IV. Heiterkeit.

Nichts desto weniger haben die jungen Mädchen dieses ernste Haus auch mit reizenden Erinnerungen erfüllt.

Zu gewissen Stunden blitzte die Kindheit in diesem Kloster. Wenn die Erholungsstunde schlug, so drehte sich eine Thür in ihren Angeln. Die Vögel dachten: »Gut! Jetzt kommen die Kinder!« Ein Strom der Jugend ergoß sich über den Garten. Strahlende Gesichter, weiße Stirnen, treuherzige Augen voll heiteren Lichts, alle Arten Morgenröthen zerstreuten sich in diesem Dunkel.

Nach den Psalmen, Singen, Beten, dem Glockenläuten, dem Gottesdienst, plötzlich dieses Gesumme kleiner Mädchen, sanfter noch als das Summen von Bienen. Der Bienenkorb der Freude öffnete sich und jedes Bienchen brachte seinen Honig freudig herbei. Man spielte, rief einander, sammelte sich in Gruppen, lief; hübsche kleine, weiße Zähne plauderten in den Ecken und Winkeln. Von fern bewachten die Schleier das Lachen, die Schatten hielten Wache über die Strahlen, aber gleichviel! Man strahlte und lachte. Es war wie ein auf Trauer fallender Rosenregen.

In diesem Hause sind vielleicht mehr als irgend wo anders »Kinderworte« gesprochen worden, welche so viel Reiz haben und alle Mal wenn wir sie hören, uns ein träumerisches Lächeln abgewinnen.

So verzeichnen wir hier folgendes Gespräch, welches einst geführt wurde:

Eine Stimmmutter: »Warum weinst Du, mein Kind?«

Das Kind (sechs Jahre alt, schluchzend): »Ich habe zu Alix gesagt, ich wüßte meine französische Geschichte ganz gut. Sie meint, ich wüßte sie nicht und ich weiß sie doch.

Alix, die ältere (neun Jahre alt): Nein; sie weiß sie nicht.

Die Mutter: Wie so nicht, mein Kind?

Alix: Sie sagte mir, ich solle das Buch auf’s Geradewohl aufschlagen und ihr eine Frage daraus vorlegen. Sie würde sie beantworten.

»Nun?«

»Sie hat sie nicht beantwortet.«

»Sieh doch! Was hast Du sie denn gefragt?«

»Ich schlug das Buch auf Geradewohl auf und fragte die erste Frage, die ich fand.«

»Was war das für eine Frage?«

»Sie lautete: was geschah hierauf?«

Ferner wurde auf einer Steinplatte dieses Klosters eine schriftliche Beichte gefunden, die eine siebenjährige Sünderin sich vorher aufgeschrieben hatte, um sie nicht zu vergessen:

»Mein Vater, ich klage mich an, geizig gewesen zu sein.«

»Mein Vater, ich klage mich an, die Ehe gebrochen zu haben.«

»Mein Vater, ich klage mich an, meine Blicke zu den Männern erhoben zu haben.«

Das dunkele und feuchte Refectorium war, wie die Kinder sagten – voll Thiere. Jede der vier Ecken hatte in der Sprache der Pensionärinnen einen besonderen, ausdrucksvollen Namen erhalten. Da gab es die Ecke der Spinnen, die der Raupen, die der Asseln und die der Heimchen. Die Heimchenecke war mit der Küche benachbart und sehr geschätzt. Da war es weniger kalt als anderswo. Von dem Refectorium waren die Namen in das Pensionat übertragen worden und dienten hier wie im alten College von Mazarin zur Unterscheidung von vier Nationen. Jede Schülerin gehörte zu einer der vier Nationen je nach der Ecke des Refectoriums, in welcher sie in den Eßstunden saß. Eines Tages sah der Erzbischof bei seinem Besuch im Kloster in die Classe ein hübsches, kleines, blühendes Mädchen mit bewunderungswürdigen, blonden Haaren eintreten. Er fragte eine in seiner Nähe stehende, andere Pensionärin, eine reizende Brünette mit frischen Wangen:

»Wer ist die?«

»Eine Spinne, Ew. Gnaden.«

»Ah! und die andere?«

»Ein Heimchen.«

»Und die da?«

»Eine Raupe.«

»Wirklich? Und was bist Du?«

»Ich bin eine Assel, Ew. Gnaden.«

V. Zerstreuungen.

Ueber der Thür des Refectoriums stand mit großen schwarzen Buchstaben das so genannte »weiße Vater Unser«, ein Gebet, welches die Kraft besitzen soll, die Leute, diejenigen welche es beten, jedenfalls ins Paradies zu bringen.

Im Jahre 1827 war es unter dem Anstrich verschwunden, jetzt ist es auch in der Erinnerung der meisten jungen Mädchen von damals, welche heute alte Frauen sind, erloschen.

Ein großes, an die Wand genageltes Crucifix vervollständigte die Ausschmückung des Refectoriums, dessen einzige Thür sich nach dem Garten zu öffnete. Zwei schmale Tafeln bildeten zwei lange, parallele Linien von einem Ende des Refectoriums, bis zum andern. Längs der Tische standen zwei Bänke von Holz. Die Wände waren weiß, die Tische schwarz. Diese beiden Trauerfarben sind die einzigen Abwechselungen in den Klöstern. Die Mahlzeiten waren unfreundlich und selbst das Essen der Kinder war spartanisch. Eine einzige Schüssel Fleisch und Gemüse oder gesalzener Fisch; das war der Luxus. Dieses allein für die Pensionärinnen vorbehaltene Essen war indeß eine Ausnahme. Die Kinder aßen schweigend unter der Aufsicht der Wochen-Mutter, welche von Zeit zu Zeit, wenn eine Fliege gegen die Regel zu fliegen und zu summen anfing, geräuschvoll ein hölzernes Buch auf- und zuschlug. Dieses Schweigen würzten Lebensbeschreibungen von Heiligen, welche auf einer kleinen Kanzel mit einem am Fuße des Crucifixes angebrachten Pult mit lauter Stimme vorgelesen wurden. Die Vorleserin war eine große Pensionärin, welche die Woche hatte. In gewissen Entfernungen standen auf dem ungedeckten Tische Schüsseln, in denen die Pensionärinnen selbst ihr Couvert abwuschen und in die sie zuweilen auch einige Stücke von Ueberbleibseln warfen, zähes Fleisch oder verdorbenen Fisch. Das wurde bestraft.

Dasjenige Kind, welches das Schweigen brach, machte »mit der Zunge ein Kreuz.« Wo? Am Fußboden. Der Staub, dieses Ende aller Freuden, mußte diese armen kleinen Rosenblätter züchtigen, die sich des Rauschens schuldig gemacht.

In dem Kloster befand sich ein Buch, das nur in einem einzigen Exemplar gedruckt worden und in dem zu lesen verboten ist. Es enthält die Regel des heiligen Benedikt, ein Geheimniß, in das kein profanes Auge dringen darf.

Eines Tages gelang es den Pensionärinnen das Buch zu entwenden und sie fingen gierig an darin zu lesen, machten aber das Buch schnell wieder zu, da sie in ihrer Lectüre durch die Angst, überrascht zu werden, zu häufig unterbrochen wurden. Einige unverständliche Seiten über die Sünden kleiner Knaben, war noch das »Interessanteste« darin gewesen.

