II. Fauchelevent vor einer Schwierigkeit.

Ein unruhiges und ernstes Aussehen zu haben, ist bei kritischen Gelegenheiten gewissen Charakteren und gewissen Ständen eigen, besonders Geistlichen und Klosterleuten. In dem Augenblicke, als Fauchelevent eintrat, lag dieser Ausdruck auf dem Gesicht der Priorin.

Der Gärtner grüßte furchtsam und blieb auf der Schwelle der Zelle stehen. Die Priorin, welche ihren Rosenkranz durch die Finger laufen ließ, schlug die Augen auf und sagte:

»Ha, Sie sind es, Vater Fauvent!«

»In dieser Weise war im Kloster sein Name abgekürzt worden.

Fauchelevent wiederholte seinen Gruß.

»Vater Fauvent, ich habe Sie rufen lassen …«

»Hier bin ich, hochwürdige Mutter.«

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

»Und ich meinerseits,« entgegnete Fauchelevent mit einer Kühnheit, vor der er sich innerlich fürchtete, »ich habe der sehr hochwürdigen Mutter etwas zu sagen.«

Die Priorin sah ihn an.

»Sie haben mir eine Mittheilung zu machen?«

»Eine Bitte.«

»Sprechen Sie.«

Der gute Fauchelevent, der ehemalige Dorfgerichtsschreiber, gehörte zu derjenigen Klasse Bauern, die in ihrem Auftreten eine gewisse Sicherheit haben. Eine gewisse, geschickte Unwissenheit ist eine Kraft; man ist vor ihr nicht auf der Hut und wird überlistet. In dem Zeitraum von etwas über zwei Jahren, seit er in dem Kloster wohnte, hatte er bei der Klostergemeinde Glück gemacht. In seiner Einsamkeit und allein mit seiner Gärtnerei beschäftigt, hatte er nicht leicht etwas anderes zu thun, als neugierig zu sein. In der Entfernung, in der er sich von allen den hin- und hergehenden verschleierten Frauen halten mußte, kamen ihm diese wie Schatten vor, welche sich hin- und herbewegen. Vermöge seiner Aufmerksamkeit und seines Scharfsinnes gelang es ihm aber, alle diese Schatten mit Fleisch zu bekleiden, so daß diese Todten für ihn lebten. Durch seine Achtsamkeit hatte er den Sinn des verschiedenen Läutens entziffert. Er hatte es so weit gebracht, daß das räthselhafte und schweigsame Kloster für ihn nichts Verborgenes hatte. Fauchelevent, der Alles wußte, ließ sich jedoch nichts merken. Darin bestand seine Kunst. Das ganze Kloster hielt ihn für dumm. Die Stimmütter hielten was auf ihn. Er flößte Vertrauen ein. Uebrigens lebte er sehr regelmäßig und ging nur wegen der nöthigsten Besorgungen aus. Das wurde ihm hoch angerechnet. Nichts destoweniger hatte er zwei Männer zum Ausplaudern gebracht, im Kloster den Portier, so daß er alle Sprechzimmer-Angelegenheiten erfuhr, und auf dem Kirchhofe den Todtengräber, der das Interessanteste von den Begräbnissen wußte. Auf diese Weise hatte er über die Nonnen eine doppelte Aufklärung, über ihr Leben und ihren Tod. Er mißbrauchte aber nichts. Er war alt, lahm, beinahe blind, wahrscheinlich auch etwas taub – was für Eigenschaften! Man hätte schwer einen Ersatzmann für ihn finden können.

Mit der Sicherheit dessen, der weiß, daß man viel auf ihn hält, begann der gute Mann eine ziemlich weitläuftige Bauern-Anrede an die hochwürdige Priorin. Er sprach lange von seinem Alter, von seiner Gebrechlichkeit, von der Last der Jahre, von den zunehmenden Anforderungen der Arbeit, von der Größe des Gartens, von den Nächten, in denen er, wie z. B. in den vergangenen, arbeiten müsse. Zum Schluß sagte er endlich: er habe einen Bruder – (die Priorin machte eine Bewegung) – jung sei er nicht (die Priorin machte eine zweite Bewegung, aber eine beruhigtere); wenn man wollte, so könnte der Bruder bei ihm wohnen und ihm helfen, er sei ein ausgezeichneter Gärtner; die Klostergemeinde würde die besten Vortheile von ihm ziehen; wenn man seinen Bruder nicht annehme, werde er, der ältere, da er sich schwach und der Arbeit nicht mehr gewachsen fühle, freilich zu seinem großen Bedauern, genöthigt sein, zu gehen; sein Bruder habe ein kleines Mädchen, das er mit sich bringen würde und das groß werden könnte in Gott. Vielleicht, wer könnte das wissen, könnte sie eines Tages eine Klosterschwester werden.

Als er mit seiner Rede zu Ende gekommen war, unterbrach die Priorin das Spiel mit dem Rosenkranze zwischen ihren Fingern und sagte zu ihm:

»Könnten Sie sich bis Abend eine starte Eisenstange verschaffen? «

»Wozu?«

»Um als Hebel zu dienen.«

»Ja, hochwürdige Mutter,« antwortete Fauchelevent.

Ohne ein Wort weiter hinzuzusetzen, erhob sich die Priorin von ihrem Sitze und trat in das Nebenzimmer, den Kapitelsaal, in welchem wahrscheinlich die Stimmütter versammelt waren. Fauchelevent blieb allein.

III. Mutter Innocentia.

Nach Verlauf von etwa einer Viertelstunde kam die Priorin zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl.

»Vater Fauvent …«

»Hochwürdige Mutter?«

»Sie kennen die Kapelle?«

»Ich höre da hinter einem kleinen Gitter die Messe.«

»Sind Sie Ihrer Arbeit wegen schon ein Mal im Chor gewesen?«

»Zwei oder drei Mal.«

»Es handelt sich darum, einen Stein aufzuheben.«

»Ist er schwer?«

»Die Steinplatte neben dem Altar.«

»Den Stein, der das Gewölbe schließt?«

»Ja.«

»Das ist so ein Fall, wo zwei Männer gut wären.«

»Mutter Ascension, die so stark ist wie ein Mann, wird Ihnen helfen.«

»Eine Frau ist nie ein Mann.«

»Wir können Ihnen aber nur eine Frau als Hülfe geben. Jeder thut was er kann. Das Verdienst liegt darin, nach seinen Kräften zu arbeiten. Ein Kloster ist kein Zimmerplatz.«

»Und eine Frau ist kein Mann. Mein Bruder, der ist sehr stark.«

»Und dann haben Sie ja auch einen Hebel.«

»Er ist ja der einzige Schlüssel, der solche Thüren aufschließt.«

»Am Steine ist ein Ring.«

»In den stecke ich den Hebel.«

»Der Stein ist so eingerichtet, daß er sich dreht.«

»Gut, hochwürdige Mutter. Ich werde das Gewölbe öffnen.«

Und die vier Singmütter werden Ihnen dabei helfen.«

»Und wenn das Gewölbe offen sein wird …?«

»Muß es wieder geschlossen werden.«

»Das ist Alles?«

»Nein.«

»Befehlen Sie, hochwürdige Mutter.«

»Fauvent, wir haben Vertrauen zu Ihnen.«

»Ich bin hier um Alles zu thun.«

»Und um zu schweigen.«

»Ja, hochwürdige Mutter.«

»Wenn das Gewölbe offen ist …«

»Werde ich es wieder schließen.«

»Vorher aber …«

»Was, hochwürdige Mutter?«

»Muß etwas hinunter gebracht werden.«

Es trat eine Pause ein. Die Priorin machte zum Zeichen ihres Zauderns eine Bewegung mit der Unterlippe und fuhr dann fort:

»Vater Fauvent …«

»Hochwürdige Mutter?«

»Sie wissen, daß diesen Morgen eine Mutter gestorben ist?«

»Nein.«

»Haben Sie denn nicht die Glocke gehört.?

