Die Sklaven der Lampe.

Die Sklaven der Lampe.

IX.

II. Infant, derselbe, der dem Schriftsteller Eustachius Cleaver die Geschichte von der Gefangennahme Boh Na Ghees erzählte, erbte eine stattliche Baronie mit unermeßlichen Einkünften, quittierte den Dienst und wurde Landmann, während seine Mutter bei ihm Wache hielt, daß er auch das richtige Mädchen zur Frau nähme. Seiner neuen Stellung fremd, stellte er den Freiwilligen des Bezirks einen richtigen großen Schießplatz für ihre Magazinflinten zur Verfügung, und die umwohnenden Familien, die in weltfremder Abgeschiedenheit mitten von Wäldern voll Fasanen hausten, sahen ihn für verrückt an. Der Lärm vom Schießen erschreckte ihr Federvieh, und der Infant galt als ausgestoßen aus der vornehmen und anständigen Gesellschaft, für so lange, bis eine Tochter des Landes ihn wieder auf richtige Gedanken gebracht hätte. Er nahm seine Rache, indem er sein Haus mit auserlesenen Scharen alter Schulkameraden füllte, die auf Urlaub in der Heimat waren – Wölfe im Schafspelz, die sich die radfahrenden Töchter der umwohnenden Familien nur von weitem ansehen durften. Aus Infants Einladungen konnte ich ersehen, wenn ein Truppenschiff eingelaufen war. Manchmal führte er alte Freunde gleicher Anciennität andern vor, jungen, errötenden Riesen, die ich als kleine Füchse ganz unten in Unterquinta verlassen hatte; und diesen erklärten Infant und die andern alle Pflichten eines Mannes in der Armee.

»Ich habe den Dienst schießen lassen,« sagte der Infant, »aber das ist kein Grund, warum meine unermeßlichen Vorräte an Erfahrung der Nachwelt verloren gehen sollten.« Er war gerade dreißig Jahre, und im selben Jahre rief mich ein gebieterisches Telegramm auf sein Baronschloß: »Famose Gesellschaft bekommen. Komm‘ her!«

Es war wirklich eine ungewöhnlich famose Gesellschaft, ganz besonders für mich ausgesucht. Da war ein bartloser, zusammengebrochener Kapitän der Eingeboreneninfanterie, der hinter einer unbezähmbar roten Nase vor Fieber zitterte – und Kapitän Dickson genannt wurde. Da war ein zweiter Kapitän, ebenfalls von der Eingeboreneninfanterie, der einen schönen Schnurrbart hatte; sein Gesicht war weiß wie Glas, und seine Hände zart, aber er antwortete vergnügt, wenn man ihn »Tertius« anrief. Da war ein enorm dicker und wohlkonservierter Mann, der augenscheinlich seit Jahren nicht im Felde gelegen hatte, glatt rasiert, mit sanfter Stimme und schmiegsam wie eine Katze, aber immer noch Abanazar, trotzdem er eine Zierde des Verwaltungsdienstes Indiens geworden war. Und da war auch noch ein magerer Irländer, dem die Sonne des Telegraphendepartements das Gesicht blauschwarz gegerbt hatte. Glücklicherweise schlossen die friesverschlagenen Türen im Junggesellenflügel dicht, denn wir zogen uns gemeinschaftlich auf dem Korridor oder in eines andern Zimmer an, schwatzend, rufend, schreiend und zuweilen paarweise zu Dick Viers eigen erfundenen Gesängen walzend.

Wir hatten sechzehn Jahre mannigfacher Arbeit voreinander auszukramen, und da wir einander in dem raschen Szenenwechsel Indiens von Zeit zu Zeit getroffen hatten – bei einem Diner oder im Lager hier oder beim Wettrennen dort, auf einer Post- oder Eisenbahnstation irgendwo im Lande – hatten wir nie ganz die Fühlung verloren. Der Infant saß auf dem Sims und trank hungrig und neidisch alles in sich hinein. Er erfreute sich an seinem Besitztum, aber sein Herz bangte nach den alten Tagen.

Es war ein vergnügtes Babel, in dem persönliche und Provinz- und Reichsangelegenheiten, allerlei von alten Aufruflisten und neuen Plänen behandelt wurde, bis der Lärm eines Birma-Gongs alles das kurz abschnitt. Dann gingen wir nicht weniger als eine Viertelmeile Treppen hinunter zu Infants Mutter, die uns alle in unserer Schulzeit gekannt hatte und uns begrüßte, als ob diese erst seit einer Woche vorüber wäre. Aber es war doch schon fünfzehn Jahre her, seit sie mir einmal mit Tränen des Lachens eine graue Prinzeßschürze für Liebhaberzwecke geborgt hatte.

Ein Diner aus Tausendundeiner Nacht wurde in einer achtzig Fuß langen Halle aufgetragen, voll von Ahnenbildern und Töpfen mit blühenden Rosen, und, was am meisten Eindruck machte, mit Dampfheizung versehen. Wenn es zu Ende und die kleine Mutter fortgegangen war (»Ihr Jungen wollt plaudern, und deshalb will ich euch jetzt Gutenacht sagen«), versammelten wir uns um ein Feuer von Apfelbaumholz, das unter einem zehn Fuß hohen Sims in einem gewaltigen Kamin mit poliertem Stahlrost brannte. Der Infant traktierte uns dann mit merkwürdigen Likören und jener Sorte Zigaretten, die es am geeignetsten erscheinen läßt, die eigene Pfeife hervorzuholen.

»O Gott!« grunzte Dick Vier von einem Sofa, wo man ihn in eine Decke gewickelt hingepackt hatte. »Das erstemal, daß mir warm ist, seit ich zu Hause bin.«

Wir waren alle dicht ans Feuer gerückt, bis auf den Infanten, der lange genug zu Hause gewesen war, sich Bewegung zu machen, wenn ihn fror. Das ist eine scheußliche Sache, aber sehr beliebt bei den Engländern auf der heimatlichen Insel.

»Wenn du ein Wort von kalten Wannen oder erfrischenden Spaziergängen sprichst,« brachte M’Turk schleppend hervor, »schlage ich dich tot, Infant. Ich hab‘ auch noch eine kranke Leber, wißt ihr noch, wie wir es für einen Hochgenuß hielten, Sonntag morgens im Sommer, wenn das Thermometer 57 Grad zeigte, aus den Betten zu steigen und bei den Klippen zu baden? Hu!«

»Was ich nicht verstehen kann,« meinte Tertius, »ist, wie wir Jungen es fertigbrachten, in die Baderäume hinunterzugehn, uns ganz rot zu kochen und dann, alle Poren offen, in einen frischen Schneesturm oder bittern Frost hinauszukommen. Und doch ist, soviel ich mich erinnere, keiner von uns gestorben.«

»Da wir gerade von Bädern sprechen,« sagte M’Turk mit einem kurzen Lachen, »besinnst du dich noch auf unser Bad in Nummer fünf, Käfer, den Abend, als Karnickelei nach King mit Steinen warf? Was würd‘ ich nicht drum geben, wenn ich jetzt unsern alten Latte sehen könnte! Er ist der einzige aus den beiden Arbeitszimmern, der nicht hier ist.«

»Latte ist der große Mann seines Jahrhunderts«, sagte Dick Vier.

»Woher weißt du das?« fragte ich.

»Woher ich das weiß?« entgegnete Dick Vier höhnisch, »wenn du einmal mit Latte zusammen in ’ner Klemme gewesen bist, würdest du nicht fragen.«

»Ich habe ihn seit dem Lager bei Pindi im Jahre 87 nicht mehr geseh’n«, sagte ich. »Er fing damals an, stark zu werden – gegen sieben Fuß groß und vier Fuß breit.«

»Der findet sich überall durch. Höllisch schlau!« bemerkte Tertius, drehte seinen Schnurrbart und starrte ins Feuer.

»War verflucht nahe daran, vor ein Kriegsgericht gestellt und verabschiedet zu werden – 84 in Aegypten«, warf der Infant aus freien Stücken ein. »Ich ging mit ihm in demselben Truppenschiff fort – ebenso unerfahren wie er. Bloß ich zeigte es, und Latte nicht.«

»Was gab es denn?« fragte M’Turk und bog sich abwesend vor, um meine Binde zurechtzuschieben.

»Oh, nichts. Sein Oberst hatte ihn damit beauftragt, mit zwanzig Tommys Kamele zu baden oder irgend so etwas, außen vor Suakin, und Latte bekam fünf Meilen weiter im Innern mit Krausköpfen zu tun. Er brachte einen meisterhaften Rückzug zustande und streckte noch acht von den Kerls in den Sand. Er wußte recht wohl, daß er nicht so weit hinausgehen durfte; deshalb ergriff er die Initiative und beklagte sich in einem Brief an seinen Obersten, der vor Wut schäumte, über die geringe Unterstützung, die ihm für seine Operationen zuteil wurde. Gott, ein fetter Brigadier schimpfte auf den andern. Dann kam er zum Generalstab.«

»Das ist – ganz und gar – Latte«, bemerkte Abanazar von seinem Armstuhl.

»Du hast auch mit ihm zu tun gehabt?« fragte ich.

»O ja«, antwortete er in seinen sanftesten Tönen. »Ich kam auch zum Schluß drin vor in dem – in dem Epos. Wißt ihr nichts davon?«

Wir wußten nichts davon – der Infant, M’Turk und ich, und wir baten sehr höflich um nähere Angaben.

»’s war nichts Besonderes«, sagte Tertius. »vor ein paar Jahren gerieten wir oben in den Khy-Kheen-Bergen in eine schlimme Geschichte, und Latte brachte uns durch. Das ist alles.«

M’Turk schaute auf Tertius mit all der Verachtung eines Irländers für den mundfaulen Sachsen.

»Himmel!« sagte er. »Und du und solche Leute wie du regieren Irland. Tertius, schämst du dich nicht?«

»Na, ich kann kein Garn spinnen. Ich kann nur einfallen, wenn ein anderer mit der Geschichte anfängt. Frag‘ ihn!« Er deutete auf Dick Vier, dessen Nase höhnisch über der Decke glühte. »Ich wußte ja, du würdest nicht erzählen«, meinte Dick Vier. »Gebt mir einen Whisky mit Soda. Ich habe Zitronenlimonade und Chinin mit Salmiak getrunken, während ihr Kunden euch in Champagner badetet, und mein Kopf brummt wie ein Brummkreisel.«

Er strich sich seinen zerfaserten Schnurrbart zurück, trank und begann dann, während ihm die Zähne im Schädel klappten:

»Ihr wißt von der Expedition gegen die Khye-Kheens und die Malôts, als wir ihnen die Seele aus dem Leibe jagten mit einer Truppenmacht, gegen die sie überhaupt nicht zu kämpfen wagten. Na, beide Stämme – es bestand ein Bündnis gegen uns – gaben nach, ohne einen Schuß abzugeben, und eine Bande haariger Schurken, die nicht mehr Gewalt über ihre Leute hatten als ich, versprachen und gelobten alles Mögliche. Auf diese ganz schwache Unterlage hin, lieber Pussy –«

»Ich war in Simla«, warf Abanazar hastig ein.

»Ganz egal, Du wirst mit derselben Bürste gestriegelt. Kraft dieser Groschen- und Pfennigverträge erklärt ihr Esel von Politikern das Land für pazifiziert, und die Regierung, dämlich wie gewöhnlich, fing an, Wege zu bauen – wobei sie sich auf Unterstützung von den Anwohnern verließ. Besinnst du dich noch darauf, Pussy? Ein Teil von uns, die während des Feldzugs keinen rechten Einblick gehabt hatten, waren begierig, wieder nach Indien zurückzukommen. Ich selbst sorgte – summo ingenio – dafür, daß ich das Kommando einer Wegbau-Patrouille bekam. Ich brauchte nicht beim Schaufeln dabei zu sein, sondern marschierte bloß fein mit einer Wache auf und ab. soweit es ging, hatte man alle Truppen zurückgezogen; aber ich suchte mir vierzig Pathans (Afghanen) aus meinem Regiment aus, meistens Rekruten, und hielt mich dicht am Quartier auf, während die Bauabteilungen an die Arbeit gingen, wie die Pläne der Regierung sie ihnen vorschrieben.«

»Es gab damals so allerlei liederlichen Singsang im Lager«, sagte Tertius.

»Mein Adjutant« – das berichtete Dick Vier seinen Untergebenen – »war ein frommes kleines Biest. Er konnte den Singsang nicht leiden und ging fort mit Lungenentzündung. Ich durchwühlte das ganze Lager und fand schließlich Tertius, der als D.A.Q.M.G. herumschwatzte, wozu er, weiß Gott, doch wirklich nicht gemacht ist. Es waren sechs oder acht vom alten Institut im Quartier (wir waren immer in ziemlicher Stärke für den Fall von Grenzzwistigkeiten), aber ich hatte von Tertius als einem tüchtigen, brauchbaren Kerl gehört, und so sagte ich ihm, er sollte seine D.A.Q.M.G.-Hosen ausziehen und mir behilflich sein. Tertius war gleich bereit, wir brachten es mit den maßgebenden Stellen in Ordnung, und dann zogen wir aus – vierzig Pathans, Tertius und ich – und bewachten die Bauabteilungen Macnamaras – besinnt ihr euch noch auf den alten Mac, den Mineningenieur, der in Umballa so verteufelt die Fiedel spielte? – Macs Trupp war der letzte bis auf einen. Der letzte war Lattes. Er war ganz oben auf dem Wege mit ein paar von seinen geliebten Sikhs. Mac sagte, er glaube, es wäre bei ihm alles in Ordnung.«

»Latte ist ein Sikh«, warf Tertius ein. »Er nimmt seine Leute nach Amritzar zum Gebet zum Durbar Sahib, regelmäßig wie ein Uhrwerk, wenn es irgend geht.«

»Unterbrich mich nicht, Tertius. Ich war schon über vierzig Meilen von Mac fort, ehe ich ihn fand, und meine Leute erklärten höflich, aber bestimmt, daß sich ein Aufstand in der Gegend vorbereite, was für eine Sorte von Gegend, Käfer? Na, ich kann nicht mit Worten malen, Gott sei Dank, aber du würdest sie eine höllische Gegend nennen. Wenn wir nicht bis zum Halse im Schnee steckten, rutschten wir die Abhänge herab. Die gutgesinnten Anwohner, die uns beim Wegebau unterstützen sollten (vergiß das nicht, lieber Pussy), saßen hinter Felsblöcken und feuerten aus ihrem Hinterhalt auf uns. Alte, alte Geschichte! Wir liefen herum und suchten Latte. Ich hatte eine Ahnung, daß er irgendwo in guter Deckung sitzen würde, und gegen Abend fanden wir ihn und seine Abteilung, so behaglich wie Wanzen in einer Bettdecke, in einem alten steinernen Fort der Malôts, mit einem Wachtturm an einer Ecke. Es lag über dem Wege, den sie fünfzig Fuß tiefer aus dem Gestein ausgesprengt hatten, und jenseits des Weges ging es ganz steil hinunter, etwa fünf- oder sechshundert Fuß, in eine Schlucht, die gegen eine halbe Meile breit und zwei bis drei Meilen lang war. Auf der andern Seite der Schlucht befand sich Gesindel und suchte höchstwahrscheinlich unsere Schußweite zu ermitteln. Ich hämmerte an das Tor, schlüpfte hinein und stolperte beinahe über Latte, der in einem grauen, blutigen, alten Mantel mit seinen Leuten auf dem Boden hockte und aß. Ich hatte ihn drei Monate vorher auf eine halbe Minute gesehen, aber er tat, als hätten wir uns erst gestern getroffen. Er winkte ganz vergnügt mit der Hand.

»Hallo, Aladdin! Hallo, Kaiser!« sagte er. »Ihr kommt gerade zu rechter Zeit für den Spaß.«

Ich sah, daß seine Sikhs etwas mitgenommen aussahen.

»Wo ist dein Kommando? Wo ist dein Adjutant?« fragte ich.

