der Zollbeamten und Küstenwärter entzog. Diese Leute fürchten bekanntlich weder den Teufel noch seine Großmutter; sie machen diesen eben so gut wie anderen Leuten den Proceß, während sich die Abergläubigen damit begnügen zu entfliehen, und das Kreuz zu schlagen, wenn sie in die Nähe der vermeintlichen Gespenster kommen. Es hat fast den Anschein, als ob diejenigen, welche Furcht zu erregen beabsichtigen, und die, welche Furcht empfinden, ein stilles Uebereinkommen mit einander getroffen hätten, sich gegenseitig durch die Finger zu sehen; die Erschrockenen bilden sich ein, etwas gesehen zu haben, dessen Enthüllung die Geister scheuen müßten und die sich an ihnen rächen würden; daher ihr unverbrüchliches Schweigen über dergleichen Dinge. Die Furchtsamen schweigen überdies schon aus Instinct, die Furcht hat etwas Schweigengebietendes. Es ist, als ob sie dem vor Schrecken Bleichen den Finger auf den Mund legte; das Wort erstarrt auf seinen Lippen, und die Züge seines Antlitzes werden zu Marmor.

Wir müssen unsere Leser daran erinnern, daß zu jener Zeit die Guerneseyer noch des Glaubens lebten; daß sich in jedem Jahre das Mysterium der Krippe um die Weihnachtszeit erneuere. Niemand hätte es gewagt, am heiligen Abend in einen Stall zu treten, aus Furcht, die Thiere vor der Krippe auf den Knieen liegend anzutreffen.

Wenn man den Legenden Glauben schenken darf, welche dort in der Gegend und zu damaliger Zeit gäng und gäbe waren, so hatten die Furchtsamen damals die Mauern jenes verrufenen Hauses in Plainmont ganz mit Ratten ohne Pfoten, Fledermäusen ohne Flügel, und mit Gerippen todter Thiere behängt. Man kann noch heute die Spuren der in den Wänden eingeschlagenen Nägel erkennen. Auch Büschel gelber Wolfsmilch und zwischen den Blättern einer Bibel zerquetschte Kröten hängte man dort auf. Die Vorübergehenden hielten es nämlich für eine ganz unerläßliche Nothwendigkeit, den Hexen und Gespenstern solche Opfergaben zu bringen, um sich auf diese Art von ihnen Verzeihung für ihren Vorwitz zu erkaufen.

Es giebt überall in der Welt Abergläubige, zuweilen sogar sehr hochgestellte.

Cäsar besuchte Sagane, Napoleon I. Mademoiselle Lenormand. Es giebt Menschen, die sogar den Teufel zu bestechen suchen; sie bitten ihn, daß er, was Gott gethan, nicht wieder verderben möge. Das war eins der Gebete Carl des Fünften. Es giebt aber auch furchtsame Menschen, welche sich einbilden, ein Unrecht gegen den Bösen begehen zu können, das sie ihm abbitten müßten; Menschen, deren eifrigstes Bestreben es ist, sich mit dem Teufel auf guten Fuß zu stellen. Daher die Opfer, welche dem Bösen gebracht werden. Es ist dieses eine Bigotterie wie jede andere. Gewisse kranke Gemüther glauben an das Vorhandensein von Sünden gegen die Dämonen. Die Theologen der Unwissenheit haben die abgeschmacktesten Vorstellungen von den Gesetzen der Hölle und ihren Uebertretungen. Es giebt Leute, welche sich einbilden, daß auch das Böse seinen Cultus, seine Religionsgesetze habe, deren Uebertretung eben so straffällig, wie die der übrigen Gesetze sei; daß man den Geist der Lüge nicht belügen dürfe, und vor dem Vater der Sünde ein Bußgebet sprechen müsse. Der Aberglaube hat so gut sein Glaubensbekenntniß und seinen Kultus wie die Religion; wenigstens war dies damals der Fall. Die Hexenprozesse, deren Akten von Paragraphen dieses eigentümlichen Glaubensbekenntnisses wimmeln, geben einen Beweis davon. Der menschliche Irrthum geht weit, so weit, daß eingebildete Sünden durch eingebildete Strafen getilgt, und unsaubere Gewissen mit dem Hexenbesen gereinigt werden.

Wie dem auch sein mochte, ob mit Recht oder Unrecht. Dies Haus war verrufen; Keiner wagte sich herein, Jeder vermied die nähere Bekanntschaft dieser unheimlichen Bewohner.

Es hatte den Schrecken zu seinem Hüter angestellt; die Furcht hielt alle Beobachter fern. Es war daher sehr leicht, mit Hülfe einer Leiter oder des ersten besten von einem benachbarten Acker geraubten Pfahlzauns in seine inneren Räume zu dringen. Der Flüchtling, welcher ein Asyl vor dem verfolgenden Gesetze suchte, konnte mit etwas Wäsche, Kleidung und Lebensmitteln versehen, ganz ruhig in diesem Hause so lange verweilen, bis sich ihm eine Gelegenheit zur heimlichen Entweichung bot.

Man erzählt sich, daß vor ungefähr vierzig Jahren ein politischer Flüchtling, wie die Einen, – ein Bankeruttirer, wie die Anderen sagen, in diesem Hause in Plainmont Zuflucht gefunden habe. Später sei ihm durch ein Fischerboot Gelegenheit zu weiterer Flucht geboten worden. Man sagt, er habe sich nach England gewandt. Von England aus gelangt man sehr leicht nach Amerika.

Es geht ferner die Sage, daß alle von den Flüchtigen auf dieser Stelle zurückgelassenen Sachen unberührt dort liegen bleiben; denn es sei sowohl für den Teufel, als für die Schmuggler von Interesse, daß der wieder komme, der sie daselbst zurückgelassen hat.

Vom Dache dieses Hauses steht man etwa eine Meile südwärts von der Küste die Klippe des Hanvis.

Diese Klippe ist berühmt. Sie hat so viel Böses angerichtet, als ein Felsen im Meere nur anrichten kann. Der Hanvis ist eins der gefürchtetsten Mörder des Kanals, er hat die Kirchhöfe von Torteval und Roquaine mit vielen Gräbern bereichert.

Im Jahr 1862 erbaute man auf einer der Klippen der Hanvis einen Leuchtthurm. Derselbe Felsen, der früher die Schifffahrer in das Verderben riß, beleuchtet jetzt das Meer. Man sucht jetzt als Beschützer und Leiter am Horizont das Licht auf jener selben Klippe, die man ehemals wie einen Uebelthäter floh. Der Hanvis ist jetzt eine Beruhigung für Diejenigen, welche bei Nacht jene Seestrecke befahren, die er ehemals so gefahrvoll machte. Diese Metamorphose hat einige Aehnlichkeit mit der Umwandlung eines Räubers in einen Soldaten.

Der Hanvis besteht aus drei verschiedenen Felsen, welche man den großen und den kleinen Hanvis und die »Malve« nennt. Auf dem kleinen Hanvis errichtete man den Leuchtthurm.

Diese drei Klippen beherrschen eine ganze Felsengruppe, welche sich zum Theil unter Wasser befindet und sich durch hervorragende Spitzen auch über dem Wasser bemerkbar macht. Diese, die kleineren Klippen beherrschenden Felsen haben das Ansehen einer Festung. An der hohen Seeseite bildet sich eine Kette von dreizehn Felsen; an der Nordseite befinden sich zwei Brandungen, die Haules-Fourquiers und die Aiguillons, und eine Sandbank, l'Héronée gegen Süden drei Felsen, der Cat-Roque, der Percé und der Roque Herpin; sodann die Soute Bone und die Bonet Le Monet; außerdem vor Plainmont, dem Wasser gleich, der Tas de Pois d'Aval.

Es ist sehr schwierig, jedoch nicht unmöglich, den Engpaß des Hanvis bis Plainmont zu durchschwimmen. Sieur Clubin hat es, wie wir wissen, bewiesen. Es bieten sich dem Schwimmer, welcher diesen Engpaß ganz genau kennt, zwei Ruhepunkte, der Roque rondel, und der diesem links in schräger Richtung gegenüberliegende Rouque rouge dar.

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Fünftes Capitel. Die kleinen Nest-Ausnehmer.

Ungefähr zu derselben Zeit, wo Sieur Clubin in Torteval war, ereignete sich etwas in der Gegend von Plainmont, was erst längere Zeit nachher bekannt wurde; denn alles Schreckliche bindet denen, welche es erlebt haben, die Zunge.

Es war an einem Sonnabend – wir glauben dieses Datum mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen – als drei Knaben die steilen Felshöhen der Umgegend von Plainmont erkletterten. Sie waren eben im Begriff, mit reicher Beute versehen, nach Hause zu kehren. Es waren nämlich kleine Nest-Ausnehmer. Ueberall, wo es steile Gestade und Löcher in den in das Meer ragenden Felsen giebt, wimmelt es von diesen kleinen Räubern. Wir erwähnten dieser Sache schon, als wir von Gilliatt erzählten und von der großen Mühe, welche er sich gab, die gefährliche Jagd der Kinder zu verhüten.

Die kleinen Vogelnest-Ausnehmer sind so zu sagen, die Straßenbuben des Oceans. Furcht ist ihnen fremd.

Die Nacht war sehr dunkel; dicht übereinander gehäufte Wolkenschichten verfinsterten den Horizont. Die Glocke des runden, oben spitz zulaufenden Kirchthurms von Torteval, welcher der Mütze eines Magiers sehr ähnlich sah, schlug soeben die dritte Morgenstunde. Warum kehrten die Knaben so spät nach Hause zurück? Das ist ganz einfach. Sie hatten im Tas de Pois d'Aval Möwennester ausgenommen. Vom schönen Wetter hinausgelockt, hatten sie sich bei ihrem, eine ganz besondere Geschicklichkeit, große Aufmerksamkeit und viele Zeit erfordernden Jagdvergnügen verspätet. Die Fluth überraschte sie; sie konnten nicht schnell genug die kleine Bucht erreichen, in welcher sie ihr Boot befestigt hatten und waren daher gezwungen, auf einer der Felsenspitzen des Tas de Pois die Ebbe abzuwarten. So hatte die Nacht sie überrascht. Die von Angst und Sorgen um die Ihrigen gequälten Mütter erwarten ihre Sprößlinge mit fieberhafter Ungeduld. Kommen diese dann endlich, so macht sich das so lange geängstigte, von Unruhe gepeinigte, und nun wieder beruhigte Mutterherz, ungeachtet seiner geheimen Freude über die glückliche Wiederkehr der kleinen Ausreißer, gewöhnlich durch Püffe und Ohrfeigen Luft. Unsere Jäger, welche einen ähnlichen Empfang voraussahen, eilten, die Heimath zu erreichen. Allein eine gewisse Unruhe, welche sich mehr und mehr ihrer bemächtigte, je näher sie dem gefürchteten Ziele kamen, hemmte ihre Schritte. Sie hatten eine mit Rippenstößen versetzte Umarmung in Aussicht.

Nur einer der drei kleinen Landstreicher hatte Nichts zu fürchten; er war eine Waise, ein kleiner Franzose, der weder Vater noch Mutter hatte und in diesem Augenblick mit seiner Mutterlosigkeit ganz einverstanden war. Niemand ängstigte sich um ihn; es wird ihn also Niemand schlagen. Die beiden Anderen waren Guerneseyer Kinder und gehörten zu dem Kirchspiel von Torteval.

Als die Gruppe der höchsten Felsen erstiegen war, erreichten die kleinen Vogelräuber die Anhöhe, auf welcher sich das unheimliche Haus befindet.

Nicht ohne Furcht und Grauen näherten sie sich demselben. Kein Erwachsener, der bei Tage in diese verrufene Gegend kam, konnte sich eines ängstlichen Gefühles erwehren; wie viel weniger diese Kinder bei Nacht.

Es drängte sie, eiligst davon zu laufen und zugleich fühlten sie sich festgebannt, um sich umzusehen. Sie blieben stehen.

Sie betrachteten das Haus.

Es war schrecklich dunkel, schauerlich öde.

Mitten auf der einsamen Höhe stand es da, ein dunkler Klotz, ein symmetrischer und doch häßlicher Auswuchs, eine hohe, viereckige Granitmasse mit gradlinigten Winkeln, gleich einem ungeheuren Altar, den Mächten der Finsterniß geweiht.

Der erste Gedanke der Kinder war, zu fliehen; der zweite, näher heranzutreten. Sie hatten noch niemals jenes Haus um diese Stunde gesehen. Es giebt eine Neugierde der Furcht. Es befand sich ein kleiner Franzose unter ihnen; dieser Umstand bewirkte, daß sie näher gingen.

Die Franzosen glauben bekanntlich an nichts. Ueberdies war man ja zu Dreien; getheilte Furcht giebt eine Art von Sicherheit.

Dann waren unsere kleinen Abenteurer ja auch Jäger und als solche an Gefahren schon gewöhnt. Sie zählten alle drei zusammen kaum dreißig Jahre. Es waren Kinder. Kinder aber wollen Alles wissen, Alles erforschen, jedem Ding auf den Grund gehen. Und unsere kleinen Helden waren aus uns bekannten Ursachen zu Untersuchungen gerade heute ganz besonders aufgelegt; sie hatten es, wie wir wissen, nicht besonders eilig, die Heimath zu erreichen. Sie steckten überall die Köpfe hinein, kein Loch, keine Felsspalte blieb ununtersucht. Wer auf die Jagd geht, folgt einer magischen Gewalt. Wer auf Entdeckungen ausgeht, wird wie von einem unsichtbaren Räderwerk vorwärts getrieben. Wer den ganzen Tag die Nase in Vogelnester gesteckt hat, den gelüstet es, sie auch in der Nacht einmal in Gespensternester zu stecken. Wen sollte es nicht reizen, in das Verborgene zu schauen, der Hölle auf den Zahn zu fühlen?

Vom Sperling bis zum Kobold ist nur ein Schritt. Und warum sollte unser muthiges kleines Kleeblatt diesen Schritt nicht wagen? Jetzt war ihnen einmal eine Gelegenheit geboten, sich mit eigenen Augen von der Wahrheit aller der von den großen Leuten ihnen erzählten grausigen Geschichten zu überzeugen. Eben so klug zu sein, vielleicht gar noch mehr zu wissen als die großen Leute, das war Etwas, das ihren kleinen Ehrgeiz spornte. Jetzt oder nie! war der Wahlspruch der kleinen Helden; mit Todesverachtung schritten sie ihrem unheimlichen Ziele zu.

Sie hatten aber auch in dem kleinen Franzosen einen Führer, der, wenn es galt, selbst den Teufel nicht scheute. Er war ein muthiger kleiner Kalfater-Lehrling, der zu den Wesen gehörte, welchen schon als Kindern die Selbstständigkeit des Mannes innewohnt. Er schlief des Nachts auf dem Zimmerplatz oder auf dem Heuboden und erwarb seinen Lebensunterhalt. Er hatte eine starke Stimme und war ein kerniger gewandter Knabe, der mit derselben Leichtigkeit Bäume wie Felsen erkletterte. Er verdiente sich sein Brod dadurch, daß er bei Ausbesserung von Fischerbarken behülflich war. Er war ein Kind der Liebe; der Würfel des Zufalls hatte ihn ausgespielt. Mau wußte, daß er in Frankreich geboren war, doch kannte man weder seinen Geburtsort, noch seine Eltern. Er war eine lustige Waise. Er lebte so frei und so fröhlich wie der Vogel in der Luft, baute sich selber sein Nest, und sorgte auch selber für sein Futter. Eben so leicht wie er die Pfennige gewann, ließ er sie auch durch die Finger schlüpfen; wenn ihn ein Bettler um eine Gabe bat, gab er stets das Seinige hin, um ihm zu helfen. Er war ein wilder gutherziger Knabe mit röthlich blonden Haaren, der schon einmal mit Parisern gesprochen hatte. Er verdiente durch sein Handwerk täglich einen Schilling. Wenn ihm einmal die Lust ankam, Vogelnester auszunehmen, gab er sich selber Ferien. Das war der kleine Franzose.

Die Einsamkeit an diesem Orte hatte etwas von Todestrauer, etwas Unnahbares. Der Anblick war wild. Rings umher Abgrund; unten das Meer. Das Meer war still, es regte sich kein Lüftchen; kein Blatt, kein Grashalm rauschte; Todtenstille, Grabesruhe überall. Die drei Knaben näherten sich, der kleine Franzose voran, langsamen Schrittes dem Hause und betrachteten es.

Einer jener Knaben fügte, als er später die Abenteuer jener Nacht erzählte, hinzu: »Es sagte nichts!«

Sie näherten sich mit verhaltenem Athem, wie man einem wilden Thiere entgegentritt. Sie hatten die kleine Anhöhe erstiegen, welche sich dicht hinter dem Hause befindet und sich gegen die Meerseite hin zu einer kleinen, aus Felsen gebildeten Landzunge abflacht, deren Erklimmen dem Wanderer große Schwierigkeiten verursachen würde. Das kleine Plateau war glücklich erstiegen; das Ziel ihrer Beobachtung lag ihnen gerade gegenüber, allein es bot nur den Anblick der Südseite mit den zugemauerten Fenstern. Sie hatten nicht gewagt, sich nach links zu wenden, wo sie die andere Front mit den beiden schrecklichen Fenstern gesehen hätten. Indessen faßten sie Muth. Der Kalfater-Lehrjunge sagte leise zu ihnen: Wenden wir uns nach der Backbordseite; da wird’s schön! Wir müssen die beiden schwarzen Fenster sehen!

Sie folgten ihm und langten auf der anderen Seite des Hauses an.

Die beiden Fenster waren erleuchtet.

Die Kinder flohen.

Als sie eine Weile gelaufen waren, blieb der kleine Franzose stehen und sah sich um.

Seht, sagte er, jetzt ist Alles wieder dunkel.

Es war so; die Fenster waren nicht mehr erleuchtet. Das unheimliche Gebäude setzte sich in scharfen Umrissen von dem dunkelblauen Grunde des Himmels ab.

Die Furcht wich nicht, aber die Neugierde kehrte zurück; die kleinen Vogelräuber näherten sich zum zweiten Mal dem Hause.

Plötzlich waren wie auf einen Schlag die beiden Fenster wieder erleuchtet.

Die beiden Guerneseyer nahmen wiederum die Beine in die Hand und liefen davon; der kleine französische Satan ging zwar nicht vorwärts, wich aber auch nicht zurück. Mit unverwandtem Blick blieb er unbeweglich vor dem Hause stehen.

Das Licht verschwand, dann erglänzte es von Neuem. Es war schrecklich. Der Reflex warf einen unsichern Feuerschein auf das vom Nachtthau schimmernde Gras. In gewissen Momenten zeichnete das Licht auf der innern Wand große schwarze Profile, die sich bewegten, und Schatten von unförmlichen Köpfen.

In dem Hause aber, welches weder eine Thür noch eine Decke, sondern weiter nichts als vier kahle Wände und ein Dach hatte, mußte der Lichtschein des einen Fensters auch das andere erleuchten.

Als die beiden flüchtig gewordenen Guerneseyer den Franzosen ruhig stehen bleiben sahen, kehrten sie, Schritt vor Schritt, Einer nach dem Andern, zitternd und neugierig zurück. Der Kalfater-Lehrling sagte ganz leise zu ihnen: Es sind Gespenster in diesem Hause; ich habe die Nase des Einen gesehen. Als die Beiden das hörten, duckten sie sich hinter den Franzosen, stellten sich auf die Zehen und sahen über seine Schultern nach dem Hause hin. Hinter diesem Schilde fühlten sie sich sicher; zwischen ihnen und den Gespenstern stand der Franzose.

Das alte Gemäuer schien seinerseits auch sie zu beobachten. Es glotzte mit seinen beiden feurigen Augen in die Nacht hinein.

Das Licht verschwand, kam wieder, und verschwand von Neuem. Dieses Plötzliche Auftauchen und Wiederverschwinden des Lichtscheines hatte etwas von Höllenspuk. Das geht hin und her, öffnet und schließt sich. Die Luftlöcher einer Gruft bringen dieselben Lichtwirkungen hervor, wie eine Blendlaterne.

Plötzlich tauchte an einem der Fenster eine dunkle Masse aus, welche einer menschlichen Gestalt glich; sie schwang sich auf eins der Fenster, als käme sie von außen, und verlor sich dann im Innern des Hauses. Es schien, als wäre Jemand eingetreten.

Die Gespenster kommen immer durch die Fenster.

Der Lichtschein wurde einen Augenblick stärker, darauf verlosch er ganz. Das Haus wurde wieder dunkel. Jetzt vernahmen die kleinen Lauscher ein Geräusch, welches Menschenstimmen sehr ähnlich war. Es geht in der Regel so: wenn man sieht, hört man nicht, und wenn man hört, sieht man nicht.

Es herrscht in der Nacht auf dem Meere eine ganz eigenthümliche Stille. Während bei Tage das Geräusch der Wogen den Flügelschlag des Adlers übertönt, würde man in der Nacht bei Windesstille eine Mücke fliegen hören. Diese Stille gleicht der Ruhe des Grabes. Um so unheimlicher war das verworrene Geräusch, welches aus dem Hause drang.

– Sehen wir zu! – sagte der kleine Franzose.

Er ging dem Hause einen Schritt näher.

Die Andern folgten ihm nach, denn eine große Furcht hatte sich ihrer bemächtigt und schnitt ihnen den Rückzug ab; sie wagten es jetzt nicht mehr, ohne ihren Kameraden zu fliehen.

Als sie an einem großen Haufen Reiser vorüberkamen, welcher merkwürdiger Weise ihre Furcht ein wenig minderte, raschelte es in einem benachbarten Busch, und eine große Eule flog heraus. Der Flug der Nachteulen ist schräg und hat etwas Unruhiges, wie der Blick eines schielenden Menschen. Als der Vogel ganz dicht an den Kindern vorbeirauschte und sie mit seinen runden Augen anglotzte, zitterten sie wie Espenlaub. Der kleine Franzose aber redete besorgt den Vogel an:

– Spätzchen, Du kommst zu spät. Jetzt hab‘ ich keine Zeit. Ich will sehen!

Er ging weiter vor.

Man konnte, trotz dem Krachen, welches seine groben, mit großen Nägeln beschlagenen Schuhe auf dem Stechginster verursachten, deutlich die Stimmen im Innern des Hauses vernehmen, die sich in einem ruhig geführten Gespräch bald hoben, bald senkten.

Der kleine Franzose sagte:

– Nur dumme Leute glauben an Gespenster!

Frechheit in der Gefahr wirkt ermuthigend auf die Furchtsamen und treibt sie vorwärts. Die beiden Jungen aus Torteval folgten Schritt für Schritt den Fußtapfen des Kalfater-Lehrlings.

Je näher sie kamen, desto größer schien ihnen das Haus zu werden. In dieser optischen Täuschung, welche ihnen ihre Furcht vorspiegelte, lag etwas Wahres. Das Haus wurde in Wirklichkeit größer, weil sie sich ihm näherten.

Die Stimmen, welche aus demselben kamen, wurden jetzt immer deutlicher. Die Kinder hörten zu. Auch das Ohr hat seine Größentäuschungen. Das war kein Gemurmel; es war mehr als ein Geflüster und weniger als Lärm. Von Zeit zu Zeit tönten ein oder zwei deutlich vernehmbare Worte zu ihnen hinüber. Diese Worte waren unverständlich und klangen ganz sonderbar. Die Kinder standen still und lauschten; dann schritten sie wieder vorwärts.

– Hört Ihr? Die Gespenster sprechen mit einander, – sagte der Franzose; ich aber glaube nicht an Gespenster.

Die beiden Kleinen von Torteval hätten sich gern hinter dem Reiserhaufen versteckt, sie waren aber schon zu weit von ihm entfernt, und ihr Freund, der Franzose, ging immer muthig vorwärts. Sie fürchteten sich, bei ihm zu bleiben, und wagten nicht, ihn zu verlassen; sie folgte ihm Schritt vor Schritt in athemloser Spannung.

Der Kalfater-Lehrling drehte sich nun um und sagte:

– Ihr wißt, daß dies Alles nicht wahr ist. Es giebt keine!

Das Haus wurde immer größer, immer höher, je näher sie ihm kamen; die Stimmen wurden immer deutlicher.

Jetzt waren sie ihm ziemlich nahe.

Sie bemerkten nun das Licht im Innern; doch war es wie gedämpft, es war ein richtiges Gespensterlicht.

Als sie ganz nahe am Hause waren, machten sie Halt.

Einer der beiden Knaben aus Torteval faßte den Muth zu bemerken:

– Es sind keine Gespenster, es sind weiße Damen.

– Was ist das, was hier am Fenster herunterhängt? fragte der Andere.

– Es sieht aus wie ein Strick.

– Es ist eine Schlange.

– Nein, es ist der Strick eines Erhängten – sagte mit sehr bestimmtem Ton der kleine Franzose; solche Dinge gebrauchen die Gespenster; aber ich glaube nicht an Gespenster.

Und mit drei Schritten, die man eher Sprünge nennen konnte, war er am Fuß des alten Gemäuers. Es lag etwas Fieberhaftes in dieser Kühnheit.

Die beiden Andern waren ihm bebend nachgeschlichen und hielten sich dicht an seine Seite, der Eine rechts, der Andere links. Sie hielten nun die Ohren an die Mauer und hörten folgendes Gespräch, das die Gespenster im Hause führten:

– Asi, entendido esta?

– Entendido.

– Dicho?

– Dicho.

– Aqui esperara un hombre, y podra marcharse en Inglaterra con Blasguito?

– Pagando.

– Blasquito tomara. al hombre en su barca.

– Sin buscar para, conocer a su pais?

– No nos toca.

– Ni a su nombre del hombre?

– Abgemacht.

– Es ist gesagt?

– Gesagt.

– Ein Mann wird hier warten, und würde mit Blasquito nach England gehen können?

– Für Geld und gute Worte.

– Blasquito wird den Mann in seine Barke aufnehmen.

– Ohne nachzufragen, aus welchem Lande er ist?

– Das geht uns nichts an.

– Ohne ihn zu fragen, wer er ist?

– No se pide el nombre, pero se pesa la bolsa.

– Bien. Esperara el hombre en esa casa.

– Tenga que comer.

– Tendra.

– Onde?

– En este saco que he Ilevado.

– Muy bien.

– Puedo dexar el saco aqui?

– Los contrababdistas no son ladrones.

– Y vosotros, quando marchais?

– Man fragt nicht nach dem Namen, man wiegt die Börse.

– Gut. Der Mann wird in diesem Hause warten.

– Er muß mit Lebensmitteln versehen werden.

– Er soll sie haben.

– Wo?

– In dem Sack, den ich mitbringe.

– Sehr gut.

– Kann ich den Sack hier lassen?

– Die Schmuggler sind keine Spitzbuben.

– Und wann werdet Ihr reisen?

– Manana por la manana. Si su hombre de usted esta parado, podria, venir con nosotros.

– Parado no esta.

– Hacienda suya.

– Cuantos dias esperara alli?

– Dos, tres, quatro dias. Menos o mas.

– Es cierto que el Blasquito vendra?

– Cierto.

– En este Plainmont?

– En este Plainmont.

– Morgen früh. Wenn Euer Mann bereit wäre, könnte er mit uns reisen.

– Er ist nicht bereit.

– Desto schlimmer für ihn.

– Wie lange wird er hier warten müssen?

– Zwei, drei, vier Tage. Etwas weniger, etwas mehr.

– Ist es ganz sicher, daß Blasquito kommt?

– Ganz sicher.

– Hierher? Nach Plainmont?

– Hierher nach Plainmont.

– A qual semana?

– La que viene.

– A qual dia?

– Viernes, o sabado, o domingo.

– No puede faltar?

– Es mi tocayo.

– Por qualquiera tiempo viene?

– Qualiquiera. No tieme. Soy el Blasco, es el Blasquito.

– Asi, no puede faltar de venir en Guernesey?

– In welcher Woche?

– In der nächsten.

– An welchem Tag?

– Freitag, Sonnabend oder Sonntag.

– Er kommt also unter allen Umständen?

– Er ist ja mein Namensvetter.

– Er kommt bei jedem Wetter?

– Bei jedem Wetter. Er hat keine Furcht. Ich bin Blasin, er ist Blasquito.

– Er wird also jedenfalls nach Guernesey kommen?

– Vengo a un mes, y viene al otro mes.

– Entiendo.

– A cuentar del otro sabado, desdehoy en vocho, no se pasaran cino dias sin que venga el Blasquito.

– Pero un muy malo mar?

– Egurraldia gaïzta?

– Si.

– No vendria el Blasquito tan pronto, pero vendria.

– Donde vendra?

– Einen Monat komme ich, den andern kommt er.

– Ich verstehe.

– Heute über acht Tage ist Sonnabend; von da an werden keine fünf Tage vergehen, ohne daß Blasquito kommt.

– Doch wenn das Meer hartnäckig ist?

– Egurraldia gaïztoa? 4

– Ja.

– Dann wird Blasquito nicht so schnell kommen, doch kommen wird er.

– Von wo kommt er?

– Del Vilvao.

– Onde ira?

– En Portland.

– Bien.

– O en Tor Bay.

– Mejor.

– Su humbre de usted puede estarse quieto.

– No traidor sera, el Blasquito?

– Los cobardes son traidores. Somos valientes. El mar es la iglesia del invierno. La traicion es la iglesia del infierno.

– Von Bilbao.

– Wohin geht er?

– Nach Portland.

– Das ist gut.

– Oder nach Tor Bay.

– Das ist noch besser.

– Euer Mann kann ganz ruhig sein.

– Blasquito wird nichts verrathen?

– Feige sind Verräther. Wir sind tapfer. Das Meer ist die Kirche des Winters. Der Verrath ist die Kirche der Hölle.

– No se entiende a lo que dicemos?

– Escuchar a nosotros y mirar a nosotros es imposible. La espanta hace alli el desierto.

– Lo sè.

– Ouien se atravesaria a escuchar?

– Es verdad.

– Y escucharian que no entiendrian. Hablamos a una lengua fiera y nuestra que no se conoce. Despues que lu sabeis, ereis con nosotros.

– Soy venido para componer las haciendas con ustedes.

– Hört Niemand, was wir sprechen?

– Es ist unmöglich, uns zu hören oder uns zu sehen. Der Schrecken macht diesen Ort zur Wüste.

– Ich weiß es.

– Wer also sollte es wagen, uns zu belauschen?

– Das ist wahr.

– Und wenn uns wirklich Jemand belauschte, so würde er nicht verstehen können, was wir sprechen. Wir sprechen eine wilde Sprache, die nur wir verstehen. Weil Ihr sie auch versteht, gehört Ihr zu uns.

– Ich bin gekommen, um mit Euch meine Anordnungen zu treffen.

– Bueno.

– Y ahora me voy.

– Mucho.

– Digame usted, hombre. Si el pasagero quiere que el Blasquito le Lleve en ninguna otra parte que Portland o Tor Bay?

– Tenge onces.

– El Blasquito hara lo que querra el hombre?

– El Blasquito hace lo que quieren las onces.

– Es menester mucho tiempo para ir en Tor Bay?

– Das ist gut.

– Jetzt gehe ich.

– Meinetwegen.

– Sagt mir, ob der Passagier will, daß Blasquito ihn anderswohin als nach Portland oder nach Tor Bay bringt?

– Das hängt davon ab, ob er Quadrouples 5 bekommt.

– Wird Blasquito thun, was der Mann haben will?

– Blasquito wird thun, was die Quadrouples haben wollen.

– Braucht man lange Zeit, um nach Tor Bay zu gelangen?

– Como quiere el viento.

– Ocho horas?

– Menos, o mas.

– El Blasquito obedeîera al pasagero?

– Si le obedeie el mar a el Blasquito.

– Bien pagado sera.

– El oro es el oro. El viento es el viento.

– Mucho.

– El hombre hace lo que puede con el oro. Dios con el viento hace lo que quiere.

– Wie es dem Winde gefällt.

– Acht Stunden?

– Weniger oder mehr.

– Wird Blasquito seinem Passagier gehorchen?

– Wenn das Meer dem Blasquito gehorcht.

– Er soll gut bezahlt werden.

– Gold ist Gold. Wind ist Wind.

– Das ist richtig.

– Der Mensch macht mit dem Geld, was er kann. Gott macht mit dem Wind, was er will.

– Aqui sera viernes el que desea marcharse con Blasquito.

– Pues.

– A qual momento Ilega Blasquito?

– A lo noche. A la noche se Ilega, a la noche se marcha. Tememos una muger quien se Ilama el mar, y una hermana quien se Ilama la noche. La muger puede faltar, la hermana no.

– Todo dicho esta. Abour, hombres.

– Buenas tardes. Un golpe de aquardiente?

– Gracias.

– Der Mann, der mit Blasquito zu reisen wünscht, wird am Freitag hier sein.

– Gut.

– Um welche Zeit kommt Blasquito an?

– In der Nacht. Man kommt hier in der Nacht an, man reist in der Nacht ab. Unsere Frau heißt das Meer, unsere Schwester die Nacht. Die Frau täuscht zuweilen, die Schwester niemals.

– Gute Nacht. Wollt Ihr nicht einen Schluck Branntwein?

– Ich danke.

– Es mejor que xarope.

– Tengo vuestra palabra.

– Mi nombre es Pundonor.

– Sea usted con Dios.

– Ereis gentleman y soy caballero.

– Er ist besser als Syrup.

– Ich habe Euer Wort.

– Mein Name ist so gut wie ein Ehrenwort.

– Lebt wohl.

– Ihr seid ein Gentleman, ich bin ein Cavalier.

Es war klar, daß nur Teufel so sprechen konnten. Die Kinder hörten nicht weiter zu und liefen dieses Mal allen Ernstes davon. Der kleine Franzose hatte sich endlich überzeugt, daß es wirkliche Gespenster waren, und er lief nun schneller als die Andern.

An dem Dienstag, welcher auf diesen Sonnabend folgte, kam Sieur Clubin mit der Durande wieder, wie gewöhnlich nach St. Malo.

Der Dreimaster Tamaulipas lag noch immer auf der Rhede.

Sieur Clubin fragte, in Dampfwolken gehüllt, den Wirth des Gasthauses am Hafen:

– Nun, wann wird der Taumalipas in See gehen?

– Uebermorgen, am Donnerstag, antwortete der Wirth.

An jenem Abend speiste Sieur Clubin an dem Tische der Küstenwächter zu Nacht und entfernte sich gegen seine Gewohnheit nach dem Nachtessen. Er versäumte es deshalb, auf das Bureau der Durande zu gehen. Die Ladung der Durande schien diesmal für den Capitän Nebensache zu sein; denn er traf fast gar keine Vorbereitungen. Das war bei einem sonst so pünktlichen Mann wie Sieur Clubin ein merkwürdiger Fall.

Er unterhielt sich einige Augenblicke mit seinem Freunde, dem Wechsler.

Zwei Stunden, nachdem auf der Noguette die Abendglocke geläutet wurde, kam er wieder. Die brasilianische Glocke läutet immer um zehn Uhr. Es war also Mitternacht.

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Sechstes Capitel. Die Herberge der Elenden.

Vor vierzig Jahren befand sich in St. Malo eine kleine Gasse, die man Coutanchez-Gäßchen nannte; dies Gäßchen existirt nicht mehr; es fiel als ein Opfer der Verschönerungen. Dieses Gäßchen bestand aus zwei Reihen hölzerner Häuser, die so dicht an einander gedrängt waren, daß zwischen den Gebäuden nur ein schmaler Raum für einen kleinen Bach blieb, welchen man die Straße nannte. Wer durch diese Straße ging und nicht in das Wasser treten wollte, mußte sich sehr in Acht nehmen, daß er sich nicht rechts und links an den eckigen Vorsprüngen der alten Baracken Kopf, Schulter und Ellenbogen zerstieß. Diese alten Baracken aus dem normännischen Mittelalter haben fast menschliche Physiognomien; der Gedanke an Hexen liegt sehr nahe. Ihre eingezogenen Stockwerke, ihre Ueberhänge, ihre scharfkantigen Schirmdächer und Eisengitter sehen fast aus wie Lippen, Kinn, Nase und Augenbrauen; die Dachlucke stellt ihr eines Auge vor; die Wände sind die warzenbesäeten runzligen Wangen. Diese garstigen alten Hexenfratzen stecken ihre Nase so dicht zusammen, als wollten sie sich zu einem schlimmen Streich verschwören. Die veralteten Worte: Halsabschneider, Kehlabschneider, Gurgelabschneider erinnern an diese Architectur.

Das größte, berühmteste oder berüchtigteste unter den Häusern des Contanchez-Gäßchen war die sogenannte Jacressarde.

Die Jacressarde war das Obdach der Obdachlosen. In allen Städten und ganz besonders in Hafenstädten, giebt es Menschen, welche zu der sogenannten Hefe des Volkes gehören. Es sind dies Tagediebe, Spitzbuben, Gauner, Landstreicher, Abenteurer, Diener des Lasters, Arbeiter und Arbeiterinnen des Bösen, Schelme und Schelminnen mit zerrissenen Kleidern und zerfetzten Gewissen. Hier findet man die zum tiefsten Elend herabgesunkene Liederlichkeit, den leichtsinnigen Verschwender am Bettelstab, die schlecht belohnte Nichtswürdigkeit, die im Zweikampf mit der Gesellschaft Besiegten, frühere Schlemmer, die jetzt am Hungertuche nagen, die Elenden in dem beklagenswerthen Doppelsinne des Wortes. Das sind die Bewohner dieser Herberge. Die menschliche Vernunft ist dort bestialisch. Es ist der Kehrichthaufen der Seelen. Dieser Kehricht sammelt sich in einem Winkel an, der von Zeit zu Zeit durch den Besen der Polizei gesäubert wird. Der Schmutzwinkel von St. Malo war die Jacressarde.

Man konnte die Jacressarde eher einen Hof als ein Haus, eher einen Brunnen als einen Hof nennen, denn ein solcher nahm den größten Raum desselben ein. Die Jacressarde hatte keine Straßenseite; eine leere nackte Wand, von einer Thür durchbrochen, war ihre Façade.

Man drückte auf die Thürklinke, öffnete und befand sich im Hofraum.

In der Mitte desselben befand sich ein großes rundes Loch von Pflastersteinen eingerahmt; das war der Brunnen.

Die Straßenseite war wie gesagt nur eine hohe Mauer; alle Wohnungsräumlichkeiten dieses merkwürdigen Gebäudes befanden sich im Hofe.

Wer bei Nacht auf seine eigene Gefahr dies Haus betrat, vernahm zunächst ein von vielen Athemzügen verursachtes Geräusch. Wenn Mond und Sterne Licht genug gewährten, um die dunkeln Umrisse, die man erblickte, einigermaßen genauer zu erkennen, bot folgender Anblick sich dar:

Der Hof, der Brunnen, der Thür gegenüber eine Art Schoppen, wenn man eine offene wurmstichige Galerie, deren aus halb verfaulten Balken bestehende Decke von unregelmäßig auseinander stehenden steinernen Pfeilern gestützt wurde, so nennen konnte. In der Mitte der Brunnen; um den Brunnen herum auf einer Streu von Stroh, in Form eines Rosenkranzes, ein Kreis von Schuhsohlen, von heruntergetretenen Stiefeln, zerrissenes Fußzeug, aus dem vorne die Zehen heraussehen, nackte Männer-, Frauen und Kinderfüße.

Alle diese Füße schliefen. Jenseits dieser Füße entdeckt das Auge, sobald es sich erst ein wenig an das Halbdunkel dieser Galerie gewöhnt hat, die zu denselben gehörenden menschlichen Formen: schlafende Gesichter, langhingestreckte träge Leiber, Lumpenpack beiderlei Geschlechts, das wüste Durcheinander eines Kehrichthaufens, der durch irgend einen ungeschickten Zufall als ein menschliches Lager benutzt wird. Diese elende Schlafstelle stand Jedermann für den Miethszins von zwei Sous die Woche offen. Die Füße der Schläfer stießen an den Brunnen. In Gewitternächten strömte der Regen, im Winter fiel der Schnee auf die Körper der dort Gelagerten.

Und wer sind diese elenden Geschöpfe?

Unbekannte. Der Abend führt sie her, der anbrechende Tag führt sie wieder fort. Die menschliche Gesellschaft ist reich an solchen Wesen. Einige von ihnen schlichen sich am Morgen fort ohne zu bezahlen.

Die Meisten hatten den Tag über nichts gegessen. Hier schläft das Laster, die Verworfenheit, die Ansteckung, das Elend denselben Schlummer der Ermattung auf demselben Bett von Schmutz. Die Träume dieser Elenden halten gute Nachbarschaft; sie geben sich an diesem Ort ein grauenvolles Stelldichein. Da liegen sie in friedlicher Eintracht neben einander gebettet, die Müden, die Hinfälligen, die Berauschten, die Ausschweifenden, die armen Notleidenden, die ohne ein Stück Brod und ohne einen guten Gedanken ihren Tag verbracht. Wie viel Begierden und Gewissensbisse schlummern hinter den ermatteten feuchten Augenlidern dieser Hingestreckten; ihr Haar vermischt sich mit dem Kehricht. Die menschliche Fäulniß gährt in diesem Bottich. Das Verhängniß, eine Reise, der Zufall, die Nacht hat sie alle auf diesen Fleck zusammengeweht. Das Schicksal leerte hier die mit Abfall und Kehricht gefüllte Bütte aus. Wer da wollte, kam; wer da konnte, schlief; wer es wagte, sprach. Es war ein Ort des Flüsterns. Man war bemüht, sich und sein Geschick im Schlafe zu vergessen, da man sich nicht verlieren konnte. Was man vom Tode zu nehmen vermochte, das nahm man. Sie schlossen die Augen, um sich in die jeden Abend von Neuem beginnende Agonie zu versenken. Woher kamen sie? Aus der Gesellschaft, deren Elend, von der Woge hergetrieben, deren Abschaum sie waren.

Nicht Jeder, der Stroh suchte, fand es. Mehr als ein Nackter streckte sich auf dem Steinpflaster. Zusammengekauert legten sie sich nieder; gelähmt standen sie auf.

Der Brunnen ohne Brustwehr und Verschluß, stets offen, war dreißig Fuß tief. Der Regen fiel hinein, die Unreinigkeiten sickerten durch; alle Abflüsse vom Hofe drangen ein. Der Schöpfeimer für das Wasser stand daneben. Wer Durst hatte, trank. Wer das Leben satt hatte, ertränkte sich darin. Von dem Schlaf auf dem Kehrichthaufen schlüpfte man in den ewigen Schlaf. Im Jahre 1819 zog man ein vierzehnjähriges Kind ans dem Brunnen.

Um in diesem Hause nicht Gefahr zu laufen, mußte man »vom Bau« sein. Die Laien wurden mit scheelem Auge angesehen.

Kannten diese Elenden einander? Nein; sie witterten sich.

Eine junge, ziemlich hübsche Frau war die Wirthin der Herberge. Sie hatte ein hölzernes Bein, trug eine Haube mit Bändern, und wusch sich zuweilen mit dem Wasser des Brunnens.

Wenn der Tag anbrach, wurde der Hof leer; die Stamm-Gäste machten sich davon.

Es befanden sich auch ein Hahn und Hühner in diesem Hofe, die den ganzen Tag im Kehricht kratzten. Auf einem quer über einigen Pfählen liegenden Balken, der den Anblick eines Galgens bot, (ein an diesem Ort nicht übel angebrachtes Bild) trocknete zuweilen die junge Frau mit dem hölzernen Bein ein vom Regen durchnäßtes und von Straßenkoth beschmutztes seidenes Kleid.

Ueber dem Schoppen, und wie dieser selbst, den Hof umschließend, befand sich ein Stockwerk, und über diesem ein Speicher. Eine wurmstichige hölzerne Treppe führte in dieses obere Stockwerk; und von dort aus führte eine Leiter auf den Speicher. Diese wackelige Leiter ward sehr oft, und in sehr geräuschvoller Weise von der hinkenden Frau mit dem hölzernen Bein erstiegen.

Die wechselnden, für eine Woche oder nur für eine Nacht zahlenden Miether wohnten im Hofe, die festen Miether im Hause.

Die Fenster waren ohne Rahmen; Gesimse ohne Thüren, Rauchfänge ohne Heerd. Ein Zimmer war mit dem andern nur durch ein länglich viereckiges Loch, das einst eine Thür gewesen war, verbunden. Der Mörtel war von den Wänden gefallen und bedeckte den Boden. Man wußte nicht, wie das Haus noch zusammenhielt. Bei jedem Windstoß zitterte es. Den durch langjährigen Gebrauch glatt gewordenen Treppenstufen konnte man sich nicht ohne Gefahr anvertrauen. Der Winter drang in das alte Gemäuer, wie das Wasser in einen Schwamm. Die Fülle von Spinnen sicherte gegen einen plötzlichen Einsturz. Zwei oder drei mit Löchern reich versehene Strohsäcke, aus welchen mehr Asche als Stroh hervorsah, füllten die Winkel der Stuben aus; sonst befanden sich außer einigen Krügen und Schüsseln, die zu verschiedenen Zwecken dienten, gar keine Geräthschaften darin. Es herrschte ein süßlicher, widerwärtiger Geruch.

Von den Fenstern hatte man die Aussicht auf den Hof. Diese Aussicht glich der auf einen Karren voll Unrath. Die Dinge, um nicht zu sagen die Menschen, welche sich daselbst im Schlamme wälzten, welche dort verfaulten und verschimmelten, sind nicht zu beschreiben. Alle Ueberreste hielten dort gute Kameradschaft; der Boden war wie besäet von Fetzen und Abfällen aller Art.

Aus der wechselnden Einquartierung im Hofe beherbergte die Jacressarde drei feste Miether: einen Kohlenbrenner, einen Lumpensammler und einen Goldmacher. Der Kohlenbrenner und der Lumpensammler hatten zwei Strohsäcke im ersten Stocke inne; der Goldmacher, ein Chemiker, wohnte auf dem Boden, der auch, man weiß nicht warum – die Dachstube genannt wurde. In welchem Winkel die Frau schlief, wußte man nicht. Der Goldmacher war ein wenig Dichter. Er bewohnte im Dachstuhl, unter den Ziegeln, eine Kammer, welche eine schmale Dachluke und einen großen steinernen Kamin hatte, durch den der Wind heulte; die Luke war in Ermangelung von Fensterscheiben mit einem alten Stück Eisenblech nothdürftig zugenagelt, welches dem Tageslicht, aber nicht der Kälte den Eingang verwehrte. Der Kohlenbrenner zahlte von Zeit zu Zeit mit einem Sack voll Kohlen. Der Lumpensammler wöchentlich ein Mäßchen Getreide für die Hühner; der Goldmacher zahlte gar nicht. Statt dessen steckte er das Haus in Brand. Er hatte das wenige vorhandene Holz unter seinem Schmelztiegel verbrannt; jetzt zog er schon die Latten aus der Mauer, um seinen Goldtopf damit zu heizen. Ueber dem Lager des Lumpensammlers sah man zwei Reihen mit Kreide geschriebener Ziffern: eine Reihe mit 3, die andere mit 5 bezeichnet. Der Lumpensammler vergrößerte dieselben in jeder Woche durch Hinzufügung einer neuen 3 oder neuen 5, je nachdem das Maß Getreide, welches er für seiner Wirthin Hühner erstanden, drei Liards oder fünf Centimes kostete. Der Schmelztopf des »Chemikers« war eine alte zerplatzte Bombe, die er zum Tigel promovirt hatte, in welchem er seine Ingredienzien vermischte. Die Umwandlung derselben in Gold nahm ihn ganz in Anspruch. Bisweilen sprach er davon mit den Nacktfüßen im Hofe, die ihn auslachten. Er sagte dann: » Diese Leute sind voller Vorurtheile.« Er war entschlossen, nicht eher zu sterben, als bis es ihm gelungen wäre, der Wissenschaft mit dem Stein der Weisen die Fenster einzuwerfen. Sein Ofen fraß viel Holz. Das Treppengeländer war bereits verschwunden. Das ganze Haus ging nach und nach in Feuer auf. Die Wirthin sagte ihm: »Ihr werdet mir nur noch das Gehäuse lassen!«

Er entwaffnete sie durch einige Verse.

Das war die Jacressarde.

Ein gnomenartiges, mit einem Kropf behaftetes, und einen Besen in der Hand haltendes Geschöpf, welches eben so wohl ein zwölfjähriger Knabe als ein sechszigjähriger Greis sein konnte, war Hausknecht in dieser Herberge.

Die Stammgäste traten durch die Hofthür in das Haus ein, das Publikum durch den Laden. Was war das für ein Laden? Die hohe Mauer, welche die Straßenfaçade vorstellte, war von einem winkeligen Loch durchbrochen, das zugleich als Thür und als Fenster diente, dieses einzige mit einem wirklich festen Verschluß, mit Rahmen, Scheiben, Riegeln und Angeln versehene Fenster hatte sogar auch Läden, dieses merkwürdige Thür-Fenster führte in eine Art von Bretterverschlag, welcher dicht an den Hofraum grenzte und durch eine Hinterthür mit demselben in Verbindung stand. Das war der Laden. Aus der Thür desselben war die mit Kohle gezeichnete Inschrift zu lesen: » Raritäten-Cabinet.« Die Raritäten wurden den Besuchern des Cabinetes auf drei zum Gestell arrangirten und mit Glasscheiben verschlossenen Brettern zur Schau gestellt. Dieser kostbare Raritätenkasten enthielt einige Porzellantöpfe ohne Henkel, einen chinesischen Sonnenschirm, den goldene Figuren und viele Löcher zierten, und welchen Niemand weder aufspannen noch schließen konnte; einige unförmliche Sand- und Eisensteine, verschiedene eingedrückte Männer- und Frauenhüte, zwei oder drei Muscheln, mehrere sonderbar geformte alte Hornknöpfe, eine Schnupftabaksdose mit dem Bildniß der unglücklichen Marie Antoinette, und einen einzelnen Band eines umfangreichen Werkes über Algebra von Boisbertrand. Diese reichhaltige Sammlung der verschiedensten Seltenheiten barg der Raritätenkasten in seinen gläsernen Wänden. Der Laden stand durch eine Hinterthür mit den inneren Räumen des Hauses in Verbindung. Es stand in demselben ein Tisch und ein Schemel. Die Frau mit dem hölzernen Bein hatte die Aufsicht daselbst und leitete das Geschäft.

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Siebentes Capitel. Ein nächtlicher Besuch im Raritäten-Cabinet.

Clubin war am Dienstag den ganzen Abend nicht in das Wirthshaus gekommen. Er kam auch am Mittwoch nicht.

An diesem Abend, um die Zeit der Dämmerung begaben sich zwei Männer in das Contanchez-Gäßchen; sie blieben vor der Jacressarde stehen. Der Eine von ihnen klopfte an das Fenster. Die Thür wurde geöffnet; sie traten ein. Ein Licht stand auf dem Tisch. Die Frau mit dem hölzernen Bein empfing sie mit einem Lächeln, dessen sich nur Standespersonen, das heißt Bürger von St. Malo zu erfreuen hatten.

Diese beiden Männer waren in der That Bürger.

Derjenige, welcher geklopft hatte, sagte:

– Guten Abend, Frau Wirthin; ich komme wegen der bewußten Sache.

Die Frau mit dem hölzernen Bein lächelte von Neuem und entfernte sich darauf durch die in den Hof führende Hinterthür.

Es währte nicht lange, so öffnete sich diese Thür wieder und ein Mann trat in den Laden, welcher unter seiner Blouse etwas zu verbergen schien; seine Haare und Kleider waren ganz besäet von Strohhalmen; sein Blick hatte etwas Starres, wie der eines Menschen, welcher aus dem Schlaf geweckt worden ist.

Er trat näher. Man betrachtete sich gegenseitig. Der Mann mit der Blouse sah etwas bestürzt aus. Er sagte:

– Seid Ihr der Waffenschmied?

Der Gefragte antwortete: Ja. Seid Ihr der Pariser?

– Genannt »Rothhaut.« Ja.

– Zeigt her.

– Hier.

Der Mann zog unter seiner Blouse eine Waffe hervor, welche zu seiner Zeit in Europa noch äußerst selten war, nämlich einen Revolver.

Der Revolver war neu und glänzte. Die beiden Herren untersuchten ihn. Derjenige, welcher das Haus zu kennen schien und den der Pariser als den Waffenschmied bezeichnet hatte, ließ den Mechanismus spielen. Dann reichte er das Ding seinem Begleiter, der fremd an diesem Orte zu sein schien und sich immer mit dem Rücken gegen das Licht hielt.

Der Waffenschmied fragte: Wie viel?

Der Mann in der Blouse antwortete: Ich komme damit aus Amerika. Andere schleppen Affen, Papageien, wilde Bestien mit nach Frankreich, als ob die Franzosen Wilde wären. Ich führe dies ein. Es ist eine nützliche Erfindung.

– Wie viel? wiederholte der Waffenschmied.

– Es ist eine Pistole mit einem Drehapparat –

– Wie viel?

– Paff! ein erster Schuß – Paff! ein zweiter – ein dritter – Paff! ein ganzer Hagel! Das macht Arbeit!

– Wie viel?

– Er hat sechs Läufe.

– Nun ja! Also wie viel?

– Sechs Läufe, macht sechs Louis.

– Wollt Ihr fünf Louis?

– Unmöglich. Jede Kugel einen Louis, das ist der Preis.

– Wollen wir ein Geschäft machen? Laßt uns vernünftig reden.

– Ich habe Ihnen den rechten Preis gesagt. Sehen Sie sich das Ding nur an, Herr Büchsenschmied.

– Ich habe es untersucht.

– Die Schraube dreht sich wie Talleyrand. Das ist eine Schraube, so beweglich wie eine Wetterfahne. Ein wahres Juwel!

– Ich hab’s gesehen.

– Die Läufe sind spanisches Fabrikat.

– Ich hab’s bemerkt.

– Er ist damascirt. Sehen Sie nur, wie das gearbeitet ist.

– Ich sehe es wohl.

– Das ist eine große Seltenheit, mein Herr.

– Seid Ihr denn auch vom Handwerk?

– Ich bin von allen Handwerken.

– Sagen wir also: fünf Louis. Seid Ihr’s zufrieden?

– Ich erlaube mir die Bemerkung, daß ich die Ehre hatte zu sagen, sechs Louis.

Der Waffenschmied sagte in gedämpften Tone zu dem Blousenmann:

– Hört, Pariser, laßt Euch die gute Gelegenheit nicht entgehen. Schlagt das Ding los. Für Leute wie Ihr seid, ist so eine Waffe ja doch nichts. So ein Ding lenkt blos die Aufmerksamkeit auf Euch.

– Ihr mögt Recht haben, sagte der Pariser. Für einen soliden Bürger paßt’s besser.

– Wollt Ihr fünf Louis?

– Nein, sechs. Einen Louis jeder Lauf.

– Gut also, sechs Napoleons.

– Ich fordre sechs Louis.

– So seid Ihr also kein Bonapartist? Ihr zieht einen Louis einem Napoleon vor?

Der Pariser, genannt Rothhaut, lächelte.

– Napoleon ist mehr, sagte er, doch Louis gilt mehr.

– Sechs Napoleons.

– Sechs Louis. Das macht für mich einen Unterschied von 24 Francs.

– Dann wird nichts aus unserem Geschäft.

– Wie Ihr wollt. Dann behalte ich meine Waffe.

– Behaltet sie.

– Ich mich handeln lassen? Donnerwetter! Man soll mir nicht nachsagen, daß ich eine solche Erfindung um ein Butterbrod losgeschlagen habe!

– Dann, gute Nacht.

– Das ist ein Fortschritt über die Pistole hinaus, die die Indianer Nortay-u-Hah nennen.

– Fünf Louis baar ist Geld –

– Nortay-u-Hah heißt so viel wie kurze Flinte. Die Wenigsten wissen das.

– Wollt Ihr fünf Louis und ein Thälerchen Trinkgeld?

– Herr, ich habe gesagt: sechs.

Der Mann, welcher bisher dem Licht den Rücken gekehrt und der sich während dieses Gesprächs, ohne ein Wort zu reden, mit der Untersuchung des Mechanismus beschäftigt hatte, trat nun an den Waffenschmied heran und flüsterte ihm leise in’s Ohr:

– Ist das Ding gut?

– Vortrefflich.

– Dann gebe ich die sechs Louis.

Fünf Minuten später, nachdem der Pariser das Gold eingestrichen und in einer geheimen Tasche unter der Achselhöhle seiner Blouse verborgen, und der Käufer des Revolvers diesen in die Tasche seines Beinkleides gesteckt hatte, entfernte sich der Letztere mit seinem Begleiter durch das Gäßchen.

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Achtes Capitel. Ein tragisches Ereigniß.

Am nächsten Tag – es war am Donnerstag – geschah nahe bei St. Malo, bei dem Vorsprung von Decollé, an einer Stelle, wo das Gestade steil und das Meer tief ist, etwas sehr Tragisches.

Der Gipfel des Decollé ist eine ziemlich breite Fläche, die ganz besät mit kleinen Felsblöcken ist, welche kolossalen Pflastersteinen gleichen; ein dichtes kurzes Gras sproßt in den Zwischenräumen. Dieser steile Abhang erhebt sich sechszig Fuß hoch über dem Meeresspiegel. Eine natürliche Treppe von kleineren Granit-Felsblöcken gebildet, führt bis zum Gipfel hinauf. Diese Treppe bietet große Schwierigkeiten; es gehören Riesenschritte oder Clown-Sprünge dazu, sie zu ersteigen.

Es mochte um die fünfte Abendstunde sein, als ein Mann, in einen weiten Uniform-Mantel gehüllt, dessen scharfwinkelige Falten verriethen, daß er Waffen darunter trug, am äußersten Rande dieses Abhanges stand. Er hatte ein Fernrohr in der Hand, und beobachtete mit großer Aufmerksamkeit die Bewegungen eines Schiffes, welches schon seit einer Stunde den Hafen von St. Malo verlassen hatte, doch anstatt die hohe See zu gewinnen, sich hinter den Dünen gleichsam versteckt hielt. Es war ein Dreimaster. Es hatte nicht Anker geworfen, vielleicht weil der Meeresgrund an dieser Stelle es nicht gestattete, sondern sich darauf beschränkt, aufzubrassen.

Der Mann, welchen sein Uniform-Mantel als einen von der Küstenwache bezeichnete, verlor das Schiff nicht einen Augenblick aus den Augen.

Es war noch heller Tag; besonders auf dem Meere und auf dem hohen Felsgestade; unten am Fuße des Felsens begann es allmälig zu dunkeln.

Der Küstenwächter war so vertieft in seine Beschäftigung, daß er weder rück- noch vorwärts sah, sondern seine ganze Aufmerksamkeit auf den Gegenstand seiner Beobachtung richtete. Er bemerkte daher nicht, daß sich auf der Felsentreppe, welcher er den Rücken zuwandte, Etwas bewegte. Hinter einer der Krümmungen jener Treppe befand sich ein Mann, der jedenfalls schon vor der Ankunft des Küstenwächters an dieser Stelle versteckt gewesen war.

Von Zeit zu Zeit trat derselbe aus seinem Versteck hervor, und beobachtete den Beobachter auf der Zinne des Felsens. Dieser versteckte Späher trug einen breitkrempigen amerikanischen Hut, sein Aeußeres verrieth einen Quäker. Es war derselbe, welchen Sieur Clubin zehn Tage vorher zwischen den Felsen der kleinen Bucht mit dem Capitain Zuela sprechen sah.

Plötzlich schien sich die Aufmerksamkeit des Küstenwächters zu verdoppeln. Er putzte schnell mit dem Tuch seines Aermels das Glas seines Fernrohrs, und richtete dasselbe unverwandt auf den Dreimaster.

Ein schwarzer Punkt hatte sich von diesem abgelöst; dieser schwarze Punkt, ähnlich einer Ameise auf dem Meere, war ein Kahn. Einige Matrosen waren in dieses kleine Fahrzeug gestiegen, und ruderten mit aller Kraft dem Lande zu.

Die Aufmerksamkeit des Küstenwächters hatte den höchsten Grad erreicht, als plötzlich der kleine Nachen eine schräge Richtung nahm, und sich dem äußersten Rande des Felsvorsprungs näherte.

In diesem Augenblick erschien der Quäker in seiner ganzen Länge oben auf der Treppe. Der Wächter sah ihn nicht. Mit herabhängenden Armen, geballten Fäusten und mit dem Blick eines Jägers, welcher zielt, betrachtete dieser Mann den Rücken des Küstenwächters. Nur vier Schritte war er von ihm entfernt. Er that behutsam einen Schritt vorwärts, dann stand er still. Er that einen zweiten Schritt, dann blieb er wieder stehen. Er machte keine andere Bewegung als die des Gehens, sonst blieb sein ganzer Körper unbeweglich wie eine Bildsäule. Sein Fuß trat geräuschlos auf das Gras, jetzt that er den dritten Schritt und blieb wiederum stehen. Jetzt stand er dicht hinter dem Küstenwächter, der noch immer unbeweglich durch sein Fernrohr blickte. Langsam erhob der Mann jetzt seine beiden fest geschlossenen Hände bis zu der Höhe seiner Achseln, ließ dann plötzlich den Vorderarm fallen, und seine Fäuste trafen, wie aus der Pistole geschossen, die Schultern des Küstenwächters. Der Stoß war furchtbar.

Der Küstenwächter hatte nicht Zeit zu schreien. Er fiel kopfüber den Abhang hinunter in’s Meer. Einen Augenblick sah man noch seine beiden Sohlen. Es war, als wenn ein Stein in das Wasser fiel. Die Wogen schlossen sich über ihm.

Zwei oder drei Kreise bildeten sich in dem dunkeln Wasser.

Das Einzige, was von ihm übrig blieb, war das Fernrohr, welches seinen Händen entfallen, im Gras am Boden lag.