»Hinten im Garten hört man nichts.«

»Wirklich?«

»Ich höre kaum mein Glöckchen.«

»Mit Tagesanbruch ist sie gestorben.«

»Heute früh kam der Wind nicht von da her.«

»Es ist die Mutter Crucifixion. Sie ist glücklich.«

Die Priorin schwieg und bewegte einen Augenblick die Lippen, als bete sie still für sich.

»Ach ja, hochwürdige Mutter, jetzt höre ich die Sterbeglocke.«

»Die Mütter haben sie in die Todtenkammer neben der Kirche getragen.«

»Ich weiß es.«

»Kein anderer Mann als Sie kann und darf in diese Kammer hinein. Sorgen Sie dafür. Das wäre schön, wenn ein Mann in die Todtenkammer käme.«

»Oefter!«

»Wie?«

»Oefter!«

»Was sagen Sie?«

»Ich sage öfter.«

»Oefter als was?«

»Hochwürdige Mutter, ich sage nicht öfter als was, ich sage öfter.«

»Ich verstehe Sie nicht. Warum sagen Sie öfter?«

»Um das zu sagen, was Sie sagten, hochwürdige Mutter.«

»Ich habe ja nicht öfter gesagt.«

»Sie haben es nicht gesagt, ich sagte es nur, um zu sagen wie Sie.«

In diesem Augenblick schlug es neun Uhr.

»Um neun Uhr früh und zu jeder Stunde sei gelobt und angebetet das allerheiligste Sacrament des Altars« sagte die Priorin.

»Amen!« sagte Fauchelevent.

Es hatte grade zur rechten Zeit geschlagen, denn es machte dem »öfter« ein Ende. Ohne die Glocke würden die Priorin und Fauchelevent sich wohl niemals aus diesem Wirrwarr des »öfter« befreit haben.

Fauchelevent wischte sich die Stirn.

»Bei ihren Lebzeiten bewirkte Mutter Crucifixion Bekehrungen; nach ihrem Tode wird sie Wunder verrichten.«

»Sie wird sie verrichten,« stimmte Fauchelevent ein.

»Vater Fauvent, die Gemeinschaft ist in der Mutter Crucifixion gesegnet gewesen. Die Mutter Crucifixion hat einen kostbaren Tod gehabt. Sie hat bis zum letzten Augenblicke ihr Bewußtsein behalten. Sie sprach mit uns, dann sprach sie mit den Engeln, Sie hat uns ihre letzten Wünsche mitgetheilt. Wenn Sie etwas mehr Glauben hätten und wenn Sie in ihrer Zelle hätten sein können, so würde sie durch Auflegen der Hand Ihr Bein geheilt haben. Sie lächelte. Man fühlte, daß sie in Gott auferstand. In diesem Sterben lag ein Stück des Paradieses.«

Fauchelevent glaubte, sie beende ein Gebet und sagte:

»Amen.«

»Vater Fauvent, man muß das thun, was die Todten wollen.«

Die Priorin ließ einige Körner ihres Rosenkranzes durch die Finger gleiten. Fauchelevent schwieg. Sie fuhr fort.

»Ich habe über diese Frage mehrere berühmte Geistliche befragt …«

»Hochwürdige Mutter, hier hört man das Sterbeglöckchen viel deutlicher als im Garten.«

»Uebrigens ist sie ja auch mehr als eine Todte, sie ist eine Heilige.«

»Wie Sie, hochwürdige Mutter.«

»Seit zwanzig Jahren schlief sie mit ausdrücklicher Erlaubniß unseres heiligen Vaters Pius VII. in ihrem Sarge.«

»Das ist der, welcher den Kai… Bonaparte krönte.«

Für einen gewandten Mann wie Fauchelevent war diese Erwähnung ungeschickt. Glücklicherweise hörte sie die Priorin nicht, welche ganz in ihre Gedanken versunken war. Sie fuhr fort:

»Vater Fauvent!«

»Hochwürdige Mutter?«

»Der heilige Diodorus, Erzbischof von Capadocien, wünschte, daß man auf sein Grab nur das eine Wort schriebe: Acarus d. h. Wurm. Es geschah. Ist’s wahr?«

»Ja, hochwürdige Mutter.«

»Der heilige Mezzocane, Abt von Aquila, wollte unter dem Galgen begraben sein; es geschah.«

»Es ist wahr.«

»Vater Fauvent, die Mutter Crucifixion wird in dem Sarge begraben werden, in welchem sie seit zwanzig Jahren geschlafen hat.«

»Das ist recht.«

»Es ist eine Fortsetzung des Schlafes.«

»Ich werde also diesen Sarg zuzunageln haben.«

»Ja.«

»Und wir lassen den andern Leichenträger bei Seite?«

»So ist es.«

»Ich stehe der hochwürdigen Gemeinschaft zu Diensten.«

»Die vier Singemütter werden Ihnen helfen.«

»Den Sarg zuzunageln? Dazu brauche ich sie nicht.«

»Nein, um ihn hinunter zu lassen.«

»Wohin?«

»In das Gewölbe.«

»Welches Gewölbe?«

»Unter dem Altare.«

Die Seele Fauchelevents machte einen Seitensatz wie ein scheues Pferd.

»In das Gewölbe unter dem Altare?« wiederholte er.

»Unter dem Altare.«

»Aber …«

»Sie haben eine eiserne Stange.«

»Ja, aber …«

»Sie werden die Stange in den Ring des Steines stecken und dadurch den Stein in die Höhe heben.«

»Aber …«

»Den Todten muß man gehorchen. In dem Gewölbe unter dem Altare der Kapelle beerdigt und nicht in profane Erde gebracht zu werden, im Tode da zu bleiben, wo sie im Leben gebetet, das war der letzte Wunsch der Mutter Crucifixon. Sie hat es von uns gewünscht, das heißt so viel, als sie hat es uns befohlen.«

»Es ist ja aber verboten.«

»Verboten von den Menschen, geboten von Gott.«

»Wenn es herauskäme?«

»Wir haben Vertrauen zu Ihnen.«

»Das können Sie auch, denn ich bin ein Stein von Ihrer Mauer.«

»Das Kapitel ist versammelt. Die Stimmmütter welche ich noch einmal befragt habe und welche sich darüber noch in Berathung befinden, haben beschlossen, daß die Mutter Crucifixion ihrem Wunsche gemäß in ihrem Sarge unter unserm Altare begraben werde. Denken Sie, Vater Fauvent, wenn sich hier Wunder ereigneten! Welcher Ruhm in Gott für unsere Gemeinschaft! Die Wunder kommen aus den Gräbern.«

»Aber hochwürdige Mutter, wenn der Beamte der Gesundheitskommission …«

»Der heilige Benedictus II. hat in Begräbnißangelegenheiten dem Constantin Pogonat widerstanden …«

»Indeß der Polizeikommissar …«

»Chonodemarius, einer der sieben deutschen Könige, welche unter der Regierung des Constanz nach Gallien kamen, hat ausdrücklich das Recht der Mönche und der Nonnen, in ihrer Kirche unter dem Altar begraben zu werden, anerkannt.«

»Aber der Präfecturinspector …«

»Die Welt ist nichts vor dem Kreuze. Stat crux dum volvitur orbis6

»Amen,« sagte Fauchelevent, unveränderlich in dieser Art sich alle Mal aus der Sache zu ziehen, wenn er Lateinisch hörte.