»Hier – dies ist alles, was davon übrig ist«, sagte Latte, »wenn du was vom jungen Everett haben willst – der ist tot, und sein Leichnam liegt im Wachtturm. Sie überfielen unsere Wegbauabteilung vorige Woche und haben ihn und sieben Mann erschossen. Seit fünf Tagen werden wir hier belagert. Scheint mir, du bist in eine erstklassige Falle hineinspaziert.« Er grinste, aber weder Tertius noch ich konnten einsehen, wo da, zum Teufel, der Spaß war. Wir hatten gar keine Lebensmittel für unsere Leute, und Latte hatte nur für vier Tage Rationen für die seinigen. Das kam davon, sich auf euch Eselsköpfe von Politikern zu verlassen, lieber Pussy, die uns erzählt hatten, die Bewohner wären freundlich gesinnt.

Um es uns vollkommen behaglich zu machen, führte Latte uns nach dem Wachtturm hinauf und zeigte uns des armen Everett Körper. Er lag auf einer zusammengeschaufelten Lage Schnee und sah wie ein Mädchen von fünfzehn Jahren aus – nicht ein Haar war auf des kleinen Burschen Gesicht. Er war durch die Schläfe geschossen worden, aber die Malôts hatten ihr Zeichen an ihm hinterlassen. Latte knöpfte den Rock auf und zeigte es uns – ein merkwürdiger, sichelförmiger Schnitt auf der Brust. Weißt du noch, wie der Schnee ganz weiß auf seinen Augenbrauen lag, Tertius? Weißt du noch, wie Latte die Lampe hob und es aussah, als ob er lebte?«

»Ja«, sagte Tertius zusammenschauernd. »Besinnst du dich auch noch auf Lattes gräßliche Miene mit den aufgeblasenen Nüstern, wie er schon früher aussah, wenn er einen Fuchs anschnauzte? Das war ein reizender Abend!«

»Wir hielten einen Kriegsrat ab, dort oben bei Everetts Leiche. Latte sagte, die Malôts und die Khye-Kheens hätten sich zusammen erhoben; sie hätten ihre alten Blutfehden begraben, um sich gegen uns zu wenden. Die Runden, die wir auf der andern Seite der Schlucht gesehen hatten, waren Khye-Kheens. Es lag zwischen uns und ihnen etwa eine halbe Meile Luftlinie, und sie hatten sich unter dem Bergabhang eine Reihe von Schlupfwinkeln gemacht, um darin zu schlafen und uns auszuhungern. Die Malôts, sagte er, lagerten alle zusammen vor unserer Front, hinter dem Fort hatten sie keine gute Deckung, sonst wären sie auch dort gewesen. Latte scherte sich um die Malôts nicht halb so viel wie um die Khye-Kheens. Er sagte, die Malôts wären verräterische Schurken. Was ich nicht verstehen konnte, war, warum in aller Welt die beiden Trupps sich nicht vereinigten und einen Sturm auf uns unternahmen. Es müssen wenigstens fünfhundert von ihnen gewesen sein. Latte sagte, daß die einen den andern nicht recht trauten, denn zu Hause waren sie Erbfeinde. Und das einzige Mal, daß sie einen Sturm versucht hatten, hatte er ein paar Sprengladungen unter sie geworfen, und das hatte ihnen ein bißchen die Luft benommen.

Es war dunkel, als wir fertig waren, und Latte, immer gelassen sagte: »Jetzt hast du das Kommando. Ich setze voraus, du kümmerst dich nicht um meine Maßregeln, die ich für notwendig halte, um das Fort neu zu verproviantieren.« Ich sagte: »Selbstverständlich nicht!« und blies dann die Lampe aus. Dann kletterten Tertius und ich wieder die Stufen vom Turm herunter (wir hatten keine Lust, bei Everett zu bleiben) und gingen zu unsern Leuten zurück. Latte war verschwunden – um die Vorräte zu zählen, glaubte ich. Auf alle Fälle blieben Tertius und ich für den Fall eines Angriffs auf (sie schossen ganz hübsch auf uns, wißt ihr!) und lösten einander bis zum Morgen ab.

Der Morgen kam, aber kein Latte. Kein einziges Zeichen von ihm. Ich hielt mit dem ältesten eingeborenen Offizier Rat – einem großen, alten Burschen mit weißem Backenbart, Rutton Singh, aus Dschullundhar. Er grinste bloß und sagte, es wäre alles in Ordnung. Wie er sagte, war Latte schon zweimal vorher außerhalb des Forts gewesen, da oder dort, irgendwo. Er sagte, Latte würde unzerhauen wieder zurückkommen, und gab mir zu verstehen, daß Latte so eine Art von unverwundlichem » guru« (geistlicher Lehrer) wäre. Trotzdem setzte ich die ganze Mannschaft auf halbe Rationen und ließ sie Schießscharten ausbrechen.

Gegen Mittag wütete ein ungeheurer Schneesturm, und der Feind hörte mit Feuern auf. Wir erwiderten nur behutsam, denn wir waren schrecklich knapp an Munition. Ich glaube, wir haben kaum fünf Schüsse in der Stunde abgegeben, aber meistens trafen wir unsern Mann. Na, als ich gerade mit Rutton Singh sprach, sah ich Latte vom Wachtturm herunterkommen, ziemlich geschwollen um die Augen, sein Mantel mit blutfarbigem Eis bedeckt.

»Man kann sich auf solchen Schneesturm nicht verlassen«, sagte er. »Drückt euch schnell ‚raus und klaubt zusammen, was ihr kriegen könnt. Es ist gerade jetzt eine ziemliche Reibung zwischen den Khye-Kheens und den Malôts.«

Ich schickte Tertius mit zwanzig Pathans hinaus, und sie suchten eine Weile draußen im Schnee herum, bis sie nach ungefähr achthundert Yards Wegs an eine Art von Lager kamen, mit einem einzigen Mann als Posten und einem halben Dutzend Schafe am Feuer. Sie taten den Mann ab, holten sich die Schafe und so viel Korn, als sie tragen konnten, und kamen zurück. Kein einziger Schuß wurde auf sie abgegeben. Es schien überhaupt niemand in der Nähe zu sein, aber der Schnee fiel recht hübsch dick hernieder.

»Das ist genug«, sagte Latte, als wir unser Essen fertig hatten und er an einem Stück Hammelfleisch kaute, das auf einem Putzstab geröstet war. »Es hat gar keinen Zweck, Mannschaften aufs Spiel zu setzen. Oben am Ende der Schlucht halten die Khye-Kheens und die Malôts jetzt eine Art Palaver ab. Ich finde nicht, daß diese sogenannten Koalitionen viel Gutes haben.«

Wißt ihr, was der verrückte Kerl getan hatte? Tertius und ich holten es bruchstückweise aus ihm heraus. Unter dem Wachtturm befand sich ein Kellerraum für Getreide, und als er den Weg aussprengte, hatte Latte ein Loch durch dessen Mauer gebrochen. Da er nun eben Latte war, hatte er dies Loch für seine eigenen Zwecke offen gehalten und des armen Everett Leichnam genau über den Eingang zu der Treppe gelegt, die vom Wachtturm hinunterführte. Er hatte den Körper jedesmal, wenn er den Durchgang benutzte, von der Stelle schieben und wieder zurücklegen müssen. Die Sikhs waren natürlich dem Platz überhaupt nicht nahe gekommen. Na, er war durch dieses Loch herausgeraten und auf den Weg gelangt. Dann, in der Nacht und dem heulenden Schneesturm, war er über den Abhang und dann bis auf den Boden der Schlucht geklettert, hatte den Bach, der halb gefroren war, durchwatet, war auf der andern Seite auf einem Pfade, den er entdeckt hatte, emporgeklommen und an der rechten Flanke der Khye-Kheens herausgekommen. Er war dann – paßt nur auf! – über eine Hügelkette geklettert, an der sie lagerten, war eine halbe Meile hinter derselben hingegangen und an der linken Seite ihrer Linie herausgekommen, wo die Schlucht schmäler wurde und sich ein regelrechter Weg zwischen dem Lager der Khye-Kheens und dem der Malôts befand. Das war ungefähr um zwei Uhr morgens, und da passierte es, daß ihn jemand bemerkte – ein Khye-Kheen. Latte tat ihn ab und ließ ihn liegen – mit dem Zeichen der Malôts auf der Brust, wie es Everett hatte.

»Ich war so ökonomisch, wie ich irgend sein konnte«, sagte Latte zu uns. »wenn ich gerufen hätte, wäre ich totgeschlagen worden. Ich hab‘ so etwas erst einmal tun müssen, und das war das erstemal, daß ich jenen Weg versuchte. Er ist für Infanterie vollkommen passierbar, wißt ihr.«

»Was ist das mit dem ersten Mann?« fragte ich.

»Oh, das war in der Nacht, nachdem Everett getötet war, und ich war herausgegangen, um einen Rückzug für meine Leute zu suchen. Ein Mann entdeckte mich. Ich tat ihn ab – privatim – erwürgte ihn. Aber als ich’s mir überlegte, kam mir der Gedanke, wenn ich den Körper wiederfände (ich hatte ihn hinter ein paar Felsblöcken verborgen), könnte ich ihn mit dem Zeichen der Malôts dekorieren und für die Khye-Kheens liegen lassen, damit sie ihre Schlüsse zögen. Ich ging also in der nächsten Nacht wieder hinaus und machte es. Die Khye-Kheens sind empört über die Malôts, daß sie diese beiden Gewalttätigkeiten so feige verübt haben, nachdem sie geschworen, alle Blutfehden ruhen zu lassen. Ich lag heute früh hinter ihrem Lager und beobachtete sie. Sie gingen alle nach dem Ende der Schlucht, um die Sache zu besprechen. Sie sind ganz schrecklich aufgeregt. Kein Wunder.« – Ihr wißt, wie Latte die Worte herausfallen läßt, eins nach dem andern.«

»Mein Gott!« stieß der Infant explosiv hervor, als ihm die ganze Tiefe der Strategie dämmerte.

»Lieber Mensch!« sagte M’Turk mit entzücktem Schnurren.

»Latte war eben auf Schleichwegen«, bemerkte Tertius. »Das ist die ganze Geschichte.«

»Nein, das war’s nicht«, sagte Dick Vier. »Besinnst du dich noch darauf, wie er dabei blieb, er hätte bloß sein Glück versucht? Besinnst du dich noch darauf, wie Rutton Singh sich seine Stiefel langte und in den Schnee kroch, und wie unsere Leute schrien?«

»Keiner von unsern Pathans glaubte, daß es Glück war«, sagte Tertius. »Sie schworen, Latte hätte als Pathan geboren sein müssen, und – weißt du noch, wie es beinahe Spektakel im Fort gab, als Rutton Singh sagte, Latte wäre ein Sikh? Gott, wie wütend der alte Bursche auf meinen Pathan Jemadar (eingeborener Leutnant) war. Aber Latte hob bloß den Finger, und sie hielten den Mund.

Der alte Rutton Singh hatte sein Schwert halb herausgezogen und schwor, er würde jeden Khye-Kheen und Malôt verbrennen, den er totschlüge. Das machte den Jemadar ganz wild; er machte sich nichts daraus, gegen Glaubensgenossen zu kämpfen, aber er wollte doch keinem muselmännischen Genossen seine Chancen auf das Paradies verderben. Dann quatschte Latte abwechselnd Pushtu- und Pandschab-Dialekt. Wo, zum Teufel, hat er sein Pushtu aufgeschnappt, Käfer?«

»Laß‘ seine Sprachkenntnisse sein«, entgegnete ich. »Erzähle uns die Hauptsachen.«

»Ich schmeichle mir, daß ich, wenn’s not tut, einen verschlagenen Pathan anreden kann, aber, zum Henker, ich kann keine Wortspiele in Pushtu machen oder meine Argumente mit einer pikanten Geschichte schließen, wie er’s machte. Er konnte auf diesen beiden alten Kriegshunden wie auf einer Ziehharmonika spielen. Latte behauptete – und die beiden andern gaben ihm in seiner Beurteilung des orientalischen Charakters recht – daß die Khye-Kheens und die Malôts in der Nacht einen gemeinsamen Angriff auf uns unternehmen würden, um ihre Treue zu erproben. Sie würden aber nicht alle Kräfte dabei einsetzen, denn keiner würde dem andern trauen, wegen jener kleinen Zwischenfälle, wie Rutton Singh es nannte. Lattes Idee war, bei Dunkelwerden mit seinen Sikhs hinauszuschleichen, sie auf jenem gottlosen Ziegenpfad, den er entdeckt hatte, hinter die Position der Khye-Kheens zu führen, und dann mit ein paar ordentlichen Schüssen auf die Malôts zu feuern, wenn der Angriff in vollem Gange wäre. »Das wird ihnen die Köpfe verwirren und sie noch mehr aufregen«, meinte er. »Dann kommt ihr Burschen heraus und fegt die Stücke zusammen, und am Ende der Schlucht geben wir uns ein Rendezvous. Und dann, denk‘ ich, machen wir, daß wir nach Macs Lager zurückkommen und etwas zu essen kriegen.«

»Hattest du nicht das Kommando?« meinte der Infant.

»Ich war etwa drei Monate älter als Latte, und Tertius zwei Monate«, erwiderte Dick Vier. »Aber wir waren ja alle von demselben alten Institut. Ich möchte sagen, unsere Angelegenheiten waren so ziemlich die einzigen, wo nicht einer auf den andern eifersüchtig war.«

»Wir waren’s nicht,« fiel Tertius ein, »aber zwischen Gul Sher Khan und Rutton Singh gab es Streit. Unser Jamadar sagte – er hatte ganz recht – daß kein Sikh in der Welt schleichen könnte, den Teufel auch, und daß Koran Sahib besser täte, die Pathans mitzunehmen, die diese Art von Gebirgskletterei verständen. Rutton Singh dagegen sagte, Koran Sahib wüßte ganz gut, daß jeder Pathan ein geborener Deserteur wäre, und jeder Sikh wäre ein Gentleman, selbst wenn er auch nicht auf dem Bauche kriechen könnte. Latte fiel mit irgendeinem Weibersprichwort oder so etwas ein, das beide Männer mit einem Grinsen zusammenklappen ließ. Er sagte, die Sikhs und die Pathans könnten sich mit ihren Ansprüchen auf die Khye-Rheens und die Malôts später auseinandersetzen, aber er wollte seine Sikhs auf diese spaßhafte Kletterpartie mitnehmen, denn die Sikhs verstünden zu schießen. Das können sie auch. Gebt jedem von ihnen eine Ladung Munition, und sie sind vollkommen glücklich.«

»Und dann machte er, daß er hinauskam«, sagte Dick Vier. »Sobald es dunkel wurde und er sich ein wenig aufs Ohr gelegt hatte, gingen er und dreißig Sikhs die Treppe in den Turm hinunter, und jeder Sohn seiner Mutter salutierte vor des kleinen Everett Leiche, die aufrecht gegen die Wand gelehnt war: » Kubbadar! tumbleinga!« (gebt acht, daß ihr nicht fallt), und sie tumbleingaten über irgend etwas. Genau um 9 Uhr abends begann der vereinte Angriff, Khye-Kheens jenseits des Tales und Malôts vor unserer Front; sie schossen auf weite Entfernung und schrien einander zu, näher zu gehen und uns unsere ungläubigen Kehlen durchzuschneiden. Dann drängten sie an das Tor heran und begannen das alte Spiel, die Pathans Renegaten zu schimpfen und sie aufzufordern, auch den heiligen Krieg mitzumachen. Einer von unsern Leuten, ein junger Bursche von Dera Ismail, sprang auf die Mauer, um zurück zu schimpfen, und fiel wieder herunter, heulend wie ein Kind. Er war gerade in die Mitte der Hand getroffen worden. Hab‘ bis jetzt noch nie einen Mann geseh’n, der eine Wunde mitten in der Hand aushalten konnte, ohne bitterlich zu weinen. Es stachelt alle Nerven auf. So nahm Tertius seine Flinte und schlug den andern gegen die Köpfe, damit sie sich an ihren Schießlöchern ruhig verhielten. Die lieben Kinder wollten durchaus das Tor aufmachen und gründlich auf sie losgehn, aber das paßte uns nicht in unsern Kram.