Trotz der ungeheueren Aufsicht und Strenge der Strafen gelang es ihnen doch bisweilen, wenn der Wind die Bäume geschüttelt hatte, verstohlen einen grünen Apfel, eine verdorbene Aprikose oder eine wurmstichige Birne aufzuheben. Ich lasse jetzt einen Brief sprechen, der vor mir liegt und den vor fünfundzwanzig Jahren eine der ehemaligen Pensionärinnen, die jetzt Herzogin M… und eine der elegantesten Frauen von Paris ist, geschrieben hatte. Er lautet wörtlich wie folgt:

»Man versteckt seine Birne oder seinen Apfel wie man kann. Wenn man hinauf geht, um vor dem Abendessen den Schleier auf das Bett zu legen, so steckt man das Obst unter das Kopfkissen und ißt es Abends im Bett oder, wenn das nicht geht, im geheimen Orte.« Das war das größte Vergnügen.

Einmal, auch um die Zeit eines Besuches des Erzbischof’s in dem Kloster, wettete ein junges Mädchen, ein Fräulein Bouchard, gewissermaßen eine Verwandte der Montmorency, daß sie den Erzbischof um einen freien Tag bitten würde, etwas Unerhörtes! Die Wette wurde angenommen, aber keine von denen, die sie annahmen, auch Fräulein Bouchard nicht, glaubte daran. Als der Augenblick gekommen war, als nämlich der Erzbischof an den Pensionärinnen vorbei ging, trat Fräulein Bouchard, zum unbeschreiblichen Entsetzen ihrer Kameradinnen, aus der Reihe heraus und sagte: »Gnädiger Herr, einen freien Tag!« Fräulein Bouchard war groß und frisch, mit dem niedlichsten Rosengesicht von der Welt. Herr von Quelen lächelte und sagte: »Wie, mein liebes Kind, einen freien Tag? Drei Tage, wenn Du willst. Ich bewillige drei Tage.« Die Priorin konnte nichts dagegen thun, der Erzbischof, hatte gesprochen. Es war ein Aergerniß für das Kloster, aber eine Freude für das Pensionat. Die Wirkung kann man sich denken.

Dieses abstoßende Kloster war indeß nicht so fest ummauert, daß das Leben der Leidenschaften, der Außenwelt, das Drama, sogar der Roman nicht hineingedrungen wären. Zum Beweise beschränken wir uns hier kurz eine wirkliche und unbestreitbare Thatsache anzudeuten, welche indeß an und für sich mit der Geschichte, die wir erzählen, in gar keiner Verbindung steht. Wir erwähnen die Thatsache um das Bild des Klosters im Geiste des Lesers zu vervollständigen

Um diese Zeit also befand sich, in dem Kloster eine geheimnißvolle Person, die nicht Nonne war, die man mit großer Achtung behandelte und »Madame Albertine« nannte. Man wußte weiter nichts von ihr, als daß sie irr war und daß sie in der Welt für todt galt.

Es steckten, wie man sagte, Vermögensbeziehungen dahinter, welche wegen einer großen Heirath nöthig gewesen waren.

Diese kaum dreißig Jahre alte, brünette ziemlich schöne Frau sah mit großen schwarzen Augen unsicher um sich her. Sah sie wirklich? Man zweifelte daran. Sie glitt mehr als sie ging; sie sprach niemals, es war nicht einmal gewiß, ob sie athmete. Ihre Nase war spitz und bleich wie nach dem letzten Seufzer. Ihre Hand berühren hieß Schnee anfühlen. Sie hatte eine seltsame gespenstische Anmuth. Man fror, wo sie erschien.

Man erzählte hunderterlei Geschichten über Madame Albertine. Sie war der Gegenstand der ewigen Neugierde der Pensionärinnen. In der Kapelle befand sich eine Tribüne, welche man das »Ochsenauge« nannte. Auf dieser Tribüne, die nur ein rundes Fenster hatte, ein »Ochsenauge«, wohnte Madame Albertine dem Gottesdienste bei. Sie war gewöhnlich hier allein, weil man von der im ersten Stockwerke befindlichen Tribüne den Geistlichen oder den Administranten sehen konnte, was den Nonnen verboten war. Eines Tages stand ein junger Priester von hohem Range auf der Kanzel, der Herzog von Rohan, Pair von Frankreich, gestorben 1830 als Cardinal und Erzbischof von Besançon. Er predigte zum ersten Mal in dem Kloster von Klein-Picpus. Madame Albertine wohnte gewöhnlich der Predigt und der Messe in vollkommener und vollständiger Unbeweglichkeit bei. An diesem Tage aber richtete sie sich, als sie kaum Herrn von Rohan bemerkt, halb in die Höhe und rief laut in die Stille der Kapelle hinein: »Sieh doch, August!«

Die ganze Klostergemeinde sah sich entsetzt um, der Prediger blickte empor, Madame Albertine aber war wieder in ihre Unbeweglichkeit versunken. Ein Hauch von der äußeren Welt, ein Schein des Lebens war einen Augenblick auf diese verschlossene, eisige Gestalt gefallen, dann war alles wieder verschwunden und die Irre war wieder Leichnam geworden.

Jene drei Worte aber machten Alles, was im Kloster reden durfte, reden. Was lag Alles in dem: »siehe da! August!« Welche Enthüllungen! Herr von Rohan hieß in der That August. Offenbar hatte Albertine den höchsten Kreisen angehört, da sie Herrn von Rohan kannte; offenbar hatte sie selbst eine hohe Stellung eingenommen, da sie von einem so hohen Herrn so familiär sprach; offenbar stand sie in Verbindung mit ihm, vielleicht gar in verwandtschaftlicher, und am Ende war sie gar ganz nahe mit ihm verwandt, da sie seinen Taufnamen kannte.

Von außen drang kein Geräusch in das Kloster. Nur in einem gewissen Jahre drang der Ton einer Flöte bis hier hinein. Das war ein Ereigniß, dessen sich die Pensionärinnen von damals noch erinnern.

Jemand in der Nachbarschaft blies die Flöte und zwar immer ein und dieselbe Melodie; zwei bis dreimal hörte man sie den Tag über. Stunden lang hörten die jungen Mädchen zu. Die Stimmmütter waren außer sich, alle Köpfe waren verkehrt, es regnete von Strafen. Das dauerte mehrere Monate. Die Pensionärinnen waren alle mehr oder weniger in den unbekannten Flötenbläser verliebt. Sie hätten alles versucht, um, und wenn auch nur eine Secunde, den »Jüngling« zu sehen, zu bemerken, der so köstlich die Flöte blies. Es war aber ein alter, emigrirt gewesener, blinder und zuletzt in Vermögensverfall gerathener Edelmann, welcher in seinem Dachstübchen die Flöte blies, um sich die Langeweile zu vertreiben.

VI. Das kleine Kloster.

Innerhalb der Grenzmauern von Klein-Picpus standen drei ganz von einander verschiedene Gebäude: das große Kloster, wo die Nonnen, das Pensionat, wo die Zöglinge wohnten und endlich das sogenannte kleine Kloster. Es war ein Gebäude mit Garten, in welchem gemeinschaftlich alle Arten alter Nonnen von verschiedenen Orden wohnten, Reste aus den durch die Revolution zerstörten Klöstern, eine buntscheckige Sammlung von schwarz, grau und weiß, von allen Gemeinschaften und allen Raritäten. Wenn eine solche Wortpaarung zulässig wäre, hätte man es ein Harlekin-Kloster nennen können.