»Es ist abgemacht, Vater Fauvent?«

»Abgemacht, hochwürdige Mutter.«

»Kann man auf Sie rechnen?«

»Ich werde gehorchen.«

»Es ist gut.«

»Ich bin dem Kloster ganz ergeben.«

»Man weiß es. Sie werden den Sarg zumachen, die Schwestern werden ihn in die Kapelle tragen. Nachdem das Todtenamt abgehalten worden, kehrt man in das Kloster zurück. Zwischen elf Uhr und Mitternacht kommen sie mit Ihrer Eisenstange. Es muß Alles ganz im Geheimen geschehen. Niemand wird in der Kapelle sein als die vier Singmütter, die Mutter Ascension und Sie.«

»Und die Schwester vor dem Pfahle.«

»Diese wird sich nicht umsehen.«

»Aber hören.«

»Sie wird nicht hören. Uebrigens, die Welt weiß nicht, was das Kloster weiß.«

Es trat wiederum eine Pause ein. Die Priorin fuhr fort:

»Sie werden Ihr Glöckchen abnehmen. Es ist nicht nöthig, daß die Schwester vor dem Pfahle erfahre, daß Sie da sind.«

»Hochwürdige Mutter.«

»Was, Vater Fauvent?«

Hat der Leichenarzt schon seinen Besuch abgestattet?«

»Er wird um vier Uhr Nachmittags kommen.«

»Hochwürdige Mutter, wir werden einen Hebel von wenigstens sechs Fuß haben müssen.«

»Woher werden Sie ihn besorgen?«

»Wo es nicht an Gittern fehlt, fehlt es auch nicht an Eisenstäben. Ich habe hinten im Garten einen ganzen Haufen altes Eisen.«

»Etwa dreiviertel Stunden vor Mitternacht, vergessen Sie es nicht!«

Hochwürdige Mutter!«

»Was?«

»Wenn Sie noch andere solche Arbeit hätten, mein Bruder ist sehr kräftig. Ein wahrer Türke.«

»Beeilen Sie sich so sehr als möglich.«

»Geschwind geht es bei mir nicht mehr. Ich bin schwach; darum brauche ich einen Gehülfen. Ich hinke.«

»Hinken ist kein Nachtheil, vielleicht ein Segen. Der Kaiser Heinrich II., welcher mit dem Gegenpabst Gregor im Streit lag und Benedikt VIII. wieder einsetzte, hatte zwei Namen: der Heilige und der Lahme.«

»Zwei Röcke sind freilich besser,« murmelte Fauchelevent, der wirklich ein wenig schwer hörte.

»Vater Fauvent ich denke, wir verwenden eine ganze Stunde darauf. Es ist nicht zu viel. Seien Sie um elf Uhr mit Ihrer Stange an dem Hauptaltar. Das Amt beginnt um Mitternacht. Eine gute Viertelstunde vorher muß alles vorbei sein.«

»Ich werde alles thun, um meinen Eifer für das Kloster zu beweisen. Es ist abgemacht. Ich nagele den Sarg zu. Punkt elf Uhr bin ich in der Kapelle. Die Singemütter werden auch da sein, ebenso die Mutter Ascension. Zwei Männer wären freilich besser. Was thuts! ich habe meinen Hebel. Wir öffnen das Gewölbe, lassen den Sarg hinunter und schließen das Gewölbe wieder zu. Ist’s vorbei, so ist keine Spur mehr davon zu sehen. Die Regierung wird nichts ahnen. Ist so alles geordnet, Hochwürdige Mutter?«

»Nein.«

»Was giebts noch?«

»Noch Eins ist zu erledigen, der leere Sarg. Vater Fauvent, was machen wir mit dem?«

»Man trägt ihn in das Grab, auf den Kirchhof.«

»Leer?«

Fauchelevent machte mit der linken Hand die Geberde, welche eine unbequeme Frage abweist.

»Hochwürdige Mutter, ich bin es, der den Sarg in der niedrigen Kammer neben der Kirche zunagelt und das Grabtuch darauflegt. Außer mir kommt Niemand hinein.«

»Ja, aber die Träger, wenn sie ihn auf den Wagen heben und in das Grab hinunterlassen, werden es merken, daß nichts darin ist.«

»Ha, zum Teu…!« rief Fauchelevent.

Die Priorin begann ein Zeichen des Kreuzes und sah den Gärtner fest an. Das …fel« war ihm in der Kehle stecken geblieben. Er beeilte sich, damit der Fluch vergessen werde, ein Auskunftsmittel zu erfinden.

»Hochwürdige Mutter, ich werde Erde in den Sarg thun. Das wird so gut sein, als wenn Jemand darin wäre.«

»Sie haben Recht. Erde ist dasselbe wie der Mensch. Sie werden es also mit dem leeren Sarge so machen?«

»Ich werde meine Schuldigkeit thun.«

Das Gesicht der Priorin, das bis dahin ernst und trübe gewesen war, heiterte sich auf. Sie verabschiedete ihn mit dem Zeichen, das den Vorgesetzten eigen ist, wenn sie den Untergebenen entlassen. Fauchelevent ging nach der Thür zu. Als er schon auf der Schwelle stand, sagte die Priorin mit freundlichem Tone zu ihm:

»Vater Fauvent, ich bin mit Ihnen zufrieden. Morgen nach der Beerdigung führen Sie mir Ihren Bruder zu und sagen Sie ihm, daß er seine Tochter mitbringe.«

  1. Fest steht das Kreuz, während die Erde sich dreht.

IV. Als ob Johann Valjean den Justin Castillejo gelesen hätte.

Große Schritte des Lahmen sind wie Liebesblicke des Einäugigen; sie kommen nicht schnell zum Ziele. Außerdem war Fauchelevent ganz perplex geworden, so daß er beinahe eine Viertelstunde brauchte, um in seine Hütte zurück zu kommen. Cosette war erwacht. Johann Valjean hatte sie an das Feuer gesetzt. In dem Augenblicke, als Fauchelevent eintrat, zeigte ihr Johann Valjean den Tragkorb, der an der Wand hing und sagte zu ihr:

»Gieb jetzt gut Achtung auf das, was ich Dir sagen werde, meine kleine Cosette. Wir müssen aus diesem Hause gehen, aber wir werden wieder zurück kommen und uns dann hier sehr wohl befinden. Der gute Mann hier wird Dich da drin auf seinem Rücken forttragen. Du wirst mich bei einer Frau erwarten, von der ich Dich abholen werde. Wenn Du nicht willst, daß Dich die Thenardier wieder holen soll, so sei folgsam und still.«

Cosette machte mit dem Kopf ein sehr ernstes Zeichen.

Bei dem Geräusch, welches Fauchelevent durch das Oeffnen der Thür machte, drehte sich Johann Valjean um.

»Nun?«

»Alles ist geordnet und nichts,« antwortete Fauchelevent, »Ich habe die Erlaubniß Sie hier herein zu lassen, aber ehe ich das kann, muß ich Sie hinausschaffen. Mit der Kleinen, da ist’s leicht.«

»Sie tragen sie fort?«

»Wird sie still sein?«

»Ich stehe dafür.«

»Aber Sie, Vater Madeleine?«

Nach einer ziemlich ängstlichen Pause rief Fauchelevent:

»Gehen Sie doch auf dem Wege hinaus, auf dem Sie hereingekommen sind!«

Johann Valjean beschränkte sich, wie das erste Mal, darauf, daß er antwortete: »Unmöglich.«

Fauchelevent, der mehr mit sich selbst als zu Johann Valjean sprach, murmelte:

»Noch etwas Anderes quält mich. Ich habe gesagt, daß ich Erde hinein thun würde. Das wird nicht gehen; sie wird sich bewegen, sich verschieben. Die Leute werden’s merken. Die Regierung wird es erfahren, das begreifen Sie, Vater Madeleine.«

Johann Valjean sah ihn mit halb zugekniffenen Augen an und glaubte, er rede irre.