Der Quäker beugte sich über den Rand des Abhanges, beobachtete, wie die Kreise in den Fluthen sich allmälig verloren, wartete noch einige Minuten, murmelte dann, sich wieder aufrichtend, halb singend in den Bart:

Einer von der Polizei
Brach sich das Genick entzwei.

Er beugte sich noch einmal hinab. Es war nichts mehr zu sehen. Nur auf der Stelle, wo der Küstenwächter versunken war, zeigte sich jetzt auf der Oberfläche des Wassers eine bräunliche Färbung. Wahrscheinlich hatte sich der in das Meer Gestürzte den Schädel an irgend einer Klippe unter dem Wasser zerschmettert, und es war sein heraufsteigendes Blut, das die Wogen an jener Stelle dunkler färbte. Als der Quäker die rothe Lache bemerkte, sang er:

Und vor einer Viertelstund
War der Mann noch …

Er endigte nicht.

Er vernahm hinter sich eine sehr sanfte Stimme, die ihn anredete:

– Ah! Ihr seid es, Rantaine! Guten Abend! Ihr habt soeben einen Mann getödtet. Er wandte sich um. Fünfzehn Schritte hinter ihm, am Ausgang einer von Felsen gebildeten Grotte stand ein kleiner Mann, der einen Revolver in der Hand hielt.

Er antwortete: Wie Ihr seht. Guten Abend, Sieur Clubin.

Der kleine Mann begann zu zittern.

– Ihr kennt mich?

– Habt Ihr mich doch auch erkannt! – erwiederte Rantaine. Inzwischen vernahm man vom Meere her das Geräusch von Ruderschlägen. Es war das Boot, welches der Küstenwächter beobachtet hatte, und das sich jetzt näherte.

Sieur Clubin sagte mit leiser Stimme, als spräche er mit sich selber:

– Es ging schnell!

– Was steht Euch zu Diensten? fragte Rantaine.

– Nicht viel. Es sind jetzt gerade zehn Jahre, daß ich Euch nicht gesehen habe. Ihr müßt gute Geschäfte gemacht haben. Wie geht es Euch?

– Gut, erwiederte Rantaine. Und Euch?

– Sehr gut, antwortete Sieur Clubin.

Rantaine ging einen Schritt gegen Sieur Clubin vor. Er vernahm ein leises Knacken. Sieur Clubin spannte den Hahn seines Revolvers.

– Rantaine, sagte er, wir sind fünfzehn Schritte auseinander. Das ist eine gute Entfernung. Bleibt, wo Ihr seid.

– Ach was! Was wollt Ihr von mir?

– Ich will ein wenig mit Euch plaudern.

Rantaine rührte sich nicht von der Stelle.

Sieur Clubin fuhr fort:

– Ihr habt so eben einen Küstenwächter getödtet.

Rantaine lüftete seinen Hut und antwortete: Ihr habt mir bereits die Ehre erwiesen, es mir zu sagen.

– Ich hatte mich nicht ganz deutlich ausgedrückt. Ich hatte gesagt: einen Mann. Jetzt sage ich: einen Küstenwächter. Es war No. 619. Er war Familienvater, und hinterläßt eine Frau und fünf Kinder.

– Das kann sein, sagte Rantaine.

Es folgte eine unmerkliche Pause.

– Die Küstenwächter sind auserlesene Leute, sagte Clubin. Es sind fast lauter ehemalige Seeleute.

– Ich habe bemerkt, sagte Rantaine, daß in der Regel eine Frau und fünf Kinder zurückbleiben.

– Sieur Clubin fuhr fort: Rathet einmal, was dieser Revolver gekostet hat.

– Es ist eine schmucke Waffe, erwiederte Rantaine.

– Wie hoch schätzt Ihr ihn?

– Ich schätze ihn hoch.

– Er hat mich hundert und vier und vierzig Francs gekostet.

– Ihr hättet das Ding, sagte Rantaine, in dem Waffenladen im Contanchez-Gäßchen kaufen sollen.

Clubin erwiederte:

– Er hat nicht geschrieen. Der Fall benimmt die Stimme.

– Sieur Clubin, wir werden diese Nacht eine Brise bekommen.

– Ich bin allein in das Geheimniß eingeweiht.

– Verkehrt Ihr noch immer in dem Wirthshaus am Hafen? fragte Rantaine.

– Ja. Es ist ganz gut dort.

– Ich erinnere mich, einmal vortreffliches Sauerkraut dort gegessen zu haben.

– Ihr müßt außerordentlich kräftig sein, Rantaine. Ihr habt ein paar Schultern! Ich möchte keinen Nasenstüber von Euch haben! Als ich zur Welt kam, war ich so gebrechlich, daß man nicht glaubte, mich am Leben zu erhalten.

– Es ist doch gelungen. Das ist ein Glück!

– Ja, ich verkehre noch immer in dem alten Wirthshaus am Hafen.

– Wißt Ihr auch, Sieur Clubin, warum ich Euch erkannt habe? Weil Ihr mich erkannt habt. Ich sagte mir: Das kann nur Clubin!

Er ging einen Schritt vor.

– Stellt Euch wieder dahin, wo Ihr gestanden habt, Rantaine.

Rantaine wich zurück, und sagte leise für sich:

– Vor so einer Maschine wird man wie ein Kind.

Sieur Clubin fuhr fort:

– Orientiren wir uns. Wir haben zur Rechten, ungefähr dreihundert Schritte von hier, nach der Seite von St. Enogat einen andern Küstenwächter, Nr. 618, der noch lebendig ist, und zur Linken, nach der Seite von St. Lunaire eine Zollwache. Das macht sieben bewaffnete Männer, die in fünf Minuten hier sein können. Der Felsen wird umstellt, der Engpaß bewacht, es ist nicht möglich zu entfliehen. Am Fuß des Abhangs ist eine Leiche.

Rantaine warf einen Seitenblick auf den Revolver.

– Wie Ihr sagt, Rantaine, es ist eine schmucke Waffe. Vielleicht ist er nur mit Pulver geladen. Gleichviel; ein Schuß genügt, um die bewaffnete Macht herbeizurufen. Ich habe sechs Schüsse darin.

Das regelmäßige Geräusch der Ruderschläge wurde immer vernehmbarer; das Boot war nicht mehr fern.

Der große Mann fixirte den Kleinen mit einem eigenthümlichen Blick.

Sieur Clubin’s Stimme wurde immer ruhiger und sanfter.

– Rantaine, sagte er, wenn die Männer in dem Boot, das sogleich anlegen wird, wüßten, was Ihr so eben gethan habt, würden sie den Andern hülfreiche Hand leisten, Euch fest zu nehmen. Ihr bezahlt dem Capitain Zuela zehn tausend Francs für die Ueberfahrt. Beiläufig gesagt, hättet Ihr es billiger haben können, wenn Ihr Euch an die Schmuggler von Plainmont gewandt hättet; aber diese hätten Euch nur bis England gebracht, und außerdem könnt Ihr nicht wagen nach Guernesey zu gehen, wo man die Ehre hat Euch zu kennen. Kommen wir also auf die Sachlage zurück. Wenn ich Feuer gebe, so werdet Ihr festgenommen, Ihr bezahlt dem Zuela dafür, daß er Euch zur Flucht verhilft, zehn tausend Francs. Fünf tausend habt Ihr ihm schon im Voraus gegeben. Zuela könnte die fünf tausend Francs behalten, und sich damit aus dem Staube machen. So steht’s! Rantaine, Ihr habt eine gute Maske gewählt, dieser Hut, dieser närrische Anzug, diese Gamaschen machen Euch völlig unkenntlich. Ihr habt nur noch die Brille vergessen. Ihr habt wohl gethan, Euch einen Backenbart wachsen zu lassen.

Rantaine lächelte. Dieses Lächeln glich ziemlich einem Grinsen.

Clubin fuhr fort:

– Rantaine, Ihr tragt amerikanische Beinkleider; mit doppelten Tragbändern. In dem einen dieser Tragbänder befindet sich Eure Uhr. Ihr mögt sie behalten.

– Danke, Sieur Clubin!

– In dem andern ist eine kleine eiserne Dose, welche sich vermittelst einer Feder öffnet und schließt. Es ist eine alte Matrosen-Tabaksdose. Zieht sie aus Eurem Tragband hervor und werft sie mir zu.

– Das ist ja ein Diebstahl!

– Ich hindere Euch nicht, die Wache zu rufen. Indem er das sagte, sah Clubin ihm fest in’s Auge.

– Hört Mess Clubin …, sagte Rantaine, indem er einen Schritt vorwärts that und Clubin seine offene Hand entgegenstreckte.

Mess war eine Schmeichelei.

– Bleibt wo Ihr seid, Rantaine!

– Mess Clubin, verständigen wir uns. Ich biete Euch die Hälfte.

– Sieur Clubin verschränkte seine Arme so, daß der blanke Lauf seines Revolvers hervorblitzte.

– Rantaine, wofür haltet Ihr mich? Ich bin ein Ehrenmann.

Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: Ich muß das Ganze haben, Rantaine.

Rantaine murmelte zwischen den Zähnen: Der Kerl ist ein wahrer Seeräuber!

Clubin’s Augen leuchteten auf, seine Stimme wurde klar und schneidend wie scharf geschliffener Stahl.

Er rief:

– Ich sehe, Ihr seid im Irrthum. Ihr heißet: Diebstahl. Ich heiße: Wiedererstattung. Rantaine, hört mich an. Vor zehn Jahren habt Ihr bei Nacht und Nebel Guernesey verlassen. Von den hundert tausend Francs, welche Ihr damals mitnahmt, waren nur fünfzig tausend Euer Eigenthum. Die andern fünfzig tausend habt Ihr Eurem Wohlthäter und Geschäftsgenossen, dem biedern vortrefflichen Mess Lethierry gestohlen. Diese fünfzig tausend Francs mit zehnjährigen Zinsen, das macht achtzig tausend sechs hundert und sechszig Francs und sechsundsechszig Centimes. Gestern wart Ihr bei einem Wechsler. Ich will ihn Euch nennen; er heißt Rebuchet und wohnt in der Straße St. Vincent. Ihr habt ihm sechs und siebenzig tausend Francs in französischen Banknoten bezahlt und erhieltet dafür von ihm drei englische Tausend-Pfund-Noten. Diese drei englischen Banknoten verwahrt Ihr in der eisernen Dose und die eiserne Dose in Eurem rechten Trageband. Diese drei Banknoten betragen fünf und siebenzig tausend Francs. Im Namen Mess Lethierry’s will ich mich damit begnügen. Ich reise Morgen nach Guernesey, und will sie ihm überbringen. Rantaine, der Dreimaster da unten ist der Tamaulipas. Ihr habt in voriger Woche Eure Kisten und Kasten zwischen dem Gepäck der Mannschaft dort untergebracht. Ihr wollt Frankreich verlassen, und Ihr habt Eure Gründe dazu. Ihr geht nach Arequipa. Das Boot kommt, Euch abzuholen. Ihr erwartet es hier. Von mir hängt es ab, Euch fest zu halten, oder reisen zu lassen. Genug der Worte. Werft mir die eiserne Dose zu.

Rantaine öffnete sein Tragband, zog eine kleine Dose hervor und warf sie Clubin zu. Es war die eiserne Dose. Sie rollte zu Clubin’s Füßen.

Clubin bückte sich danach, ohne den Kopf zu neigen, und hob, seine zwei Augen und seine sechs Revolverläufe fest auf Rantaine gerichtet, mit der Linken die Dose auf.

Dann rief er:

– Kehrt mir den Rücken, Freund!

Rantaine gehorchte.

Clubin schob den Revolver unter den linken Arm und drückte auf die Feder der Dose. Sie sprang auf.

In der Dose lagen die drei Tausend-Pfund-Noten und eine Zehn-Pfund-Note.

Er faltete die drei Tausend-Pfund-Noten wieder zusammen, legte sie in die Dose, schloß dieselbe und steckte sie in seine Tasche.

Dann nahm er einen Kieselstein von der Erde, wickelte die Zehn-Pfund-Note um denselben und sagte:

– Kehrt Euch wieder um!

Rantaine that es.

Sieur Clubin sprach:

– Ich habe Euch gesagt, daß ich mich mit den drei Tausend-Pfund-Noten begnügen würde. Nehmt diese Zehn-Pfund-Note zurück.

Dabei warf er die Note mit dem Kieselstein Rantaine zu.

Rantaine schleuderte Beides mit einem Fußtritt in’s Meer.

– Ganz nach Belieben! rief Clubin. Aber Ihr müßt sehr reich sein. Das beruhigt mich.

Das Geräusch der Ruderschläge, welche während dieses Gespräches der beiden Männer immer vernehmbarer geworden war, hörte plötzlich auf. Das Boot hatte am Fuße des Abhangs angelegt.

– Euer Fiacre ist unten, Ihr könnt abreisen, Rantaine.

Rantaine wandte sich nach der Treppe und stieg hinab. Clubin näherte sich vorsichtig dem Rand des Abhangs, und mit vorgebeugtem Haupte sah er ihn hinabsteigen. Das Boot hatte auf derselben Stelle angelegt, wo der Küstenwächter hinabgestürzt war.

Als Clubin Rantaine hinunterklettern sah, murmelte er leise vor sich hin:

– Arme Nummer Hundertundneunzehn! – Er glaubte sich allein. Rantaine glaubte, zu Zweien zu sein. Ich allein wußte, daß wir unser Drei waren.

Sein Blick fiel auf das zu seinen Füßen liegende Fernrohr, das der Küstenwächter hatte fallen lassen. Er hob es auf.

Das Geräusch der Ruderschläge begann von Neuem. Rantaine war in das Fahrzeug gestiegen. Das Boot suchte das Weite.

Nach den ersten Ruderschlägen des sich von dem Abhang entfernenden Bootes sprang Rantaine plötzlich in die Höhe; seine Miene war entsetzlich, er ballte krampfhaft die Faust und kreischte wild: – Ha, der Teufel selber ist eine Canaille!

Einige Sekunden später hörte der auf dem Rand des Abhangs stehende und das Boot mit dem Fernglas beobachtende Clubin folgende mit starker Stimme vernehmlich gesprochenen Worte:

– Sieur Clubin, Ihr seid ein braver Mann; aber Ihr werdet es in der Ordnung finden, daß ich an Mess Lethierry schreibe, um ihn von der Sache in Kenntniß zu setzen. In dem Boot befindet sich ein Matrose, der zu der Mannschaft des Taumalipas gehört; er ist aus Guernesey, heißt Ahier-Tostevin, und wird mit dem Capitän Zuela bei dessen nächster Fahrt nach St. Malo zurückkommen. Er wird bezeugen, daß ich Euch die Summe von 3000 Pfund Sterling für Mess Lethierry eingehändigt habe.

Es war Rantaine’s Stimme.

Sieur Clubin war aber nicht der Mann der halben Maßregeln. Unbeweglich, das Auge unverwandt an das Fernglas geheftet, ganz so wie vor ihm der Küstenwächter, stand er auf derselben verhängnißvollen Stelle, und sah das Boot immer kleiner und kleiner werden. Er sah es verschwinden und wieder auftauchen; er sah, wie es sich dem Tamaulipas näherte, wie es anlegte; er sah endlich die kräftige Gestalt Rantaine’s auf dem Verdeck des Tamaulipas.

Als das Boot wieder eingebracht war, stach der Tamaulipas in See. Ein frischer Wind blähte die wieder aufgehißten Segel. Eine halbe Stunde später war der Tamaulipas nur noch ein kleiner schwarzer Punkt am Horizont, der sich in der immer tiefer werdenden Dämmerung bald ganz verlor.

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Neuntes Capitel. Der Briefkasten des Oceans.

An diesem Abend kam Sieur Clubin spät nach Hause. Eine der Ursachen seiner Verspätung war, daß er noch vor seiner Rückkehr ein Wirthshaus vor dem Dinan-Thor besucht hatte. Er kaufte in diesem entlegenen Hause. wo man ihn nicht kannte, eine Flasche Branntwein; dann stattete er der Durande noch einen Besuch ab, um sich zu überzeugen, ob für die Abfahrt am nächsten Morgen Alles bereit sei.

Als Sieur Clubin in das Wirthshaus am Hafen trat, fand er Niemanden als den Capitän Gertrais-Gaboureau in der Wirthsstube, der, sein Pfeifchen schmauchend, bei einem Schoppen saß.

Herr Gertrais-Gaboureau, der eben den Mund an den Rand seines Glases gesetzt hatte, winkte zwischen Schoppen und Rauchwolke mit den Augen Sieur Clubin einen Gruß zu.

Good bye, Capitain Clubin!

– Guten Abend, Capitain Gertrais!

– Nun ist der Tamaulipas ja abgesegelt.

– So? erwiederte Clubin; ich habe nicht darauf geachtet.

Herr Gertrais spuckte aus, und sagte:

– Zuela ist durchgerannt.

– Wann denn?

– Diesen Abend.

– Wohin geht er?

– Zum Teufel.

– Ohne Zweifel. Aber wohin?

– Nach Arequipa.

– Ich wußte nichts davon, erwiederte Clubin.

Er fügte hinzu:

– Ich gehe jetzt zu Bette.

Er zündete sein Licht an, ging nach der Thür, kehrte aber wieder zurück und sagte:

– Wart Ihr schon ein Mal in Arequipa, Capitän Gertrais?

– Ja, vor Jahren.

– Wo wird denn angelegt?

– Ueberall, wo man will. Aber der Tamaulipas wird nirgends anlegen.

Capitän Gertrais-Gaboureau klopfte die Asche seiner Pfeife auf den Rand eines Tellers aus, und fuhr fort:

Ihr erinnert Euch wohl des Wallfischfängers »das Trojanische Pferd,« und des Dreimasters Trentemouzin, die nach Cardiff segelten? Ich warnte Beide, nicht abzureisen, denn ich verstehe mich, wie Ihr wißt, ein wenig auf’s Wetter. Sie haben nicht auf mich gehört, und mußten’s büßen; sie sind in einem schönen Zustand wieder gekommen. Das »Trojanische Pferd« hatte Wasser geschluckt; es war mit Terpentin beladen. Man pumpte das Wasser mit sammt dem Terpentin heraus. Der Dreimaster lief in einem schauerlichen Zustand in den Hafen ein. Der Schiffsschnabel, der Ankerstock am Backbord, Alles zerbrochen; die Spiere des großen Vorstagsegels, die Bugsierthaue und die Krahnbalken, alles zum Teufel gegangen; sämmtliches Eisen am Bugsprit fehlte. Der Backbord hatte furchtbaren Leck. So geht es denen, die keinen guten Rath annehmen wollen.

Clubin hatte sein Licht auf den Tisch gestellt, und beschäftigte sich mit einigen Nadeln, die er bald aus seinem Rockkragen heraus zog, bald wieder hinein steckte.

– Sagtet Ihr nicht vorhin, Capitain Gertrais, der Tamaulipas würde nirgend anlegen?,

– Nein, er geht gerades Weges nach Chili.

– In diesem Fall würde er also unterwegs keine Nachrichten von sich geben können?

– Das habe ich nicht gesagt. Erstens kann er allen Schiffen, denen er begegnet, und die nach Europa gehen, Nachrichten mitgeben.

– Das ist wahr.

– Dann hat er auch noch den Briefkasten des Oceans.

– Den Briefkasten des Oceans? Was meint Ihr damit?

– Wie? Ihr kennt nicht den Briefkasten des Oceans?

– Nein.

– Wenn man die Magellanstraße passirt.

– Nun?

– Das ist eine Strecke, die keine vier Sous werth ist; überall Schnee, beständig Unwetter, Regen, Hagel und böse Winde.

– Und weiter?

– Wenn Ihr das Cap Monmouth umsegelt habt –

– Nun? Weiter!

– So kommt Ihr an das Cap Valentin –

– Weiter!

– Dann an das Cap Isidor –

– Weiter!

– Dann müßt Ihr das Vorgebirge Anna umsegeln.

– Gut. Aber was meintet Ihr mit dem Briefkasten des Oceans?

– Wir sind gleich da. – Berge zur Rechten, Berge zur Linken; überall Fettgänse und Sturmvögel; ein furchtbarer Ort! Tausend Heilige und tausend Affen! Ist das ein Lumpenpack! Wie das klappert! Hier braucht man dem Winde nicht mit Segeln zu Hülfe zu kommen; hier heißt es: aufgepaßt! Das Barkholz der Heckbalken in Acht genommen! Das große Segel wird hier mit dem Vorstagsegel vertauscht. Hu! Windstoß auf Windstoß! und dann manchmal vier, fünf, sechs Tage Windstille! Ihr bringt Charpie mit nach Hause, und wenn Ihr das schönste neue Spiel Segel mitgenommen habt. Das ist ein schöner Tanz! Der größte Dreimaster springt wie ein Floh auf den Wogen herum. Ich sah mit an, wie ein kleiner Schiffsjunge auf der englischen Brigg True-blue mit sammt dem Katerbaum zu allen fünf tausend Millionen Kreuz Donnerwettern fuhr. Wie ein Schmetterling flatterte er in der Luft. Ach, und diese Teufelsküste! Es giebt nichts Abschreckenderes, nichts Unwirthlicheres! Felsen so zackig als hätten sie Kinder ausgeschnitten. Aber das ist noch Nichts; kommt nur erst an den Port Famine, da ist es schlimmer als schlimm! Wogen so holperig wie Ihr noch niemals welche weder gesehen noch befahren habt! Eine wahre Hölle von einem Seestrich. Und an diesem schauerlichen Ort kommt Euch urplötzlich, Ihr wißt nicht wie, ein Ding vor die Augen, worauf mit roth gemalten Buchstaben: Post-Office zu lesen ist.

– Was soll das heißen, Capitain Gertrais?

– Das will ich Euch sagen, Capitain Clubin. Sobald ihr das Vorgebirge Anna umschifft habt, seht ihr auf einem Kiesel von hundert Fuß Höhe einen großen Stock. Es ist ein Pfosten, dem man ein Faß an den Hals gebunden. Dieses Faß ist der Briefkasten. Die Herren Engländer konnten es nicht unterlassen, ihr » PostOffice« darauf zu schreiben. In was mischen die sich nicht? Das ist die Oceanspost. Sie gehört nicht etwa dem Gentleman, dem König von England. Sie ist Gemeingut; sie gehört sämmtlichen Flaggen des Oceans. »Post-Office« ist das nicht fast chinesisch? Das ist ungefähr, als wenn der Teufel Euch urplötzlich eine Tasse Thee reichte.

– Wie aber wird es mit diesem Briefkasten gehalten?

– Nichts einfacher als das. Jedes vorüberfahrende Schiff expedirt sein Boot mit Depeschen. Die Schiffe, welche aus Amerika kommen, nehmen die Briefe mit, die für Europa bestimmt sind, und umgekehrt nehmen die Schiffe, welche aus Europa kommen, die Briefe für Amerika mit Jedes ausgesendete Boot wird von einem Officier befehligt; dieser legt das Briefpacket seines Schiffes in die Tonne, und nimmt dafür das Packet, welches er darin vorfindet. Ich nehme Eure Briefe mit nach Amerika, Ihr nehmt dafür die meinigen mit nach Europa, und umgekehrt. Nichts ist einfacher als das. Die Tonne ist durch eine Kette an dem Pfosten befestigt; sie ist durch einen festen Deckel wohl verwahrt, der aber sonst weder Schloß noch Riegel hat. Ihr seht also, Capitän, daß auch das Meer seinen Briefkasten hat, und Ihr könnt Euch versichert halten, daß die Briefe ankommen, die Ihr an Eure überseeischen Freunde schreibt, und daß auch die Eurer Freunde richtig an Eure Adresse gelangen.

– Das ist sehr sonderbar, murmelte träumerisch Sieur Clubin.

Nach Beendigung dieser seiner anstrengenden Rede sprach Capitän Gertrais-Gaboureau von Neuem seinem Schoppen zu.

– Wenn es dem Schuft Zuela einfallen sollte, mich mit seinem Geschreibsel zu belästigen, so habe ich in einem Zeitraum von vier Monaten das Gekritzel dieses Lumpenhundes hier. – A propos, Capitän Clubin, reist Ihr Morgen?

Sieur Clubin hörte nichts; er befand sich in einer Art traumwachen Zustandes.

Capitain Gertrais-Gabonreau wiederholte seine Frage.

Clubin erwachte.

– Gewiß reise ich Morgen, Capitän. Es ist ja mein Tag; ich muß morgen reisen.

– Ich an Eurer Stelle reiste Morgen nicht. Schon seit zwei Nächten umflattern die Meervögel den Leuchtthurm. Das ist ein schlimmes Zeichen. Mein Sturmglas prophezeit auch nichts Gutes. Wir sind im zweiten Octant des Mondes; das ist das Maximum der Feuchtigkeit. Die Pimpinelle schließt die Blätter, die Regenwürmer kriechen aus der Erde, die Mücken stechen, die Bienen verlassen ihren Korb nicht, die Sperlinge stecken die Köpfe zusammen und halten Rath mit einander; man hört den Ton der fernen Glocken, ich hörte diesen Abend das »Angelus« von St. Lunaire. Die Sonne ist bleich untergegangen. Lauter böse Vorboten. Ich sage Euch, Capitain, bleibt Morgen ruhig an Bord. Wir haben einen furchtbaren Nebel zu erwarten. Nebel ist schlimmer als Sturm. Der Nebel ist ein heimtückischer Duckmäuser.

  1. Baskisch: Schlechtes Wetter.
  2. Eine spanische Münze.

Sechstes Buch. Der betrunkene Steuermann und der nüchterne Capitän.


Erstes Capitel. Die Douvresfelsen.

Fünf Meilen von der Küste entfernt im Süden von Guernesey zwischen den Inseln des Canals und St. Malo liegt eine Gruppe von Klippen, unter dem Namen der Douvresfelsen bekannt. Diese Stelle ist sehr gefährlich.

Denselben Namen führen eine Menge Klippen und Brandungsplätze. Auf einem Douvresfelsen an der Nordküste wird gegenwärtig ein Leuchtthurm erbaut. Auch dieser Punkt ist unheilvoll, doch darf man ihn nicht mit den obenerwähnten Klippen verwechseln.

Das Cap Bréhant an der französischen Küste liegt den Douvresfelsen am nächsten. Die Douvresfelsen liegen ein wenig weiter von der Küste Frankreichs als von der ersten Insel des Archipels der Normandie. Eine große Diagonale, von Jersey aus gezogen, berührt fast jene Klippen. Wenn Jersey sich wie auf einer Thürangel nach Corbière hin herumdrehte, so würde die Landspitze St. Katharina beinahe auf die Douvresfelsen stoßen. Die Entfernung zwischen beiden Punkten beträgt etwa vier Meilen.

Selbst die wüstesten Felsen vielbefahrener Meere pflegen selten verlassen zu sein. Auf Hagot findet man Schmuggler, auf Binic Zollbeamte. Auf Cancale giebt es Austernzüchter, auf Césambre, der Insel Casars, Kaninchenjäger, Krabbensammler auf Brecqhou; Minquier und Ecrehou werden von Netzfischern und Anglern aufgesucht. Nur die Douvresfelsen sind menschenleer.

Die Seevögel haben dort ihr Reich.

Es giebt nichts Gefürchteteres. Die Helme, wo dem Glauben nach die » Blanche Nef« untergegangen ist, die Bank von Calvados, die Stacheln der Insel Wight, La Ronesse, welche die Küste von Beaulieu so sehr gefährdet, die Untiefe von Preel, welche die Einfahrt nach Merquel in einer Weise einengt, daß man dort zwanzig Klafter lange, roth gestrichene Baken vorlegen mußte, die gefährliche Strecke zwischen Etables und Plouha, die beiden »Druiden« im Süden von Guernesey, der alte und der kleine Anderlo, die Ratten-Insel, welche durch das Sprüchwort: »Wenn Du auch durch die Ratte kömmst ohne zu sterben, so zitterst Du wenigstens,« als Gegenstand des Schreckens bezeichnet wird, die todten Weiber, die Straße zwischen La Boue und la Frouquie, der Irrweg zwischen Guernesey und Jersey, das »böse Pferd« neben Boulay-Bay und Barneville sind weniger gefürchtet. Darum würde man lieber alle diese Orte befahren, als die Douvresklippen auch nur einmal berühren.

In dem ganzen gefährlichen Gewässer des Canals la Manche, dieses Archivels des Abendlandes, finden die Douvresfelsen nur ihres Gleichen an der furchtbaren Paternosterklippe zwischen Guernesey und Serk. Und doch kann man von letzterm Punkt aus wenigstens Signale geben, darf daher auf Hülfe in Gefahr hoffen. Nach Norden hin entdeckt man die Landzunge von Dicard oder Icare und im Süden die »Dicke Nase.« Von den Douvresfelsen aus steht das Auge nichts als Himmel und Wasser. Wasser, Windstöße, Regenwolken, Leere und Unbegrenztheit!

Nur ein Verschlagener nähert sich den Douvresklippen. Die Granitfelsen sind von einer gräßlich rohen Form, überall unzugänglich steil.

Und das Meer rings umher. Wasser von grundloser Tiefe. Eine so völlig verlorne Klippe, wie die der Douvres lockt und hegt Geschöpfe, welche nicht werth sind, in der Nähe menschlicher Wesen zu leben. Sie ist eine Art unterseeischer, unbegrenzter, riesiger Madrepore, ein ertrunkenes Labyrinth. In einer Tiefe, wohin die Taucher nur mit Mühe gelangen, finden sich unterirdische Höhlen, Löcher, Schlupfwinkel, verschlungene Gänge und düstre Gassen. Geschlechter von Ungeheuern erzeugen sich dort in üppigen Massen und verschlingen einander. Krabben fressen Fische und werden von diesen vertilgt. Erschreckende Gebilde, die nicht geschaffen sind, um von Menschenaugen angeschaut zu werden, treiben hier ihr Wesen. Eigenthümliche Formen von Rachen, Fühlfäden, Flossen, Schwimmblasen, aufgesperrten Kiefern, Fängen, Schuppen und Krebsscheeren schwimmen, zittern, wachsen oder zergehen und verschwinden in dem flüssigen, unheilbringenden Element. Grauenhafte Schwärme tummeln darin umher und gehen ihren Verrichtungen nach. Das Ganze ist ein riesiges Nest von Ungeheuern.

Das Abscheuliche ist dort das Ideal.

Man vergegenwärtige sich, wenn es möglich ist, ein ameisenartiges Gewimmel von Meernesseln und Quallen.

Einen Blick in das Innere des Oceans werfen, heißt die Phantasiewelt einer unbekannten Größe kennen lernen, das Reich der Schrecken betreten. Seine Abgründe gleichen der Nacht. Auch im Meere giebt es Schlaf, wenigstens einen scheinbaren Schlaf der Schöpfung. Dort vollziehen sich in vollkommener Sicherheit die Verbrechen von Creaturen, die keine Rechenschaft ablegen. Dort üben die schwächsten lebenden Gebilde, Phantome und doch ganze Teufel, wilde Werke der Finsterniß.

Vor vierzig Jahren bezeichneten zwei Felsen von sonderbarer Form den Vorüberfahrenden die Klippen der Douvres. Es waren zwei senkrecht emporragende Spitzen, die sich hoch oben krümmten und einander zuneigten. Man glaubte die Fangzähne eines ertrunkenen Elephanten aus dem Meere emporragen zu sehen, nur waren sie thurmhoch, als gehörten sie einem Thiere von der Größe eines Gebirgsarmes. Diese beiden von der Natur gebildeten Thürme der unbekannten, von Unthieren bewohnten Stadt, gestatteten nur einen schmalen Durchgang, in dem die Sturzwellen sich brachen. Er war winklig und krumm, wie eine zwischen zwei Mauern eingeengte Straße. Man nannte diese Zwillingsfelsen die beiden Douvres, den kleinen und den großen. Der eine war sechszig, der andere vierzig Fuß hoch. Das An- und Abprallen der Wogen hat dem Fundament dieser Thürme Zähne wie die einer Säge eingeprägt. Der heftige Aequinoctialsturm des 26. Octobers 1859 stürzte den einen. Der kleinere steht noch heute verstümmelt und verwittert an seinem Platz.

Am eigenthümlichsten gestaltet tritt aus der Douvresgruppe ein Fels unter dem Namen »der Mann« hervor. Auch er steht noch. Im vorigen Jahrhundert fanden Fischer, welche nach diesen Klippen verschlagen wurden, auf jenem Felsen den Leichnam eines Mannes und eine Menge leerer Muscheln neben ihm. Er mußte sich als Schiffbrüchiger dorthin gerettet haben und nährte sich kurze Zeit von dem Inhalt der Schaalen, bis er starb. Diese Begebenheit gab dem Fels den Namen »der Mann.«

Die Einsamkeit des Meeres ist schaurig. Aufruhr und Schweigen herrschen in ihm. Was innerhalb seines Bereichs geschieht, steht in keiner Beziehung zu dem Menschengeschlecht.

Das sind die schauerlichen Douvresfelsen. So weit das Auge reicht, entdeckt es nichts, als eine endlose, arbeitende, gepeinigte Wassermasse.

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Zweites Capitel. Unverhoffter Fund einer Cognacflasche.

Am Freitag früh, dem Tage nach der Abfahrt des Tamaulipas, ging die Durande nach Guernesey ab.

Um neun Uhr verließ sie St. Malo.

Das Wetter war klar, ohne Nebel. Der alte Capitän Gertrais-Gaboureau schien nicht richtig prophezeit zu haben.

Sieur Clubins wichtige Nebengeschäfte ließen ihn sein Amt augenscheinlich ein wenig versäumen. Er hatte erst einige Ballen aus Paris mit allerhand Dingen für Galanterieläden in St. Pierre geladen, sowie drei Kisten für das Krankenhaus auf Guernesey, von denen die eine gelbe Seife, die andere gezogene Lichte und die dritte französisches Sohlen- und feines Corduanleder enthielt. Von seiner letzten Fahrt nahm er einen Kasten voll gemahlenen Zuckers und drei Kisten Conjou-Thee mit zurück, Gegenstände, deren Einfuhr das französische Zollamt nicht gestatten wollte. Sieur Clubin hatte außer einigen Ochsen kein Vieh eingeschifft. Jene Thiere standen ziemlich nachlässig eingesperrt im untern Schiffsraum.

Sechs Passagiere waren an Bord: ein Guerneseyer, zwei Viehhändler aus Malouins, ein »Tourist,« wie man schon damals sagte, ein Pariser Halbbürger, wahrscheinlich Handelsreisender und ein Amerikaner, der Bibeln verbreitete und austheilte.

Die Mannschaft der Durande zählte, Clubin nicht mitgerechnet, sieben Personen: einen Steuermann, zwei Maschinenheizer, den Zimmermann und Kohlenbrenner – beide versahen zugleich Matrosendienste – einen Koch, einen Bootsmann und den Schiffsjungen. Einer der Heizer war zugleich Mechanikus und seiner Abstammung nach ein Neger, der einst aus den Zuckersiedereien in Surinam entwischte und Holländer wurde, ein sehr ehrenwerther, höchst gescheidter Mann, Namens Imbrancam. Er verstand sich vortrefflich auf die Maschine und versah sie auf’s Beste. Seine ganz schwarze Erscheinung im Maschinenraum trug in der ersten Zeit nicht wenig dazu bei, der Durande ein teuflisches Ansehen zu geben.

Der Steuermann, aus Jersey gebürtig, und seinem Ursprung nach ein Cotentin, hieß Tangrouille. Tangrouille gehörte zum hohen Adel.

Dies ist buchstäblich wahr. Auf den Inseln des Canals wie in England herrscht Hierarchie. Es giebt dort noch Kasten. Kasten haben ihre Ideen, durch welche sie sich behaupten. Diese Ideen sind überall dieselben, in Indien wie in Deutschland. Der Adel wird mit dem Degen erworben und durch die Arbeit ausgetilgt. Nur im Müßiggang erhält er sich. Nichtsthun heißt erhaben leben; wer nicht arbeitet, wird geehrt. Ein Handwerk treiben ist erniedrigend. In Frankreich bildeten die Glasfabrikanten früher eine Ausnahme von der Regel. Flaschenleeren war gewissermaßen der Ruhm eines Edelmannes und Flaschenmachen entehrte ihn keinesweges. Wenn Jemand in der Grande-Bretagne und auf den Inseln des Canals adlig sein will, muß er Reichthum besitzen. Ein Arbeiter kann kein Herr sein. Ein Matrose ist nur Matrose, selbst wenn er von einem Bannerritter abstammt. Vor dreißig Jahren sammelte in Aurigny ein Gorges, der rechtmäßige Ansprüche auf die von Philipp August eingezogene Herrschaft Gorges gehabt hatte, mit nackten Füßen im Wasser stehend, Meergras. Ein Carteret ist Kärrner in Serk. In Jersey und Guernesey leben zwei Männer Namens Gruchy, der erste ist Tuchweber, letzterer Schuhmacher und beide erklären sich für Grouchy’s, Vettern des Marschalls von Waterloo. Die alten Pfründenregister des Bisthums von Coutances erwähnen einer Lehnsherrschaft Tangroville, welche jedenfalls mit der von Tancarville an der Basse-Seine zusammenhängt. Letztere ist als Montmorency bekannt. Im fünfzehnten Jahrhundert trug Johann von Héroudeville, der Bogenschütz des Sire von Tangroville, diesem »seine Panzer und die übrige Rüstung« an und 1371 versah ein Herr von Tangroville bei dem Proberitt Bertrand du Guesclin’s den Dienst eines Edelknappen.« Auf den normännischen Inseln entledigen die Leute sich ihres Adels sehr bald, wenn das Elend ihnen über den Kopf wächst. Eine Veränderung ihres Namens genügt, um sie davon zu befreien. Aus Tangroville entstand Tangrouille. So verhielt es sich mit dem Namen des Steuermanns der Durande.

Tangrouille, dieser wahrscheinliche Tancarville und mögliche Montmorency, besaß eine altadlige Eigenschaft, die ihm, als einem Steuermann, zum großen Fehler gereichte: er trank.

Es war Sieur Clubin’s beständige Aufgabe, ihn zu bewachen. Er hatte sich Mess Lethierry gegenüber hierzu verpflichtet.

Der Steuermann Tangrouille verließ das Schiff nie und schlief sogar am Bord.

Als Sieur Clubin am Abend vor der Abreise zu später Stunde einen Besuch auf dem Fahrzeug machte, lag Tangrouille in seiner Hängematte und schlief. In der Nacht erwachte er, seiner Gewohnheit gemäß. Jeder, seiner Freiheit beraubte Trunkenbold hat seinen Versteck. Auch Tangrouille besaß einen solchen und nannte ihn seine Proviantkammer. Dieser geheime Ort befand sich in dem Schiffsraum, wo das Wasser aufbewahrt wird. Er hatte ihn dorthin verlegt, um keinen Verdacht zu erregen und glaubte, Niemand außer ihm kenne diesen Versteck. Der Capitän Clubin, ein mäßiger Mann, war strenge. Die wenigen Tropfen Rum und Gin, welche der Steuermann dem wachsamen, hinterlistigen Wächter zu entwenden vermochte, verbarg er in einer Senkkufe, die ihren Platz in dem geheimnißvollen Winkel des Schiffsraumes mit den Wasserbehältern hatte, und fast alle Nacht stattete er diesem Versteck einen zärtlichen Besuch ab. Die Ueberwachung war strenge; für gewöhnlich beschränkten sich die nächtlichen Ausschweifungen Tangrouille’s auf zwei oder drei eilig hinuntergestürzte Schluck Rum. Zuweilen hatte er nicht den kleinsten Vorrath in seiner Proviantkammer. Heute Nacht fand er darin unverhofft eine Flasche Branntwein. Seine Freude war groß, noch größer sein Erstaunen. Aus welchem Himmel war diese Flasche gefallen? Er konnte sich nicht erinnern, wann und auf welche Weise er sie auf das Fahrzeug geschafft hatte, doch leerte er sie unverzüglich. Die Klugheit trieb ihn gewissermaßen dazu, indem er fürchtete, man könne den Branntwein entdecken und sich desselben bemächtigen. Die Flasche warf er in die See. Als Tangrouille am nächsten Morgen die Ruderpinne ergriff, verspürte er eine Art Schwindel, regierte aber trotzdem das Steuer fest, wie gewöhnlich.

Clubin war an jenem Abend, wie schon gesagt, nach Jean’s Wirthshaus gegangen, um darin zu schlafen. Er trug unter seinem Hemde Tag und Nacht einen ledernen Reisegurt, worin er diesmal zwanzig Guineen aufbewahrte. Auf die innere rauhe Seite dieses Ledergürtels hatte er mit zäher unvertilgbarer Druckerschwärze seinen Namen »Sieur Clubin« geschrieben. Als er am Morgen seiner Abreise aufstand, steckte er die eiserne Dose mit den sechszigtausend Francs in Banknoten in den Gurt und schnallte diesen, seiner Gewohnheit gemäß, um den Leib.

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Drittes Capitel. Gestörte Unterhaltung.

Die Abfahrt ging heiter von Statten. Sobald die Reisenden ihre Felleisen und Mantelsäcke unter oder auf den Bänken in Sicherheit gebracht hatten, unterwarfen sie das Fahrzeug jener Prüfung, von der man glauben sollte, sie sei einem Jeden zur Bedingung gemacht, so allgemein und eifrig ward sie angestellt. Der Tourist und auch der Pariser hatten bisher noch kein Dampfschiff gesehen. Als das Rad sich zu drehen begann, bewunderten sie den Schaum, später den Rauch. Hierauf untersuchten sie auf dem Deck und im Zwischenraum mit haarscharfer Gründlichkeit alle Schiffsbestandtheile: die Ringe, Klammern, Haken und Bolzen, die so sauber und zierlich gearbeitet sind, daß sie den Eindruck kolossaler Schmuckgegenstände machen; es sind in der That eiserne Geschmeide, die das Unwetter mit goldenem Rost überzogen hat. Sie betrachteten von allen Seiten die Lärmkanone, welche angeschlossen auf dem Verdeck lag; »wie ein Hund an der Kette,« bemerkte der Tourist, und »mit einer Blouse von getheerter Leinwand bekleidet, um sich vor Erkältung zu schützen,« fügte der Pariser hinzu. Als man sich mehr und mehr von der Küste entfernte, wichen den gewöhnlichen Bemerkungen Betrachtungen über die Ansicht von St. Malo. Ein Reisender äußerte, die Entfernungen zur See seien trügerisch und eine Meile vom Lande gesehen, gliche Dunkerque auf’s Täuschendste Ostende. Er vervollständigte das, was er über letztgenannten Ort zu sagen hatte, durch die Mittheilung, daß die beiden dortigen Wachtthürme rothgestrichen seien und die Namen Ruytingen und Mardyk führten.

St. Malo rückte dem Auge immer ferner und endlich war es ganz verschwunden.

Die See war ruhig. Das Kielwasser bildete hinter dem Schiff eine lange mit Schaum bekränzte Gasse, die fast ohne Windungen hinlief, so weit der Blick reichte.

Guernesey wird von einer graden Linie durchschnitten, die man sich von St. Malo in Frankreich, nach Exeter in England gezogen denkt. Eine solche Linie kann man auf dem Meere nicht ziehen. Dennoch können Dampfschiffe bis zu einem gewissen Grade eine bestimmte, gerade Richtung innehalten, was Segelschiffe nicht vermögen.

Das Meer ist in Gemeinschaft mit dem Wind eine Verunreinigung von Kräften, das Schiff eine Zusammensetzung von Maschinen. Naturkräfte sind Maschinen von unbegrenzter Macht, die Kraft der gewöhnlichen Maschine ist beschränkt. Durch Verbindung dieser beiden Organismen, von denen der eine unerschöpflich, der andere beschränkt ist, bildet sich der Kampf, den man die Schifffahrt nennt. Die Willenskraft in letzterem Organismus hält dem Unendlichen das Gegengewicht. Auch das Unendliche hat seinen Mechanismus. Die Elemente kennen ihre Bestimmung. Keine Naturkraft ist blind. Der Mensch soll ihre Kräfte erforschen und ihre Bestimmung entdecken.

Während man bemüht ist, die Naturgesetze zu ergründen, besteht jener Kampf fort und in ihm bildet die Dampfschifffahrt eine Art siegender Herrschaft, die der menschliche Geist stündlich über alle Meerestheile ausübt. Das Bewundernswerthe an ihr ist die Zucht, in der sie das Fahrzeug hält. Sie gehorcht den Winden weniger als den Menschen.

Niemals hatte die Durande besser gearbeitet, als heute.

Gegen elf Uhr befand sie sich mit Hülfe einer frischen Nord-West Brise den Minquiers gegenüber und trieb, wenig Rauch gebend, die Steuerbordhalsen zugesetzt, dem Wind fast entgegen nach Westen. Das Wetter war noch immer hell und schön. Nach und nach, als dächte Jeder nur daran, den Hafen wieder zu erreichen, verschwanden die Fahrzeuge von der See.

Man konnte nicht behaupten, daß die Durande genau ihren gewohnten Strich fuhr. Die Mannschaft wurde zwar durch nichts von ihrem Dienst abgezogen, und das Vertrauen zum Capitän war ein unbedingtes. Vielleicht durch die Schuld des Steuermannes fand eine kleine Abweichung von dem gewöhnlichen Wege statt. Die Durande schien eher die Richtung nach Jersey zu verfolgen, als nach Guernesey zu steuern. Bald nach elf Uhr verbesserte der Capitän den Fehler und das Schiff ging geradesweges auf das Cap von Guernesey zu. Man hatte nicht viel Zeit verloren. Er war ein schöner Februarsonnenschein.

Tangrouille befand sich in seinem gegenwärtigen Zustand weder auf sehr festen Füßen, noch vermochte er seinen Arm tüchtig zu gebrauchen. Es war also natürlich, daß er bald nach links, bald nach rechts steuerte, wodurch die Fahrt verzögert ward.

Der Wind hatte sich fast ganz gelegt.

Der Reisende aus Guernesey, welcher ein Fernrohr in der Hand hielt, richtete dasselbe von Zeit zu Zeit auf eine kleine Flocke grauen Schaumes, die der Wind westlich am äußersten Horizont langsam hin und her trieb. Sie glich einem Häufchen staubiger Watte.

Capitän Clubin zeigte wie gewöhnlich seine strenge, puritanische Miene. Er schien seine Aufmerksamkeit zu verdoppeln. Am Bord der Durande war alles heiter; die Passagiere plauderten. Wer bei einer Seefahrt die Augen schließt, kann die Beschaffenheit des Meeres aus der Unterhaltung der Reisenden errathen. Die volle Geistesfreiheit entspricht der vollkommenen Ruhe der See.

Es ist zum Beispiel unmöglich, daß eine Unterhaltung wie folgende stattfinden kann, wenn nicht Windstille herrscht:

– Mein Herr, sehen Sie dort jene niedliche grün und rothe Fliege?

– Sie hat sich auf’s Meer verirrt und ruht auf dem Schiffe aus.

Eine Fliege ermüdet nur wenig.

Gewiß; sie ist so leicht.

Mein Herr, man hat einmal eine Unze Fliegen gewogen und gezählt und fand ihrer sechstausend zweihundert achtundsechszig.

Der Guerneseyer mit dem Fernrohr hatte die Viehhändler aus Malouins angeredet und führte mit ihnen etwa folgende Unterhaltung:

– Der Aubracer Ochse hat einen runden untersetzten Rumpf, kurze Beine und eine falbe Haut. Wegen seiner kurzen Beine ist er etwas langsam bei der Arbeit.

– In diesem Punkt steht’s mit dem Salers-Ochsen besser als mit dem Aubracer.

– Mein Herr, ich habe in meinem Leben zwei schöne Ochsen gesehen. Der erste hatte niedrige Beine, einen dicken Vorderleib, ein volles Schwanzstück, breite Hacken, eine tüchtige Kreuz- und Nackenlänge, kräftige Bewegungen und ein losesitzendes Fell. Der zweite besaß alle Eigenschaften eines tüchtigen Mastochsen: untersetzten Rumpf, starken Hals, leichte Beine, Senkrücken, roth und weißes Fell.

– Dies ist die Contentiner Race.

– Ja, doch ist eine gewisse Aehnlichkeit mit den Stieren von Angus und Suffo vorhanden.

Mein Herr, wollen Sie mir glauben, daß es im Süden Concurrenz-Esel giebt?

Esel?

Esel! Wie ich die Ehre hatte, Ihnen zu sagen.

Man schenkt den häßlichen den Vorzug.

So macht man es auch mit den Mauleselinnen. Die häßlichsten sind die besten.

Richtig! Wie bei den Stuten von Poitevin. Dicken Bauch, dicke Beine.

Die beste Mauleselin ist wie eine dicke, von vier Stützen getragene Wulst.

Bei den Menschen verhält sich’s mit der Schönheit anders als bei den Thieren.

Namentlich bei Frauen.

– Das ist wahr.

– Ich verlange von einer Frau, daß sie niedlich ist.

– Und ich sehe auf einen hübschen Anzug.

– Ja; zierlich, sauber und geputzt wie eine Puppe muß sie sein.

– Und immer frisch aussehen. Ein junges Mädchen sollte stets den Eindruck machen, als wäre es aus dem Ei geschält.

– Um wieder auf meine beiden Ochsen zurückzukommen, muß ich Ihnen sagen, daß ich mit ansah, wie man sie auf dem Markt in Thouars verkaufte.

– Ich kenne den Markt. Die Banneau’s und Babu’s aus La Rochelle und die Getreidehändler von Marans – ich weiß nicht, ob Sie von ihnen gehört haben – besuchen ihn.

Der Tourist und der Pariser plauderten mit dem Bibel-Amerikaner. Auch jene Unterhaltung zeugte davon, daß schönes Wetter war.

Mein Herr, sagte der Tourist, mit der schwimmenden Tonnenzahl verhält sich’s folgendermaßen: Frankreich hat 716,000 Tonnen, Deutschland eine Million, das vereinigte Amerika fünf Millionen, England fünf Millionen fünf tausend. Rechnen wir noch die Fracht der übrigen kleinen Fahrzeuge hinzu, so erhalten wir die Gesammtsumme von zwölf Millionen neun hundert und vier tausend Tonnen, welche auf hundert fünfundvierzig tausend Fahrzeuge vertheilt, auf dem Gewässer des Erdballs umhertreiben.

Der Amerikaner unterbrach ihn.

– Mein Herr, die vereinigten Staaten allein haben fünf Millionen fünftausend Schiffe.

– Zugegeben, sagte der Tourist. Sie sind Amerikaner?

– Ja, mein Herr.

– Ich pflichte Ihnen noch einmal bei.

Es entstand eine Pause. Der amerikanische Missionar fragte sich, ob es wohl zweckmäßig sei, Bibeln anzubieten.

– Mein Herr, ergriff der Tourist das Wort, ist es wahr, daß die Amerikaner eine große Vorliebe für Spitznamen haben, um selbst ihre berühmten Männer dadurch lächerlich zu machen? Nennen Sie Ihren großen Banquier Thomas Benton in Missouri wirklich »die alte Metallbarre?«

– Gewiß, und Zacharias Taylor »den alten Zach.«

– Und General Harrison den »alten Tip,« nicht wahr? oder General Jackson den »alten Hickory?«

– Und zwar, weil Jackson hart wie das Holz des Hickorybaums ist, während Harrison die Rothhäute bei Tippecanon geschlagen hat.

– Sie folgen dabei einem byzantischen Gebrauch.

– Es ist unser eigener. Wir nennen Van Buren den »kleinen Hexenmeister,« Seward, der kleine Einschnitte in die Bankzettel machen ließ, »den kleinen »Bankzettel«, und Douglas, der demokratische Senator von Illinois, welcher vier Fuß hoch ist und große Beredsamkeit besitzt, heißt bei uns der »kleine Riese.« Sie können von Texas nach Maine wandern, ohne einem Menschen zu begegnen, der die Namen Caß und Clay ausspricht. Statt des ersteren sagt man der »große Michiganer« und letzterer heißt stets der »Müllerjunge mit der Schnarre.« Clay ist nämlich der Sohn eines Müllers.

– Ich würde der Kürze wegen Clay und Caß vorziehen, erwiederte der Pariser.

– Das wäre ein Verstoß gegen die allgemeine Sitte. Wir nennen Corvin, den Sekretär der Schatzkammer den »Karrenburschen« und Daniel Webster heißt der »schwarze Dan.« Was Winfield Scott betrifft, so hat er den Spitznamen »Schnell-einen-Teller-Suppe,« weil, nachdem er die Engländer bei Chippeway geschlagen hatte, sein erster Gedanke der war, sich zum Essen zu setzen.

Die in der Ferne sichtbare Schaumflocke war gewachsen. Sie nahm jetzt am Horizont etwa eine Ausdehnung von fünfzehn Graden ein. Es war, als ob in Folge einer Windstille ein Gewölk über dem Wasser stände. Kaum ein Lüftchen regte sich. Das Meer war noch unbewegt. Obgleich die Sonne im Mittag stand, schien sie zu ermatten. Sie schien zwar noch, wärmte aber nicht mehr.

– Ich glaube, das Wetter ändert sich, sagte der Tourist.

– Vielleicht bekommen wir Regen, fügte der Pariser hinzu.

– Oder Nebel, meinte der Amerikaner.

– Mein Herr, nahm der Tourist das Wort, zu Molfetta in Italien regnet es weniger und in Tolmezzo mehr als sonst irgendwo.

Um die Mittagszeit läutete, nach der Sitte des Archipels, die Mittagsglocke. Wer Lust hatte, konnte essen. Einige Reisende hatten bei sich, was sie brauchten und speisten heiter auf dem Verdeck. Clubin aß nie zu Mittag.

Auch während des Speisens ging die Unterhaltung ihren Gang.

Der Guerneseyer, welcher die Bibeln witterte, hatte sich wieder dem Amerikaner genähert und dieser fragte ihn:

– Sie kennen dies Meer?

– Gewiß, ich bin ja hier zu Hause.

– Ich auch, sagte der Reisende von Malouins.

Der Guerneseyer machte eine zustimmende Verbeugung und fügte hinzu: Wir find jetzt den Minquiers gegenüber; aber ich wünsche mir keinen Nebel, ehe sie uns zur Seite liegen.

– Die Inselbewohner sind besser mit dem Meer vertraut, als die Küstenbewohner, sagte der Amerikaner zu dem Malouinesen.

– Freilich, wir Küstenbewohner haben nur das halbe Bord.

– Was versteht man unter den Minquiers? fragte der Amerikaner.

– Sehr böse Kieselsteine, erwiederte der Malouinese.

– Wir haben auch solche, die Grelets heißen, fügte der Guerneseyer hinzu.

– Verdammt! rief der Andere.

– Und die Chouas, sagte der Guerneseyer.

Der Malouinese lachte.

– Die Sauvages gehören auch dahin.

– Und die Moines – bemerkte der Guerneseyer.

– Auch der Canard, rief der Andere.

– Mein Herr, sagte der Guerneseyer, Sie wissen auf Alles zu antworten.

– Malouin – malin, erwiederte der Malouinese, mit den Augen blinzelnd.

Der Tourist unterbrach die Beiden.

– Müssen wir durch diese Felsgruppen schiffen?

– Bewahre! wir haben sie bereits südöstlich liegen lassen.

Der Guerneseyer fuhr fort:

– Große und kleine Felsen mitgerechnet, zählen die Grelets siebenundfünfzig Spitzen.

– Und die Minquiers achtundvierzig, sagte der Malouinese.

Jetzt nahm die Unterhaltung zwischen den beiden Männern einen bestimmteren Charakter an.

– Wie es scheint, mein Herr, von St. Malo, vergessen Sie drei Felsen mitzurechnen.

– Ich zähle jeden mit.

– Die Dérée von der Mâitre-Insel?

– Ja.

– Und die Maisons?

– Sieben Felsen inmitten der Minquiers.

– Sie kennen die Steine, wie ich sehe.

– Wenn ich sie nicht kennte, müßte ich nicht in St. Malo wohnen.

– Es ist ergötzlich, die Beweisgründe der Franzosen zu hören.

Der Malouinese verbeugte sich und sagte:

– Die Sauvages sind drei Felsen.

– Und die Moines zwei.

– Der Canard ist ein einziger.

– Ja, er steht allein.

– Nein, denn die Suarde besteht aus vier Felsen.

– Was nennen Sie die Suarde? fragte der Guerneseyer.

– Die Felsen, welche bei Ihnen die Chouas heißen.

– Zwischen den Chouas und dem Canard ist nicht gut durchzuschiffen.

– Nur die Vögel können es.

– Und die Fische.

– Nicht leicht. Bei Unwetter stoßen sie sich an dem Seitengestein.

– Die Minquiers haben Sandgrund.

– Auch die Maisons.

– Dies sind acht Felsen, die man von Jersey aus sehen kann.

– Richtig, vom Sandufer d’Azette. Doch sind es sieben, nicht acht.

– Zur Ebbezeit kann man zwischen den Minquiers spazieren gehen.

– Ohne Zweifel; es giebt dort trockene Stellen.

– Und die Dirouilles?

– Haben nichts mit den Minquiers zu schaffen.

– Ich will nur sagen, daß sie gefährlich sind.

– Das heißt in der Richtung der Küste von Granville.

– Man sieht, daß ihr Leute von St. Malo ebenso, wie wir, es liebet, in diesen Gewässern umherzufahren.

– Ja, nur mit dem Unterschied, daß wir sagen: »wir haben die Gewohnheit,« während Ihr sagt: »wir lieben es,« erwiederte der Malouinese.

– Ihr seid gute Schiffer.

– Ich bin Ochsenhändler.

– Wer stammt doch gleich aus St. Malo?

– Surcouf.

– Noch ein Anderer?

– Duguay-Trouin.

Hier mischte sich der Pariser in die Unterhaltung.

– Duguay-Trouin? Er wurde von den Engländern gefangen genommen und war ebenso liebenswürdig als tapfer. Eine Engländerin, deren Herz er gewonnen, befreite ihn aus seiner Haft.

In diesem Augenblick schrie eine Donnerstimme:

– »Du bist betrunken!«

————

Viertes Capitel. Worin der Capitän Clubin alle seine Eigenschaften entfaltet.

Alle Reisenden wandten sich um.

Es war der Capitän Clubin, der jene Worte an den Steuermann richtete.

Sieur Clubin duzte sonst keinen. Daß er dies Fürwort auf den Steuermann Tangrouille anwandte, ließ erkennen, daß er sehr zornig war oder sich den Anschein geben wollte, es zu sein.

Ein Zornausbruch vermindert die Verantwortlichkeit dessen, der ihn sich zu Schulden kommen läßt, und hebt dieselbe zuweilen sogar auf. Der Capitän stand auf seinem Commandoplatz zwischen den beiden Laufrädern und sah den Steuermann fest an. Trunkenbold! wiederholte er zwischen den Zähnen.

Der ehrliche Tangrouille senkte den Kopf.

Der Nebel war mehr und mehr gestiegen und nahm jetzt fast die Hälfte des Horizonts ein. Er griff nach allen Richtungen um sich. Ein solcher Nebel gleicht einem Oeltropfen. – Unfühlbar dehnte er sich aus. Der Wind trieb ihn geräuschlos und langsam vorwärts. Nach und nach nahm er von der ganzen Meeresfläche Besitz. Er kam aus Nordwesten und das Fahrzeug eilte ihm entgegen. Man hätte ihn mit einem steilen Uferabhang vergleichen können. Wie eine Mauer durchschnitt er das Meer. An einer bestimmten Stelle schien das Wasser in diese Nebelwand zu dringen und darin zu verschwinden.

Jener Punkt war ungefähr eine halbe Meile weit von dem Schiff entfernt. Es gab eine Möglichkeit, dem Nebel zu entkommen. Das Drehen des Windes war Bedingung, doch mußte es unverzüglich geschehen. Der halbmeilenweite Zwischenraum füllte sich und nahm zusehends ab. Der Nebel eilte vorwärts und die Durande ebenfalls. Beide kamen einander entgegen.

Clubin befahl den Dampf zu verstärken und westlich zu steuern. Auf diese Weise schiffte man einige Zeit längs der Nebelwand hin, doch diese näherte sich mehr und mehr. Bis jetzt fuhr der Dampfer jedoch noch im Sonnenlicht dahin.

Ueber diesem Ausweichen, das schwerlich Stich halten konnte, verstrich die Zeit. Im Februar bricht der Abend schnell herein.

Der Guerneseyer beobachtete die bewegliche Mauer und sagte dann zu dem Malouinesen:

– Ein tüchtiger Nebel!

– Auf der See ein widerwärtiges Ding, erwiederte einer der Malouinesen und der erste fügte hinzu:

– Das die Ueberfahrt hindert.

Der Guerneseyer näherte sich Clubin.

– Capitän Clubin, ich fürchte, wir gerathen in den Nebel.

Clubin antwortete:

– Ich wollte in St. Malo bleiben, aber man rieth mir, in die See zu gehen.

– Wer rieth es?

– Die Alten.

– Natürlich war es recht, daß Sie ausreisten. Wer kann wissen, ob morgen kein Sturm ist? In dieser Jahreszeit muß man auf jede Witterung gefaßt sein.

Nach einigen Minuten tauchte die Durande in die Nebelbank.

Es war ein seltsamer Augenblick. Die auf dem Hinterdeck befindlichen Personen sahen die auf dem Vordertheil plötzlich verschwinden. Eine weiche, graue Scheidewand theilte das Schiff in zwei Hälften und alsbald war das ganze Fahrzeug in Nebel gehüllt. Die Sonne schien nur noch eine Art großen Mondes zu sein.

Jeder fühlte plötzlich Frostschauern. Die Reisenden warfen ihre Ueberzieher, die Matrosen ihre Jacken von Ochsenhaut über die Schultern. Das vollständig unbewegliche Meer lag in drohend kalter Ruhe da. Alles war bleich und grau. Die schwarzen Schornsteine und der Rauch kämpften gegen die Bleifarbe, welche das Schiff einhüllte.