Schließlich, kurz vor Mitternacht, hörte ich das wop, wop, wop von Lattes Martinis auf der andern Seite des Tales und ziemliches Fluchen unter den Malôts, deren Haupttrupp vor uns durch eine Senkung in der Hügelkette verborgen war, Latte bräunte sie recht heftig, und natürlich schwenkten sie halb rechts und fingen an auf ihre treulosen Verbündeten, die Khye-Kheens, zu feuern – richtiges Rottenfeuer. In weniger als zehn Minuten, nachdem Latte die Spaltung eingeleitet hatte, gab es schon den gewaltigsten Lärm auf beiden Seiten des Tales. Als wir schließlich sehen konnten, ging es im Tal drunter und drüber. Die Khye-Kheens waren aus ihren Schlupfwinkeln jenseits der Schlucht hervorgeströmt, um Rache an den Malôts zu nehmen, und Latte – ich beobachtete ihn durch mein Glas – hatte sich hinter ihnen hergemacht, sehr gut. Die Khye-Kheens mußten die Hügelkette entlanglaufen, bis dorthin, wo der Bach in der Schlucht seicht war und sie zu den Malôts hinüber konnten, die sich schrecklich freuten, die Khye-Kheens in ihrer Nachhut angegriffen zu sehen.

Dann kam mir der Gedanke, den Khye-Kheens ein wenig Trost zu bringen. So nahm ich die ganze Truppe hinaus, und wir rückten vor, à la part de charge und verprügelten das, was wir – der Deutlichkeit halber – den linken Flügel der Malôts nennen wollen, selbst dann noch hätten sie uns, wenn sie ihre Streitigkeiten hätten ruhen lassen, lebendig auffressen können, aber sie hatten die halbe Nacht aufeinander gefeuert, und sie schossen weiter. Die tollste Sache, die ihr euer Lebtag geseh’n habt, sobald unsere Leute die Malôts vornahmen, feuerten diese noch eifriger als je auf die Khye-Kheens, um zu zeigen, daß sie auf unserer Seite wären, rannten ein paar hundert Schritte das Tal hinauf und machten halt, um weiter zu feuern. Sobald Latte unser Spiel erkannte, verdoppelte er es auf seiner Seite der Schlucht, und, wahrhaftig, die Khye-Kheens machten es genau ebenso.«

»Ja, aber du hast vergessen,« fügte Tertius hinzu, »zu erzählen, wie er auf dem Horn spielte: »Hurra, Patsy, sorg‘ für’s Baby«, um uns anzufeuern.«

»Tat er das?« brüllte M’Turk. Es gab eine Unterbrechung, denn wir alle fingen an, es zu singen.

»Ein wenig«, antwortete Tertius, als wir ruhig waren. Kein einziger von der Aladdintruppe konnte die Melodie vergessen. »Ja, er spielte »Patsy«. Weiter, Dick.«

»Schließlich,« erzählte Dick Vier, »trieben wir beide Haufen einen dem andern in die Arme, auf einer kurzen, ebenen Strecke oben am Eingang des Tals, und sahen die ganze Gesellschaft abwickeln, kämpfend, stechend und fluchend in einem undurchdringlichen Schneesturm. Es war eine gehörige, haarige Bande, und wir folgten ihnen nicht.

Latte hatte einen Gefangenen gemacht – einen alten, pensionierten Sepoy, der fünfundzwanzig Jahre Dienst hinter sich hatte und seine Abdankung hervorholte – einen schrecklich amüsanten Kerl. Er hatte versucht, seine Leute früh am Tage zum Angriff auf uns zu bewegen. Er war mürrisch – wütend auf die Feigheit seiner Genossen. Rutton Singh hatte Lust, ihn aufzuspießen – Sikhs können es nicht verstehen, wie jemand gegen die Regierung kämpfen kann, nachdem er ihr ehrenvoll gedient hat – aber Latte beschützte ihn und war ganz versessen auf ihn – zu spätern Zwecken, glaube ich. Als wir zum Fort zurückkamen, begruben wir den jungen Everett – Latte wollte nichts davon hören, den Platz in die Luft zu sprengen – und machten, daß wir fortkamen, wir verloren bloß zehn Mann im ganzen.«

»Bloß zehn von siebzig! Wie habt ihr die verloren?« fragte ich.

»Oh, früh in der Nacht gab es einen Sturm auf das Fort, und ein paar Malôts kamen über das Tor. Ein oder zwei Minuten lang sah die Sache ziemlich schlimm aus, aber die Rekruten bewältigten es wundervoll. Zum guten Glück hatten wir keinen schwerverwundeten Mann zu tragen, denn wir hatten vierzig Meilen bis zu Macnamaras Lager. Wahrhaftig, wie sind wir gerannt! Auf halbem Wege klappte der alte Rutton Singh zusammen; wir legten ihn auf Lattes Mantel, der an vier Flinten gebunden wurde, und Latte, sein Gefangener und ein paar Sikhs trugen ihn. Dann schlief ich ein. Ihr wißt, das kann man beim Marschieren, wenn die Beine richtig erstarrt sind. Mac schwört, wir sind alle schnarchend in sein Lager einmarschiert und fielen hin, wo wir Halt machten. Seine Leute schleppten uns wie Erbsensäcke in die Zelte. Ich erinnere mich, wie ich aufwachte und Latte schlafend sah, seinen Kopf auf des alten Rutton Singh Brust. Er schlief vierundzwanzig Stunden. Ich schlief bloß siebzehn Stunden, aber dann befiel mich die Dysenterie.«

»Befiel dich! Quatsch! Du hattest sie schon, ehe wir zu Latte im Fort stießen«, sagte Tertius.

»Na, du brauchst auch nicht zu reden! Du übergabst Macnamara deinen Degen und verlangtest ein Kriegsgericht, so oft du ihn sahst. Das einzige, was dich beruhigte, war, dir jede halbe Stunde Arrest zu diktieren. Du warst drei Tage lang ohne Verstand.«

»Kann mich kein bißchen mehr besinnen«, entgegnete Tertius sanft. »Ich erinnere mich aber, daß meine Ordonnanz mir Milch gab.«

»Wie lief’s mit Latte ab?« fragte M’Turk, heftig an seiner Pfeife ziehend.

»Latte? War wie ein vergnügtes Zebu. Der arme alte Mac war am Ende seines Pionierwitzes und wußte nicht, was er tun sollte. Ihr wißt, ich lag mit Dysenterie nieder, Tertius raste, die Hälfte der Leute hatte Frostbeulen, und Macnamaras Befehle lauteten, das Lager abzubrechen und vor dem Winter wieder im Quartier zu sein. So nahm Latte, dem kein Haar gekrümmt war, die Hälfte seiner Vorräte, um ihm die Mühe zu sparen, sie wieder nach der Ebene zurückzunehmen, und alle Munition, die er kriegen konnte, und wanderte, consilio et auxilio Rutton Singh, wieder nach seinem Fort zurück, mit all seinen Sikhs, seinem kostbaren Gefangenen und einer liederlichen Gesellschaft von Anhängseln, die er und der Gefangene verführt hatten, Dienste zu nehmen. Er hatte sechzig ausgesuchte Leute mit – und seine eherne Unverschämtheit. Mac weinte beinahe vor Freude, als er abzog, versteht ihr, es war kein ausdrücklicher Befehl da, daß Latte wieder im Ouartier sein sollte, bevor die Pässe versperrt waren. Mac ist groß in Ausführung von Befehlen, und Latte ist auch groß darin – wenn sie ihm in seinen Kram passen.«

»Er erzählte mir, er ginge nach dem Engadin«, sagte Tertius. »Saß auf meiner Pritsche, rauchte eine Zigarette und brachte mich zum Lachen, bis ich schrie. Am nächsten Tage packte Macnamara uns alle zusammen und brachte uns nach der Ebene hinunter. Wir waren ein wanderndes Hospital.«

»Latte erzählte mir, daß Macnamara ihm rein vom Himmel gesandt war«, sagte Dick Vier. »Ich pflegte ihn in Macs Zelt zu besuchen, wenn er zuhörte, wie Mac die Fiedel spielte, und zwischen den Stücken Mac Hacken und Schaufeln und Dynamitpatronen abschwatzte. Na, das war das letzte, was wir von Latte sahen. Eine Woche oder etwas später waren die Pässe im Schnee begraben, und ich glaube nicht, daß Latte gerade dann Lust hatte, gefunden zu werden.«

»Er wurde es auch nicht«, sagte der glatte und fette Abanazar. »Er wurde es auch nicht. Ho, ho!«

Dick Vier hob seine dünne, dürre Hand, auf deren Rücken die blauen Adern schimmerten. »Warte eine Minute, Pussy; ich werde dich schon zur richtigen Zeit ‚rankommen lassen. Ich ging hinunter zu meinem Regiment, und im Frühling, fünf Monate später, wurde ich mit ein paar Kompagnien abkommandiert: offiziell, um auf einige unserer Freunde jenseits der Grenze aufzupassen, tatsächlich natürlich, um zu werben. Es war ein bißchen Unglück dabei, denn ein Esel von einem jungen Naick hatte eine frivole Blutfehde, die er von seiner Tante geerbt hatte, in jene Gegend verpflanzt, und der dortige Landadel wollte nicht in mein Korps eintreten. Natürlich hatte der Naick kurzen Urlaub genommen, um die Sache in Ordnung zu bringen; das war ja ganz in Ordnung, aber er schlich nur dem Onkel meiner guten Ordonnanz nach. Es war eine verdammt schandvolle Geschichte, denn ich wußte, Harris von den Ghuznees würde diese Gegend drei Monate später heimsuchen, und dann würde er alle die Burschen wegschnappen, auf die ich mein Auge geworfen. Alle waren wütend auf den Naick, denn sie fühlten, er hätte so anständig sein müssen, seine – seine üblen Liebesgeschichten ruhen zu lassen, bis unsere Kompagnien voll waren.

Aber das Biest hatte doch noch etwas Standesgefühl übrig behalten. In der Nacht schickte er mir jemand vom Stamm seiner Tante und ließ mir sagen, wenn ich unter sicherer Bedeckung kommen wollte, würde er mir einen Schub wunderbarer Kerle zeigen. Ich natürlich gleich über die Grenze, und etwa zehn Meilen auf der andern Seite, bei einem Flußarm, zeigte mir mein Landstreicher auf Amtsreisen etwa siebzig Leute, verschieden bewaffnet, aber stramm wie eine Kompagnie der Königin. Dann trat einer von ihnen vor und holte ein altes Horn hervor, gerade so – wie heißt er doch gleich? – Bancroft, nicht wahr? – Der Mann, der in einer Posse nach seiner Brille sucht – und spielte: »Hurra, Patsy, sorg‘ für’s Baby. Hurra, Patsy, sag‘ –« so weit konnte er nur kommen.«

Dick Vier konnte aber auch nur so weit kommen, denn wir mußten das alte Lied zweimal durchsingen, einmal und dann noch einmal, um es zu wiederholen.

»Er erklärte, wenn ich den Rest des Liedes wüßte, hätte er eine Botschaft an mich von dem Manne, dem das Lied gehörte. Darauf, meine Kinder, blies ich das alte Lied auf demselben Horn zu Ende, und dann bekam ich dies. Ich wußte, ihr würdet’s euch gern anseh’n wollen. Laßt die Finger davon weg.« Wir kämpften alle um einen Blick auf die wohlbekannte unförmliche Handschrift. »Ich werd’s laut vorlesen:

»Fort Everett, 19. Februar.

Lieber Dick oder Tertius: Der Inhaber dieses hat siebenundfünfzig Rekruten mit sich, alles pukka Teufel, aber begierig, ein neues Leben zu beginnen. Sie sind etwas obenhin poliert, und wenn sie tüchtig vorgenommen worden sind, werden sie sich gut machen. Ich möchte, daß du dreißig davon meinem Adjutanten gibst, der, obgleich ein Esel von Gottes Gnaden, in diesem Frühjahr Leute brauchen wird. Den Rest kannst du kriegen. Es wird dich interessieren, daß ich meinen Weg bis zum Ende des Landes der Malôts fertig habe. Alle Häuptlinge und Priester, die bei der Affäre im vergangenen September beteiligt waren, haben jeder einen Monat mitgearbeitet und von ihren eigenen Häusern Material zum Wegbau hergegeben. Everetts Grab ist von einem vierzig Fuß hohen Hügel bedeckt, der als Basis für künftige Triangulationen dienen könnte. Rutton Singh sendet seine besten Salaams. Ich bin dabei, mehrere Verträge abzuschließen, und habe meinem Gefangenen, der ebenfalls seine Salaams sendet – den Rang eines lokalen Khan Bahadur (eine pers. mongol. ehrende Bezeichnung, etwa tapferer Held) verliehen.

A. L. Corkran.«

»So, das war alles«, sagte Dick vier, als das Brüllen, das Schreien, das Gelächter, und, ich glaube, die Tränen nachgelassen hatten. »So schnell ich konnte, geleitete ich die Truppe über die Grenze hinüber. Sie hatten ziemliches Heimweh, aber sie wurden wieder vergnügt, als sie ein paar von meinen Burschen erkannten, die bei dem Khye-Rheen-Spektakel mitgewesen waren, und sie machten sich zu einer ganz tüchtigen Gesellschaft heraus. Es sind noch mehr als dreihundert Meilen von Fort Everett bis zu dem Platz, wo ich sie aufsammelte. Jetzt, Pussy, erzähle ihnen die Geschichte von Latte zu Ende, wie du sie erlebt hast.«

Abanazar stieß ein nervöses, erzwungenes, offizielles Lachen hervor.

»Oh, es war nichts Besonderes. Ich war im Frühjahr in Simla, als unser Latte aus seinem Schnee heraus direkt mit der Regierung zu korrespondieren begann.«

»Wie ein König«, warf Dick Vier ein.

»Jetzt bin ich dran, Dick. Er hatte eine Menge Sachen gemacht, die er nicht machen sollte, und die Regierung natürlich zu allem möglichen verpflichtet. Aber der erschwerende Umstand dabei war, daß alles so verdammt passend war, so wohl überlegt, versteht ihr? Machte alles so richtig, als ob ihm alle möglichen Informationen zugänglich wären – was natürlich nicht der Fall sein konnte.«

»Puh!« meinte Tertius. »Ich verteidige Latte jeden Tag dem Auswärtigen Amt gegenüber.«

»Er hatte so ziemlich alles gemacht, woran er überhaupt denken konnte, bloß daß er nicht Münzen mit seinem Bild und Überschrift prägte, alles unter dem Deckmantel, diesen höllischen Weg zu bauen und durch den Schnee abgesperrt zu sein. Sein Bericht war einfach wunderbar. Von Lennaert raufte sich erst die Haare, und dann keifte er: »Wer, zum Henker, ist dieser unbekannte Warren Hastings (Warren Hastings, Generalgouverneur von Indien, 1732-1818). Er muß totgeschlagen werden. Der Vizekönig wird das niemals gelten lassen. Es ist unerhört. Er muß von Seiner Exzellenz persönlich totgeschlagen werden. Befehlen Sie ihm herzukommen, und setzen Sie einen ordentlichen Rüffel hinzu.« Na, ich schickte ihm einen gehörigen offiziellen Rüffel und setzte ein nichtoffizielles Telegramm zu gleicher Zeit hinzu.«

»Du!« Dieser Ausruf des Erstaunens kam vom Infanten, denn Abanazar ähnelte nichts so sehr als einer flaumig-weichen persischen Katze.

»Ja – ich«, sagte Abanazar. »Es war nichts Besonderes, aber nach dem, was du gesagt hast, Dicky, war es beinah‘ ein Zusammentreffen, denn ich telegraphierte:

Aladdin hat nun sein Weib erstritten,
Euer Kaiser ist versöhnt mit allen;
Leb‘ wieder auf, du hast genug gelitten,
wir hoffen, euch hat’s gut gefallen.