Seit dem Kaiserreich war es allen diesen armen vertriebenen und umher verstreuten Mädchen erlaubt worden, unter den Fittichen der Bernhardiner-Benedictinerinnen Schutz zu suchen. Die Regierung gab ihnen eine kleine Pension und die Frauen von Klein-Picpus hatten sie mehr als gern mit religiös schwesterlicher Liebe aufgenommen. Das war ein seltsames Durcheinander. Jede lebte nach ihrer Ordensregel. Bisweilen erlaubte man den Pensionärinnen als besondere Erholung ihnen einen Besuch zu machen.

Um 1820 oder 1821 wollte Frau von Genlis, welche damals eine kleine periodische Schrift unter dem Titel »Der Unerschrockene ( l'Intrèpide) herausgab in das Kloster von Klein-Picpus als Mietherin einziehen. Der Herzog von Orleans empfahl sie. Das gab Aufregung in dem Bienenkörbe! Die Stimmmütter zitterten, Frau von Genlis hatte ja Romane geschrieben; sie hatte aber erklärt, daß sie die erste sei, welche dieselben verwerfe und dann hatte sie auch einen verzweifelt hohen Grad von Frömmigkeit erreicht. Gott half, der Prinz auch und sie zog ein. Nach Verlauf von sechs oder acht Monaten zog sie aber wieder aus, weil der Garten nicht schattig genug war. Die Nonnen waren entzückt darüber. Obgleich sie schon sehr alt war, spielte sie noch die Harfe und zwar sehr gut.

Als sie auszog, ließ sie ihr Zeichen in der Zelle zurück. Frau von Genlis war abergläubisch und verstand lateinisch. Diese beiden Worte geben ein ziemlich treues Bild von ihr. Noch vor einigen Jahren sah man an der Innenseite eines kleinen Schrankes ihrer Zelle, in welchem sie ihr Geld und ihren Schmuck bewahrte, einige lateinische Verse angeklebt, die sie eigenhändig, mit rother Dinte auf gelbes Papier geschrieben hatte und welche ihrer Meinung nach die Kraft hatten, die Diebe zu verscheuchen.

VII. Einige Silhouetten dieses Schattens.

Während der sechs Jahre, welche 1819 von 1825 trennen, war die Priorin von Klein-Picpus Fräulein von Blameur, die als Nonne Mutter Innocentia hieß. Eine ihrer Vorfahren hatte »das Leben der Heiligen vom Orden des heiligen Benedikt« geschrieben. Sie war wieder erwählt worden. Sie war eine Frau von sechszig Jahren, klein und dick. Ihre Stimme hörte sich an, als spräche sie aus einem gesprungenen Topf. Sonst war sie vortrefflich; die einzige heitere im ganzen Kloster und deshalb verehrt.

Mutter Innocentia war belesen, gelehrt, wußte viel, eine zuverlässige Beurtheilerin, hatte merkwürdige Geschichtskenntnisse, verstand etwas Lateinisch und Griechisch, viel Hebräisch und war mehr Benediktiner als Benediktinerin.

Die Subpriorin war eine alte, spanische, fast blinde Nonne, Mutter Cineres.

Mutter St. Mechtildis, welche mit der Leitung des Gesanges und des Chors beauftragt war, verwendete hierzu gern die Pensionärinnen. Gewöhnlich nahm sie sieben Mädchen, also eine ganze Tonleiter, Mädchen von zehn bis sechszehn Jahren, und stellte sie genau nach Stimme und Wuchs der Reihe nach neben einander. Das sah wie eine aus kleinen Mädchen gebildete Papagenopfeife aus, wie eine lebendige Panflöte von Engeln.

Alle Nonnen waren freundlich gegen alle Kinder, sie waren nur streng gegen sich selbst. Nur im Pensionat wurde geheizt und das Essen war, wenigstens im Vergleich zu dem im Kloster, schmackhaft und gewählt. Nur antwortete die Nonne niemals, wenn ein Kind bei ihr vorüberging und sie ansprach.

Diese Regel des Schweigens hatte bewirkt, daß im ganzen Kloster das Wort sich von den menschlichen Geschöpfen zurückgezogen und auf unbelebte Dinge sich übertragen hatte. Bald sprach die Kirchenglocke, bald die Schelle des Gärtners. Eine sehr laut schallende im ganzen Hause hörbare Klingel neben der Pförtnerin gab durch verschiedene Klänge, durch eine Art akustischer Telegraphie, alle Verrichtungen des materiellen Lebens an, sowie sie, wenn es nöthig war, die oder jene Bewohnerin des Klosters in das Sprechzimmer rief. Für jede Person und für jede Sache gab es ein besonderes Klingeln. Neunzehn Töne meldeten ein außerordentliches Ereigniß, nämlich die Oeffnung des Hauptthores, ein schreckliches mit Eisen beschlagenes, von Riegeln starrendes Brett, das sich nur vor dem Erzbischof in seinen Angeln bewegte.

VIII. Post corda lapides.

4

Nachdem wir von der geistigen Gestalt des Klosters eine Skizze gegeben, dürfte es nicht unnütz sein,, mit einigen Worten auch sein körperliches Aussehen, die Gestalt und Lage der Gebäude zu besprechen, wenn auch Einiges dem Leser hiervon schon mitgetheilt worden ist.

Das Hauptgebäude war eine Nebeneinanderstellung nicht zusammen gehörender Bauten, die, aus der Vogelperspective gesehen, ziemlich genau wie ein am Boden liegender Galgen aussahen. Das Knie des Galgens war ein vierseitiger Saal, welcher als Speisekammer benutzt wurde. In dem großen Arm befanden sich die Zellen der Mütter und Schwestern und das Noviciat; in dem kleinen die Küchen, das Refectorium und die Kirche. Das Pensionat, das man von außen gar nicht sah, lag zwischen dem Einfahrtsthor in der Picpusstraße und der Ecke eines Gäßchens.

Mitten im Garten stand auf einer Erhöhung eine schöne, kegelförmig gewachsene Tanne, von welcher vier große Alleen und, zwei zu zwei in der Verästung der großen angebracht, acht kleine der Art ausliefen, daß, wenn der Raum rund gewesen wäre eine Zeichnung der Alleen einem Kreuze auf einem Rade geglichen hätte. Die Alleen, welche alle auf die sehr unregelmäßigen Mauern des Gartens stießen, waren von ungleicher Länge. Sie waren an den Seiten mit Johannisbeersträuchen bepflanzt. Vor dem kleinen Kloster hieß ein Stück der kleine Garten. Denkt man sich zu diesem Allen einen Hof, allerlei verschiedene Ecken, welche die inneren Gebäude bildeten, Gefängnisse, Mauern, als Aussicht und Nachbarschaft nichts als eine lange, dunkele Dächerreihe, so wird man sich ein vollständiges Bild von dem machen können, was das Haus der Bernhardinerinnen von Klein-Picpus vor fünfundvierzig Jahren war. Dieses heilige Haus war genau auf der Stelle gebaut worden, wo vom vierzehnten bis zum sechszehnten Jahrhunderte ein berühmtes Ballspielhaus gestanden hatte, welches unter dem Namen »der elftausend Teufel« bekannt gewesen ist.