Von jetzt an war es nutzlos, östlich zu steuern. Der Capitän schlug die Richtung nach Guernesey ein und verstärkte den Dampf.

Der Reisende aus jenem Orte hörte, als er um den Maschinenraum streifte, eine Unterredung zwischen dem Neger Imbrancam und seinem Cameraden, dem Heizer. Ersterer sagte:

Heute Vormittag bei Sonnenschein fuhren wir langsam und jetzt im Nebel schnell.

Der Guerneseyer begab sich zu Sieur Clubin.

– Capitän Clubin, es steht zwar nichts zu befürchten, geben wir aber nicht zu vielen Dampf?

– Was soll man machen, mein Herr? Die Zeit, welche jener Trunkenbold von Steuermann versäumt hat, muß wieder eingebracht werden.

– Freilich Capitän Clubin.

Ich beeile mich, nach Guernesey zu gelangen. Wir haben so viel Nebel, daß es bis dahin finster wird.

Der Guerneseyer suchte die Malouinesen auf und sagte zu ihnen:

– Wir haben einen ausgezeichneten Capitän.

Von Zeit zu Zeit trieben plötzliche, dicke Nebelwellen heran – Ballen gekämmter Wolle ähnlich – und verbargen die Sonne. Krankhaft aussehend und noch bleicher als vorher, kam sie dann und wann wieder zum Vorschein. Vom Himmel sah man nur noch zuweilen Streifen, die einer schmutzigen und ölfleckigen Theaterdecoration anzugehören schienen.

Die Durande gelangte in die Nähe eines Kutters, der aus Vorsicht Anker geworfen hatte. Es war der »Shealtiel« aus Guernesey. Der Capitän dieses Fahrzeuges bemerkte die schnelle Fahrt der Durande. Auch dünkte es ihm, daß diese nicht die gewöhnliche Richtung verfolgte. Sie schien zu weit westlich zu gehen. Dies mit voller Dampfkraft treibende Schiff setzte ihn in Erstaunen.

Gegen zwei Uhr war der Nebel so dicht geworden, daß Capitän Clubin sich gezwungen sah, seinen Stand zu verlassen und sich dem Steuermann zu nähern. Die Sonne schien gar nicht mehr. Auf der Durande herrschte eine Art blasser Finsterniß. Man schiffte in flüssiger Bleifarbe und sah weder Himmel noch Meer. Der Wind hatte sich völlig gelegt. Die an einem Ring unter dem Wetterdach der Laufräder hängende Flasche mit Terpentinöl zeigte nicht die leiseste Schwingung.

Die Reisenden waren verstummt.

Der Pariser trillerte ein Lied von Beranger vor sich hin: »An einem Tag erwachte Gott.«

– Der Herr kommt wohl aus Paris? fragte ihn einer der Malouinesen.

– Ja, mein Herr.

– Was treibt man in Paris?

– In Paris, mein Herr, geht alles verkehrt.

– Es ist also auf dem Lande nicht anders als auf dem Meer.

Wir haben allerdings einen bösen Nebel.

– Woraus Unglück entstehen kann.

Der Pariser rief:

– Aber weshalb denn Unglück! Wozu dient das Unglück? Was nützt es? Warum brannte das Odeum nieder? Weshalb giebt es Familien, die auf Stroh liegen? Ist das Gerechtigkeit? Ich kenne Ihre Religion nicht, mein Herr, aber ich selber fühle mich durch die meinige nicht befriedigt.

– Ich ebensowenig, entgegnete der Malouinese.

– Alles was auf Erden vorgeht, macht den Eindruck der Verkehrtheit. Der gute Gott ist, wie mir scheint, nicht an seinem Platz.

Der Malouinese kratzte sich den Kopf, als suche er über die Sache klar zu werden.

– Der gute Gott ist verreist. Man müßte ihn durch irgend einen Beschluß zum Daheimbleiben zwingen. Er lebt in seinem Landhaus und kümmert sich nicht um uns. Daher geht alles verkehrt. Es liegt auf der Hand, mein werther Herr, daß der gute Gott nicht mehr das Regiment führt. Er macht eine Ferienreise und sein Stellvertreter, irgend ein Engeleleve, ein Cretin mit Sperlingsflügeln, versieht seine Geschäfte.

Capitän Clubin näherte sich den beiden Sprechern und legte seine Hand auf die Schulter des Parisers.

– Stille! sagte er. Ueberlegen Sie ihre Worte, mein Herr. Wir sind auf der See.

Alles schwieg.

Nach fünf Minuten flüsterte der Guerneseyer, welcher jedes Wort mit angehört hatte, dem Malouinesen in’s Ohr:

– Ein frommer Capitän!

Es regnete nicht und doch war alles durchnäßt. Man merkte nur an der zunehmenden Unbehaglichkeit, daß die Zeit verstrich und die Reise fortdauerte. Alles schien in Schwermuth zu verfallen. Der Nebel bewirkt tiefe Ruhe auf dem Ocean; er schläfert die Wellen ein und erstickt den Wind. Das Geräusch des Dampfers hatte in der lautlosen, ringsumher herrschenden Stille etwas Klägliches, Beängstigendes.

Einem Fahrzeug begegnete man nicht mehr. Selbst wenn an den fernen Küsten von St. Malo oder Guernesey Schiffe außerhalb des Nebels auf der See gewesen wären, hätten sie die Durande nicht entdecken können und der lange Schweif von Rauch würde ihnen, da er keinen Zusammenhang mit einem sichtbaren Körper hatte, den Eindruck eines schwarzen Kometen an einem blassen Himmel gemacht haben.

Plötzlich schrie Clubin:

– Hund, Du steuerst falsch! Wir werden Haferei machen! Du verdienst in Ketten gelegt zu werden. Fort mit Dir!

Mit diesen Worten ergriff er die Ruderpinne.

Der gedemüthigte Steuermann flüchtete sich unter das Takelwerk des Vorderdeckes.

– Wir sind gerettet, sagte der Guerneseyer.

Das Schiff ging mit reißender Schnelligkeit vorwärts.

Nach drei Stunden hob sich die untere Nebelschicht und man sah wieder Meer.

– Dies gefällt mir nicht, sagte der Guerneseyer.

Der Nebel kann in der That nur durch die Sonne oder den Wind geschlichtet werden. Der erste Fall ist der glücklichere. – Aber für die Sonne war es zu spät. Im Februar um drei Uhr Nachmittags ist ihre Kraft schwach und zu dieser Tageszeit wünscht man nicht das Sichwiedereinstellen des Windes, weil er oft den Orkan ankündigt. Wehte übrigens ein Lüftchen, so konnte man es jedenfalls kaum spüren.

Clubin hielt das Steuerruder und murmelte, das Auge auf den Compaß gerichtet, allerhand Worte, von denen folgende das Ohr der Reisenden erreichten:

– Es ist keine Zeit zu verlieren. Dieser Trunkenbold hat die Reise verzögert.

Seine Züge waren jedoch vollkommen ausdruckslos.

Das Meer lag nicht länger unter dem Nebel in tiefem Schlaf. Hin und wieder spielte eine Welle. Auf ruhigen Stellen schwammen glänzende, glatte Lichtflecken. Sie pflegen den Schiffern Besorgniß zu erregen, denn sie beweisen, daß der Wind von oben her Oeffnungen in die Nebeldecke gearbeitet hat. Die Nebeldecke lüftete sich, um nur noch schwerer und dichter niederzusinken. Die Dunkelheit war vollständig. Zuweilen öffnete sich die furchtbare Mauer wie eine Zange und ließ ein Stück Horizont sehen, worauf sie sich dann wieder zusammen fügte.

Der Guerneseyer stand, mit seinem Fernrohr bewaffnet, wie eine Schildwache auf dem Vorderdeck.

Plötzlich wurde es hell und gleich darauf finster.

Der Guerneseyer wandte sich erschrocken um.

– Capitän Clubin!

– Was giebt es?

– Wir steuern auf die Hanoisfelsen zu.

– Sie irren sich, entgegnete der Capitän kalt.

– Ich bin davon überzeugt.

– Unmöglich.

– Ich entdeckte soeben am Horizont Klippen.

– Wo?

– Dort!

– Unmöglich; in jener Richtung liegt offenes Meer.

Und Clubin hielt die Richtung nach dem bezeichneten Punkt inne.

Der Guerneseyer sah wieder durch sein Fernrohr.

– Capitän!

– Nun?

– Wechseln Sie die Richtung!

– Warum?

– Ich bin sicher, daß ich den Felsen hoch und drohend ganz in der Nähe sah. Es ist der große Hanois.

– Sie irren sich. Es wird eine dichtere Nebelstelle sein.

– Im Namen des Himmels, wenden Sie um; es ist der große Hanois!

– Clubin gab der Ruderpinne einen Stoß.

————

Fünftes Capitel. Clubin erwirbt sich durch sein ferneres Verhalten den höchsten Grad der Bewunderung.

Man hörte ein Gekrache. Es giebt kein schaurigeres Geräusch als das Zerbersten eines auf eine Untiefe gerathenen Schiffes. Die Durande stand unbeweglich da. Mehrere Passagiere taumelten von dem Stoß und fielen auf das Verdeck hin.

Der Guerneseyer erhob die Hände zum Himmel.

– Auf dem Hanois, wie ich sagte!

Ein langer Schrei erscholl.

– Wir sind verloren!

Clubins kalte und harte Stimme übertönte Alles.

– Niemand ist verloren! Stille!

Der schwarze, bis zum Gürtel nackte Oberkörper Imbrancams zeigte sich in der viereckigen Oeffnung des Ofenraums. Mit ruhiger Stimme sagte er:

– Capitän, das Wasser dringt in’s Schiff. Das Feuer erlischt.

Ein furchtbarer Augenblick!

Der Stoß konnte nicht furchtbarer gedacht werden. Er glich einem Selbstmord. Die Durande war auf den Felsen gerannt, als hätte sie ihn angreifen wollen. Eine Klippenspitze durchbohrte sie wie ein Nagel. Ein Quadrat, das über eine Klafter maß, befand sich im Schiffsboden, der Vordersteven war zerschmettert, das Vorderdeck eingeschlagen und mit grauenhaftem Gepolter drängte sich das Meerwasser in eine Oeffnung des Rumpfes – in die Todeswunde des Schiffes. Der Rückprall war so heftig gewesen, daß er die Leittaue des abgelösten, hin und her treibenden Steuerruders zerrissen hatte. Ein dichter, schwerer und jetzt fast schwarzer Nebel hüllte das von der Klippe durchbohrte und festgehaltene Fahrzeug ein. Die Nacht zog über das Meer.

Das Vorderdeck des Dampfers senkte sich in die Wogen, ähnlich wie ein Roß, das die Hörner eines Stiers in seinen Eingeweiden fühlt. Die Durande war verloren.

Während eines Schiffbruchs ist Niemand berauscht. Tangrouille stieg entnüchtert in das Zwischendeck hinab, erschien bald wieder oben und sagte:

– Capitän, das Wasser ist bis an die Deckbalken des Schiffsraums gedrungen, in zehn Minuten wird es das Speigatt erreicht haben.

Händeringend und vor Entsetzen außer sich liefen die Reisenden auf dem Verdeck umher, beugten sich über Bord, betrachteten die Maschine und führten Dinge aus, die unnöthig und nur Folgen ihres Schreckens waren.

Der Tourist lag in Ohnmacht.

Clubin gebot durch ein Zeichen mit der Hand Schweigen und man folgte ihm.

– Wie lange kann die Maschine noch arbeiten? fragte er Imbrancam.

– Fünf oder sechs Minuten.

– Ich war am Ruderstock, fuhr der Capitän zu dem Guerneseyer gewandt, fort; Sie beobachteten den Felsen. Auf welcher Klippe des Hanois sitzen wir?

– Auf der Mauve. Ich habe sie vorhin bei der Helle deutlich erkannt.

– Dann liegt der große Hanois am Backbord und der kleine am Steuerbord. Wir befinden uns eine Meile vom Lande.

Das Auge auf den Capitän geheftet, folgten Reisende und Schiffsleute mit angstvoller Aufmerksamkeit der Unterredung.

Das Fahrzeug flott zu machen, war unmöglich und zwecklos. Um die Ladung in’s Meer werfen zu können, hätte man die Stückpforten öffnen und sich bemühen müssen, in tieferes Wasser zu gelangen. Ankerwerfen nützte nichts, denn das Schiff war fest genagelt. Da die Maschine als unbeschädigt dem Schiff zur Verfügung stand, so lange das Feuer nicht erlosch, konnte man mit Hülfe der Räder und des Dampfes zurückweichen und sich vom Felsen losreißen, doch wäre das Schiff durch solch Beginnen sofort umgestürzt. Die Klippenspitze füllte die Oeffnung bis zu einem gewissen Grade und hinderte das Eindringen des Wassers. Wurde jenes Hemmniß entfernt, so gab es keine Möglichkeit, den Leck zu verstopfen und die Pumpen arbeiten zu lassen. Wer den Pfeil aus der Herzenswunde zieht, tödtet den Getroffenen auf der Stelle. Sich von dem Felsen losmachen, hieße auf den Grund gehen.

Die Stiere im untern Schiffsraum, welche das Wasser fühlten, fingen an zu brüllen.

– Die Schaluppe in’s Meer! commandirte Clubin.

Imbrancam und Tangrouille stürzten vorwärts und lösten die Bindseile. Der Rest der Mannschaft stand regungslos vor Schreck da und sah dem Thun der Beiden zu. Clubin commandirte mit kaltem Ton und in den Ausdrücken jener veralteten Sprache, welche die Schiffer der Jetztzeit nicht mehr kennen:

– Holt an! – Schürzt Knoten in die Taue, wenn die Spille nicht mehr arbeiten kann. – Raum genug für den Ganspill. – Hütet die ungetheerten Thaue vor den Blockrollen. – Segel nieder. – Schnell zwei Tonnen Süßwasser hinein. – Zuviel Reibung. – Den Takelläufer zur Hand. – Achtung. –

Die Schaluppe war im Meer.

In demselben Augenblick stockten die Räder der Durande, der Rauch hörte auf, die Maschine stand im Wasser. Die Reisenden glitten die Leiter hinab oder fielen, an dem laufenden Tauwerk klammernd, mehr in die Schaluppe, als sie hinabstiegen. Imbrancam hob den ohnmächtigen Touristen vom Boden auf, trug ihn in das Fahrzeug und stieg dann wieder in’s Schiff. Die Matrosen stürzten den Reisenden nach. Der Schiffsjunge war zu Boden geworfen und wurde mit Füßen getreten. Imbrancam versperrte den Forteilenden den Weg.

– Niemand geht einen Schritt vorwärts! sagte er und drängte mit seinen schwarzen Armen die Matrosen. Er hob das Kind empor und reichte es dem Guerneseyer, der in der Schaluppe stand. Als der Schiffsjunge gerettet war, trat Imbrancam bei Seite und rief:

– Jetzt geht!

Clubin war indessen in seine Cajüte getreten, um die Schiffspapiere und Urkunden hervorzuholen. Auch den Compaß nahm er aus dem Häuschen und gab die Schriften Imbrancam, den Compaß aber Tangrouille und sagte: Steigt in die Schaluppe.

Sie gehorchten. Die übrige Mannschaft war bereits darin untergebracht, kaum ein Platz war noch leer. Die Wellen streiften den Bord.

– Jetzt stoßt ab! rief Clubin.

Ein allgemeiner Schrei tönte aus der Schaluppe.

– Und Sie, Capitän?

– Ich bleibe.

Schiffbrüchige haben wenig Zeit zu Berathungen und noch weniger zum Mitleid. Doch die Mannschaft in der Schaluppe fühlte im Bewußtsein eigener wahrscheinlicher Sicherheit eine selbstlose Bewegung. Alle erhoben ihre Stimmen zu dem bittenden Ruf:

– Begleiten Sie uns, Capitän!

– Ich bleibe.

Der Guerneseyer, welcher das Meer genau kannte, erwiederte:

– Capitän, hören Sie mich! Sie sind auf die Hanoisfelsen geworfen. Ein Schwimmer hat bis Plainmont eine Meile, aber zu Schiff kann man nur in Rocquaine, zwei Meilen von hier landen. Klippen und Nebel machen den Weg gefährlich. Die Schaluppe kann nicht vor zwei Stunden in Rocquaine anlangen. Dann wird es finstere Nacht sein. Heftiger, plötzlicher Sturm ist im Anzuge. Wie gerne kämen wir, um Sie abzuholen, aber wenn das Unwetter losbricht, ist es unmöglich. Wenn Sie bleiben, sind Sie verloren. Begleiten Sie uns.

Der Pariser mischte sich ein.

– Die Schaluppe ist allerdings voll, zu voll und ein Mensch mehr ist ein Mensch zu viel. Wir sind jedoch unserer Dreizehn, eine böse Zahl für die Barke und es ist deshalb besser, sie durch einen Menschen, als durch eine Zahl zu gefährden. Kommen Sie, Capitän.

– Ich trage die ganze Schuld, nicht Sie, Capitän Clubin. Es ist ungerecht, daß Sie zurückbleiben! rief Tangrouille.

– Ich weiche nicht von meinem Platz. In der Nacht wird der Orkan das Fahrzeug zertrümmern. Ich werde es nicht verlassen. Wenn der Capitän sein Schiff verloren hat, ist er todt. Man wird von mir sagen: er that seine Pflicht bis an’s Ende. Tangrouille, ich verzeihe Ihnen!

Und die Arme kreuzend rief er: Gebt Acht auf das Commando! Stoßt ab! Geht in die See!

Die Schaluppe setzte sich in Bewegung. Imbrancam ergriff das Steuer. Alle Hände, die kein Ruder führten, streckten sich dem Capitän entgegen und jeder Mund rief: Ein Hoch dem Capitän Clubin, hurrah!

– Ein bewunderungswürdiger Mann, sagte der Amerikaner.

– Mein Herr, rief der Guerneseyer, es giebt auf der ganzen See keinen ehrenwertheren.

Tangrouille weinte. – Hätte es mir nicht an Muth gefehlt, so wäre ich bei ihm geblieben, murmelte er vor sich hin.

Die Schaluppe verlor sich im Nebel und man sah nichts mehr von ihr. Auch das Geräusch des Ruderschlags verhallte und verstummte.

Clubin war allein.

————

Sechstes Capitel. Ein heller Blick in einen Seelen-Abgrund.

Als Clubin auf der nebelumhüllten Klippe mitten auf dem Meer, fern vom Geräusch der Welt und fern von jedem lebenden Wesen, den Tod sicher vor Augen sah, ergriff ihn eine glühende Freude.

Er hatte sein Ziel erreicht. Sein Traum war erfüllt. Der schon verfallene Wechsel, den er auf das Schicksal gezogen hatte, wurde ihm nun bezahlt.

Verlassen sein, hieß für ihn befreit sein. Er befand sich auf den Hanoisfelsen, eine Meile vom Lande entfernt, und hatte fünfundsiebzigtausend Franken bei sich. Nie gab es einen Schiffbruch, der sich in strengeren Formen vollzogen hätte, es war der regelrechteste Schiffbruch der Welt. Es hatte nichts gefehlt, um ihn vollständig zu machen; Alles war fein eingeleitet. – Clubin verfolgte seit seiner Jugend Ein Ziel. Rechtschaffenheit war sein Einsatz in dem Roulette des Lebens. Er wollte als ehrlicher Mann gelten, der das Glück abwartet und nur bei jedesmaligem Spiel den Satz verdoppelt, die Sache am rechten Ende anfängt, den günstigen Augenblick benutzt, nicht blindlings umhertappt, sondern beherzt zugreift. Einen »Coup« wollte er wagen, doch nur einen einzigen und mit diesem wollte er über alle Schwachköpfe triumphiren. Ihm sollte auf einen Streich gelingen, was gaunerischen Schwachköpfen zwanzig Mal nacheinander mißglückte; ihr Thun fand den Schluß am Galgen, das seinige endete im Hafen des Glücks. Das Zusammentreffen mit Rantaine hatte ihm Licht über sein künftiges Verhalten gegeben.

Unverzüglich entwarf er seinen Plan, der dahin ging, Rantaine zu stürzen und selber zu verschwinden, um etwaige Enthüllungen zu nichte zu machen. Er wollte für todt gelten – das ist die beste Art des Verschwindens. Zu diesem Zwecke mußte er die Durande vernichten. Indem er sogar einen guten Ruf hinterließ, krönte er seine ganze Vergangenheit. Wer Clubin in diesem Schiffbruch sah, hätte ihn für einen beglückten Dämonen gehalten.

Er hatte sein ganzes Leben auf diese Minute gewartet.

Endlich! Dies eine Wort drückte den ganzen Inhalt seiner Empfindungen aus. Eine abschreckende Heiterkeit erhellte seine düstere Stirn. Sein glanzloses Auge, in dem man sonst nichts lesen konnte, nahm einen sonderbaren Ausdruck an. Die lodernde Gluth seiner Seele spiegelte sich darin wieder. Die innere, wie die äußere Natur des Menschen hat ihre elektrischen Spannungen. Eine Idee ist ein Meteor. Der Erfolg ist das Resultat aus verschiedenen Betrachtungen, welche sie vorbereitet haben. Es ist ein Glück, wenn Diejenigen, welche das Böse in sich hegen und pflegen und eine geheime Beute desselben sind, durch solch einen zündenden Funken ihr Wesen offenbaren; ein unedler Gedanke, zur Ausführung gelangt, belebt das Gesicht; gewisse gelungene Berechnungen, wilde Befriedigungen, glücklich errungene Erfolge kündigen sich durch einen düstern Glanz der Augen an.

Dieser Glanz zeigte sich in Clubin’s Blicken. Weder auf Erden noch in andern Regionen konnte man ein ähnliches Leuchten finden.

Der in Clubin verborgene Schurke enthüllte sich durch diesen Glanz.

Er sah in die unergründliche Finsterniß hinein und konnte ein leises, unheilvolles Lachen nicht unterdrücken.

Er war frei und reich!

Sein eigentliches »Ich« sprengte seine Fesseln. Er hatte seine Aufgabe gelöst.

Zeit genug lag vor ihm. Die steigende Fluth mußte der Durande zu Hülfe kommen, indem sie dieselbe von dem Felsen löste und endlich emporhob. Doch konnte dies nicht schnell geschehen, da das Fahrzeug fest auf der Klippe haftete. Die Gefahr umzuschlagen, war nicht vorauszusehen. Das Rettungsfahrzeug mußte hinreichende Zeit haben, sich von den Hanoisfelsen zu entfernen, vielleicht unterzugehen. Clubin hoffte es.

Auf der gescheiterten Durande stehend, kreuzte er die Arme und schwelgte in dem Gefühl, sich in dieser Finsterniß einsam und verloren zu wissen.

Dreißig Jahre hatte die Heuchelei diesen Mann gedrückt. Er war ein Bösewicht, der sich mit der Rechtschaffenheit vermählt hatte und für die Tugend den Haß eines unglücklichen Ehemanns hegte. Er trug sich von jeher mit verbrecherischen Berechnungen; so lange er Mann war, verschanzte er sich hinter der starren Rüstung des Scheins. Innerlich war er ein Ungeheuer. Er hatte sich in die Haut eines vortrefflichen Mannes gesteckt und trug ein Banditenherz in seiner Brust. Er war ein Seeräuber von sanften Geberden, ein Gefangener der Redlichkeit und lag eingezwängt in dem Mumiensarg der Unschuld. Auf dem Rücken wuchsen ihm Engelflügel, deren Last ihn, den Taugenichts, zu Boden zog. Die öffentliche Achtung erdrückte ihn fast. Es ist hart, in solchem Fall als unbescholtener Mann dazustehen. Welche Arbeit, sich im Gleichgewicht zu halten; Böses denken und Gutes reden! Er stellte bisher das Phantom der Redlichkeit vor, während er eigentlich das Gespenst des Verbrechens war. Zu diesem Widerspruch hatte das Schicksal ihn verdammt. Er war gezwungen, gute Haltung anzunehmen, wohlanständig zu sein, über der Mittelmäßigkeit zu stehen und heimlich mit den Zähnen zu knirschen. Es war der Fluch der Tugend, welcher ihn zu ersticken drohte. Sein Leben lang hatte er Lust verspürt, in die auf seinen Mund gedrückte Hand zu beißen.

Und doch mußte er sie küssen.

Gelogen und gelitten haben ist eins. Ein Heuchler ist im doppelten Sinn des Worts ein Leidender: er müht sich ab, einen Triumph zu erringen und erduldet dabei Todespein. Die schwankende Berechnung eines schlechten Streichs unter dem Anscheine von Sittenstrenge und Festigkeit; innere Bosheit, die sich hinter einem vorzüglichen Ruf versteckt; das Streben, die Menschen zu täuschen, sein eigentliches Wesen verleugnen, ist eine beschwerliche Arbeit. Aus der ganzen schwarzen Bosheit seines Wesens ein Gebilde der Reinheit zu schaffen, liebkosend, versteckt, stets auf seiner Hut sein, sich unaufhörlich selbst bewachen, seinem geheimen Verbrechen eine gute Maske anlegen, diejenigen, welche uns verehren, am liebsten zerreißen wollen, die eigene Mißgestalt in Schönheit und die Nichtswürdigkeit in Vollkommenheit umwandeln, Gift versüßen, mit dem Dolche spielen, die Sanftheit seiner Geberden und den milden Klang seiner Stimme wahren – nichts ist schwieriger und trauriger! Die Abscheulichkeit der Heuchelei sättigt den Heuchler im Geheimen; nährt er sich jedoch beständig von der Milch seines Betruges, so wirkt dieselbe ekelerregend! Die Süßigkeit, welche die Arglist der Bosheit verleiht, widert den Bösewicht an, da er gezwungen ist, sie beständig im Munde zu führen, und es giebt Augenblicke, wo der Heuchler hochherzig genug ist, sich ihrer zu entledigen. Jenen Speichel verschlingen, ist abscheulich. Eingewurzelter Stolz kann diesen Zustand herbeiführen. Der Heuchler hat seine Zeiten der Selbstachtung. In der Schurkerei liegt eine unbegrenzte Selbstsucht. Der Wurm hat dieselben Schlangenbewegungen wie der Drache. Der Verräther ist nichts als ein eingeengter Despot, welcher seine Pläne nur verfolgen kann, indem er sich mit der zweiten Rolle begnügt; eine Kleinlichkeit, die auf unbegrenzte Geistesstärke schließen läßt. Der Heuchler ist Zwerg und Riese in einer Person. Clubin glaubte mit voller Ueberzeugung, ein Unterdrückter gewesen zu sein. Nach welchem Recht war er nicht reich geboren? Er hätte nichts Besseres verlangt, als von seinen Eltern hunderttausend Livres Renten zu beziehen. Weshalb war dies unmöglich? Der Fehler lag nicht an ihm. Warum wurde er gezwungen zu arbeiten, das heißt zu betrügen, zu verrathen und zu zerstören, indem man ihm alle Genüsse der Welt versagte? Weshalb verdammte man ihn auf diese Weise zur Marter des Schmeichelns, Kriechens, Beifallsuchens, des Strebens nach Liebe und Achtung, weshalb war er verurtheilt bei Tage und Nacht ein anderes Gesicht als das seinige zu tragen? Verstellung ist eine unterjochte Gewalt. Man haßt Denjenigen, welchen man belügt. Endlich schlug seine Stunde! Clubin rächte sich.

An wem? An Allen und an Allem.

Lethierry hatte ihm nur Gutes erwiesen. Um so schlimmer; er rächte sich an Lethierry und Allen, deretwegen er sich Zwang angethan hatte. Er schritt zur Vergeltung. Wer jemals Gutes von ihm gedacht, war sein Feind. Lethierry gehörte auch zu diesen.

Jetzt war Clubin frei und seinem Gefängniß entronnen. Er befand sich außerhalb des Bereichs der Menschen. Was man seinen Tod nennen würde, war sein Leben; er stand jetzt erst im Begriff, das Leben anzufangen. Der echte Clubin brach aus der Höhle des falschen hervor. Mit einem Schlage stand er da. Er hatte Rantaine mit einem Fußtritt in das Nichts gestoßen, Lethierry zu Grunde gerichtet, irdische Vergeltung unmöglich gemacht, die Meinung der Leute irre geleitet und sich aus dem Bereich der Menschheit entfernt. Er war mit der Welt fertig.

Was Gott betraf, so kannte er dies aus drei Buchstaben zusammengesetzte Wort kaum und kümmerte sich nicht darum.

Er hatte für einen religiösen Mann gegolten. Und jetzt?

Die Heuchelei hat ihre Schlupfwinkel oder sie ist vielmehr selber nur eine einzige Räuberhöhle.

Als Clubin allein war, öffnete sich die Höhle seines Innern. Er genoß einen Augenblick des Entzückens; seine Seele schöpfte frische Luft.

Er athmete die Luft seines Verbrechens mit vollen Zügen. Das versteckte Böse zeigte sich auf seinem Gesicht. In dieser Minute war Rantaine’s Blick im Vergleich mit dem seinen der Blick eines neugebornen Kindes! Welch‘ eine Befreiung, dies Abreißen seiner Maske! Sein Gewissen ergötzte sich an der eigenen gräßlichen Nacktheit und tauchte sich mit Behagen in die freie, volle Fluth des Bösen. Der Zwang, welchen ihm die langertragene Achtung der Menschen auferlegt hatte, flößte ihm, ehe er auf immer gehoben ward, eine rasende Lust an der Schamlosigkeit ein.

Der Verbrecher erreicht stets eine gewisse Art unmäßiger Frechheit. Es giebt in den fürchterlichen, so wenig sondirten sittlichen Abgründen eine gewisse sonderbare, abscheuliche Prahlerei, welche man die Unzucht des Lasters nennen kann. Das Unschmackhafte des falschen guten Rufes reizt den Appetit nach Schande. Man verachtet die Menschen so sehr, daß man wünscht, von ihnen verachtet zu werden und bewundert die Ungebundenheit, welche Entehrung gestattet. Mit gierigen Blicken betrachtet man die Schande, die es sich in öffentlicher Verworfenheit wohl sein läßt. Augen, die zum Niederschlagen gezwungen sind, werfen oft verstohlene Seitenblicke. Maria Alacoque folgt in nächster Linie auf Messalina. Vergleicht La Cadière und die Nonne von Louviers. Clubin hatte auch unter dem Schleier gelebt. Sein ehrgeiziges Streben ging nach Ausübung frecher Schamlosigkeit. Er beneidete die öffentliche Dirne und den Mann, der mit dreister Stirn seine Schandflecken trug. In seinem eigenen Innern fühlte er sich unzüchtiger, als eine jener Gefallenen und es widerte ihn an, für keusch zu gelten. Er war bisher der Tantalus des Cynismus gewesen. Jetzt endlich, auf diesem Felsen in dieser Einsamkeit konnte er aufrichtig sein und er war es. Welch‘ unendliches Behagen, unverstellt verabscheuungswerth dazustehen! In dieser Minute genoß Clubin alle erdenklichen teuflischen Freuden; die Zinsen der Heuchelei wurden ihm gezahlt; seine Falschheit war eine dem Satan vorgestreckte Summe, die er jetzt zurückerhielt. Er überließ sich dem Rausch der Frechheit; nur der Himmel war ja über ihm, die Menschen waren fern.

»Ich bin ein Schurke!« schrie er und fühlte sich befriedigt.

Nie sind wohl ähnliche Gewissensvorgänge bei einem Menschen vorgekommen. Keine Charakterenthüllung ist mit dem Abwerfen der Heuchelei zu vergleichen.

Er war glücklich, ganz allein zu sein und hätte doch nicht gezürnt, wäre Jemand neben ihm gewesen. Es würde ihm einen Genuß bereitet haben, vor Zeugen so verabscheuungswerth dazustehen.

Wie hätte es ihn beglückt, dem ganzen Menschengeschlecht das Wort » Schwachsinniger« zurufen zu können.

Die Abwesenheit der Menschen sicherte seinen Triumph, doch verminderte sie ihn. Er allein war der Zeuge seiner Herrlichkeit.

Es liegt ein Reiz darin, am Pranger zu stehen. Alle Welt weiß, daß man nichtswürdig ist. Die Menge zwingen, ihre Blicke auf Dich zu richten, heißt eine Macht ausüben. Der Galeerensklave, welcher die eiserne Kette am Hals im Bock auf dem Kreuzweg steht, ist der Despot aller Augen, die sich auf ihn richten. Dies Schaffott gleicht einem Piedestal. Ist es nicht ein herrlicher Triumph, der Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit zu sein? Diejenigen, welche vor dem Altar des Teufels opfern, sehen in der Schande einen Heiligenschein. Durch diesen erheben sie sich über die Menge. Er verhilft ihnen zur Herrschaft. Ein Schandpfahl, den die ganze Welt steht, erinnert an einen Thron. Vor Gericht stehen, heißt ein Gegenstand der Aufmerksamkeit sein. Ein schlechter Regent hat entschieden seine Schandpfahlfreuden. Nero, als er Rom anzündete, Ludwig XIV., als er Palatinat wie einen Verräther behandelte, Georg der Reichsverweser, indem er Napoleon langsam tödtete, Nicolaus, als er Angesichts der civilisirten Welt Polen den Hals brach, mußten etwas von der Wollust schmecken, in welcher Clubin jetzt schwelgte. Die Unbegrenztheit der öffentlichen Verachtung macht auf den Verachteten den Eindruck einer ihm dargebrachten großen Anerkennung. Entlarvt werden, ist eine Niederlage; sich selbst entlarven, heißt einen Sieg feiern. Der Sieg ist Trunkenheit, unverschämte, befriedigte Frechheit, gänzliche Nacktheit, die alles um sich her beleidigt. Ein übergroßes Glück.

Die Begriffe eines Heuchlers scheinen im Widerspruch mit einander zu stehen und doch ist seine ganze Schurkerei eine folgerechte. Er hat Honig auf den Lippen und Galle im Herzen. Der Heuchler, an sich grundschlecht, zeigt in seinem Wesen die zwei äußersten Grenzen der Verworfenheit. Er ist zugleich Priester und Courtisane. Als Teufel hat er ein doppeltes Geschlecht. Er ist der verabscheuungswürdige Hermaphrodit des Bösen und befruchtet, vermehrt und verwandelt sich selber. Wollt Ihr seine schöne Seite kennen lernen, wohlan! werft einen Blick auf ihn; wünscht Ihr seine Häßlichkeit zu betrachten, nun, so dreht ihn um!

Clubin’s Seele hatte dies Dunkel verworrener Vorstellungen. Ihm lag wenig daran, dasselbe zu lichten; er schwelgte darin.

Eine Reihe höllenentstiegener Feuerfunken konnte man die Folge seiner Gedanken nennen.

Er stand eine Zeit lang träumerisch da und betrachtete im Geist seine frühere Rechtschaffenheit mit dem Auge einer Schlange, die ihre eben abgeworfene alte Haut vor sich liegen sieht.

Jedermann, ja fast er selbst, hatte an seine Redlichkeit geglaubt.

Zum zweiten Mal brach er in ein Gelächter aus.

Man würde ihn für todt halten, während er in Reichthum lebte. Er galt für verloren und war gerettet. Welchen Streich hatte er dem albernen Menschengeschlecht gespielt!

Und zu diesem albernen Menschengeschlecht gehörte Rantaine. Clubin gedachte seiner mit einer grenzenlosen Verachtung. Der Marder verachtet den Tiger. Rantaine’s Flucht war in gewissem Sinne eine verfehlte; er, Clubin, führte die seine meisterhaft aus. Rantaine ging bestürzt, beschämt, Clubin triumphirend davon. Er hatte, was die Art der bösen That betraf, Rantaine’s Beispiel befolgt; allein das Glück war auf seiner Seite.

Hinsichtlich der Zukunft hatte er noch nichts Festes beschlossen. Die eiserne Büchse, welche er in seinem Gürtel trug, enthielt drei Banknoten; diese Gewißheit genügte. Er wollte seinen Namen ändern. Es giebt Länder, in denen siebenzigtausend Franken so viel bedeuten, als siebenhunderttausend. Es wäre nicht übel, in einen jener Winkel der Erde zu gehen, um von diesem, dem Räuber Rantaine abgejagten Gelde als ehrlicher Mann zu leben. Speculiren, Großhandel treiben, das Capital vermehren, im vollen Ernst Millionair werden, hatte auch etwas für sich.

In Costa-Rica, dem ersten Platz für Kaffeehandel, ließen sich zum Beispiel Tonnen Geldes erwerben. Er wollte die Sache überlegen.

Es eilte nicht. Er hatte Zeit, seine Pläne zu bilden. Das Schwerste war bereits gethan. Rantaine auszuplündern, mit der Durande verschwinden, dies hatte die größten Schwierigkeiten gemacht. Sie waren glänzend überwunden. Der Rest war einfach. Nichts stand zu befürchten, nichts konnte ihm zustoßen. Die Küste war durch Schwimmen zu erreichen. In der Nacht wollte er in Plainmont landen, das Felsufer erklimmen und sich unverzüglich in das Geisterhaus begeben, was ihm mit Hülfe eines Taues mit Knoten, das er schon in einer Felsöffnung versteckt hatte, ohne Mühe gelingen mußte. In jenem Hause fand er sein Felleisen mit trockenen Kleidern und Lebensmitteln. Dort wollte er die Ankunft spanischer Schmuggler abwarten, die, wie man ihn benachrichtigt hatte, vor Ablauf einer Woche Plainmont berühren würden. Diese Schmuggler sollten ihn für einige Guineen nicht nach Tor Bay schaffen, wie er, um etwaige Berechnungen zu verwirren, mit Blasko, einem der Gesellen verabredet hatte, sondern ihn bis Passages oder Bilboa befördern. Von dort wollte er sich nach Vera-Cruz oder New-Orleans begeben. – Jetzt kam der Augenblick, wo er sich in’s Meer stürzen mußte. Die Schaluppe war fern; eine Stunde lang schwimmen, hatte für Clubin nichts zu bedeuten. Nur eine Meile See trennte ihn vom Lande, denn er stand auf dem Hanoisfelsen. Als er mit diesen Gedanken beschäftigt war, zerriß die Nebelwand an einer Stelle. Der entsetzliche Douvresfelsen tauchte vor ihm auf.

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Siebentes Capitel. Ein unerwarteter Zwischenfall.

Clubin betrachtete ihn mit verstörtem Blick.

Es war wirklich die furchtbare einsame Klippe.

Wer konnte ihre mißgeformte Silhouette verkennen! Die beiden Douvreszwillinge starrten gräßlich empor und zeigten ihren, einer Fallgrube ähnlichen Engpaß, den man die Mörderhöhle des Oceans hätte nennen können.

Sie waren ganz in der Nähe. Der Nebel hatte sie versteckt, als seien sie Mitschuldige.

Die Undurchsichtigkeit der Luft war schuld, daß Clubin eine falsche Richtung einschlug. Ungeachtet aller Aufmerksamkeit erging es ihm wie den großen Seefahrern Gonzalez und Fernandez, von denen ersterer das weiße und letzterer das grüne Vorgebirge entdeckte. Der Nebel hatte ihn irregeleitet. Clubin fand ihn zur Ausführung seines Planes sehr vortheilhaft, doch schloß er Gefahr in sich. Der Capitän hatte geglaubt, die westliche Richtung innezuhalten, allein er täuschte sich und der Guerneseyer führte in der Meinung, den Hanois vor sich zu sehen, die letzte Schwenkung des Schiffes herbei. Die Durande stand von einer unterseeischen Klippe durchstoßen, nur einige Kabellängen von den beiden Douvresfelsen entfernt. Zweihundert Faden weiter bemerkte man einen plumpen Würfel von Granit. Die steilen Wände dieses Felsens zeigten Rillen und Vorsprünge, vermittelst deren er sich erklimmen ließ und die gradlinigen Ecken und rechten Winkel ließen auf seinem Gipfel ein Plateau vermuthen.

Es war der »Mann.«

Er überragt selbst die Douvresfelsen. Seine Plattform beherrscht ihre doppelten, unnahbaren Spitzen. Ihr Stand, der in Stufenform abfallend eine Art Gesims bildet, hat eine sonderbare, gewissermaßen kunstgerechte Regelmäßigkeit. Man kann sich nichts Oederes und Schaurigeres vorstellen als diesen Felsen. Die Sturzwellen der hohen See falten ihre Gewänder ungestört auf den viereckigen Fronten dieses riesigen schwarzen Sumpfes, einer Art Piedestal für die zahllosen Gespenster des Meeres und der Nacht.

Der ganze Ort hatte augenblicklich etwas Bedrückendes, Schläfriges. Kaum ein Luftzug, kaum ein Wellengekräusel. Man ahnte unter dieser stummen Wasserfläche ein reiches, verborgenes Leben der Finsterniß.

Clubin hatte die Douvresklippen oft von ferne gesehen.

Er täuschte sich nicht über die Stelle, an der er sich befand.

Kein Zweifel!

Plötzlicher, grauenhafter Wechsel. Die Douvresfelsen anstatt der Hanois. Nicht eine, nein, fünf Seemeilen vom Lande entfernt! Fünf Seemeilen! Unmöglich, nach dem Strand zu schwimmen. Die Douvresfelsen sind für den einsamen Schiffbrüchigen die sichtbare und fühlbare Gegenwart des letzten Augenblicks. Er darf und soll die Erde nicht wieder betreten.

Clubin schauderte. Er selbst hatte sich in den Rachen des Todes gestürzt. Keine Zuflucht als den »Mann.« Wahrscheinlich brach während der Nacht der Sturm los und die überladene Schaluppe der Durande schlug um. Keine Kunde von dem Schiffbruch erreichte den Strand. Es wurde nicht einmal bekannt, daß Clubin auf den Douvresklippen allein zurückgeblieben war. Keine Aussicht, als vor Kälte und Hunger umzukommen. Seine siebenzigtausend Franken verschafften ihm keinen Bissen Brot. All‘ seine mühsamen Zurüstungen fanden endlich in dieser Falle ihr Ziel. Er war der fleißige Baumeister seines eigenen Grabgewölbes. Keine Hülfe. Kein möglicher Glückfall. Sein Sieg bereitete ihm den Untergang; Gefangenschaft anstatt Erlösung; Todesnoth, wo er langes Lebensglück gehofft hatte. Ein Augenblick, die Zeit, welche ein Blitz zum Aufzucken nöthig hat, genügte, um seinen künstlichen Bau einzustürzen. Das geträumte Paradies dieses Dämons erschien ihm in seiner eigentlichen, wahren Gestalt – der Leichengruft.

Mittlerweile hatte sich der Wind wieder eingestellt. Der zerrissene, auseinandergetriebene Nebel jagte in großen, unförmlichen, wirren Ballen dem Horizont entgegen. Das ganze Meer war wieder sichtbar.

Die Ochsen, mehr und mehr durch die Fluth im Schiffsraum bedrängt, fuhren fort zu brüllen.

Die Nacht zog herauf und wahrscheinlich auch der Orkan.

Durch das steigende Meer allmählig emporgehoben, schwankte die Durande von links nach rechts, dann von rechts nach links, bis sie anfing, sich auf der Klippe zu drehen, als sei diese ein Zapfen.

Man sah den Augenblick kommen, wo eine Sturzsee sie losreißen und überfluthen würde.

Es war jetzt weniger finster, als zur Zeit des Schiffbruchs! Man konnte die Gegenstände deutlicher erkennen, obgleich der Abend vorgerückt war. Der Nebel hatte die Finsterniß durch sein Verschwinden gelichtet. Im Westen stand nicht mehr das kleinste Gewölk. Die Dämmerzeit gewährt uns oft einen schönen, klaren Himmel. Die Helle eines solchen erglänzte jetzt auf dem Meere. Das Schiff war in einer Weise gestrandet, daß der vordere Theil sich auf dem Grunde befand, während das Hinterdeck frei aus dem Wasser emporragte. Dort stellte Clubin sich auf und ließ sein Auge am Horizont haften.

Es ist eine Eigenheit des Heuchlers, daß er sich mit Hast an jede Hoffnung klammert. Er lebt in steten Erwartungen. Die ganze Heuchelei ist nichts als eine große verabscheuungswürdige Hoffnung; oder letztere bildet vielmehr das Fundament jener großen Lüge und wird in Verbindung mit derselben ein Laster.

Sonderbar, daß der Heuchler Zuversicht hegt; er verläßt sich auf die Gleichgültigkeit einer Vorsehung, welche das Böse zuläßt.

Clubin erblickte die Meeresfläche.

Die Lage war verzweifelt, seine düstere Seele war es nicht. Er sagte sich, daß die Schiffe, welche unter dem Nebel aufgebraßt lagen oder Anker geworfen hatten, ihre Fahrt fortsetzen und vielleicht in Sicht kommen würden.

Und so geschah es; in der Ferne zeigte sich ein Segel. Es kam aus Westen und bald konnte man die Gestalt des Fahrzeuges erkennen. In der Weise eines Schooners ausgerüstet, hatte es nur einen Mast und der Bugspriet war fast horizontal. Hieraus zu schließen, mußte es ein Kutter sein.

Noch vor Ablauf einer halben Stunde segelte er nahe an den Douvresfelsen vorüber.

Clubin sagte sich: Ich bin gerettet.

Wer sich in einer solchen Lage befindet, ist zunächst auf Erhaltung seines Lebens bedacht.

Der Kutter mochte vielleicht ein fremder sein. Wer weiß, ob er nicht Schmugglern gehörte, die nach Pleinmont reisten? Oder war es Blasco selber, der mit ihm segelte? In diesem Fall war nicht nur Clubin’s Leben gerettet, sondern auch sein Glück gemacht und er durfte seine Bekanntschaft mit den Douvresfelsen ein günstiges Ereigniß nennen, weil es den Abschluß seiner Flucht beschleunigte, ihn des Wartens in dem Geisterhause überhob und sein Abenteuer auf der See ihn bald vollenden ließ.

Die volle Gewißheit des Gelingens drang wieder mit wahnsinniger Gewalt in seine düstere Seele.

Es ist seltsam, wie leicht ein Schurke geneigt ist zu glauben, daß ihm der Erfolg nicht fehlen könne.

Eins blieb jedoch noch zu thun.

Die Durande vermischte, an der Klippe haftend, ihre Formen mit denen der Felsen und vermehrte die Zahl der Spitzen und Zacken noch um einige. Sie verlor sich unter der Menge und konnte in der Dämmerung möglicherweise von dem vorübersegelnden Schiffe nicht erkannt werden. Doch eine menschliche Gestalt, die auf dem Felsen des »Mannes« stehend, Zeichen der Verzweiflung machte und sich in der halbdämmerigen Luft schwarz vom Hintergrunde abhob, mußte die Aufmerksamkeit ohne Zweifel erregen. Man würde jedenfalls ein kleines Fahrzeug abschicken, um den Schiffbrüchigen einzuholen.

Der »Mann« maß nur zweihundert Klafter. Er war durch Schwimmen leicht zu erreichen und auch nicht schwierig zu erklimmen.

Das Vordertheil der Durande steckte im Wasser, deshalb mußte Clubin von der Höhe des Hinterdecks, wo er eben stand, in die See springen. Er warf ein Senkblei hinunter und sah, daß der Grund sehr tief war. Sehr kleine Muscheln, welche der Schlamm mit nach oben brachte, bewiesen durch ihre Frische und Unberührtheit, daß der Felsen tiefe Höhlen enthielt, in denen das Wasser, so bewegt auch die Oberfläche sein mochte, stets ruhig war.

Er entledigte sich seiner Kleider und ließ dieselben auf dem Verdeck. Auf dem Kutter hoffte er andere zu finden.

Nur seinen ledernen Gürtel behielt er um den Leib. Er schnallte ihn fest, tastete nach der eisernen Büchse, maß mit den Augen die Richtung, welche er zwischen den Brandungen und Wogen einzuschlagen hatte, um den »Mann« zu erreichen und stürzte dann, den Kopf vorgestreckt, sich in das Meer. Der Fall war ein tiefer.

Endlich erreichte er den Grund, ging einen Augenblick an den Felsen vorbei unter dem Wasser hin und gab sich dann einen Stoß, um die Oberfläche zu erreichen.

In diesem Augenblick fühlte er sich am Fuß ergriffen.

Siebentes Buch. Es ist unklug, Fragen an ein Buch zu richten.


Erstes Capitel. Die Perle in der Tiefe des Abgrundes.

Einige Minuten nach seiner kurzen Unterredung mit Sieur Landoys erschien Gilliatt in St. Sampson.

Er war unruhig bis zur Seelenangst. Was konnte vorgefallen sein?

St. Sampson glich einem aufgestörten Bienenschwarm. Alles war vor den Hausthüren. Die Weiber jammerten. Sah man irgendwo Personen, welche gesticulirten und etwas zu erzählen schienen, so schaarte man sich um dieselben. »Welch‘ Unglück!« riefen manche, andere lächelten.

Gilliatt richtete an Niemand eine Frage. Dies lag nicht in seinem Wesen. Außerdem war er zu erregt, um mit gleichgültigen Menschen zu sprechen. Er mißtraute nacherzählten Dingen und erfuhr lieber den ganzen Sachverhalt aus sicherer Quelle; deshalb ging er gerades Weges zum Hause der » Bravées

Seine Unruhe war so heftig, daß er sich nicht einmal fürchtete, dort einzutreten. Die auf den Hafendamm führende Thür des niedrigen Saales stand weit offen. Auf der Schwelle war ein Gewühl von Männern und Frauen. Jeder ging in das Haus, er machte es ebenso.

Bei seinem Eintritt fragte Sieur Landoys, der an der Thüreinfassung lehnte, ihn mit halber Stimme:

– Sie wissen wohl ohne Zweifel, was geschehen ist?

– Nein!

– Ich wollte es Ihnen unterweges nicht entgegenrufen, um keinen Unglücksvogel vorzustellen.

– Was giebt es denn?

– Die Durande ist gescheitert.

Der Saal war mit Menschen gefüllt.

Man sprach leise, wie in einem Krankenzimmer.

Die Versammelten – Nachbarn, Reisende und allerhand neugierige Menschen, die ihr Weg zufällig vorübergeführt hatte, hielten sich dichtgedrängt mit einer Art Scheu in der Nähe des Einganges und ließen den Hintergrund des Saales frei, wo man neben der weinenden Deruchette Mess Lethierry stehen sah.

Er lehnte mit dem Rücken an der Zwischenwand. Sein Matrosenhut war bis über seine Augenbrauen herabgezogen und eine Locke grauen Haares hing an seiner Wange herunter. Er sprach kein Wort. Seine Arme waren keiner Bewegung fähig und seinem Mund schien der Athem zu fehlen. Wie ein lebloses Bild stand er an der Mauer.

Man sah in ihm einen Menschen, dessen Lebensfaden sich abspann. Durande war nicht mehr, deshalb hatte Lethierry keinen Grund, weiter zu leben. Sein Herz hing an der See – jetzt stockte dies Herz – was sollte aus ihm werden?

Die Durande nicht mehr erwarten, nicht mehr abfahren, nicht mehr ankommen sehen! Was ist ein Leben ohne Zweck? Essen und trinken – und dann? Dieser Mann hatte all‘ seine Arbeiten durch ein Meisterwerk gekrönt und durch die ganze Hingebung seiner selbst einen Erfolg errungen. Der Erfolg war vernichtet, das Meisterstück zerstört. Sollte er noch einige leere Jahre hinleben? Weshalb? Keine Arbeit künftig mehr! In seinem Alter fängt man nicht wieder von Neuem an zu schaffen; er war zu Grunde gerichtet. Armer, alter, braver Mann! Deruchette saß weinend auf einem Stuhl neben Mess Lethierry und hielt seine Faust in ihren beiden Händen. Die Hände waren gefaltet, die Faust fest geschlossen. Hierin zeigte sich die Gemüthsstimmung der beiden Niedergeschlagenen. Das Falten deutete auf einige Hoffnung hin, das Schließen sagte, daß alles zu Ende sei.

Mess Lethierry hatte Deruchette seine Hand überlassen. Er verhielt sich völlig unthätig und schien nicht mehr Lebensfähigkeit zu besitzen, als Jemand, den der Blitz trifft.

Wenn wir in der Tiefe des Unglücks gewisse Stufen erreichen, so werden wir den Lebenden entrückt. Die Menschen kommen in unser Zimmer und gehen darin umher, ohne daß wir ein deutliches Bild von ihnen haben; sie sind nur auf halbe Armlänge von uns getrennt und können doch nicht nahe an uns herantreten. Wir sind ihnen unerreichbar und sie sind uns in unzugängliche Gebiete entrückt. Glück und Verzweiflung können nicht in ein und demselben Luftstrich bestehen. Der Hoffnungslose lebt in weiter Entfernung von seinen Mitbrüdern, weiß kaum, daß sie da sind und verliert selbst das Gefühl seiner eigenen Existenz. Mag man auch in einer lebendigen Hülle stecken, die wirkliche Empfindung des Seins ist verschwunden; man führt ein Schattenleben. Mess Lethierry befand sich auf einem solchen Standpunkt.

Die Gruppen flüsterten. Man theilte einander die bekanntgewordenen Nachrichten mit.

Die Durande – so hieß es – war eine Stunde vor Sonnenuntergang in Folge des Nebels auf die Douvresfelsen gerannt und gescheitert. Mit Ausnahme des Capitains, der sein Schiff nicht verlassen wollte, wurden Mannschaft und Reisende durch die Schaluppe gerettet. Ein, nach dem Verschwinden des Nebels plötzlich ausbrechender Sturmwind brachte das Fahrzeug in Gefahr unterzugehen und trieb es jenseits Guernesey auf die hohe See. In der Nacht führte sein gutes Glück ihm den »Cashmir« entgegen, der die Reisenden aufnahm und nach St. Pierre-Port brachte. Die ganze Schuld traf Tangrouille, den Steuermann, der jetzt im Gefängniß saß. Clubin hatte hochherzig gehandelt.

Die unter der Menge stark vertretenen Lootsen legten einen besondern Ausdruck auf das Wort: Douvresklippen. – Schlechtes Wirthshaus! sagte einer unter ihnen.

Auf dem Tisch sah man einen Compaß und ein Packet Geschäftsbücher und Register – ohne Zweifel die der Durande zugehörigen, welche Clubin, Imbrancam und Tangrouille im Augenblick der Abreise übergeben hatte. Herrliche Selbstverläugnung jenes Mannes, im Augenblick, wo er sich dem Tode preisgab, alles, selbst die Papiere zu retten. Eine kleine Handlung und doch so groß; erhabenes Vergessen der eigenen Person!

Man vereinigte sich in der Bewunderung für Clubin und ebenso in dem Glauben, er sei trotz aller Gefahr gerettet. Der Kutter Shealtiel war eine Stunde nach dem Cashmire eingelaufen und brachte die letzten Nachrichten über die Durande. Er hatte während des Nebels vierundzwanzig Stunden unfern dieses Schiffes ausgeharrt und bei dem Sturm in jenen Gewässern lavirt. Der Führer des Shealtiel befand sich unter den Anwesenden. Er hatte Mess Lethierry Bericht über jene Vorgänge abgestattet und endigte denselben im Augenblick, als Gilliatt in den Saal trat.

Es war ein gründlicher Bericht.

Bei Tagesanbruch, als der Sturm nachließ, hörte der Führer des Shealtiel auf hoher See ein Gebrüll. Diese Töne, welche sonst wohl auf Wiesen erschallen, aus den Meereswellen zu vernehmen, befremdete ihn. Er steuerte nach jener Richtung und bemerkte inmitten der Douvresklippen die Durande. Die See war ruhig genug, um ihn bis in die Nähe vordringen zu lassen. Er kündigte sein Kommen durch das Sprachrohr an, allein nur das Brüllen der Ochsen, die im Schiffsraum mit dem Ertrinken kämpften, antwortete ihm. Er war überzeugt, daß sich kein menschliches Wesen am Bord der Durande befand. Das herrenlose Fahrzeug war zum Theil wohlerhalten und trotz der Heftigkeit des Sturmes hätte Clubin die Nacht darin verleben können. Er war nicht der Mann, seine Rechte sobald aufzugeben. Da er sich nicht auf dem Schiff befand, durfte man an seine Rettung glauben. Mehrere Slupen und Lugger von Granville und St. Malo mußten, dem Seenebel entronnen, am Abend des vorigen Tages ziemlich nahe an den Douvresfelsen vorübergekommen sein. Eins dieser Fahrzeuge hatte jedenfalls den Capitän aufgenommen. Man dürfe nicht vergessen, daß die mit Menschen angefüllte Schaluppe des gescheiterten Schiffes großen Gefahren entgegen ging und durch eine Person mehr überladen worden wäre, was ihr Umschlagen hätte herbeiführen können. Der Gedanke an diese Wahrscheinlichkeit bestimmte Clubin, auf dem Wrack zu bleiben; doch nach Erfüllung seiner Pflicht würde er keinenfalls gezögert haben, sich von einem rettenden Schiffe aufnehmen zu lassen. Er war ein Held, kein Dummkopf. Ein Selbstmord wäre um so ungereimter gewesen, als Clubin sich nichts vorzuwerfen hatte. Tangrouille war der Schuldige, nicht Clubin. Alles dies mußte den Menschen einleuchten. Der Führer des Shealtiel hatte unverkennbar Recht und Jedermann erwartete Clubin einen Augenblick um den andern. Es wurde beschlossen, ihn im Triumph auf den Händen zu tragen.

Zwei Gewißheiten gingen aus dem Bericht hervor: Clubin war gerettet, die Durande verloren.

Was letztere betraf, so mußte man sich in das Unvermeidliche fügen: die Vernichtung war eine völlige; der Führer des Shealtiel sah den letzten Vorgängen des Schiffbruchs zu. Der äußerst spitze Felsen, welcher die Durande wie ein Nagel durchbohrte, hatte während der ganzen Nacht Stich gehalten und den Windstößen widerstanden, als wolle er das herrenlose Schiff für sich behalten, aber am Morgen, wo der Shealtiel, überzeugt, daß Niemand seiner Hülfe bedürfe, sich von der Durande entfernte, hob eine einzige Sturzwelle – wie ein letzter Zornesausbruch des Ungewitters die Durande wüthend empor, riß sie von der Klippe und schleuderte sie mit der Schnelligkeit eines Pfeiles zwischen die beiden Douvresfelsen. – Man hörte ein teuflisches Gekrache, erzählte der Schiffer; – durch die Welle zu einer gewissen Höhe emporgehoben, war die Durande bis an die Rippen in den schmalen Paß der beiden Felsen niedergeschleudert und auf’s Neue festgenagelt, nur dauerhafter, als durch die unterseeische Klippe. Dort blieb sie in beklagenswerther Lage haften, allen Winden und Wogen preisgegeben.

Drei Viertel des Fahrzeuges waren nach Aussage der Mannschaft des Shealtiel bereits zerschmettert. Es wäre schon in der Nacht gänzlich vernichtet worden, hätten die Klippen es nicht festgehalten und unterstützt. Der Führer des Shealtiel hatte das Wrack genau durch sein Fernrohr betrachtet. Er schilderte alle Einzelheiten der Zerstörung mit seemännischer Genauigkeit. In einigen Tagen mußte von der Durande voraussichtlich jede Spur verloren sein.

Doch die Maschine war merkwürdiger Weise in der allgemeinen Verwüstung fast ganz wohlerhalten geblieben, ein Zeichen ihrer Tüchtigkeit. Der Führer des Shealtiel konnte auch dies versichern. Die Masten waren zerbrochen, doch der Schornstein stand noch an seinem Platz. Die Radgehäuse waren zerquetscht, die Treträder hatten gelitten, aber die Laufräder schienen nicht eine Schaufel verloren zu haben. Die Maschine war nach des Schiffsführers Ueberzeugung unverletzt und auch Inbrancam, der Heizer, welcher sich unter der Menge befand, theilte diesen Glauben. Der Neger, verständiger als mancher Weiße, war ein Bewunderer der Maschine. Er hob die Arme empor, breitete die zehn Finger seiner schwarzen Hände aus und sagte durch dieses stumme Zeichen zu Lethierry: »Meister, die Maschine lebt!«

Da Clubin gerettet zu sein schien und der Rumpf der Durande verloren war, bildete die Maschine den Hauptgegenstand der Unterhaltung. Man interessirte sich für sie, als sei sie eine Person und bewunderte ihre gute Construction. – Eine wackere Gevatterin! sagte ein Lootse. – Eine brauchbare! rief ein Guerneseyer Fischer. – Sie muß es schlau angefangen haben, sich mit zwei oder drei Schrammen aus dem Handel herauszuziehen, fügte ein Anderer hinzu. Nach und nach wurde alles Andere über der Maschine vergessen. Man nahm für und wider sie Partei. Sie hatte ihre Freunde und Feinde. Mehr als ein Besitzer eines guten, alten Segelkutters, welcher sich Hoffnung auf die Kundschaft der Durande machte, war nicht erzürnt darüber, daß die Douvresklippen der neuen Erfindung ihr Recht hatten angedeihen lassen. Das Geflüster ging in Geräusch über. Man erörterte die Sache mit vieler Lebendigkeit. Dennoch lag auch noch in diesem lauten Wesen eine gewisse Zurückhaltung und alle Stimmen senkten sich von Zeit zu Zeit unter dem Druck, welchen Lethierry’s Grabesschweigen ausübte.