Komisch, wie das alte Lied mir ins Gedächtnis kam. Das war ziemlich wenig verpflichtend und ermutigend. Es war nur schade, daß sein Kaiser ganz und gar nicht versöhnt war. Latte wickelte sich aus seiner Bergfestung heraus und kam mit Muße nach Simla geschlendert, um auf dem Altar geopfert zu werden.«

»Aber,« begann ich, »der Oberstkommandierende ist doch sicher der geeignete –«

»Seine Exzellenz bildete sich ein, wenn er einen einzelnen jungen Offizier anbrüllte – ebenso wie King uns anzuschnauzen pflegte – hielte er die Zügel der Regierung in den Händen, und natürlich, solange er die Einbildung hatte, unterstützte ihn von Lennaert darin. Ich weiß nicht, ob von Lennaert ihm nicht überhaupt die Idee beigebracht hat.«

»Dann haben sich die Leute seit meiner Zeit geändert«, sagte ich.

»Vielleicht. Latte wurde hinaufgeschickt, um wie ein kleiner Junge seine Schelte zu bekommen. Ich glaube sicher, daß Seiner Exzellenz das Haar zu Berge stand. Er donnerte eine Stunde lang auf Latte los. Der stand aufmerksam in der Mitte des Zimmers, und (so behauptete er) von Lennaert im Hintergrund führte eine Pantomime auf, als ob er die Haarbüschel Seiner Exzellenz niederstreichele. Latte wagte nicht aufzusehen, sonst hätte er lachen müssen.«

»Nun, und weshalb wurde Latte nicht verabschiedet?« fragte der Infant mit leuchtendem Gesicht.

»Ah, warum nicht?« meinte Abanazar. »Um ihm die Möglichkeit zu geben, sich in seiner vernichteten Karriere wieder hinaufzuarbeiten, und um seinem Vater nicht das Herz zu brechen. Latte hatte keinen Vater mehr, aber das schadete nichts. Er benahm sich wie ein Waisenknabe, und Seine Exzellenz schonte ihn gnädig. Dann kam er auf mein Bureau und saß mir zehn Minuten gegenüber, die Nüstern blähend, schließlich sagte er: »Pussy, wenn ich glaubte, daß dieser Korbaufhänger – – –«

»Ha! Daran hat er sich erinnert«, rief M’Turk.

»– – daß dieser zwei Annas-Korbaufhänger Indien regierte, ich schwöre, dann würde ich noch morgen ein naturalisierter Moskowiter werden. Ich bin eine femme incomprise. Diese Geschichte hat mir das Herz gebrochen. Ich will sechs Monate Jagdurlaub für Indien nehmen, um es zu verwinden. Meinst du, ich kann ihn bekommen, Pussy?«

»Er bekam ihn in etwa drei und einer halben Minute, und siebzehn Tage später war er in Rutton Singhs Arme zurückgekehrt – höchst in Ungnade, mit dem Befehl, sein Kommando usw. Cathcart Mac Monnie zu übergeben.«

»Paßt auf!« sagte Dick Vier. »Ein Oberst vom politischen Departement mit seinem Kommando von dreißig Sikhs auf einer Bergspitze. Paßt auf, meine Kinder!«

»Natürlich ließ Cathcart, da er, wenn auch Politiker, doch kein Narr war, Latte während der nächsten sechs Monate innerhalb fünfzehn Meilen von Fort Everett jagen, und ich hörte stets, sie beide und Rutton Singh und der Gefangene wären so dicke Freunde wie eine Diebsgesellschaft. Dann, glaube ich, schlenderte Latte wieder zu seinem Regiment zurück. Ich hab‘ ihn seitdem nicht wiedergesehen.«

»Ich aber«, sagte M’Turk, von Stolz geschwellt.

Wir alle wandten uns um wie ein Mann.

»Es war zu Anfang der heißen Jahreszeit. Ich war im Lager im Dschullundhar-Delta und stieß eines Tages in einem Sikhdorf auf Latte. Er saß auf dem einzigen Staatsstuhl und die halbe Bevölkerung kroch um ihn herum. Eine Blumengirlande hing ihm um den Hals, ein Dutzend Sikhbabys hatte er auf den Knien, und ein altes Weib klopfte ihm auf die Schulter. Er erzählte mir, er würbe Rekruten an. Wir aßen am Abend zusammen, aber er hat mir kein einziges Wort von der Geschichte mit dem Fort erzählt. Hat mir aber gesagt, wenn ich irgendwas von den Eingeborenen brauchte, täte ich gut, zu sagen, ich wäre Koran Sahibs Bhai. Das tat ich, und, die Sikhs wollten mein Geld nicht nehmen.«

»Ah, das muß eins von Rutton Singhs Dörfern gewesen sein«, sagte Dick vier. Eine Zeitlang rauchten wir schweigend.

»Hört mal«, sagte M’Turk, alle die Jahre zurückgehend, »hat euch Latte jemals erzählt, wie Karnickelei an jenem Abend dazu kam, nach King mit Steinen zu werfen?«

»Nein«, sagte Dick Vier.

Darauf erzählte M’Turk die Geschichte.

»Ich verstehe«, meinte Dick Vier und nickte. »Er hat den Trick zum zweiten Male angewandt. Es kommt doch niemand Latte gleich.«

»Da seid ihr eben im Irrtum«, sagte ich. »Indien ist voll von Lattes – Burschen von Cheltenham und Haleybury und Marlborough – von denen wir nichts wissen, wenn wirklich ein großer Spektakel losgeht, werden die Ueberraschungen kommen.«

»Wer wird überrascht sein?« fragte Dick Vier.

»Der andere Teil. Die Gentlemen, die erster Klasse zur Front reisen. Denkt euch nur, wenn Latte mit genügend Sikhs und vernünftigen Aussichten auf Leute auf die andere Seite Europas losgelassen würde. Ueberlegt es euch einmal in Ruhe.«

»Da ist was dran, aber du bist doch zu sehr Optimist, Käfer«, meinte der Infant.

»Nun, ich habe auch das Recht, es zu sein. Bin ich nicht für die ganze Geschichte verantwortlich? Ihr braucht nicht zu lachen, wer hat »Aladdin hat nun sein Weib erstritten« geschrieben, he?«

»Was hat das damit zu tun?« fragte Tertius.

»Alles«, antwortete ich.

»Beweise es«, sagte der Infant.

Und das habe ich getan.

Ende!

  1. Kipling, Many Inventions.
  2. Fahrenheit.
  3. Tommy (Atkins) ist der Spitzname der englischen Soldaten.
  4. Deputy-Assistent-Quarter-Master-General.

Im Versteck.

Im Versteck.

I.

Im Sommer bauten sich alle vernünftigen Jungen Hütten in den Ginsterbüschen auf dem Hügel hinter dem Schulgrundstück. Es waren eigentlich nur kleine Schlupfwinkel, die sie da mitten aus dem stachligen Strauchwerke herausschnitten, voll von stumpfen, Wurzeln und Dornen, seitdem das aber streng verboten war, erschienen sie als Prachtpaläste. »Latte«, »M’Turk« und »Käfer« hatten sich jetzt schon den fünften Sommer mit Biberemsigkeit einen Platz der Ruhe und des Nachdenkens gebaut. Und dort rauchten sie.

Nach Mister Prouts, ihres Hausmeisters, Ansicht, hatten sie nicht die geringsten Achtung einflößenden Charaktereigenschaften, und Foxy, der verschmitzte rothaarige Schuldiener, traute ihnen erst recht nicht. Sein Geschäft war, Tennisschuhe zu tragen, mit einem Krimstecher herumzulaufen und wie ein Habicht auf schlimme Jungen niederzustoßen. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte man die Hütte mit einer plötzlichen Razzia überrascht, denn Foxy kannte seine Leute. Die Vorsehung bewog indes Mister Prout, dessen Spitzname, von der Größe und Gestalt seiner Füße hergeleitet, Huftier lautete, auf eigene Rechnung zu untersuchen. Es war der vorsichtige Corkran, seiner Länge wegen »Latte« genannt, der die Spuren seiner Pfötchen in der Gegend ihres Lagers fand, an einem friedlichen Nachmittag, als er gerne Prout und Schularbeiten bei einem Indianerbuch und einer neuen Holzpfeife vergessen hätte. Robinson, beim Anblick der Fußspur, raffte sich nicht schneller auf als Latte. Er brachte die Pfeifen weg, fegte die umherliegenden Streichhölzchen fort und eilte dann, Käfer und M’Turk zu warnen.

Es war aber charakteristisch für den Jungen, daß er seine Verbündeten nicht eher aufsuchte, als bis er sich an den kleinen Hartopp gewandt hatte, den Leiter des Naturwissenschaftlichen Vereins, eines Instituts, das Latte aus tiefstem Herzen verachtete. Hartopp war höchlichst überrascht, als der Junge äußerst sanftmütig – er wußte, wie er’s anfangen mußte – ihn bat, ihn selbst, Käfer und M’Turk als Kandidaten aufzunehmen. Er bekannte ein lange gehegtes Interesse für Frühblumen, Schmetterlinge und neue Funde, und erklärte sich bereit, wenn Mister Hartopp ihn für würdig befinde, sogleich dies neue Leben zu beginnen. Hartopp war Lehrer und deshalb argwöhnisch; er war aber auch Enthusiast, und seine leicht empfindliche Seele war oft durch zufällig gehörte Bemerkungen der drei und besonders Käfers verletzt worden. So zeigte er sich dem reuigen Sünder gnädig und trug die drei Namen in sein Buch ein.

Jetzt erst, und nicht früher, suchte Latte Käfer und M’Turk im Arbeitszimmer ihres Hauses auf. Sie packten gerade Bücher ein für einen ruhigen Nachmittag im Ginsterbusch, den sie »Das Holz« nannten.

»Alles vorbei«, sprach Latte ernst. »Hab‘ nach dem Essen Huftiers schöne Fußtapfen bei unserer Hütte gesehen, ’n Glück, daß sie so groß sind.«

»Verdammt! Hast du unsere Pfeifen versteckt?« fragte Käfer.

»I wo. Hab‘ sie mitten in der Hütte gelassen, selbstverständlich. – Was für’n Schafskopf du doch bist, Käfer! Glaubst wohl, niemand denkt als du allein? – Ja, nun können wir die Hütte nicht mehr gebrauchen. Huftier wird jetzt drauf aufpassen.«

»Verfluchte Geschichte!« sprach M’Turk gedankenvoll und packte die Bücher wieder fort, mit denen er seine Brust gepanzert hatte. Die Jungen pflegten ihre Bibliothek zwischen Gürtel und Kragen zu transportieren, »Schöner Spaß! Das heißt also, daß man bis zu den Ferien auf uns aufpassen wird.«

»Warum? Alles, was Huftier gefunden hat, ist eine Hütte. Er und Foxy werden sie bewachen. Daß wir damit zu tun haben, weiß ja keiner; mir müssen uns nur nicht in der Gegend sehen lassen.«

»Gut, und wo sollen wir sonst anders hingehn?« meinte Käfer. »Du hast den Platz ausgesucht, und – ja, ich wollte heute nachmittag schmökern.«

Latte saß auf einem Tisch und trommelte mit den Absätzen gegen die Bank.

»Du bist ein Schlappschwanz, Käfer. Manchmal glaub‘ ich, es wär‘ am besten, überhaupt nichts mehr mit dir zu tun zu haben, hast du schon mal gemerkt, daß euer Onkel Latte euch vergessen hätte? His rebus infectis – nachdem ich Hufviehs Trampelspuren bei unserer Hütte entdeckt, traf ich den kleinen Hartopp – destricto ense – ein Schmetterlingsnetz schwingend. Ich hab‘ Hartopp versöhnt. Hab‘ ihm erzählt, ihr würdet auch sammeln für die Wanzenjäger, wenn er euch mitmachen ließe, Käfer. Hab‘ ihm gesagt, du hättest Schmetterlinge gern, Turkey. Kurz und gut, ich besänftigte Hartöpfchen, und jetzt sind wir auch Wanzenjäger.«

»Und was soll dabei ‚rauskommen?« fragte Käfer.

»O, Turkey, gib ihm ’nen Fußtritt!«

Im Interesse der Wissenschaft waren den Mitgliedern des Naturwissenschaftlichen Vereins die Grenzen sehr weit gezogen. Sie konnten wandern, wohin sie wollten, wenn sie sich nur von allen Häusern fernhielten. Mister Hartopp war für ihre Führung verantwortlich. Käfer fing an, dies einzusehen, als M’Turk mit den Fußtritten begann.

»Ich bin ein Esel, Latte!« rief er und suchte den bedrohten Körperteil zu schützen, »Pax, Turkey. Ich bin ein Esel.«

»Nicht aufhören, Turkey. Ist euer Onkel Latte nicht ein großer Mann?«

»Ein großer Mann«, versicherte Käfer.

»Wenn auch – die Wanzenjägerei ist eine elende Beschäftigung«, sagte M’Turk. »Wie, zum Deiwel, fängt man das an?«

»So«, erklärte Latte und wandte sich zu den Schubkästen einiger Füchse. »Die Füchse sind gut angeschrieben bei der Naturgeschichte. Hier ist dem kleinen Braybrooke seine Botanisiertrommel.« Er warf ein Büschel vertrockneter Wurzeln heraus und stellte den Riemen für sich zurecht. »Sieht das nicht ziemlich handwerksmäßig aus, – ich denke doch. Hier ist Clay II sein Geologiehammer. Den kann Käfer nehmen. Turkey, du könntest dich irgendwo nach einem Schmetterlingsnetz umsehn.«

»Müßt‘ ich Tinte gesoffen haben«, sprach M’Turk einfach, aber mit tiefem Gefühl. »Käfer, gib mir den Hammer.«

»Meinetwegen. Ich bin nicht stolz. Latte, schmeiß doch das Netz ‚runter, das auf dem obersten Fach liegt.«

»Das ist gut. ’ne verwickelte Konstruktion, es ist zusammenzuklappen, Verflucht feine Hunde sind diese Füchse, wie eine Angel ist das Ding gebaut, wahrhaftig, wir sehen richtig aus wie Wanzenjäger. Nun horcht auf euren Onkel Latte! Wir gehen längs der Klippen nach Schmetterlingen. Da trifft man wenig Leute, wir müssen tüchtig rennen. Du könntest dein Buch lieber hier lassen.«

»Fällt mir nicht ein«, sagte Käfer fest. »Ich werde doch nicht wegen ein paar lumpiger Schmetterlinge mein Schmökern aufgeben.«

»Du wirst schön schwitzen. Dann könntest du auch noch mein Buch nehmen, das würd‘ dich auch nicht viel heißer machen.« –

Sie schwitzten alle drei, denn Latte führte sie in scharfem Trab westwärts entlang der Klippen unter den Ginsterhügeln, Dickicht und dorniges Strauchwerk durchkreuzend. Sie kümmerten sich nicht um eilig fliehende Kaninchen oder herumschwirrende Falter, und alles, was Turkey in Bezug auf die Wissenschaft der Geologie vorbrachte, läßt sich ganz und gar nicht wiedergeben.

»Gehn wir denn nach Clovelty?« stieß er schließlich hervor, und sie warfen sich alle drei in das kurze, elastische Gras nieder, von unten her tönte das Brausen der See herauf, und in den Bäumen weiter oben auf dem Lande spielte der leichte Sommerwind. Sie schauten nach einem Wäldchen hinüber, in dem alter, hoher Ginster in fröhlicher Blüte stand; Brombeersträucher zogen sich am Rande des Gehölzes dahin, in dem Stechpalmen und andere Hölzer bunt durcheinander standen. Es war, als ob das halbe Dickicht bis zum Rande der Klippen von goldigem Feuer erfüllt wäre. Nach der Seite zu, wo die Jungen lagen, dehnte sich die offene Wiese aus. Sie war über und über gespickt mit Warnungstafeln.

»Verrückter alter Kerl, der«, sagte Latte und las die nächste. »Das Betreten dieses Grundstücks wird unnachsichtig gerichtlich verfolgt. G. M. Dabney, Oberst, J. P.«, und so weiter. Kann mir nicht denken, daß ’n vernünftiger Mensch hier vorübergehen würde, – nich‘ wahr?«

»Erst muß man überhaupt Schaden nachweisen, eh‘ man einen anzeigen kann. Für bloßes Betreten kann man niemand anzeigen«, erklärte M’Turk, dessen Vater viele Morgen Land in Bland besaß. »Alles Quatsch!«

»Freut mich; scheint mir so, als ob wir das brauchen könnten. Nicht geradeaus, Käfer, du blindes Mondkalb. Man kann uns ja aus ’ner Meile Entfernung anhalten. Diesen Weg hier, und wickle dein verfluchtes Schmetterlingsnetz zusammen.«

Käfer nahm den Ring auseinander, stopfte das Netz in eine Tasche, schob den Stiel zu einem zwei Fuß langen Stock zusammen und legte sich den Ring um den Leib. Latte führte sie landeinwärts auf den Wald zu, der vielleicht eine Viertelmeile von der See entfernt lag.