Fauchelevent fuhr fort:

»Wie zum Teu…fel werden Sie hinauskommen? Und morgen muß Alles gemacht werden! Morgen soll ich Sie bringen. Die Priorin erwartet Sie.«

Hierauf theilte er Johann Valjean die ganze im vorigen Kapitel verzeichnete Unterhaltung zwischen ihm und der Priorin mit, so wie auch die beiden Verlegenheiten, in denen er sich befände: wie Johann Valjean hinausbringen, und wie den leeren Sarg füllen?

»Was ist das für ein leerer Sarg?« fragte Johann Valjean.

»Nun der Sarg der Verwaltung,« antwortete Fauchelevent.

»Welchen Sarg? Welche Verwaltung?

»Jetzt stirbt eine Nonne. Da kommt der Stadtarzt und sagt: eine Nonne ist gestorben. Die Regierung schickt einen Sarg. Den nächsten Tag schickt sie einen Leichenwagen und Leichenträger und die tragen ihn auf den Kirchhof. Nun werden die Leichenträger kommen, den Sarg aufheben und es wird Nichts darin sein.«

»Legen Sie etwas hinein.«

»Einen Todten? Ich habe keinen.«

»Nicht einen Todten.«

»Was denn?«

»Einen Lebendigen.«

»Welchen Lebendigen?«

»Mich,« sagte Johann Valjean.

Fauchelevent, der sich gesetzt hatte, sprang auf als wäre eine Bombe unter seinem Stuhle losgegangen.

»Sie?«

»Warum nicht?«

Johann Valjean hatte eines der seltenen Lächeln, die in seinem Gesicht erschienen wie ein Sonnenblick am Winterhimmel.

»Sie wissen, Fauchelevent, daß Sie gesagt haben: Mutter Crucifixion ist gestorben und daß ich hinzugefügt habe: Und Vater Madeleine wird begraben, Und so wird es sein.«

»Sie lachen! Sie reden nicht im Ernst.«

»Sehr im Ernst. Soll ich nicht hinaus?«

»Ohne Zweifel.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten auch für mich einen Tragekorb und eine Decke darüber finden.«

»Nun?«

»Der Tragkorb ist in dem Sarge, die Decke im Leichentuch gefunden.«

»Sie sind nicht ein Mann wie die andern, Vater Madeleine.«

Solche Einfälle zu sehen, die nichts anderes sind, aIs wilde und verwegene Erfindungen des Bagno, hier mitten in einem friedlichen Kloster, das versetzte Fauchelevent in ein ungeheures Staunen.

Johann Valjean fuhr fort:

»Es handelt sich darum, ungesehen von hier hinaus zukommen. Das ist ein Mittel. Zunächst aber erzählen Sie alles genau. Wo ist der Sarg?«

»Der leere?«

»Ja.«

»Unten im sogenannten Todtensaale. Auf zwei Böcken steht er unter dem Leichentuche.«

»Wie lang ist er?«

»Sechs Fuß.«

»Was ist das, der Todtensaal?«

»Eine Kammer im Erdgeschoß, mit einem vergitterten Fenster nach dem Garten zu, das von außen mit einem Laden geschlossen wird, und mit zwei Thüren. Die eine führt in das Kloster, die andere in die Kirche.

»In welche Kirche?«

»In die Straßenkirche, in die Kirche für alle Welt.«

»Haben Sie die Schlüssel zu den beiden Thüren?«

»Nein. Ich habe nur den Schlüssel zu der Thür, welche in’s Kloster führt; den andern hat der Portier.«

»Wann macht der Portier diese Thür auf?«

»Nur um die Leichenträger einzulassen, welche den Sarg holen kommen. Ist der Sarg hinaus, wird die Thür wieder geschlossen.«

»Wer nagelt den Sarg zu?«

»Das bin ich.«

»Wer legt das Tuch darüber?«

»Das bin ich.«

»Sind Sie dabei allein?«

»Kein anderer Mann, außer dem Polizeiarzte, darf in die Todtenkammer hinein. Es steht sogar an der Wand geschrieben.«

»Könnten Sie mich in der Nacht, wenn alles im Kloster schläft, in diesem Saale verbergen?«

»Nein. Aber in einem kleinen dunklen Kämmerchen kann ich Sie verstecken, das in den Saal führt, wo ich meine Beerdigungsgeräthe aufbewahre und wozu ich den Schlüssel habe.«

»Zu welcher Zeit wird morgen der Leichenwagen kommen?«

»Gegen drei Uhr Nachmittags. Die Beerdigung findet kurz vor einbrechender Nacht statt. Der Kirchhof ist nicht ganz nahe.«

»Ich werde die Nacht und den Tag in dem Kämmerchen mit den Gerätschaften bleiben. Ich werde aber Hunger bekommen, was soll ich essen?«

»Ich werde ihnen etwas bringen.«

»Sie könnten mich um zwei Uhr in den Sarg einnageln.«

Fauchelevent fuhr zurück und knackte die Fingergelenke.

»Das ist nicht möglich!«

»Was? einen Hammer zu nehmen und Nägel in ein Brett zu schlagen?«

Das was Fauchelevent unerhört vorkam, war für Johann Valjean ganz einfach. Wer gefangen gewesen ist, versteht die Kunst, seinen Körper zusammen zu ziehen und klein zu machen, sich in eine Kiste einnageln und forttragen zu lassen, wie ein Waarenballen, lange in einem Kasten zu leben, Luft zu finden, wo keine ist, Stunden lang mit dem Athem sparsam umzugehen, zu ersticken ohne zu sterben.

Uebrigens ist dieses Auskunftsmittel, ein Sarg mit einem Lebenden darin, sowohl eines des Sträflings, wie des Kaisers.

Wenn man dem Mönch Justin Castillejo glauben darf, war es das Mittel, welches Karl V., als er nach seiner Abdankung ein letztes Mal die Plombes sehen wollte, anwendete, um sich in das Kloster St. Just und aus demselben bringen zu lassen.

Als Fauchelevent wieder ein Wenig zu sich gekommen, rief er:

»Wie wollten Sie denn athmen?«

»Ich werde athmen.«

»In diesem Kasten! Ich ersticke schon bei dem bloßen Gedanken daran.«

»Sie haben doch gewiß einen Bohrer und werden um den Mund herum da und dort einige Löcher machen können, auch den Sarg zumachen, ohne die Bretter zu fest darauf zu nageln.«

»Gut! Aber wenn Ihnen das Husten oder das Niesen ankommt?«

»Wer entflieht, hustet und nieset nicht. – Vater Fauchelevent,« setzte Johann Valjean hinzu, »wir müssen uns entschließen: entweder hier gefangen oder hinein in den Sarg, der uns aus aller Verlegenheit bringt.«

Jedermann hat gewiß schon die Vorliebe der Katzen bemerkt, zwischen den beiden Flügeln einer halboffenen Thür sich aufzuhalten oder herumzuschleichen. Es giebt auch Menschen, die in einem halb vor ihnen geöffneten Vorgange unentschlossen zwischen zwei Entschlüssen bleiben, auf die Gefahr hin, von dem sich plötzlich schließenden Geschick zerquetscht zu werden. Die allzu Vorsichtigen laufen bisweilen größere Gefahr als die Kühnen, Fauchelevent gehörte zu diesen zögernden Naturen. Indeß gewann die Kaltblütigkeit Johann Valjeans die Oberhand über ihn. Er murmelte:

»In der That, es giebt kein anderes Mittel.«

Johann Valjean fuhr fort:

»Das Einzige, was mich beunruhiget, ist das was auf dem Kirchhofe geschehen wird.«

»Gerade das beunruhigt mich gar nicht,« sagte Fauchelevent.