  1. Erst das Herz (das Innere), dann die Steine (das Aeußere.

I. Strategische Zickzacks.

Es ist hier eine Bemerkung nöthig.

Seit vielen Jahren schon ist der Verfasser dieses Buches, der leider jetzt gezwungen ist, von sich zu sprechen, von Paris abwesend. Seit er es verlassen, hat es sich umgestaltet. Eine neue Stadt, die ihm in gewisser Beziehung unbekannt, hat sich erhoben. Daß er Paris liebt, braucht er wohl nicht zu sagen; es ist ja die Geburtsstadt seines Geistes. In Folge von Neubauten ist das Paris seiner Jugend, jenes Paris, das er andächtig in seinem Gedächtnisse mitgenommen hat, heutzutage ein Paris von ehemals. Man erlaube ihm, von diesem Paris zu sprechen als existire es noch. Möglicher Weise ist da, wohin der Verfasser die Leser mit den Worten führen will: »in der und der Straße steht das und das Haus« heutzutage weder eine Straße noch ein Haus. Die Leser mögen berichtigen, wenn sie sich die Mühe nehmen wollen. Was ihn, den Autor, selbst betrifft, er kennt das neue Paris nicht; er schreibt in einer Illusion, die ihm theuer ist, mit dem alten Paris vor den Augen. Der Gedanke ist süß für ihn, es sei etwas von dem hinter ihm geblieben, was er sah, als er in der Heimath war und daß noch nicht Alles geschwunden sei. So lange wir in der Heimath hin und her gehen, glauben wir, die Straßen wären uns gleichgültig; die Fenster, die Dächer, die Thüren seien nichts für uns; die Mauern seien uns fremd; die Bäume seien wie alle anderen; die Häuser, in die wir nicht gehen, nützten uns nichts und das Straßenpflaster, auf dem man geht, wäre nichts als Steine. Später aber, wenn man nicht mehr da ist, erkennt man, daß jene Straßen uns theuer, daß jene Dächer, Fenster und Thüren uns fehlen, daß jene Mauern uns nothwendig, jene Bäume unsere Lieblinge waren, daß wir in die Häuser, in die wir nicht gingen, doch jeden Tag gehen konnten und daß wir etwas von unserm Innern, von unserm Blute, von unserm Herzen auf jenem Straßenpflaster zurück gelassen haben. Alle jene Orte, die man nicht mehr sieht, die man vielleicht nie mehr wieder sehen wird, deren Bild man bewahrt, erhalten einen schmerzlichen Reiz; sie tauchen in uns immer und immer wieder auf mit der Melancholie einer Erscheinung, machen uns das theuere Land sichtbar und sind gewissermaßen die Gestalt des Vaterlandes selbst. Man liebt sie, man erinnert sich ihrer wie sie waren, hält daran fest und will nichts daran ändern; denn an dem Bilde des Vaterlandes hängt man wie am Gesicht seiner Mutter.

Es sei uns also erlaubt in der Gegenwart von der Vergangenheit zu sprechen. Wir bitten den Leser dieses zu berücksichtigen und fahren nunmehr weiter fort.

Johann Valjean hatte sofort den Boulevard verlassen und sich in die Straßen hineingemacht. Er ging möglichst wenig gerade aus und kehrte bisweilen sogar um, um sich zu überzeugen, daß man ihm nicht folge.

So macht es der verfolgte Hirsch. Auf einem Boden, wo die Spur sich eindrücken kann, hat solches Verfahren unter Anderem auch den Vortheil, daß die Jäger und die Hunde durch das Hin und Her getäuscht werden. Man nennt dies in der Jagdsprache »einen falschen Rückgang.«

Es war eine Vollmondnacht. Johann Valjean war deshalb nicht betrübt. Der noch tief am Horizonte stehende Mond warf große Flecken Schatten und Licht in die Straßen. Johann Valjean konnte auf der Schattenseite an den Häusern und Mauern hinschleichen und die helle Seite beobachten. Vielleicht dachte er nicht genug daran, daß die dunkele Seite sich ihm dadurch entziehe. Indeß hielt er sich überzeugt, daß in den öden Gäßchen um die Straße Poliveau herum Niemand hinter ihm hergehe.

Cosette ging neben ihm, ohne eine Frage an ihn zu richten. Die Leiden der ersten sechs Jahre ihres Lebens hatten ihrer Natur etwas Passives gegeben. Uebrigens – und das ist eine Bemerkung, auf die wir noch bei mehreren Gelegenheiten zurückkommen werden – war sie, ohne sich hierüber Rechenschaft zu geben, an die Seltsamkeiten des guten Mannes und an die Wunderlichkeiten des Geschicks gewöhnt. Und dann fühlte sie sich auch sicher, wenn sie bei ihm war.

Johann Valjean wußte eben so wenig wie Cosette, wohin er ging. Er vertraute sich Gott an wie sie sich ihm anvertraute. Es kam ihm vor, als hielte auch er die Hand eines Größeren, als er selbst sei und das ihn leite. Er glaubte ein unsichtbares Wesen zu fühlen, das ihn führe. Uebrigens hatte er keinen bestimmten Gedanken, keinen Plan, keine Absicht. Er wußte nicht einmal gewiß, ob es Javert gewesen. Und konnte es denn Javert sein, ohne daß dieser wußte, er sei Johann Valjean? War er nicht anders gekleidet? Hielt man ihn nicht für todt? Freilich gingen seit einigen Tagen seltsame Dinge vor. Mehr bedurfte es für ihn nicht. Er war entschlossen, in das Haus Gorbeau nicht mehr zurückzukehren. Wie das aus seinem Lager vertriebene Thier suchte er ein Loch, wo er sich verstecken könne, bis er eines zu einer Wohnung gefunden haben würde.

Johann Valjean beschrieb auf seiner Wanderung mehrere Labyrinthe in dem Stadtviertel Mouffetard, das bereits schlief, als bestehe noch die Ordnung des Mittelalters und das Joch der Feierabendglocke. Mit der Klugheit eines Feldherrn ging er durch verschiedene Gassen, trat aber in keines der Häuser ein, da er etwas Passendes nicht fand. Er zweifelte nicht, daß, wenn man zufälligerweise seiner Spur nachgegangen, man ihn nicht hätte verlieren können.

Als es elf Uhr schlug, ging er in der Straße Pontoise vor dem Bureau des Polizeicommissars in No. 14 vorbei. Einige Augenblicke später veranlaßte ihn der Instinkt, von dem wir oben gesprochen, sich umzuwenden. In diesem Augenblicke sah er deutlich, Dank dem Lichte der Laterne des Commissars, die sie verrieth, drei Männer, die ihm ziemlich nahe folgten, wie sie einer hinter dem andern unter der Laterne in der Schattenseite der Straße vorbeigingen. Der Eine trat in den Flur des Hauses des Commissars hinein. Der, welcher voranging, kam ihm entschieden verdächtig vor.

»Komm, Kind!« sagte er zu Cosette, und er beeilte sich die Straße Pontoise zu verlassen. Er machte einen Cirkel durch verschiedene Gassen bis er sich endlich in der Post- oder, wie sie eigentlich heißen sollte, Topf-Straße verlor. Der Mond warf ein helles Licht auf die eine der Straßenecken. Johann Valjean versteckte sich unter eine Hausthür, weil er meinte, daß wenn ihn die drei Männer weiter verfolgten, er sie jedenfalls deutlich würde sehen können, sobald sie über diesen hellen Fleck gingen.