»Jetzt können wir geradeaus durchs Gestrüpp gehn, ohne daß uns einer seh’n kann«, sagte der Taktiker, als sie die Brombeersträucher erreicht hatten. »Käfer, geh voran und kundschafte. Sch! Sch! Stinkt irgendwo hier verflucht nach Füchsen!«

Auf allen Vieren, außer, wenn er nach der rutschenden Brille griff, wand sich Käfer in das Gestrüpp hinein und kündigte plötzlich, unter grunzenden Tönen des Schmerzes, an, daß er einen ausgezeichneten Fuchspfad gefunden hätte. Das war gut für Käfer, denn Latte zwickte ihn energisch a tergo. Diesen schmalen Gang krochen sie hinunter. Er war augenscheinlich eine Hauptverkehrsstraße für die Bewohner des Dickichts und endete, zu ihrer unaussprechlichen Freude, ganz am Ende der Klippe in einen wenigen Quadratfuß großen trockenen Rasenplatz, den undurchdringliches Gebüsch von oben und von allen Seiten umgab.

»Famos, wahrhaftig! Man hat nichts weiter zu tun, als sich hinzulegen«, sagte Latte und steckte sein Messer wieder in die Tasche. »Seht mal!«

Er bog die stämmigen Zweige auseinander, und ein Durchblick öffnete sich, der eine weite Aussicht gestattete, bis nach Lundy und auf die tiefe See, die ein paar hundert Fuß tiefer unten schläfrig die Ufersteine bespülte. Sie konnten junge Dohlen an den Kanten der Klippen quieken hören und das Zischen und Kreischen aus einem Falkennest, das irgendwo außer Sicht sich befand. Latte spuckte mit viel Ueberlegung einem jungen Kaninchen auf den Rücken, das sich tief unten sonnte, an einer Stelle, wo nur ein Klippenkaninchen Fuß fassen konnte. Große graue und schwarze Möwen suchten das Geschrei der Dohlen zu übertönen; der blütenduftende Boden ringsum war belebt von erdnistenden Vögeln, die sangen oder schwiegen, je nachdem der Schatten der kreisenden Falken verschwand oder wiederkehrte, und auf dem niedrigen Rasen jenseits des Gehölzes sprangen und spielten fröhlich die Kaninchen.

»Uff! Das ist ein Platz! Naturgeschichte, sagte ich; hier ist sie«, sprach Latte und stopfte sich eine Pfeife. »Nich‘ famos? Gute alte See!« – Wiederum spuckte er befriedigt aus und war dann still.

M’Turk und Käfer hatten ihre Bücher hervorgeholt und lagen auf dem Bauch, das Kinn in die Hand gestützt. Die See schnarchte und gurgelte; die Vögel, die für einen Augenblick durch diese neuen Tiere verscheucht worden waren, kehrten zu ihrer Beschäftigung zurück, und die Jungen lasen in der reichen, warmen, schläfrigen Stille.

»Horch, da kommt’n Förster«, sagte Latte, schloß behutsam sein Buch und spähte durch das Dickicht. Ein Mann mit einer Flinte erschien im Osten am Horizont, »Verdammt noch mal, er setzt sich ruhig hin!« »Er wird darauf schwören, daß wir Nester ausgenommen haben«, meinte Käfer. »Zu was taugen Fasaneneier? Sie sind immer faul.«

»Wir könnten lieber tiefer in den Wald ‚rein gehen, mein‘ ich«, sagte Latte. »Gar nicht nötig, daß uns Oberst G. M. Dabney, I. P. so bald auf den Hals kommt. In das Holz und ganz ruhig! Vielleicht ist er uns schon nachgegangen.«

Käfer war schon weit im Tunnel drinnen. Sie hörten ihn unbeschreiblich keuchen; dann kam ein Krachen von Zweigen, als wenn ein schwerer Körper durch den Ginster sprang.

»Aha, du kleiner roter Lump! Ich seh‘ dich!« Der Förster riß die Flinte an die Schulter und feuerte beide Läufe in der Richtung der Knaben ab. Die Schrotkörner schlugen durch die trockenen Zweige rund um sie herum, während ein großer Fuchs durch Lattes Beine hindurchstürzte und über die Klippe hinausrannte.

Sie blieben still, bis sie den Wald erreichten, zerzaust, mit wirrem Haar, aber ungesehen.

»Gerade so knapp entwischt«, sagte Latte. »Ich möchte drauf schwören, einige von den Schrotkörnern gingen durch mein Haar.«

»Habt ihr ihn gesehen?« fragte Käfer. »Ich konnte ihn beinah‘ mit der Hand packen. Ein großes Biest, nicht wahr? Stank verflucht! Hollah, Turkey, was ist los? Bist du getroffen?« M’Turks mageres Gesicht war perlenweiß geworden; sein Mund, gewöhnlich halb offen, war fest geschlossen, und seine Augen flammten. Sie hatten ihn nur einmal so gesehen, in der trüben Periode eines Bürgerkrieges.

»Wißt ihr auch, daß der ebenso schlimm war wie ein Mörder?« fragte er mit scharfer Stimme und strich sich die Dornen aus dem Haar.

»Na, er hat uns ja nicht getroffen«, meinte Latte. »Schließlich, glaub‘ ich, war’s auch mehr Spaß. Holla, wo willst du denn hin?«

»Ich will nach dem Hause, wenn eins da ist«, sagte M’Turk und wand sich durch die Stechpalmen. »Ich will zum Oberst Dabney und ihm dies erzählen.«

»Bist wohl verrückt? Er wird schwören, daß uns ganz recht geschehen ist. Er wird uns anzeigen. Wir werden Prügel kriegen vor der ganzen Klasse. Turken, sei kein Esel! Denk‘ doch an uns!«

»Schafsköpfe!« sagte M’Turk und drehte sich wild herum. »Meint ihr, ich denke an uns? Der Förster ist’s.«

»Er ist übergeschnappt«, seufzte Käfer kläglich, während sie ihm folgten. In der Tat, das war auch ein ganz neuer Turkey, – ein hochmütiger, höchst abweisender Turkey, der die Nase stolz in die Höhe hob. Sie begleiteten ihn durch dichtes Gebüsch hindurch auf einen Rasenplatz, wo ein alter Herr mit weißem Backenbart abwechselnd mit einer Baumschere herumknipste und kräftige Verwünschungen ausstieß.

»Sind Sie Oberst Dabney?« fing M’Turk in seinem neuen, knarrenden Tonfall an.

»Ich. – Ja, der bin ich, und« – er sah den Jungen von oben bis unten an – »was hat dich der Deiwel hierhergekarrt? Ihr habt meine Fasanen erschreckt. Sagt nicht etwa noch nein! Du brauchst gar nicht drüber zu lachen. (M’Turks nicht gerade liebliche Miene hatte sich bei dem Wort ›Fasanen‹ zu einem schrecklichen Grinsen verzogen.) Ihr habt Nester ausgenommen. Du brauchst deinen Hut gar nicht zu verstecken. Ich kann schon sehen, daß du zum Institut gehörst. Sag‘ nicht etwa noch nein! Na nich‘? Name und Nummer, ‚raus damit! – Du willst nicht sprechen – he? Hast du meine Warnungstafel nicht gesehen? Mußt sie gesehen haben! Sag‘ nicht etwa nein! Na nich‘? Verflucht noch mal, verflucht!«

Er würgte voll großer Erregung. M’Turk stampfte mit dem Absatz den Rasen und fing an, etwas zu stottern, zwei sichere Zeichen, daß er sich nicht mehr halten konnte. Was brachte aber ihn, den Angreifer, nur so auf?

»Se – – sehen Sie, Herr! Schi – schießen Sie Füchse? Denn w – wenn Sie’s nicht tun, tut’s Ihr Förster, wir haben ihn gesehen. Es ist – ist uns ganz gleich, wie sie uns schimpfen, – aber es ist sehr schlimm, das stört die Freundschaft zwischen Nachbarn. Man muß ein für allemal erklären, wie man’s mit der Schonzeit halten will. Es ist schlimmer als ’n Mord, denn es gibt keine gesetzliche Abhilfe dagegen.« M’Turk brachte konfus hervor, was er von seinem Vater gehört hatte, während der alte Herr aus seiner Gurgel allerlei Geräusche hervorstieß.

»Weißt du, wer ich bin?« gurgelte er schließlich. Latte und Käfer zitterten.

»Nein, Herr, is mir auch ganz gleich, und wenn Sie selbst zum Schloß gehörten. Antworten Sie mir nu‘, wie ein Gentleman dem andern. Schießen Sie Füchse oder nich‘?«

Und vier Jahre früher hatten Latte und Käfer M’Turk seinen irischen Dialekt höchst sorgfältig mit Fußtritten ausgetrieben. Sicherlich war er verrückt geworden und hatte den Sonnenstich bekommen, und ebenso sicher würde er seine Prügel bekommen – einmal von dem alten Herrn und einmal vom Direktor. Eine öffentliche Prügelexekution für alle drei war das Geringste, was ihnen in Aussicht stand. Doch – wenn sie ihren Augen und Ohren trauen konnten – der alte Herr gab klein bei. – Vielleicht war es nur eine Stille vor dem Sturm, aber –

»Nein, ich schieß‘ nicht!« Er gurgelte seine Worte noch immer heraus.

»Dann müssen Sie Ihren Förster ‚rausschmeißen. Er darf nicht in derselben Gegend mit einem ordentlichen Fuchs leben. Und dazu noch ’ne Füchsin, – in dieser Zeit!«

»Bist du gekommen, um mir das zu sagen?«

»Na gewiß, deshalb eben.« Er stampfte mit dem Fuße auf. »Hätten Sie für mich nicht dasselbe getan, wenn Sie gesehen hätten, das so was auf meinem Land passierte, wie?«

Vergessen – vergessen waren Schule und die Höflichkeit, die man Aelteren schuldig ist. M’Turk schritt wieder über die unfruchtbaren roten Berge der regenreichen Westküste, wo er in seinen Ferien Vizekönig über viertausend Morgen kahlen Landes war, einziger Sohn eines drei Jahrhunderte alten Hauses, Herr eines wracken Fischerbootes und der Abgott von seines Vaters armseligen Pächtersleuten. Der Grundbesitzer sprach hier zu seinesgleichen, Landmann zu Landmann, und der alte Herr sah das ebenso an.

»Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er, »bedingungslos um Entschuldigung, – dich und unser altes Land. Willst du so gut sein und mir die Geschichte erzählen?«

»Wir waren in Ihrem Wäldchen«, fing M’Turk an und erzählte dann die ganze Geschichte, abwechselnd wie ein Schuljunge und, wenn die Erinnerung an den Vorfall ihn wieder überkam, wie ein aufgebrachter Gutsherr. »Sehen Sie also, er muß das schon so gewohnt sein«, schloß er. »Ich – wir – man soll eines Nachbars Leute nie anzeigen,‘ aber in diesem Fall nehm‘ ich mir die Freiheit –«

»Ja, ja. Ganz in der Ordnung. Natürlich hatt’st du Grund. Niederträchtig, ganz niederträchtig!« – Die beiden marschierten nebeneinander auf dem Rasen einher, und Oberst Dabney sprach wie ein Mann zum andern. »So geht’s, wenn man einem Fischer weiter hilft – einen Fischer von seinen Hummertöpfen wegnimmt. Das ist genug, um einem Erzengel die Reputation zu ruinieren. Sag‘ nur nicht noch nein! Na nich? Dein Vater hat dich gut erzogen. Ja, das hat er! Möcht‘ gern das Vergnügen seiner Bekanntschaft haben. Sehr gern, in der Tat. Und diese jungen Herren? Sind Engländer. Sagt nicht etwa nein! Sie sind auch mit dir ‚raufgekommen? Außerordentlich! Außerordentlich, wirklich! Bei dem gegenwärtigen Stande der Erziehung hätte ich nicht gedacht, daß es überhaupt drei Jungen gäbe, die wirklich gut erzogen sind … Aber Kinder und Narren sagen … Nein – nein! So meinte ich’s nicht. – Sherry packt mich immer an der Leber, aber Bier, wie wär’s? Eh? was meint ihr zu Bier, und ’n bißchen was zu essen? ’s lange her, seit ich ’n Junge war – schlimme Bande, solche Jungens,– doch Ausnahmen bestätigen die Regel. – Und dazu noch ’ne Füchsin!«

Ein grauhaariger Haushälter richtete auf der Terrasse den Tisch her. Latte und Käfer aßen nur, aber M’Turk setzte mit glänzenden Augen frei und erhaben die Unterhaltung fort; und die ganze Zeit behandelte ihn der alte Herr wie einen Bruder.

»Mein lieber Junge, natürlich könnt ihr wiederkommen. Sagt‘ ich nich‘, Ausnahmen bestätigen die Regel? Das untere Wäldchen? Junge, überall, wo es euch gefällt, solang‘ ihr nur meine Fasanen in Ruh‘ laßt. Beides verträgt sich nicht miteinander. Sagt mir nicht wie! Es verträgt sich nicht. Nie wieder soll mir hier ’ne Flinte getragen werden. Kommt und geht, wie’s euch paßt. Ich werd‘ euch nich‘ sehen, und ihr braucht mich nich‘ sehen. Gute Erziehung habt ihr! Noch ein Glas Bier, na? Ein Fischer sag ich, war er, und ein Fischer soll er noch heute abend wieder sein. Er soll! Wünscht‘, ich könnt‘ ihn ersäufen. Ich will euch bis zum Torhaus bringen. Meine Leute können Jungens – ah, nicht gerade gut besehn, aber euch sollen sie schon wiedererkennen.«

Mit vielen Komplimenten entließ er sie durch das große Tor in dem eichenen Staketzaun, der den Park umgab. Sie standen still. Selbst Latte, der zweite, um nicht zu sagen stumme Geige gespielt hatte, sah M’Turk wie den Abgesandten einer anderen Welt an. Die zwei Glas starken, eigengebrauten Biers hatten den Jungen in tiefe Melancholie versetzt, und langsam, die Hände in den Hosentaschen, dahinschlurrend, gröhlte er:

»O Paddy mein, hast du gehört, was rings man sich erzählt?«

Unter anderen Verhältnissen wären Latte und Käfer über ihn hergefallen, denn dies Lied war streng verpönt, anathema, wie ein sündiger Zaubersang. Sie hatten aber gesehen, was er zu erreichen vermochte, und so tanzten sie schweigend um ihn herum und warteten, bis es ihm beliebte, wieder auf die Erde herabzukommen.

Die Glocke zum Tee ertönte, als sie noch eine halbe Meile vom Institut entfernt waren. M’Turk schauerte zusammen und erwachte aus seinen Träumen. Die Glorie dieses freien Nachmittags war von ihm gewichen. Er war wieder ein Schüler des Instituts und sprach wieder ein gebildetes Englisch.

»Turkey, das war einfach großartig!« sagte Latte großmütig. »Hätt‘ nicht gedacht, daß du das in dir hatt’st. Du hast uns für das ganze Semester eine Hütte besorgt, wo man uns überhaupt nicht beim Kragen kriegen kann. Famos! Ganz famos! Ti–ra–la–la–itu!«

Sie drehten sich wild auf den Absätzen, mit einer Art Jodler, der sehr beliebt war und »Brüller« genannt wurde. Er wies große Aehnlichkeit mit dem Triumphgeheul eines Wilden auf. Sie rasten den Hügel herunter, den schmalen Weg hinab, der vom Gasometer herführte, gerade zu rechter Zeit, um auf ihren Hausmeister zu stoßen, der den Nachmittag damit verbracht hatte, ihre verlassene Hütte im Ginstergesträuch zu bewachen.