Das Ergebniß der bis in’s Einzelne ausgeführten Erörterung stellte sich als folgendes heraus:

Die Maschine war sehr wichtig; man konnte vielleicht ein neues Fahrzeug bauen, doch die Maschine ließ sich nicht erneuern. Es gab keinen Ersatz für sie. Zur Anfertigung einer ähnlichen fehlte das Geld und mehr noch die Arbeiter. Man wußte, daß der Erbauer der Maschine gestorben war. Sie hatte vierzigtausend Francs gekostet. Niemand würde in Zukunft ein solches Capital an eine so unsichere Sache setzen und zwar um so weniger, als sich herausgestellt hatte, daß Dampfer ebenso leicht zu Grunde gehen, als Segelschiffe. Das neueste Schicksal der Durande hob all‘ ihre früheren Erfolge auf. Dennoch war es zu beklagen, daß jene Maschine, gegenwärtig noch unbeschädigt, nach fünf bis sechs Tagen wahrscheinlich unbrauchbar sein würde, wie das Schiff. So lange sie noch vorhanden war, konnte man eigentlich von keinem Scheitern sprechen. Nur der Verlust der Maschine ließ sich nicht ersetzen. Sie retten, würde das Unglück gut machen heißen. – Retten! dies war leicht gesagt. Wer aber würde sich dazu hergeben? Ließ sich die Sache überhaupt ausführen? Unternehmen und Gelingen sind zweierlei, wie ein Traum leicht geträumt, aber schwer verwirklicht wird. Gab es irgend ein unverständiges, unsinniges Fantasiegebilde, so war es der Plan, die an den Douvres gescheiterte Maschine zu retten. Es wäre albern gewesen, ein Fahrzeug mit Arbeitern nach jenen Felsen zu schicken; denn die Jahreszeit der Stürme war da. Der erste Orkan hätte die Ankerketten an den Graten der unterseeischen Klippen zersägt und das Schiff wäre an dem Felsen zerschellt. Dies hieße dem ersten Wrack ein zweites nachschicken. In der Vertiefung des Plateaus der höchsten aller Douvresklippen, in welcher jener sagenhafte Schiffbrüchige einst Schutz fand und endlich Hungers starb, hatte kaum eine Person Platz. Um die Maschine zu retten, mußte also ein Mann nach dem Felsen schiffen und dort – in vollständiger Meereinsamkeit, fünf Meilen vom Strande ganze Wochen verleben, allein inmitten dieser furchtbaren Region hausen; unerwarteten und ungeahnten Ereignissen entgegensehen, ohne Erfrischungsmittel an Speise und Trank bei körperlicher Erschöpfung zur Hand zu haben, ohne sich in seiner Einsamkeit irgend einer Hülfsleistung Anderer zu erfreuen, geschieden von jeder Spur des Daseins menschlicher Wesen, außer jener alten, die der vor Hunger und Durst dahingeschiedene Schiffbrüchige, sein Genosse, auf dem Felsen zurückgelassen hatte. Und wie war, selbst wenn sich Jemand dazu bereit fände, diesen Gefahren zu trotzen, die Rettung der Maschine zu bewerkstelligen? Der Betreffende mußte Matrose und Schmied in einer Person sein. Und welch‘ eine Arbeit würde es sein? Der Mensch, welcher sich ihr unterzogen, hätte mehr als ein Held sein müssen. Ein Narr! Denn bei gewissen riesigen Unternehmungen, die übermenschliche Kräfte erfordern, ist der Muth der Unternehmung nicht Muth, sondern Wahnsinn. Wäre es, die Sache nach allen Seiten erwogen, nicht eine Ueberspannung, altem Eisenwerk zu Liebe, sein Leben auf’s Spiel zu setzen? Nein, Niemand würde sich entschließen, nach den Douvresfelsen zu gehen. Die Maschine mußte, wie das Uebrige, den Wellen preisgegeben werden. Ein Retter, wie man ihn brauchte, konnte nicht erscheinen. Wo wäre solch ein Mensch zu finden?

Obige Betrachtungen waren, in etwas anderer Form ausgedrückt, das Wichtigste der Unterhaltung, welche die Menge halblaut pflog.

Der Führer des Shealtiel, ein alter Lootse, drückte den gemeinsamen Grundgedanken durch folgenden lauten Ruf aus:

– Nein, es ist alles zu Ende! Der Mann, welcher nach den Felsen schiffen würde, um die Maschine zu retten, lebt nicht auf Erden.

– Wenn ich es nicht thue, so ist bewiesen, daß Niemand dorthin gehen kann, fügte Imbrancam hinzu.

Der Andere ergriff seine Hand und schüttelte dieselbe mit jener Derbheit, welche die Ueberzeugung der Unmöglichkeit ausdrücken sollte, indem er erwiederte:

– Wenn er sich fände – –

Deruchette wandte den Kopf nach ihm um.

– So würde ich ihn heirathen, sagte sie.

Ein Schweigen entstand.

Da trat ein Mann mit sehr bleichem Angesicht aus einer der Gruppen hervor und sagte:

– Sie würden ihn heirathen, Miss Deruchette?

Es war Gilliatt.

Alle Augen hatten sich erhoben. Mess Lethierry richtete sich kerzengerade empor. Ein seltsames Feuer schimmerte in seinen Blicken.

Er griff mit der Hand nach seinem Matrosenhut und warf ihn auf den Fußboden, sah dann mit feierlichem Ausdruck vor sich hin, ohne einen der Anwesenden in’s Auge zu fassen und rief:

– Deruchette würde ihn heirathen. Ich gebe dem guten Gott mein Ehrenwort darauf.

————

Zweites Capitel. Großes Erstaunen auf der Westküste.

In der Nacht, welche diesem Tage folgte, leuchtete der Mond von zehn Uhr Abends an. So günstig indeß die Nacht, der Wind und die See zu sein schienen, dachte kein Fischer von Hogue de la Perre, Bourdeaux, Houmet Bellet, Platon, Port Grat, Bason, Perrelle Bay, Pezeris, Tielles, Baie des Saints, Petit Bô und Guernesey daran, auf’s Meer zu fahren. Dies war natürlich, denn der Hahn hatte um Mitternacht gekräht.

Wenn nämlich zu außergewöhnlicher Zeit Hahnenschrei erschallt, geht der Fischfang fehl.

Bei Anbruch der Nacht erlebte ein nach Omptolle heimkehrender Fischer eine Ueberraschung.

Auf der Höhe von Houmet Paradis, jenseits der Broyes und Grunes, zwischen der Bake der Plattes Fougères, welche die Gestalt eines umgestülpten Trichters hat, und der von St. Sampson, welche eine Männerfigur darstellt, glaubte er eine dritte Bake zu bemerken. Was hatte dies für eine Bewandtniß? Wann war sie dort aufgepflanzt worden? Welche Untiefe bezeichnete sie? Die Bake selber gab Antwort auf seine Fragen, indem sie sich bewegte. Es war ein Mast. Das Erstaunen des Fischers ward nicht verringert. Eine Bake gab ihm zu denken, ein Mast noch mehr. Fischerei war unmöglich. Alle Welt begab sich nach Hause, einer nur zog aus. Wer? Weshalb?

Zehn Minuten später kam der sich langsam bewegende Mast in der Nähe des Fischers von Omptolle an. Die Barke war nicht zu erkennen, doch hörte man Ruderschläge. Nach dem Geräusch zu urtheilen, waren nur zwei Ruder thätig, also befand sich wahrscheinlich nur ein Mann in dem Fahrzeug. Der Wind kam aus Norden. Augenscheinlich legte der Mann es darauf an, jenseits der Landzunge von Fontenelle Gebrauch von den Segeln zu machen und beabsichtigte demnach, Ancresses und den Berg Crevel zu umschiffen. Was sollte dies bedeuten?

Der Mast zog vorüber und der Fischer langte daheim an.

In derselben Nacht machten Manche, die sich an der Westküste von Guernesey befanden, zu verschiedenen Stunden und von verschiedenen Punkten ebenfalls Beobachtungen.

Eine halbe Meile weit von der Stelle, wo der Fischer von Omptolle seine Barke anschloß, sah ein Meergraskärrner, der auf der einsamen Straße von Clôtures seine Pferde peitschte, daß in ziemlicher Ferne am Horizont ein Segel gespannt ward. Die Stelle wurde wenig befahren, denn der Roque-Rord und die Sablonneuse lagen in der Nähe. Der Fuhrmann schenkte diesem Umstand jedoch keine besondere Aufmerksamkeit, da es sich um ein Schiff und nicht um einen Wagen handelte.

Etwa eine halbe Stunde, nachdem der Kärrner jenes Segel bemerkte, befand sich ein Gipsmacher, der von seiner Arbeit aus der Stadt heimkehrte und am linken Ufer des Sumpfes von Pelée dahinging, plötzlich fast unmittelbar vor einer Barke, die sich mit großer Kühnheit zwischen die Klippen des rothen Meeres, der Gripe de Rousse und die Felsen von Quenon gewagt hatte. Die Nacht war finster, das Meer aber hell, – eine häufige Erscheinung, – und man konnte auf der hohen See die aussegelnden und heimkehrenden Schiffe unterscheiden.

Einige Zeit darauf fragte sich ein Seeheuschreckensammler, der seinen Kasten auf der Sandfläche niedersetzte, welche den Port Soif von dem Port Enfer trennt, worauf die Barke, die er zwischen der Boue Corneille und der Moulrette dahingleiten sah, wohl ausginge?

Man mußte ein tüchtiger Lootse sein und dringende Veranlassung zum Reisen haben, um sich solcher Gefahr auszusetzen.

Als es in Catel acht Uhr schlug, entdeckte der Schenkwirth von Cobo Bay mit einigem Erstaunen jenseits der Boue und Grunettes in der Nähe von Suzanne ein Segel.

Nicht weit von Cobo Bay auf der einsamen Landzunge von Houmet, welche die Bucht von Bason bildet, waren zwei Liebende im Begriff sich zu trennen und heimzukehren.

»Ich verlasse Dich, nicht weil ich ungern bei Dir bin, sondern weil ich nicht länger bleiben darf,« – sagte das Mädchen zu dem Burschen. Im Begriff, sich den Abschiedskuß zu geben, wurden sie durch eine ziemlich große Barke gestört, welche nahe an ihnen vorüberfuhr und nach den Messelettes steuerte.

Monsieur Le Peyre des Norgiots, der den Cotillon Pipet bewohnte, untersuchte um neun Uhr eine Oeffnung, welche Herumstreicher in die Hecke seines Hanffeldes, der Jennerotte, gemacht hatten. Doch selbst in dem Augenblick, wo er sich über den Schaden Gewißheit verschaffte, konnte er nicht umhin, eine Barke zu beobachten, die bei dieser Nachtzeit waghalsig den Crocq Point umschiffte.

Jene Straße war am Tage nach einem Unwetter, wo das Meer noch immer in einiger Erregung ist, sehr unsicher. Wer genaue Kenntniß des Fahrwassers hatte, handelte thöricht, die Fahrt zu unternehmen.

Ein Sacknetzfischer, der seine Geräthe heimtrug, mäßigte seine Schritte um halb zehn Uhr zu L’Equerrier, um einen zwischen Colombelle und Souffleresse sichtbaren Gegenstand zu beobachten, der ein Fahrzeug sein mußte. Dasselbe setzte sich großer Gefahr aus. In jener Gegend herrschten heftige und sehr verderbliche Windstöße. Der Felsen führt den Namen Souffleresse, weil der Wind in seiner Nähe die Barken ungestüm anbläst.

Als der Mond aufging und die kleine Meerenge Li-Hou durch die hohe Fluth gefüllt war, wurde der einsame Wächter der Insel Li-Hou in großen Schreck versetzt. Zwischen seiner eigenen Gestalt und dem Monde erschien eine lange, schmale, schwarze Figur. Sie glich einem ausgebreiteten, wandelnden Leichentuch. Langsam glitt sie oberhalb der Felswände hin, welche durch die dortigen Untiefen gebildet wurden. Der Wächter von Li-Hou glaubte die schwarze Dame zu erkennen.

Die Residenz der schwarzen Dame ist Tau de Pez d’Amont, die der grauen Dame Tau de Pez d’Aval, die rothe Dame bewohnt La Silleuse (im Norden der Bank Marquis) und die schwarze Dame lebt auf dem Grand-Etacré im Westen von Li-Houmet. Zur Nachtzeit, wenn der Mond scheint, verlassen diese Damen ihre Residenzen und begegnen einander bisweilen auf dem Wege. Streng genommen konnte diese schwarze Gestalt ein Segel sein. Die langen Felsmauern, auf welchen sie zu wandeln schien, konnten wirklich den Rumpf einer hinter ihnen dahingleitenden Barke verbergen. Aber der Wächter fragte sich, welch‘ Fahrzeug sich wohl zu dieser Stunde in das Fahrwasser zwischen Li-Hou, la Pécheresse, les Angullières und Lérée-Point wagen würde! Und zu welchem Zweck? Es dünkte ihm wahrscheinlicher, daß jene Gestalt die schwarze Dame sei.

Als der Mond hinter dem Glockenthurm von St. Pierre du Bois hervorkam, bemerkte der Sergeant des Schlosses Rocquaine, als er die Zugbrücke gerade zur Hälfte aufgezogen hatte, daß in der Bucht eine Barke segelte und zwar nicht so weit entfernt als Sambule, doch weiter als die Haute Canée von seinem gegenwärtigen Standpunkt war. Dem Anschein nach kam sie aus Norden und zog nach Süden.

Auf der Südküste von Guernesey, hinter Plainmont befindet sich in einer Bay, deren Ufer ganz aus Abgründen und Felsenwänden besteht, ein sonderbarer Hafen, der durch steil abfallende Uferabhänge gebildet wird. Ein Franzose, der sich auf dieser Insel seit 1855 aufhält, vielleicht derselbe, welcher diese Zeilen geschrieben hat, gab ihm den Namen »der Hafen zur vierten Etage,« eine Bezeichnung, deren man sich in jener Gegend heute allgemein bedient. Damals hieß er La Moie. Er besteht aus einem Felsplateau, das halb von der Natur gebildet, halb ausgehauen ist und vierzig Fuß hoch über dem Wasserspiegel liegt. Zu letzterem gelangt man auf zwei starken nebeneinander gelegten Bohlen, deren eines Ende auf dem Rande des Plateau’s ruht, während das andere in’s Meer gestützt ist. Die Barken werden auf diesen Balken durch Armkraft an Ketten an’s Land gezogen und gehen auf dieselbe Weise denselben Weg hinunter. Für die Menschen hat man dort eine Treppe angebracht. Dieser Hafen wurde damals häufig von Schmugglern besucht. Gerade seiner Unbequemlichkeit wegen war er ihnen recht.

Gegen eilf Uhr befanden sich auf der Plattform von La Moie Schleichhändler mit ihren Waarenballen. Vielleicht waren es dieselben Männer, auf deren Kommen Clubin gerechnet hatte. Wer betrügt, ist auf der Lauer. Die Schmuggler spähten umher, ob keine Gefahr im Anzug sei, und bemerkten mit Erstaunen, daß plötzlich, jenseits der schwarzen Silhouette des Cap Plainmont ein Segel auftauchte. Der Mond schien hell. In der Befürchtung, es gehöre vielleicht zu dem Fahrzeug eines Küstenwächters, der sich hinter dem großen Hanois in den Hinterhalt legen wolle, beobachteten die Schmuggler das Segel. Doch in nordöstlicher Richtung la Boue Blondel hinter sich lassend, glitt es an den Hanoisfelsen vorbei und zog über die offene See dem bleichen Nebel am Horizont zu.

– Wohin zum Teufel fährt diese Barke? fragten sich die Schmuggler.

An demselben Abend, bald nach Sonnenuntergang klopfte Jemand an die Mauerpforte des Bû de la Rue. Es war ein Knabe mit braunen Kleidern und gelben Strümpfen, welcher Anzug ihn als Schreiber der Pfarrei bezeichnete. Die Thür wie auch die Fensterläden des alten Hauses waren verschlossen. Eine alte Frau, die sich vom Sammeln des Meerauswurfs nährte, streifte, eine Laterne in der Hand, auf der Sandbank umher, redete den Knaben an und wechselte folgende Worte mit ihm:

– Was suchst Du, Bursche?

– Den Mann, der dies Haus bewohnt.

– Er ist nicht darin.

– Wo hält er sich auf?

– Ich weiß es nicht.

– Wird er morgen daheim sein?

– Ich weiß es nicht.

– Ist er verreis’t?

– Ich weiß es nicht.

– Ich frage nur danach, weil der ehrwürdige Ebenezer Caudray, der neue Rector des Kirchspiels, ihm einen Besuch zu machen wünscht.

– Ich weiß es nicht.

– Seine Ehrwürden schickt mich, um zu fragen, ob der Herr des Bû de la Rue morgen zu Hause sein wird.

– Ich weiß es nicht.

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Drittes Capitel. Der Besuch.

Während der nächsten vierundzwanzig Stunden nahm Mess Lethierry weder Speise noch Trank zu sich, auch kam kein Schlaf in seine Augen. Er küßte Deruchette’s Stirn, erkundigte sich, ob Nachrichten von Clubin eigelaufen seien, unterzeichnete eine Erklärung, welche besagte, daß er keine Klage beim Gericht einreichen wolle und ließ Tangrouille in Freiheit setzen. Am ganzen nächstfolgenden Tage lehnte er an dem Tisch des Bureau’s der Durande, ohne seine Stellung zu verändern und antwortete freundlich, wenn man mit ihm sprach. Als die Menge ihre Neugier befriedigt hatte, zog Einsamkeit in das Haus ein. Es gewährt großen Reiz, zu beobachten, mit welchem Eifer sich die Leute zum Mitleiden bewegen lassen. Die Thür war wieder geschlossen; man hatte Mess Lethierry mit Deruchette allein gelassen. Das Licht, welches die Blicke des Ersteren eine Weile aufhellte, war wieder jenem düstern Ausdruck gewichen.

Deruchette, die sich Sorge um Mess Lethierry machte, hatte auf Douce’s und Grace’s Rath ein Paar Strümpfe, an welchen er strickte, als ihn die Unglücksbotschaft traf, schweigend neben ihn auf den Tisch gelegt. Er lächelte bitter und sagte:

– Man hält mich also für närrisch!

Nach einem viertelstündigen Schweigen fügte er hinzu:

– Solche Dinge sind angebracht, wenn man glücklich ist.

Deruchette hatte das Strickzeug wieder fortgenommen und die Gelegenheit benutzt, den Compaß und die Schiffspapiere, welche Mess Lethierry zu viel betrachtete, verschwinden zu lassen.

Nachmittags, kurz vor der Theezeit öffnete sich die Thür und zwei schwarzgekleidete Männer, der eine jung, der andere alt, traten in’s Zimmer.

Den Einen haben wir wohl schon im Lauf der Erzählung kennen gelernt.

Das Aeußere dieser beiden Männer verrieth Ernst, doch hatte dieser Ernst einen verschiedenen Charakter. Man hätte sagen können, daß der des Greises ein Amtsernst, und der des Jünglings ein natürlicher war. – Das Kleid erzeugt den einen, der Gedanke den andern.

Ihre Tracht bezeichnete die Ankömmlinge als Männer der Kirche, die sich zu der gegenwärtig herrschenden Religion bekannten. An dem jungen Mann mochte den Beobachter zunächst der Umstand überraschen, daß der tiefe Ernst seines Auges, ein Ernst, dessen Ursprung unverkennbar in seiner Vernunft lag, kein Ergebniß seiner übrigen Natur war. Der Ernst rechtfertigt die Leidenschaft des Wesens und reißt zu derselben fort, indem er sie läutert; das Bemerkenswertheste nächst jener Eigenschaft war die Körperkraft des Jünglings. Als Priester mußte er wenigstens fünfundzwanzig Jahre alt sein; doch durfte man glauben, er zähle erst achtzehn. In ihm offenbarten sich die Harmonie und der Widerspruch einer Seele, die für Leidenschaft, und eines Körpers, der für Liebe geschaffen schien. Er war blond, rosig, frisch und erschien in seiner ernsten Tracht fein und geschmeidig. Seine Wangen waren die eines jungen Mädchens, seine Hände zeichnete Zartheit aus. Er hatte einen lebhaften, ungezwungenen und doch gezügelten Gang. Alles an ihm war reizend, schön, fast verführerisch. Sein ernst-edler Blick erhöhte noch die Anmuth seines Wesens. Das aufrichtige Lächeln, welches Zähne wie die eines Kindes sehen ließ, war gedankenvoll und fromm. Er vereinigte die Zierlichkeit eines Pagen mit der Würde eines Bischofs. Unter seinen dichten blonden Haaren, die einen so lebhaften Goldschein hatten, daß man sie »coquett« nennen konnte, wölbte sich ein wohlgeformter Schädel, der auf ein Gemüth ohne Falsch schließen ließ. Eine doppelte, leichte Furche zwischen seinen Augenbrauen erinnerte an die Gestalt eines Vogels, der die Gedanken seiner Seele tragend, mit entfaltenen Schwingen auf der Stirn schwebt.

Man fühlte bei seinem Anblick, daß er zu den wohlwollenden, unschuldsvollen und reinen Wesen gehörte, die im Gegensatz zu gröberen Naturen Täuschungen sich zur Belehrung dienen lassen und durch Lebenserfahrungen zu Enthusiasten gebildet werden.

Seine spiegelreine Jugend ließ geistige Reife durchschimmern. Beim erstern Blick hätte man ihn für den Sohn, beim zweiten für den Vater des ihn begleitenden grauhaarigen Geistlichen gehalten.

Dieser war Niemand, als der Doctor Jaquemin Herode. Er gehörte zur englischen Hochkirche, welche eigentlich den Papismus ohne Papst darstellt. Der Anglicanismus äußerte sich damals durch Tendenzen, welche seitdem geklärt und dann anerkannt wurden.

Der Doctor Jaquemin Herode bekannte sich zu der Secte des Anglicanismus, die fast eine Art Katholicismus ist. Er hielt sich für vollkommen, war hochfahrend, beschränkt und gebieterisch. Sein innerer Gesichtsstrahl durchdrang kaum die Materie. Der Buchstabe diente ihm statt des Geistes. Das Uebrige ersetzte seine Erhabenheit. Seine Persönlichkeit forderte Anerkennung. Er hatte weniger das Aussehen eines Geistlichen als das eines Monsignore. Sein rechter Platz wäre Rom gewesen. Der Schnitt seines Oberrockes war ganz der des Geistlichen. Er war geborner Kammerprälat. Man sah, daß er eigens erschaffen war, um einem Papste Glanz zu verleihen und mit dem ganzen päpstlichen Hofstaat in abitto paonazzo hinter dem Tragsessel einher zu marschiren. Der Zufall, als Engländer geboren zu sein, und eine mehr auf das alte als das neue Testament gegründete Ausbildung ließen ihn jene große Bestimmung verfehlen. Seine ganze Herrlichkeit bestand kurz zusammengefaßt darin, daß er Rector von Saint-Pierre-Port, Decan von Guernesey und Amtsgehülfe des Bischofs von Winchester war. Hierin lag ohne allen Zweifel große Herrlichkeit! Alles in allem betrachtet hinderte dieselbe M. Jaquemin indeß nicht, ein leidlich braver Mann zu sein.

Als Theologe erfreute er sich der Achtung Sachverständiger und galt am Hofe des Arches, diesem Sorbonne von England, fast als Autorität. Er zeigte die Miene eines Gelehrten, blinzelte in wichtigthuerischer und übertriebener Weise mit den Augen, besaß haarige Nasenlöcher, ließ beständig die Zähne sehen, hatte eine dünne Ober- und eine dicke Unterlippe, mehrere Diplome, eine reiche Pfründe, Freunde mit dem Barontitel, das Vertrauen des Bischofs und führte stets eine Bibel in seiner Tasche. Mess Lethierry war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß der Eintritt der beiden Priester ihn nur zu einem kaum merklichen Runzeln der Augenbrauen veranlaßte.

M. Jaquemin Herode trat näher, grüßte, meldete in einigen mäßig hochtönenden Worten seine neue Berufung und fügte dann bei, daß er der Sitte gemäß komme, um seinen Nachfolger, den neuen Rector von Saint-Sampson, Ehrwürden Joë Ebenezer Caudray, Mess Lethierry’s künftigen Pastor, bei den Standespersonen des Kirchspiels, insbesondere aber bei Mess Lethierry einzuführen.

Deruchette erhob sich.

Ehrwürden Ebenezer, der junge Priester, machte eine Verbeugung.

Mess Lethierry betrachtete ihn und murmelte zwischen den Zähnen: Schlechter Matrose.

Grace rückte Stühle heran. Die beiden Ehrwürden nahmen in der Nähe des Tisches Platz.

Doctor Herode fing sogleich ein Gespräch an.

Er hatte erfahren, daß die Durande zu Grunde gegangen war. Er kam in seiner Eigenschaft als Pastor, um zu trösten und zu rathen. Dieser Schiffbruch war ein Unglück und doch wieder ein Glück. Werfen wir einen prüfenden Blick in unser Inneres. Hatte der Wohlstand uns nicht aufgebläht? Die Gewässer der Glückseligkeit sind gefährlich. Man soll das Mißgeschick nicht als etwas Böses betrachten. Die Wege des Herrn sind dunkel. Mess Lethierry war zu Grunde gerichtet. Nun, was lag daran? Reich sein, heißt in Gefahr leben. Man hat falsche Freunde. Die Armuth verscheucht dieselben. So bleibt man allein! Solus eris. Die Durande brachte, wie es hieß, jährlich tausend Pfund Sterling ein. Zuviel für den Weisen. Fliehet die Versuchungen, verachtet das Gold. Nehmet den Ruin und die Verlassenheit dankbar hin. Vereinsamung bringt reiche Früchte. Man schmeckt in ihr die Gnade des Höchsten. In der Einsamkeit beim Hüten der Eselinnen seines Vaters Sebeon fand Ahia die heißen Quellen.

Lehnen wir uns nicht gegen die unergründlichen Bestimmungen der Vorsehung auf. Nachdem der heilige Hiob im Elend gelebt hatte, wurde sein Reichthum größer denn zuvor. Wer konnte wissen, ob der Verlust der Durande nicht durch andere, sogar zeitliche Güter ausgeglichen werden würde? – So sprach Doctor Jaquemin Herode. Er selber hatte bei sehr ergiebigen Unternehmungen in Sheffield Kapitalien angelegt; wenn Mess Lethierry mit dem Rest seiner Mittel sich an dem Geschäft betheiligen wollte, würde er sein Vermögen wieder gewinnen. Die Unternehmung bestand in einer großen Waffenlieferung an den Czaaren, der Polen zu unterdrücken suchte. Man gewann dabei dreihundert Procent. – Das Wort »Czaar« schien Lethierry emporzurütteln. Er unterbrach den Doctor Herode.

– Ich will keinen Czaaren.

Der ehrwürdige Herode antwortete:

– Mess Lethierry, die Fürsten sind durch Gottes Willen da. Es stehet geschrieben: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist. Czaar heißt Kaiser.

Letthierry war schon wieder halb und halb in seinen Traum versenkt.

– Was kümmert mich der Kaiser? Ich kenne ihn nicht! sagte er.

Der ehrwürdige Jaquemin Herode fuhr in seiner belehrenden Unterhaltung fort. Keinen Kaiser wollen, heißt Republikaner sein. Mess Lethierry war Republikaner. Er konnte auch sein Vermögen leichter in den vereinigten Staaten als in England wieder erwerben. Wenn er den Rest seines Geldes um das Zehnfache vermehren wollte, durfte er nur bei der großen Pflanzer-Compagnie in Texas, die zwanzigtausend Neger beschäftigte, Actien zeichnen.

– Ich will keine Sclaverei, sagte Lethierry.

– Die Sclaverei, entgegnete der ehrwürdige Herode, ist eine geheiligte Einrichtung. Es steht geschrieben: »Wenn der Herr seinen Sclaven züchtigt, darf ihm Niemand darum zu Rechenschaft ziehen; denn er ist sein Geld.«

Grace und Douce standen auf der Schwelle und hörten mit einer Art Begeisterung den Worten des ehrwürdigen Rectors zu.

Dieser setzte seine Rede fort. Alles in allem betrachtet war er, wie wir schon vorhin sagten, ein guter Mann und wie sehr seine Standes- und persönlichen Ansichten ihn auch von Mess Lethierry trennten, so spendete er demselben doch mit voller Aufrichtigkeit allen geistlichen und selbst zeitlichen Rath, der ihm, dem Doctor Jaqumin Herode, zu Gebot stand.

Wenn Mess Lethierry bis zu einem Grade ruinirt war, daß er keiner Speculation, sei es in Rußland oder in Amerika, mit Erfolg beitreten konnte, warum trat er dann nicht in den Dienst der Regierung und suchte ein Amt mit Gehalt? Eine solche Stellung ist ehrenvoll und Sr. Ehrwürden war bereit, Mess Lethierry dazu behülflich zu sein. Die Stellung eines Abgeordneten der Vice-Grafschaft war zu besetzen. Mess Lethierry genoß allgemeine Liebe und Achtung und der ehrwürdige Herode, Decan von Guernesey, Substitut des Bischofs, machte sich anheischig, ihm die Stelle zu verschaffen. Der Vice-Grafschafts-Abgeordnete ist ein Beamter von Bedeutung; er wohnt als Repräsentant Seiner Majestät den Hauptprozessen, den Debatten der Landgerichte und den Vollstreckungen der Urtheile des Obergerichtes bei.

Lethierry heftete sein Auge auf den Doctor Herode.

– Ich bin nicht für das Henken.

Der Doctor Herode, welcher seine bisherigen Worte in gleichmäßiger Betonung gesprochen hatte, legte auf die folgenden einen Ausdruck von Strenge und sagte mit erhöhter Stimme:

– Mess Lethierry, die Todesstrafe ist eine göttliche Verordnung. Der Herr hat dem Menschen das Schwert übergeben. Es steht geschrieben: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

Der ehrwürdige Ebenezer näherte seinen Stuhl unmerklich dem des ehrwürdigen Jaquemin und flüsterte, ohne daß die Andern es hören konnten:

– Dieser Mann sagt, was ihm zu sagen eingegeben wird.

– Von wem? Durch was? fragte der ehrwürdige Jaquemin in demselben Ton.

– Durch sein Gewissen, antwortete Ebenezer ganz leise.

Der ehrwürdige Herode suchte in seiner Tasche, zog ein mit Klammern geschlossenes Buch hervor, legte es auf den Tisch und sagte mit lauter Stimme:

– Hier ist das Gewissen!

Das Buch war eine Bibel.

Doctor Herode wurde ruhiger. Er wünschte, Mess Lethierry, den er sehr achtete, nützlich zu sein. Als Pastor hatte er die Pflicht und das Recht, Rath zu ertheilen, mochte Mess Lethierry dann thun, was er wollte.

Dieser, auf’s Neue von Niedergeschlagenheit und Gedankenabwesenheit erfaßt, hörte nichts mehr. Deruchette, die neben ihm saß und durch ihre eigenen Betrachtungen in Anspruch genommen, schlug die Augen nicht auf und brachte in die so wenig belebte Unterhaltung noch den Zwang, welchen ein stummer Zuhörer auszuüben pflegt. Ein Zeuge, der nichts spricht, ist eine unerklärliche Last. Uebrigens schien der Doctor Herode von derselben nicht gedrückt zu werden.

Lethierry antwortete nicht mehr, aber Doctor Herode fuhr fort:

Ein Mensch kann Rath ertheilen, doch Gott ist’s, von dem die Eingebung kommt. In den Rathschlägen eines Priesters liegt göttliche Weisheit. Es ist gut, sie anzunehmen, und gefährlich, sie zurückzuweisen. Sochoth war von elf Teufeln besessen, weil er die Ermahnungen des Nathanael verachtete. Tiberius wurde vom Aussatz befallen, weil er den Apostel Andreas aus seinem Hause gestoßen hatte. Barjesus, obgleich ein Zauberer, verlor das Gesicht, als er die Worte des heiligen Paulus verlachte.

Elxai nebst seinen Schwestern Martha und Marthene sitzen jetzt in der Hölle, weil sie nicht glaubten, als Valencianus ihnen klar wie der Tag bewies, daß ihr Jesus Christ, acht und dreißig Meilen über ihnen, ein Teufel sei. Oolibama, auch Judith genannt, befolgte die göttlichen Rathschläge. Ruben und Pheniel gehorchten der Stimme aus der Höhe; schon ihre Namen dienen als Beweis hierfür. Ruben heißt Sohn der Vision und Pheniel bedeutet Gottes Antlitz.

Mess Lethierry schlug mit der Faust auf den Tisch.

– Meiner Seel‘, es ist mein eigner Fehler! schrie er.

– Was wollen Sie hiermit sagen? fragte M. Jaquemin.

– Ich sage, daß es mein Fehler ist.

– Ihr Fehler? Inwiefern?

– Weil ich die Durande am Freitag heimfahren ließ.

M. Jaquemin flüsterte dem M. Ebenezer Caudray in’s Ohr:

– Der Mann ist abergläubisch.

Darauf erhob er wieder seine Stimme und sagte in belehrendem Ton:

– Mess Lethierry, es ist kindisch, an den Freitag zu glauben. Man soll nicht auf Fabeln bauen. Der Freitag ist ein Tag wie alle andern; oft sogar ein glückliches Datum. Melendez gründete die Stadt St. Augustin an einem Freitag, am Freitag übertrug Heinrich VII. an Johann Cabot seine Geschäfte; am Freitag langten die Pilger der »Maiblume« in Province Town an. Freitag den zwei und zwanzigsten Februar 1732 wurde Washington geboren; Christoph Columbus entdeckte am Freitag den 12. Oktober 1492 Amerika.

Nach diesen Worten erhob sich M. Jaquemin.

Ebenezer, sein Begleiter, that dasselbe.

Grace und Douce merkten, daß die ehrwürdigen Herren Abschied nehmen wollten und öffneten die beiden Thürflügel.

Mess Lethierry sah und hörte nichts.

M. Jaquemin Herode sagte bei Seite zu Ebenezer: Er grüßt uns nicht einmal! Dies ist nicht Kummer, sondern Geisteszerrüttung. Man muß glauben, daß er den Kopf verloren hat.

Während er dies sagte, nahm er seine kleine Bibel vom Tisch und hielt sie zwischen den ausgespannten Händen, wie man einen Vogel, der nicht entfliehen soll, zu halten pflegt. Diese Art und Weise erregte bei den Anwesenden eine gewisse Aufmerksamkeit. Grace und Douce reckten die Köpfe.

Doctor Herode’s Stimme that ihr Möglichstes, um majestätisch zu klingen.

– Mess Lethierry, wir werden uns nicht trennen, ohne eine Seite in dem heiligen Buch gelesen zu haben. Man wird in allen Lebenslagen durch Bücher erleuchtet. Die Gläubigen erhalten durch die Bibel Fingerzeige. Das erste, beste, auf gut Glück geöffnete Buch giebt uns einen Rath, die Bibel dagegen giebt uns göttliche Offenbarungen. Sie eignet sich vornehmlich für die betrübten Herzen. Man schöpft unfehlbar Linderung des Schmerzes aus der heiligen Schrift. Traurigen gegenüber muß man das heilige Buch befragen, ohne eine besondere Stelle auszuwählen und alsdann mit aufrichtigem Gemüth lesen, was das Auge zuerst erblickt. Gott wählt für den Menschen. Er weiß, was uns Noth thut. Sein unsichtbarer Finger zeigt auf die unerwarteten Worte, welche wir vor uns erblicken. Sei die Seite, welche sie wolle, sie erleuchtet uns unfehlbar. Halten wir uns an diese, ohne eine andere zu suchen. Der Text, den wir mit Vertrauen und Hoffnung heraufbeschwören, verkündet uns geheimnißvoll unser Schicksal. Mess Lethierry, Sie sind in Trübsal; hier ist das Buch des Trostes; Sie sind krank, sehen Sie hier das Buch der Gesundheit!

Der ehrwürdige Jaquemin Herode öffnete dann die Bibel, ließ einen Augenblick seine Hand auf der aufgeschlagenen Seite ruhen, sammelte sich, senkte die Augen mit würdevoller Miene und las dann mit lauter Stimme:

»Isaak aber kam vom Brunnen des Lebendigen und Sehenden, denn er wohnte im Lande gegen Mittag. – –

– Und Rebecca hob ihre Augen auf und sprach zu dem Knecht: Wer ist der Mann, der uns entgegen kommt?

– Da führte sie Isaak in die Hütte seiner Mutter und sie ward sein Weib und gewann sie lieb.« 1. Buch Moses 24, 62.

Ebenezer und Deruchette sahen einander an.

Erstes Buch. Die Klippe.

 

Erstes Capitel. Der Ort, welcher mühsam zu erreichen und schwierig zu verlassen ist.

Die Barke, welche zu verschiedenen Stunden und an mehreren Punkten der Küste von Guernesey bemerkt wurde, war, wie man schon errathen hat, der dickbäuchige Hochländer. Gilliatt erwählte das Fahrwasser zwischen den am Strande hinlaufenden Felsen. Der Weg war gefährlich, aber der kürzeste. Mit dem Schiffbruch geht es schnell; das Meer hat Eile und eine Stunde Verzögerung läßt sich nicht wieder gut machen. Er wollte der gefährdeten Maschine schnell zu Hülfe kommen.

Mit besonderer Sorgfalt war Gilliatt darauf bedacht gewesen, Guernesey zu verlassen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Abreise glich einer Flucht. Er sah fast aus, als wolle er sich verstecken. Er vermied die Ostküste wie Jemand, der sich fürchtete, bei St. Pierre Port vorüberzufahren. Er glitt – man könnte diesen Ausdruck wirklich anwenden – sachte längs der entgegengesetzten, unbewohnten Küste hin. Zwischen den Klippen war er genöthigt, sein Ruder zu gebrauchen und er that dies dem hydraulischen Gesetz gemäß, indem er ohne Stoß das Wasser langsam schnitt. Auf diese Weise vermochte er in der Dunkelheit mit größter Schnelligkeit und ohne das geringste Geräusch die Fluth zu durchschiffen. Man hätte glauben können, er ginge auf eine böse Handlung aus.

Die Wahrheit zu gestehen, fürchtete er, daß noch Jemand außer ihm sich in eine Unternehmung einlassen möchte, deren Ausführung fast an das Unmögliche grenzte, eine Unternehmung, in welche er sich mit geschlossenen Augen stürzte und bei der er sein Leben fast ohne Hoffnung auf Entrinnen preis gab.

Als der Tag graute, konnte ein unbekanntes Auge, das vielleicht in den unbegrenzten Raum hinausschaute, an einer der einsamsten und drohendsten Stellen des Meeres zwei Gegenstände erkennen, die einander näher rückten. Der eine, – er ließ sich bei der hochwogenden See nur mühsam unterscheiden, – war eine Segelbarke, die einen Mann trug: Gilliatt in seinem Holländer. Der andere ragte unbeweglich, riesengroß, schwarz und fremdartig aus den Wogen empor. Zwei hohe Pfeiler trugen oberhalb des Wassers in der Luft eine Art Querbalken, der horizontal liegend, ihre beiden Gipfel brückenartig vereinigte. Der Querbalken, welcher aus der Ferne gesehen, so unförmlich gestaltet war, daß man unmöglich errathen konnte, was er vorstellte, bildete in Vereinigung mit den beiden Grundpfeilern einen Körper, der einem Thor glich. Wozu diente ein solches in dem schrankenlosen, freien Raum über dem Meer?

Die Helle im Osten nahm zu. Das Meer erschien im Gegensatz zu dem lichten Horizont nur noch schwärzer. Am westlichen Himmel ging eben der Mond unter. Die beiden Pfeiler waren die Douvres. Wie ein Querbalken zwei Simse vereinigt, wurden sie durch ein Zwischenglied – die Durande – verbunden.

Diese Klippe, welche in der geschilderten Weise ihre Beute zeigte und festhielt, hatte etwas Furchtbares. Leblose Gegenstände treten dem Menschen zuweilen mit einer düsteren und feindseligen Anmaßung entgegen. Die Haltung dieser Felsen war trotzig. Sie schienen kampfbereit zu sein.

Man konnte sich nichts Stolzeres und Unverschämteres vorstellen, als diese, über das besiegte Schiff triumphirenden Meister. Die beiden Felsen, von denen noch das Wasser rieselte, welches sie am vorigen Abend wild umbraust hatte, glichen zwei schweißtriefenden Kämpfern. Der Wind war jetzt gelinder, und das Meer glättete sich. An friedlichen Stellen erkannte man unterseeische Klippen, die von Schaumstreifen anmuthsvoll umwunden wurden und von der hohen See kam ein Gemurmel, das an ein Bienensummen erinnerte. Alles war eben und flach, nur die beiden Douvres ragten wie schwarze Säulen empor. Bis zu einer gewissen Höhe waren sie mit Meergras bekleidet. Ihre schroffen Abhänge glänzten, wie das Metall einer Rüstung. Sie schienen bereit zu sein, den Kampf auf’s Neue anzutreten. Man begriff, das sie unter dem Wasser in Gebirgen wurzelten. Der Anblick dieser Felsen wirkte über die Maßen niederdrückend.

Gewöhnlich verbirgt das Meer seine Absichten. Es bleibt gern unerkannt. Seine unermeßliche, düstere Tiefe hegt und bewahrt ihm alle seine Geheimnisse, die selten offenbar werden. Ungeheuerlichkeiten wirken in den Catastrophen, welche die See herbeiführt, doch Niemand kennt ihre Menge. Das Meer ist gewandt und verschwiegen; es ist zurückhaltend und liebt es nicht, seine Handlungen frei zu enthüllen. Es richtet ein Schiff zu Grunde und entzieht es den Blicken; seine Scham besteht im Verschlingen des Zerstörten. Die Woge ist eine Heuchlerin; sie tödtet, stiehlt, hehlt, stellt sich unwissend und lächelt. Erst rast sie und läßt dann kräuselnd ihre Wasser spielen.

Himmelweit verschieden von dem Meer handelten die Douvresfelsen, welche die todte Durande mit triumphirender Miene über dem Wasser emporhielten. Sie glichen zwei Riesenarmen, die aus dem Abgrund ragten, um dem Unwetter den Leichnam des Schiffes zu zeigen; sie erinnerten an einen Mörder, der sich seiner That rühmt.

Der heilige Schauer des Augenblicks gesellte sich zu diesen Eindrücken. In der Morgendämmerung liegt eine geheimnißvolle Größe, welche aus dem Schluß eines Traumes und dem Anfang des wiedererwachten Denkens besteht, ein schwankender Zustand, der etwas Gespenstisches hat.

Die beiden Douvres, in Gestalt eines riesenhaften H, dessen Verbindungsstrich die Durande war, traten am Horizont in einem seltsamen, majestätischen Dämmerlicht hervor.

Gilliatt trug seine Schifferkleider: Wollnes Hemde, wollne Strümpfe, nägelbeschlagene Schuhe, gestrickte wollne Jacke, Hosen von dickem, wolligem Stoff und eine jener Mützen von rothem Tuch, deren man sich damals in der Marine bediente und welche im letzten Jahrhundert unter dem Namen » Galeriennes« bekannt waren.

Er kannte die Klippe und schiffte auf sie zu.

Die Durande war das vollständige Gegentheil eines auf den Grund gegangenen Fahrzeuges, denn sie hing in der Luft.

Keine Rettung mußte auf seltsamere Weise bewerkstelligt werden, als die ihrige.

Gilliatt erreichte die Klippe erst bei vollem Tageslicht. Das Meer war dort, wie schon vorhin erwähnt, nicht sehr tief. Es bewegte sich nur gerade so stark, als die Einengung zwischen den Felsen bedingte. Jede Meerenge, groß oder klein, ist unruhig und innerlich erregt.

Gilliatt landete nicht ohne Vorsichtsmaßregeln bei den Douvres. Er warf mehrere Male das Senkblei.

An häufiges Reisen gewöhnt, sorgte er stets für genügenden Vorrath, er mußte also jetzt zu einer kleinen Ausladung schreiten. Der Vorrathsbehälter enthielt einen Beutel mit Schiffszwieback, einen Korb mit Stockfisch und geräuchertem Rindfleisch, eine große Schiffskanne mit süßem Wasser, ein Säckchen Roggenmehl, ein mit Blumen bemaltes norwegisches Kistchen, worin er einige grobe wollene Hemden, eine Oberjacke, seine getheerten Hosen und ein Schafsfell aufbewahrte.

Ehe er Bû de la Rue verließ, hatte er diesen Sachen noch ein frisches Brot beigefügt und das Ganze dann eiligst in dem dickbäuchigen Holländer untergebracht. Nur darauf bedacht, schnell abzureisen, nahm er kein anderes Handwerkzeug mit sich, als Axt, Schmiedehammer, Beil, Säge und Knotentau, woran sein Klettereisen befestigt war.

Mit einer solchen Leiter, die er auf seine eigene Weise benutzte, sind einem tüchtigen Seemann die schroffsten Abhänge und die rauhesten Felswände zugänglich. Auf der Insel Serk kann man beobachten, welche Vortheile die Fischer von Havre Gosselin sich durch den Gebrauch des Knotentaues verschaffen.

Seine Netze und Angelleinen, sowie alles übrige Fischergeräth hatte Gilliatt ebenfalls in dem Fahrzeug untergebracht. Er that dies ohne Ueberlegung und nur weil seine Gewohnheit es so mit sich brachte, denn er mußte, wenn er seinen jetzigen Plan verfolgen wollte, längere Zeit in einem Klippenarchipel leben, wo er an keinen Fischfang denken konnte.

Als Gilliatt sich dem Felsen nahte, fiel das Wasser; ein günstiger Umstand. Die Wellen ebneten sich und entblößten am Fuß des einen Douvre einige flache oder doch nur mäßig abschüssige Steinplatten, die füglich als Träger einer Planke dienen konnten. Diese bald kleinen, bald größeren Platten, welche, durch ungleiche Zwischenräume getrennt, staffelartig längs des senkrecht abfallenden Hauptfelsens hinliefen, setzten sich in Gestalt eines kleinen Karnisses bis unterhalb der Durande fort, welche zwischen den Felsen wie in einem Schraubstock steckte.

Die erwähnten Steinplatten waren der Ausladung förderlich. Der Vorrathskasten aus dem Holländer fand vorläufig auf einer von ihnen Platz. Aber die Sache mußte unverzüglich bewerkstelligt werden, denn schon nach wenig Stunden stieg das Wasser und überfluthete die Steine.

Nach diesen Steinplatten, welche theils eben, theils abschüssig waren, steuerte Gilliatt seine Barke und machte dort Halt.

Der feuchte und schlüpfrige Seetang, welcher sie bedeckte, und die schräge Lage mancher Steine erschwerten das Emporklettern.

Gilliatt entledigte sich seiner Schuhe und Strümpfe, stieg mit nackten Füßen auf eine der Platten und befestigte den Holländer an einem Felszacken.

Dann schritt er auf dem schmalen Granitkarniß vorwärts, gelangte unter die Durande und hob seine Augen empor, um sie zu betrachten.

Sie hing, wie in die Felsen hineingepaßt, ungefähr zwanzig Fuß hoch oberhalb des Wassers.

Solche tolle Gewaltthätigkeiten des Meeres haben für Seeleute nichts Befremdendes. Um ein Beispiel anzuführen, warf nach vorangegangenem Unwetter eine letzte Sturzwelle im Golf von Stora eine Brigg über das Gerippe der gestrandeten Corvette la Marne und keilte sie, den Bugsprit vorwärts gestreckt, zwischen zwei Uferklippen ein.

Uebrigens steckte nur noch die eine Hälfte der Durande zwischen den Douvres.

Indem der Orkan das Fahrzeug den Wellen entriß, entwurzelte er dasselbe gewissermaßen. Der Sturmwirbel drehte es um und um, der Wasserwirbel hielt es fest gepackt, und durch diese beiden Kräfte des Unwetters hin und her gezerrt, zerbrach es wie eine Latte. Das Hintertheil mit Maschine und Rädern, durch die volle Wuth des Orkans aus dem schäumenden Element gehoben und in den Engpaß der Douvres geschleudert, steckte bis an den Segelbalken darin und blieb unverrückt in dieser Stellung. Der Windstoß mußte ein äußerst heftiger gewesen sein, um das Fahrzeug in solcher Weise zwischen die zwei Klippen zu zwängen; es mußte ein Keulenschlag des Orkans sein, dem dies gelingen konnte. Das Vordertheil des Schiffes wurde hin und her gerollt, vom Sturm emporgehoben und in einzelnen Stücken auf die Klippen geworfen.

Die ertrunkenen Ochsen waren aus dem zertrümmerten Schiffsraum in die See gestürzt.

Ein beträchtliches Stück der Wand des Vordertheils hatte noch einen schwachen Zusammenhang mit den Katzsparren des linken Tretrades, doch hätte ein leichter Axthieb hingereicht, dies morsche Verbindungsglied zu zerstören.

Hin und wieder entdeckte man auf entfernten unebenen Stellen der Klippen Balken, Planken, Segeltuchfetzen, Bruchstücke von Ketten und alle möglichen Trümmer des Fahrzeuges. Dort lagen sie in ungestörter Ruhe.

Gilliatt betrachtete die Durande mit forschenden Blicken, der Kiel bildete über seinem Kopfe ein Dach.

Am Horizont, wo das schrankenlose Meer kaum eine Bewegung sehen ließ, herrschte Klarheit. Die Sonne stieg in voller Herrlichkeit an der weiten, blauen Himmelswölbung empor.

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Zweites Capitel. Das Maß des Mißgeschicks wird gefüllt.

Die Douvres hatten nicht nur eine ungleiche Höhe, sondern auch ihre Formen waren verschieden.

Der kleine Fels, dessen Spitze scharf und gekrümmt war, zeigte vom Fuß bis zum Gipfel, lange, verzweigte Adern von ziegelrother, verhältnißmäßig weicher Masse, welche das Innere des Granits spalteten und durchliefen. An der Außenseite des Felsens, wo diese Adern sich absetzten, waren Risse entstanden, welche einem Kletterer zum Vortheil gereichten. Einer dieser Risse, etwas oberhalb der Durande gelegen, war durch die anprallenden Wellen in einer Weise erweitert worden, daß er eine Art Nische bildete, in welcher eine Statue Platz gefunden hätte. Der Granit des kleinen Douvre war auf der Oberfläche eben und mit Moos und Streichsteinen bedeckt, eine Spende, die sein rauhes Aeußere nicht milderte. Der Gipfel lief in eine Spitze aus, die einem Horn glich. Der große Douvre, glatt, glänzend, senkrecht abfallend, regelmäßig gebildet, bestand aus einem einzigen Stück und seine Masse glich schwarzem Elfenbein. Nirgends eine Vertiefung, nirgends ein Vorsprung. Seine Steilheit war ungastlich; kein Galeerensclave hätte auf ihn flüchten, kein Vogel sein Nest auf ihn bauen können. Sein Gipfel war flach wie der des »Mannes«, nur konnte Niemand die Plattform des großen Douvre erreichen.

Der kleine Douvre ließ sich ersteigen, aber man fand oben keinen Ruhepunkt; der große gestattete auf seinem Gipfel Herberge, aber keiner fand den Weg zu derselben.

Nachdem Gilliatt seine erste Besichtigung beendigt hatte, kehrte er in seinen Holländer zurück, schaffte die Ladung auf die größte der trockenliegenden Steinplatten, machte aus allen mitgebrachten Gegenständen eine Art Ballen, die er in ein getheertes Segeltuch knüpfte, umschürzte ihn mit einem Tau, schob ihn in einen Felswinkel, wohin die Fluth nicht dringen konnte und kletterte dann, Füße und Hände gebrauchend, von Absatz zu Absatz, benutzte die geringsten Rillen zum Anklammern, und gelangte endlich zu der Stelle der Klippenwand, bei welcher die in der Luft schwebende Durande schiffbrüchig geworden war.

Als er das Niveau der Treträder erreicht hatte, sprang er auf das Verdeck.

Das Innere des Wracks bot einen düstern Anblick. Ueberall Spuren furchtbarer Vorgänge.

Es bot den Anblick der äußersten entsetzlichsten Gewaltthätigkeit des Orkans. Das Unwetter handelt wie eine Bande Seeräuber. Nichts gleicht mehr dem frevelhaft Vernichteten, als ein Wrack. Gewitterwolken, Regen, Wind, Wellen und Felsen sind furchtbare Spießgesellen.

Auf dem zerstörten Wrack glaubte man noch den zornigen Fußtritt des Meergeistes zu hören. Wohin das Auge blickte, drängten sich ihm Zeichen der Wuth entgegen. Seltsame Verdrehungen gewisser eiserner Gegenstände ließen die rasende Gewalt des Sturmes ahnen. Das Zwischendeck glich einer Koje, worin ein Wahnwitziger getobt und Alles zerschlagen hat.

Kein wildes Thier zerreißt seine Beute auf grausamere Weise, als das Meer es thut. Der Sturm mordet, die Welle verschlingt; sie hat ihre Kiefern. Im Punkt des Ansichreißens und Zerschmetterns gleicht sie der Tatze des Löwen.

Die Vernichtung der Durande war darin merkwürdig, daß sie sich bis auf die kleinsten Theile des Fahrzeugs erstreckte. Sie machte vollständig den Eindruck, als sei sie zerfetzt, zerrissen worden. – Vieles schien mit Ueberlegung gethan zu sein. Welche Nichtswürdigkeit! hätte man rufen mögen. Die Risse und Brüche der Schiffsverkleidung hatten etwas Künstlich-Berechnetes. Solche Art Verheerung bringt die Cyclone hervor. Zersägen und Glätten ist eine Liebhaberei dieses zerstörenden Ungeheuers. Es hat die Hülfsmittel eines Henkers. Die Verwüstungen, welche es ausübt, gleichen Todesstrafen. Es scheint durch Groll gestachelt zu werden und ersinnt Listen, wie ein Wilder. Während es tödtet, secirt es die Leiche. Es martert den Schiffbrüchigen; rächt und belustigt sich auf kleinliche Weise.

Die Cyclonen sind in unsern Climaten selten, aber um so furchtbarer, als sie unerwartet erscheinen. Die zufällige Lage eines Felsens kann bewirken, daß der Orkan im Meer gleichsam Wurzel schlägt. Wahrscheinlich war ein Windstoß spiralförmig über den Douvres emporgewirbelt und hatte, eine Wasserhose erzeugend, sich auf die Klippe geworfen. Dieser Umstand erklärte es, daß die Durande bis auf solche Höhe zwischen die Felsen geschleudert werden konnte. Wenn die Cyclone saust, wirft sie das Schiff mit einer Leichtigkeit wohin sie will, wie die Schleuder den Stein.

Die Durande glich einem in zwei Theile zerschnittenen Menschenleib. Sie war ein Rumpf, aus dessen offenem Innern eine Trümmermasse, die Eingeweide der Leiche, hervorstürzten. Tauwerk schwankte oder zuckte hier und dort hervor, zerrissene Ketten flogen klappernd hin und her; die Nerven des Schiffes waren bloßgelegt und gelähmt. Was der Zerschmetterung entgangen war, zeigte entstellte Formen. Bruchstücke der Spiekerhaut glichen Striegeln mit Nägeln statt der Borsten; ein Hebebaum war nichts, als ein Stück Eisen, eine Sonde, ein Bleiklumpen, die Schiffsscheibe ein Stück Holz, ein Hißtau ähnelte einer Hanfsträhne; ein Leik dem Faden in einem Saum – überall zeigten sich Gegenstände, die durch Gewaltthätigkeit in einen beklagenswerth unbrauchbaren Zustand versetzt waren. Kein Zusammenhang in diesem häßlichen Gemenge; dagegen nur Zerrissenheit, Verrenkung und Auflösung, – jene Bestandlosigkeit und Verschwommenheit, welche alle Arten Wirrwarr kennzeichnen, von dem Menschenwirrwar, den man Schlacht nennt, bis auf den Wirrwarr der Elemente, welcher Chaos heißt.

Der Rest dieses einst so mächtigen und stolzen Schiffsrumpfes, jetzt von den beiden Douvres in der Schwebe gehalten und vielleicht nahe daran, hinabzustürzen, war hin und wieder zerborsten und gestattete durch große Oeffnungen einen Blick in sein düsteres Innere.

Unter ihm wirbelten die Wasser und spieen ihren Schaum vor einem so jammervollen Gebilde aus.

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Drittes Capitel. Frisch, aber nicht frei.

Gilliatt hatte nicht erwartet, nur eine Hälfte des Schiffes vorzufinden. Der sonst so genaue Bericht des Shealtielführers bereitete ihn hierauf nicht vor. Das »teuflische Krachen«, welches Letzterer vernommen hatte, fand wahrscheinlich in dem Augenblick statt, als das Fahrzeug, durch die dichte Schaumschauer verhüllt, auseinandergeborsten war. Der Herr des Kutters mochte sich gerade bei dem letzten Windstoß entfernt haben und was er für Ueberschlagen von Sturzwellen hielt, war eine Wasserhose. Als er sich später näherte, um den Schiffbruch zu beobachten, hatte er nur den vordern Theil des Wracks sehen können; alles Uebrige, das heißt jenen gewaltigen Bruch des Fahrzeugs, verbarg ihm der emporspritzende Schaum.

Der Führer des Shealtiel hatte also aus seiner Ueberzeugung gesprochen. Der Rumpf des Fahrzeugs war verloren, die Maschine unversehrt.

Solche Zufälle giebt es bei Schiffbrüchen und Feuersbrünsten. Wir sehen keine Logik in dem Walten des zürnenden Schicksals.

Die Masten waren zerschmettert, doch der Schornstein hatte sich nicht gebogen; die große Eisenplatte, welche die innere Einrichtung schützte, erhielt letztere völlig unbeschädigt. Die Dielenverkleidung der Tret- und Laufräder war auseinander getrieben, und zwar in einer Weise, die an Sommerfensterläden erinnerte; aber man erkannte zwischen ihren Spalten den guten Zustand der Räder. Nur einige Schaufeln fehlten.

Außer der Maschine hatte auch das große Gangspill des Hinterdecks Widerstand geleistet. Es war durch seine Kette gesichert und Dank der starken Bohleneinfassung konnte es noch fernere Dienste leisten, vorausgesetzt, daß der Druck der Kabelaar die Planken nicht spaltete. Der Fußboden des Verdecks bog sich fast an allen Stellen; die ganze Scheidewand war erschüttert.

Die Hälfte des Gerippes, scheinbar stark und tüchtig, behauptete sich, wie schon gesagt, zwischen den Klippen.

Es lag etwas Hohnvolles in dem Umstand, daß die Maschine erhalten war. Die finstere Tücke des Geschicks bricht zuweilen in dergleichen bittern Spöttereien hervor. Die Maschine war gerettet und doch verloren. Der Ocean hatte sie geschont, um sie in aller Gemächlichkeit vernichten zu können. So spielt eine Katze mit ihrer Beute.

Die Maschine ging ihrem allmäligen Untergang entgegen. Bald sollte sie den tollen Streichen der schäumenden Wellen zum Spielball dienen. Mit jedem Tage schwand ihre Kraft und schmolz endlich, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, ganz dahin. Gab es je eine Thorheit, die durch keine zweite übertroffen werden konnte, so war es der Gedanke, daß dieser schwere, massenhafte und doch zarte Mechanismus, durch sein Gewicht zur Unbeweglichkeit verdammt, zerstörenden Mächten einsam preisgegeben, durch die fesselnden Klippen den Wellen und Winden dargeboten, also unter dem Druck unerbittlicher, wirkender Kräfte niedergehalten – dem Verderben entrissen werden könne.

Die Durande war eine Gefangene der Douvres.

Auf welche Weise konnte man sie ihnen entführen?

Was mußte geschehen, damit sie frei würde?

Einen Menschen aus dem Kerker erretten, ist schwer, doch welche Aufgabe, diese Maschine ihrer Macht zu entreißen!

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Viertes Capitel. Vorläufige Untersuchung der Oertlichkeit.

Gilliatt wurde von allen Seiten zur Eile gedrängt. Am nothwendigsten war es jedoch, daß er einen Ankerplatz für den Holländer und eine Nachtherberge für sich selber suchte.

Da der Backbord der Durande sich mehr gesenkt hatte als der Steuerbord, stand das rechte Laufrad höher als das linke.

Gilliatt stieg auf ersteres. Von dort aus konnte er die Anzahl der unterseeischen Klippen übersehen, und obgleich der enge Kanal zwischen den Felsen mehrere Krümmungen machte, war er doch im Stande, von dort den geometrischen Plan der Douvres zu studiren.

Diese beiden Felsen glichen, wie schon früher erwähnt, zwei hohen Giebelhäusern, die am Eingang eines engen Gäßchens standen, das durch niedrige, vorn senkrecht abfallende Granitfalaisen gebildet ward. Man findet diese sonderbaren Gänge, welche mit der Axt ausgehauen zu sein scheinen, nicht selten in unterseeischen Urgebirgen.

Jener stark gekrümmte Hohlweg war niemals trocken, selbst nicht zur Zeit der Ebbe. Eine sehr lebhafte Strömung durchzog ihn an allen Stellen. Das ungestüme Fluthen in den Windungen war je nach dem herrschenden Windstrich von günstiger oder übler Wirkung. Bald trat es der hohlen See heftig entgegen, setzte sie dadurch in Verwirrung und zwang sie gewissermaßen zum Sinken; bald reizte es dieselbe zum Zorn. Der letztere Fall war der häufigste. Ein Hinderniß empört die Welle und treibt sie zu Ausschreitungen; der Schaum ist ein Zeichen ihrer innern Erregtheit.

Der Orkan erleidet in solchen Engpässen denselben Widerstand, dieselbe Bosheit; er geräth in den Zustand des Erdrosselns. Doch er, der Unbezwingliche, bleibt unbezwinglich und steigert seine Macht bis zu schneidender Schärfe; er ist Keule und Wurfspieß; durchbohrt und zerschmettert zu gleicher Zeit. Man vergegenwärtige sich einen zum rasenden Sturm angeschwollenen Zugwind.