Es waren in der That kaum drei Minuten vergangen, als die Männer erschienen. Es waren jetzt vier, Alle groß, in lange braune Röcke gekleidet, mit runden Hüten und dicken Stöcken in der Hand. Ihr düsterer Gang im Finstern war nicht weniger beunruhigend, als ihre Größe und ihre starken Fäuste. Sie sahen aus wie vier Gespenster in Bürgerkleidung.

In der Mitte des erleuchteten Straßenplatzes blieben sie stehen und stellten sich so zusammen, als berathschlagten sie. Sie schienen unentschlossen zu sein. Derjenige, welcher ihr Führer zu sein schien, wandte sich um und zeigte lebhaft mit der rechten Hand in der Richtung hin, wo Johann Valjean sich versteckt hatte, ein Anderer schien mit Hartnäckigkeit die entgegengesetzte Richtung zu bezeichnen. In dem Augenblicke, als der Erste sich umwendete, beschien der Mond sein Gesicht. Johann Valjean erkannte deutlich Javert.

X. Wie es gekommen, daß Javert nichts gefunden.

Als Johann Valjean in der Nacht des Tages, an welchem Javert ihn am Sterbebett Fantines verhaftet hatte, aus dem städtischen Gefängniß von M… am M… entflohen war, vermuthete die Polizei, daß der flüchtige Sträfling sich nach Paris gewendet haben müsse. Paris ist ein Strudel, in dem Alles sich verliert und Alles verschwindet. Kein Wald verbirgt einen Menschen, so wie diese Menschenmassen. Das wissen auch die Flüchtlinge jeder Art. Sie stürzen sich nach Paris, wie in einen Schlund. Es giebt Abgründe, welche zur Rettung dienen. Die Polizei weiß es auch. In Paris sucht sie, was sie anderswo verloren hat. So suchte sie hier auch den Ex-Maire von M… am M… Javert wurde nach Paris berufen, um bei den Nachforschungen Auskunft zu geben. Auch trug er in der That sehr viel zur Wiederergreifung Johann Valjeans bei. Der Eifer und die Klugheit Javerts wurden bei dieser Gelegenheit von dem Präfectur-Secretair Chabouillet bemerkt, und Chabouillet, welcher schon früher Javert protegirt hatte, ließ den Inspector von M… am M… bei der Polizei in Paris anstellen. Hier machte sich Javert in verschiedener und, wie wir hinzusetzen müssen, wenn das Wort für solche Dienste auch unerwartet erscheint, in ehrenhafter Weise nützlich.

Er dachte nicht mehr an Johann Valjean – die Hunde, welche immer zur Jagd benutzt werden, vergessen über den Wolf von heute, den von gestern – als er im Dezember 1823 eine Zeitung zur Hand nahm, er, welcher sonst niemals öffentliche Blätter las. Als gut königlich gesinnter Mann lag ihm jedoch daran, alle Einzelnheiten des Triumphzuges des Prinzen Generalissimus in Bayonne kennen zu lernen. Als er den interessanten Artikel gelesen hatte, fiel ihm ein Name, der Name Johann Valjean, unten auf einer Seite auf. Das Blatt zeigte an, daß der Sträfling Johann Valjean gestorben sei und zwar in so bestimmten Ausdrücken, das Javert die Richtigkeit der Mittheilung nicht bezweifelte. Er sagte weiter nichts, als: »So ist’s am besten.« Dann warf er die Zeitung bei Seite und dachte nicht mehr daran.

Einige Zeit darauf wurde der Polizeipräfectur von Paris amtlich die Entführung eines Kindes gemeldet, welche, wie es hieß, unter eigenthümlichen Umständen in der Gemeinde Montfermeil stattgefunden haben sollte. Das Kind sei von ihrer Mutter, einer gewissen Fantine, die in einem nicht näher bekannten Hospital gestorben, dem dortigen Gastwirth anvertraut gewesen. Diese Notiz sah Javert. Dieselbe machte ihn sehr nachdenklich.

Ohne ein Wort zu sagen, machte er sich auf und reiste nach Montfermeil. Hier hoffte er vollständigst Aufklärung zu finden. Die fand er aber nicht. Die Sache blieb so dunkel für ihn wie vorher.

In den ersten Tagen, im Aerger, hatten die Thenardiers geplaudert. Das Verschwinden der Lerche hatte Aufsehen im Dorfe gemacht. Es liefen sogleich verschiedene Versionen über die Sache um, bis endlich ein Kinderraub daraus wurde. Als indeß der erste Aerger vergangen, hatte Thenardier mit seinem bewunderungswürdigen Instinkt schnell erkannt, daß es nie gerathen sei, den Herrn Staats-Anwalt in Bewegung zu setzen und daß seine Klage über die Entführung Cosetten’s zunächst nur bewirken würde, daß sich das funkelnde Auge der Justiz auf ihn, Thenardier, und mancherlei dunkele Geschichten richten könnte. Die Eulen wünschen vor allen Dingen kein Licht. Und wie sollte er sich aus der Geschichte mit den fünfzehnhundert Francs, die er erhalten, herausziehen? Er machte rasch Kehrt, verbot demnach seiner Frau von der Sache zu reden und stellte sich ganz verwundert, wenn man zu ihm von dem »geraubten Kinde« sprach. Er wisse gar nicht, was man haben wolle. Anfangs habe er wohl geklagt, daß man ihm die liebe Kleine so schnell »entführt,« die er aus Liebe gern noch zwei oder drei Tage behalten hätte. Ihr Großvater habe sie aber geholt und das sei doch etwas ganz natürliches. Der »Großvater« machte sich ganz gut. Diese Geschichte hörte Javert, als er nach Montfermeil kam. Der »Großvater« verdrängte Johann Valjean aus seinen Vermuthungen.

Sondiren mußte er doch noch ein Wenig.

Einige Fragen über die Geschichte Thenardiers konnten nichts schaden: wer der Großvater sei und wie er heiße? Thenardier antwortete unbefangen: »Es ist ein wohlhabender Landmann. Ich habe seinen Paß gesehen. Wilhelm Lambert, glaube ich, heißt er.«

Lambert ist ein unschuldiger, sehr beruhigender Name. Javert kehrte nach Paris zurück.

»Der Johann Valjean ist richtig todt,« sagte er sich, »und ich bin ein Dummkopf.«

Er fing die ganze Geschichte wieder zu vergessen an, als er im Laufe des März 1824 von einer sonderbaren Persönlichkeit sprechen horte, welche in der Pfarrgemeinde von St. Medardus wohne und welche man den Bettler heiße, welcher Almosen gebe. Ein Rentier, dessen eigentlichen Namen Niemand kenne und der allein mit einem Mädchen von acht Jahren lebe, das selbst nichts anderes wisse, als daß es von Montfermeil gekommen sei. Montfermeil! Der Name kam ihm wieder vor. Javert spitzte die Ohren. Ein alter Bettler und Polizeispion, welchem der Betreffende öfter Almosen gab, fügte noch einige Einzelnheiten hinzu: Der Rentier sei sehr scheu – gehe nur des Abends aus – spreche mit Niemandem – nur bisweilen mit Armen – und lasse nicht an sich herankommen. Er trage einen schrecklich alten gelben Rock, der aber mehrere Millionen werth sei, da er durch und durch mit Banknoten gefüttert sei. – Das reizte entschieden die Neugierde Javerts. Um diesen phantastischen Rentier ganz in der Nähe zu sehen, ohne ihn zu verscheuchen, lieh er sich eines Tages von dem Bettler seine Lumpen und den Platz, wo der alte Spion alle Abend niedergekauert seine Gebete hernäselte und beim Gebete spionirte.