Mister Prouts Einbildungskraft beschäftigte sich unglücklicherweise lieber mit der dunkleren Seite des Lebens, und so schaute er mit höchst saurer Miene auf diese Cherubims mit glänzenden jungen Augen. Knaben, wie er sie haben wollte, nahmen an allen Spielen des Hauses teil und waren immer dafür zu haben. Er hatte aber ganz gut gehört, wie M’Turk offen seine Verachtung für Kricket aussprach – und sogar für die Spiele des Hauses; Käfers Ansichten über die Ehre des Hauses waren – das wußte er – die eines Brandstifters, und er war sich nie recht klar darüber, ob der mild grinsende Latte über ihn lachte. Demgemäß – da nun die menschliche Natur einmal so ist, wie sie ist – stand es für ihn fest, daß die Jungen irgendwo etwas ausgefressen hatten. Er hoffte, daß es nichts Ernstes wäre, aber …

»Ti–ra–la–la–i–tu!« ertönte ein lautes Gebrüll. Latte, noch immer auf den Absätzen, wirbelte wie ein tanzender Derwisch nach dem Speisesaal.

»Ti–ra–la–la–i–tu!« Käfer flog mit ausgestreckten Armen hinter ihm her.

»Ti–ra–la–la–i–tu!« M’Turks Stimme schnappte über. War nun nicht wirklich ein deutlicher Geruch von Bier zu verspüren, als sie an Mister Prout vorüberschossen, oder war das nicht der Fall?

Es war nicht vorteilhaft für Mister Prout, daß sein Hausmeistergewissen ihn bewog, seine Kollegen um Rat zu fragen. Wäre er mit seiner Pfeife und seinen Besorgnissen zum kleinen Hartopp gegangen, so hätte er sich vielleicht manche Unannehmlichkeit erspart, denn Hartopp verstand sich auf Jungen und wußte ein wenig mit ihren Geschichten Bescheid. Sein Schicksal führte ihn aber zu King, einem anderen Hausmeister, mit dem er zwar nicht besonders befreundet war, der aber von glühendem Haß gegen Latte und Genossen beseelt war.

»Aha«, sagte King und rieb sich die Hände, als er die Geschichte gehört hatte. »Merkwürdig! In meinem Haus denken sie nicht einmal im Traum an solche Geschichten.«

»Sie sehen aber, ich habe gar keinen genauen Beweis.«

»Beweis? Wenn unser prächtiger Käfer dabei ist! Als ob es dessen bedürfte! Ich denke, es wird dem Sergeanten nicht schwerhalten, ihn zu liefern. In meinem Haus wenigstens ist Foxy jedem Jungen gewachsen, und wenn er noch so viel Ausflüchte hat. Natürlich haben sie irgendwo geraucht und getrunken. Die Sorte Jungen tut das immer. Sie halten es für mannhaft.« »Sie haben aber keinen Anhang in der Schule, und sie sind besonders grob gegen die Jüngeren«, meinte Prout, der aus der Entfernung mit Interesse gesehen hatte, wie Käfer einem heulenden Fuchs sein Schmetterlingsnetz wieder aushändigte.

»Ah! Sie fühlen sich über gewöhnliche Streiche erhaben. Eingebildete kleine Kreaturen! In M’Turks irischem Grinsen liegt etwas, das mich an Ihrer Stelle doch beunruhigen würde. Und außerdem sind sie sorgsam darauf bedacht, alle offenen Taten zu vermeiden. Das ist fein ausgedachte Unverschämtheit. Ich bin, wie Sie wissen, sehr dagegen, mich in die Angelegenheiten eines anderen Hauses zu mischen, aber sie brauchen eine Lektion, Prout. Eine scharfe Lektion brauchen sie, schon, um ihnen ihr aufgeblasenes Selbstvertrauen auszutreiben. Ich an Ihrer Stelle würde mich mal eine Woche lang um ihr Treiben kümmern. Jungen von der Sorte – ich will mir nicht schmeicheln, aber ich glaube, ich verstehe mich auf Jungen – machen nicht aus Liebe zur Sache mit den Wanzenjägern mit. Sagen sie dem Sergeanten, er solle die Augen offen halten. Ich will mich auf meinen Spaziergängen natürlich auch ein bißchen umsehen.«

»Ti–ra–la–la–i–tu!« – – – erklang es weit unten im Korridor.

»Scheußlich!« sagte King. »Wo schnappen sie diese kommunen Laute nur auf? Eine scharfe Lektion, das ist es, was sie brauchen.« Die Jungen gaben sich mit Lektionen während der nächsten fünf Tage nicht viel ab. Oberst Dabneys ganzes Besitztum stand ihnen zur Verfügung, und sie durchforschten es mit der Heimlichkeit von Rothäuten und der Genauigkeit von Einbrechern. Sie konnten entweder auf dem oberen Wege durch das Tor hereinkommen – sie waren fürsorglich genug, sich mit dem Torwächter und seinem Weibe anzufreunden – in das Dickicht hinuntersteigen und längs der Klippen zurückkehren, oder sie konnten auch mit dem Dickicht anfangen und nachher auf den Weg hinaufklettern.

Sie vermieden es sorglich, des Obersten Wege zu kreuzen. Er hatte genug getan, und sie wollten sich nicht aufdrängen. Auch zeigten sie sich nicht offen, wenn sie besser verborgen dahinschleichen konnten. Das Versteck im Ginsterdickicht am Rand der Klippen war ihr erwählter Zufluchtsplatz. Käfer taufte ihn »die liebliche Insel Aves«, um des Friedens und des Schutzes willen, den er bot; und hier, nachdem man Pfeifen und Tabak einmal auf einer vorspringenden Kante in Armeslänge vom Klippenrande verborgen hatte, war ihre Position einfach unangreifbar.

Denn, man merke wohl, Oberst Dabney hatte sie nicht eingeladen, sein Haus aufzusuchen. Deshalb hatten sie es nicht nötig, besondere Erlaubnis für Besuche einzuholen – die Schulregeln waren in diesem Punkt streng. Er hatte ihnen nur seinen Grund und Boden freigegeben, und seit sie regelrechte Wanzenjäger geworden waren, reichten ihre erweiterten Grenzen eben bis zu den Warnungstafeln am Wäldchen und dem Torweg auf dem Hügel.

Sie bewunderten ihre eigene Tugendhaftigkeit.

»Und selbst wenn’s nicht so wär’«, sagte Latte, platt auf dem Rücken liegend, und starrte in das Blau hinauf. »Selbst wenn wir meilenweit aus den Grenzen heraus wären – niemand könnte uns hier ‚rauskriegen, wenn er nicht den Tunnel wüßte. Ist das hier nicht besser, als dicht hinter dem Haus zu liegen – in ewiger Angst jedesmal, wenn wir ’ne Pfeife angesteckt hatten? Ist es nicht euer Onkel Latte – – –«

»Nein,« erklärte Käfer, der sich über den Rand der Klippe gebeugt hatte und gedankenvoll in die Tiefe hinabspuckte, »das haben mir Turkey zu danken. Turkey ist der große Mann. Turkey, mein Sohn, du beunruhigst das Huftier.«

»Trauriger oller Esel!« sagte M’Turk, sehr in sein Buch vertieft.

»Sie haben Verdacht auf uns«, meinte Latte. »Hufbiest hat manchmal so ’nen Riecher; und Foxy tut bei jedem Schritt, als hätte er ’ne Art – ’ne Art von – – – «

»Skalp«, warf Käfer ein. »Foxy ist ’n quatschiger Chingangook.«

»Armer Foxy«, sagte Latte. Er möchte uns gern einmal an solchem Tage abfassen. Gestern abend in der Turnstunde sagt‘ er zu mir: ›Ich hab‘ ein Auge auf Sie geworfen, Mister Corkran. Ich warn‘ Sie man bloß zu Ihrem Besten‹. – Ich sagt‘ zu ihm: ›Na, dann heben Sie’s man hübsch wieder auf, oder Sie werden Ungelegenheiten haben. Ich warn‘ Sie man bloß zu Ihrem Besten‹. Foxy war wütend.«

»Ja, Foxy is wenigstens anständig dabei«, erklärte Käfer. »Aber Huftier – – ist gemein. Sollt‘ mich nich‘ wundern, wenn er glaubt‘, wir wären im Tran.«

»Ich war bloß einmal besoffen – in den Ferien,« erzählte Latte nachdenklich, »und ich wurd‘ scheußlich krank danach. ’s is aber auch wahrhaftig wahr, ’n Mann kann wirklich dazu kommen, zu trinken, wenn man ’n Biest wie Huf zum Hausmeister hat.«

»Wenn wir beim Spiel immer dabei wären und schrien: ›Gut getroffen, Sir!‹ und auf einem Bein ständen und grinsten, jedesmal, wenn Huftierchen sagte: ›So–o, meine Jungen, wirklich?‹ und sagten: ›Ja, Sir‹, und ›Nein, Sir‹, und ›O, Sir!‹ und ›Bitte, Sir!‹ wie ein Dutzend lumpige Füchse, dann würd‘ Huftier ’ne gewaltige Meinung von uns kriegen«, meinte M’Turk grinsend.

»Zu spät, damit anzufangen.«

»Ist auch so gut. Das Huftier meint’s ganz gut, er ist bloß ’n Esel. Und wir zeigen ihm, daß wir ihn für ’n Esel ansehen. Und deshalb liebt er uns natürlich nicht. Gestern abend nach dem Gebet erzählte er mir, daß er in loco parentis wäre«, grunzte Käfer.

»Deiwel noch mal!« schrie Latte. »Das heißt, er hat irgend was ganz Verfluchtes im Sinn. Neulich sagt‘ er zu mir, er würd‘ mir dreihundert Zeilen Abschrift geben, weil ich im Schlafzimmer Nummer zehn den Cachuca getanzt hatte. Loco parentis, verflucht! Aber was tut’s, solang man nur zufrieden ist. Wir können ganz zufrieden sein.«

Sie waren es auch. Prout, King und der Sergeant waren mit vollem Recht sehr beruhigt. Jungen, die ein schlechtes Gewissen haben, lassen sich das auch anmerken. Sie schleichen hastig zum Tor hinaus und lächeln nervös, wenn sie ausgefragt werden. Sie kommen ganz in Unordnung zurück, knapp zur Zeit, um den Aufruf nicht zu versäumen. Sie nicken und winken und grinsen einander zu und stieben auseinander, wenn ein Lehrer in die Nähe kommt. Doch Latte und seine Genossen hatten diese Eigentümlichkeiten der Jugend längst abgelegt. Sie strolchten unbesorgt darauf los und kehrten in ausgezeichneter Verfassung zurück, nach einer leichten Erfrischung an Stachelbeeren und Sahne im Torwärterhäuschen.

Der Torwärter war an Stelle des mörderischen Fischers zum Forstaufseher ernannt worden, und sein Weib hielt viel von den Knaben. Der Mann gab ihnen sogar ein Eichhörnchen, das sie dem Naturwissenschaftlichen Verein überreichten. Der kleine Hartopp, der sich schon angelegentlich danach erkundigt hatte, was sie denn eigentlich zum Besten der Wissenschaft täten, wurde dadurch schachmatt gemacht. Foxy legte voll Aufopferung förmliche Schleichwege hinter einem abseits gelegenen Wirtshause an, und es war merkwürdig, daß Prout und King, trotzdem Kollegen aus dem Konferenzzimmer selten befreundet sind, zusammen in derselben Richtung spazieren gingen, – und zwar nach Nordosten. Die liebliche Insel Aves lag aber gerade im Südwesten.

»Sie sind schlau, verdammt schlau«, sagte Latte, »was spüren sie gerade da ‚rum?«

»Ich war’s«, sprach Käfer milde. »Ich fragte Foxy, ob er schon mal das Bier dort versucht hätte. Das war genug für Foxy, und es heiterte ihn ein bißchen auf. Er und Huftier haben schon so lang‘ um unsere Hütte ‚rumgeschnüffelt, daß ich dachte, sie würden gern ’n bißchen Abwechslung haben.«

»Na, immer wird’s nich‘ so gehn«, sagte Latte. »Huftier schwillt an wie ’ne Gewitterwolke, und King geht ‚rum und reibt sich seine Quadrat-Hände und grinst wie ’ne Hyäne. Er demoralisiert King schrecklich. Er wird noch eines Tages platzen.«

Dieser Tag kam ein wenig früher, als sie erwarteten, kam, als der Sergeant, dessen Obliegenheit es war, die Fehlenden aufzuschreiben, an einem Nachmittag den Aufruf nicht besorgte.

»Aha, hat die Kneipen über! Er ist mit seinem Glas auf den Hügel ‚raufgegangen, um uns aufzuspionieren. ’n Wunder, daß er nich‘ früher dran gedacht hat. Saht ihr, wie das alte Huftier die Augen aufriß, als wir unsere Namen nannten? Huftier ist auch dabei. Ti–ra–la–la–i–tu! Los, marsch!«

»Aves?« fragte Käfer.

»Natürlich, aber ich rauche nicht aujourd’hui. Parce que je sicher pense, wir werden suivi. Wir wollen die Klippen lang gehen, langsam, und Foxy massig Zeit lassen, oben mitzukommen.«

Sie schlenderten auf die Schwimmbäder zu und standen plötzlich King gegenüber.

»Ah, laßt euch nicht stören«, sagte er. »Natürlich in Verfolgung wissenschaftlicher Interessen begriffen! Macht euch wohl viel Vergnügen, meine jungen Freunde?« –

»Seht ihr!« sagte Latte, als sie außer Hörweite waren. »Er kann nicht dicht halten. Er kommt uns nach, um uns den Rückzug abzuschneiden. Er wird beim Bad warten, bis Huftier entlang kommt, sie haben jeden gesegneten Platz abgesucht, außer an den Klippen, und jetzt denken sie, sie haben uns im Sack. Gar kein Grund, uns zu beeilen.«

Sie gingen gemütlich dahin, bis sie das Gebiet der Warnungstafeln erreichten.

»Horcht man! Foxy kommt ganz wild den Abhang ‚runter, wie verrückt. Wenn ihr ihn im Gebüsch hört, dann gerade durch nach Aves. Sie wollen uns flagranti delicto abfassen.«

Sie liefen über den freien Rasen, drangen im rechten Winkel zu dem schmalen Tunnel ins Dickicht ein und lagen dann still in Aves.

»Na, was hab‘ ich euch gesagt?« Latte packte sorgfältig Pfeifen und Tabak beiseite. Der Sergeant, ganz außer Atem, stand gegen die Einzäunung gelehnt und suchte mit seinem Krimstecher das Ginsterbuschwerk ab, was aber dasselbe war, als wenn er durch einen Sandsack hätte sehen wollen. Dann tauchten auch schon Prout und King hinter ihm auf. Sie berieten.

»Aha, Foxy gefallen die Warnungstafeln nicht, und die Dornen mag er auch nicht, wir wollen jetzt den Tunnel ‚rauf und nach dem Torhaus. Hallo! Sie haben Foxy in den Busch ‚reingeschickt.«

Der Sergeant stak bis zur Weste in dem brechenden, knackenden Ginster und erfüllte seine Ohren mit dem Lärm seines eigenen Vormarsches. Die Jungen erreichten den Schutz des Waldes und krochen durch eine Lücke zwischen den Stechpalmen hindurch.

»Verflucht viel Spektakel!« meinte Latte kritisch. »Glaub‘ kaum, daß das Oberst Dabney gefallen wird. Ich denk‘, wir gehen nach dem Torhaus ‚rauf und lassen uns was zu essen geben. Wir können da auch seh’n, wie der Spaß ausgeht.«

Plötzlich kam der Förster an ihnen vorbeigetrabt.

»Was for Kerls sind da zwischen die Büsche, zum Deiwel noch mal? Der Herr wird schön wild sein«, sagte er.

»Na, ganz einfach, Wilddiebe«, antwortete Latte in dem breiten Devonshire-Dialekt, der die langue de guerre bildete.