»Wenn Sie sicher sind, mit dem Sarge zurecht zu kommen, so bin ich meinerseits auch sicher, mit dem Grabe fertig zu werden. Der Todtengräber ist mein Freund und immer betrunken. Der Todtengräber legt die Todten in das Grab und ich stecke den Todtengräber in die Tasche. Ich will Ihnen sagen, wie es kommen wird. Kurz vor der Abenddämmerung, drei Viertelstunde ehe die Gitter geschlossen werden, wird man kommen. Der Leichenwagen fährt bis an das Grab. Ich folge; es ist mein Amt. Hammer und Zange habe ich in der Tasche. Der Leichenwagen hält, die Leichenträger legen ein Seil um Ihren Sarg und lassen Sie hinunter. Der Geistliche spricht das Gebet, macht das Zeichen des Kreuzes, sprengt Weihwasser und macht sich aus dem Staube. Ich bleibe mit dem Todtengräber allein zurück. Er ist mein Freund, wie ich Ihnen schon gesagt habe, Eins von beiden: entweder ist er schon betrunken oder er ist es noch nicht. Ist er es nicht, so sage ich: komm! wir wollen eins trinken. Ich führe ihn fort und mache ihn betrunken. Das dauert bei ihm nicht lange, denn den Anfang hat er immer schon gemacht. Liegt er unter dem Tische, so nehme ich ihm seine Karte ab, um auf den Kirchhof zurück gelangen zu können und komme ohne ihn wieder an. Sie haben es dann nur mit mir zu thun. Ist er schon betrunken, so sage ich: geh Du. Ich werde es schon für Dich mit besorgen. Er geht und ich ziehe Sie aus dem Loche heraus.«

Johann Valjean reichte ihm die Hand, auf die Fauchelevent sich mit bäuerlichem Enthusiasmus stürzte.

»Es ist abgemacht, Vater Fauchelevent. Es wird Alles gut gehen.«

»Wenn nichts dazwischen kommt,« dachte Fauchelevent.

V. Betrunkensein reicht nicht aus zur Unsterblichkeit.

Am anderen Tage, als die Sonne unterging, nahmen die wenigen Vorübergehenden auf dem Boulevard du Maine den Hut vor einem Leichenwagen, einem alten Modell, ab, der mit Todtenköpfen, Todtengebeinen und Todtenlarven verziert war. In dem Leichenwagen befand sich ein mit einem weißen Tuche bedeckter Sarg, auf welchem ein großes schwarzes Kreuz stand, das wie eine todte Frau mit herabhängenden Armen aussah. Ein schwarz behangener Wagen, in dem man einen Geistlichen und einen Chorknaben bemerkte, folgte. Zwei Todtengräber in grauem Anzuge mit schwarzen Aufschlagen gingen zur Rechten und Linken des Leichenwagens. Hinter demselben kam ein alter Mann in Arbeiterkleidung zu Fuß. Dieser hinkte.

Der Gottesacker Vaugirard, wohin sich der Zug bewegte, hatte früher den Bernhardinern und Benediktinerinnen von Klein-Picpus gehört, deshalb hatten sie es erlangt, dort in einem besonderen Winkel und des Abends begraben zu werden. Die Todtengräber, welche aus diesem Grunde auf dem Kirchhofe im Sommer des Abends und im Winter des Nachts Dienst hatten, waren einer besonderen Aufsicht unterworfen. Die Thore der Kirchhöfe zu Paris wurden damals mit Sonnenuntergang geschlossen. Die beiden Thore des Kirchhofes von Vaugirard waren zwei anstoßende Gitter neben einem kleinen Häuschen, wo der Kirchhofs-Portier wohnte. Diese Gitter schlossen sich unerbittlich, sobald die Sonne hinter dem Invalidendome verschwand. Wenn irgend ein Todtengräber sich auf dem Kirchhofe verspätet hatte, so konnte er nur heraus, wenn er seine Karte vorzeigte, welche ihm von der allgemeinen Begräbnißverwaltung ausgestellt worden war. In dem Fensterladen des Portier war eine Art Briefkasten angebracht. In diesen Kasten warf der Todtengräber seine Karte, der Portier zog die Schnur und das Thor ging auf. Hatte der Todtengräber seine Karte nicht bei sich, so nannte er sich, der bereits eingeschlafen gewesene Portier stand auf, erkannte den Todtengräber, schloß auf und ließ ihn heraus. Dafür mußte der Todtengräber aber fünfzehn Francs Strafe bezahlen.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als der Leichenwagen mit dem weißen Tuche und dem schwarzen Kreuze in die Allée des Kirchhofs einfuhr.

Das Begräbniß der Mutter Crucifixion in dem Gewölbe unter dem Altare, das Hinaustragen Cosettes, das Hineinführen Johann Valjeans in den Todtensaal, alles dies war ohne Hinderniß ausgeführt worden.

Die Bestattung der Mutter Crucifixion unter dem Altare macht uns übrigens auf jene Gattung von Vergehen aufmerksam, welche einer Pflicht gleichen. Die Nonnen hatten es begangen nicht nur ohne Unruhe, sondern mit innerer Befriedigung. Dasjenige, was man im Kloster »die Regierung« nennt, ist nur eine immer streitige Einmischung in die kirchliche Autorität. Erst kommt die Ordensregel. Macht Gesetze, ihr Menschen da draußen, so viel Ihr wollt, behaltet sie aber für Euch! Was ist ein Fürst neben einem Princip?

Fauchelevent hinkte ganz zufrieden hinter dem Leichenwagen her. Bisher war ihm Alles geglückt. Er zweifelte auch an dem weiteren Erfolge nicht, denn das was noch zu thun übrig, war so gut wie nichts. Seit zwei Jahren hatte er den Todtengräber zehnmal betrunken gemacht. Er spielte mit ihm und machte mit ihm, was er wollte. Er fühlte sich vollkommen sicher. Als der Zug in den Kirchhof hineinfuhr, war Fauchelevent glücklich und rieb sich vergnügt die Hände.

Plötzlich hielt der Leichenwagen; man war vor dem Gitter und der Begräbnißschein mußte vorgezeigt werden. Man sprach mit dem Portier und während dieses Gespräches, das immer einen Aufenthalt von Ein oder Zwei Minuten verschaffte, stellte sich Jemand hinter den Wagen neben Fauchelevent, eine Art Arbeitsmann in einer Jacke mit großen Taschen und einer Hacke unter dem Arme.

Fauchelevent sah den Unbekannten an und fragte:

»Wer sind Sie?«

Der Mann antwortete:

»Der Todtengräber.«

Wenn man noch lebte, nachdem man eine Kanonenkugel in die volle Brust erhalten, so würde man ein Gesicht machen, wie Fauchelevent es jetzt machte.

»Der Todtengräber?«

»Ja.«

»Sie?«

»Ich.«

»Der Todtengräber ist der Vater Mestienne.«

»Er war es.«

»Wie so war es?«

»Er ist gestorben.«

Fauchelevent hatte es alles erwartet, nur das nicht, daß ein Todtengräber sterben könnte.

Fauchelevent war ganz bestürzt.

»Das ist ja aber nicht möglich.«

»Es ist so.«

»Der Todtengräber ist ja aber der alte Mestienne,« erwiederte er mit schwacher Stimme.

»Nach Napoleon Ludwig der XVIII. Nach Mestienne Gribier. Ich heiße Gribier.«

Fauchelevent war ganz blaß und besah sich diesen Gribier. Es war ein langer, hagerer, bleicher Mann, ein wahrer Leichenmensch. Er sah aus wie Einer der während er Arzt werden wollte, Todtengräber geworden ist.