»Das verdächtige Individuum« kam wirklich auf den so verkleideten Javert zu und gab ihm ein Almosen. In diesem Augenblicke erhob Javert den Kopf. Der Stoß, den in diesem Augenblicke Johann Valjean erhielt, war derselbe, welcher Javert traf; ersterer erschrak, weil er Javert, dieser, weil er Johann Valjean zu erkennen glaubte.

Das Dunkel hatte ihn indeß täuschen können; der Tod Johann Valjeans war officiell; es blieben Javert ernste Zweifel und in zweifelhaften Fällen nahm Javert, der gewissenhafte Javert, Niemanden beim Kragen.

Er verfolgte seinen Mann bis an das alte Haus Gorbeau und wußte »die Alte« zum Reden zu bringen, was ihm nicht schwer wurde. Die Alte bestätigte ihm die Geschichte mit dem Rocke und erzählte ihm die Episode von dem Tausendfrancsbillet. Sie hatte es gesehen! Sie hatte ihn befühlt! Javert miethete eine Stube. Noch an demselben Abend zog er ein. Er horchte an der Thür des geheimnißvollen Miethers, da er hoffte hierbei den Ton seiner Stimme hören zu können, Johann Valjean aber war still geblieben.

Am anderen Tage machte sich Johann Valjean aus dem Staube. Das Geräusch aber, welches das Fünffrancsstück, das er hatte fallen lassen, gemacht hatte, wurde von der Alten gehört, die, als sie Geld klingen hörte, die Absicht Johann Valjeans errieth und sich beeilte, Javert davon zu benachrichtigen. In der Nacht, als Johann Valjean fortging, erwartete ihn Javert mit zwei Mann hinter den Bäumen des Boulevard.

Javert hatte in der Präfectur bewaffnete Mannschaft verlangt, aber den Namen des Individuums nicht genannt, das er zu fassen hoffte. Das war sein Geheimniß. Er bewahrte es aus drei Gründen: erstens weil die geringste Indiscretion Johann Valjean aufmerksam machen konnte; zweitens weil ein Unternehmen, das darin bestand, einen alten entwichenen, für todt gehaltenen Sträfling zu ergreifen, einen Verurtheilten, den die Acten der Behörden stets schon unter die Verbrecher der allergefährlichsten Art gezählt hatten, ein glänzender Erfolg gewesen wäre, den die Polizei-Vorgesetzten sicherlich einem Neulinge wie Javert nicht überlassen haben würden, und endlich weil Javert als Künstler das Unvorhergesehene liebte. Er haßte die vorausangekündigten Erfolge, die den Hauptreiz verlieren, wenn man lange vorher davon spricht. Er suchte seine Meisterstücke im Stillen vorzubereiten und sie dann plötzlich zu enthüllen.

Javert war Johann Valjean von Baum zu Baum, von Straßenecke zu Straßenecke gefolgt und hatte ihn nicht einen Augenblick aus den Augen verloren, selbst dann nicht, wenn Johann Valjean sich für sicher hielt; das Auge Javert’s ruhte stets auf ihm. Warum aber verhaftete er Johann Valjean nicht? Weil er noch zweifelte.

Man muß sich erinnern, daß sich die Polizei zur damaligen Zeit nicht sehr behaglich fühlte. Die freie Presse genirte sie. Einige willkürliche Verhaftungen, welche die Zeitungen rügend besprochen, hatten in den Kammern ihren Wiederhall gefunden und die Polizeipräfectur eingeschüchtert. Die Antastung der individuellen Freiheit war ein wichtiges Ding. Die Polizei-Agenten fürchteten hierbei einen Irrthum zu begehen; der Präfect zog sie zur Rechenschaft; ein Versehen hierbei hieß so viel wie Absetzung. Man stelle sich den Eindruck vor, welchen in Paris folgender in wenigstens zwanzig Zeitungen abgedruckter, kurzer Bericht gemacht haben würde: »Gestern ist ein alter Großvater mit weißem Haar, ein achtbarer Rentier, der mit seiner achtjährigen Enkelin spazieren ging, verhaftet und als angeblich entsprungener Sträfling ins Gewahrsam der Polizeipräfectur gebracht worden!«

Wir müssen auch wiederholen, daß Javert seine eigenen Bedenken hatte; zu den Empfehlungen des Präfecten traten die seines Gewissens. Er war in der That zweifelhaft.

Johann Valjean wendete ihm den Rücken und ging im Dunkel.

Traurigkeit, Unruhe, Besorgniß, Angst, Niedergeschlagenheit, das neue Unglück, in der Nacht fliehen und auf Gradewohl in Paris eine Zufluchtsstätte für sich und für Cosette suchen zu müssen, der Zwang, seine Schritte nach denen des Kindes zu richten, alles hatte den Gang Johann Valjeans geändert und seiner Körperhaltung so etwas Alterndes aufgedrückt, daß selbst die in Javert verkörperte Polizei sich täuschen konnte und täuschte. Die Unmöglichkeit ihm ganz nahe zu kommen, seine Kleidung als Lehrer aus der Zeit der Emigration, die Erklärung Thenardiers, die ihn zum Großvater machte, endlich der Glaube an seinen Tod im Bagno erhöhte noch die im Geiste Javerts sich verdichtenden Zweifel.

Einen Augenblick hatte er den Gedanken, ihn plötzlich nach seinen Papieren zu fragen. Wenn dieser Mann aber nicht Johann Valjean und auch nicht ein gutmüthiger, alter Mann war, so war er wahrscheinlich irgend ein eng mit dem dunklen Gewebe der Pariser Verbrechen verbundener Mensch, irgend ein gefährlicher Bandenchef, der Almosen gab, um seine anderen Talente zu verbergen. Diese Rubrik existirt schon von altersher in den Verbrecherlisten. Die Umwege, die er in den Straßen machte, schienen darauf hinzuweisen, daß er kein gewöhnlicher, unschuldiger Mensch war. Ihn sofort verhaften, hieß das Huhn mit den goldenen Eiern schlachten. Welchen Nachtheil hatte dagegen das Warten? Javert war ja sicher, daß er ihm nicht entgehen konnte.

Ziemlich spät erst, in der Straße Pontoise, erkannte er zufolge des hellen Lichtes, das aus einem Wirthshause fiel, Johann Valjean ganz bestimmt.

Es giebt in dieser Welt zwei Wesen, welche das heftigste Zittern zu empfinden vermögen: die Mutter, welche ihr Kind und der Tiger, welcher seine Brut wieder findet. Javert empfand dieses Zittern.

Mit dem Augenblicke, als er Johann Valjean, den furchtbaren Sträfling, genau wieder erkannt hatte, fiel es ihm auf, daß sie nur drei Mann stark waren und er erbat sich daher von dem Polizeicommissar in der Straße Pontoise Verstärkung. Ehe man in einen Dornbusch greift, zieht man Handschuhe an.