»Ich will ihnen schon das Wilddieben besorgen!« Er stürzte sich in das Dickicht, und bald begann es recht lebhaft darin zu werden. Man hörte Kings Stimme schreien: »Nur immer weiter, Sergeant! Wollen Sie ihn wohl lassen, Sir! Er führt nur meine Befehle aus.«

»Wem haben Sie denn hier Befehle zu geben, Sie Dreckbart? Sie kommen mit zum Herrn. Vorwärts, ‚raus hier aus’m Holz!« – Das galt dem Sergeanten. – »Jawoll, ich mein‘ schon, wir kennen die Jungens, wo ihr hinterher seid. Die haben viel zu lange Ohren und sind viel zu flink, lebendig kriegt ihr die nich‘! Kommen Sie man mit ‚rauf zum Herrn! Er wird euch eure Jungens schon anstreichen. Ihr anderen Kerle bleibt mir ja drüben über’m Zaun.«

»Setzen Sie dem Eigentümer die Sache auseinander. Sie können es ihm erklären, Sergeant«, schrie King. Der Sergeant mußte sich also der Uebermacht ergeben haben.

Käfer lag der Länge nach auf dem Rasen hinter dem Torwärterhäuschen und biß buchstäblich die Erde vor krampfhaften Freudenausbrüchen.

Latte brachte ihn mit Fußtritten wieder in die Höhe. Nur ein kleines Muskelzucken auf der Wange, das war das einzige Zeichen von Fröhlichkeit bei Latte und M’Turk.

Sie klopften an die Tür des Torhäuschens, wo sie immer willkommen waren.

»Kommen Sie man ‚rein und setzen Sie sich ’n bißchen, meine lieben jungen Herren«, sagte das Weib. »Sie werden meinem Mann schon nischt tun. Er wird ihnen schon das Wilddieben besorgen. Na nich‘? Frische Beeren und Schmand. Wir von Dartymoor vergessen unsere Freunde nich‘. Aber solche Wilddiebe von Bideror, das is‘ ja ’ne ganz powre Bande. Zucker? Mein Mann hat ’n Dachs ausgegraben, junge Herrchens, for Sie. Er is‘ in der Remise in ’ne Schachtel.«

»Wir werden ihn hernach mitnehmen, wenn wir gehn. Ich denk‘, Ihr habt wohl zu tun. Wir wollen noch hier bleiben, und – Ihr habt heut‘ Waschtag«, sagte Latte, »wir sind nich‘ Leute, um die man sich Umstände zu machen braucht. Kümmert Euch gar nich‘ um uns. Es is‘ genug Sahne da.«

Das Weib wischte sich die roten Hände an der Schürze ab und verschwand. Sie blieben im Zimmer. Auf einmal gab es ein Getrampel von Füßen auf dem Kies draußen vor den bleigefaßten bunten Glasscheiben, und dann erklang Oberst Dabneys Stimme, etwas klarer als die eines Bullen.

»Könnt Ihr lesen? Ihr habt doch Augen in Eurem Schädel! Sagt mir nicht noch einmal nein! Na nich‘?«

Käfer riß eine Häkelarbeit von dem glänzenden Roßhaar-Ledersofa, stopfte sie sich in den Mund und rollte in einen Winkel.

»Ihr seht meine Warnungstafeln. Eure Pflicht? Verdammte Unverschämtheit, Sir! Eure Pflicht war, von meinem Boden wegzubleiben. Will der zu mir von Pflicht sprechen! Was – was – was, so’n miserabler Wilddieb wird mir wohl nächstens noch ’s A-B-C beibringen wollen! Macht Spektakel wie ein Ochse da unten zwischen den Büschen! Jungen? Jungen? Jungen? behaltet eure Jungens zu Hause! Ich bin nich‘ verantwortlich für eure Bengels! Aber ich glaub‘ nich‘ – ich glaub‘ nich‘ ein Wort davon. Ihr habt so ’nen heimtückischen Blick im Aug‘ – so ’nen heimtückischen, kriechenden, wilddieberischen Blick im Aug‘, der einen Erzengel um Ehre und Reputation bringen könnt‘! Sagt nich‘ etwa noch nein! Ihr habt ihn! Ein Sergeant? Dann schämt Euch desto mehr; – das war der schlechteste Handel, den Ihre Majestät je gemacht hat. Ein Sergeant, der im Land ‚rumläuft um zu wildern. – Und hat seine Pension! Verdammt! Ah, verdammt! Aber ich will nich‘ streng sein. Ich will gnädig sein. Bei Gott, ich will wahrhaftig die reine Essenz von Humanität sein! Habt Ihr meine Warnungstafeln geseh’n oder nich‘? Sagt mir nich‘ etwa noch nein! Habt sie geseh’n! Ruhe, Sergeant!«

Einundzwanzig Jahre Dienstzeit übten noch jetzt auf Foxy ihren Einfluß aus. Er gehorchte.

»So. Nu‘ marsch!«

Das große Tor schloß sich schnappend. »Meine Pflicht! Ein Sergeant will mir meine Pflicht vorhalten!« pustete Oberst Dabney. »Gottsdunner! Noch mehr Sergeanten!«

»Jetzt kommt King, jetzt kommt King!« schluckte Latte, den Kopf auf das Roßhaarkissen gepreßt. M’Turk stopfte sich den Steppvorleger ein, der vor dem saubern Kamin lag, und das Sofa erstickte Käfers Ausbrüche. Durch die dicken Glasscheiben sahen die Gestalten draußen blau, verzerrt und drohend aus.

»Ich, ich protestiere gegen solche Beleidigung.« King mußte sich den Hügel herauf außer Atem gelaufen haben. »Der Mann tat nichts als seine Schuldigkeit. Ich – ich werde Ihnen meine Karte geben – –«

»Er hat Manschetten!« Latte vergrub von neuem den Kopf.

»O fatal, höchst fatal – ich habe keine einzige bei mir. Doch mein Name ist King, Sir, Lehrer am Institut, und ich bin bereit, Sir, vollkommen bereit, Ihnen das Vorgehen des Mannes zu erklären. Wir sahen drei …«

»Sahen Sie meine Warnungstafel?«

»Ich muß zugeben, ja, aber unter diesen Umständen – –«

»Ich stehe hier in loco parentis.« Prouts tiefe Stimme mischte sich jetzt in die Diskussion ein. Sie konnten hören, wie er keuchte.

»Wa–as?« Oberst Dabney wurde mehr und mehr irisch.

»Ich bin verantwortlich für die Knaben, die ich unter meiner Aufsicht habe.«

»Sie sind – sind Sie das? Dann kann ich Ihnen man bloß sagen, daß Sie ihnen ’n verflucht schlechtes Beispiel geben – ’n ganz verdammt schlechtes Beispiel, wenn man so sagen kann. Ich hab‘ Ihre Bengels nich‘. Ich hab‘ Ihre Jungens nich‘ geseh’n, un‘ ich sag‘ Ihnen, wenn hier auch hinter jedem Busch ’n Jung‘ vorgrinste, hätten Sie doch nich‘ für’n Dreier das Recht, hier den Weg ‚raufzukommen, g’rad‘ durch den Wald, und alles zu erschrecken, was drin is‘. Sagen Sie nich‘ etwa noch nein! Sie haben erschreckt! Sie hätten ans Tor kommen un‘ mich aufsuchen sollen, statt nach Ihren verdammten Bengels kreuz und quer durch meinen Grund zu jagen. In loco parentis sind Sie? Na, ich hab‘ mein Latein auch noch nich‘ vergessen, und ich will Ihnen bloß sagen: » Quis custodiet ipsos custodes?« Wenn die Aufseher auf fremdem Boden ‚rumlaufen, wie kann man da auf die Jungens schimpfen!«

»Aber – wenn ich Sie privatim sprechen könnte –« sagte Prout.

»Ich will nichts privatim mit Ihnen zu tun haben. Meintswegen können Sie so privat sein, wie Sie wollen, – aber auf der andern Seit‘ vom Tor. ’n schönen guten Abend wünsch‘ ich!«

Das Tor klappte zum zweitenmal. Sie warteten, bis Oberst Dabney ins Haus zurückgekehrt war, und fielen sich dann in die Arme, nach Atem ringend.

»O Himmel! O King! O mein Huftier! O mein Foxy! Eifrig, riesig eifrig, Mister Simple!« – Latte wischte sich die Augen. »Den Kerl hab‘ ich mir tüchtig vorgenommen. – Nu müssen wir aber hier ‚raus, sonst kommen wir zu spät zum Tee.«

»Neh – nehmt den Dachs und macht Hartöppchen glücklich. Ma – macht sie alle glücklich«, stöhnte M’Turk. Er steuerte auf die Tür zu, Käfer mit ein paar Fußtritten vor sich her befördernd.

Sie fanden das Tier in einer übelriechenden Schachtel, ließen zwei Halbkronenstücke als Bezahlung zurück und schwenkten heimwärts. Der Dachs ließ ein höchst wunderbares Grunzen hören, beinahe so wie Oberst Dabney, und sie ließen ihn zwei- oder dreimal halten, außer sich vor lautem Gelächter. Sie hatten sich nur unvollkommen erholt, als Foxy ihnen auf dem Hof begegnete, mit der Order, daß sie sich auf ihr Schlafzimmer verfügen und warten sollten, bis nach ihnen geschickt würde.

»Schön, dann bringen Sie die Schachtel hier in Mr. Hartopps Zimmer, wir haben wenigstens etwas für den Naturwissenschaftlichen Verein getan«, sagte Käfer.

»Fürchte man, das wird Ihnen nich‘ viel helfen, junge Herren«, meinte Foxy mit dräuender Stimme. Es gärte wild in ihm.

»Alles in Ordnung, Foxybus.« Latte hatte den »Schluckauf« bekommen, im höchsten Grade. »Wir – wir werden Sie nie verlassen, Foxy. Nach Füchsen im Wald auf die Jagd gehn, is‘ doch noch viel schlimmer, na nich‘? Nein – Sie haben ganz recht. Ich – ich bin nich‘ ganz wohl.«

»Diesmal haben sie sich doch zuviel zugetraut«, dachte Foxy bei sich. »Ganz gehörig voll, möcht‘ ich sagen, aber es ist nichts von Getränken zu riechen. Und sie sind eigentlich auch ’n bißchen anders als sonst. King und Prout haben aber ebensogut ihr Teil abgekriegt wie ich. Das ist wenigstens mein Trost.«

»Na, nu‘ müssen wir uns zusammennehmen«, meinte Latte und stand wieder von dem Bette auf, auf das er sich hingeworfen. »Wir sind unschuldig beleidigt – wie gewöhnlich, wir wissen nich‘, warum man uns hier ‚raufgeschickt hat; nich‘ wahr?«

»Keine Ahnung, vom Tee ausgeschlossen. Oeffentliche Blamage vor dem gangen Haus«, sagte M’Turk, dem die Augen tränten. »Verdammt ernste Sache.«

»Wir sind einfach ruhig, bis King sich nicht mehr halten kann«, schlug Käfer vor. »Er ist ein schimpfwütiger Kerl und wird in dollster Wut sein, Prout ist zu verflucht vorsichtig, wir müssen auf King aufpassen, und wenn er uns irgendwie Gelegenheit gibt, uns an den Direktor wenden. Das kann er nie vertragen.«

Sie wurden auf das Zimmer ihres Hausmeisters vorgeladen. King und Foxy waren zu Prouts Unterstützung da, und Foxy hatte drei Rohrstöcke unter dem Arm. King schielte triumphierend, denn er sah Tränen auf den Backen der Jungen – vom vielen Lachen vorher freilich nur. Dann begann das Verhör.

Ja, sie waren die Klippen entlang gegangen. Ja, sie hatten Oberst Dabneys Besitzung betreten. Ja, sie hatten die Warnungstafeln gesehen. (Hier räusperte sich Käfer krampfhaft.) Zu welchem Zweck hatten sie Oberst Dabneys Grund und Boden betreten?

»Ein Dachs war da, Sir.«

Hier konnte King, der den Naturwissenschaftlichen Verein verabscheute, weil er den kleinen Hartopp nicht leiden mochte, sich nicht länger zurückhalten. Er ersuchte sie, ihrer offenbaren Unverschämtheit nicht noch Lügen zuzufügen. »Aber der Dachs war da, in Mr. Hartopps Zimmer, Sir.« Der Sergeant war so freundlich, für sie einzutreten. Die Sache mit dem Dachs war dadurch erledigt, und dieser augenblickliche Dämpfer steigerte Kings Ungestüm bis zur Siedehitze. Man konnte hören, wie er mit dem Fuß auf dem Boden scharrte, während Prout seine langsamen Fragen vorbereitete. Sie wußten jetzt, wie sie vorzugehen hatten. Ihre Augen funkelten nicht mehr, ihre Gesichter waren bleich; sie ließen die Hände bewegungslos an den Seiten. Sie lernten jetzt, auf Kosten eines Landsmannes, die Lektion ihrer Rasse: sich jeder Erregung zu enthalten und den Fremden in dem geeigneten Moment in die Falle zu bringen.

So weit ging alles gut. King mischte sich jetzt mehr in die Verhandlung ein, rachsüchtig, wo Prout bekümmert war. Wußten sie, daß es strafbar wäre, fremdes Gebiet zu betreten? Mit einer geschickt zur Schau getragenen Unentschlossenheit gab Latte zu, daß er zufällig etwas, aber nur dunkel über diesen Punkt informiert sei, aber er hatte gedacht – – – der Satz wurde unendlich weit ausgesponnen, denn Latte wünschte seinen Trumpf nicht gegen einen solchen Gegner auszuspielen. Mr. King jedoch wünschte kein Aber, und Lattes Ausflüchte interessierten ihn nicht. Sie sollten sich an seine Meinung kehren. Knaben, die herumschlichen, herumkrochen – die versteckt lagen, außerhalb der Grenzen, selbst außerhalb der großmütig weit gesteckten Grenzen für den Naturwissenschaftlichen Verein, dem sie sich betrügerischerweise angeschlossen hatten, um ihn zum Deckmantel zu benutzen für ihre Schandtaten – ihre Laster – ihre Lumpereien – ihre Sünden.

»Im nächsten Augenblick geht er zu weit«, sagte Latte zu sich selbst. »Dann müssen wir ihn ‚rumkriegen, ehe er aufhört.«

Solche Knaben, Rauhbeine, moralisch Aussätzige, – der Strom seiner Worte riß King immer weiter fort – Verleumder, Lügner, Faultiere, ja, angehende Trunkenbolde – – –

Er arbeitete jetzt auf einen emphatischen Schluß hin, und die Jungen wußten das. M’Turk dämmte plötzlich den Sturzbach seiner Rede, und die andern echoten.

»Ich wende mich an den Direktor, Sir.«

»Ich wende mich an den Direktor, Sir.«

»Ich wende mich an den Direktor, Sir.«

Das war ihr zweifelloses Recht. Trunkenheit zog öffentliche Prügelstrafe und Relegierung nach sich. Man hatte sie dessen beschuldigt. Der Fall gehörte vor den Direktor, ganz allein vor den Direktor.

»Du hast an Cäsar appelliert, vor Cäsar sollst du kommen.« Sie hatten den Satz ein- oder zweimal vorher in ihrer Karriere gehört. »Trotz alledem«, sagte King, dem es unbehaglich wurde, »möcht‘ ich euch lieber raten, euch mit unserer Entscheidung zu begnügen, meine jungen Freunde.«

»Dürfen wir mit den andern zusammenbleiben, bis wir zum Direktor kommen, Sir?« fragte M’Turk seinen Hausmeister, ohne auf King zu achten. Die Situation erhielt auf einmal ihren erhabensten Anstrich. Und vor allem – es gab vorläufig keine Arbeit, denn die moralisch Aussätzigen wurden in strenger Quarantäne gehalten, und der Direktor fällte sein Urteil immer erst vierundzwanzig Stunden später.

»Schön – wenn ihr eben bei eurer trotzigen Haltung bleiben wollt«, sagte King mit einem verliebten Blick auf die Rohrstöcke unter Foxys Arm. »Da gibt’s keine andere Wahl.«

Zehn Minuten später war die Neuigkeit im ganzen Institut herum. Latte und Kompagnie waren schließlich doch hereingefallen – durch Trinken hereingefallen. Sie hatten getrunken. Total voll waren sie von einer Hütte zurückgekehrt. Sie lagen jetzt hoffnungslos betrunken auf dem Fußboden ihres Schlafzimmers. Ein paar kühne Geister schlichen sich herauf, um einmal nachzusehen und bekamen von den Verbrechern Stiefel an den Kopf.