Fauchelevent brach in lautes Lachen aus.

»Was doch für komische Sachen passiren! Der Vater Mestienne ist todt! Der kleine Vater Mestienne ist todt! Es thut mir leid; er war ein guter Kerl, als er noch lebte. Sie sind aber auch ein guter Kerl. Nicht wahr, Camerad, wir trinken Eins mit einander auf der Stelle?«

Der Mann antwortete:

»Ich habe studirt. Ich trinke nie.«

Der Leichenwagen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt.

Fauchelevent fing an langsamer zu gehen. Er hinkte noch mehr aus Angst als aus Gebrechlichkeit.

Der Todtengräber ging vor ihm.

»Camerad!« rief Fauchelevent.

Der Mann drehte sich um.

»Ich bin der Todtengräber des Klosters.«

»Mein College also,« antwortete der Mann.

Fauchelevent war nicht gelehrt, aber sehr pfiffig und begriff, daß er mit einer fürchterlichen Gattung Menschen, mit einem Schönredner zu thun habe.

Er murmelte:

»Hm! hm! Ist der alte Mestienne gestorben!«

Der Mann antwortete:

»Vollständig. Der liebe Gott sah in seinem Wechselportefeuille nach. Es war die Reihe an den alten Mestienne und der alte Mestienne starb.«

Fauchelevent wiederholte mechanisch:

»Der liebe Gott …«

»Der liebe Gott,« fiel der Andere mit einer gewissen Autorität ein. »Für die Philosophen ist es der ewige Vater, für die Jacobiner das höchste Wesen.«

»Wollen wir nicht Bekanntschaft mit einander machen?« stotterte Fauchelevent.

»Ist schon gemacht. Sie sind Bauer, ich bin Pariser.«

»So lange man nicht mit einander getrunken hat, kennt man einander nicht. Wer sein Glas leert, leert auch sein Herz aus. Wir trinken Eins mit einander. Das schlägt man einander nicht aus.«

»Erst die Arbeit.«

Fauchelevent dachte: »ich bin verloren.«

Man war nur noch einige Schritte von dem Wege entfernt, welcher zu dem Winkel führte, wo die Nonne begraben wurde. Da sagte der Todtengräber:

»Bauer, ich habe sieben Mäuler zu füttern. Da sie essen wollen, darf ich nicht trinken. Ihr Hunger ist der Feind meines Durstes.«

Der Leichenwagen fuhr um einen Cypressenbaum herum, verließ die große Haupt-Allee, bog in eine schmale hinein, verließ dann auch diese und fuhr auf ungebahntem Erdreich hin, ein Zeichen, daß er nicht mehr weit vom Grabe war.

Fauchelevent ging langsamer, aber den Wagen konnte er nicht aufhalten. Zum Glück war der Boden vom Winterregen weich und feucht, so daß die Räder tief einschnitten und er nicht schnell gehen konnte.

Er trat wieder zu dem Todtengräber und sprach verlockend:

»Es giebt einen so vortrefflichen Wein von Argenteuil.«

»Bauer,« antwortete der Andere, »eigentlich sollte ich nicht Todtengräber sein. Mein Vater war Portier im Prytanäum. Er bestimmte mich für die Literatur. Er hatte aber Unglück. Er hatte Verluste an der Börse. Ich mußte auf den Schriftstellerstand verzichten, bin aber noch öffentlicher Schreiber.«

»So sind Sie also nicht Todtengräber?« fragte Fauchelevent, indem er sich an diesem so schwachen Aste anzuklammern suchte.

»Eins schließt das Andere nicht aus.«

»Trinken wir doch Eins,« sagte Fauchelevent.

Hier ist die Bemerkung nöthig, daß so groß auch die Angst Fauchelevents war, er sich bei seiner Aufforderung zum Trinken über den Punkt des Bezahlens nicht ausließ. Er war so aufgeregt, daß er gar nicht ans Bezahlen dachte.

Mit einem überlegenen Lächeln fuhr der Todtengräber fort:

»Man muß essen. Ich habe die Erbschaft des Vaters Mestienne angetreten. Wenn man die Schule fast durchgemacht hat, ist man Philosoph. Ich arbeite nicht nur mit dem Arme, auch mit der Hand. Meine Schreiberstube steht in der Sevresstraße, wissen Sie, am Paraplui-Markte. Alle Köchinnen des Viertels wenden sich an mich. Ich schreibe die Briefe an ihre Täuber. Früh schreibe ich Liebesbriefe, Abends mache ich Gräber. So ist das Leben, Landmann.«

Der Leichenwagen fuhr immer weiter. Fauchelevent, der sich in der größten Unruhe befand, sah sich nach allen Seiten um. Große Schweißtropfen fielen von seiner Stirn.

»Indessen,« fuhr der Todtengräber fort, »zweien Herren kann man nicht dienen. Ich werde wählen müssen, entweder die Feder oder das Grabscheit. Das Grabscheit verdirbt mir die Hand.«

Der Leichenwagen hielt.

Der Chorknabe stieg aus dem schwarz behangenen Begleitwagen, dann der Geistliche.

VI. Zwischen vier Brettern.

Wer lag in dem Sarge? man weiß es. Johann Valjean.

Er hatte sich eingerichtet, um darin leben zu können und athmete kaum.

Es ist merkwürdig, wie sicher Einen die Ruhe des Gewissens machen kann.

Der ganze von Johann Valjean ausgedachte Plan verlief seit dem vorigen Abend ganz gut. Johann Valjean rechnete wie Fauchelevent auf den Vater Mestienne. Er zweifelte nicht an dem guten Ende. Es konnte keine gefährlichere Lage, aber auch keine größere Ruhe geben.

Die vier Bretter des Sarges umschließen einen gewissen, schrecklichen Frieden. Auch die Ruhe Johann Valjeans schien etwas von der Ruhe der Todten zu haben.

Er hatte aus dem Sarge heraus allen Phasen des furchtbaren Dramas folgen können, das er mit dem Tode spielte.

Bald nachdem Fauchelevent den Sarg zugenagelt, hatte Johann Valjean gefühlt, daß er fortgetragen, dann fortgefahren werde. An den geringeren Stößen merkte er, daß man das Pflaster verlassen und nach dem Boulevard gekommen sei. Aus einem dumpfen Geräusch hatte er errathen, daß der Wagen über die Brücke von Austerlitz fahre. Als man das erstemal anhielt, merkte er, daß man beim Kirchhofe angelangt sei; bei dem zweiten Halt sagte er sich: wir sind am Grabe.

Er fühlte, daß Hände den Sarg ergriffen, sodann ein rauhes Reiben an den Brettern. Das war das Seil, das man um den Sarg legte, um ihn in die Grube hinunter zu lassen.

Dann fühlte er sich eine Zeitlang ganz betäubt.

Wahrscheinlich hatten die Leichenträger und der Tootengräber beim Hinunterlassen des Sarges die Kopfseite zuerst hinunter sinken lassen. Als er fühlte, daß sich der Sarg unbeweglich in horizontaler Lage befinde, kam er wieder zum Bewußtsein, Er befand sich unten auf dem Boden des Grabes.

Es war ihm kalt.

Ueber ihm erhob sich eine kalte, feierliche Stimme:

» Qui dormiunt in terrae pulvere, evigilabunt, alii in vitam aeternam, et alii in opprobrium, ut videant semper.«

(Die im Staub der Erde schlafen, werden erwachen, die Einen zum ewigen Leben, die Andern zu ewiger Schande.)

Eine Knabenstimme sprach:

» De profundis.«

(Aus den Tiefen.)

Die tiefere Stimme begann von neuem:

» Requiem aeternam dona ei, domine.«

(Gieb ihnen, o Herr, ewige Ruhe.)