Dieser und noch ein anderer Aufenthalt brachten ihn beinahe von der Spur. Er errieth indeß bald, daß Johann Valjean den Fluß zwischen sich und seine Verfolger zu bringen suchen werde. In gebeugter Stellung dachte er nach wie ein Spürhund, der die Nase an den Boden hält, um seiner Sache sicher zu sein. Mit seinem unfehlbaren Instinkt ging Javert gerade auf die Brücke von Austerlitz zu. Ein Wort mit dem Brückengeld-Einnehmer brachte ihn jedoch wieder auf die Spur: – »Haben Sie einen Mann mit einem kleinen Mädchen gesehen?« – »Ja, ich ließ mir von ihm zwei Sous zahlen,« antwortete der Einnehmer. – Javert gelangte noch zu rechter Zeit auf die Brücke, um Johann Valjean mit Cosetten an der Hand über den vom Mond beschienenen Platz gehen zu sehen. Er sah ihn sich in die Sackgasse, wie in eine Falle begeben. Sogleich schickte er auf einem Umwege Einen seiner Leute voraus, um den einzigen Ausgang der Gasse nach der Kleinen Picpusstraße bewachen zu lassen. Eine Patrouille, die ihm begegnete, requirirte er als Begleitung. Bei solchen Partien sind die Soldaten Trümpfe. Uebrigens ist es Princip, daß der, welcher einen Eber überwältigen will, das Wissen des Jägers und die Kraft des Hundes besitzen muß. Nachdem Javert diese Anordnungen getroffen hatte, nahm er eine Priese Taback. Darauf begann er zu spielen. Er hatte einen teuflischen Augenblick des Entzückens und ließ seinen Mann vor sich hergehen, da er wußte, er habe ihn sicher und wünschte nur den Augenblick des Zugreifens so weit als möglich hinaus zu schieben, glücklich ihn gefangen zu wissen und frei zu sehen. Er empfand die Wollust einer Spinne, welche die Fliege flattern, die Wollust der Katze, welche die Maus laufen läßt. Die Klauen haben ein ungeheuerliches Sinnlichkeitsgefühl: das Zucken des gefangenen Thieres zwischen den Krallen. Welche Wonne ist dieses Ersticken!

Javert empfand sie. Die Maschen seines Netzes waren fest geknüpft. Er war des Erfolges sicher, er brauchte nur die Hand zuzudrücken.

Bei der Begleitung, die er hatte, war selbst der Gedanke an Widerstand unmöglich, so stark und verzweifelt Johann Valjean auch sein mochte. Javert ging langsam weiter. Alle Winkel und Ecken der Straße durchsuchte er wie die Taschen eines Diebes.

Als er an’s Netz kam, fand er die Fliege nicht mehr darin.

Man stelle sich seine Verzweiflung vor.

Er befragte die ausgestellte Wache. Der Mann, der unveränderlich auf seinen Posten geblieben war, hatte Niemand vorüberkommen sehen.

Bisweilen entkommt ein gehetzter Hirsch trotzdem, daß er die Meute auf dem Nacken hat. Dann wissen auch die ältesten Jäger nicht, was sie sagen sollen: Ein solcher meinte in einem ähnlichen Fall: »das war gar kein Hirsch, sondern ein Zauberer.«

So mochte wohl auch Javert zu Muthe sein.

Er war einen Augenblick der Verzweiflung, dem Wahnsinn nahe.

Gewiß haben selbst die größten und berühmtesten Feldherrn in ihren Kriegen Fehler begangen. Auch Javert beging einen Fehler in diesem Feldzuge gegen Johann Valjean. Es war vielleicht Unrecht, daß er den ehemaligen Züchtling nicht gleich erkannte. Der erste Blick hätte ihm genügen, er hätte ihn einfach in dem alten Hause verhaften müssen. Es war ein Fehler, daß er ihn nicht in der Straße Pontoise verhaftete, als er ihn ganz bestimmt erkannte. Es ist gewiß nützlich, verschiedene Ansichten zu hören und es ist gut, diejenigen von den Hunden zu befragen, welche Vertrauen verdienen. Der Jäger kann aber nicht vorsichtig genug sein, wenn er auf unruhige Thiere Jagd macht, wie auf einen Wolf oder einen Sträfling. Weil Javert sich zu viel Mühe gab, die Meute auf die rechte Fährte zu bringen, machte er das Thier unruhig, gab ihm Wind und es konnte entfliehen. Vorzüglich hatte er daran Unrecht gethan, daß er, als er die Spur auf der Brücke von Austerlitz wiedergefunden, das furchtbare und kindische Spiel trieb einen solchen Mann an einem Faden zu halten. Er hielt sich für stärker als er war und glaubte mit dem Löwen wie mit einer Maus spielen zu können. Auf der anderen Seite hielt er sich für zu schwach, als er nöthig fand, sich mit Verstärkung zu versehen. Javert machte alle diese Fehler, war aber nichts desto weniger Einer der geschicktesten und correctesten Spione, welche je existirt haben. Wer aber ist vollkommen?

Auch der Geist der großen Strategen verdunkelt sich manchmal.

Sei dem nun wie ihm will, in dem Augenblicke, als Javert erkannte, daß Johann Valjean ihm entgangen, verlor er den Kopf nicht. In der festen Ueberzeugung, daß der Sträfling nicht weit entfernt sein könne, stellte er Wachen aus und durchsuchte und durchforschte die ganze Nacht den Stadttheil. Das erste, was er bemerkte, war die Unordnung an der Laterne, wo der Strick abgeschnitten war. Das war ein werthvoller Fingerzeig, der ihn aber trotzdem irre leitete, weil er ihn veranlaßte, alle seine Nachforschungen auf die Sackgasse zu richten. Es giebt in derselben ziemlich niedrige Mauern, welche in an weite Felder stoßende Gärten gehen. Johann Valjean war augenscheinlich, jedenfalls in dieser Richtung hin entflohen. Thatsache ist, daß wenn er ein wenig früher in die Sackgasse gekommen, er dies wahrscheinlich gethan haben und dann verloren gewesen sein würde. Javert durchsuchte diese Gärten und dieses Terrain, als wenn er nach einer Stecknadel gesucht hätte.

Mit Tagesanbruch ließ er zwei kluge Leute zur Beobachtung zurück und gelangte verschämt wie ein Spion, dem ein Dieb entgangen ist, auf die Präfectur.

I. Kleine Picpus-Straße Nr. 62.

Das Einfahrtsthor der Nr. 62 in der kleinen Picpusstraße war vor fünfzig Jahren ein Thor, wie jedes andere. Es stand in der einladendsten Weise gewöhnlich halb offen und ließ einen von weinumrankten Mauern umgebenen Hof und das Gesicht eines faullenzenden Portiers sehen. Ueber der Mauer am Ende bemerkte man große Bäume. Wenn ein Sonnenstrahl den Hof oder ein Glas Wein den Portier erheiterte, konnte man schwerlich an Nr. 62 vorbei gehen, ohne einen freundlichen Eindruck mitzunehmen. Und doch war es ein trauriger Ort, den man hier vor sich hatte.

Die Schwelle lachte, das Haus betete und weinte.