Die beiden Felsketten, zwischen denen das Gäßchen hinlief, waren niedriger als die Douvres, dachten sich der Länge nach allmälig ab und verschwanden in einer gewissen Entfernung unter der Wasserfläche. Es gab dort noch eine zweite Felsengasse, niedriger und noch enger, als die beschriebene. Sie war die östliche Einfahrt des Douvre-Engpasses. Man errieth, daß die doppelte Verlängerung der beiden Felsgrate sich unter dem Wasser bis zu dem »Mann« fortsetzte, welcher wie eine Citadelle den Ausgang der Klippenreihe abschloß.

Zur Zeit der Ebbe – also im Augenblick, wo Gilliatt seine Forschungen anstellte – konnte man deutlich sehen, wie diese Felsketten, die jetzt theilweise trocken lagen, ohne Unterbrechung ausliefen und sich vereinigten.

Im Osten begrenzte und schloß der Mann – gleichsam einen Strebepfeiler – die ganze Klippenmasse, wie es die beiden Douvres im Westen thaten.

Aus der Vogelperspective gesehen, glich die ganze Kette einem Rosenkranz, dessen Hauptperlen die Douvres und der Mann waren.

Die Douvres waren nichts als zwei riesenhafte Granitwellen, die sich fast berührten und scheitelrecht, wie Kämme, von dem Gebirgsrücken im Meeresgrund emporgestiegen. Solche colossale Absplitterungen kommen oberhalb der Tiefe vor. Windstöße und Sturzwellen hatten diese Kämme zersägt. Man sah nur ihre Rücken. Die Fluth verdeckte das Uebrige; es mußten unberechenbare Massen in ihnen verborgen sein. Der Engpaß, in den die Durande geschleudert war, wurde durch zwei solcher Kämme gebildet.

Das Felsengäßchen hatte fast überall dieselbe Breite. Der Ocean wollte es so gestaltet wissen. Das ewige Toben der Elemente erzeugt oft solche seltsame Regelmäßigkeit. Die Wellen treiben ihre Geometrie.

Jene beiden Felsmauern standen einander so nahe gegenüber, daß der Rumpf der Durande den Raum fast ausfüllte. Da der Gipfel des kleinen Douvre gekrümmt und nach auswärts gebogen war, fanden auch die Räder der Maschine Platz zwischen den Klippen; sonst wären sie zermalmt worden.

Die doppelte innere Façade der Felsen war abschreckend häßlich. Alle unbekannten Dinge, auf welche man bei Forschungen in der Wasserwüste, die Ocean heißt, zu stoßen pflegt, sind überraschend und mißstaltet. Als Gilliatt von der Höhe des Wracks in den Engpaß hinuntersah, bot sich seinen Blicken ein grausiges Schauspiel. In den Granitschluchten des Meeres giebt es oft seltsame, unvergängliche Bilder, die an Schiffbruch erinnern und mit demselben im Zusammenhang zu stehen scheinen.

Der Oxyd der Felswände ging hin und wieder in rothe Flecken über, die geronnenen Blutlachen ähnlich waren. Eine Ausdünstung, wie die eines Metzgerkellers, schien aus der Schlucht hervorzugehen. Die Klippen hatten ihre Fleischkammern.

Die Auflösung metallischer Bestandtheile und Ansammlung von Schimmel, erzeugten hin und wieder ekelhafte Purpurfarbe, verdächtiges Grün und röthliche Kochstellen, welche Gedanken an Mord und Hinrichtung erweckten. Man glaubte die ungesäuberten Wände einer Henkerskammer vor sich zu sehen. Spuren von zerschmetterten Leibern schienen darin zurückgeblieben zu sein. Die Felsabhänge gaben geheimnißvolle Kunde von einer langen Reihe Todesopfer, die zwischen ihnen vollzogen wurden. An einzelnen Stellen zeigten sich noch frische Beweise der verübten Gräuel; die Mauer war feucht und dem Anschein nach konnte man sich nicht daran stützen, ohne seine Finger mit Blut zu beflecken. Ueberall blickte der Rost von früheren Gräuelthaten durch. Am Fuß der beiden steilen Abhänge in gleicher Höhe mit dem Wasser oder unter demselben und auch in den trockenen Felslöchern lagen mißgeformte Strandsteine von rother, violetter und schwarzer Farbe, die Eingeweiden ähnelten, – sie glichen frischen Lungen oder moderigen Lebern. Es schien, als wären an dieser Stelle Riesenleiber entleert worden. Lange blutrothe Fäden – verderblichen Ausschwitzungen vergleichbar, – durchliefen den Granit vom Rande bis an den Fuß.

In den Felsenhöhlen des Meeres sind solche Erscheinungen häufig.

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Fünftes Capitel. Ein Stall für das Pferd.

Gilliatt kannte die Klippen nur zu gut, um nicht die Douvres für gefährlich zu halten. Zunächst war er, wie schon gesagt, darauf bedacht, den Holländer in Sicherheit zu bringen.

Das doppelte Riff, welches sich in gekrümmter Form bis hinter die Douvresklippen erstreckte, hing hin und wieder mit anderen Felsen zusammen und man durfte in denselben Höhlen und Buchten vermuthen, die mit dem Engpaß in Verbindung standen und ihm zugehörten, wie die Zweige dem Baumstamm.

Die niederen Theile der Klippen waren mit Seegras bedeckt, und auf den höheren wuchsen Moosflechten. Die Gleichmäßigkeit der Meergrasbedeckung bezeichnete die Wasserlinie wie Ebbe und Fluth. Die Stellen, welche das Meer nicht erreichte, schimmerten in jenem Gemisch aus Silber- und Goldfarbe, die dem weißen und gelben Moose eigen ist.

An manchen Punkten war der Fels mit afterkegelförmigen Muscheln bedeckt – ein trockener Aussatz des Granits. In geschützten Winkeln, wo der Wind wahrscheinlicher als das Wasser feinen, welligen Sand aufgeschichtet hatte, wuchsen bläuliche Distelbüschel.

In den Felsritzen, die vom Wellenschlage nicht viel zu leiden hatten, entdeckte man Höhlungen, welche durch das Bohren der Seeigel entstanden waren. Dies stachligte Schalenthier rollt wie eine lebendige Kugel umher und hat einen Panzer, der aus mehr als zehntausend künstlich ineinandergefügten Stücken besteht. Sein Mund führt den Namen Diogeneslaterne. Mit seinen fünf Zähnen gräbt es Höhlungen in den Granit und erwählt dieselben zu seiner Wohnung. In diesen Schlupfwinkeln finden die Menschen, welche vom Fang der Meerthiere leben, den Seeigel. Man schneidet ihn in Stücke und ißt ihn roh, wie die Auster, oder belegt das Brot mit seinem weichen Fleisch. Von letzterem stammt sein Name: »das Meerei.« Die fernen Gipfel der unterseeischen Klippen, welche durch die Ebbe trocken gelegt werden, endigten an dem Abhang des Mannes in einer fast von Felswerk eingeschlossenen Bucht. Dort war augenscheinlich ein Ankerplatz. Gilliatt beobachtete denselben. Er hatte die Form eines Hufeisens und öffnete sich nach Osten, der wenigst gefährlichen Windseite dieser Seestriche. Das Wasser dieser Bucht lag geschützt und zeigte kaum eine leise Bewegung. Der Platz gewährte Sicherheit. Gilliatt hatte übrigens keine große Auswahl.

Wollte er die Ebbe benutzen, so durfte er keine Zeit verlieren. Das Wetter war noch immer schön und milde! Der trotzige Ocean befand sich in guter Stimmung. Gilliatt stieg vom Felsen, zog Strümpfe und Schuhe an, löste das Bindeseil des Holländers und stach in’s Meer. Mit Hülfe seiner Ruder schiffte er längs der äußeren Klippen hin und untersuchte, bei dem Mann angelangt, den Eingang der Bucht. Ein inneres Kräuseln des Wassers, dessen Oberfläche vollkommen ruhig schien, gewisse, nur dem Auge des Seemanns sichtbare Furchen, bezeichneten die Oeffnung.

Gilliatt studirte die fast unkenntlichen Linien, welche sich im Meeresspiegel zeigten, ruderte dann etwas schärfer, um bequem sich drehen und geschickt in den Eingang gelangen zu können und brachte sich mit einem einzigen Schlag in den kleinen Hafen. Er warf das Senkblei.

Der Ankergrund war in der That ein vortrefflicher.

Der Holländer fand hier gegen fast alle Arten von bösem Wetter sichere Zuflucht.

Die furchtbarsten Felsenriffe sind nicht ohne friedliche Schlupfwinkel. Ein Hafen inmitten der Klippen gleicht dem gastfreien Dach eines Beduinen; er bietet sichern, redlichen Schutz.

Gilliatt brachte seinen Holländer so nahe als möglich an den »Mann« und warf dann seine beiden Anker in einen Grund, den er stellenweise so tief fand, daß der Kiel ihn nicht streifte.

Als er mit dieser Arbeit fertig war, kreuzte er seine Arme und hielt mit sich selber Rath.

Das Fahrzeug befand sich in Sicherheit; diese Schwierigkeit war beseitigt, aber eine zweite lag noch vor ihm. Wo sollte er selber Herberge suchen?

Der Holländer mit seinem Winkel von einer Cajüte, in welchem es sich allenfalls leben ließ und das Plateau des leicht zu erklimmenden »Mannes« standen ihm offen.

Von beiden Plätzen konnte er bei niedrigem Wasserstande von Klippe zu Klippe springend, fast trockenen Fußes zwischen die Douvres gelangen, wo die Durande lag. Doch die vollständige Ebbe dauerte nur kurze Augenblicke und während der übrigen Zeit trennten ihn mehr als zweihundert Faden Länge von dem Wrack, mochte er sich auf dem Holländer oder der Klippe befinden. Zwischen Felsriffen schwimmen ist schwierig, bei Wellenschlag wird es unmöglich.

Sowohl der Holländer als der Mann konnten ihm nichts nützen.

Kein wirthlicher Ort in den benachbarten Felsen.

Zur Fluthzeit standen die Gipfel der niederen Felsen zweimal täglich unter Wasser.

Die höheren waren fortwährend dem Anprallen der schäumenden Wogen ausgesetzt.

Das Wrack blieb ihm.

Konnte er darin wohnen?

Er hoffte es.

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Sechstes Capitel. Eine Kammer für den Reisenden.

Eine halbe Stunde später stieg Gilliatt von dem Verdeck des Wracks in das Zwischendeck und von dort in den Schiffsraum, um der zweiten kurzen Untersuchung eine gründlichere folgen zu lassen.

Mit Hülfe der Schiffswinde hatte er seinen Ballen, der die Ladung des Holländers enthielt, auf das Verdeck der Durande gehißt. Die Winde leistete den gewünschten Dienst auf das Beste und an einer Stange, vermittelst derer er sie in Bewegung setzte, fehlte es ihm auch nicht. Er hatte in dem Haufen von Gerümpel nur zu wählen. Selbst einen Meißel, der ohne Zweifel aus der Kufe des Zimmermanns gefallen war, fand er vor und er vermehrte damit seinen kleinen Vorrath von Handwerkszeug.

Außerdem – bei großem Mangel ist auch das kleinste Hülfsmittel von Bedeutung – trug er sein Messer in der Tasche.

Gilliatt arbeitete den ganzen Tag auf dem Wrack. Er säuberte es, verbesserte Schäden und räumte alles Ueberflüssige hinweg.

Am Abend war er zu der Einsicht gelangt, daß das zertrümmerte Fahrzeug durchaus unhaltbar sei. Es zitterte im Winde und schwankte bei jedem Schritte Gilliatt’s. Wirklich fest und sicher war nur der Theil des Rumpfes, welcher, zwischen den Felsen gezwängt, die Maschine trug. Die Querbalken stemmten sich kräftig zwischen die Granitwände.

Gilliatt hätte unklug gehandelt, sich auf der Durande niederzulassen. Dies wäre eine Ueberbürdung gewesen und anstatt es nur noch mehr zu beschweren, hielt er es für wichtig, die Last des Fahrzeugs zu mindern. Grade letzteres war nothwendig.

Das Wrack wollte mit der größten Vorsicht behandelt sein. Es glich einem Kranken, der in den letzten Zügen lag. Nicht lange konnte es währen, so verfuhr der Wind schonungslos mit ihm.

Es war schon übel genug, daß Gilliatt gezwungen war, auf dem zertrümmerten Schiff zu arbeiten. Die Menge der nothwendigen Verrichtungen, welche er vorzunehmen hatte, konnten dasselbe vielleicht bis über die vorhandenen Kräfte erschöpfen.

Wenn überdies irgend ein Ereigniß Gilliatt während seines Schlafes in der Durande überraschte, so mußte er mit ihr untergehen. Auf Hülfe durfte er nicht rechnen; Alles war hoffnungslos verloren. Um das Wrack zu erhalten, blieb ihm nichts übrig, als außerhalb desselben zu wohnen.

Außerhalb des Wracks und doch nahe dabei, dies war die zu lösende Aufgabe.

Die Schwierigkeiten häuften sich.

Wo sollte er unter diesen Bedingungen ein Obdach finden?

Gilliatt grübelte.

Ihm blieb nichts als die beiden Douvres. Sie schienen freilich wenig Wohnlichkeit zu bieten!

Man bemerkte auf dem hochgelegenen Plateau des großen Douvre eine Art Auswuchs.

Einzelne emporstrebende Felsen wie der Mann und der eben erwähnte Douvre sind oben vollständig flach. Sie finden sich im Gebirge wie im Ocean in großer Menge. Gewisse Klippen, – man begegnet ihnen am häufigsten auf hoher See – haben Einschnitte wie gefällte Bäume. Sie scheinen durch Axthiebe gestürzt zu sein und sind in der That der Willkür des Orkans, diesem Holzschläger der Meere, preisgegeben.

Manche Granitkolosse sind ebenfalls oben flach. Zuweilen ist die Spitze nicht heruntergestürzt, sondern liegt verstümmelt auf dem platten Gipfel. Solche Eigenthümlichkeiten findet man nicht selten. La Roque-au-Diable zu Guernesey und »der Tisch« im Thal von Anweiler bieten diese seltsamen geologischen Räthsel unter den überraschendsten Verhältnissen.

Der große Douvre hatte wahrscheinlich ein gleiches Schicksal gehabt.

Wenn die Auswüchse auf seinem Plateau keine natürlichen Höcker waren, so mußten sie zurückgebliebene Reste eines früheren zerstörten spitzen Gipfels sein.

Vielleicht gab es in jenem Felsstück eine Vertiefung, ein Loch, in welches Gilliatt sich drängen konnte; er verlangte nicht mehr.

Doch auf welche Weise das Plateau erreichen? Wie konnte er diese scheitelrechte Wand erklimmen, die glatt und fest wie ein Kiesel und zur Hälfte mit klebrigen Wassermoosen bedeckt war, im Uebrigen aber eine so glänzende Oberfläche zeigte, daß sie abgeseift zu sein schien?

Die Entfernung von dem Deck der Durande bis zu dem Rande des Douvreplateaus betrug wenigstens dreißig Fuß.

Gilliatt nahm ein Knotentau aus seinem Werkzeugskasten, befestigte dasselbe vermittelst des Klettereisens am Gürtel und begann den kleinen Douvre zu ersteigen. Je höher er klomm, desto rauher wurde der Weg. Er hatte vergessen, seine Schuhe auszuziehen, was die Unbequemlichkeit des Kletterns vermehrte. Nicht ohne Noth erreichte er den Gipfel. Dort angelangt, richtete er sich empor. Der Platz, auf dem er sich befand, war kaum für seine beiden Füße ausreichend. Es wäre schwierig gewesen, sich hier häuslich einzurichten. Für einen Säulenheiligen genügte der Ort. Gilliatt stellte größere Anforderungen.

Der kleine Douvre neigte dem großen seinen Gipfel zu. Von ferne schien es, als wolle er salutiren. Der Zwischenraum der Klippen betrug oben nur acht bis zehn, unten aber zwanzig Fuß.

Von seinem gegenwärtigen Platze aus sah Gilliatt deutlicher als vorhin die felsige Erhöhung, welche einen Theil der Plattform des großen Douvre bedeckte.

Jene Plattform selber erhob sich mindestens drei Klafter hoch über seinem Haupte und ein Abgrund trennte ihn von derselben.

Die steile, doch nicht senkrechte Wand des kleinen Douvre verbarg sich unter seinem Körper.

Er löste das Knotentau von seinem Gürtel, maß mit den Blicken schnell die Entfernung und schleuderte das Klettereisen auf das Plateau des großen Douvre.

Es schleifte den Felsen und sprang dann zurück. Das Knotentau, an dessen Ende es befestigt war, fiel, am kleinen Douvre hinablaufend, unterhalb Gilliatts Füßen nieder.

Er schleuderte das Seil zum zweiten Male empor, doch so, daß es mehr vordringen mußte, indem er auf die granitne Erhöhung zielte, an der er Spalten und Kerben bemerkte.

Der Wurf fiel gut aus. Das Eisen haftete.

Gilliatt zog an dem Seil.

Das Felsstück zerbrach und das Knotentau fiel wieder längs der Klippenwand herunter.

Gilliatt warf es zum dritten Mal in die Höhe.

Es haftete wieder.

Er zog aus voller Kraft an dem Tau. Es widerstand. Das Eisen hatte geankert. Es steckte in einer Unebenheit des Plateau’s, die man nicht bemerken konnte.

Jetzt sollte er sein Leben dem unbekannten Halt anvertrauen.

Gilliatt zauderte nicht.

Alles drängte zur Eile. Er mußte sich so kurz wie möglich fassen.

Es war fast unmöglich, daß er wieder auf das Verdeck der Durande stieg, um über eine andere Maßregel nachzudenken. Ausgleiten schien wahrscheinlich und ein Fall fast unvermeidlich. Man steigt wohl hinauf, aber nicht hinab.

Gilliatt hatte, wie jeder tüchtige Seemann, sichere, bestimmte Bewegungen. Er verschwendete niemals seine Kräfte und machte nur Anstrengungen, die nicht über seine Leistungsfähigkeit hinausgingen. Daher schrieben sich diese Wunder von Kraft, welche er mit gewöhnlicher Körperkraft ausübte. Die zweiköpfigen Muskeln hatte er mit dem ersten besten Mann gemein, nicht aber den Sinn. Der physischen Leibesstärke gesellte er die moralische Thatkraft bei.

Vor ihm lag ein furchtbares Werk.

Es handelte sich darum, an einem Faden schwebend, den Zwischenraum der beiden Klippen zu durchreisen.

Im Begriff, eine Handlung freiwilliger oder pflichtschuldiger Hingebung zu unternehmen, stößt man oft auf Fragen, die der Tod aufzuwerfen scheint.

Wirst Du dies vollführen? ruft es aus dem Reich der Schatten.

Gilliatt prüfte zum zweiten Mal durch Ziehen die Haltbarkeit des Klammereisens; es hielt Stand.

Er umwickelte seine linke Hand mit dem Taschentuch, umfaßte mit der rechten, die er mit der linken bedeckte, das Knotentau, streckte einen Fuß vorwärts und stieß mit dem andern heftig gegen den Fels, um die Kreisdrehung des Seils zu verhindern und stürzte sich von dem Gipfel des kleinen Douvre nach der steilen Wand des großen.

Der Gegenprall war ein starker.

Ungeachtet der Vorsichtsmaßregel drehte sich das Tau und Gilliatt’s Schulter stieß an den Fels.

Er wurde zurückgeworfen und beim zweiten Mal traf die Reihe seine Fäuste. Das Taschentuch hatte sich verschoben. Die Hände wurden geschunden; ein Wunder, daß sie nicht zerbrachen.

Gilliatt blieb einen Augenblick betäubt in der Schwebe, doch war er seiner Sinne mächtig genug, um das Tau festzuhalten.

Einige Zeit verstrich mit Schwanken und Zucken, ehe er im Stande war, das Seil mit den Füßen festzuhalten; doch endlich gelang es ihm.

Als er wieder völlig zu sich gekommen war und das Tau zwischen den Händen und Füßen hielt, warf er einen Blick in die Tiefe.

Ueber die Kürze des Seils durfte er sich nicht beunruhigen; es hatte ihm schon öfter zum Erklimmen bedeutenderer Höhen gedient, und es reichte in der That bis auf das Verdeck der Durande.

Gilliatt sah, daß er hinabgelangen könne und fing an, empor zu klettern.

In einigen Augenblicken erreichte er das Felsplateau.

Kein lebendiges Wesen, außer dem Gevögel, hatte hier jemals Fuß gefaßt. Als Beweis dafür diente der Unrath, welcher die Plattform bedeckte. Letztere war ein unregelmäßiges Trapez, ein Bruchstück der colossalen granitnen Ecksäule, Douvre genannt.

Dies Trapez hatte eine kesselförmige Höhlung, das Werk der Regengüsse.

Gilliatt’s Berechnungen erwiesen sich als richtig. Den südlichen Winkel des Trapezes überbauten mehrere Felsstücke, vermutlich Reste des zertrümmerten Gipfels. Diese Felsstücke, welche einem Haufen unregelmäßiger Pflastersteine glichen, hätten einem Reh, das hierher verschlagen worden wäre, gestattet, zwischen ihre Spalten zu schlüpfen. Sie lagen unordentlich, doch ohne das Gleichgewicht zu verlieren, durcheinander und hatten Zwischenräume, wie man sie etwa im Gipsabfall findet. Sie boten weder Winkel noch Grotten, sondern nur Löcher wie ein Schwamm. Eins derselben war groß genug, um Gilliatt aufzunehmen. Es hatte einen mit Moos und Gras gepolsterten Boden. Der Eingang war zwei Fuß hoch; der Hintergrund wurde allmälig niedriger. Man findet Steinsärge, welche die Form dieser Höhlung haben. Da der Steinhaufen sich in südwestlicher Richtung aufthürmte, war die Höhle vor dem Eindringen der Wellen geschützt, dafür aber dem Nordwind ausgesetzt.

Gilliatt fand dies nach seinem Sinn.

Die beiden Aufgaben waren gelöst; der Holländer hatte einen Hafen und er selber ein Obdach gefunden.

Das Vortheilhafte dieses Ortes bestand darin, daß er oberhalb des Wracks lag.

Das Klettereisen war zwischen zwei Felsquadern gefallen und hatte dort sichern Fuß gefaßt. Gilliatt befestigte es bis zur Unbeweglichkeit, indem er einen schweren Stein darauf wälzte.

Alsdann ging er unverzüglich an seine Arbeit auf der Durande.

Von jetzt an war er häuslich eingerichtet.

Der große Douvre diente ihm als Wohnung, die Durande als Zimmerplatz. Gehen und kommen, hinauf und hinab steigen, was war einfacher?

Schnell glitt er an seinem Knotentau auf das Verdeck hinab.

Das Wetter war schön – ein guter Anfang. Gilliatt fühlte sich zufrieden und bemerkte, daß er Hunger hatte.

Er suchte seinen Eßkober hervor, öffnete sein Messer, schnitt eine Scheibe geräuchertes Rindfleisch ab, aß dazu von seinem groben Brote, that einen Zug aus der Flasche mit süßem Wasser und hielt mit einem Wort ein ausgezeichnetes Abendessen.

Gutes thun und gut speisen, sind zwei angenehme Dinge. Ein gesättigter Magen gleicht einem befriedigten Gewissen.

Nach Beendigung der Abendmahlzeit war es noch nicht ganz dunkel. Er benutzte den Rest des Tageslichts, um die Durande eiligst ihrer Last zu entheben.

Einen Theil des Tages hatte er schon angewandt, um das Gerümpel zu durchsuchen und alles Brauchbare als: Holz, Eisen, Tauwerk und Segelleinwand in den sichern Theil des Schiffsrumpfes, worin sich die Maschine befand zu schaffen. Das Nutzlose warf er in’s Meer.

Die Ladung des Holländers, welche er mit Hülfe der Schiffswinde auf das Verdeck gehißt hatte, war, obgleich nicht bedeutend, doch immerhin ein Hinderniß bei seinem Arbeitsverkehr. Gilliatt richtete sein Augenmerk auf eine Art Nische, die sich in der Wand des kleinen Douvre befand. Er konnte diese Höhlung mit der Hand erreichen. Man sieht in den Felsmauern oft dergleichen natürliche, freilich unverschlossene Schränke.

Gilliatt gedachte dieser Nische seine Vorräthe anzuvertrauen. In den Hintergrund setzte er seine beiden Kasten, von denen der eine das Handwerkszeug, der andere die Kleider enthielt, legte die Beutel mit Roggenmehl und Schiffszwieback daneben und stellte nach vorne – vielleicht zu nahe an den Rand, doch es fehlte an Raum – den Kober mit seinen übrigen Eßwaaren.

Er war vorsichtig genug, sein Schaffell, den Ueberrock mit der Reisekappe und die getheerten Beinkleider aus dem Kasten zurückzubehalten. Um das Knotentau nicht dem Winde Preis zu geben, befestigte er das untere Ende desselben an einem Katzsparren der Durande. Da diese viele Inhölzer hatte, war der Sparren sehr gekrümmt und hielt das Seilende so fest, wie eine geschlossene Hand es nur thun konnte.

Nun handelte es sich um den oberen Theil des Taues. Das untere Ende hatte sich leicht in Sicherheit bringen lassen, aber es stand zu fürchten, daß die scharfe Kante des Felsens oben auf der Erhöhung der Plattform, das auf ihr liegende Tau nach und nach zersägen würde.

Gilliatt wühlte unter den zurückbehaltenen Trümmern, wählte einige Segeltuchlumpen, zog aus dem Ende eines alten Seils mehrere lange Fäden Kabelgarn und steckte beides in seine Taschen.

Als er dies gethan hatte, zog er seine getheerten Oberhosen und den Ueberrock an – unter letzterm trug er noch seine Matrosenjacke, – schlug die Regenkappe zurück, knüpfte das Schaffell vermittelst der Tatzen desselben um seinen Hals, umfaßte, in diese vollständige Rüstung gekleidet, das Knotentau, welches jetzt in dem großen Douvre vollständig befestigt war, legte mit Sturmeseile die düstere Reise über dem Meer zurück und erreichte trotz seiner geschundenen Hände geschickt die Plattform.

Am Westhimmel erlosch die letzte Tageshelle. Das Meer lag im Dunkel da. Auf der Höhe des Douvre war noch ein Schimmer von Licht zurückgeblieben.

Gilliatt benutzte diesen Rest von Beleuchtung, um das Seil zu bekleiden. Die Krümmung, welche es auf der Felskante bildete, umwickelte er mehrmals mit Leinwand und schnürte dieselbe bei jedem Knotenabsatz sorgfältig fest, was an die Verbände erinnerte, welche die Schauspielerinnen zum Schutz gegen die Todesmarter und Pein des Knieens im fünften Act anlegen. Als Gilliatt mit der Umhüllung fertig war, richtete er sich aus seiner gebückten Stellung empor.

Seit einigen Minuten, während er die Leinwandlappen um das Knotentau gewickelt, bemerkte er ein unbestimmtes, sonderbares Rauschen in der Luft. Es glich dem Geräusch des Flügelschlages einer riesigen Fledermaus.

Gilliatt erhob seine Augen.

Ueber seinem Haupt am dämmerigen Abendhimmel drehte sich ein schwarzer Kreis.

Man sieht auf alten Gemälden über den Köpfen der Heiligen diese Kreise, nur sind sie golden und auf düstern Grund gemalt, während dieser schwarz war und einen lichteren Hintergrund hatte. Gab es je eine seltsamere Erscheinung? Sie glich einem nächtlichen Heiligenschein des großen Douvre.

Dieser Kreis näherte sich Gilliatt und schwebte dann wieder höher hinauf; jetzt wurde er enger und dann erweiterte er sich.

Es war ein Schwarm erschrockener Seevögel, – Möven, Fregatten und Meerraben.

Wahrscheinlich kamen sie, um in ihrer Heimath, auf dem großen Douvre, zu schlafen. Gilliatt hatte dort eine Kammer für sich in Anspruch genommen; er war diesen Thieren ein unerwarteter Gast, der sie beunruhigte.

Ein Mensch an dieser Stätte – dies war unerhört.

Ihr ängstlicher Flug währte einige Zeit. Sie schienen zu erwarten, Gilliatt würde sich entfernen.

Dieser folgte ihrem Flug ohne bestimmte Gedanken mit den Blicken.

Der fliegende Kreis schien endlich zum Entschluß gekommen zu sein; er löste sich in eine Schneckenlinie auf und ließ sich am Ausgang der Klippenreihe auf dem Mann nieder.

Dort schien Berathung gehalten zu werden. Während Gilliatt sich in seinem granitnen Gehäuse ausstreckte und einen Stein als Kissen unter seinen Kopf legte, hörte er, wie die Vögel ein Gespräch führten, an dem sich jeder einzelne durch sein eigenartiges Krächzen betheiligte.

Es währte lange Zeit, bis sie endlich alle schwiegen und auf ihrem Felsen einschliefen, wie Gilliatt auf dem seinigen.

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Siebentes Capitel. Die Widerwärtigkeiten beginnen.

Gilliatt schlief gut, doch fror ihn und er wachte aus diesem Grunde zuweilen auf. Natürlicherweise hatte er den Eingang seiner Höhle zum Kopfende erwählt und die Füße im Hintergrund untergebracht. Es war ihm nicht eingefallen, eine Menge ziemlich spitziger Kieseln von seiner Lagerstatt zu entfernen, ein Umstand, der seinem Schlaf nicht gerade zu Statten kam.

Auf Sekunden öffnete er halb und halb die Augen.

Von Zeit zu Zeit hörte er starke unharmonische Töne. Es war das fluthende Meer, welches mit einem Lärm wie Kanonenschüsse in die Höhlen der Klippen drang.

Die ganze Umgebung hatte etwas Außergewöhnliches, Traumhaftes. Gilliatt sah sich von Trugbildern umgaukelt und die Schauer der Nacht verstärkten die Eindrücke, welche er empfing. Er konnte nicht an die Wirklichkeit glauben, sondern sagte sich: ich träume.

Wieder in Schlaf verfallend, setzte er seine Träume fort, indem er sich in Bû de la Rue, in den Bravées oder irgendwo zu St. Sampson befand. Er hörte Deruchette singen und hielt dies für Wirklichkeit. So lange er schlief, glaubte er zu wachen und erwachte er, so war er überzeugt, zu träumen.

Von jetzt an befand er sich indeß wirklich im Traum.

Mitten in der Nacht ließ sich ein lautes Geräusch im Luftraum vernehmen. Trotz seines Schlafes spürte Gilliatt es, obgleich unbestimmt. Wahrscheinlich hatte der Wind sich aufgemacht.

Einmal als ein Frostschauer ihn weckte, öffnete er die Augenlider etwas weiter als bisher und sah am Himmel hoch über seinem Haupte schwere Wolken; der Mond verschwand und an seiner Stelle erschien ein großer Stern.

Gilliatt’s Geist war von Träumen umnebelt und diese Hirngespinste ließen ihn alle seltsamen Gebilde der Nacht in vergrößertem Maßstabe sehen.

Als der Tag anbrach, schlief er fest und eine eisige Kälte hielt ihn gefangen.

Das plötzliche Erscheinen des Morgenrothes erweckte ihn aus diesem, vielleicht gefährlichen Schlummer. Von seiner Kammer aus hatte er den Blick auf die aufgehende Sonne.

Gilliatt gähnte, streckte seine Glieder und begab sich aus seinem Loch.

Er hatte so gut geschlafen, daß er anfangs nicht begriff, wo er eigentlich war.

Nach und nach kehrte sein Erkennungsvermögen zurück und wurde endlich so lebendig, daß er rief: Frühstücken wir!

Es war heiteres, stilles, kaltes Wetter und keine Wolke zeigte sich am Himmel; der Besen der Nacht hatte den Horizont reingefegt und die Sonne stieg friedlich empor. Ein zweiter schöner Tag brach an. Gilliatt war fröhlich gestimmt.

Er entledigte sich seiner getheerten Beinkleider und seines Rockes, wickelte beides in das Schaffell – die wollige Seite des letztern nach innen gekehrt – umschürzte das Bündel mit einem Ende Seil, und warf es in den Hintergrund der Höhlung, damit es vor möglichem Regen sicher sei.

Dann richtete er sein Bett her, das heißt, er schaffte die Kieselsteinchen hinweg.

Nach Beendigung dieses Geschäftes glitt er an seinem Knotenseil auf das Verdeck der Durande und eilte nach der Felsnische, welche seine Eßwaaren beherbergte.

Der Kober war nicht mehr darin. Da er nahe am Rand stand, hatte der Nachtwind ihn entführt und in’s Meer geworfen. Der Wind mußte eine gewisse Willenskraft und Bosheit gehabt haben, um den Kober dort aufzufinden.

Die Feindseligkeiten begannen. – Gilliatt begriff dies sehr wohl. Wenn man mit dem Meer in rauhem, vertrautem Umgang lebt, ist es schwer, die Winde und Felsen nicht als Persönlichkeiten zu betrachten.

Gilliatt besaß von nun an keine andern Lebensmittel, als den Schiffszwieback, das Roggenmehl und als Aushülfe die Muscheln, mit denen der Schiffbrüchige auf dem Meer eine Zeit lang sein Leben gefristet hatte.

An Fischerei war nicht zu denken. Ein Feind von Stößen und Erschütterungen, vermeidet der Fisch die Brandung. Reusen und Netze sind zwischen Felsriffen nicht anwendbar und zerreißen auf dem spitzen Gestein.

Gilliatt aß einige Muscheln, die er nur mit Schwierigkeit vom Felsen löste; es fehlt nicht viel, so hätte er bei diesem Beginnen sein Messer zerbrochen.

Während er dies magere Frühstück verzehrte, hörte er über sich ein sonderbares Geräusch. Er blickte auf.

Es war der Schwarm Fregatten und Möven, die soeben flügelschlagend, schreiend, und einander überstürzend auf einen der niedrigen Felsen herabschossen. Diese, mit Schnäbeln und Krallen bewaffnete Horde, fiel irgend einen Gegenstand an.

Derselbe war nichts Anderes, als Gilliatts Kober.

Vom Winde auf eine Felsspitze geschleudert, hatte er sich geöffnet. Die Vögel eilten herbei und trugen in ihren Schnäbeln allerlei zerfetzte Bissen davon. Gilliatt erkannte von ferne sein Rauchfleisch und seinen Stockfisch.

Jetzt begannen auch diese Thiere den Streit. Sie übten Vergeltungsrecht. Gilliatt hatte sie aus ihrem Quartier vertrieben, sie raubten ihm sein Abendessen.

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Achtes Capitel. Die Klippe und die Art und Weise, sich ihrer zu bedienen.

Eine Woche war verstrichen.

Obgleich es die Regenzeit war, herrschte zu Gilliatts Freude heiteres Wetter. Seine Unternehmung überstieg dem Anschein nach menschliche Kräfte. Der Erfolg war so unwahrscheinlich, daß der Versuch einer Narrheit gleich kam.

Erst wenn wir zum Angreifen einer That gedrängt werden, erkennen wir deren volle Schwierigkeit und Gefahr. Nichts ist schwerer, als ein Anfang, der uns ein ungünstiges Ende voraussehen läßt. Jeder erste Schritt bringt uns Bedenken. Das erste Hinderniß, welches uns entgegentritt, sticht wie ein Dorn.

Gilliatt hatte auf der Stelle mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Wer die, zum dritten Theil zwischen Felsen eingezwängte Durande an solchem Ort und zu dieser Jahreszeit mit einiger Hoffnung auf Erfolg dem Untergang zu entreißen beabsichtigte, mußte dem Anschein nach über ein Heer von Männern gebieten können. Gilliatt stand allein da. Er bedurfte sämmtlicher Werkzeuge des Zimmermeisters und Maschinenbauers und besaß nichts als Säge, Axt, Meißel und Hammer; er brauchte eine Hütte und eine tüchtige Werkstatt und ihm fehlte selbst das Obdach; er hatte Lebensmittel nöthig und war nicht Herr eines Brotes. Wer Gilliatt während der ersten Woche in den Klippen arbeiten sah, konnte sich keine Vorstellung von dem Zweck seines Treibens machen.

Er schien die Douvres und die Durande vergessen zu haben; denn er beschäftigte sich nur mit allerhand Dingen, die auf den unterseeischen Klippen umherlagen und dachte nur an die Rettung der durch den Schiffbruch verdorbenen Gegenstände. Zur Zeit der Ebbe raubte er den Riffen, was ihnen der Orkan zugetheilt hatte. Er ging von Klippe zu Klippe und sammelte Segeltuchfetzen, Tauenden, Eisenstücke, Splitter der Schiffsfüllung, zerstückelte Planken, zerbrochene Raaen, Balken, Ketten und Kolben.

Gleichzeitig studirte er alle Unebenheiten und Krümmungen der Klippen.

Er hatte zwischen den Steinen auf dem Gipfel des großen Douvre während der Nacht von der Kälte gelitten und wünschte dringend, eine bessere Mansarde zu finden, sah sich aber in seinen Hoffnungen auf letztere getäuscht.

Zwei jener Klippenauswüchse waren ziemlich groß und trotz ihrer schiefen und ungeraden Oberfläche konnte man auf denselben stehen und sogar umhergehen. Regen und Wind trieben dort ihr Spiel, aber die höchste Fluth konnte die Stellen nicht erreichen. Sie lagen in der Nähe des kleinen Douvre und gestatteten zu jeder Zeit die Landung. Gilliatt erwählte einen dieser Plätze zu seinem Magazin; der andere sollte ihm als Schmiede dienen.

Er benutzte alle Raabänder, welche er auffinden konnte, um die geretteten Gegenstände damit zu umschnüren. Das Trümmerwerk schichtete er bundweise zusammen und machte vermittelst der Leinwand sorgsam geformte Pakete daraus.

Er schleppte die Ballen über die Felsriffe bis in sein Magazin, damit die steigende Fluth dieselben nicht hinwegschwemme. In einem Felsloch fand er ein Hißtau, vermittelst dessen er selbst ansehnliche Stücke Zimmerholzes heraufziehen konnte. Auf dieselbe Weise schaffte er die zahlreichen Kettenenden, welche in den Klippen umherlagen, auf die Höhe.

Gilliatt bewies bei dieser Arbeit eine zähe, bewundernswerthe Geduld. Er führte aus, was er wollte. Der unermüdlichen Emsigkeit einer Ameise leistet nichts Widerstand.

Am Schluß der Woche hatte Gilliatt das ganze Gerümpel des zerstörten Schiffes gut geordnet in seinem Granitschuppen untergebracht. Er besaß einen Winkel für Segeltaue und einen andern, worin er Segeltuch bewahrte; die Boleinen lagen nicht etwa unter den Hißtauen umher; die Rackschlitten waren je nach der Zahl ihrer Löcher geordnet. Ankerringseile, sorgfältig von den zerbrochenen Ringen abgewickelt, lagen in Gebinden da; die Kolben ohne Rollen waren von den Flaschenzügen gesondert. Holzpflöcke, Schiffsschnabelstützen, Niederholer, Scheibengatte, Eselsohren, Rackwerk, Leisegelspiere und Feuerflaschen befanden sich, vorausgesetzt, daß der Schiffbruch sie nicht gänzlich zerstümmelt hatte, an ihren besonderen Plätzen. Bindebalken, Pfeiler, Deckstützen, Eselsköpfe, Pfortluken, Schalen und Scheerstöcke waren auf einer Seite untergebracht; so oft es anging, waren zerstückelte Hauptbalken zusammengefügt, um Abtheilungen zu bilden. Die Reefseile lagen nicht unter den Beschlagleinen. Der Kabelaar und die Spinnkopfkolben nicht unter den Wurfankern, noch waren die Blockrollen der Pardune mit den Blockrollen des ungetheerten Tauwerks oder Bretterwerks der äußern Schiffsverkleidung mit dem des Dahlbords zusammengeworfen. Eine Ecke war für einen Theil der Schwingtingen der Durand? zurückbehalten, auf welchen bis jetzt die Wandtaue des Mastkorbes und die Puttingtaue ruhten. Jedes Bruchstück hatte seinen Ort. Sämmtliche Schiffstrümmer waren nach ihrer Gattung geordnet und gesondert. Das Ganze erinnerte an ein Chaos auf Lager.

Ein Stagsegel, – es war freilich sehr durchlöchert, bedeckte, von großen Steinen festgehalten, die Gegenstände, welche möglicherweise vom Regen hätten leiden können.

So zerschmettert auch das Vordertheil der Durande war, gelang es Gilliatt doch, die beiden Krahnbalken mit ihren drei Blockrollenrädern zu retten.

Auch den Bugspriet fand er auf und mußte viel Mühe anwenden, ihn von seinen Bewindseln zu befreien, welche straff angezogen und zusammengeschrumpft waren, da sie, wie immer, mit dem Ankerhaspel zusammenhingen und durch das trockene Wetter gelitten hatten. Gilliatt löste sie dennoch. Diese Masse Tauwerk konnte ihm gute Dienste leisten.

Er hob ebenfalls den kleinen Anker auf, der von der Fluth bedeckt, in einer Höhlung der unterseeischen Klippe Grund gefaßt hatte.

In der ehemaligen Kajüte Tangrouilles fand er ein Stück Kreide, das er sorgfältig aufbewahrte. Vielleicht hatte er später Zeichen zu machen.

Ein lederner Feuereimer und mehrere ziemlich gut erhaltene Kufen vervollständigten seine Vorräthe.

Sämmtliche Kohlenreste von der Ladung der Durande trug er in sein Lagerhaus.

In acht Tagen hatte er die Trümmer des Schiffs und der dazugehörigen Dinge in Sicherheit gebracht. Die Klippen waren gesäubert, die Durande fühlte sich von ihren Lasten befreit. Nur die Maschine blieb auf dem Wrack.

Gilliatt, der sich vollständig in sein Werk vertiefte, suchte vergebens die »Pupe« der Durande. Sie gehörte zu den Dingen, welche die Wellen? auf immer entführt hatten. Hätte er seine beiden Arme nicht so nothwendig gebraucht, er würde sie geopfert haben, um nur die »Pupe« wieder aufzufinden.

Außerhalb seines Magazins und im Eingang desselben sah man zwei Kehrichthaufen; der eine bestand aus schlechtem Eisenwerk, das durch Umschmieden nutzbar werden konnte; der zweite enthielt Holzreste, welche zum Verbrennen taugten.

Mit Anbruch des Tages war Gilliatt bei seiner Arbeit. Außer seinen Schlafstunden gönnte er sich keinen Augenblick Rast.

Die Seeraben flogen hin und wieder und beobachteten ihn bei seinem Werke.

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Neuntes Capitel. Die Schmiede.

Als er mit dem Magazin fertig war, richtete Gilliatt die Schmiede ein.

Der zweite Felsauswuchs bildete eine Art ziemlich tiefer Höhlung. Anfangs hatte Gilliatt die Absicht, selber darin zu wohnen, doch da beständig und hartnäckig der Nordwind dadurchpfiff, mußte er den Gedanken aufgeben. Der erwähnte Zugwind ließ den Plan in ihm entstehen, in jener Höhle eine Schmiede anzulegen. Konnte der Ort nicht sein Zimmer sein, so sollte er ihm als Werkstatt dienen. Aus Hindernissen Nutzen ziehen, heißt dem Siege näher kommen. Der Wind war Gilliatt’s Gegner und sollte ihm als Knecht dienen.

Man sagt von gewissen Menschen, daß sie sich zu allem bereit erklären und nichts erfüllen. Dasselbe gilt von den Felshöhlen. Sie halten nicht, was sie versprechen. Solche Gruben sind wie Badewannen, welche das Wasser durch ihre Spalten fließen lassen; sie gleichen einem Zimmer ohne Decke, einem Moosbett voller Feuchtigkeit oder einem Armstuhl, der mit Steinen gepolstert ist.

Die Natur hatte zwar die Vorarbeiten zu einer Schmiede, welche Gilliatt bauen wollte, geliefert, aber es gab nichts Schwierigeres als diese Höhle in eine zweckmäßige Werkstatt zu verwandeln.

Drei oder vier Felslöcher, welche trichterartig gestaltet waren und in einen engen Spalt ausliefen, bildeten eine Art natürlichen, riesigen, unförmlichen Blasebalgs, dessen Kraft sich jedoch anders äußerte, als die großen vierzehn Fuß langen Schmiedeblasebälge, welche bei jedem Druck acht und neunzigtausend Zoll Luft ausstoßen. Hier verhielt die Sache sich anders. Die Portionen des Orkans lassen sich nicht berechnen.

Das Uebermaß von Kraft wirkte störend; es war schwer, sich den Zugstrom in regelrechter Weise nutzbar zu machen.

Die Höhle hatte zwei Uebelstände: Wind und Wasser schalteten und walteten nach allen Richtungen darin.

Letzteres trat aber nicht in Gestalt von Sturzwellen auf, sondern drängte sich unter beständigem Rieseln hinein und glich mehr einem Gesicker, als einer Strömung.

Der Schaum, den die anprallenden Wellen unaufhörlich – zuweilen höher als hundert Fuß – über die Klippen schleuderten, füllte eine, durch die Natur gebildete Wanne, welche sich in dem, die Höhlung überragenden Felsvorsprung befand, mit Meerwasser. Das Ueberfließen dieses Behälters bildete einen kleinen Cataract, der einen Zoll im Durchmesser hatte und etwas hinterwärts an der steilen Klippenwand vier oder fünf Klafter hinabstürzte. Von Zeit zu Zeit ergoß sich eine Regenwolke im Vorüberziehen in dies unerschöpfliche und stets übervolle Gefäß. Das darin enthaltene Wasser war nicht trinkbar, sondern von salzigem Geschmack, trotzdem aber klar. Die Tropfen des Cataracts spielten anmuthig auf dem äußersten Gezweige der Wassermoose, wie auf Haarspitzen.

Gilliatt gedachte sich dieses Wassers zu bedienen, um den Wind im Zügel zu halten. Mit Hülfe eines Trichters, einiger Röhren, die er in aller Eile aus Brettern angefertigt und deren eine er mit einem Hahn versehen hatte, sowie einer sehr geräumigen Kufe, die unterwärts gestellt, als Röhrtrog diente, gelang es Gilliatt, der, wie gesagt, ein wenig Schmied und Mechaniker war, seinen Apparat ohne Anwendung eines Gegengewichts dadurch zu vervollständigen, daß er ihn nach oben hin verengte und unten Saugöffnungen anbrachte. Dies Machwerk, welches freilich in manchen Stücken sehr mangelhaft war, aber doch seinen Zweck erreichte, ersetzte ihm den fehlenden Blasebalg.

Gilliatt besaß Roggenmehl und aufgedrehtes Tauwerk. Aus ersterem machte er Kleister, aus letzterem Werg. Mit Hülfe dieser Dinge und einiger Holzkeile verstopfte er jeden Spalt seiner Felshöhle, doch brachte er in derselben ein Heberohr an, das er aus einem Ende Zündrohr verfertigte. Letzteres fand er in der Durande, wo es dem Steinböller als Luntenstock gedient hatte. Das Heberohr hatte eine horizontale Lage und mündete auf eine große Granitplatte, die Gilliatt als Schmiedeheerd benutzen wollte.

Nach Verrichtung dieser Dinge häufte Gilliatt Kohlen und Holz auf dem Heerd zusammen, schlug mit dem Feuerstahl Funken aus dem Felsen, ließ eine Handvoll Werg Feuer fangen und setzte mit diesem die Kohlen und das Holz in Brand.

Er versuchte den Blasebalg. Derselbe leistete vorzügliche Dienste.

Gilliatt fühlte sich stolz wie ein Cyclop. Er hatte sich Luft, Feuer und Wasser dienstbar gemacht.

Die Luft, indem er den Zugwind einer Granithöhle vermittelst eines Apparats in einen Blasebalg verwandelte, – dem Sturm also gewissermaßen eine Lunge gab; er war Herr des Wassers geworden, indem er jenen kleinen Wasserfall herstellte; zum Herr des Feuers hatte er sich insofern gemacht, als er aus dem überflutheten Fels Funken schlug.

Da die Höhlung fast ganz unter freiem Himmel lag, drang der Rauch ungehindert hinaus und schwärzte niedersteigend die steilen Abhänge der Felsen. Sie, die von Anbeginn bis in Ewigkeit für den Meeresschaum bestimmt schienen, machten jetzt Bekanntschaft mit dem Ruß.

Gilliatt wählte als Amboß einen großen, sehr festen Stein, der sich von den Felsen abgelöst hatte und an Form und Umfang dem gewünschten Zweck ziemlich entsprach. Für Hammerschläge war es indeß eine gefährliche Grundfläche, die vielleicht zersplittern konnte. Ein Vorsprung dieses Blocks endigte in eine abgerundete Spitze, die im buchstäblichen Sinn für einen Afterkegel gelten konnte, dessen pyramidale zweite Spitze jedoch fehlte. Es war der antike Steinamboß der Troglodyten. Die von den Wellen polirte Oberfläche hatte fast die Festigkeit des Stahls.

Gilliatt bedauerte, seinen eigenen Amboß daheim gelassen zu haben. Da er vorher nicht gewußt, daß die Durande vom Orkan in zwei Stücke gerissen worden war, hoffte er sämmtliches Handwerkszeug des Zimmermanns, das gewöhnlich seinen Platz im untern Raum des Schiffsvordertheils hatte, benutzen zu können. Nun aber war gerade diese Hälfte der Durande entführt worden.

Die beiden Höhlen, welche Gilliatt sich auf den Klippen eroberte, lagen nahe beisammen. Das Lagerhaus und die Schmiede waren Nachbarn.

Nach beendigtem Tagewerk speiste Gilliatt jedesmal ein Stück Schiffszwieback, den er mit dem Saft eines Seeigels oder einiger Meerkastanien befeuchtete, – der einzigen Beute, die er in den Klippen erjagen konnte – und kletterte dann an dem Knotentau auf den großen Douvre, um in seinem Felsloch zu schlafen.

Die rohe, plumpe Beschäftigung Gilliatt’s vermehrte seine geistige Vertiefung. Ein außergewöhnlich lebhaftes realistisches Treiben bewirkt eine Betäubung der Geistesfähigkeiten. Seine körperliche Arbeit mit ihren endlosen Details erleichterte ihm nicht das beklemmende Gefühl, an einem solchen Ort sich solcher Beschäftigung hingeben zu müssen. Im Allgemeinen ist Mangel an materieller Thätigkeit eine Fessel, die uns zu Boden zieht; doch die Seltsamkeit der Unternehmung Gilliatt’s versetzte ihn in einen idealen, traumhaften Zustand. Zuweilen war es ihm, als schwänge er seinen Hammer in den Wolken, während er in anderen Augenblicken seine Werkzeuge für Waffen hielt. Er hatte ein Gefühl, als leiste er einem geheimen Angriff Widerstand, oder als wiche er demselben aus. Wenn er aus zerstörtem Tauwerk Seile drehte und den Saumfaden aus einem Segel zog oder zwei Bohlen zusammenfügte, glaubte er Kriegsmaschinen herzustellen. Die tausend winzigen Bestandtheile seiner fremdartigen Arbeit dünkten ihm endlich Vorsichtsmaßregeln gegen geschickte und wenig versteckte, leicht zu durchschauende Angriffe zu sein. Gilliatt kannte die Gründe für diese Vorstellungen nicht, aber er war sich der letzteren deutlich bewußt. Allmälig gelang er dahin, sich für einen grausamen Wilden zu halten und er vergaß, daß er ein Arbeiter war.

Er befand sich an diesem Ort, um ihn sich zu erzwingen. Er glaubte fast, daß es geschehen könnte. Eine seltsame Erhebung für seine Seele.

Bald erfaßte ihn wieder der überwältigende Gedanke, seine Arbeit könne doch eine verlorene sein. Es giebt nichts, was den Geist mehr verwirrt, als unbegrenzte, unerforschte Kräfte wirken zu sehen. Man sucht nach einem Endpunkt. Raum und Zeit, in welchem kein Stillstand herrscht, unermüdliche Wogen, Wolken, welche die »geschäftigen« heißen sollten, unermeßliche unbekannte Gewalten – dies convulsivische Walten ist ein Räthsel. Was bedeutet dies ewige Schwanken? Was schaffen diese Windstöße, diese Erschütterungen? Dies Schluchzen, Heulen, diese Reibungen, was erzeugen sie? Worauf hat dieser Aufruhr es abgesehen? Ewig, wie Ebbe und Fluth, steigen diese Fragen im Menschengeist auf und ab. Gilliatt hatte zwar ein bestimmtes Werk vor sich, aber das Leben und Weben seiner schrankenlosen Umgebung wirkte wie ein verwirrendes Räthsel auf ihn.

Gilliatt, der Träumer, vermischte, ohne sein Wissen unwiderstehlich dazu gedrängt und einzig in Folge einer fast unsinnigen Bethörung, – sein eigenes Werk mit dem gewaltigen, aber nutzlosen Arbeiten des Meeres. Warum sollte er das Geheimniß der schreckenerregenden, geschäftigen Welle, wenn ein solches waltete – nicht ergründen und an sich reißen können? Weshalb sollte er nicht alle Schärfe, deren der Gedanke fähig ist, dem Zittern der Wogen und dem zornig emporspritzenden Schaume, der langsamen, kaum merklichen Abnutzung der Felsen und der athemlosen Hetze der vier Winde nachgrübeln dürfen? Welche Pein liegt in der Vorstellung dieses Anfangs ohne Ende – der Ocean ein Brunnen, die Wolken Danaiden – und alle diese mühselige Arbeit umsonst.

Umsonst? Nein. Doch nur der unbekannte Geist des Weltalls weiß, wozu sie nütze ist.

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Zehntes Capitel. Entdeckt.

Eine der Küste benachbarte Klippe wird zuweilen von Menschen besucht; doch liegt sie in hoher See, bleibt Jeder ihr fern. Was wäre auf ihr zu finden? Sie ist ja keine Insel. Man darf nicht hoffen, auf ihr die Mittel zum Lebensunterhalt zu gewinnen; sie bringt weder Fruchtbäume, noch Weiden hervor, ernährt keine Thiere und liefert kein trinkbares Wasser. Sie ist ein kahler, nackter Punkt in der Einöde, ein Fels mit schroffen Wänden über der See und mit Spitzen, die sich im Meer verbergen. Sie liefert nichts als den Schiffbruch.

Diese Klippen, welche in der alten Seesprache die »Abgeschiedenen« heißen, sind, wie wir schon gesagt, sonderbare Dinge. Das Meer ist ihr einziger Gefährte. Es hat bei ihnen freien Spielraum. Keine Erscheinung vom Lande beunruhigt es. Der Mensch setzt die See in Schrecken. Sie mißtraut ihm und verbirgt ihm ihr Wesen und Treiben. In den Klippen fühlt sie sich sicher; dorthin dringt Niemand. Das Selbstgespräch der Wellen wird durch nichts gestört. Die See arbeitet an der Klippe, bessert ihre Schäden, schärft ihre Spitzen, versieht sie mit Stacheln, säubert sie, erhält sie in gutem Stande, durchlöchert das Gestein, entfernt die mürben Theile, löst das Fleisch von den Knochen, zerstört sie und behält das Gerippe zurück, – wühlt, zerfetzt, bohrt, gräbt Canäle, verbindet die Eingeweide, legt Zellen an, bildet einen Schwamm in großem Maßstabe, wölbt im Innern des Felsens Höhlungen und meißelt seine Außenseite. In diesen verschwiegenen Gebirgen, die ihm angehören, bildet das Meer Höhlen, Paläste und gründet sich ein Allerheiligstes; es hat eine Art Vegetation, welche zugleich scheußlich und prachtvoll, und aus schwimmenden Kräutern mit Gebissen und Unthieren, die auf dem Grunde Wurzel schlagen, zusammengesetzt ist; im düstern Schooß der Wogen verbirgt es diese grauenerregende Herrlichkeit. Niemand überwacht es zwischen den einsamen Klippen, Niemand stört es und erspäht seine Thaten; hier entwickelt es uneingeschränkt seine geheimnißvolle, dem Menschen unergründliche Seite.

Diesen Orten übergiebt es seine lebenden und gräßlichen Absonderungen. Kurz, hier vollbringt das Meer, was Niemand kennt und weiß. Vorgebirge, Landzungen, unterseeische Klippen, Felsriffe sind, wir behaupten es, großartige Gestaltungen. Die Bildung der Erdoberfläche ist einfach im Vergleich zur Bildung der Meeresgründe. Die Klippen, diese Wohnungen der Wogen, diese Pyramiden und Syringen des Seeschaumes, sind Werke einer geheimen Kunst, welche der Verfasser dieses Werkes irgendwo »die Kunst der Natur« genannt hat. Sie sind in einem gewissen großartigen Styl gebildet. Der Charakter dieser Bauten ist ein sehr verschiedener. Sie zeigen die Verworrenheit eines Polypenhäuschens, die Erhabenheit der Cathedrale, die bunte Ueberladung der Pagode, die großen Dimensionen eines Berges, die Zierlichkeit einer Juwelierarbeit und die schaurigen Gestaltungen der Todtengrüfte. Sie haben Zellen wie die eines Wespennestes, Gruben wie Thierzwinger, unterirdische Gänge wie Maulwurfslöcher, düstere Höhlen, die einer Bastille gleichen, und Verstecke wie Feldlager. Ihre Thore sind verrammelt, ihre Säulen verstümmelt, ihre Thürme neigen sich seitwärts und ihre Brücken sind zertrümmert. Nur Vögel und Fische haben Zugang in ihre Gemächer; allen anderen Geschöpfen bleiben dieselben unerbittlich verschlossen. Man gelangt nicht hinein. Die architectonischen Formen dieser Gebände erleiden Verwandlungen; sie gerathen in’s Schwanken und setzen sich wieder in’s Gleichgewicht, zerbrechen, stehen plötzlich in sicherer neuer Gestalt da, gehen in Schwibbogen über und endigen als Architrab. Eine außergewöhnliche Naturkraft prahlt hier mit ihren gelösten Aufgaben. Block thürmt sich auf Block; erschreckende Felsstücke hängen drohend herab und stürzen nicht. Man weiß nicht, wodurch diese schwindelnde Gebilde sich aufrecht erhalten. Ueberall, steile, nicht senkrecht, sondern vornüber geneigte Felswände, Lücken und volle, schwebende Ueberhänge. Kein Gesetz in dieser babylonischen Verwirrung. Der unbekannte Weltgeist, ein Riesenbaumeister, berechnet nichts und doch gelingen seine Werke. Das Labyrinth der Felsen ist ein kolossales Denkmal – ohne Plan gegründet und doch in ungestörtem Gleichgewicht, es ist mehr als dauerhaft – es steht fest bis in alle Ewigkeit. Und dennoch herrscht Unordnung darin. Der Aufruhr der Wogen scheint bis in den Granit gedrungen zu sein; eine Klippe ist ein versteinertes Ungewitter. Nichts ergreift die Seele so stark, als der Anblick dieser wilden Gebilde, die ewig zerfallen und doch ewig ihren Stand behaupten. Sie arbeiten einander in die Hände und zerstören sich gegenseitig. Ein Kampf der Formen, woraus ein Gebäude hervorgeht. Man erkennt in ihm die Mitwirkung des Orkans und des Oceans, dieser beiden Feinde.

Unter den Felsgebäuden giebt es Meisterwerke von entsetzlicher Vollkommenheit. Die Douvreklippe war ein solches Meisterwerk. Das Meer hatte sie mit unheilvoller Liebe gestaltet und vervollkommnet. Die mürrischen Wellen küßten sie. Sie war garstig, verrätherisch und versteckt. In ihrem Innern gähnten Gruben und ein Adernsystem von Klüften, das sich bis in unergründliche Tiefen verzwingt, ging von ihr aus. Mehrere Mündungen dieser Höhlenreihen waren zur Ebbezeit trocken gelegt. Man konnte auf eigene Gefahr hineingehen.

Gilliatt mußte, um sein Rettungswerk zu betreiben, alle diese Grotten genau untersuchen. Sie waren durchweg schauerlich. In jeder einzelnen erzeugten sich unter den ungeschlachten Verhältnissen, die der Ocean liebt, jene an Mord und Tod erinnernden Dinge, welche man in dem Engpaß der beiden Douvres erblickte. Wer nie mit eigenen Augen in derartigen Klüften, auf Mauern ewigen Granits diese abscheulichen Fresken sah, kann sich keine Vorstellung von ihnen bilden. Die Grotten waren tückisch; man durfte sich nicht in ihnen verspäten. Die Fluth füllte sie bis zur Decke. Einschalige Muscheln und andere Meereserzeugnisse fanden sich in reicher Menge darin.

Runde Strandsteine bedeckten haufenweise ihren Boden. Viele dieser Steine wogen schwerer, als eine Tonne. Man sah sie in allen Größen und Farben, die meisten waren jedoch blutroth; einige mit haarigem, klebrigem Wassermoos bedeckte, glichen dicken, grünen Maulwürfen, die im Fels umherwühlten.

Unter den Höhlen gab es mehrere, die plötzlich in einer Wölbung wie die eines Backofens endeten und sich abschlossen. Andere, Arterien einer geheimnißvollen Verzweigung verlängerten sich in gekrümmte und finstere Spalten. Dies waren die Gassen des Abgrundes. Sie verengten sich zuletzt in einem Grade, daß sie Niemand den Durchgang gestatteten. Beim Schein einer brennenden Strohfackel hätte man in ihren Finsternissen die sickernde Feuchtigkeit des Gesteins erkannt.

Einst wagte sich Gilliatt bei seinem Herumspüren in eine dieser Spalten. Die Ebbezeit gestattete es. Es war ein stiller, sonniger Tag. Kein durch die See bewirktes Ereigniß konnte die Gefahr vermehren. Nichts stand zu befürchten.

Zwei Notwendigkeiten zwangen Gilliatt, wie wir schon sagten, zu diesen Forschungen: er mußte, um die Rettung der Maschine zu ermöglichen, die nützlichsten Schiffstrümmer zusammensuchen und sich Krabben und große Seekrebse zu seinem Lebensunterhalt verschaffen. Die Muscheln fingen an, in den Douvres selten zu werden.