Die Knabenstimme antwortete:

» Et lux aeterna luceat ei.«

(Und es leuchte ihnen das ewige Licht.)

Er hörte auf dem oberen Brette ein leises Klopfen wie von einigen Regentropfen. Das war wahrscheinlich das Weihwasser. Er dachte: jetzt ist’s zu Ende. Noch ein wenig Geduld. Der Geistliche entfernt sich, Fauchelevent führt den alten Mestienne zum Trinken. Man wird mich liegen lassen. Dann kommt Fauchelevent allein zurück und ich bin befreit.

Die tiefe Stimme begann nochmals:

» Requiescat in pace.«

(Ruhe in Frieden.)

Und die Knabenstimme antwortete:

» Amen.«

Johann Valjean spitzte die Ohren und glaubte etwas wie sich entfernende Schritte zu hören.

»Nun gehen sie,« dachte er. »Ich bin allein.«

Plötzlich hörte er über seinem Kopf ein donnerähnliches Getöse.

Eine Schaufel Erde fiel auf den Sarg; dann eine zweite.

Eines der Löcher, durch die er athmete, verstopfte sich.

Eine dritte und eine vierte Schaufel voll fiel herunter.

Es giebt Dinge, welche selbst der stärkste Mensch nicht ertragen kann. Johann Valjean verlor das Bewußtsein.

IV. Beurtheilung der Existenzberechtigung des Klosters.

Menschen vereinigen sich und wohnen gemeinschaftlich mit einander. Nach welchem Recht? Nach dem Associationsrechte.

Sie schließen sich ein. Nach welchem Rechte? Nach dem Rechte, das jeder Mensch hat, seine Thür nach Belieben zu öffnen und zu schließen.

Sie gehen nicht aus. Nach welchem Rechte? Nach dem Rechte eines Jeden zu gehen und zu kommen, wie es ihm beliebt, das das Recht in sich schließt, zu Haus zu bleiben.

Und zu Hause, was thuen sie da?

Sie sprechen leise; sie schlagen die Augen nieder; sie arbeiten. Sie entsagen der Welt, den Städten, den Sinnengenüssen, den Vergnügungen, den Eitelkeiten dieser Welt, dem Stolze, den Sonderinteressen. Keiner von ihnen besitzt irgend Etwas eigentümlich. Beim Eintritt wird der Reiche arm. Der Adlige, der Edelmann und gnädige Herr wird dem gleich, der Bauer war. Der Fürst wird der gleiche Schatten, wie die anderen. Titel gibt es nicht mehr. Selbst die Familiennamen sind verschwunden. Nur Vornamen haben sie noch. Sie haben die fleischliche Familie aufgelöst und in ihrer Gemeinde die geistige gegründet. Sie haben keine anderen Aeltern als die Menschheit. Sie stehen den Armen bei und pflegen die Kranken. Sie wählen die, welchen sie gehorchen. Einer sagt zu dem Andern: »mein Bruder.«

Abgesehen von der Geschichte und Politik, welche beide das Kloster verdammen und lediglich nach allgemeinen Principien, vom rein philosophischen Gesichtspunkte aus beurtheilt, betrachte ich die klösterliche Gemeinschaft, unter der Bedingung, daß sie durchaus freiwillig gewählt wird, stets mit einem gewissen aufmerksamen, ja in gewisser Hinsicht achtungsvollen Ernste. Wo eine Gemeinschaft ist, ist eine Gemeinde und wo eine solche ist, ist das Recht. Das Kloster ist ein Erzeugniß der Worte: Gleichheit, Brüderlichkeit. Und die Freiheit? O, wie groß, wie glänzend ist die Freiheit! Die Freiheit reichte hin, das Kloster in eine Republik umzugestalten.

Fahren wir fort.

Gut, die Männer, die Frauen hinter diesen vier Mauern kleiden sich in rauhe Gewänder, sind gleich untereinander und nennen sich Brüder. Gut! Thun sie aber noch etwas Anderes?

Ja.

Was?

Sie betrachten das Dunkel, sie knien nieder, sie falten die Hände.

Was bedeutet das?

V. Das Gebet.

Sie beten.

Zu wem?

Zu Gott.

Was heißt das, zu Gott beten?

Beten heißt, durch den Gedanken das Unendliche hienieden mit dem Unendlichen über uns in Verbindung bringen; denn die Seele des Menschen ist ein ebenso unendliches Ich, wie die unendliche Ichheit Gottes oben. Unser Ich ist die Spiegelung, der Wiederschein, das Echo des göttlichen Ichs. Das Gebet ist die geistige Verbindung Beider.

Entziehen wir dem menschlichen Geiste nichts; unterdrücken ist schlecht. Man muß umgestalten, neugestalten. Gewisse Fähigkeiten des Menschen sind nach dem Unbekannten hin gerichtet: das Denken, das Traumen, das Beten. Das Unbekannte ist ein Ocean, und der Compaß in diesem ist das Gewissen. Denken, Träumen, Beten sind große, geheimnißvolle Strahlungen des unendlichen Lichtes, Wir müssen sie achten.

Die Größe der Demokratie besteht darin, daß sie dem Menschen nichts Menschliches ableugnet, nichts verleugnet. Neben dem Rechte des Menschen liegt das Recht der Seele.

Das Gesetz lautet, den Fanatismus ausrotten, das Unendliche verehren. Beschränken wir uns nicht darauf, uns unter den Schöpfungsbaum niederzuwerfen und seine unermeßlichen Aeste voll Sterne zu betrachten. Wir haben eine Pflicht: an der menschlichen Seele zu arbeiten, das Geheimniß gegen das Wunder zu verteidigen, das Unbegreifliche anzubeten und das Thörichte zu verwerfen, bei dem, was unerklärlich ist, nur das Nothwendige zuzugeben, den Glauben gesund zu machen, den Aberglauben aus der Religion zu entfernen.

VI. Der absolute Nutzen des Gebetes.

Alle Arten des Gebets sind gut, wenn sie nur aufrichtig sind. Selbst aus einem verkehrt in die Hand genommenen Buche kann man mit Nutzen beten, wenn man hierbei mit seinen Gedanken nur im Unendlichen ist.

Es giebt, wie wir wissen, eine Philosophie, welche das Unendliche leugnet. Es giebt auch eine, welche die Sonne leugnet. Diese Philosophie heißt Blindheit.

Einen Sinn, der uns fehlt, als Quelle der Wahrheit aufzustellen, ist eine Geschicklichkeit des Blinden.

Das Merkwürdige dabei ist die hochmüthige, überlegene und mitleidsvolle Miene, welche diese Tast-Philosophie der Philosophie gegenüber annimmt, welche Gott sieht. Man glaubt einen Maulwurf ausrufen zu hören: »Ihr thut mir recht leid mit Eurer Sonne.«

Es giebt große, berühmte Atheisten. Diese, welche allein durch ihren Geist zur Wahrheit geführt werden, sind im Gründe nicht einmal sicher, ob sie Atheisten sind; bei ihnen handelt es sich eigentlich nur um eine Definition. Wie dem aber auch sei, wenn sie auch nicht an Gott glauben, so beweisen sie dadurch, daß sie große Geister sind, für die Existenz Gottes.

Wunderbar ist es auch, wie leicht sie sich mit Worten bezahlt machen. Eine nordische, ein Wenig von dem Nebel ihrer Heimath durchdrungene philosophische Schule glaubte eine Revolution im menschlichen Verstände dadurch bewirken zu können, daß sie für das Wort Kraft das Wort Wille setzte. Wenn man sagt: die Pflanze will, anstatt die Pflanze wächst, so könnte man auch bald hinzusetzen: die Welt will. Warum? Weil daraus auch hervorginge: die Pflanze will, sie hat also ein Ich; das Universum will, also hat es einen Gott.