Wenn man, was nicht leicht, ja was sogar gewissermaßen unmöglich war, dazu gelangte, von dem Portier eingelassen zu werden, so trat man rechts in eine kleine Halle, in welcher eine zwischen zwei Mauern zusammengepreßte Treppe emporstieg, welche so schmal war, daß nur eine Person auf einmal darauf gehen konnte; wenn man sich durch den gelben Anstrich der Wände nicht abschrecken ließ und sich weiter wagte, kam man über zwei Absätze im ersten Stockwerk in einen Corridor, wo man von derselben Farbe der Wände verfolgt wurde. Treppe und Corridor waren durch zwei schöne Fenster erhellt. Dann bildete der Corridor eine Ecke und wurde dunkel. Umschiffte man dieses Vorgebirge, so gelangte man nach einigen Schritten vor eine ebenso geheimnisvolle, wie nicht verschlossene Thür. Stieß man sie auf, so befand man sich in einem ganz kleinen, reinlichen, kalten, mit Steinplatten belegten Zimmer mit nankinfarbigen grün geblümten Tapeten. Ein mattes Licht fiel durch ein großes Fenster mit kleinen Scheiben, das sich links befand und die ganze Breite des Zimmers einnahm. Man sah sich um, erblickte aber Niemanden; man hörte, man vernahm keinen Schritt, keine menschliche Stimme. Die Wand war kahl, das Zimmer nicht meublirt; nicht einmal ein Stuhl stand darin.

Sah man sich um, so bemerkte man an der Wand der Thür gegenüber ein viereckiges, ungefähr einen Quadratfuß großes Loch mit einem Gitter von schwarzen, starken gekreuzten Eisenstäben, welche Quadrate – ich hätte beinahe gesagt Maschen – von etwa anderthalb Zoll bildeten. Die grünen Blümchen auf der nankinfarbigen Tapete reichten ruhig und in Ordnung bis an diese Eisenstäbe, ohne daß diese traurige Berührung sie erschreckte und scheu auftrieb. Wäre ein lebendiges Wesen so wunderbar mager gewesen, um versuchen zu können in das viereckige Loch hinein oder aus ihm heraus zu kommen, das Gitter hätte es verhindert. Nur die Augen d. h. den Geist ließ es durch, nicht den Körper. Man schien auch daran gedacht zu haben, denn hinter der Oeffnung war noch ein siebartig durchbohrtes Blech befestigt, dessen Tausende von Löchern noch kleiner waren als die eines Schwammes. Unten an dem Blech befand sich eine Oeffnung gleich dem Spalt eines Briefkastens. Rechts neben der vergitterten Oeffnung hing eine Klingelschnur.

Wenn man dieselbe in Bewegung setzte, so erklang ein Glöckchen und man hörte ganz nahe bei sich eine Stimme, daß man erschrecken konnte.

»Wer ist da?« fragte die Stimme.

Es war eine weibliche Stimme, so weich, daß sie traurig klang.

Hier ebenso wie bei dem Portier gab es wiederum ein Zauberwort, das man wissen mußte. Wußte man es nicht, so schwieg die Stimme und die Mauer wurde wieder so still, als ob das Dunkel des Grabes hinter derselben sich befände.

Kannte man jenes Wort, so antwortete die Stimme:

»Rechts eintreten.«

Da bemerkte man zu seiner Rechten, dem Fenster gegenüber, eine Glasthür mit einem grau angestrichenen Glasrahmen oben. Man hob den Drücker, schritt durch die Thür und empfand denselben Eindruck, als wenn man in einem Theater in eine vergitterte Loge tritt, ehe das Gitter niedergelassen und der Kronenleuchter angezündet ist. Und in der That man befand sich in einer Art Theaterloge, die kaum erhellt durch das schwache Licht der Glasthür, klein und mit zwei alten Stühlen, so wie einer Strohdecke versehen war. Diese Loge war vergittert, aber nicht mit vergoldeten Holzstäben wie in der Oper; das Gitter war ein scheußliches, dichtes Geflecht von Eisenstangen.

Nach den ersten Minuten, wenn das Auge in dem Halbdunkel allmälig sehen lernte, versuchte der Blick durch das Gitter zu schauen, aber er reichte nicht weiter als sechs Zoll darüber hinaus. Da traf er auf eine Schranke von schwarzen Läden mit gelbbraun angestrichenen Querhölzern. Diese Läden waren zum Zusammenlegen eingerichtet, bestanden aus langen, dünnen Brettern und verdeckten die ganze Länge des Gitters. Sie waren immer geschlossen.

Nach einigen Augenblicken hörte man eine Stimme hinter diesen Läden rufen und sagen:

»Ich bin da. Was wünschen Sie von mir?«

Es war eine geliebte, manchmal eine angebetete Stimme. Man sah Niemand. Man vernahm kaum das Geräusch des Athems. Es war als ob ein beschworener Todter aus seinem verschlossenen Grabe herausspräche.

Unter gewissen, aber sehr seltenen Bedingungen öffnete sich das schmale Brett eines der Läden dem Anwesenden gerade gegenüber und die Beschwörung wurde eine Erscheinung. Hinter dem Gitter, hinter dem Laden bemerkte man, soweit es das Gitter gestattete, einen Kopf, von dem man nichts weiter als den Mund und das Kinn sah; das Uebrige war mit einem schwarzen Schleier bedeckt. Halb und halb sah man den schwarzen Brustschleier der Nonne und undeutlich einen mit einem schwarzen Tuche bedecken Kopf. Dieser Kopf sprach, sah aber den Anwesenden nicht an und lächelte nie.

Das Licht, das hinter dem Besuchenden herkam, war so angebracht, daß dieser wohl halb jenen Kopf sah, dieser aber nicht den Besuchenden. Dieses Licht war ein Symbol.

Begierig drangen die Augen durch die so entstandene Oeffnung, in diesen allen Blicken verschlossenen Raum. Eine unklare Tiefe umhüllte die schwarze Gestalt. Die Augen suchten zu erforschen und zu erkennen was um diese Erscheinung her sei; sehr bald aber überzeugten sie sich, daß man nichts sehen könnte.

Das, was man sah, war Nacht, Leere, ein schauerlicher Frieden, Finsterniß, winterliches Dunkel, gemischt mit dem Hauch des Grabes, eine Stille, in der man nichts vernahm, nicht einmal Seufzer, ein Schatten, in dem man nichts unterschied, nicht einmal Gespenster.

Was man sah, war das Innere eines Klosters.

Es war das Innere jenes ernsten, strengen Hauses, welches man das Kloster der Bernhardinerinnen von der ewigen Anbetung nannte. Jene Loge, in der man sich befand, war das Sprechzimmer. Die Stimme, die erste, welche man gehört, war die der Pförtnerin, welche immer schweigend und unbeweglich hinter der Wand neben der viereckigen, vergitterten Oeffnung saß.

Das Dunkel, in das die vergitterte Loge versenkt war, kam daher, daß das Sprechzimmer zwar ein Fenster nach der Außenwelt hin, keines aber nach dem Kloster zu hatte. Die profanen Augen durften nichts sehen von diesem heiligen Orte.

Dennoch gab es etwas jenseits, dieses Schattens, ein Licht: ein Leben in diesem Tode. Obgleich dieses Kloster abgeschlossener war als alle anderen, so wollen wir doch mit dem Leser hineinzudringen versuchen.