Der Spalt war enge und ließ ihn kaum eindringen. Er zwängte sich dennoch mit Anstrengung hinein, wand sich so sehr er konnte und drang vorwärts, soweit es in seinen Kräften stand.

Ohne daß er es ahnte, befand er sich genau im Innern des Felsens, auf dessen Spitze Clubin die Durande hatte treiben lassen. Gilliatt befand sich also unterhalb dieser Spitze. Dieser Fels, von außen steil und unnahbar, war im Innern hohl. Er hatte Galerien, Brunnen und Gemächer, wie das Grab eines ägyptischen Königs. Diese Höhle gehörte zu den verworrensten Labyrinthen, die sich hier vorfanden; sie war eine Arbeit, eine Felsuntergrabung des unermüdlich fleißigen Meeres. Die Seitenarme dieses unterseeischen Erdgeschosses standen wahrscheinlich durch mehr als eine Oeffnung mit der offenen, unendlichen Wassermasse in Verbindung; manche, indem sie in gleichem Niveau mit dem Meeresspiegel standen, andere durch unsichtbare, tiefe Trichter. Ganz in der Nähe dieser Höhle hatte sich Clubin in die See gestürzt, was Gilliatt freilich nicht wußte.

Gilliatt schlängelte sich in diesem Krokodil-Spalt, wo indeß keine Krokodile zu fürchten waren, weiter, kletterte, stieß seine Stirn, bückte sich, richtete sich empor, verlor den Fußboden, fand ihn wieder und gelangte mühsam vorwärts. Allmälig erweiterte sich der Spalt, ein Dämmerlicht brach an und Gilliatt trat unverhofft in eine seltsame Höhle.

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Elftes Capitel. Das Innere eines unterseeischen Gebäudes.

Das Dämmerlicht kam wie gerufen.

Nur noch ein Schritt und Gilliatt wäre in ein, vielleicht grundloses Wasser hineingefallen. Die Höhlengewässer bewirken eine so plötzliche Erstarrung und Lähmung der Glieder, daß die kräftigsten Schwimmer häufig derselben erliegen.

Auch giebt es keine Möglichkeit, in den steilen Wänden, von denen man eingeengt ist, emporzusteigen und sich an ihnen festzuklammern.

Gilliatt hemmte schnell seinen Schritt. Der Spalt, aus dem er trat, schloß sich durch einen schmalen, klebrigen Vorsprung in der senkrechten Felswand. An diese Wand lehnte sich Gilliatt und blickte umher.

Er stand in einer großen Höhle. Die Decke über ihm glich der innern Seite einer unförmlichen Hirnschale. Sie schien erst eben geöffnet und von dem Gehirn getrennt zu sein. Die triefenden Reifen des Gesteins der Wölbung stellten die Nervenzweige und die sein gezackten Näthe eines Schädels dar. Der Plafond der Grotte war ein Fels, das Wasser der Fußboden. Die Sturzwellen des fluthenden Meeres glichen, durch die vier Wände der Grotte eingeengt, großen, zitternden Quadern. Das Gewölbe war überall geschlossen. Nirgends eine Oeffnung, ein Kellerloch; kein Mauerriß, nicht die kleinste Spalte in der Decke. Das Licht schien durch das Wasser hinaus. Es war ein unbestimmtes dämmeriges Gefunkel.

Gilliatt, dessen Pupillen sich während seines Ganges durch den dunkeln Spalt erweitert hatten, unterschied in diesem Zwielicht jeden Gegenstand.

Er kannte aus eigener, mehrfacher Anschauung die Höhlen von Plémont zu Jersey, Creux-Maillé zu Guernesey und die Buden von Serk, welche diesen Namen führen, weil sie den Schmugglern zum Ablagern ihrer Waaren dienten. Doch keine dieser wunderbaren Grotten bestand einen Vergleich mit dem unterirdischen und unterseeischen Raum, den er soeben betrat.

Gilliatt sah gerade vor sich im Wasserschooß eine Art Brückenbogen. Die Wellen hatten seine innere Wölbung gerippt und er leuchtete zwischen den düstern Grundpfeilern hervor. Durch dies ertränkte Portal drang die Helle der offenen See in die Höhle. Ein seltsames Tageslicht, das erst vom Wasser verschlungen war, ehe es an diesem Ort wirkte. Es erweiterte sich unter den Wellen in Fächergestalt und wurde von dem Fels zurückgeworfen. Seine gradlinigen Strahlen brachen sich auf dem klaren Grund in langen Streifen, die, bald hell, bald dunkler, von einer Erhöhung zur andern liefen. Es herrschte eine Tageshelle, aber eine unbestimmte in dieser Höhle. Sie hatte nichts mit unserm Lichte gemein. Man konnte sich auf einen andern Planeten versetzt glauben. Es war eine räthselhafte Helle, – der meergrüne Glanz des Augapfels einer Sphinx. Die Höhle stellte das Innere eines kolossalen, prächtigen Todtenkopfes dar; die Wölbung war die Hirnschale, die Augenöffnungen fehlten, der Brückenbogen bildete den Mund. Dieser verschlang die Fluth und spie sie wieder aus; zur Mittagszeit war er aufgesperrt, um Licht zu trinken und dafür Bitterkeit von sich zu geben. Es giebt gewisse gescheidte und nichtswürdige Persönlichkeiten, die es ebenso machen. Die Meerwassermasse, welche die Bogenöffnung wie eine Glasscheibe von ungeheurer Dicke verschloß, ließ den Sonnenschein nur als grünen Schimmer, den Strahlen Aldébarans ähnlich, in die Grotte dringen. Die Fluth, überall von diesem Dämmerlicht durchglänzt, glich flüssigem Smaragd. Ein unendlich zarter Farbenton, wie wir ihn an dem Aquamarin sehen, erfüllte weich und milde die ganze Grotte. Die Wölbung, deren Moosbekleidung an Hirnadergezweig erinnerte, schimmerte in dem duftigen Licht des Chrysopras.

An der Decke schwebten goldene Ringel – das Widerspiel der zitternden, gaukelnden Wellen – in unermüdlichem geheimnißvollem Tanzen. Sie dehnten sich, wuchsen, lösten sich auf und nahmen neue Formen an – ein gespenstisches Treiben, wie es dem Beschauer däuchte. Mau fragte sich, welche Beute dies prächtige Netz lebendigen Feuers so lustig zu erhaschen strebe? An den Vorspringen der Wölbung und zwischen Unebenheiten des Gesteins schwebten lange und zarte Pflanzen, die ihre Wurzeln wahrscheinlich durch die Felsritzen geschlagen hatten und dieselben in den Wassernäpfchen auf der Oberfläche der Decke badeten. An allen Spitzen dieser Ranken glänzte ein Wassertropfen, eine Perle, die mit leisem, sanftem Geräusch in den Abgrund fiel und stets durch eine neue ergänzt ward. Die Gesammtwirkung dieser Dinge war unbeschreiblich ergreifend. Es konnte keinen lieblichern und schauerlich-düstern Aufenthalt geben, als diese Höhle.

Sie war ein Palast, in welchem der Tod nach gethaner Arbeit zufrieden ausruhte.

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Zwölftes Capitel. Was man in diesem Palast sah und ahnte.

Ein lichtdurchfunkelter Schatten herrschte an diesem seltsamen Ort.

Die Bewegung des Meeres äußerte sich auch in ihm.

Mit der Regelmäßigkeit des Athmens machte das Schwanken außen die innere Wasserfläche bald steigen, bald fallen. Es war, als ob ein hier waltender geheimnißvoller Geist seine Schwingen hob und wieder senkte.

Das Wasser hatte eine zauberische Durchsichtigkeit und Gilliatt bemerkte an verschiedenen Stellen auf dem Grunde Felsvorsprünge mit Vertiefungen, in denen die grüne Farbe sich bis zu den dunkelsten Tönen steigerte. Mehrere finstere Höhlungen schienen bodenlos zu sein.

Zu beiden Seiten des Portals bewiesen flache, unvollkommene Wölbungen, in denen tiefes Dunkel herrschte, das Vorhandensein kleiner Nebenhöhlen, Untiefen der im Mittelpunkt gelegenen großen Grotte. Vielleicht waren sie zur Zeit der Fluth zugänglich.

Diese Mündungen halten geneigte Deckflächen mit mehr oder weniger offenen Winkeln. Kleine, einige Fuß breite Sandschollen, welche von der Fluth aufgethürmt und blosgelegt waren, hatten sich unter diese schrägen Dächer gedrängt und wurden durch dieselben verdeckt.

Mit den Schwingungen eines Haares, das der Wind bewegt, schwammen Wasserpflanzen von mehr als Klafterlänge im Schooß des Wassers. Man glaubte Wälder von Seeeichen darin zu entdecken.

Die üppige Flora des Oceans, welche so selten von einem Menschenauge gesehen wird, daß alte, spanische Seefahrer sie praderias del mar nannten, überwucherte die ganze Mauer der Grotte von der Deckwölbung bis an die Stelle, wo das Gestein sich in der Tiefe verlor. Ein kräftiges Moos, das in allen Schätzungen der Olivenfarbe spielte, verhüllte und füllte die Unebenheiten des Granits und auf allen steilen Vorsprüngen drängten sich die feinen, streifenartigen Meergrasspitzen hervor, aus denen die Fischer ihre Barometer verfertigen. Der versteckte Luftzug der Grotte setzte diese glänzenden Streifchen in Bewegung.

Unter diesen Pflanzen verbargen sich, nur hin und wieder an’s Licht tretend, die seltensten Juwelen aus dem Schmuckkasten des Oceans: Elfenbein- und Flügelschnecken, Bischofsmützen, Seetrompeten, Purpurmuscheln und thurmartige Hornschnecken. Die Glocken der Schlüsselmuscheln, winzigen Hüttchen ähnlich, klebten überall am Felsen und gruppirten sich zu Dörfern, in deren Gassen die Käferschnecken, diese Insecten der Wogen, ihr Wesen treiben.

Da die Strandsteine nur schweren Zugang in diese Grotte hatten, flüchteten die Molusken dahin. Letztere sind Herren von hohem Stande, die mit Stickereien und Posamentirbesätzen geschmückt, die rohe und ungesittete Berührung des gemeinen Pöbels der Kieseln vermeiden.

An manchen Punkten im Wasser entstanden durch eine Anhäufung funkelnden Muschelwerks unvergängliche Ausstrahlungen, welche ein Gewühl von Perlenmuscheln, Azur- und Goldschnecken, die in allem Farbenglanz der Edelsteine schimmerten, durchblicken ließen.

An der Seitenwand der Grotte, etwas oberhalb der Wasserlinie, welche die hohe Fluth erreichte, heftete eine seltsame, herrliche Pflanze sich wie eine Randverzierung an die Tapete von Seegras und schloß dieselbe gleichsam ab. Diese Pflanze von schwärzlicher Farbe war faserig, buschig unauflösbar ineinander verwachsen und ließ durch breite, teppichartige, wirre und dunkle Geflechte überall zahllose kleine lapislazulifarbene Blüthen leuchten. Im Wasser schienen die Blumen sich zu entzünden und man hielt sie für blaue Flämmchen. Ueber den Wellen waren sie Blüthen, in denselben glichen sie Saphiren, so daß die Fluth, indem sie stieg und die Grundmauern der Grotte in ihren Schooß versenkte, den Fels mit Karfunkeln bedeckte.

Bei dem jedesmaligen Anschwellen der Wogen wurden die Blumen getränkt und schimmerten dann in schönem Glanz; dieser verlosch jedoch, sobald das Wasser sank, – ein trübes Bild des Menschengeschickes. Zuerst vorwärts streben, das heißt leben, dann ermatten, sterben.

Zu den Wundern der Grotte gehörte der Fels selber.

Das Gestein, bald Mauer oder Wölbung, bald Strebe- oder Wandpfeiler war stellenweise roh und nackt und dicht daneben zeigte sich die zarteste, natürliche Meißelarbeit. Der dumme, ungeschlachte Granit schien gewissermaßen von Geist und Leben durchdrungen zu sein. Welcher Künstler ist der unergründliche Naturgeist. Die Mauerfläche, in Vierecke eingetheilt und mit erhabener Arbeit geziert, stellte ein undeutliches Basrelief dar; man konnte sich in dieser Skulptur, die zum Theil in Dämmerung gehüllt war, Prometheus vorstellen, wie er die Grundrisse für Michel Angelo’s Arbeit entwarf. Es schien, als könne das Genie mit einigen Hammerschlägen vollenden, was der Riese begonnen. An manchen Stellen war der Fels wie das Schild eines Sarazenen damascirt oder wie eine florentinische Vase niellirt. Man sah Felder, die korinthischer Bronze glichen und Arabesken, wie sie die Pforten der Moscheen zieren; geheimnißvolle und unleserliche Runenschrift zeigte sich an andern Steinflächen. Pflanzen mit feinem, rankigem Gezweig spannten ein Netz von Filigran über die goldschimmernden Moosflechten der Mauer. Die Grotte entfaltete die Pracht einer Alhambra. Wilde Formlosigkeit und die Kunst der Goldschmiede begegneten sich hier in der erhabenen und mißgestalteten Architektur des Zufalls.

Prächtiger Meerschimmel bekleidete die Kanten des Granits mit Sammet, und großblühende Lianen bildeten mit einem Geschick, als besäßen sie Verstand, an den steilen Felswänden Festons. Seltsam gestaltete Sträuße von Mauerglaskraut blickten hin und wieder anmuthig hervor. Die Grotte hatte alle ihr zu Gebot stehende Koketterie entfaltet. Das fremdartige paradiesische Licht, welches durch das Wasser drang und ein Gemisch aus Meeresdämmerung und Himmelsonnenglanz war, vergrößerte und erweiterte die Umrisse aller Gegenstände auf eine übernatürliche Weise. Sie erschienen unter diesem Irisschleier in dem Farbenspiel der Linsengläser, welche übermäßig rund – erhaben geschliffen sind. Im Wasser gaukelten Farbenbilder der Sonne und man glaubte in diesem durchsichtigen aurorafarbigen Element ertrunkene Regenbogenbruchstücke sich winden zu sehen. An manchen Punkten gewahrte man im Schooß des Wassers eine Art Mondschein. Alle Pracht schien sich dort verschmolzen zu haben, um ein namenloses Gemisch aus blendendem Glanz und Nachtdunkel zu erzeugen. Es gab nichts Beängstigenderes und Rätselhafteres als die Pracht dieser Grotte. Es waltete ein Alles beherrschender Zauber darin.

Die märchenhafte Pflanzenwelt und die ungeschlachte Felsbildung vereinigten sich in harmonischer Weise.

Es war ein glückliches Bündniß, das diese fremdartigen Dinge miteinander geschlossen hatten.

Die Pflanzen klammerten sich an den Fels, als wollten sie ihn ritzen.

Das wilde Gestein und die farbenlosen Blumen liebten einander mit tiefer Zärtlichkeit. Die Capitäler und Ligaturen der massiven Pfeiler bestanden aus zarten Guirlanden, die bis in die kleinsten Blätter hinein ängstlich zitterten – wie Elfenhände, welche die Füße von Ungeheuern streicheln. Der Fels stützte und hielt die Pflanze und die Pflanze umklammerte den Fels mit einer widernatürlichen Grazie.

In der Verbindung dieser geheimnißvollen Ungeheuerlichkeiten lag etwas unbeschreiblich großartig Schönes. Nicht weniger erhaben, als die Werke des Genies, sind die Werke der Natur in sich vollendet und wirken unwiderstehlich. Ihr unerwartetes Hervortreten zwingt den Geist gebieterisch zur Anerkennung; man fühlt, daß sie im Voraus berechnen, die dem Menschen gezogenen Grenzen überschreiten und sie wirken niemals ergreifender, als wenn sie plötzlich in köstlichen Gebilden aus grausigen Schlacken hervortreten.

Diese unbekannte Grotte war, wenn ein solcher Ausdruck gestattet ist, ein plötzlich auftauchendes Gestirn. Man fühlte bei ihrem Anblick ein Erstaunen, wie es nicht stärker gedacht werden kann.

Es war ein geheimnißvolles Licht, was diese Höhle erfüllte.

Man wußte nicht, welche Bewandtniß es damit hatte.

Es war eine wirkliche Erscheinung, die dennoch unmöglich Wahrheit sein konnte. Man sah die Helle, fühlte sie, war von ihr umfangen; hätte man nur an sie glauben können!

War es Tageslicht, das durch die Wasserscheibe des Meeres drang? Und die zitternde Flüssigkeit auf dem dunkeln Grund der Höhle, war sie Wasser? Diese Wölbungen, diese Brückenbogen, konnten sie nicht etwa Himmelswolken sein, welche die Gestalt einer Grotte nachahmten? Welch Gestein hatte man unter seinen Füßen? Und würden sie zusammenfallen und in Rauch aufgehen? Was war dieser Schmuck von Muschelwerk, den man undeutlich hervorschimmern sah? Wie weit entfernt lag diese Stätte von der Erde, von den Wohnungen der Sterblichen? Welches Entzücken mischte sich unter die Todesschauer, die sich an diesem Ort der Seele bemächtigten? Eine unbeschreibliche, fast heilige Erregung, dem zarten Schwanken der Pflanzen auf dem Grund des Wassers vergleichbar!

An dem einen äußersten Ende der Grotte, die eine längliche Form hatte, befand sich unter einem riesigen Schwibbogen von merkwürdig regelmäßiger Bildung eine kaum erkenntliche Wölbung – eine Art Höhle in der Höhle, ein Tabernakel im Allerheiligsten. Eine grünliche, durchsichtige Decke verhüllte sie wie der Vorhang eines Tempels und hinter demselben, oberhalb des Wasserspiegels, sah man einen viereckigen Stein, der fast die Gestalt eines Altars hatte. Die Fluth umgab ihn von allen Seiten. Es schien, als sei eben eine Göttin von ihm herabgestiegen. Man konnte sich nicht des Gedankens erwehren, daß auf dem Altar dieses Tempels eine ewig sinnende Gottheit in himmlischer Nacktheit throne, ein überirdisches Wesen, das der Eintritt eines Menschen entweichen machte. Es war schwer sich jene feierliche Grotte ohne eine Erscheinung vorzustellen. Die Phantasie erschuf sie unfreiwillig und ohne Mühe. Ein keusches Licht umzitterte die nur halb und halb erkennbaren Schultern, Morgenroth badete die Stirne, und das Oval des olympischen Antlitzes, die Wölbung des geheimnißvollen Busens, die züchtigen Arme, das entfesselte Haar und die Hüften, deren Form sich in dem heiligen Dämmerlicht mit einem unbeschreiblichen, seltsam bleichen Ton absetzte: eine Nymphe mit jungfräulichem Blick, eine dem Meer entsteigende Venus, eine Eva, die dem Chaos entschwebt – man mußte hier von ihnen träumen. Es war kaum glaublich, daß auf jenem Altar kein überirdisches Wesen throne. Man sah im Geist von der schweigenden Anbetung der Grotte umgeben, eine Amphitrite, eine Tethys, oder eine Diana, die zur Liebe erwachte, das Ideal einer Schönheit, die von der Sonne geboren, dem Schatten süße Blicke zuwarf. Sie war es, die der Grotte entflohen, diese Helle darin zurückgelassen hatte, einen duftigen Schimmer, den Athem ihres Sternenleibes. Man sah die blendende Gestalt nicht mehr; sie, die nur geschaffen war um von unsterblichen Augen geschaut zu werden, entzog sich den irdischen Blicken, doch man spürte ihre Nähe und fühlte sich von wonnevollem Schauer ergriffen.

Die Göttin zeigte sich nicht, aber ihr Wesen war zurückgeblieben.

Gilliatt, der eine Art Seher war, träumte und fühlte sich von unbestimmten Eindrücken ergriffen.

Plötzlich bemerkte er in dem durchsichtigen, köstlichen Wasser, das flüssigem Edelstein glich, einige Fuß tief unter der Oberfläche, ganz in seiner Nähe ein unbeschreibliches Etwas, einen Fetzen, der sich in den Wogen bewegte.

Er schaukelte nicht im Wasser, sondern schwamm, hatte ein Ziel und eilte schnell nach irgend einer Stelle.

Dieser Lumpen glich einer Narrenkappe mit Zipfeln, welche plätscherten und mit einem Staub bedeckt zu sein schienen, der die Nässe ausschloß.

Der Gegenstand war nicht nur garstig, sondern unfläthig.

Er hatte etwas Chimärisches, er mußte ein lebendiges Wesen, wenn nicht gar eine Erscheinung sein.

Wie es schien, steuerte er nach der düstern Seite der Grotte und verlor sich dort.

Das trübe Wasser wurde über ihm finster.

Drittes Buch. Der Kampf.


Erstes Capitel. Der Sturm.

Für den Seemann ist die Zeit der Tag- und Nachtgleiche eine höchst gefürchtete.

Es ist dies die Zeit der Ankunft der Sturmwinde; furchtbare Erscheinungen gehen diesen vorher.

In jeder Jahreszeit, namentlich zur Zeit des Neu- oder Vollmondes tritt auf dem Meer in einem Augenblicke, wo man es am wenigsten erwarten sollte, plötzlich eine unheimliche Stille ein. Seine wunderbare, unaufhörliche Bewegung schwindet; es wird matt und schläfrig und scheint sich nach Ruhe zu sehnen, so daß man es für müde halten möchte. Alle Schiffszeichen, von dem Wimpel des Fischerboots bis zur Flagge des Kriegsschiffes, die Banner der Admiräle, der Könige und Kaiser hängen schlaff am Maste herab.

Plötzlich indeß beginnen sie sich leise zu bewegen.

In diesem Augenblick stellt der Kapitän oder Führer eines Geschwaders, welcher das Glück hat, eines jener Wettergläser zu besitzen, deren Erfinder unbekannt ist, mit Hülfe eines Mikroskops an diesem Glas Beobachtungen an und ergreift Vorsichtsmaßregeln gegen den Südwind, wenn die Mischung das Aussehen geschmolzenen Zuckers hat, und gegen den Nordwind, wenn sie sich in farrnblatt- oder fichtennadelartige Krystallen auflöst. In diesem Augenblicke befragt der arme irländische oder bretagnische Fischer ein geheimnißvolles Gnomon, welches die Römer oder die Geister auf einem jener räthselhaften viereckigen Steine – in der Bretagne Menhir und in Irland Cruach genannt – eingegraben haben, und zieht seine Barke aus dem Meere zurück.

Indessen dauert die erhabene Ruhe des Himmels und des Oceans fort.

Die düstere Erscheinung des möglicherweise Verborgenen wird dem Menschen durch die verhängnißvolle Undurchdringlichkeit der Dinge verdeckt. Der fürchterlichste und trostloseste Anblick ist ein verschleierter Abgrund.

Man sagt: Da hinter steckt etwas; ja: Sturm ist hinter der Windstille verborgen.

So vergehen einige Stunden, manchmal sogar einige Tage. Die Seefahrer richten ihre Fernröhre hierhin und dorthin. Das Gesicht der alten Schiffer hat einen strengen Ausdruck, welcher dem geheimen Zorn, so lange warten zu müssen, ähnlich sieht.

Plötzlich hört man lautes, verworrenes Murmeln, als wenn in der Luft ein geheimnißvolles Zwiegespräch gehalten würde.

Man sieht nichts.

Die Meeresfläche bleibt gleichgültig.

Indessen wächst, steigt, hebt sich der Lärm und das Zwiegespräch wird lauter.

Es ist Jemand hinter dem Horizont; Jemand Schreckliches: der Wind.

Der Wind, das heißt, jenes Titanenvolk, welches wir Sturm nennen.

Die ungeheure Brut der Finsterniß.

Der Inder nannte sie Marut, der Jude Cherubin, der Grieche Aquilonen. Es sind die unsichtbaren Raubvögel der Unendlichkeit.

Diese Sturmwinde sind im Anzug.

Woher kommen sie? Aus dem Unermeßlichen. Für ihre Fittiche bedürfen sie der Unendlichkeit. Ihre ungemeinen Flügel erfordern die Unbegrenztheit der Einöden. Das atlantische, das stille Weltmeer mit ihren weiten, blauen Räumen sagen ihnen zu. Sie verfinstern das Meer und fliegen in großen Schaaren herbei. Der Commandant Page sah einmal auf hoher See sieben Windhosen zu gleicher Zeit. Plötzlich sind sie da in voller Wuth, sinnen Verwüstung und wählen als Tummelplatz das schnelle und ewige Wogen der Wellen. Was sie können, ist unbekannt, ebenso was sie wollen: Sie sind die Sphynx des Abgrundes und Gama ist ihr Oedipus. In jenem Dunkel des ewig beweglichen Meeres erscheinen sie, die Gesichter der Wolken. Wer ihre bleichen Züge zerstreut an dem Gesichtskreise des Oceans wahrnimmt, fühlt sich in Gegenwart einer unbezwingbaren Macht. Es scheint, als ob der menschliche Geist sie beunruhige und sie sich ihm widersetzten. Der Geist ist unbesiegbar, das Element aber uneinnehmbar. Was läßt sich gegen eine ungreifbare Allgegenwart thun? Der Hauch wird zum Sturme und dann wieder zum Hauche. Die Winde kämpfen mit vernichtender Gewalt und vertheidigen sich durch ihr Verschwinden. Wer ihnen begegnet, fällt ihrem Willen anheim. Ihr verschiedenartiger und stoßweiser Angriff bringt aus der Fassung. Ihre Flucht geschieht ebenso schnell, als ihr Angriff. Es sind unerschütterliche Starrköpfe. Wie kommt man damit zu Ende?

Sie haben die Dictatur über das Chaos; sie gebieten dem Chaos. Was machen sie damit? Man begreift ihre Unversöhnlichkeit nicht. Die Windesgrube ist ungeheuerlicher als die Löwengrube. Wie viele Leichname liegen unter diesem bodenlosen Leichentuche! Die Winde wühlen ohne Mitleid die große dunkle Masse auf. Man hört sie immer, sie hören nichts. Sie vollführen Dinge, welche Verbrechen gleichen. Man weiß nicht, auf wen sie die Spitzen der weißschäumenden Wellen schleudern. Welche gottlose Wildheit in einem Schiffbruch! Welcher Hohn gegen die Vorsehung! Bisweilen sehen sie aus, als wenn sie Gott begeiferten. Sie sind die Tyrannen unbekannter Welten.

Die Bäume dulden zitternd ihre willkürlichen Wege. Was in diesen großen Weiten vorgeht, ist unbeschreibbar. Etwas Ritterliches mischt sich in das Finstere. Die Luft macht einen Höllenlärm. Man sieht nichts und hört doch ganze Reiterschaaren. Obgleich Mittag, wird doch plötzlich Mitternacht: ein Tornado zieht vorüber; trotz Mitternacht, wird plötzlich Tag: das Polarlicht entzündet sich. Wirbelwinde von entgegengesetzten Seiten wechseln in scheußlichem Tanze mit einander ab: das flüssige Element scheint unter Keulenschlägen zu erzittern.

Die Winde laufen, fliegen, matten sich ab, hören auf, beginnen wieder, schweben, pfeifen, brüllen, lachen, wüthen, sind wie entzügelt, indem sie auf den zornigen Wogen nach ihrem Gefallen sich tummeln. Und doch hat das Heulen eine gewisse Harmonie. Der ganze Himmel tönt wohlklingend wieder. Sie stoßen in die Wolken, wie in ein Horn, legen den Weltenraum an ihren Mund und singen in die Unendlichkeit hinaus mit einer Art Prometheus-Fanfare, in welcher die Stimmen aller Clarinetten, Becken, Pauken, Trommeln und Trompeten in einander verschmolzen sind. Wer sie vernimmt, hört Pan. Das Furchtbare dabei ist nur ihr Spiel. Sie haben eine wahre Höllenfreude, wenn sie in jenen Einöden den Schiffen zum Sturmmarsche blasen. Ohne Ruhe, am Tage wie in der Nacht, zu jeder Jahreszeit, in den Tropen und unter den Polen führen sie, sobald sie in ihre mächtige Trompete gestoßen haben, mitten durch die Hindernisse der Wolken und Wellen, die große wilde Jagd der Schiffbrüche. Sie sind die Herren der Meute; lassen gegen die Felsen ihre Hunde, die Wogen, bellen; jagen die Wolken zusammen und treiben sie wieder auseinander. Sie kneten, wie mit tausenden von Händen, die geschmeidigen, unendlichen Gewässer durcheinander.

Das Wasser ist geschmeidig, weil es sich nicht zusammendrücken läßt. Es entschlüpft unter jeder Last. Auf der einen Seite belastet, entweicht es auf der andern. Dadurch bildet sich die Welle. Sie ist also die Befreierin des Wassers.

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Zweites Capitel. Erklärung des Lärms, welchen Gilliatt hörte.

Zur Zeit der Stürme nimmt der Himmel zuweilen eine schlimme Miene an; er wird bleich und scheint einen großen Hermelin umgethan zu haben. Die Seeleute blicken ängstlich in das zornige Antlitz der Wolken.

Aber das zufriedene Aussehen des Himmels fürchten sie noch mehr. Ein lächelnder Himmel zu dieser Zeit gleicht der Katze mit Sammtpfötchen. Bei einem solchen Himmel eilten die Frauen Amsterdam’s auf den Thränenthurm, um nach dem Horizonte auszuschauen.

Wenn der Sturm seine Annäherung verzögert, so geschieht es, um mit desto größerer Wuth losbrechen und desto größere Kräfte sammeln zu können. Mißtrauet seinem Zaudern, denn schon Argo sagt: Das Meer ist ein guter Schuldner.

Wenn es zu lange warten muß, so verräth es seine Ungeduld nur durch eine noch größere Ruhe. Die große magnetische Spannung allein offenbart sich durch das, was man die Entzündung des Wassers nennen könnte. Lichter brechen aus den Wellen hervor, die Luft ist mit Elektricität gesättigt, das Wasser phosphorescirt. Die Matrosen fühlen sich ermattet. Diese Zeit ist namentlich für die Schiffe mit Eisenpanzer gefährlich; ihr ehernes Gehäuse kann den Kompaß falsch leiten und sie selbst zu Grunde richten. Auf diese Weise ging der transatlantische Dampfer Yowa unter.

Denen, welche mit dem Meere genau bekannt sind, gewährt es in solchen Augenblicken einen fremdartigen Anblick: es scheint den Sturm herbeizusehnen und doch zu fürchten. Bei manchen von der Natur selbst angebahnten Verbindungen geschieht dasselbe; so flieht die brünstige Löwin vor dem Löwen. Das Meer ist ebenfalls erregt, daher sein Erzittern.

Die gewaltige Hochzeit will vor sich gehen.

Diese Hochzeit wird, gleich den Ehebündnissen der alten Kaiser, mit Zerstörungen gefeiert und mit Verwüstungen gewürzt.

Unterdessen rücken von unten, von allen Seiten her, aus unbekämpfbaren Breiten, aus dem bleichen Umkreise der Einöden und aus dem Grunde der unermeßlichen Freiheit die Winde heran.

Die Sonnenwende ist eingetreten.

Ein Sturm wird heraufbeschworen. Die alte Mythologie sah halb und halb in dieser großen Auflösung der Natur ein Bündniß unbestimmter Persönlichkeiten. Aeolus verabredete sich mit Boreas. Das Einverständniß des Elements mit dem Elemente ist nothwendig, da sie sich in die Aufgabe theilen. Man muß die Wogen, die Wolken, die Fluth antreiben; auch die Nacht ist Helferin, man muß sie also verwenden. Man muß Kompasse ablenken, Seefeuer auslöschen, Leuchtthürme verhüllen und Sterne verschleiern. Dabei muß das Meer helfen. Jedem Sturme geht ein Gemurmel voran, und hinter dem Gesichtskreis verkündet lautes Kichern seine Annäherung.

Dieses fürchterliche Kichern hatte Gilliatt gehört. Das Phosphoresciren war das erste Anzeichen gewesen, dieses Murmeln das zweite.

Wenn es einen bösen Vielgeist giebt, so ist es sicherlich der Wind; eine große Zahl Kräfte vereinigt sich in ihm.

Daraus folgt ganz natürlich, daß jeder Sturm ein Gemisch ist; die Einheit der Luft erfordert es so.

Die ganze Hölle ist in einen Sturm verwickelt, und ebenso der ganze Ocean. Alle seine Kräfte treten in Reihe und Glied und nehmen am Sturme Theil. Welle heißt der Schrecken in der Tiefe, Sturm der Schrecken in der Höhe. Hat man mit einem Sturme zu kämpfen, so hat man es mit dem ganzen Himmel und dem ganzen Meere zu thun.

Messia, der Seemann und gedankenreiche Astronom der Logette von Cluny, sagte: Der Wind kommt von überall und ist überall. Er glaubte nicht an eine Grenze der Winde, selbst nicht in geschlossenen Meeren. »Jeder Regen kommt von den Tropen,« drückte er sich aus, und jeder Blitz von den Polen.«.

Allgegenwart, das ist der Wind.

Freilich soll es nicht heißen, es giebt keine Windzonen. Nichts ist sicherer bewiesen, als jene Luftströmungen nach bestimmten Richtungen, deren Hauptlinien einst die Luftschifffahrt für die Luftschiffe, welche wir aus Hang zum Griechischen Aëroskaphe nennen, ausnutzen wird. Daß der Wind die Luft kanalisirt, ist unbestreitbar; es giebt in der Luft Ströme, Flüsse und Bäche, aber ihre Verzweigungen entstehen gerade umgekehrt, wie beim Wasser; die Bäche entspringen den Flüssen und diese den Strömen, anstatt sich in sie zu ergießen: daher an Stelle der Vereinigung Zerstreuung.

Diese Zerstreuung schafft das Ineinandergreifen der Winde und die Einheit der Atmosphäre. Das weichende Atom weicht einem andern. Jeder Wind bewegt das All. Zu diesen tiefen Ursachen ihrer Verschmelzung tritt noch die Gestaltung der Erdoberfläche, welche die Luft mit ihren Gebirgen durchlöchert, Knoten und Einschnürungen in den Windströmungen bildet und nach allen Richtungen hin Gegenströmungen bestimmt.

Das Erscheinen des Windes verkündet das Schwanken der beiden Oceane, des einen über dem andern; das Luftmeer, über dem Wasserocean schwebend, stützt sich auf dessen Flucht und wiegt sich auf seinem Beben.

Das Unzertrennbare zerlegt sich nicht in Theile. Es giebt keine Scheidewand zwischen zwei Wellen. Die Inseln im Canal la Manche fühlen den Stoß am Cap der guten Hoffnung. Die ganze Schifffahrt steht einem einzigen Ungeheuer gegenüber. Das ganze Meer ist eine Hydra. Die Wogen bedecken das Meer mit einer Art von Fischhaut.

Ceto heißt der Ocean.

Für den Kompaß giebt es zweiunddreißig Winde, das heißt zweiunddreißig Richtungen, die sich aber in unzählige Unterabtheilungen trennen können. Zählt man den Wind nach Richtungen, so ist er unberechenbar, nach Orten gezählt, unendlich.

So groß ist das Heer.

Die Douvreklippe hörte in dem Augenblicke, als Gilliatt seinen Wellenbrecher fertigte, den fernen Galopp dieses Heeres.

Wie wir eben gesagt haben: der Wind, das heißt: alle Winde.

Ihre ganze Schaar kam an.

Auf der einen Seite diese Legion, – auf der andern Gilliatt.

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Drittes Capitel. Gilliatt hat die Wahl.

Die geheimnißvollen Mächte hatten den Augenblick gut gewählt.

Der Zufall, wenn es einen giebt, ist geschickt.

So lange der Rumpf in dem Schlupfhafen »der Mann« untergebracht und die Maschine auf dem Strande gesichert war, war Gilliatt unbesiegbar. Der Rumpf war in Sicherheit, die Maschine unter Schutz; die Klippen, welche die Maschine hielten, verurtheilten sie zu langsamer Zerstörung, bewahrten sie aber vor einer Ueberraschung. Auf alle Fälle blieb für Gilliatt selbst Hülfe. Wenn auch die Maschine unterging, so ging er doch nicht mit unter, da er zu seiner Rettung noch die Barke besaß.

Aber sollte er abwarten, daß die Barke von dem Ankergrunde, woselbst sie unerreichbar war, zurückgezogen würde, sollte er sich in der Enge der Douvres-Felsen verstricken lassen und geduldig harren, bis auch die Barke von der Klippe ergriffen würde; war es ihm erlaubt, die Rettung, das Abgleiten und Ueberbringen der Maschine zu bewerkstelligen, sollte er jene wunderbare Arbeit, welche Alles in dem Rumpfe vereinigte, nicht unterbrechen? Würde er den glücklichsten Erfolg erringen?! Dies Alles fragte sich Gilliatt, dabei nahmen seine Gesichtszüge ein düsteres Aussehen an und ließen Hoffnungslosigkeit und Mißmuth durchblicken.

In diesem Augenblick waren die Maschine, der Rumpf und Gilliatt in der Straße zwischen dem Felsen vereint und bildeten nur ein Ganzes. – Der Rumpf auf die Klippe geschleudert, die Maschine auf den Grund versenkt und Gilliatt ertrunken, konnte das Werk eines einzigen Augenblickes sein. Alles konnte auf einmal vernichtet, Alles mit einem Schlage aus der Welt geräumt werden.

Keine Lage kann kritischer sein, als die, in welcher sich Gilliatt befand.

Die mächtige Sphynx, beargwöhnt durch die Träume in der Tiefe des Schattens, schien ihm ein Räthsel vorzulegen.

Bleib oder gehe.

Gehen war unsinnig, Bleiben furchtbar.

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Viertes Capitel. Der Kampf.

Gilliatt stieg auf die hohe Klippe, von welcher er das ganze Meer übersah.

Der Westen war überraschend. Eine Mauer erhob sich dort. Eine große Wolkenmauer, welche an einzelnen Theilen die Aussicht hemmte, stieg langsam vom Horizonte zum Zenithe auf; grade und senkrecht, ohne eine Oeffnung in ihrer ganzen Höhe, ohne einen Riß auf ihrem Grate, schien sie mit dem Senkblei erbaut und nach der Richtschnur gezogen. Die Wolke glich dem Granite. Ihre im äußersten Süden ganz senkrechte Böschung zog sich etwas gen Norden, wie ein gekrümmtes Eisen, und gewährte den Anblick einer weiten, glattgeschliffenen, geneigten Ebene. Diese Nebelmauer wuchs und vergrößerte sich, ohne daß ihr Gesims auch nur einen Augenblick der mit hereinbrechender Dunkelheit fast unkenntlich werdenden Gesichtslinie nicht gleichlaufend geblieben wäre. Diese Luftmauer baute sich schweigend aus einem Stücke auf. Nicht eine Bewegung, nicht ein Streifen, noch eine Falte mißbildete sich. Diese Unbeweglichkeit in der Bewegung erschien unheilvoll. Die Sonne erleuchtete bleich, durch irgend welche verderbliche Dünste hindurch, ihre geheimnißvollen Umrisse. Die Wolke hatte fast schon die Hälfte des Raumes verschlungen, man hätte sie die furchtbare Brüstung des Abgrundes nennen können. Es war, als erhöbe sich ein Schattenberg zwischen Himmel und Erde.

Am hellen Tage zog die Nacht herauf.

In der Luft herrschte eine Glühhitze. Ein heißer Windstrom riß sich von jener geheimnißvollen Anhäufung los. Der Himmel war zuerst blau gewesen, dann weiß geworden; jetzt war er grau. Man hätte ihn für eine große Schieferplatte halten können; darunter breitete sich das Meer, matt und bleiern, gleich einer zweiten, unendlichen Schieferplatte aus. Nicht ein Hauch, nicht eine Woge, nicht ein Laut; so weit das Auge reicht, ein verlassenes Meer; nirgend ein Segel; die Vögel hatten sich geborgen. Man witterte Verrath in der Unendlichkeit.

Unbemerkbar nahm jede Wolke an Größe und Stärke zu.

Der schwankende Dampfberg, welcher sich nach dem Douvre zu bewegte, gehörte zu jenen Wolken, die man Kampfeswolken nennen könnte. Schmale Wolken, durch deren dunkle Massen, man weiß nicht, welcher Neid blickt.

Das Nahen dieser Wolke war schrecklich.

Gilliatt beobachtete sie scharf und brummte dann zwischen den Zähnen: Ich habe Durst, Du wirst mir zu trinken geben.

Er blieb einige Augenblicke unbeweglich, das Auge fest auf die Wolke gerichtet. Er schien den Sturm ausmessen zu wollen.

Er zog seine Kappe aus der Tasche, und setzte sie auf; er verbarg in dem Loche, in welchem er so lange geschlafen hatte, seine Ruder und zog seine Beinschienen und sein Wamms an, wie ein Ritter, der im Augenblicke des Kampfes seine Rüstung anlegt. Wie man sich erinnern wird, besaß er keine Schuhe, aber seine nackten Füße waren auf dem Felsen abgehärtet.

Nachdem er seinen Kriegsanzug vollendet, betrachtete er seinen Wellenbrecher, ergriff kräftig die Knotenschnur, stieg von der Höhe der Klippen herab, faßte auf dem Felsen unten Fuß und eilte zu seinem Magazin. Einige Augenblicke später war er bei der Arbeit. Die große, stumme Wolke schien seine Hammerschläge zu vernehmen. Was that er? Mit den Nägeln, Schnüren und Balken, welche er noch besaß, baute er an der schmalen östlichen Einfahrt ein zweites Gitterwerk, zehn bis zwölf Fuß hinter dem ersten, auf.

Noch immer herrschte tiefes Schweigen. Die Grashalme auf den Abhängen der Klippe verriethen nicht die geringste Bewegung.

Plötzlich verschwand die Sonne. Gilliatt hob den Kopf in die Höhe.

Die Wolke hatte in ihrem Steigen so eben die Sonne erreicht. Der Tag schien zu verlöschen und an seine Stelle ein wirres und trübes Licht zu treten.

Die Wolkenmauer hatte ihr Aussehen verändert und zeigte keine Einheit mehr. Als sie den Zenith berührte, faltete sie sich und überzog von da aus den noch übrigen Theil des Himmels, so daß sie jetzt Stockwerke zu besitzen schien. Die Richtung des Sturmes malte sich auf ihr ab, wie die Laufgräben vor einer Festung. Man unterschied deutlich die Regenlagen von den Windschichten. Es blitzte zwar nicht, aber ein schrecklicher Lichtschein verbreitete sich, denn der Gedanke des Schreckens kann sich an die Idee des Lichtes anhaften. Man hörte das gewaltige Athmen des Orkans. Es war eine unheimliche Stille. Gilliatt, ebenso schweigsam, sah, wie sich über seinem Haupte alle jene Dunstwasser anhäuften und zu mißgestalteten Wolken zusammenballten. Ueber dem Horizont drückte und breitete sich ein aschfarbenes Nebelband und am Horizont ein bleifarbenes aus; bleiche Fetzen hingen von den Wolken oben auf die Nebel unten herab. Der ganze Grund der Wolkenmauer sah bleich, häßlich, schrecklich, finster, unbeschreiblich aus. Eine kleine weißliche Wolke, welche entstand, ohne daß man wußte, wie sie gekommen war, schnitt schräg von Nord nach Süd die hohe und dunkle Mauer. Das eine ihrer Enden streifte das Meer und an dem Punkt, wo es das Labyrinth der Wogen berührte, nahm man den Rauch rothen Dampfes wahr. Unter der langen, bleichen Wolke flogen kleine, sehr niedrig und ganz schwarz, gegen einander, als wenn sie nicht wüßten, was aus ihnen werden sollte. Das mächtige Gewölk am Horizont wuchs mit einem Male auf allen Theilen, nahm an Krümmung zu und behielt seine drohende Stellung bei. Nur im Osten noch, hinter Gilliatt, gab es eine klare Stelle am Himmel, die sich aber auch allmälig schloß. Ohne daß man irgend einen Luftzug wahrgenommen hätte, ging eine merkwürdige Zerstreuung, Zertheilung und Zerstückelung des graufarbnen Gefieders vor sich, als wenn ein Riesenvogel hinter jener Mauer der Finsterniß federte. Eine Decke von dichtem Schwarz hatte sich gebildet, sie berührte am äußersten Horizonte das Meer und mischte sich dort in das Schwarz der Nacht. Man fühlte, daß etwas heranrückte. Es lag etwas Gewichtiges, Schweres, Aufgeregtes in der Luft. Die Dunkelheit nahm zu. Plötzlich brach ein gewaltiges Donnern los.

Gilliatt selbst fühlte den Stoß. Der Donner birgt etwas Traumhaftes. Sein rohes Wesen innerhalb des Gesichtskreises besitzt etwas Erschreckendes. Man glaubte, ein Stück Hausgeräth in dem Zimmer eines Riesen fallen zu hören.

Kein elektrisches Aufleuchten folgte dem Schlage. Es war gleichsam ein schwarzer Donner. Wieder wurde es still. So verstrich eine Zeit, als wenn feste Stellung genommen würde. Dann zuckten langsam nach einander mächtige, ungestaltete Blitze auf, stumm, ohne den geringsten Laut. Bei jedem Blitze erglänzte das All. Die Wolkenmauer hatte sich wieder umgestaltet. Sie besaß jetzt Bogen und Gewölbe, und Schattenbilder schienen sich auf ihr abzuzeichnen. Köpfe von Ungeheuern traten hervor; lange Hälse schienen sich zu bilden; Elephanten mit Thürmen auf ihren Rücken zeigten sich halbdeutlich. Eine gerade, runde und schwarze Nebelsäule, gekrönt mit weißem Dampfe, erschien als Rauchfang eines mächtigen, untergegangenen Dampfers, welcher unter den Wellen geheizt wird und dampft. Wolkentücher wogten hin und her, so daß sie wehenden Bäumen glichen. In der Mitte, unter dunkelrothen Schichten, vertiefte sich unbeweglich ein Gewölbe dichten Nebels, träg, undurchdringlich für die elektrischen Funken, gleichsam eine scheußliche Frucht in dem Leibe des Sturmes.

Gilliatt fühlte plötzlich, daß ihn ein Windstoß durchschüttelte. Mehrere dicke Regentropfen zerplatzten neben ihm auf dem Felsen. Dann ein zweites Zucken des Blitzes und der Wind erhob sich.

Der erste Donnerschlag hatte das Meer erregt; der zweite zerriß die Wolkenmauer von oben bis unten. Es entstand eine Oeffnung, nach welcher sich der ganze, in der Luft schwebende Regen ergoß, so daß sie gleichsam zu einem offenen Munde für den Regen wurde, und das Losbrechen des Sturmes begann.

Dieser Augenblick war furchtbar.

Platzregen, Orkane, Donner und Blitze, Wellen bis zu den Wolken, Schaum, Lärm, zügellose Windungen, Geschrei, Krachen, Pfeifen, Alles auf ein Mal.

Der Wind blies aus vollster Kraft; der Regen fiel nicht, er strömte herab.

Für einen armen Menschen, der wie Gilliatt mit einer beladenen Barke zwischen zwei Felsenreihen auf offenem Meere eingeengt war, konnte es keine drohendere Gefahr geben. Das Drängen der Fluth, über welche er gesiegt hatte, war nichts im Vergleich zu der Gefahr des Sturmes.

Gilliatt, um den herum Alles Abgrund war, griff in der letzten Minute und in der höchsten Gefahr zu einer klugen Kriegslist. Er hatte Hülfe bei dem Feinde selbst gesucht und sich eng an ihn angeschlossen; der Douvre-Felsen, sonst sein Gegner, war jetzt in diesem furchtbaren Zweikampfe sein Sekundant. Gilliatt hatte sich unter ihm geborgen, aus diesem Grabe seine Festung gemacht und sich in diese furchtbare Ruine des Meeres fest eingeengt, so daß er dort zwar belagert wurde, aber geschützt war. Er hatte sich, so zu sagen, an die Klippe im Angesichte des Sturmes festgeschmiedet und die Meerenge, jene Straße für die Wellen, verbarrikadirt. Es war übrigens das Einzige, was er thun konnte. Auch der Ocean scheint, gleich andern Despoten, durch Barrikaden zur Vernunft gebracht werden zu können. Die Barke war auf drei Seiten gesichert. Dicht zwischen die beiden innern Seiten der Klippe eingekeilt, wurde sie gabelförmig, wie von einem Storchschnabel, im Norden durch die kleine und im Süden durch die große Klippe geschützt, durch jene wilden Zacken, welche mehr daran gewöhnt waren, Schiffbrüche hervorzurufen, als zu verhindern. Im Westen wurde sie durch die flachen Klippen gedeckt, welche an die Felsen angeschlossen und angekettet waren, als erprobte Barre, welche die rauhe Fluth der hohen See schon oft besiegt hatte, als wahres Festungsthor, dessen Stützpunkt die Klippensäulen selbst, die beiden Douvres, bildeten. Auf diesen Seiten war also nichts zu fürchten, sondern nur von Osten her.

Im Osten befand sich nur der Wogenbrecher. Der Wogenbrecher ist ein Pulverisations-Apparat, der aus wenigstens zwei Gitterstützen bestehen muß. Gilliatt hatte nur eine errichten können und baute die zweite während des Sturmes selbst.

Zum Glück kam der Wind von Nordwest. Das Meer begeht auch Ungeschicklichkeiten. Dieser Wind konnte wenig bei den beiden Klippen ausrichten. Er griff sie verkehrt an und traf die Wogen auf keiner der beiden Seiten der Enge, so daß er, anstatt in die Straßen einzutreten, sich an einem Walle brach. Der Orkan hatte schlecht angegriffen.

Aber die Angriffe des Windes geschehen von verschiedenen Seiten und man muß auf ein plötzliches Drehen vorbereitet sein. Wenn er nach Ost umsprang, bevor die zweite Stütze für den Wogenbrecher fertig war, so würde die Gefahr sehr groß geworden sein; der Sturm hätte sich gewaltsam der Felsenstraße bemächtigt und Alles wäre verloren gewesen.

Die Wuth des Orkans wuchs immer mehr. Der ganze Sturm folgte Schlag auf Schlag.

Die ganze tobende Unermeßlichkeit fiel über die Douvres-Klippen her. Man hörte zahllose Stimmen. Wer schreit denn so? Es entstand der panische Schrecken des Alterthums. Augenblicke hindurch glaubte man so sprechen zu hören, als ob Jemand Befehle austheile; dann Rufen, Schreien, sonderbares Erzittern und jenes großartige und majestätische Heulen, welches die Seeleute den » Ruf des Weltmeeres« nennen. In unendlichen Kreislinien pfiff der flüchtige Wind über die kreisenden Fluthen; die Wogen, unter seinem Drucke zu Wurfscheiben geformt, wurden gegen die verborgenen Klippen geschleudert, wie riesige Geschosse von unsichtbaren Athleten. Unendlicher Schaum bespritzte alle Felsen. Ströme in der Höhe, Fluthen in der Tiefe. Dann verdoppelte sich das Brüllen. Der Ton keines Menschen und keines Thieres kann eine Vorstellung von dem Lärmen geben, welches sich in diese Aufregung des Meeres mischte. Die Wolken donnerten, die Winde knatterten, die hohle See zischte. Einzelne Punkte schienen unbeweglich, an andern legte der Wind hundert Fuß in der Sekunde zurück. Das Meer war bis über den Gesichtskreis hinaus weiß; zehn Meilen Schaumwassers füllten den Horizont. Feuerthore öffneten sich. Die einen Wolken schienen von den andern verbrannt zu werden und auf den Massen rother Wolken, welche Kohlen glichen, sahen sie wie Rauch aus. Wogende Gebilde stießen aneinander und verschmolzen sich, indem sie dabei gegenseitig ihre Gestaltungen vernichteten. Unermeßliches Wasser strömte herab. Man hörte Gewehrfeuer am ganzen Himmel. Gerade in der Mitte befand sich eine Art großer, umgestülpter Bütte, aus welcher in buntem Gemisch Wasser- und Lufthosen, Winde und Wolken, Farben und Phosphor, Finsterniß und Licht, Donner und Blitze herausfielen. So furchtbar ist dieser Schlund mit seinen Abstürzen!

Gilliatt schien darauf nicht zu achten, sondern hatte den Kopf auf seine Arbeit gesenkt. Schon begann das zweite Gitter in die Luft zu steigen. Auf jeden Donnerschlag antwortete er mit einem Hammerschlage. Man hörte die Schläge abwechselnd in dem furchtbaren Gewirr. Er war ohne Kopfbedeckung, da ihm ein Windstoß seine Kappe entführt hatte.

Sein Durst war brennend, da er wahrscheinlich das Fieber hatte. In den Felslöchern um ihn hatten sich Regenpfützen gebildet. Von Zeit zu Zeit schöpfte er mit der flachen Hand Wasser, trank es und begab sich dann sofort wieder an die Arbeit, ohne sich um den Sturm weiter zu kümmern.

Alles konnte von einem Augenblicke abhängen. Er wußte, was ihn erwartete, wenn er nicht zur rechten Zeit mit seinem Gitterwerke fertig wurde. Wozu also einen Augenblick mit Ausschauen verlieren, um dadurch vielleicht den Tod zu beschleunigen.

Das Toben um ihn glich dem siedenden Wasser in einem Kessel. Es war Lärm und Getöse zu gleicher Zeit. Auf Augenblicke schien der Blitz eine Treppe hinabzusteigen. Die elektrischen Funken schlugen unaufhörlich auf dieselben Spitzen der wahrscheinlich mit Dioritadern durchsetzten Felsen ein. Hagelkörner fielen, wie eine Faust groß. Gilliatt mußte die Falten seiner Theerjacke ausklopfen. Bis in seine Taschen war der Hagel gedrungen.

Der Sturm kam jetzt von West und schlug die Barre der beiden Klippen; Gilliatt aber vertraute ihr, und das mit Recht, denn aus einem großen Stücke des Vordertheils der Durande gebildet, hielt sie ohne Schaden den Stoß der Fluthen aus; die Elasticität nämlich leistet einen Widerstand, und nach Stevenson’s Berechnungen bietet gegen die selbst elastische Welle ein hölzernes Bollwerk von vorgeschriebener Größe und nach einer bestimmten Form zusammengefügt und verbunden, bessern Schutz, als ein gemauerter Wasserbrecher. Die Barre erfüllte diese Bedingungen; sie war außerdem so glücklich festgelegt, daß die Welle, welche auf sie traf, wie der Hammer, welcher auf den Nagel schlägt, wirkte, denn sie trieb sie immer fester gegen den Felsen und machte sie immer dichter; um sie zu zerstören, hätte die ganze Klippe umgeschleudert werden müssen. In der That gelang es dem Sturm nur, einige Wellen der Brandung über jenes Hinderniß auf das Wrack zu werfen. Dank der Barre, konnte der Orkan auf dieser Seite nur geifern, daher kümmerten Gilliatt die Anstrengungen des Orkans auch weniger; hinter der Barre wartete er ruhig die unnütze Wuth des Orkans ab.

Die Schaumflocken, welche auf allen Seiten umherflogen, glichen zerzauster Wolle. Die weite und aufgeregte See badete die Felsen, stieß auf sie, trat in sie ein, drang in ihre inneren Spalten und dann aus den Granitmassen durch die engen Risse wieder heraus, welche in dieser Sündfluth die unerschöpflichen Mündungen kleiner ruhiger Springquellen bildeten. Hier und da fielen Silberstrahlen anmuthig aus diesen Oeffnungen in das Meer.

Die Stütze zur Verstärkung der östlichen Barre näherte sich ihrer Vollendung. Noch einige Knoten in den Seilen und Ketten und der Augenblick war da, wo auch diese Seite den Kampf aufnehmen konnte.

Plötzlich wurde es außerordentlich hell, der Regen hörte auf, die Wolken zertheilten sich, der Wind begann umzuspringen, im Zenithe öffnete sich gleichsam ein hohes Dämmerungsfenster und die Blitze erloschen; man hätte glauben können, es sei das Ende. Es war aber erst der Anfang.

Der Wind war von Südwest nach Nordost umgesprungen.

Der Nord sollte jetzt seinen heftigen Angriff aufgeben. Die Seeleute nennen dies gefürchtete Wiederbeginnen die Drehung um sich selbst. Der Südwind hat mehr Wasser, der Nordwind mehr Blitze.

Der Angriff, jetzt von Osten kommend, wandte sich dem schwachen Punkte zu.

Diesmal unterbrach sich Gilliatt in der Arbeit und blickte auf.

Er stellte sich auf einen Felsenvorsprung, welcher hinter dem zweiten, fast vollendeten Gitter emporragte. Wäre die erste Gitterstütze des Wogenbrechers losgerissen, so wäre auch die zweite, welche noch nicht fest genug war, gewichen und hätte in ihrem Sturze Gilliatt begraben. An dem Platze, welchen er sich gewählt hatte, wäre er untergegangen, bevor er das Wrack, die Maschine und sein ganzes Werk hätte in jenem Abgrunde versinken sehen. Nur diese beiden Fälle waren möglich. Gilliatt nahm diese Möglichkeit an und, fürchterlich, er wollte sie.

Bei einem solchen Scheitern aller seiner Hoffnungen wollte er nur sterben, und zwar zuerst sterben, denn die Maschine machte auf ihn den Eindruck einer Person. Er strich mit der linken Hand seine Haare, welche über den Augen von dem Regen festgeklebt waren, zurück, umfaßte mit der vollen Faust seinen guten Hammer, beugte sich drohend nach hinten und wartete.

Er brauchte nicht lange zu warten.

Ein Blitzstrahl gab das Zeichen, die bleiche Oeffnung im Zenithe schloß sich, ein heftiger Windstoß brach los, Alles wurde finster; kein Licht erschien, als der Blitz. Der finstre Angriff begann.

Die See, sichtbar während der Blitzesfunken, hob sich hohl im Osten, jenseits des »Mann« genannten Felsens. Sie glich einer großen Glaswalze. Blau und schaumlos durchzog sie das ganze Meer und näherte sich dem Wogenbrecher. Beim Herankommen schwoll sie immer höher, als wenn eine mächtige Walze der Finsterniß über den Ocean rollte. Dumpf grollte der Donner.

Diese hohle Welle erreichte jenen Felsen, brach sich an ihm entzwei und rollte über ihn fort. Die beiden wieder vereinten Theile bildeten nur einen Wasserberg, und während sie erst mit dem Wellenbrecher in gleicher Richtung liefen, standen sie jetzt senkrecht auf ihm. Die Woge hatte die Form eines Balkens angenommen.

Dieser Widder warf sich aus den Wellenbrecher. Der Zusammenstoß ging unter fürchterlichem Brüllen vor sich. Alles verschwand im Schaum.

Wenn man sie nicht gesehen hat, so kann man sich diese Schneelawinen nicht vorstellen, welche sich das Meer selbst bildet und unter denen es Felsen von mehr als hundert Fuß Höhe, wie den Großen Anderlo zu Guernesey und die Zinne zu Jersey, verschlingt. Zu Santa Maria auf Madagascar überspringt es sogar die Tintingaspitze.

Auf einige Augenblicke blendete die Wassermasse Alles. Nichts war mehr sichtbar, als ein wüthendes Durcheinander, unermeßlicher Schaum, das weiße, vom Grabeshauche bewegte Linnen, unendlicher Lärm und Toben, worunter die Vernichtung arbeitet.

Der Schaum verschwand. Gilliatt stand aufrecht.

Die Barre hatte gut Stand gehalten. Nicht eine Kette war zerrissen, nicht ein Nagel gelöst. Sie hatte die Probe der beiden, einem Wellenbrecher nothwendigen Eigenschaften gut bestanden. Sie war geschmeidig, wie eine Flechte, und fest, wie eine Mauer gewesen. Die hohle See hatte sich darin in Regen gebrochen.

Ein Schaumplatzregen glitt an den gebogenen Ufern der Wasserstraße entlang und erstarb dann unter dem Wracke.

Der »Mann«, welcher dem Ocean diesen Maulkorb angelegt hatte, setzte seine Arbeit fort.

Zum Glücke nahm der Sturm für einige Zeit eine andere Richtung an. Die Wuth der Wellen kehrte sich wieder gegen die festen Theile der Klippe. Es war vergebens. Gilliatt benutzte diese Zeit, um die Stütze von hinten völlig zu befestigen.

Der Tag näherte sich bei dieser Arbeit seinem Ende. Der Sturm setzte seine wüthenden Angriffe auf die Seite der Klippe mit unheilschwangerer Feierlichkeit fort. Die Wasser- und Feuer-Urnen in den Wolken schütteten ihren Inhalt aus, ohne sich zu leeren. Die bald hohen, bald niedrigen Wogen des Sturmes glichen den Bewegungen eines Drachens.

Als die Dämmerung eintreten sollte, war die Nacht schon da; man bemerkte ihr Hereinbrechen nicht.

Uebrigens war die Dunkelheit nicht vollständig. Die Stürme, erleuchtet und geblendet durch die Blitze, haben sichtbare und unsichtbare Pausen. Bald ist Alles weiß, bald schwarz. Man nimmt das Verschwinden des Lichtes und die Rückkehr der Finsterniß wahr.

Eine Phosphorschicht, roth wie ein Nordlicht, wogte, gleich einem Streifen der Spektralflamme, hinter den dicken Wolken und verbreitete weithin einen fahlen Schein; selbst die großen Regentropfen leuchteten.

Dieses Licht unterstützte und leitete Gilliatt. Einmal drehte er sich um und rief dem Blitze zu: Halte mir die Leuchte.

Bei diesem Lichte konnte er das hintere Gitterwerk noch höher als das vordere machen. Der Wogenbrecher war fast vollendet. Als Gilliatt an den Vordersteven ein Hülfstau befestigen wollte, blies ihm der Wind voll in das Gesicht, so daß er den Kopf umdrehen mußte. Der Wind hatte sich plötzlich wieder nach Nordost gewandt, und der Angriff begann von Neuem aus Osten. Gilliatt ließ seine Blicke in die Ferne schweifen: der Wellenbrecher sollt wiederum angegriffen werden, denn eine neue Welle rollte heran.