Uns scheint ein Wille in der Pflanze schwerer annehmbar zu sein als ein Wille in dem Universum. Und ersteren nimmt sie an, letzteren leugnet sie!

Den Willen des Unendlichen, das heißt Gottes, kann man nur unter der Bedingung leugnen, wenn man das Unendliche leugnet.

Das Leugnen des Unendlichen führt gradeswegs zum Nihilismus. Alles wird »ein Begriff des Geistes.« Mit dem Nihilismus ist eine Discussion nicht möglich, denn der logische Nihilismus zweifelt ja, ob er selbst und sein Gegner sind.

Von seinem Gesichtspunkte aus ist es möglich, daß er selbst für sich nur »ein Begriff seines Geistes« sei.

Er bemerkt nur nicht, daß er alles, was er als Einzel-Existenzen leugnet, im Ganzen wieder zugiebt, indem er das Wort: Geist ausspricht.

Es giebt kein Nichts. Eine Null existirt nicht. Alles ist etwas. Nichts ist nichts.

Der Mensch lebt von der Bejahung noch mehr als vom Brode.

Sehen und Zeigen genügt nicht; energisch muß die Philosophie das Ziel zu erreichen suchen, den Menschen zu bessern. Socrates muß in Adam eindringen und einen Marc-Aurel erzeugen; das heißt so viel, als den Menschen aus dem Glücke, aus der Weisheit entstehen lassen. Die Wissenschaft muß eine Kräftigung des Herzens sein. Genießen! Welch trauriger Zweck und welch ärmlicher Ehrgeiz! Das Thier genießt; Denken, das ist der wahre Triumph der Seele. Allen Menschen den Begriff Gottes beizubringen, das Gewissen mit dem Wissen in Uebereinstimmung zu bringen und die Menschen dadurch gerecht zu machen, das ist die wahre Aufgabe der Philosophie. In der Moral soll die Wahrheit Knospen schlagen. Betrachten soll zum Handeln führen. Das Absolute muß practisch werden, das Ideal muß belebt, es muß eß- und trinkbar werden für den menschlichen Geist. Das Ideal hat das Recht zu sagen: »Nehmet, es ist mein Fleisch und Blut.« Die Weisheit und die Religion haben beide dasselbe heilige Sakrament des Abendmahls.

Ohne Glaube und Liebe, diesen beiden mächtigen Hebeln der Menschheit, begreifen wir wenigstens nieder das Warum? noch das Woher? und Wohin? des menschlichen Daseins.

VII. Beim Tadeln muß man vorsichtig sein.

Die Geschichte und die Philosophie haben Pflichten, welche ebenso unendlich wie einfach sind. Der Tadel gegen gewisse Persönlichkeiten, wie z. B. gegen Kaiphas als Bischof, Drako als Richter, Trimalcion als Gesetzgeber, Tiberius als Kaiser ist klar und deutlich. Das Urtheil über gewisse Dinge bietet keine Schwierigkeiten. Anders mit dem Recht, für sich zu leben, mit der Beurtheilung jenes sich freiwillig auferlegten Lebens voller Unbequemlichkeiten und freier Mißbräuche. Es will constatirt, aber geschont sein.

Wenn man von den Klöstern spricht, diesen Stätten des Irrthums aber der Unschuld, der Verirrung aber des guten Willens, der Unwissenheit aber der Demuth, der Strafe aber des Märtyrerthums, so muß man fast immer ja und nein sagen.

Ein Kloster ist ein Widerspruch. Als Zweck das Heil, als Mittel das Opfer. Das Kloster ist der höchste Egoismus, der den größten Grad der Selbstverleugnung zum Zweck hat.

Abzudanken, um zu herrschen, dies scheint die Devise des Mönchthums zu sein.

Im Kloster leidet man, um zu genießen. Man zieht einen Wechsel auf den Tod. Man discontirt das himmlische Licht in irdischer Finsterniß. Im Kloster nimmt man die Hölle im Voraus von der Erbschaft des Paradieses an.

Das Nehmen des Schleiers oder der Kutte ist ein mit der Ewigkeit bezahlter Selbstmord.

Der Spott scheint bei einem solchen Gegenstände nicht angemessen zu sein. Hier ist Alles ernst, das Gute wie das Böse.

Der Gerechte runzelt die Augenbraunen, das böswillige Lächeln aber liegt ihm fern. Man darf zornig aber nicht boshaft sein.

VIII. Glaube, Gesetz.

Wir tadeln die Kirche, wenn sie sich an Intriguen satt frißt, wir verachten das Geistliche, das nach dem Weltlichen giert, überall aber ehren wir den denkenden Menschen.

Wir verneigen uns vor dem Knieenden.

Der Glaube ist für den Menschen eine Nothwendigkeit. Wehe dem, der an nichts glaubt!

Man ist nicht unbeschäftigt, wenn man in Gedanken versunken ist. Es giebt eine sichtbare und unsichtbare Arbeit.

Betrachten heißt pflügen, denken handeln. Die übereinandergeschlagenen Arme, die gefalteten Hände arbeiten auch. Der Blick zum Himmel ist auch ein Werk.

Thales blieb vier Jahre unbeweglich. Er begründete die Philosophie.

Für uns sind die Klosterbewohner keine Müßiggänger, die Einsamen keine Faullenzer.

Trotz alledem, was wir gesagt haben, ist die Bemerkung nicht inconsequent, daß der stäte Gedanke an das Grab den Lebendenden nicht unziemlich ist.

In diesem Punkte stimmen der Geistliche und der Philosoph überein.

Es giebt ein materielles Wachsthum und eine moralische Größe; wir wollen Beides.

Die, welche immer beten, beten mit für die, welche nie beten.

Für uns kommt Alles auf die Gedanken an, mit denen man betet.

Wenn Leibnitz betet, so ist das groß; wenn Voltaire betet, so ist das etwas Schönes.

Wir sind für die Religion gegen die Religionen.

Wir gehören zu denen, welche an die Erbärmlichkeit der Gebete und an die Erhabenheit des Gebetes glauben.

Uebrigens erscheint uns in der jetzigen uns zum Leben angewiesenen Minute, die hoffentlich dem neunzehnten Jahrhundert ihre Gestalt nicht hinterlassen wird, in dieser Stunde, in welcher so viele Menschen eine niedrige Stirn und eine kleine Seele haben, unter so vielen Lebenden, welche nur den Genuß als Moral kennen und die sich mit kleinlichen unbedeutenden Interessen der Materie beschäftigen, jeder ehrwürdig, der sich in die Verbannung begiebt. Wenn auch die Art, wie das Opfer gebracht werden mag, falsch ist, das Opfer bleibt doch immer Opfer. Es hat sein Großartiges, einen strengen Irrthum als Pflicht anzunehmen.

An sich, als Ideal, hat das Kloster, das Frauenkloster namentlich – denn in unserer Gesellschaft leidet das Weib am meisten und in diesem Exil des Klosters liegt eine Protestation – unbestreitbar eine gewisse Majestät.

Dieses so strenge und düstere Klosterleben ist nicht das Leben, denn es ist nicht die Freiheit; es ist auch nicht das Grab, es ist der seltsame Ort, von dem aus man, wie von der Spitze eines hohen Berges, auf der einen Seite den Abgrund, in dem wir sind, auf der anderen den Abgrund, in dem wir sein werden, erblickt; es ist eine schmale neblige Grenze, welche zwei Welten von einander trennt, von beiden zugleich beleuchtet und verdunkelt, wo der schwache Strahl des Lebens mit dem undeutlichen Schimmer des Todes sich mischt: es ist das Halbdunkel des Grabes.