Sie prallte heftig an; eine zweite folgte ihr, dann noch eine und wieder eine, fünf oder sechs tobten fast gleich stark; endlich kam noch eine furchtbare.

Sie näherte sich mit großem Ungestüm und hatte das Aussehen eines unbekannten, lebenden Wesens. Es wäre nicht schwer gewesen, sich unter diesen hochangeschwollenen und durchsichtigen Massen Floßfedern und Kiemen vorzustellen. Sie flachte sich ab und zerstieb über dem Wellenbrecher und ihre fast thierischen Formen zerrissen springend an ihm. Auf diesem Gezimmer von Felsen und Balken nahm sie sich wie die Krümmungen einer Hydra aus. Die hohle See kämpfte mit ihr, die Welle schien sich zu krümmen. Ein heftiges Zittern durchbebte die Klippen. Thierisches Gebrüll schien man zu vernehmen. Der Schaum glich dem Speichel eines Leviathans.

Bei dem Zurückfallen des Schaums bemerkte Gilliatt eine schadhafte Stelle. Die letzte Woge hatte das ihrige gethan und diesmal den Wellenbrecher verletzt. Ein langer und schwerer Balken war von der vordern Stütze losgerissen und auf die Barre hinten geschleudert worden, auf den senkrechten Fels, welchen Gilliatt einen Augenblick zum Kampfplatze gewählt hatte. Zum Glück war er nicht dorthin zurückgekehrt, ein jäher Tod hätte ihn sonst ereilt.

Eigenthümlich war es bei dem Sturze dieses Balkens, daß er am Wiederabprallen verhindert und Gilliatt vor seinen Schwingungen und Gegenschlägen gesichert war; ja noch mehr, er wurde sogar, wie man gleich hören wird, in anderer Weise noch nützlich.

Zwischen dem vorspringenden Felsen und der innern Abdachung des Engpasses war ein Zwischenraum, eine große Einbiegung, ähnlich dem Loche an einer Axt oder dem Einsprunge einer Ecke. Das eine Ende des von der Fluth in die Luft geschleuderten Balkens war beim Herabstürzen in diese Höhlung gefallen und hatte sie dadurch erweitert.

Ein Gedanke fuhr Gilliatt durch den Kopf: sich auf das andere Ende stürzen.

Der Balken, durch ein Loch in der Höhlung des Felsens, welche er noch vergrößert hatte, festgehalten, ragte aus ihm grade, wie ein ausgestreckter Arm, hervor. Dieser Arm verlängerte sich parallel mit der innern Façade des Engpasses und das freie Ende des Balkens entfernte sich von diesem Stützpunkte ungefähr achtzehn bis zwanzig Zoll; eine gute Entfernung für das, was geschehen sollte.

Gilliatt stützte sich mit den Füßen, Knieen und Händen gegen die Böschung und lehnte sich mit beiden Schultern gegen den mächtigen Hebel. Der Balken war lang und vermehrte dadurch die Gewalt seiner Schwere. Obgleich der Felsen schon erschüttert war, so mußte Gilliatt doch viermal ansetzen. Von seinen Haaren tropfte eben so viel Schweiß als Regen. Beim vierten Male strengte er sich wie ein Wahnsinniger an; aber der Fels krachte; die zu einer Spalte verlängerte Einbiegung öffnete sich gleich einem Munde und die schwere Masse stürzte unter fürchterlichem Lärmen als Antwort auf die Donnerschläge, in den engen Schlund zwischen den beiden Seiten der Wasserstraße hinab.

Sie fiel gerade und, wenn der Ausdruck anwendbar ist, ohne zu zerbrechen hinab.

Man denke sich einen Felsblock, der als ein Stück in die Tiefe versinkt.

Der Hebelbalken folgte ihm, und Gilliatt, zugleich unter ihm weichend, wäre beinahe auch nachgestürzt.

Der Boden war an dieser Stelle ganz mit Strandsteinen, aber nur mit wenigem Wasser bedeckt. Der Monolith verbarg sich zwischen hoch aufzischenden Schäumen, Gilliatt völlig bespritzend, zwischen zwei großen, der Straße gleichlaufenden Felsen, so daß er eine Quermauer, eine Art Verbindung zwischen den beiden Abhängen, bildete. Seine beiden Enden berührten sie, da er aber etwas zu lang war, so brach seine Spitze, welche aus weichem Gesteine bestand, bei seinem Hinabfallen ab. Durch diesen Sturz bildete sich eine eigenthümliche Sackgasse, welche man noch heute sehen kann. Das Wasser hinter dieser Steinbarre ist fast immer ruhig.

So war ein noch unbesiegbarerer Schutzwall entstanden, als der, welcher von der Durande den Raum zwischen den beiden Klippen ausfüllte.

Diese Barre entstand gerade zur rechten Zeit.

Die Schläge der See hatten immer noch nicht aufgehört und die Wellen streiften sich fortwährend gegen jenes Hinderniß. Die erste Stütze begann sich in Folge der beständig wiederholten Angriffe loszulösen. Eine aufgegangene Masche ist an einem Wellenbrecher ein großer Nachtheil. Die Vergrößerung des Loches war nicht zu verhindern und es gab kein Hülfsmittel, um seine Ausbesserung an Ort und Stelle vornehmen zu können, da die hohlgehende See den Arbeiter mit fortgerissen hätte.

Eine elektrische Entladung erleuchtete die Klippe und enthüllte vor Gilliatt die Verwüstung, welche mit dem Wogenbrecher vorging, die niedergeworfenen Balken, die Enden der Seile und Ketten, welche in dem Winde zu spielen begannen, und den Riß in der Mitte des Apparats. Die zweite Stütze war unversehrt.

Der Steinblock, welchen Gilliatt mit so großer Anstrengung in den Zwischenraum hinter dem Wogenbrecher geworfen hatte, war zwar die solideste Barre, besaß aber einen Fehler: er war zu niedrig. Das Meer konnte ihn mit seinen Wellenschlägen nicht zerbrechen, wohl aber überspülen.

Es war keine Möglichkeit vorhanden, ihn zu erhöhen. Nur wenn man auf diese Steinbarre noch große Felsmassen hätte werfen können, würde man einen Vortheil erzielt haben; wie sollte man die aber ablösen, herbeischleppen, aufheben, übereinanderlegen und befestigen? Man kann wohl Balken, aber nicht Felsen übereinanderthürmen.

Die geringe Höhe dieses kleinen Granitisthmus beschäftigte Gilliatt vollkommen, zumal da sich jener Mangel bald fühlbar machte. Die Windstöße verließen nicht mehr den Wogenbrecher: sie thaten mehr, als ihn blos heftig angreifen, sie schmiegten sich ihm völlig an. Man hörte auf dem erschütterten Gebälk eine Art Stampfen.

Plötzlich flog ein Strebebalken, durch diese beständige Bewegung losgerissen, über das zweite Gitterwerk und über den Querfelsen fort und schoß in die Wasserstraße hinab, wo ihn die See ergriff, ihn in ihren Biegungen mit sich nahm und so den Blicken Gilliatt’s entführte. Wahrscheinlich schien es, daß dieser Balken gegen die Barke schlagen würde. Zum Glück empfand im Innern der Klippe das von allen Seiten eingeschlossene Wasser kaum etwas von dem Toben draußen, und da die Fluth nicht groß war, so konnte der Stoß nicht bedeutend sein. Uebrigens hatte Gilliatt auch keine Zeit, sich um den Schaden zu bekümmern, selbst wenn einer entstehen sollte; denn alle Schrecken erhoben sich von Neuem, der Sturm zog sich völlig an der verwundbaren Stelle zusammen und die drohendste Gefahr starrte ihm entgegen.

Tiefstes Dunkel herrschte einen Augenblick; das Blitzen hatte eine Pause gemacht; finstre Nachsicht. Wolke und Welle waren Eins: es gab einen dumpfen Schlag.

Diesem Schlage folgte ein Prasseln.

Gilliatt steckte den Kopf vor. Die Stütze, welche die Vorderseite der Barke bildete, war entwurzelt. Man sah die Enden der Balken in den Wellen schwimmen. Das Meer bediente sich des ersten Wellenbrechers, um auch den zweiten zu zerstören.

Gilliatt hatte dasselbe Gefühl, wie ein General, welcher seinen Vortrab niedergeworfen findet.

Die zweite Balkenreihe widerstand dem Stoße. Die hintere Armatur war fest ineinandergefügt und verbunden. Die zerbrochne Gitterstütze war aber schwer und befand sich in der Gewalt der Fluthen, welche sie vor- und zurückschleuderten, die Bänder, welche ihr geblieben waren, verhinderten sie daran, sich aufzulösen, und bewahrten ihr das ganze Gewicht, so daß die Eigenschaften, welche ihr Gilliatt zur Vertheidigung verliehen hatte, schließlich vorzüglich zum Zerstören wurden. Der Schild war zur Keule geworden. Außerdem ragten die abgebrochenen Enden und Spitzen auf allen Seiten hervor, so daß sie wie mit Zähnen und Sporen übersäet war. Keine Zerstörungswaffe konnte furchtbarer und dem Sturme handgerechter sein. Sie war das Wurfgeschoß und das Meer das Geschütz. Die Schläge folgten mit einer Art trauriger Regelmäßigkeit auf einander. Gilliatt, nachdenkend hinter der von ihm verbarrikadirten Pforte stehend, hörte dieses Klopfen des Todes, welcher Einlaß begehrte.

Bitter dachte er daran, daß, wenn der Schlot von der Durande nicht so verhängnißvoll durch den Strand zurückgehalten worden wäre, er selbst in diesem Augenblicke und zwar schon seit dem Morgen in Guernesey angelangt und im Hafen mit der Barke in Sicherheit und der geretteten Maschine geborgen sein würde.

Das Fürchterliche trat ein. Der Bruch fand statt. Es war wie ein Röcheln. Das ganze Zimmerwerk des Wogenbrechers mit den beiden durcheinandergewirbelten und zerbrochenen Armaturen wurde auf ein Mal von einer Wasserhose auf die Steinbarre, wie ein Chaos auf einen Berg geschleudert und blieb dort liegen.

Es war nur noch ein buntes Durcheinander, eine unförmliche Balkenmasse, gangbar für die Wellen, die immer noch in der Zertrümmerung fortfuhren. Dieser besiegte Wall wehrte sich auch noch in seinen letzten Zügen heldenmüthig. Das Meer hatte ihn zertrümmert; er brach das Meer. Gebrochen zwar, blieb er doch noch in gewisser Beziehung wirksam. Die Felsenbarre, ein Hinderniß, für welches jedes Weichen unmöglich war, hielt ihn am Fuße fest. Die Durchfahrt war, wie wir schon angeführt haben, an dieser Stelle sehr eng; die siegreichen Windstöße hatten den ganzen Wogenbrecher im bunten Durcheinander in dieser Enge aufgehäuft und die Heftigkeit des Stoßes selbst, als er die Masse losriß und die Bruchstücke in einander keilte, hatte aus diesen Trümmern ein festes Bollwerk gemacht. Er war zerstört und doch unerschütterlich. Nur einige Holzstücke trennten sich los. Die Fluth schleuderte sie umher. Eines flog durch die Luft und so dicht an Gilliatt vorüber, daß er es an seiner Stirne vorbeifliegen fühlte.

Einige Wellen jedoch, jene großen Wellen, welche während der Stürme mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit wiederkehren, sprangen über den zerstörten Wogenbrecher fort, fielen in die Enge zurück und versetzten trotz der Krümmungen, welche die Straße machte, das Wasser in Bewegung, so daß die Fluthen in der Durchfahrt sich ärgerlich zu regen begannen und ihre dunkeln Küsse dem Felsen mit immer größerer Gewalt aufdrückten.

Wie konnte man jetzt diese Bewegung, welche sich dem Rumpfe mittheilen mußte, hemmen?

Gilliatt dachte mit Zittern, daß die Windstöße keiner langen Zeit bedürften, um das ganze innere Wasser in vollste Aufregung zu versetzen, daß nach einigen Schlägen der Rumpf zerstört und die Maschine versunken sein würde.

Trotzdem gerieth er nicht außer Fassung; sein Geist kannte keine Verwirrung.

Jetzt hatte der Orkan den Einschnitt gefunden und stürzte sich wahnsinnig zwischen die beiden Ufer der Meerenge, in welcher – in geringer Entfernung hinter Gilliatt – plötzlich ein Krachen ertönte und sich dem ganzen Engpaß mittheilte: es war noch schrecklicher, als Alles, was Gilliatt bis dahingehört hatte.

Es kam von dem Wracke her.

Etwas Schreckliches mußte sich dort zugetragen haben.

Gilliatt eilte hin, denn von der Ostseite aus, wo er sich befand, konnte er wegen der Krümmungen der Straße nach jener Richtung nicht sehen. Bei der letzten Wendung blieb er stehen und erwartete einen Blitzstrahl.

Der Blitz zuckte nieder und klärte ihm die Sachlage auf.

Dem Wellenschlage der See auf der Ostseite hatte einer auf der Westseite geantwortet: ein gegenseitiges Zerschellen war die Folge davon.

Die Barke hatte keinen sichtlichen Schaden gelitten, da sie bei ihrer gabelförmig ausgekehlten Gestalt nur schwer zu fassen war; aber der Rumpf der Durande befand sich in der Auflösung.

Dieses Wrack bot nämlich dem Sturm eine große Oberfläche dar, da es ganz außer dem Wasser, offen und frei dalag. Die Oeffnung, welche Gilliatt angebracht hatte, um die Maschine dadurch herauszuschaffen, hatte den Rumpf des Schiffes vollends geschwächt. Der Kielbalken war zerschnitten und dem Skelette das Rückgrat gebrochen.

Der Sturm hatte darüber fortgesaust.

Nichts weiter brauchte zu geschehen, denn die Brückenplatte hatte sich gefaltet, wie ein geöffnetes Buch und die Zerstückelung ihr Ende erreicht. Das Krachen war durch den Sturm hindurch zu Gilliatt’s Ohren gedrungen.

Was er befürchten mußte, schien fast unheilbar.

Der viereckige Einschnitt, welchen er gemacht, war zu einer Wunde und durch den Sturm zu einem Bruche geworden, welcher den Kiel querdurch in zwei Theile spaltete. Der Hintertheil, dem Gehäuse am nächsten, war fest in seinem steinernen Schraubstocke geblieben, der vordere hingegen, welcher sich Gilliatt gerade gegenüber befand, hing herab. Ein Bruch gleicht, so lange wie er noch etwas zusammenhält, einer Thürangel. Die Masse drehte sich wie auf Gelenken auf den Rissen hin und her und der Sturm schleuderte sie mit furchtbarem Lärmen von der einen Seite auf die andere.

Zum Glücke befand sich das Gehäuse nicht mehr unten; aber das Schaukeln erschütterte auch die andere, zwischen den Klippen noch eingeklemmte und unbewegliche Hälfte des Kieles. Von der Erschütterung bis zum Zerbrechen ist es nicht weit und der Sturm hielt mit solcher Halsstarrigkeit an, daß der schon von seinem Platze verdrängte Theil den andern, welcher das Gehäuse beinahe berührte, plötzlich mit fortreißen konnte, und dann mußte Alles, Gehäuse und Maschine, mit in den Abgrund versinken.

Gilliatt schwebte dieses Unglück vor Augen, wie aber konnte er es abwenden?

Da er jedoch zu den Menschen gehörte, welche die Gefahr selbst immer neue Hilfsmittel aussinnen läßt, so brauchte er sich jetzt auch nur einen Augenblick zu sammeln; dann ging er nach seiner Werkstatt, um seine Axt zu holen.

Der Hammer hatte bereits seine Dienste geleistet und deshalb kam jetzt die Reihe an das Beil.

Hierauf stieg Gilliatt auf das Wrack, stellte sich auf den Theil der Brücke, welcher sich noch nicht gebogen hatte und begann, über den Abhang zwischen den beiden Klippen gebeugt, die Balken völlig zu zerbrechen und den Rest, welcher noch an dem schwebenden Kiele hing, loszuschlagen.

Die Trennung der beiden Kielhälften vollenden, den festgebliebenen Theil befreien, das in die Fluthen werfen, was der Sturm bereits ergriffen hatte und diesem einen Strich durch die Rechnung machen, das war jetzt seine Aufgabe. Sie war mehr gefährlich, als schwierig. Die schwankende Hälfte des Kiels, durch den Sturm und ihr eignes Gewicht niedergezogen, hing nur noch an einigen Stellen fest. Das ganze Wrack glich einer Schreibtafel, deren einer zur Hälfte losgelöster Theil gegen den andern schlägt. Nur fünf bis sechs Stücke des Gerüstes, gebogen und gespalten, aber nicht zerbrochen, hielten noch. Ihre Risse erweiterten sich bei jedem Hin- und Herwehen des Sturmes, so daß die Axt eigentlich nur dem Winde zu helfen brauchte. Dieses geringe Zusammenhalten, wodurch die Arbeit einerseits leicht wurde, machte sie gleichzeitig gefährlich. Alles konnte mit einem Male unter Gilliatt zusammenbrechen.

Der Orkan hatte seinen Höhepunkt erreicht. Der Sturm war bis dahin nur fürchterlich gewesen, jetzt wurde er entsetzlich. Die Aufregung des Meeres siegte über den Himmel. Die Wolke war bis dahin allmächtig gewesen und schien zu thun, was sie für gut hielt, sie gab den Antrieb, reizte die Wogen zur Raserei und bewahrte dabei eine unbeschreiblich düstere Heiterkeit. Unten herrschte Wahnsinn, oben Zorn. Der Himmel war nur Sturm, der Ocean nur Schaum. Das Zittern der Klippe konnte nicht heftiger werden.

Gilliatt seinerseits betrachtete jetzt die Wolke, indem er den Kopf hochhob und sich nach jedem Schlage mit dem Beile hochmüthig umdrehte. Er war oder schien zu zerfahren zu sein, als daß ihm nicht der Hochmuth gekommen wäre. Verzweifelte er? Nein. Dem höchsten Ausbruche der Wuth des Oceans gegenüber bewahrte er ebenso seine Klugheit, wie seine Wuth. Er trat nur auf die festesten Punkte der Klippe; setzte sein Leben auf das Spiel, deckte es aber zu gleicher Zeit. Auch ihn hatte die höchste Aufregung ergriffen. Seine Kraft war verzehnfacht. Seine Kühnheit überstieg alle Grenzen. Die Schläge seines Beils klangen wie Herausforderungen. Er schien ebensoviel an Heiterkeit gewonnen, als der Sturm davon verloren zu haben. Es war ein großartiger und erhabener Kampf. Auf der einen Seite Unerschöpflichkeit, auf der andern Unermüdlichkeit. Die Frage war, wer den andern zuerst loslassen würde. Die schrecklichen Wolken bildeten unzählige Gorgonengesichter, alles nur Mögliche war entfesselt, um Einschüchterung hervorzurufen. Der Regen kam aus den Wolken, der Schaum aus den Wellen, die Gespenster des Windes krümmten sich, das Antlitz des Gewitters röthete sich und verschwand: das Dunkel nach diesem Verschwinden war entsetzlich; es gab nur noch ein Toben, welches von allen Seiten zu gleicher Zeit kam. Alles war Aufregung; die zerrissenen, aschfarbenen Hagelwolken schienen von einer Art Tanzwuth befallen; in der Luft ging ein Lärm vor sich, als wenn trockene Erbsen in einer Schale geschüttelt werden, die von Volta beobachteten entgegengesetzten Elektricitäten trieben von Wolke zu Wolke ihr donnerndes Spiel und die Blitze näherten sich Gilliatt auf das Aeußerste. Er schien den Abgrund in Staunen zu versetzen. Er ging hin und her auf der schwankenden Durande, so daß die Brücke unter seinen Füßen erzitterte, klopfend, schneidend, schlagend, sägend, mit der Axt in der Faust, bleich unter den Blitzen, mit zerzaus’ten Haaren, nackten Füßen, zerfetzten Kleidern, das Gesicht mit dem Geifer des Meeres bedeckt, groß in diesem Gewittertoben.

Gegen den Wahnsinn roher Kräfte kann Geschicklichkeit nur allein ankämpfen; und Geschicklichkeit war Gilliatt’s Siegeswaffe. Er wollte einen einzigen, gemeinsamen Zusammensturz der ganzen, aus ihrer Lage gebrachten Hälfte. Deshalb machte er die Gelenke, durch welche die Bruchtheile noch zusammenhingen, nur so dünn, als möglich, ohne sie ganz durchzuschlagen, so daß nur noch einige Fasern unversehrt blieben und den Rest zusammenhielten. Plötzlich unterbrach er sich und hielt die Axt hoch. Das Werk war vollendet, das ganze Stück riß sich los.

Diese Hälfte des Schiffrumpfes rollte zwischen die beiden Klippen, gerade unter Gilliatt’s Füßen, welcher auf der andern Hälfte stand, und ihr mit vorgebeugtem Kopfe nachblickte. Sie stürzte senkrecht in das Wasser, bespritzte die Felsen hochauf, blieb in der Einschnürung hängen, ohne den Grund erreicht zu haben und ragte weit genug aus dem Wasser hervor, um die Fluth um mehr als zwölf Fuß Höhe zu beherrschen; die senkrechte Brücke bildete zwischen den beiden Klippen eine Mauer; gerade wie bei dem etwas höher hinauf in dem Engpaß querübergeworfenen Felsblock konnte auch hier jetzt kaum etwas Schaum durchdringen, und so hatte Gilliatt dem Sturm gegenüber in der Meerenge eine fünfte Barrikade geschaffen.

Der Sturm hatte in seiner Verblendung an diesem letzten Schutzwalle selbst mitgearbeitet.

Es war ein großes Glück, daß durch das nahe Zusammenrücken der Uferwände diese Barre nicht bis auf den Grund sinken konnte, denn dadurch wurde sie höher und raubte außerdem den Wellen, welche nur unter ihr hindurch konnten, einen Theil ihrer Kraft. Was unten durchgeht, springt nicht oben herüber. Hierauf beruht zum Theil das Geheimniß der schwimmenden Wolkenbrecher.

Was also das Ungewitter auch immer thun mochte, für das Gehäuse und die Maschine war nichts mehr zu fürchten. Das Wasser konnte sie nicht mehr von allen Seiten bespülen. Zwischen dem Verschlusse durch die Klippen, welcher sie im Westen deckte, und der neuen Barre, welche sie im Osten schützte, konnte kein Stoß der Wellen oder Winde sie erreichen.

Gilliatt hatte aus dem Unglücke Vortheil gezogen; denn Alles in Allem hatte ihm das Ungewitter Hülfe geleistet.

Nachdem er hiermit fertig war, schöpfte er mit der hohlen Hand etwas Wasser aus einer Pfütze, trank und rief dem Sturme ein lautes »Dummkopf« zu.

Hierauf stieg er in die Barke hinab und ließ sich bei Untersuchung derselben vom Blitze leuchten. Es war hohe Zeit, daß ihr Hülfe gebracht wurde, denn sie war in der vorhergehenden Stunde stark mitgenommen worden und begann jetzt sich zu krümmen, doch konnte Gilliatt mit einem einzigen Blicke übersehen, daß sie noch keinen eigentlichen Schaden gelitten hatte, obgleich sie jedenfalls sehr heftige Stöße ausgehalten haben mußte. Bei ruhigem Wasser hätte sich der Kiel von selbst wieder zurückgebogen; die Anker waren gut im Stande und auch die Maschine von ihren vier Ketten wunderbar gehalten worden.

Als Gilliatt mit dieser Musterung fertig war, flog ein weißer Gegenstand an ihm vorüber und verschwand in der Nähe. Es war eine Seemöve.

Während der Stürme giebt es keine glücklichere Erscheinung; sobald sich die Vögel nähern, hat der Sturm sein Ende erreicht.

Ein anderes vorzügliches Zeichen war, daß sich der Donner verdoppelte.

Die größte Wuth des Sturmes zerfetzt ihn. Alle Seeleute wissen, daß die letzte Anstrengung furchtbar, aber von kurzer Dauer ist, und daß ein Uebermaß des Donners das Ende verkündet.

Der Regen hörte plötzlich auf, dann vernahm man nur noch ein mürrisches Rollen in den Wolken. Der Sturm war zu Ende, wie ein Brett, welches auf die Erde fällt; er zerbrach sich, so zu sagen. Die ungeheure Wolkenmasse löste sich auf. Klarer Himmel wurde sichtbar, die Finsterniß verschwand. Gilliatt war ganz überrascht; es war heller Tag.

Das Ungewitter hatte beinahe zwanzig Stunden angehalten.

Der Wind, welcher es gebracht hatte, führte es wieder fort. Die zusammenbrechende und zerfahrene Finsterniß umhüllte den Horizont. Die zerbrochenen und fliehenden Wolken thürmten sich lärmend bunt übereinander; von dem einen Ende der Wolkenlinie bis zum andern gab sich der Rückzug kund, man vernahm ein langes, ersterbendes Geräusch, einige letzte Regentropfen fielen und der ganze mit Donner gefüllte Schattennebel verschwand, wie eine Reihe furchtbarer Schlachtwagen.

Bald war der ganze Himmel wundervoll blau.

Gilliatt fühlte, daß er müde sei. Der Schlaf stürzte sich gleich einem Raubvogel auf die Anstrengung. Gilliatt ließ sich in der Barke, ohne erst einen Platz zu suchen, hinsinken und schlief ein. So blieb er einige Stunden unthätig und lang ausgestreckt liegen, kaum von den Balken und Hölzern, unter denen er schlief, zu unterscheiden.

Viertes Buch. Die Doppel-Gründe des Hindernisses.


Erstes Capitel. Wer Hunger hat, ist nicht allein.

Beim Erwachen empfand Gilliatt Hunger.

Das Meer beruhigte sich zwar, aber es war doch noch zu aufgeregt, als daß schon jetzt die Abreise möglich gewesen wäre; zudem war der Tag auch schon zu weit vorgerückt. Um mit der Last, welche das Boot trug, vor Mitternacht in Guernesy anzukommen, mußte man des Morgens fort.

Obgleich ihn der Hunger drängte, begann Gilliatt doch, sich auszukleiden, das einzige Mittel, durch welches er sich erwärmen konnte.

Seine Kleider waren vom Regenwetter völlig durchnäßt, aber das Regenwasser hatte das Seewasser ausgewaschen, und daher konnten sie wieder trocken werden.

Gilliatt behielt nur seine Hosen an und krämpte sie bis zu den Kniekehlen auf.

An verschiedenen Stellen des Felsens rings um sich her breitete er sein Hemde, seine Jacke, sein Schaffell aus und befestigte dies Alles mit Steinen.

Hierauf dachte er an das Essen.

Er nahm also sein Messer, welches er immer sehr scharf und gut im Stande hielt, und löste damit von dem Granitfelsen einige Muscheln von der Art der Gienmuscheln des Mittelmeeres und die man bekanntlich roh essen kann, los. Nach so vielen und so anstrengenden Arbeiten war das aber nur eine magere Kost. Er besaß keinen Zwieback mehr; an Wasser litt er freilich keinen Mangel weiter; es hatte ihn mehr, als gesättigt, es hatte ihn überschwemmt.

Er benutzte das Fallen des Meeres, um zwischen den Felsen nach Krebsen zu suchen, und konnte auf gute Beute hoffen, da der Jagdgrund sehr günstig war.

Allein er dachte nicht daran, daß er nichts mehr kochen konnte. Hätte er sich die Zeit genommen, bis nach seiner Vorrathskammer zu gehen, so hätte er sie unter dem Regen vergraben gefunden. Das Holz und die Kohlen waren durchnäßt, und von seinem Werg, der ihm als Zündstoff diente, war nicht ein Faden trocken geblieben; es gab also kein Mittel, um Feuer anzumachen.

Uebrigens war auch die Schmiede zerstört, das Wetterdach der Esse gebrochen und der Werkstatt von dem Orkane der Garaus gemacht worden. Mit dem Reste des Werkzeuges, welches der Vernichtung entging, konnte Gilliatt allenfalls noch als Zimmermann, aber nicht mehr als Schmied arbeiten; für den Augenblick jedoch dachte er gar nicht an diese Dinge.

Von dem Magen gedrängt, hatte er sich, ohne weitere Ueberlegung, an das Aufsuchen eßbarer Dinge gemacht und streifte nicht innerhalb, zwischen den Klippen, umher, sondern draußen auf der andern Seite, vor den verborgenen Riffen, auf welchen zehn Wochen früher die Durands aufgelaufen war.

Für Gilliatt’s Jagd war die Meerenge außen viel geeigneter, als innen, denn bei niedrigem Wasserstande schöpfen die Krabben gern Luft und wärmen sich an der Sonne, da diese unförmige Wesen die Wärme sehr lieben. Einen sonderbaren Eindruck gewährt es, wenn sie am hellen Tage aus dem Wasser herauskriechen. Ihr Krabbeln macht fast unwillig. Sieht man sie mit ihrem linkischen und schiefen Gange langsam und schwerfällig die untern Stufen der Felsen, wie die Sprossen einer Leiter, hinaufklimmen, so muß man sich gestehen, daß auch der Ocean sein Gezücht hat.

Und seit zwei Monaten lebte Gilliatt von solchem Gezüchte.

An jenem Tage entzogen sich jedoch die Krebse und Krabben seinen Blicken, da der Sturm diese Einsiedler in ihre Verstecke zurückgetrieben hatte und sie noch nicht völlig wieder beruhigt waren. Gilliatt hielt sein Messer offen in der Hand und trennte damit von Zeit zu Zeit unter dem Tange eine Muschel los, welche er dann beim Gehen verzehrte.

Er konnte nicht mehr weit von der Stelle sein, wo Sieur Clubin sich verloren hatte.

Gerade, als er den Entschluß faßte, auf die Meerigel und die Seekastanien zu verzichten, ließ sich ein Klappern zu seinen Füßen vernehmen. Eine große Krabbe, durch seine Annäherung erschreckt, sprang in das Wasser zurück, aber nicht weit genug, um ihm aus den Augen zu verschwinden.

Er begann also, ihr am Fuße der Klippe nachzulaufen. Sie floh.

Plötzlich war nichts mehr zu sehen.

Die Krabbe war in irgend ein Loch unter dem Felsen geschlüpft.

Gilliatt klammerte sich mit der Hand an den Vorsprüngen des Felsens fest und beugte den Kopf vor, um unter die Klippen blicken zu können; und wirklich war eine Höhlung da, in welche sich die Krabbe wahrscheinlich geflüchtet hatte.

Es war mehr als eine Höhlung, eine Art Wölbung.

Das Meer trat zwar in diese Wölbung ein, aber es war daselbst nicht tief. Den Boden bedeckten blaue und mit Conserven bekleidete Steine, ein Zeichen, daß sie nie ganz trocken wurden. Sie sahen von oben wie Kinderköpfe mit grünen Haaren aus,

Gilliatt faßte sein Messer mit den Zähnen, kletterte mit Händen und Füßen an diesem Abhange herunter und sprang dann in das Wasser. Es reichte ihm fast bis an die Schultern.

Er begab sich in die Wölbung und fand sich in einem alten Gange mit den schwachen Anfängen einer Spitzbogenwölbung über seinem Haupte. Die Wände waren glatt und schlüpfrig. Er sah die Krabbe nicht mehr. Zwar stand er auf festem Boden, doch je weiter er vordrang, um so mehr nahm das Tageslicht ab und bald konnte er nichts mehr unterscheiden.

Nach etwa fünfzehn Schritten hörte die Wölbung über ihm auf und er befand sich außerhalb des Ganges. Der Raum war größer, also auch Heller, und außerdem hatten sich seine Pupillen erweitert, so daß er ziemlich gut sehen konnte. Er wurde überrascht.

Er war eben wieder in jene fremdartige Höhle eingetreten, welche er einen Monat vorher besucht hatte; aber diesmal betrat er sie vom Meere aus.

Durch den Bogen, welchen er damals unter Wasser gesehen hatte, war er eben gekommen, da dieser bei ganz niedriger Ebbe gangbar war.

Seine Augen gewöhnten sich allmälig an den Ort. Er konnte ihn immer besser erkennen und er starrte vor Staunen. Er fand denselben außerordentlichen Schattenpalast, dieselbe Wölbung, dieselben Pfeiler, Blut- oder Purpurspuren, dieselbe Steinvegetation, und im Hintergrunde dieselbe Gruft, fast eine Sakristei, und denselben Stein, fast einen Altar, wieder.

Von den einzelnen Gegenständen konnte er sich kaum Rechenschaft ablegen, aber der Gesammteindruck stand lebendig vor seinem Geiste und jetzt wieder vor seinen Augen.

Er hatte jetzt wieder gerade vor sich in einer gewissen Höhe in der Wandung die Oeffnung, durch welche er das erste Mal eingedrungen, und die von dem Punkte, wo er sich jetzt befand, unzugänglich war.

Er sah neben der Spitzbogenwölbung jene niedrigen und dunklen Grotten, gleichsam Höhlen in der Höhle, wieder, welche er bereits von Weitem beobachtet hatte. Jetzt befand er sich dicht bei ihnen; die ihm nächste war trocken und leicht zugänglich.

Noch näher, als diese Einbiegung, bemerkte er über dem Wasserspiegel, im Bereiche seiner Hand, eine Querspalte in dem Granite. Wahrscheinlich hatte sich die Krabbe dorthin geflüchtet. Er streckte also seine Hand, so weit es ihm möglich war, hinein und begann diese Höhle der Finsterniß zu durchsuchen.

Plötzlich fühlte er sich am Arm ergriffen und er empfand in diesem Augenblick einen furchtbaren Schrecken.

Etwas Dünnes, Scharfes, Flaches, Glattes, Klebriges und Lebendiges hatte sich in der Dunkelheit um seinen nackten Arm geschlungen. Es stieg ihm gegen die Brust gleich dem Drucke einer Walze und dem Stoße eines Bohrers. In weniger als einer Sekunde hatte ihm eine unbeschreibbare Schneckenlinie Hand und Arm umschlossen und berührte seine Schulter. Die Spitze drang unter seiner Achsel ein.

Gilliatt wollte zurückspringen, konnte sich aber kaum bewegen. Er war wie angenagelt. Mit seiner freigebliebenen linken Hand ergriff er sein Messer, welches er zwischen den Zähnen hatte, stützte sich mit der Hand gegen den Felsen und versuchte mit einer verzweifelten Anstrengung seinen Arm zurückzuziehen. Es gelang ihm nur, das Band, welches den Arm umwickelt hatte, etwas zu beunruhigen, so daß es ein wenig zurückwich. Es war geschmeidig, wie Leder, fest, wie Stahl, und kalt, wie die Nacht.

Ein zweites, scharfes und schmales Ding kam aus dem Loche in dem Felsen hervor, wie eine Zunge aus einem Maule, leckte Gilliatt’s nackten Rücken zu seinem höchsten Entsetzen und setzte sich plötzlich endlos und ganz sein langziehend, fest auf sein Haupt und umschloß seinen ganzen Körper. Zu gleicher Zeit durchflog ein unerhörter, mit nichts vergleichbarer Schmerz Gilliatt’s gespannte Muskeln. Es war ihm, als wenn unzählige Lippen sich an sein Fleisch anhefteten und sein Blut auszusaugen suchten.

Noch ein drittes Ding wagte sich aus dem Felsen hervor, tastete auf Gilliatt umher, peitschte ihm die Seiten, wie eine Sehne, und befestigte sich dann an seinen Seiten.

Die Angst in ihrer höchsten Erregung ist stumm. Gilliatt stieß nicht einen Schrei aus. Es war hell genug, daß er die widerlichen, ihm anhaftenden Formen erkennen konnte. Ein viertes Band sprang ihm, schnell wie der Blitz, gegen den Bauch und rollte sich darauf fest.

Unmöglich war es ihm, diese scheußlichen Pfriemen, welche sich eng und an vielen Stellen seinem Körper angelegt hatten, durchzuschneiden oder loszureißen. Sie verursachten ihm furchtbare und eigenthümliche Schmerzen; es war ihm, als wenn er von einer Menge kleiner Mäuler auf ein Mal verschlungen würde.

Ein fünftes Ding schnellte aus dem Loche, legte sich über die andern und umschnürte Gilliatt’s Zwergfell. Der Druck vermehrte die Beängstigung, er konnte kaum noch athmen.

Diese, an ihrem äußersten Ende scharf zugespitzten Riemen weiteten sich immer weiter aus. Alle fünf gehörten sicherlich demselben Mittelpunkt an und marschirten und kletterten auf Gilliatt hin und her. Er fühlte, wie sich jene dunklen Oeffnungen, welche ihm als eben so viele Mäuler erschienen, von ihrem Platze fortbewegten.

Plötzlich kam unten aus der Höhlung ein großer, runder und flacher Schleimkörper hervor. Es war der Mittelpunkt, in welchem jene fünf Riemen wie Strahlen um einen Brennpunkt zusammenliefen; an der andern Seite dieser außerweltlichen Scheibe unterschied man drei andere Fühler, welche unter der Vertiefung des Felsens geblieben waren. In ihrer Mitte befanden sich zwei Augen, welche um sich blickten und Gilliatt ansahen.

Gilliatt erkannte den Alp.

Um an den Alp zu glauben, muß man ihn gesehen haben. – Regt man seine ganze Einbildungskraft an, um einen Gegenstand zu erzielen, so ist der Alp ein Meisterstück.

Diese Ungeheuer nennen die Seeleute Thierfrüchte; die Wissenschaft heißt sie Kopffüßler und die Sage Kraken.

Ein Bild in Sonnini’s Ausgabe von Buffon’s Werken stellt einen Kraken vor, der eine ganze Fregatte erdrückt. Denis Montfort glaubt, daß er unter hohen Breiten wirklich im Stande ist, ein vollständiges Schiff zu verschlingen. Bory St. Vincent läugnet dies, aber nach ihm greift er in einigen Gegenden den Menschen an. Auf Serk zeigt man in der Nähe von Brecq-Hou noch heut den Felsblock, wo ein solcher Alp vor einigen Jahren einen Hummerfänger ergriff, festhielt und ertränkte. Péron und Lamarck täuschen sich, wenn sie glauben, daß der Kraken nicht schwimmen könne, da er keine Schwimmapparate hat. Der Verfasser dieses Werkes sah mit seinen eigenen Augen, wie bei Serk ein solches Unthier in der sogenannten Lodenhöhle einen Badenden schwimmend verfolgte. Nach dem Tode maß man das völlig ausgebreitete Thier: es war vier Fuß groß und zeigte die vierhundert Saugapparate ganz deutlich. Das im Todeskampf liegende Thier bewegte sie krampfhaft.

Nach Denis Montfort, einem jener Beobachter, welchen die hohe Gabe der Erkenntniß bis zur Magie hinab- oder hinaufsteigen läßt, besitzt der Kraken fast menschliche Leidenschaften: er haßt. Und wirklich liegt ja auch der Häßlichkeit der Haß zu Grunde.

Der Kraken schwimmt, aber er läuft auch. Etwas Fisch, ist er auch etwas Reptil. Mit Hülse seiner acht Fühler kriecht er auf dem Meeresboden umher und schleppt sich wie eine Stachelraupe fort.

Er hat keine Knochen, kein Blut, kein Fleisch. Es ist ein leerer Beutel, eine Haut. Man kann seine acht Fühlfäden völlig von innen nach außen kehren wie die Finger eines Handschuhes.

Nur eine einzige Oeffnung, gerade in der Mitte seiner Strahlen, findet sich an ihm.

Das ganze Thier ist kalt.

Keine Fessel hält so, wie das Umspannen des Kraken.

Das Thier überzieht den Menschen mit seinem tausendfachen Höllenmund, die Hydra vereint sich mit ihm und er geht in sie über.

Der Tiger kann den Menschen nur verschlingen, der Kraken, o Schreck! athmet ihn ein. Er zieht Dich an sich und in sich hinein und so gefesselt, ausgelöst, ohnmächtig fühlst Du Dich langsam in diesen furchtbaren Sack, diesem Ungeheuer, entleert.

Ueber das Entsetzliche, lebendig gefressen zu werden, geht das Unbeschreibliche, lebendig getrunken zu werden.

Diese Thiere sind ebensowohl Gespenster als Ungeheuer. Ihr Leben ist bewiesen und doch unwahrscheinlich. Ihr Sein ist Thatsache, ihr Nichtsein wäre Recht. Sie sind die Amphibien des Todes. Ihre Unwahrscheinlichkeit bestätigt ihre Existenz. Sie stehen auf der Grenze zwischen Menschen- und Gedankenwelt.

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Zweites Capitel. Andere Kampfsart in der Grotte.

Einem solchen Wesen gehörte Gilliatt seit einigen Augenblicken an.

Das Ungethüm war der Bewohner der Grotte, der Schreckgeist des Ortes, eine Art finsterer Wasserdämon.

Den Mittelpunkt aller Schönheiten der Höhle bildete das Furchtbare.

Einen Monat vorher war an dem Tage, an welchem Gilliatt zum ersten Mal in sie eindrang, die abgegrenzte Schwärze, welche er halb und halb durch die Wellen des ruhigen Wassers gesehen hatte, dieser Alp gewesen.

Er war dort zu Hause.

Als Gilliatt zum zweiten Male die Grotte betrat, um die Krabbe zu verfolgen, hatte er ein Loch bemerkt, welches er für ihren Zufluchtsort hielt, während der Alp auf der Wacht in ihm lag.

Gilliatt hatte seinen Arm in das Loch gesteckt, der Alp ihn ergriffen und hielt ihn fest.

Er war die Fliege dieser Spinne.

Gilliatt stand bis zum Gürtel im Wasser, die Füße auf den glatten und runden Kieseln, den rechten Arm umstrickt und umschlungen von den flachen Windungen der Fühler des Krakens und der Körper verschwand fast unter den Schnürungen und Kreuzungen dieser fürchterlichen Bänder.

Von den acht Armen des Ungethüms hingen drei an den Felsen und fünf an Gilliatt fest. So, auf der einen Seite an dem Granit, auf der andern an dem Menschen geklammert zog es Gilliatt nach dem Felsen hin. Zweihundertundfünfzig Schröpfköpfe lagen auf ihm. Furchtbarsten Schmerz und Ekel erregt es, von einer endlosen Hand mit elastischen, wohl drei Fuß langen, inwendig mit lebenden, das Fleisch durchwühlenden Pusteln besetzten Fingern zerdrückt zu werden.

Wie wir schon einmal sagten, von diesem Alpe kann man sich nicht losreißen. Je mehr man es versucht um so sicherer wird man gefesselt, um so mehr zieht er sich zusammen. Seine Kraft wächst mit der Deinigen. Je größeres Sträuben, desto größeres Umstricken.

Gilliatt hatte nur eine Hülfe, sein Messer, und nur die linke Hand frei, aber, wie man weiß, bediente er sich ihrer so mächtig, daß man von ihm sagen konnte, er besitze zwei rechte Hände.

Sein Messer befand sich geöffnet in dieser Hand.

Man schneidet einem Kraken nicht die Fühlfäden ab, sie sind unzerschneidbares Leder und gleiten unter der Klinge aus; außerdem legen sie sich derartig an das Fleisch an, daß ein Einschnitt in sie auch dieses verletzen würde.

Das Ungethüm ist furchtbar, jedoch giebt es eine Art, sich seiner zu entledigen. Die Fischer auf Serk kennen sie, wie Jeder weiß, der sie im Meere gewisse schnelle Bewegungen ausführen sah. Die Meerschweine kennen sie auch, denn sie beißen den Kraken so, daß der Kopf abgeht. Daher begegnet man auf dem offenen Meere so vielen Tintenfischen, Sepien und Kraken ohne Kopf.

Dieses Thier ist wirklich nur am Kopfe verwundbar, was Gilliatt sehr gut wußte.

Er hatte nie einen Kraken von solcher Größe gesehen.

Beim Kraken giebt es wie beim Stiere nur einen günstigen Augenblick, den man benutzen muß; beim Stiere ist es der, in welchem er den Hals niederbeugt; beim Kraken der, in welchem er den Kopf versteckt. Wer diesen kurzen Augenblick verfehlt, ist verloren.

Alles, was wir so eben erzählten, hatte nur einige Minuten gedauert, während Gilliatt jedoch ein beständig wachsendes Aussaugen von jenen zweihundertundfünfzig Schröpfköpfen fühlte.

Der Kraken ist ein Verräther. Er sucht seine Beute erst zu betäuben. Er ergreift sie und wartet dann so lange als er kann.

Gilliatt hielt sein Messer. Das Saugen wurde immer stärker.

Er sah das Ungethüm an und dieses ihn.

Plötzlich löste es seinen sechsten Fühlfaden von dem Felsen los, schleuderte ihn auf Gilliatt zu und versuchte damit seinen linken Arm zu ergreifen.

Zugleich steckte es seinen Kopf vor. Noch einen Augenblick und sein Rachen mußte Gilliatt erreichen und er, an den Seiten geschröpft und mit zerdrückten Armen, sterben.

Aber Gilliatt wacht, belauert lauerte er.

Er wich dem Fühler aus und in dem Augenblicke, in welchem ihn die Bestie in die Brust beißen wollte, fiel seine bewaffnete Faust auf sie herab.

Zwei Zuckungen fanden entgegengesetzt statt; die des Alp und die Gilliatts.

Es war wie der Kampf zweier Blitze.

Gilliatt stieß die Spitze seines Messers in den flachen Schild und mit einer. Kreisbewegung, welche dem Drehen der Peitschenschnur beim Knallen gleicht, machte er einen Schnitt um die beiden Augen und riß den Kopf ab, wie wenn man einen Zahn ausreißt.

Es war zu Ende.

Das ganze Thier fiel hin.

Es glich einer Leine, welche sich loslöst. Sobald die Luftpumpe zerstört ist, füllt sich wieder der leere Raum. Die vierhundert Schröpfköpfe fielen auf ein Mal von dem Felsen und dem Menschen herab. Der ganze Klumpen rollte auf den Boden des Meeres hin.

Während sich Gilliatt von dem Kampfe erholte, konnte er zu seinen Füßen auf den Kieselsteinen zwei gallertartige, ungestaltete Massen wahrnehmen; hier den Kopf, dort das Uebrige des Thieres. Wir sagen absichtlich das Uebrige, denn Körper konnte man es nicht nennen.

Gilliatt, der eine krampfhafte Bewegung im Todeskampfe fürchtete, zog sich außerhalb des Bereichs der Fühlfäden des Thieres zurück.

Aber das Thier war ganz todt.

Gilliatt klappte sein Messer wieder zu.

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Drittes Capitel. Nichts verbirgt sich und Nichts verliert sich.

Es war Zeit, daß Gilliatt den Kraken tödtete; denn er war fast erstickt; sein rechter Arm und sein Körper waren dunkelroth, mehr als zweihundert Geschwülste, von denen mehrere bluteten, hatten sich auf ihm gebildet. Das Gegenmittel gegen diese Verletzungen ist Salzwasser. Gilliatt tauchte darin unter und rieb sich mit der flachen Hand. Die Geschwulst verschwand unter diesen Reibungen.

Beim Zurückweichen und weiteren Vordringen in das Wasser hatte er sich, ohne es zu bemerken, jener Art Höhle genähert, welche er schon neben dem Loche, in welchem ihn der Alp erfaßt, wahrgenommen.

Diese Höhle verlängerte sich in schräger Richtung und war trocken unter den großen Scheidewänden der Grotte. Durch die Kiesel, welche sich daselbst angehäuft hatten, war ihr Boden bis über die Höhe der gewöhnlichen Fluthen gestiegen. Diese Höhlung war ein ziemlich breites und gedrücktes Gewölbe; ein Mensch konnte eintreten, wenn er sich bückte. Das grüne Licht der unterseeischen Grotte drang hinein und erleuchtete sie schwach.

Zufällig schlug Gilliatt, während er noch eilig die angeschwollenen Stellen rieb, seine Augen gedankenlos auf.

Er fühlte ein Zittern.

Es schien ihm, als wenn er in dem Hintergrunde dieses Loches in dem Schatten eine Art Gesicht erblickt hätte, welches ihn anlächelte.

Die Höhle bildete ziemlich genau eine Art Kalkofen.

Er trat hinein und schritt mit gebeugtem Kopfe auf das im Hintergrunde Befindliche zu.

Etwas lachte in der That.

Es war ein Todtenkopf.

Aber nicht nur der Kopf, sondern auch alle Gebeine des Todten befanden sich daselbst.

Ein menschliches Skelett lag in der Höhle.

Der Blick eines kühnen Mannes weiß bei solchen Begegnungen, woran er sich zu halten hat.

Gilliatt blickte um sich.

Er war von einer Menge von Krabben umgeben.

Diese Menge bewegte sich nicht und glich einem todten Ameisenhaufen. Die Thiere waren sammt und sonders leblos, todt.

Unter diesem Haufen lag das Skelett.

Man bemerkte unter diesem Gewirr von Tastern und Schalen den Schädel mit seinen Streifen, das Rückgrat, die Schenkel- und Schienbeine und die langen gekrümmten Finger mit ihren Nägeln. Die Höhlen in den Seiten waren voll Krabben, wo einst ein Herz schlug. Meeresschimmel bekleidete die Augenhöhlen, Schlüsselmuscheln hatten ihren Schleim in die Nasengruben entleert. Uebrigens gab es in diesem Felsenwinkel weder Seeeichen, noch Gräser, noch irgend einen Lufthauch. Keine Bewegung. Die Zähne grinsten.

Die beunruhigende Seite des Lachens ist das Lachen eines Todtenkopfes.

Dieser wunderbare Palast des Abgrundes, geziert und ausgelegt mit allen Edelsteinen des Meeres, enthüllte und offenbarte endlich sein Geheimniß: es war eine Raubhöhle, denn der Alp bewohnte ihn – und ein Grab, denn ein Mensch lag in ihm.

Die geisterhafte Unbeweglichkeit der Menschengebeine und des Thiergezüchtes schwankte wegen der Wiederspiegelung der unterirdischen Gewässer, welche über diesen Versteinerungen zitterten, unbestimmt hin und her. Die Krabben, schrecklich zusammengehäuft, hatten den Anschein, als wenn sie ihre Mahlzeit beendeten und das Gerippe verzehrten. Nichts kann eigenthümlicher sein, als dieses todte Gewürm über seiner todten Beute.

Gilliatt hatte den Vorrathsschrank des Krakens vor Augen.

Eine finstere Erscheinung, wenn sich auch der furchtbar entsetzliche Sachverhalt sofort erkennen ließ. Der Mensch war von den Krabben, die Krabben von dem Kraken gefressen worden.

Ueber dem Gerippe befand sich nicht das geringste Kleidungsstück. Der Leichnam war also wohl nackt angegriffen worden.

Gilliatt machte sich aufmerksam und prüfend daran, die Krabben von dem Menschen herabzunehmen. Was war er gewesen? Der Leichnam war so wunderbar gut zerlegt, daß man ihn für ein anatomisches Präparat halten konnte. Das ganze Fleisch war abgelöst, nicht ein Muskel übrig geblieben, nicht ein Knochen fehlte. Wäre Gilliatt Mediziner gewesen, so hätte er das bestätigen können. Die entblößten Knochen waren weiß, glatt und glänzten wie Stahl. Ohne einige grüne Conserven an wenigen Stellen hätte man sie für Elfenbein halten können. Die knorpeligen Scheidewände waren unter zartester Schonung verdünnt worden. Das Grab macht solche dunkeln Kleinodien.

Der Leichnam war unter den todten Krabben wie vergraben, Gilliatt grub ihn wieder aus.

Plötzlich beugte er sich lebhaft vor.

Er hatte soeben um den Rückgrat eine Art Band bemerkt.

Es war ein Ledergürtel, welcher augenscheinlich auf dem Körper des Menschen bei seinen Lebzeiten befestigt worden war.

Das Leder war ganz weich, das Schloß, welches es zusammenhielt, verrostet.

Gilliatt zog den Gürtel an sich heran. Die Wirbel leisteten jedoch Widerstand, so daß er sie zerbrechen mußte, um den Gürtel loslösen zu können. Er war noch unversehrt; nur eine Muschelkruste begann sich auf ihm zu bilden.

Er stieß sie ab und fühlte einen harten und viereckigen Gegenstand im Innern. Die Schnalle konnte er nicht öffnen, also zerschnitt er den Gürtel mit seinem Messer.

Der Gurt enthielt eine kleine Büchse aus Eisen und mehrere Guineen. Gilliatt zählte zwanzig Goldstücke.

Die eiserne Büchse war eine alte Matrosenschnupftabaksdose, welche sich durch einen Druck öffnete, aber sehr verrostet und fest verschlossen war; die völlig oxydirte Feder spielte nicht mehr.

Wiederum zog das Messer Gilliatt aus der Verlegenheit, denn ein Druck mit der Spitze seiner Klinge ließ den Deckel der Dose aufspringen.

Sie öffnete sich.

Nur Papier befand sich in ihr.

Eine kleine, sehr dünne, viermal zusammengefaltete Lage Blätter bedeckte ihren Boden. Das Papier war seucht, aber sonst unversehrt, denn der luftdichte Verschluß der Büchse hatte es vor jeder Beschädigung bewahrt. Gilliatt entfaltete es.

Es waren drei Banknoten, jede zu tausend Pfund Sterling, also im Ganzen zwanzigtausend Thaler.

Gilliatt legte die Noten wieder zusammen, that sie in die Dose, steckte auch, da es der noch übrige geringe Platz der Dose erlaubte, die zwanzig Guineen ein und schloß die Dose, so gut er konnte.

Hierauf untersuchte er den Gürtel.

Das früher von außen lackirte Leder war inwendig roh. Auf seinem fahlen Grunde waren einige Buchstaben mit starker, schwarzer Dinte aufgetragen. Gilliatt entzifferte sie und las: Sieur Clubin.

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Viertes Capitel. In dem Raume zwischen sechs Zoll und zwei Fuß hat der Tod Platz.

Gilliatt legte die Dose wieder in den Gurt, steckte diesen in seine Hosentasche, und überließ das Gerippe, wie den todt danebenliegenden Kraken den Krabben.

Während er sich hier befand, hatte die steigende Fluth den Zugang zur Grotte verschlossen, so daß er sie also nur verlassen konnte, wenn er unter dem Bogen ihrer Oeffnung hindurchtauchte, was er auch ohne Mühe that, da er den Ausweg kannte und Meister in allen Schwimmübungen war.

Man kennt jetzt also das Schauspiel, welches sich zehn Wochen früher an dieser Stelle ereignet hatte. Ein Ungeheuer hatte das andere gepackt: der Kraken hatte Clubin aufgefressen.

Auf dem Boden des Abgrundes waren diese beiden, aus Erwartung und Finsterniß zusammengesetzten Wesen auf einander gestoßen und das eine – das Thier – hatte das andere – die Seele – vernichtet. – Finstere Gerechtigkeit!

Gilliatt kam davon zurück, die Felsen weiter zu durchstöbern, er suchte nur nach Seeigeln und Muscheln, aber er wollte keine Krabben mehr, da es ihm schien, als wenn er dann Menschenfleisch äße.

Es lag ihm indeß doch daran, vor seiner Abfahrt noch so gut als möglich zu essen. Nichts hielt ihn mehr von seiner Abfahrt ab. Den großen Stürmen folgt stets eine Windstille, welche manchmal mehrere Tage anhält, so daß keine Gefahr jetzt von Seiten des Meeres drohte. Gilliatt war entschlossen, am folgenden Morgen abzufahren. Wegen der Fluth war es wichtig, die zwischen den Klippen befindliche Barre die Nacht hindurch zu bewahren; er rechnete aber daraus, sie mit Anbruch des Tages losmachen, den Rumpf aus den Klippen herausstoßen und nach St. Sampson segeln zu können. Die gerade aus Südost wehende Brise war genau der Wind, dessen er bedurfte.

Das erste Mondviertel im Mai begann; die Tage waren lang.

Als Gilliatt seinen Streifzug um die Felsen beendet, seinen Hunger ziemlich gestillt hatte und nach dem Theile der Meerenge zurückgekommen war, wo der Rumpf lag, war die Sonne untergegangen und die Dämmerung verdoppelte sich unter dem halben Mondlichte, die Fluth hatte ihren Höhepunkt erreicht und das Wasser begann wieder zu fallen. Der Schlot der Maschine, welcher über dem Rumpfe hervorragte, war durch den Schaum des Sturmes mit einer, im Monde hellblitzenden Salzschicht bedeckt worden.

Hierdurch erinnerte sich Gilliatt daran, daß der Orkan viel Regen- und Meerwasser in den Rumpf geworfen und daß er, falls er am folgenden Morgen abreisen wollte, die Barke entleeren mußte.

Als er sie verließ, um sich auf die Krabbenjagd zu begeben, hatte er in ihr sechs Zoll Wasser gemessen; seine Schaufel war also wohl groß genug, um sie auszuschöpfen.

Als er zurückkam, überlief ihn ein Gefühl des Entsetzens, denn es befanden sich beinahe zwei Fuß Wasser in der Barke.

Furchtbarer Zwischenfall; sie hatte ein Leck.

Wäre Gilliatt eine Stunde später zurückgekommen, so hätte er außerhalb des Wassers wahrscheinlich nur den Schlot und den Mast gefunden.

Nicht einmal eine Minute zum Ueberlegen durfte er verlieren. Er mußte das Leck suchen und zustopfen und dann die Barke ausschöpfen oder wenigstens erleichtern. Die Pumpen der Durande waren in dem Schiffbruche untergegangen und Gilliatt auf die Wasserschaufel des Bootes beschränkt.

Vor Allem mußte er das Leck suchen, dies war das Eiligste.

Er begab sich sofort schaudernd an’s Werk, ohne sich erst noch Zeit zum Wiederankleiden zu nehmen. Weder Hunger, noch Kälte fühlte er.

Die Barke füllte sich immer fort. Zum Glück herrschte nicht der geringste Wind, denn das leiseste Schwanken hätte sie umgeworfen.

Der Mond ging unter.

Gilliatt, tastend, gebeugt und mehr als zur Hälfte im Wasser, suchte lange vergebens, endlich fand er den Schaden.

Während des furchtbaren Windstoßes, in dem kritischen Augenblick, wo sich die Barke gebogen hatte, war sie ziemlich heftig gegen den Felsen geschleudert worden und ein Riff der kleinen Klippe hatte am Tribord des Kieles einen Bruch verursacht.

Das Leck befand sich leider, man könnte sagen, verhängnißvoller Weise, in der Nähe der beiden Katzensparren, das Toben des Sturmes hatte Gilliatt bei seiner schnellen Untersuchung in der Dunkelheit und im stärksten Unwetter verhindert, früher den Schaden wahrzunehmen.

Der Bruch hatte das Beunruhigende, daß er groß war, und das Beruhigende, daß er augenblicklich zwar durch das innen befindliche Wasser überdeckt wurde, sonst aber über dem Wasser sich befand.

In dem Augenblicke, als der Riß entstand, wurde die Fluth heftig in die Enge geschleudert und das Wasser über seine gewöhnliche Höhe getrieben, so daß die Welle durch den Riß eindrang, das Boot unter dieser Ueberlast um einige Zoll sank und selbst, nachdem die Wellen sich wieder beruhigt, das Gewicht des eingedrungenen Wassers die Traglinie der Barke mehr nach oben schob und das Leck unter Wasser ließ. Daher die furchtbare Gefahr. Sobald es indeß gelang, das Leck zu verstopfen, konnte man die Barke ausschöpfen, hierdurch mußte sie wieder bis zu ihrer normalen Wasserlinie steigen, so daß der Riß aus den Fluthen herausragte und, wenn er so trocken lag, seine Ausbesserung leicht oder wenigstens noch überhaupt möglich war. Wie wir schon anführten, befand sich Gilliatts Zimmermannswerkzeug noch in ziemlich gutem Zustande.

Aber welche Ungewißheit, bevor er so weit kam! Welche Gefahren! Welche schlechte Aussichten! Gilliatt hörte das Wasser unerbittlich hervorquellen. Ein Stoß und Alles konnte untergehen. Welches Elend! Vielleicht war keine Zeit mehr.

Gilliatt klagte sich bitter selbst an. Er hätte das Leck sofort suchen sollen, da ihn die sechs Zoll Wasser darauf aufmerksam machen mußten. Es war thöricht gewesen, diese sechs Zoll Wasser dem Regen und Schaum allein zuzuschreiben. Er warf sich sein Schlafen und sein Essen, seine Müdigkeit, ja fast sogar den Sturm und die Nacht vor. Alles war sein Fehler.

Diese Selbstvorwürfe mischten sich unter seine Arbeit, hielten ihn aber dabei nicht auf.

Das Leck war gefunden; dies war der erste Schritt. Es zu verstopfen, der zweite. Er konnte für den Augenblick nicht mehr thun. Man treibt unter dem Wasser nicht viel Schreinerei.

Ein glücklicher Umstand war der, daß sich das Leck in dem Räume zwischen den beiden Ketten befand, welche den Schlot der Maschine am Tribord festhielten. Das Stopfwerk konnte sich auf diese Ketten stützen.

Indessen wuchs das Wasser immer mehr; es überstieg schon zwei Fuß; so daß Gilliatt bis über die Knie in ihm stand.

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Fünftes Capitel. De profundis ad altum.

Gilliatt hatte in der Aufbewahrungskammer des Takelwerkes ein ziemlich großes, getheertes Pfortsegel mit langen und scharfen Haken an seinen vier Ecken zur Verfügung.

Er nahm es, befestigte zwei Ecken mittelst der Haken in zwei Ringen der Rauchfang-Ketten auf der Seite des Lecks und warf es dann über Bord. Es breitete sich wie ein Tuch zwischen der kleinen Klippe und der Barke aus und versank in die Fluthen. Das Wasser, welches in den Kiel eindringen wollte, trieb es dagegen an und jemehr es drängte, um so fester hing das Segel sich an. Die Wogen selbst trieben es auf den Riß und bepflasterten ihn.

Diese getheerte Leinwand legte sich zwischen das Innere des Kieles und die Wellen draußen, so daß kein Tropfen Wasser mehr eindringen konnte.

Das Leck war verdeckt, aber nicht verstopft.

Gilliatt gewann eine kleine Frist.

Er nahm die Schöpfkelle und begann die Barke zu leeren. Es war hohe Zeit, sie zu erleichtern. Diese Arbeit machte ihn wieder etwas warm, aber seine Ermattung war so groß, daß er sich gestehen mußte, er könnte nicht zu Ende kommen und den Kiel von neuem flott machen, zumal er kaum gegessen hatte und zu seiner größten Betrübniß zugeben mußte, daß er völlig erschöpft war.

Er maß das Fortschreiten seiner Arbeit in Bezug auf das Fallen des Wassers an seinen Knieen: es fiel langsam.

Außerdem war das Eindringen des Wassers nur unterbrochen. Das Uebel war verdeckt, nicht geheilt. Das Pfortsegel wurde durch die Fluth in das Leck getrieben und begann sich in dem Kiele aufzublähen, so daß es aussah, als wenn sich eine Faust unter der Leinwand befände und sich zu durchbohren versuchte. Das feste, getheerte Segel widerstand zwar, aber es blähte sich unter wachsender Spannung immer mehr auf, so daß es ungewiß war, ob es nicht nachgeben und früher oder später zerreißen würde; dann mußte Wasser von neuem eindringen.

Alle, von solcher Noth bedrängten Seeleute wissen, daß ein Pfropfen ihre einzige Rettung ist. Man nimmt Lappen aller Art, welche sich gerade vorfinden und in der Schiffersprache »Futter« genannt werden, und stopft damit, so weit es geht, dasselbe in das Leck zurück.

Von solchem »Futter« besaß Gilliatt gar nichts. Alles was er von Lumpen oder Lappen aufgespeichert hatte, war bereits von ihm bei der Arbeit verbraucht oder von dem Unwetter fortgetrieben worden.

Vielleicht konnte er aber noch einige Reste auffinden, wenn er die Felsen genau durchsuchte. Die Barke war schon hinreichend erleichtert, um ihm eine Abwesenheit von einer Viertelstunde zu gestatten; was sollte er aber ohne Licht anfangen? Es herrschte völlige Finsterniß. Der Mond schien nicht mehr; nichts war zu sehen, als der düster besternte Himmel. Gilliatt besaß nicht einen trockenen Faden zu Zunder, keinen Talg, um Licht zu machen, keinen Zündstoff, um Feuer anzuzünden, keine Laterne, um sich leuchten zu können. Alles, in der Barke, wie auf der Klippe erschien verwirrt und undeutlich. Man hörte das Wasser um den verwundeten Kiel rauschen, das Leck selbst sah man nicht; nur mit den Händen hatte Gilliatt die wachsende Spannung des Segels bestimmen können. Unmöglich war es, in solcher Finsterniß ein fruchtbares Nachsuchen nach Segelstücken und zwischen den Felsen zerstreuten Tauenden vorzunehmen. Wie konnte er solche Lappen zusammenbringen, wenn er nicht deutlich sehen konnte? Traurig blickte er in die Nacht hinaus. Unzählige Sterne, aber nicht ein Licht.

Da sich das Wasser in der Barke verminderte, so nahm der Druck von außen zu; das Segel blähte sich immer weiter auf und rundete sich immer mehr. Es glich einem Geschwür, welches sich öffnen will. Die für einen Augenblick gebesserte Lage wurde indeß wieder drohend.

Ein Pfropf war unumgänglich nothwendig.

Gilliatt besaß nur seine Kleider, hatte sie aber, wie man sich erinnern wird, auf den Spitzen der kleinen Klippe zum Trocknen ausgebreitet.

Eilig holte er sie und legte sie auf den Bord des Kahns.

Er nahm seine Theerjacke, kniete im Wasser nieder, drückte sie in das Leck, stieß das aufgeblähte Segel nach außen und entleerte es auf diese Weise. Auf die Jacke legte er das Schaffell, hierauf sein wollenes Hemd und auf dieses sein Wamms. Alles ging hinein.

Nur noch ein Kleidungsstück hatte er an, er zog es aus und vergrößerte und befestigte mit der Hose das »Futter.« Der Pfropf war fertig und schien vorläufig seinen Zweck zu erfüllen.

Er begann nun wieder den Kiel zu leeren, aber er konnte in Folge der Anstrengungen die mit Wasser gefüllte Schaufel kaum heben. Er war nackt und zitterte vor Kälte.

Er fühlte die düstere Annäherung des Aeußersten.

Die Möglichkeit eines Glückszufalls ging ihm durch den Kopf. Vielleicht befand sich ein Segel auf offener See. Ein Fischer konnte zufällig bei den Klippen vorüberfahren und ihm zu Hülfe kommen. Der Augenblick war gekommen, wo ein Mitarbeiter unumgänglich nothwendig wurde. Ein Mensch mit einer Laterne und Alles war gerettet. Zu zweien konnte man die Barke ohne Mühe leeren; sobald sie trocken war und nicht mehr jene Ueberfülle von Wasser besaß, mußte sie bis zu ihrer Wasserlinie wieder steigen, so daß das Leck über Wasser kam, die Ausbesserung war dann möglich, man konnte an Stelle des Futters ein Stück Holz anbringen und den vorläufig vor dem Risse angebrachten Apparat durch eine gründliche Reparatur ersetzen. War dies nicht der Fall, so mußte er bis zum Tage warten, die ganze Nacht hindurch! Furchtbare Zögerung, welche das Verderben herbeiführen konnte. Gilliatt fieberte vor Aufregung. Befand sich zufällig eine Schiffsleuchte in Sicht, so konnte er von der Spitze der großen Klippe aus Zeichen geben. Das Wetter war ruhig, kein Wind mehr, kein aufgeregtes Meer, ein unter dem gestirnten Himmel sich bewegender Mensch konnte möglicherweise bemerkt werden. Ein Schiffscapitän, selbst der Besitzer einer Barke segelt Nachts nicht in den Gewässern der Douvres, ohne sein Fernrohr auf die Klippen zu richten; schon aus Vorsicht.

Gilliatt hoffte, daß man ihn bemerken würde.

Er eilte auf den Strand, faßte die Knotenschnur und kletterte auf die große Klippe.

Nicht ein Segel in Sicht. Nicht eine Laterne. So weit das Auge reichte, nur ödes Meer.

Kein Beistand und kein Widerstand war möglich.

Gilliatt fühlte sich, was bis dahin noch nicht vorgekommen war, entwaffnet.

Das dunkle Verhängniß war jetzt sein Herr. Er, mit seiner Barke, mit der Maschine der Durande, mit seiner ganzen Arbeit, seinem ganzen Glücke und seinem Muthe, sollte jetzt dem Abgrunde angehören. Er hatte keine Hülfsmittel mehr gegen den Kampf; er wurde unthätig. Wie konnte er die Fluth am Kommen, das Wasser am Steigen, die Nacht am Vorrücken verhindern? Jener Pfropf war sein einziger Stützpunkt. Er war völlig erschöpft und außer Stande, ihn zu vergrößern und zu vervollständigen; das Futter war so, wie es war und mußte so bleiben; zum Unglück war alle Anstrengung zu Ende. Das Meer hatte jenes schnell gegen das eindringende Wasser gefertigte Hinderniß in seiner Gewalt. Der Schlag einer Welle genügte, um den Riß wieder zu öffnen. Etwas Druck mehr oder weniger, darauf beruhte jetzt Alles.

Gilliatt war nur noch Zuschauer da, wo es sich um Leben und Tod handelte. Jener Gilliatt, der eine Vorsehung gewesen war, wurde in der letzten Minute durch einen vernunftlosen Widerstand aus seiner Stelle verdrängt.

Keine Prüfung und kein Schreck, von allen, die er bestanden hatte, nichts glich dieser Gefahr.

Als er auf der Klippe angekommen war, sah er sich von Einsamkeit umgeben, gleichsam von ihr ergriffen.

Diese Einsamkeit that mehr, als daß sie ihn umgab, sie schloß ihn förmlich ein.

Tausend Drohungen hatten ihm auf einmal ihre Fäuste entgegengestreckt. Der Wind war da, zum Toben bereit; und das Meer zum Brüllen. Es war unmöglich, diesen Mund – den Wind – zu verstopfen; unmöglich diese Kinnbacken – das Meer – zahnlos zu machen. Und trotzdem hatte er mit ihnen gekämpft; er hatte Brust gegen Brust mit der See gestritten und sich mit dem Sturme herumgeschlagen.

Er hatte andern Aengsten und Nöthen die Stirn geboten und mit allen Gefahren zu thun gehabt. Ohne Werkzeuge hatte er Arbeiten, ohne Hebel Lasten von der Stelle schaffen, ohne Wissen Aufgaben lösen, ohne Vorrath essen und trinken und ohne Bett und Dach schlafen müssen.

Auf dieser Klippe, der trauervollen Strebe, waren ihm der Reihe nach Fragen unter den verschiedensten und quälendsten Formen von der Natur – einer Mutter, wenn es ihr gut dünkt, und einem Henker, wenn es ihr gefällt – vorgelegt worden.

Er hatte die Einsamkeit, Hunger und Durst, Kälte und Fieber, Arbeit und Schlaf besiegt. Gegen ihn hatten sich alle Hindernisse verbündet, um ihm den Weg abzusperren.

Nach der Entblößung das Element; nach der Fluth der Sturm; nachdem Unwetter der Kraken; nach dem Ungeheuer das Gespenst.

Finsterer Hohn des Letzteren. In der Klippe, von welcher Gilliatt als Sieger zu scheiden dachte, hatte ihn der todte Clubin lächelnd betrachtet.

Das Gespenst hatte mit seinem Hohnlächeln Recht gehabt. Gilliatt sah sich verloren und war ebenfalls todt, wie Clubin.

Der Winter, der Hunger, die Ermüdung, das Zerstückeln des Strandes, das Umladen der Maschine, die Schläge der Aequinoctien, der Wind, das Gewitter, der Kraken, Alles das war nichts gegen das Leck. Gegen Alles das konnte man Hülfsmittel haben und Gilliatt hatte sie ja auch stets gefunden; gegen die Kälte Feuer, gegen den Hunger Seemuscheln, gegen den Durst Regen, gegen die Schwierigkeiten bei der Rettung Fleiß und Thatkraft, gegen die Fluth und den Sturm Wogenbrecher und gegen den Kraken das Messer. Gegen das Leck hatte er Nichts.

Das Ungewitter hinterließ ihm diesen traurigen Abschiedsgruß.

War seine Barke untergegangen, so hatte er nichts mehr zu thun, als auch vor Hunger und Kälte zu sterben, wie der andere, der Schiffbrüchige des Felsens der »Mann.«

Er hatte nicht mehr ein einziges Kleidungsstück. Er war nackt vor der Unendlichkeit.

Da, in dem Uebermaße dieser ganzen unbekannten Ungeheuerlichkeit, als er nicht mehr wußte, was man von ihm wollte, als er sich dem Schatten gegenüberbefand, in Gegenwart dieser dichten Finsterniß, in dem Rauschen der Wasser, der Wellen, der Fluchen, der hohlen See, des Schaumes, der Brandungen, unter den Wolken, den Winden, der unbestimmten zerstreuten Kraft, dem geheimnißvollen Firmamente der Fittiche, Gestirne und Gräber, unter der möglichen, sich mit ungemessenen Dingen mischenden Absicht, als er um und unter sich das Meer und über sich die Sterne unter dem Unergründbaren hatte, da beugte er sich, leistete Verzicht auf Alles, legte sich der ganzen Länge nach mit dem Rücken auf den Felsen, das Gesicht gegen die Sterne, und besiegt, und die Hände vor der furchtbaren Tiefe faltend, rief er in die Unendlichkeit: Gnade!

Niedergeschmettert von der Unermeßlichkeit betete er zu ihr.

Da lag er, allein in einer solchen Nacht auf einem solchen Felsen inmitten eines solchen Meeres, niedergefallen vor Erschöpfung, ähnlich einem vom Blitze Getroffenen, nackt, wie der Gladiator im Circus, nur anstatt des Circus hatte er den Abgrund, anstatt der wilden Thiere die Finsterniß, anstatt der Augen des Volkes die Blicke des Unbekannten, anstatt der Vestalinnen die Sterne und anstatt des Cäsaren Gott.

Es schien ihm, als fühlte er seine Auflösung bei der Kälte, der Ermattung, der Ohnmacht im Gebete, in der Finsterniß und seine Augen schlossen sich.

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Sechstes Capitel. Es giebt ein Ohr in dem Unbekannten.

Einige Stunden verflossen.

Die Sonne erhob sich blendend.

Ihr erster Strahl erleuchtete auf der Platte der großen Klippe eine unbewegliche Gestalt. Es war Gilliatt.

Er lag immer noch auf dem Felsen ausgestreckt.

Die kalte und verwitterte Nacktheit hatte kein Zittern mehr. Die geschlossenen Augenlider waren todtenbleich. Die Entscheidung wäre schwer gewesen, ob er nicht schon ein Leichnam sei.

Die Sonne schien ihn zu betrachten.

Wenn dieser nackte Mensch nicht todt war, so war er so nahe daran, daß der geringste kalte Wind genügte, den Tod herbeizuführen.

Der Wind begann zu wehen, aberlau und belebend: der Frühlingshauch des Mai.

Indessen stieg die Sonne in die Tiefen des blauen Himmels; ihr weniger wagerechter Strahl wurde purpurn, ihr Licht Hitze; sie hüllte Gilliatt ein.

Gilliatt rührte sich nicht vom Flecke. Wenn er athmete, so war es ein Athmen, so leise und unhörbar, das es kaum einen Spiegel blind gemacht hätte.

Die Sonne stieg immer höher und die Sonnenstrahlen fielen immer senkrechter auf Gilliatt. Der zuerst nur laue Wind wurde jetzt heiß.

Der harte und nackte Körper Gilliatts blieb immer noch ohne Bewegung; die Haut schien jedoch weniger todtenfarben.

Die Sonne näherte sich dem Scheitelpunkte und fiel senkrecht auf die Fläche der Klippe. Ein Ueberfluß von Licht ergoß sich von der Höhe des Himmels; die weite Rückstrahlung des erhabenen Meeres verband sich mit ihr; der Felsen begann heiß zu werden und erwärmte den Menschen.

Ein Seufzer hob Gilliatt’s Brust.

Er lebte.

Die Sonne setzte ihre fast glühenden Liebkosungen fort.

Gilliatt bewegte sich.

Die Ruhe des Meeres war unbeschreiblich. Es sang leise, wie eine Amme bei ihrem Kinde. Die Wellen schienen die Klippe zu wiegen.

Die Vögel des Meeres, welche Gilliatt jetzt kannten, flogen unruhig über ihm her; aber nicht mehr mit ihrer alten, wilden Unruhe, sondern mit einer gewissen Zartheit und Brüderlichkeit. Sie sahen aus, als wenn sie ihn riefen.

Eine Möve, welche ihn ohne Zweifel liebte, setzte sich vertraulich dicht neben ihn und begann mit ihm zu sprechen. Er schien sie nicht zu hören. Sie sprang ihm auf die Schulter und schnäbelte ihn leise.

Gilliatt öffnete die Augen.

Befriedigt flogen die wilden Vögel davon.

Gilliatt richtete sich auf, reckte sich wie der erwachende Löwe, eilte an den Rand der Platte und blickte unter sich in die Enge hinab

Die Barke lag da, unversehrt. Das Futter hatte gehalten und das Meer hatte es wahrscheinlich wenig zersaust.

Alles war gerettet.

Gilliatt war nicht mehr müde. Sein Kräfte halten sich erholt. Dieser Scheintod war ein erquickender Schlaf gewesen.

Er leerte die Barke, machte den Kiel trocken und brachte das Leck über Wasser, zog sich wieder an, trank, aß und war froh.

Bei Tage besehen erforderte das Leck mehr Arbeit, als er geglaubt hatte. Es war ein ziemlich bedeutender Schaden. Gilliatt hatte den ganzen Tag mit der Ausbesserung zu thun.

Am folgenden Morgen brach Gilliatt bei Anbruch des Tages, nachdem er die Barre zerstört und den Ausgang aus der Wasserstraße wieder geöffnet, mit den Kleidern bedeckt, welche das Leck geschützt hatten, mit dem Gürtel Clubin’s und den sechszigtausend Francs, in der ausgebesserten Barke neben der geretteten Maschine stehend, bei günstigem Winde und wunderbar ruhigem Meere von der Klippe auf.

Er hielt auf Guernesey zu.

In dem Augenblicke, wo er sich von der Klippe entfernte, hätte man ihn, wenn man sich dort befunden hätte, das Lied Bonny Dundee halblaut singen hören können.

Erstes Buch. Nacht und Mond.

 

Erstes Capitel. Die Hafenglocke.

Das heutige St. Sampson ist fast eine Stadt, das St. Sampson vor vierzig Jahren war fast ein Dorf.

Sobald der Frühling gekommen und die Wintertage zu Ende waren, machte man daselbst kurze Abende und begab sich mit Anbruch der Nacht zu Bette. St. Sampson, früher ein Pfarrdorf, in welchem zu Abend geläutet wurde, hatte die Gewohnheit beibehalten, seine Lichter zeitig auszulöschen, und mit dem Tage aufzustehen und zu Bette zu gehen. Diese alten normännischen Dörfer glichen darin den Hühnern.

Außerdem besteht St. Sampson’s Bevölkerung mit Ausnahme einiger reicher Bürgerfamilien, aus Steinbrechern und Zimmerleuten, da sein Hafen ein Ausbesserungshafen ist. Während des ganzen Tages fördert man Steine oder richtet Balken zu; hier herrscht die Picke, dort der Hammer. Beständiges Bearbeiten von Eichenholz und Granit. Am Abend fällt man vor Ermüdung am und schläft wie Blei. Auf harte Arbeit folgt ein fester Schlaf.

Eines Abends, im Anfang Mai, betrat Mess Lethierry, nachdem er während einiger Augenblicke dem Aufsteigen des Mondes über den Bäumen zugesehen und Deruchette’s Schritt, welche auf Kosten der Nacht allein in dem Garten der Bravées spazieren ging, belauscht hatte, sein Zimmer am Hafen und legte sich zu Bette. Douce und Grâce schliefen schon, und – Deruchette ausgenommen – das ganze Haus. Ueberhaupt hatte sich schon Alles in St. Sampson hingelegt. Alle Thüren und Thore waren geschlossen, Niemand ging mehr in den Straßen. Einige wenige Lichter brannten wie blinzelnde Augen, welche sich schließen wollen, hier und da hinter den Dachfenstern und verkündeten das Zubettegehen der Dienstboten. Schon hatte es neun Uhr von dem alten, mit Epheu bedeckten, römischen Thurme geschlagen, der mit der Kirche zu St. Breade auf Jersey die Eigenthümlichkeit theilt, daß er als Jahreszahl vier Eins trägt: 1111, was so viel, als Elfhundertelf heißen soll.

Die Volkstümlichkeit von Mess Lethierry zu St. Sampson hing mit seinem Erfolge zusammen. Sobald die Erfolge aufhörten, hatte sich die Verlassenheit eingestellt. Die hübschen Söhne der Familie vermieden Deruchette. Die Einsamkeit um die Bravées war jetzt so groß, daß man hier nicht einmal das kleine und doch so große Localereigniß erfahren hatte, welches an jenem Tage ganz St. Sampson in Aufregung versetzte. Der Vorsteher der Pfarre, der ehrenwerthe Joe Ebenezer Caudray, war reich geworden. Sein Onkel, Seine Herrlichkeit der Dekan von St. Asaph, war so eben zu London verstorben. Die Postschaluppe Cashmere, welche an demselben Morgen von England angekommen war und deren Flagge man auf der Rhede des St. Peterhafens wehen sah, hatte diese Nachricht mitgebracht; der Cashmere sollte am Mittag des folgenden Tages nach Southampton zurückkehren und, wie man erzählte, den ehrenwerthen Vorsteher mit sich nehmen, der ohne Verzug nach England zur officiellen Oeffnung des Testaments gerufen wurde, ganz abgesehen von den andern Drängnissen einer großen, in Empfang zu nehmenden Erbschaft. Den ganzen Tag hindurch hatte St. Sampson nur davon gesprochen. Der Cashmere, der ehrenwerthe Ebenezer, der Tod seines Onkels, sein Reichthum, seine Abreise und die Möglichkeit seiner Beförderung für die Zukunft bildeten den Gegenstand aller Gespräche. Nur ein einziges Haus war davon nicht unterrichtet und nahm nicht Theil; das der Bravées.

Mess Lethierry hatte sich völlig angekleidet auf seine Hängematte geworfen.

Seit dem Unglück der Durande warf er sich stets auf die Hängematte. Der Gefangene streckt sich auf seine Pritsche aus und Mess Lethierry war der Gefangene seines Kummers. Er legte sich hin; dann trat Ruhe ein, – Erholung, – ein Stillstand in seinen Gedanken. Schlief er? Nein. Wachte er? Nein. In Wahrheit befand er sich seit zwei und einem halben Monate – es waren zwei und ein halber Monat seit dem Untergange der Durande verflossen – in dem Zustande eines Nachtwandlers. Er hatte sich noch nicht wieder gefaßt und lebte in jener Verwirrung und Zerstreuung, welche nur die kennen, welche große Bekümmernisse durchgemacht haben. Seine Betrachtungen waren keine Gedanken, sein Schlaf keine Ruhe. Am Tage wachte er nicht und Nachts schlief er nicht; am Tage stand er nur, in der Nacht lag er nur, das war Alles. Lag er auf seiner Hängematte, so kam etwas Vergessen über ihn und er nannte das Schlaf. Einbildungen durchflogen ihn, nächtliche Wolken voll verwirrter Gesichter durchschwirrten sein Gehirn; der Kaiser Napoleon dictirte ihm seine Erinnerungen, es gab mehrere Deruchetten, sonderbare Vögel lebten auf den Bäumen, die Straßen zu Lons-le-Saulnier wurden zu Schlangen. Das Alpdrücken faßte ihn mit Verzweiflung. Er brachte seine Nächte mit Träumen und seine Tage mit Dämmern hin.

Bisweilen blieb er den ganzen Nachmittag hindurch unbeweglich an seinem Stubenfenster, welches – wie man sich erinnern wird – auf den Hafen hinausging, mit gesenktem Kopfe auf beide Fäuste gestützt, die Ellbogen gegen die Stirne gedrückt, der ganzen Welt den Rücken zukehrend, das Auge auf den alten Eisenring geheftet, welcher in die Mauer seines Hauses einige Fuß von seinem Fenster eingelassen war und an dem sonst die Durande befestigt wurde. Er betrachtete den Rost, welcher diesen Ring allmälig überzog.

Er war zur reinen Maschine herabgesunken.

Es befand sich ein Widerspruch in dieser Natur; er bildete ein Gemisch wie das Meer, aus welchem er war, ja, dessen Geschöpf man ihn eigentlich nennen konnte. Mess Lethierry betete nie.

So lange er glücklich war, existirte Gott, so zu sagen, mit Fleisch und Knochen für ihn; er sprach mit ihm, verpfändete ihm sein Wort und gab ihm fast von Zeit zu Zeit einen Händedruck. Aber in seinem Unglücke verschwand Gott gänzlich, wie immer, wenn man sich einen guten Gott geschaffen hat, der ein guter Mensch ist.

In diesem Seelenzustande gab es für ihn nur eine angenehme Erscheinung, Deruchette’s Lächeln. Außer diesem Lächeln war Alles für ihn schwarz.

Seit einiger Zeit war, ohne Zweifel in Folge des Verlustes der Durande, dessen Schlag sie mitgefühlt hatte, dies reizende Lächeln Deruchette’s seltener geworden. Sie schien in Gedanken versunken, ihr kindliches Spielen und Kosen hatte aufgehört. Morgens sah man sie nicht mehr bei Tagesanbruch einen Knix machen und der aufgehenden Sonne ein fröhliches »Guten Morgen!« zurufen! oder ein »Bitte, treten Sie näher.« Auf Augenblicke hatte sie sogar ein sehr ernstes Aussehen, eine traurige Erscheinung bei einem so sanften Wesen. Trotzdem gab sie sich alle Mühe, um Mess Lethierry anzulächeln und aufzuheitern, aber ihr Frohsinn minderte sich von Tag zu Tag und bedeckte sich mit Staub, wie die Flügel eines durchbohrten Schmetterlings. Außerdem schien sie sich, sei es aus Gram über den Kummer ihres Onkels, denn es giebt rückwirkende Schmerzen, sei es aus anderen Gründen, jetzt sehr zur Religion zu neigen. Zur Zeit des alten Pfarrers, Jaquemin Herode, ging sie, wie man weiß, kaum viermal jährlich in die Kirche; jetzt hingegen sehr oft. Sie fehlte bei keinem Gottesdienste, weder am Sonntage, noch am Donnerstage. Die frommen Seelen der Gemeinde sahen mit Befriedigung diese Aenderung. Denn es ist ein großes Glück für ein junges Mädchen, welches so vielen Gefahren von Seiten der Menschen ausgesetzt ist, wenn es sich zu Gott kehrt.

Die armen Eltern sind dann wenigstens vor Liebeleien gesichert.

Alle Abende, wenn es das Wetter erlaubt, ging sie eine oder zwei Stunden in dem Garten der Bravées spazieren und war dabei fast ebenso nachdenkend, wie Mess Lethierry, und immer allein. Sie ging zuletzt zu Bette; trotzdem beobachteten Douce und Grâce sie immer etwas mit dem Instincte der Wachsamkeit, welcher allen Dienstboten eigen ist; Spionieren macht das Dienen kurzweilig.

Bei dem umschleierten Zustande, in welchem sich sein Geist befand, entgingen diese kleinen Veränderungen in Deruchette’s Wesen Mess Lethierry. Außerdem war er nicht zum Hofmeister geboren. Er bemerkte selbst Deruchette’s Pünktlichkeit im Kirchengehen nicht.

Es war übrigens seit etwa einer Woche mit Mess Lethierry eine Veränderung vorgegangen; die Träumerei seiner ersten Verzweiflung war einer gewissen Zerstreuung gewichen; sein Geist war weniger traurig und weniger thatenlos; er war immer ernst, aber nicht mehr finster; ein gewisses Verständniß der Thatsachen und Ereignisse kam ihm wieder und er begann etwas davon zu spüren, was man den Rücktritt in die Wirklichkeit nennen könnte.

So hörte er am Tage in dem niedrigen Saale die Worte der Leute nicht, aber er verstand sie. Grâce kam eines Morgens ganz triumphirend zu Deruchette und theilte ihr mit, daß Mess Lethierry den Band einer Zeitung geöffnet habe.

Sich wieder für die Wirklichkeit interessiren, ist ein gutes Zeichen. Es verräth die Genesung.

Die Rückkehr zur Wirklichkeit hatte bei ihm folgende Veranlassung:

Eines Nachmittags gegen den fünfzehnten oder zwanzigsten April, hatte man an der Thür des niedrigen Saales der Bravées das zweimalige Klopfen des Briefträgers vernommen. Douce hatte geöffnet: es war in der That ein Brief.

Dieser Brief kam über’s Meer, war an Mess Lethierry adressirt und trug den Poststempel Lisboa.

Douce brachte ihn an Mess Lethierry, welcher sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte. Er nahm ihr den Brief ab und legte ihn mechanisch auf den Tisch, ohne ihn anzusehen. So blieb er eine gute Woche auf dem Tische ungeöffnet liegen.

Eines Morgens sagte endlich Douce zu ihm:

– Soll der Staub auf Ihrem Briefe abgewischt werden?

Lethierry schien zu erwachen und antwortete: Es ist gut.

Er öffnete den Brief und las Folgendes:

 

»Auf hoher See am zehnten März.
»Mess Lethierry, aus St.-Sampson.

»Sie werden mit Vergnügen von mir hören:

»Ich bin auf dem Tamaulipas; auf einer Reise, von welcher ich nicht zurückkehren werde. Unter der Schiffsmannschaft befindet sich der Matrose Ahier-Tostevin aus Guernesey, der wieder nach Hause fährt und Manches zu erzählen haben wird. Ich benutze die Begegnung mit dem Schiffe Hernan Cortez, welches nach Lissabon fährt, um Ihnen diesen Brief zukommen zu lassen.

»Wundern Sie Sich. Ich bin ein ehrlicher Mensch.

»Ebenso ehrlich, als Sieur Clubin.

»Ich muß glauben, daß Sie wissen, was sich ereignet hat; trotzdem ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn ich es Ihnen mittheile.

»Also:

»Ich habe Ihnen Ihre Gelder wiedergegeben.

»Ich hatte mir von Ihnen auf etwas unedle Weise fünfzigtausend Francs geliehen. Bevor ich St. Malo verließ, übergab ich Ihrem Vertrauensmann, Sieur Clubin, für Sie drei Banknoten, jede zu tausend Pfund, was also fünfundsiebzigtausend Francs macht. Ohne Zweifel wird Ihnen diese Rückzahlung genügen.

»Sieur Clubin nahm Ihre Interessen und Ihr Geld mit großer Eile. Er schien mir sehr eifrig, weshalb ich Sie davon benachrichtige.

»Ihr anderer Vertrauensmann,
»Rantaine.«

» Nachschrift. Sieur Clubin hatte einen Revolver, deshalb habe ich keine Quittung.«

Beim Berühren eines Zitteraales oder einer geladenen Leydener Flasche fühlt man ungefähr ein Aehnliches, als was Mess Lethierry beim Lesen dieses Briefes empfand.

Dieses Couvert, dieses viermal zusammengelegte Blatt Papier, auf welches er zuerst so wenig geachtet hatte, mußte auf ihn eine tiefe Erschütterung ausüben.

Er erkannte die Schrift und die Unterschrift. Was die Sache anbetrifft, so verstand er zuerst Nichts.

Diese Erschütterung brachte so zu sagen, seinen Geist wieder auf die Beine.

Die Geschichte mit den fünfundsiebzigtausend Francs, welche Rantaine Clubin anvertraut hatte, war ein Räthsel und deshalb die nützlichste Seite der Erschütterung; denn sie zwang Lethierry’s Gehirn zum Arbeiten. Eine Vermuthung aufstellen, ist für den Verstand eine gesunde Beschäftigung. Vernunft und Logik werden von Neuem geweckt.

Seit einiger Zeit beschäftigte sich die öffentliche Meinung zu Guernesey wieder mit der Beurtheilung Clubin’s, jenes ehrbaren Mannes, welcher so viele Jahre hindurch und so allgemein in hoher Achtung gestanden hatte. Man fragte sich, begann zu zweifeln wettete für und gegen und stellte eigenthümliche Ansichten auf. Man begann sich über Clubin aufzuklären, das Für und Wider seines Charakters hervorzuheben.

Eine gerichtliche Erkundigung, was aus dem Küstenwächter 619 geworden sei, fand zu St. Malo statt. Das scharfe Auge des Gesetzes hatte einen falschen Weg eingeschlagen, was ihm oft passirt. Es ging nämlich von der Ansicht aus, daß der Küstenwächter von Zuela angeworben und auf dem Tamaulipas nach Chili eingeschifft sei. Diese geistreiche Vermuthung hatte starke Irrthümer nach sich gezogen und die Kurzsichtigkeit der Gerechtigkeit Rantaine nicht einmal bemerkt, aber dafür hatten die Untersuchungsrichter unterwegs andere Fährten aufgefunden und die dunkle Geschichte dadurch noch verwickelter gemacht, indem auch Clubin in das Räthsel mit hineingezogen und eine Gleichzeitigkeit, ja selbst die Möglichkeit in einer Beziehung zwischen der Abfahrt des Tamaulipas und des Verlustes der Durande festgestellt wurde. Im Gasthause am Dinan-Thore, wo Clubin unbekannt zu sein glaubte, hatte man ihn erkannt; der Gastwirth hatte geplaudert: Clubin habe eine Flasche Branntwein gekauft. Für wen? Der Waffenschmied in der Straße St.-Vincent erzählte, Clubin habe bei ihm einen Revolver gekauft. Gegen wen? Clubin hatte keine Erklärung abgegeben. Der Capitain Gertrais-Gaboureau hatte gesprochen. Clubin hatte abfahren wollen, obwohl gewarnt und wissend, daß er in den Nebel ging. Die Bemannung der Durande hatte gesprochen. Die Beladung war mangelhaft und das Takelwerk schlecht, leicht zu verstehende Nachlässigkeiten, wenn der Capitain das Schiff zu Grunde richten will. Die Passagiere aus Guernesey hatten erzählt, Clubin habe auf den Hanois zu stranden geglaubt, die Leute aus Torteval wußten, daß Clubin dort einige Tage vor dem Verlust der Durande angekommen und nach Plainmont, in der Nähe der Hanois, gegangen sei. Er trug ein Felleisen. Er war damit fortgegangen, aber ohne dasselbe zurückgekommen. Die Grünlinge hatten gesprochen und ihre Geschichte schien mit Clubin’s Verschwinden zusammenzupassen, sobald man die Rückkehrenden für Pascher halten konnte. Endlich hatte auch das Geisterhaus zu Plainmont selbst geplaudert: entschiedene Leute waren hineingestiegen, und was hatten sie daselbst gefunden? Gerade Clubin’s Felleisen. Das Zollamt von Torteval hatte es mit Beschlag belegen und öffnen lassen. Es enthielt Mundvorrath, ein Fernrohr, einen Chronometer, Kleider und Wäsche mit Clubin’s Anfangsbuchstaben. Alles dies baute sich in den Gemüthern der Bewohner von St. Malo und Guernesey zusammen auf und bildete sich zu einem vollen Betruge aus. Man brachte verwirrte Angaben zusammen; man constatirte mit einer eigenthümlichen Verachtung alle Angaben; sie bildeten einen zusammenhängenden Rahmen. Der Zufall des Nebels, die verdächtige Nachlässigkeit in der Auftakelung, die Flasche Branntwein, der trunkene Steuermann, der Capitain an Stelle des Steuermanns und der zum Wenigsten sehr ungeschickte Barrenschlag, der Heldenmuth, auf der Brandung zu bleiben, wurde zur Gaunerei. Clubin hatte sich übrigens in der Klippe getäuscht. Sobald die Absicht eines Betruges festgestellt war, verstand man auch die Wahl der Hanois, da die Küste leicht durch Schwimmen zu gewinnen war, und sie boten Gelegenheit zum Aufenthalt im Geisterhause, um eine Gelegenheit zur Flucht erwarten zu können. Das Felleisen vollendete den Beweis. Durch welches Band dies Abenteuer aber mit dem andern, dem des Küstenwächters, zusammenhing, begriff man nicht. Man ahnte einen Zusammenhang; weiter nichts. Man vermuthete, seitens dieses Menschen, dem Küstenwächter Nummer 619, ein ganzes Trauerspiel, in welchem Clubin vielleicht nicht mitspielte; man bemerkte ihn aber hinter den Coulissen.

Alles klärte sich nicht durch den Betrug auf. Wozu diente der Revolver? Wahrscheinlich gehörte er zu der andern Geschichte.

Das Gefühl des Volkes ist fein und gerecht und stellt wunderbar richtig die Wahrheit aus einzelnen Theilen und Stücken wieder her; nur über die Ursachen des wahrscheinlichen Betruges herrschte tiefe Ungewißheit.

Alles hielt und paßte zusammen; aber der Grund fehlte.

Man giebt kein Schiff aus reinem Vergnügen auf und unterzieht sich nicht allen Gefahren des Nebels, der Klippe, des Schwimmens und der Flucht ohne Interesse. Welches Interesse hatte aber Clubin haben können?

Man sah seine That, aber nicht seinen Beweggrund.

Deshalb zweifelten Viele. Wo kein Grund ist, scheint auch keine That zu sein.

Die Lücke war groß, aber Rantaine’s Brief füllte sie aus; denn er gab Clubin’s Beweggrund an: Clubin wollte fünfundsiebzigtausend Francs stehlen.

Rantaine war der deus ex machina, der aus den Wolken mit der Leuchte in der Hand herabsteigt.

Sein Brief gab die völlige Aufklärung.

Er erklärte Alles und gab außerdem noch einen Zeugen an, Ahier-Tostevin.

Er entschied auch über die Benutzung des Revolvers. Ohne Zweifel war Rantaine vollkommen unterrichtet, denn sein Brief berührte Alles sehr genau.

Keine Möglichkeit gab es, um Clubin’s Schlechtigkeit zu verringern. Er hatte den Schiffbruch vorher ausgesonnen, der Beweis dafür war das in dem Geisterhause gefundene Felleisen. Sollte man ihn wirklich für unschuldig und den Schiffbruch für zufällig halten, hätte er dann nicht im letzten Augenblicke, als er entschlossen war, sich aus der Klippe zu opfern, die fünfundsiebzigtausend Francs für Mess Lethierry den Leuten übergeben müssen, welche sich in der Schaluppe retteten? Die überzeugende Wahrheit brach hervor. Was war jetzt aus Clubin geworden? Wahrscheinlich war er das Opfer seines Irrthums geworden und ohne Zweifel auf der Douvre-Klippe untergegangen.

Das Aufbauen dieser, wie man sieht, der Wahrheit sehr nahekommenden Vermuthungen beschäftigte Mess Lethierry mehrere Tage hindurch. Rantaine’s Brief erwies ihm den Dienst, ihn zum Nachdenken zu zwingen. Zuerst durchzitterte ihn Ueberraschung, dann machte er die Anstrengung, sich an’s Ueberlegen zu geben und hierauf die noch schwierigere, Erkundigungen einzuziehen. Er mußte Unterhaltungen aufnehmen, ja sie selbst suchen. Nach Verlauf von acht Tagen war er bis auf einen gewissen Punkt wieder praktisch geworden, sein Geist hatte sich wieder zusammengerafft, und war fast geheilt, jedenfalls aus seinem verwirrten Zustande herausgetreten.

Rantaine’s Brief gab zwar zu, daß Mess Lethierry einige Hoffnung auf Wiedererstattung von dieser Seite her hätte unterhalten können, zerstörte aber gleichzeitig seine letzte Zuversicht.

Sie fügte zu dem Unglück der Durande diesen neuen Schiffbruch der fünfundsiebzigtausend Francs, brachte ihn für einen Augenblick wieder in den Besitz dieses Geldes, um ihn dessen ganzen Verlust desto härter fühlen zu lassen und zeigte ihm den vollen Abgrund seines Unglücks.

Er begann – was er seit zwei Monaten nicht gethan hatte – sich wieder damit zu beschäftigen, was mit seinem Hause, und was mit ihm werden, was er anfangen sollte. Kleinliche, tausendspitzige Sorgen quälten ihn, ein Zustand, fast ärger als der der Verzweiflung. Das geschehene Unglück läßt sich tragen, nicht das, was man hereinbrechen sieht. Voll drückt es nieder, getheilt martert es. Untergehen ist nichts, höchstens großes Feuer, aber Verarmen ist ein kleines Feuer.

An dem Abend, von dem wir sprachen, einem der ersten im Mai, ließ Lethierry beim Mondenschein Deruchette in dem Garten umherwandern und legte sich, trauriger als je, zu Bette.

So manche unangenehme und ungefällige Kleinigkeiten, die Zugaben zum Verluste des Vermögens, alle diese Sorgen dritter Ordnung, durchflogen seinen Geist. Was sollte er thun? Was sollte aus ihm werden? Welche Opfer konnte er Deruchette auferlegen? Wen sollte er fortschicken, Douce oder Grâce? Sollte er die Bravées verkaufen? Würde er nicht die Insel verlassen müssen? Da nichts sein, wo man Alles gewesen ist, ist in der That nicht zu ertragen.

Und war das Alles?! Dazu kamen die Erinnerungen an die Ueberfahrten, welche Frankreich mit den Inseln verbanden, an das Fortgehen Dienstags und die Rückkunft Freitags, an die Menge auf dem Quai, an jene mächtigen Befrachtungen, jenen Fleiß, jenes Aufblühen, jene gerade und stolze Schifffahrt, jene Maschine, auf welche der Mensch seinen Willen überträgt, jenen allmächtigen Dampfkessel, jenen Rauch, jene Wirklichkeit!

Diese ganze Fülle des Bedauerns marterte Lethierry. Niemals vielleicht hatte er seinen Verlust bitterer empfunden. Eine gewisse Betäubung folgt solchen scharfen Anfällen. Unter dieser drückenden Traurigkeit schlummerte er ein.

Er blieb ungefähr zwei Stunden mit geschlossenen Augen, etwas schlafend, viel träumend und fieberhaft. Solche Erschlaffung verdeckt eine dunkle, sehr anstrengende Arbeit des Gehirns. Gegen Mitternacht, etwas früher oder später, schüttelte er diesen Schlaf ab. Er wachte auf, öffnete die Augen und sah durch das seiner Hängematte gegenüberliegende Fenster etwas Außergewöhnliches.

Eine Gestalt war vor seinem Fenster. Eine unerhörte Gestalt. Der Schlot eines Dampfers.

Mess Lethierry setzte sich mit einem Ruck aufrecht. Die Hängematte schwankte wie durch das Rütteln eines Sturmes. Lethierry blickte hinaus. In dem Fenster lag eine geisterhafte Erscheinung. Der hell vom Mond beschienene Hafen zeichnete sich auf den Gläsern ab und auf dieser Helle schnitt sich dicht beim Hause gerade, rund und schwarz ein prächtiges Schattenbild aus.

Die Röhre einer Maschine war da.

Lethierry sprang aus der Hängematte, lief an das Fenster, schob den Riegel zurück, bog sich nach außen und erkannte den Gegenstand.

Der Rauchfang der Durande lag vor ihm, sie lag auf ihrem alten Platze.

Vier Ketten hielten den Rauchfang an Bord eines Schiffes fest, in welchem man eine Masse mit undeutlichen Umrissen erkannte.

Lethierry bebte zurück, kehrte dem Fenster den Rücken zu und fiel sitzend auf die Hängematte zurück.

Er drehte sich um und sah die Erscheinung wieder.

Einen Augenblick später war er, eine Laterne in der Hand, mit Blitzesschnelle auf dem Quai.

An einem alten Ankerringe der Durande war eine Barke befestigt, welche etwas nach hinten zu einen massiven Block trug, aus dem der Schornstein gerade vor dem Fenster der Bravées in die Höhe stieg. Der Vordertheil der Barke verlängerte sich außen über die Mauerecke des Hauses hinaus, mit dem Quai in gleicher Richtung.

Niemand war in der Barke.

Diese Barke hatte eine so eigenthümliche Form, daß ganz Guernesey sie hätte beschreiben können. Es war der Rumpf.

Lethierry sprang hinein und eilte auf die Masse zu, welche er jenseits des Wassers sah. Es war die Maschine.

Sie war da, ganz, vollständig, unversehrt, fest auf ihrem eisernen Boden ruhend; der Dampfkessel hatte alle seine Scheidewände; der Radbaum war neben ihm befestigt; die Pumpe an ihrem Platze; nichts fehlte.

Lethierry untersuchte die Maschine.

Die Laterne und der Mondschein halfen ihm dabei.

Er untersuchte den Mechanismus.

Er sah die beiden Kasten, welche an der Seite waren, betrachtete den Radbaum, ging in die Kabine, welche leer war, dann zu der Maschine zurück, berührte sie, steckte seinen Kopf in den Kessel und kniete nieder, um hineinsehen zu können.

Er hielt seine Laterne in die Feuerung, deren Licht den ganzen Mechanismus erhellte und fast die Täuschung einer geheizten Maschine hervorrief.

Dann begann er zu lachen und sich umdrehend, das Auge auf die Maschine gefesselt und die Arme gegen den Schlot ausgestreckt, rief er: Zur Hülfe!

Die Hafenglocke befand sich einige Schritte von ihm auf dem Quai, er lief hin, erfaßte die Kette und begann heftig zu läuten.

————

Zweites Capitel. Noch einmal die Hafenglocke.

Gilliatt war in der That nach einer abenteuerlosen, aber bei der schweren Ladung der Barke etwas langsamen Fahrt, nach Anbruch der Nacht, näher an zehn als an neun Uhr, in St. Sampson angekommen.

Gilliatt hatte die Stunde berechnet, es war zur Zeit der halben Fluth, so daß man bei genügendem Mondschein und Wasser in den Hafen gelangen konnte.

Der kleine Hafen war in vollständiger Ruhe. Einige Schiffe lagen dort vor Anker, die Geytaue auf den Raaen, die Mastseile angelegt und ohne Leuchten. Im Hintergrunde bemerkte man einige Barken, welche ausgebessert werden sollten, trocken auf den Werften liegend.

Sobald Gilliatt durch die Brandung gefahren war, hatte er den Hafen und den Quai untersucht. Nirgends brannte Licht, weder in den Bravées noch anderswo. Kein Mensch ließ sich mehr blicken, vielleicht mit Ausnahme eines Einzigen, der in das Pfarrhaus hineinging oder es verließ. Zudem war es noch nicht sicher, ob es überhaupt eine Person war, da die Nacht Alles, was sie malt, vertuscht und der Mondschein nie etwas Anderes als Unentschiedenes zeigt. Die Entfernung vermehrte noch die Dunkelheit. Außerdem lag das Pfarrhaus auf der andern Seite des Hafens, an einer Stelle, wo sich heute ein offener Raum befindet.

Gilliatt war schweigend an den Bravées gelandet und hatte die Barke an dem Ringe der Durande unter Mess Lethierry’s Fenster befestigt.

Dann war er über Bord auf das Land gesprungen.

Nachdem er die Barke am Quai angelegt hatte, ging er um das Haus, hierauf eine Straße entlang, dann noch eine, betrachtete nicht einmal den Seitenweg, welcher nach Bû de la Rue führte, und blieb nach einigen Minuten in der Mauerecke stehen, wo sich wilde Malven mit rosenfarbnen Blumen im Juni, Stechpalmen, Epheu und Nesseln finden. Von dort hatte er, unter Brombeeren verborgen und auf einem Steine sitzend, oft in den Sommertagen lange Stunden und ganze Nächte hindurch über diese Mauer, welche so niedrig war, daß man sie zu übersteigen versuchen konnte, den Garten der Bravées und durch die Baumäste zwei Fenster eines Zimmers in dem Hause betrachtet. Er fand seinen Stein wieder, seine Brombeeren, die immer gleich niedrige Mauer, den noch immer dunkeln Winkel, und wie ein Raubthier, welches in seinen Schlupfwinkel zurückkehrt, verschwand er mehr schleichend als gehend darin. Da er erst einmal da saß, machte er keine Bewegung mehr. Er betrachtete nur; er sah den Garten, die Gänge, die Gebüsche, die Blumenbeete, das Haus und die beiden Zimmerfenster wieder. Der Mond zeigte ihm dieses Bild. – Es ist schrecklich, daß man athmen muß. Er that Alles, was in seinen Kräften stand, um sogar das Athmen zu verhindern.

Es war ihm, als wenn er ein Geisterparadies sähe. Er hatte Furcht, daß Alles davonfliegen könnte. Fast unmöglich war es, daß diese Dinge vor seinen Augen wahr sein sollten, und wenn sie dort sich befanden, so würden sie auch plötzlich wieder verschwinden, wie es bei allen göttlichen Dingen der Fall ist. Ein Hauch und Alles würde verfliegen. Gilliatt zitterte davor.

Ganz nahe vor ihm, an dem Ende eines Baumganges befand sich in dem Garten eine grünangestrichene Holzbank. Man erinnert sich dieser Bank.

Gilliatt betrachtete die beiden Fenster und dachte daran, daß vielleicht Jemand hinter ihnen schliefe. Er war auf diesen Fleck gebannt; er hätte lieber sterben, als fortgehen mögen. Er dachte an das Athmen, welches eine Brust schwellte. Sie, dieses Wunder, dieses Licht in der Dunkelheit, dieses Wesen, das ganz seinen Geist durchwogte; sie war da! Er dachte an sie, die ihm so nahe und doch jetzt unerreichbar war. Seine Seele war im Himmel.

Der Himmel ist ebenso gut für das Herz eines armen Menschen, wie Gilliatt, als für das eines Millionärs geschaffen. Auf einer gewissen Stufe der Leidenschaft ist jeder Mensch dieser Verblendung unterworfen. Ist es eine rauhe und ursprüngliche Seele, so ist noch mehr Grund dazu vorhanden. Dann tritt noch die Wildheit zu dem Traume.

Das Entzücken ist eine zu große Fülle, welche wie jede andere überfluthet. Diese Fenster sehen, war für Gilliatt fast zu viel.

Plötzlich sah er sie selbst.

Aus den Zweigen eines durch den Frühling schon starkbelaubten Gebüsches trat mit einer unbeschreibbaren, geisterhaften und himmlischen Ruhe eine Gestalt, ein Kleid, ein göttliches Gesicht, fast eine Helle unter dem Monde hervor.

Gilliatt fühlte sich schwach werden, es war Deruchette.

Deruchette näherte sich, blieb stehen, that einige Schritte, um sich zu entfernen, blieb wieder stehen, kam dann zurück und setzte sich auf die Holzbank. Der Mond schien durch die Bäume, einige Wolken irrten zwischen den bleichen Sternen, die Stadt schlief. Deruchette beugte den Kopf mit den gedankenvollen Augen, welche etwas aufmerksam betrachteten; man sah ihr Gesicht von der Seite, der Kopf war fast unbedeckt, da die Mütze sich gelöst hatte und auf ihrem zarten Nacken die wogenden Haare sehen ließ; sie rollte mechanisch ein Haubenband um einen Finger, Halbschatten umgab ihre Marmorhände, ihr Kleid trug eine von jenen Farben, welche die Nacht weiß färbt; die Bäume bewegten sich, als wenn sie den Zauber, welcher sie umgab, verständen; man sah die Spitze eines ihrer Füße, ihre gesenkten Wimpern zeigten jenes unbestimmte Zucken, welches eine zurückgetretene Thräne oder einen zurückgedrängten Gedanken verräth; ihre Arme entfalteten die entzückende Unbestimmtheit, welche keinen Stützpunkt zu finden weiß; etwas Schwankendes mischte sich in ihre ganze Haltung; es war mehr ein Schein, als ein Licht, mehr eine Grazie, als eine Göttin; die Falten unten an ihrem Unterrocke waren ausgewählt schön, ihr anbetungswürdiges Gesicht sann jungfräulich nach. Sie befand sich ganz in seiner Nähe. Gilliatt hörte sie sogar athmen.

Tief im Verborgnen sang eine Nachtigall. Das Streichen des Windes durch die Zweige setzte die unbeschreibbare nächtliche Stille in Bewegung. Deruchette, schön und heilig, erschien in dieser Dämmerung wie die Blume in ihren Strahlen und Düften; dieser unendliche und weitverbreitete Reiz schwebte geheimnißvoll zu ihr und verdichtete sich bei ihr, so daß er sie ganz einnahm. Sie erschien als die Blumenseele dieses ganzen Schattens.

Dieser ganze, Deruchette umwogende Schatten drückte auf Gilliatt. Er war überwältigt. Was er empfand, läßt sich nicht durch Worte wiedergeben; die Bewegung ist immer neu und das Wort sagt immer dasselbe; daher die Unmöglichkeit, die Bewegung zu schildern. Es ist das Uebermaß des Zaubers, – Deruchette sehen, sie selbst, ihr Kleid, ihre Haube, ihr Band, welches sie um den Finger rollte, kann man sich so etwas vorstellen? War es möglich, neben ihr zu sein? Was sollte er jetzt thun? Dieser Zauber, sie zu sehen, betäubte ihn. Sie war da und er war hier! Seine Gedanken, geblendet und festgewurzelt, blieben auf diesem Geschöpfe, wie auf einem Karfunkel haften. Er betrachtete diesen Nacken und diese Haare; aber er sagte sich nicht einmal in Gedanken, daß er binnen Kurzem, morgen vielleicht das Recht haben würde, dieses Band zu lösen, diese Haube abzunehmen. So weit zu träumen, dieses Uebermaß von Kühnheit hätte er nicht einen Augenblick begriffen. Er glaubte zu sterben.

Aufstehen, die Mauer übersteigen, sich nähern, sagen »ich bin es«, mit Deruchette sprechen, dieser Gedanke kam ihm nicht. Und wäre er ihm gekommen, so hätte er sich geflüchtet. Wenn etwas einem Gedanken Aehnliches seinen Kopf durchzitterte, so war es das, daß Deruchette da war. Weiter verlangte er jetzt nichts; die Ewigkeit hätte beginnen können.

Ein Geräusch störte sie alle Beide; sie in ihrer Träumerei, ihn in seinem Entzücken.

Es ging Jemand im Garten. Wegen der Bäume konnte man nicht sehen, wer es war. Es war der Schritt eines Mannes.

Deruchette hob die Augen in die Höhe.

Die Schritte näherten sich und hörten dann auf. Der Gehende war so eben stehen geblieben. Er mußte ganz nahe sein. Der Pfad, in welchem die Bank war, verlor sich zwischen zwei dichten Gebüschen. Dort war dieser Mensch, an dieser Stelle, einige Schritte von der Bank.

Der Zufall hatte die dichtbelaubten Zweige derartig vertheilt, daß Deruchette, nicht aber Gilliatt ihn sehen konnte.

Der Mond zeichnete von dem Gebüsch bis zur Bank auf der Erde einen Schatten.

Gilliatt sah diesen Schatten.

Er betrachtete Deruchette.

Sie war ganz blaß. Ihr halbgeöffneter Mund hauchte einen Schrei der Ueberraschung. Sie hatte sich halb von der Bank erhoben und war wieder halb darauf zurückgefallen; in ihrer Stellung lag etwas von Flucht und von Bezauberung. Ihr Staunen war ein Entzücken voller Furcht. Auf ihren Lippen hatte sie fast ein strahlendes Lächeln und in ihren Augen leuchtende Thränen. Sie schien durch die Ankunft wie verklärt und nicht mehr der Erde angehörig. Ein Engel spiegelte sich in ihrem Blicke wieder.

Das Wesen, welches für Gilliatt nur ein Schatten war, sprach. Eine Stimme, sanft wie die eines Weibes und doch eine Mannesstimme, drang aus dem Gebüsch hervor. Gilliatt hörte folgende Worte:

– Mein Fräulein, ich sehe Sie jetzt jeden Sonntag und jeden Donnerstag; man sagte mir, daß Sie sonst nicht so oft kamen. – Man hat diese Bemerkung gemacht, ich bitte deshalb um Verzeihung. Ich habe nie zu Ihnen gesprochen, ich durfte nicht; heute spreche ich zu Ihnen, es ist meine Pflicht. Ich muß mich zuerst an Sie wenden. Der Cashmere fährt morgen ab; deshalb bin ich gekommen. Sie spazieren alle Abende in Ihrem Garten. Es wäre schlecht von mir, Ihre Gewohnheiten zu beobachten, wenn ich nicht eine bestimmte Absicht dabei hätte. Mein Fräulein, Sie sind arm; seit heute früh bin ich reich. Wollen Sie mich zu Ihrem Gatten?

Deruchette faltete ihre Hände, wie eine Bittende, und betrachtete den, der zu ihr sprach, stumm, mit festem Auge, zitternd vom Kopfe bis zu den Füßen.

Die Stimme fuhr fort:

– Ich liebe Sie. Gott hat das Herz des Menschen nicht dazu gemacht, daß es schweige. Es giebt für mich auf der Erde nur Ein Weib, das sind Sie. Ich denke an Sie, wie an eine Verheißung. Mein Glauben ist an Gott und meine Hoffnung in Ihnen. Sie sind mein Leben und schon mein Himmel.

– Mein Herr, antwortete Deruchette, es ist Niemand im Hause, um Ihnen zu antworten.

Die Stimme erhob sich vom Neuem:

– Ich habe diesen süßen Traum gehabt. Gott verbietet keine Träume. Sie machen auf mich den Eindruck einer Glorie. Ich liebe Sie leidenschaftlich. Die heilige Unschuld sind Sie. Ich weiß, daß jetzt die Stunde ist, in welcher man schläft; aber ich hatte nicht die Wahl eines andern Augenblicks. Erinnern Sie sich der Stelle in der heiligen Schrift, welche uns einmal vorgelesen wurde. Ich habe seitdem immer daran gedacht. Ich habe sie oft wiedergelesen. Der ehrwürdige Herode sagte zu mir: Du mußt eine reiche Frau haben. Ich antwortete ihm: Nein, ich muß eine arme Frau haben. Mein Fräulein, ich spreche zu Ihnen, ohne mich zu nähern, ich werde sogar zurücktreten, wenn Sie nicht wollen, daß mein Schatten Ihre Füße berührt. Sie sind die Herrscherin; Sie werden zu mir kommen, wenn Sie wollen. Ich liebe und warte. Sie sind die lebende Gestalt des Segens.

– Mein Herr, stammelte Deruchette, ich wußte nicht, daß man mich Sonntags und Donnerstags bemerkte.

Die Stimme fuhr fort:

– Man vermag nichts gegen das Ueberirdische. Das ganze Gesetz ist Liebe. Die Heirath ist Kanaan. Sie sind die verheißene Schönheit. O höchste Anmuth, ich grüße Sie.

Deruchette antwortete:

– Ich glaubte nichts Schlechteres zu thun, als alle Andern, welche ihre Pflicht thun.

Die Stimme sprach weiter:

– Gott hat seinen Willen in die Blumen, die Morgenröthe, den Frühling gelegt und er will, daß man liebt. Sie sind schön in dieser heiligen Dunkelheit der Nacht. Dieser Garten ist von Ihnen gepflanzt, und in seinen Düften ruht etwas von Ihrem Odem. Mein Fräulein, die Begegnungen der Seele hängen nicht von sich ab. Es ist nicht unser Fehler. Sie waren da, ich war da, weiter nichts. Ich habe nichts gethan, als gefühlt, daß ich Sie liebe. Bisweilen haben sich meine Augen zu Ihnen erhoben. Ich habe Unrecht gethan, aber was sollte ich thun? Indem ich Sie ansah, kam Alles. Man kann es nicht verhindern. Es giebt einen geheimnißvollen Willen, der über uns ist. Der erste Tempel ist das Herz. Ihre Seele in meinem Hause haben, nach diesem irdischen Paradiese sehne ich mich; stimmen Sie ein? So lange ich arm war, habe ich nichts gesagt. Ich weiß Ihr Alter. Sie sind einundzwanzig, ich sechsundzwanzig Jahre. Ich reise morgen ab, wenn Sie mich zurückweisen, für immer. Seien Sie meine Verlobte, wollen Sie? Meine Augen haben schon mehr als einmal wider meinen Willen den Ihrigen diese Frage vorgelegt. Ich liebe Sie, antworten Sie mir. Ich werde mit Ihrem Onkel sprechen, sobald er mich empfangen kann. Zuerst aber wende ich mich an Sie. Oder könnten Sie mich nicht lieben?

Deruchette neigte den Kopf und murmelte:

– O! Ich bete ihn an!

Sie sagte das so leise, daß nur Gilliatt es hörte.

Sie stand fortwährend mit gebeugtem Haupte; als wenn das Gesicht im Schatten auch den Gedanken beschatten solle.

Eine Pause entstand. Die Blätter an den Bäumen bewegten sich nicht. Es war ein ernster und stiller Augenblick, in welchem der Schlummer der Dinge sich mit dem Schlummer der Wesen vereinte und die Nacht den Herzschlag der Natur zu hören schien. Aus dieser Ruhe erhob sich, wie eine Harmonie, welche das Schweigen vervollständigt, das unendliche Rollen des Meeres.

Die Stimme begann wieder:

– Mein Fräulein!

Deruchette zitterte.

Die Stimme fuhr fort:

– Ach! Ich warte.

– Worauf warten Sie?

– Auf Ihre Antwort.

– Gott hat die Antwort gehört, sagte Deruchette.

Dann wurde die Stimme beinahe feierlich und zugleich sanfter, als je. Folgende Worte drangen aus dem Dickichte, wie aus einem feurigen Busche hervor:

– Du bist meine Verlobte. Erhebe Dich und komme. Möge der blaue Sternenhimmel dieser unserer Verlobung beiwohnen und möge sich unser erster Kuß mit dem Firmamente vermischen!

Deruchette erhob sich und blieb einen Augenblick unbeweglich, den Blick vor sich geheftet; ohne Zweifel auf einen andern Blick wartend. Dann, mit langsamen Schritten, den Kopf erhoben, die Arme hängend und die Finger ausgestreckt, als wenn man auf einer unbekannten Stütze vorwärts schreitet, ging sie auf das Gebüsch zu und verschwand daselbst.

Einen Augenblick später befanden sich auf dem Sande anstatt eines Schattens zwei; sie gingen in einander über und Gilliatt bemerkte zu seinen Füßen die Umarmung dieser beiden Schatten.

Die Zeit enteilt von uns, gleich einer Sanduhr, ohne daß wir diese Flucht fühlen; namentlich in gewissen Augenblicken höchster Seligkeit. Dies Paar einerseits, welches diesen Zeugen nicht vermuthete und ihn nicht sah; dieser Zeuge andererseits, welcher dies Paar nicht sah, aber seine Gegenwart wußte, – wie viele Minuten blieben sie so, in dieser geheimnißvollen Spannung? Unmöglich ist es, dies zu sagen. Plötzlich erscholl ein entfernter Lärm, eine Stimme rief: Zur Hülfe! Die Hafenglocke ertönte. Dieses Geräusch vernahm wahrscheinlich das trunkene und himmlische Glück nicht.

Die Glocke fuhr fort zu läuten. Hätte Jemand Gilliatt in dem Mauerwinkel gesucht, so hätte er ihn nicht gefunden.