»Jetzt haben wir ihn – haben ihn unters Kaudinische Joch gekriegt!« sagte Latte, nachdem sie den Neugierigen diese kleine Andeutung gemacht hatten. »King wird seine Anschuldigungen bis auf ’n i-Tipfel beweisen müssen.«

»Zu kitzliche Sache, wird vor Wut platzen«, zitierte Käfer aus einem Buche, das er gerade las. »Hab‘ ich’s nich‘ gesagt, er würd‘ sich schön ‚reinlegen, wenn wir nur ruhig abwarteten?«

»Und keine Arbeitsstunde außerdem, o ihr angehenden Trunkenbolde,« sagte M’Turk, »wo wir heut noch g’rad‘ die Mathematikarbeit haben. Hallo! Da ist unser teurer Freund Foxy. Noch mehr Foltern, Foxybus?«

»Ich hab‘ Ihnen was zu essen gebracht, junge Herren«, sagte der Sergeant hinter einem vollgepackten Speisebrett hervor. Ihre Kriege waren immer ohne Boß und Haß ausgekämpft worden, und in Foxy war der Verdacht aufgestiegen, daß Jungen, die sich so leicht hatten abfassen lassen, vielleicht doch noch etwas in Reserve haben mußten. Foxy hatte den irischen Aufstand mitgemacht, wo frühe und genaue Information viel wert war.

»Ich dachte daran, Sie haben ja nichts zu essen bekommen, und da sprach ich mit Gumbly, und er meinte, Sie wären nicht ganz vom Essen ausgeschlossen. Und deshalb hab‘ ich dies ‚raufgebracht. Dies is‘ Ihr Büchsenfleisch, na nich‘, Mr. Corkran?«

»Wahrhaftig, Foxy, Sie sind ’n anständiger Kerl«, sagte Latte. »Ich dacht‘ wirklich nicht, Sie hätten soviel – wie sagt man doch, Käfer?«

»Herz«, erwiderte Käfer prompt. »Schönen Dank, Sergeant. Das ist freilich dem kleinen Carter sein Büchsenfleisch.«

»Es war ein C drauf. Ich dacht‘, ’s gehörte Mr. Corkran. Das is‘ ’ne ganz ernste Geschichte, junge Herren, wahrhaftig ernst is‘ es. Ich kann’s nicht wissen, aber vielleicht, es kann ja doch noch was auf Ihrer Seite sein, was Sie Mr. King oder Mr. Prout noch nich‘ gesagt haben. Na nich‘?«

»Ist schon da. Massig, Foxybus.« Latte sprach mit vollem Munde.

»Dann dacht‘ ich mir, wenn das so is‘ – seh’n Sie – ich könnt‘ es vielleicht dem Herrn Direktor erzählen, so ganz ruhig, wenn er mich danach fragt. Ich muß ihm am Abend den Bericht bringen, und – die Sache sieht sehr schlimm aus.«

»Scheußlich schlimm, Foxy. Siebenundzwanzig Hiebe im Turnsaal vor der ganzen Schule, und dann geschaßt. Wein ist ein lustiger Spötter, Bier ein rasender Wüterich«, zitierte Käfer.

»Da is‘ gar nicht drüber zu spaßen, junger Herr. Ich muß mit dem Bericht zum Herrn Direktor. Na und – Sie haben’s wohl gar nicht gemerkt, wie ich Ihnen heut nachmittag nachgegangen bin, weil ich so meinen Verdacht hatte.«

»Saht Ihr meine Warnungstafel?« krächzte M’Turk, ganz mit dem irischen Akzent Oberst Dabneys. »Ihr habt Augen im Kopf. Sagt mir nicht etwa noch nein! Habt sie geseh’n!« sagte Käfer.

»Ein Sergeant! Läuft im Land ‚rum, um zu wildern, und hat seine Pension! Verdammt, ach verdammt!« fügte Latte mitleidslos hinzu.

»Gottsdunner!« schrie der Sergeant und ließ sich schwer auf ein Bett sinken, »wo – wo zum Deiwel haben Sie denn gesteckt? Ich hätt’s mir ja schon denken können, daß da irgend ’n Streich im Spiel war.«

»Oh, Sie schlauer Quatschkopf!« fuhr Latte fort, »wir sollten nich‘ gemerkt haben, wie ihr uns heut nachmittag nachgekommen seid – sollten nichts gemerkt haben? Habt wohl gedacht uns nachzuschleichen. Na, wir haben euch ‚reinfallen lassen, selbstverständlich. Oberst Dabney – halten Sie ihn nich‘ für’n netten Mann, Foxy? – Oberst Dabney is‘ unser lieber, spezieller Freund. Wochen und Wochen sind wir da schon hingegangen. Er hat uns eingeladen. Sie und Ihre Pflicht! verdammt noch mal, Ihre Pflicht, Sir! Ihre Pflicht war’s, von seinem Besitztum fernzubleiben.«

»Sie werden nie mehr den Kopf hoch tragen können, Foxy. Die Füchse werden Ihnen nachschreien«, meinte Käfer. »Denken Sie an Ihr wackliges Ansehen.«

Der Sergeant sann trübselig nach.

»Seh’n Sie mal, junge Herren,« sagte er ernst, »Sie werden’s doch nicht erzählen wollen, na nich‘? waren nich‘ Mr. Prout und Mr. King auch dabei?«

»Selbstverständlich, Foxybuskulus. Die auch – ganz scheußlich. Haben’s viel schlimmer gekriegt als Sie. Wir haben jedes Wort gehört. Sie sind noch ziemlich gut weggekommen, wenn ich Oberst Dabney gewesen wär‘ – wahrhaftig, ich hätt‘ euch alle eingespunnt. Ich denk‘, ich werd’s ihm morgen mal vorschlagen.«

»Und die ganze Geschichte kommt nu‘ vor’n Herrn Direktor. O du grundgütiger Herrgott!«

»Jedes lump’ge Wort davon, mein Chingangook«, sagte Käfer und tanzte herum. »Warum auch nich‘? Wir haben nichts Schlimmes getan, wir sind keine Wilddiebe, wir sind nich‘ ‚rumgegangen und haben den Charakter von armen, unschuldigen Jungen ‚runtergemacht und gesagt, sie wären betrunken.«

»Das hab‘ ich nich‘ getan«, verteidigte sich Foxy. »Ich hab‘ man bloß gesagt, Sie sind sehr komisch gewesen, als Sie mit dem Dachs zurückkamen. Mr. King kann das ja falsch verstanden haben.«

»Natürlich hat er’s falsch verstanden, und er wird ganz gemütlich die ganze Blamage auf Sie schieben, wenn er merkt, er hat unrecht. Wir kennen King, wenn Sie ihn nicht kennen. Ich schäme mich in Ihrer Seele. Sie taugen nich‘ mehr dazu, Sergeant zu sein«, sagte M’Turk.

»Nich‘ bei drei durchgängerischen jungen Deiwels, wie Sie – da nich‘. Ich bin schön an der Nase geführt worden. Ich bin schön angeschmiert worden. Schockschwerebrett – ich bin ‚reingelegt worden, und jetzt, nach der Geschichte, soll mal erst einer die Füchse im Zaum halten. Na, und dann, der Direktor wird mich noch mit ’nem Brief zum Oberst Dabney schicken und fragen, ob das wahr is‘, was Sie da von eingeladen sagen.«

»Dann werden Sie diesmal besser tun, durchs Tor ‚reinzugehen, anstatt Jagd auf Ihre verdammten Bengels zu machen – oh, das war die Epistel an King – so war’s. Na, Foxy?« Latte stützte das Kinn in die Hände und betrachtete sein Opfer mit höchstem Entzücken.

»Ti–ra–la–la–i–tu!« sagte M’Turk. »Foxy hat uns Tee gebracht, trotzdem wir moralisch Aussätzige sind. Foxy hat Herz. Foxy hat auch in der Armee gedient.«

»Ich wünscht‘ bloß, ich hätt‘ sie in meiner Kompagnie gehabt, junge Herren«, sprach der Sergeant aus der Tiefe seines Herzens heraus, »ich hätt‘ sie schön gezwiebelt.«

» Silentium, schleuniges Kriegsgericht!« fuhr M’Turk fort. »Ich verteidige den Gefangenen; und außerdem, das ist eine viel zu gute Geschichte, um sie der andern Bande im Institut zu erzählen. Sie würden sie nie verstehen. Sie spielen Kricket und sagen ›Ja, Sir‹ und ›Nein, Sir‹ und ›Oh, Sir‹.«

»Laß‘ das doch! Mach‘ weiter!« sagte Latte.

»Schön, Foxy ist ein guter Kerl, wenn er sich nur nicht einfallen läßt, sich für schlau zu halten.«

»Geh‘ nicht auf die Jagd an einem stark windigen Tage«, fiel Latte ein. »Mir macht’s nichts, wenn ihr ihn laufen laßt.«

»Mir auch nicht«, erklärte Käfer. »Huftier allein ist meine Freude – Huftier und King.«

»Ich mußte es doch tun«, sprach der Sergeant kläglich.

»Ganz richtig! wenn dich die bösen Buben – oder – oder so ungefähr kann man sagen. Sie sind mit einem Tadel entlassen, Foxy. wir werden nichts davon erzählen. Ich schwöre, wir werden’s nicht«, schloß M’Turk. »Es würde sonst schlimm um die Schuldisziplin bestellt sein. Scheußlich schlimm!«

»Schön,« sagte der Sergeant und packte das Teegeschirr zusammen, »wie ich die jungen Dei… Herren vom Institut kenne, freut’s mich, das zu hören, was soll ich aber dem Herrn Direktor sagen?«

»Was Sie grad‘ mögen, Foxy. Wir sind die Verbrecher nicht.« –

Zu sagen, daß der Direktor verdrießlich war, als Foxy nach dem Essen erschien, um den Kriminalfall des Tages zu rapportieren, wäre milde ausgedrückt.

»Corkran, M’Turk und Kompanie, na ja! wie gewöhnlich unzertrennlich. Hallo! was, zum Teufel, heißt das? Verdächtig, zu trinken. Wessen Anzeige?«

»Mr. Kings, Sir. Ich faßte sie außerhalb der Grenzen ab; wenigstens sah die Sache so aus. Aber es steckt noch was dahinter, Sir.« – Der Sergeant war in sichtlicher Verwirrung.

»Nur weiter«, sagte der Direktor. »Sagen sie nur, was Sie denken.«

Er und der Sergeant kannten sich nun schon gegen sieben Jahre, und der Direktor wußte, daß Mr. Kings Behauptungen sehr von Mr. Kings Launen abhingen.

»Ich dachte, sie wären außerhalb der Grenzen an den Klippen. Aber nu‘ kommt’s ‚raus, daß es gar nich‘ so war. Ich sah sie in Oberst Dabneys Wald gehen, und Mr. King und Mr. Prout kamen auch da entlang, und – die Sache war, Sir, wir wurden von Oberst Dabneys Leuten als Wilddiebe festgenommen – Mr. King und Mr. Prout und ich. Es gab ’n paar Worte, Sir, auf beiden Seiten. Die jungen Herren flitzten irgendwie nach Hause und sie schienen sehr lustig, Sir. Mr. King wurde von Oberst Dabney selbst ‚rangekriegt, und Oberst Dabney ist ’n bißchen heftig. Und dann zogen sie’s vor, gleich zu Ihnen zu kommen, Sir, wegen – wegen, was Mr. King vielleicht in Mr. Prouts Zimmer über ihre Gewohnheiten gesagt hat. Ich hab‘ man bloß gesagt, sie wären sehr lustig und lachten und grinsten und wären ’n bißchen ausgelassen. Sie haben mir hernacher erzählt, Sir, ganz lustig, Oberst Dabney hätt‘ sie eingeladen gehabt, in seinen Wald zu kommen.«

»Aha! Natürlich haben sie das ihrem Hausmeister nicht gesagt.«

»Sowie Mr. King was von ihren – Gewohnheiten sagte, sagten sie, sie wollten sich an Sie wenden, Sir. Fingen gleich davon an, Sir, und fragten, ob sie ins Schlafzimmer gehen und auf Sie warten sollten. Ich hab‘ hernacher zu hören gekriegt, Sir, in ihrer lustigen Manier, daß sie irgendwie oder wodurch beinah‘ jedes Wort gehört haben, das Oberst Dabney zu Mr. King und Mr. Prout sagte, als er sie wie Wilddiebe vernahm. Ich hätt’s wissen können, wenn sie mit mir so umspringen, daß sie nichts Schlimmes ausgefressen hatten, ’s ist – ’s ist ’n offenbarer Streich, Sir, und sie sitzen jetzt im Schlafzimmer un‘ freuen sich drüber.«

Der Direktor durchschaute alles – bis zum kleinsten i-Tipfel, und sein Mund verzog sich etwas unter dem Schnurrbart.

»Schickt sie mir gleich her, Sergeant. Die Sache braucht nicht aufgeschoben zu werden.« »Guten Abend«, sagte er, als die drei unter Eskorte erschienen. »Ich brauche eure ungeteilte Aufmerksamkeit für ein paar Minuten. Ihr kennt mich jetzt fünf Jahre, und ich kenne euch – so gut wie fünfundzwanzig. Ich denke, wir verstehen einander vollkommen. Ich will euch jetzt eine ganz gehörige Aufmerksamkeit erweisen. (Bitte den Braunen, Sergeant. Danke. Sie brauchen nicht zu warten.) Ich werde euch jetzt ganz ohne Grund und Ursache bestrafen, Käfer. Ich weiß, ihr gingt auf Oberst Dabneys Gut, weil ihr eingeladen wart. Ich will nicht einmal den Sergeanten mit einem Brief hinschicken und fragen lassen, ob eure Behauptung wahr ist, denn ich bin überzeugt, daß ihr in diesem Fall streng bei der Wahrheit geblieben seid. Ich weiß auch, daß ihr nicht getrunken habt. (Du kannst diese tugendhafte Miene ablegen, M’Turk, oder ich fange an, zu fürchten, daß du mich nicht verstehst.) Es ist kein einziger Fleck auf eurem Charakter. Und deshalb begehe ich jetzt eine schreiende Ungerechtigkeit. Eure Ehre ist verletzt worden, nicht wahr? Ihr seid vor dem Hause blamiert worden, nicht wahr? Ihr achtet ganz besonders scharf auf das Ansehen eures Hauses, nicht wahr? Schön, jetzt werde ich euch eure Prügel verabfolgen.«

Sechs für jeden – das war hierauf ihre Portion.

»Und damit, denke ich« – der Direktor legte den Stock wieder zurück und warf die Anzeige in den Papierkorb – »ist die Sache erledigt. Wenn man auf etwas stößt, was vom Gewöhnlichen abweicht – die Lehre wird euch später im Leben einmal nützen – muß man ihm auch immer in ungewöhnlicher Weise entgegentreten. Da fällt mir noch was ein. Da liegt ein Stoß Bücher in jenem Fach. Ihr könnt sie euch borgen, wenn ihr sie wieder zurückbringt. Ich denke, sie werden keinen Schaden nehmen, wenn sie auch im Freien gelesen werden. Vielleicht riechen sie dann nach Tabak. Ihr geht heute abend wie gewöhnlich zur Arbeitsstunde. Gute Nacht!« sagte der wunderbare Mann.

»Gute Nacht, und danke schön, Sir!«

»Wahrhaftig, heut‘ abend will ich für den Direktor beten«, schwur Käfer. »Diese beiden letzten Hiebe waren gerade Klapse auf meinen Kragen. Unten im Fach liegt ein »Monte Christo«. Ich hab‘ ihn geseh’n. Famos, ’s nächste Mal gehn wir wieder nach Aves!«

»Famoser Mann!« sagte M’Turk. »Kein Arrest, keine Strafarbeiten. Keine verdammten Fragen. Alles in Ordnung. Hallo! Was hat King da bei ihm zu tun – King und Prout?«

Welcher Art nun dies Interview auch immer sein mochte, jedenfalls hatte es weder Kings noch Prouts zerrupftes Gefieder schöner gemacht, denn als sie aus dem Hause des Direktors herauskamen, bemerkten sechs Augen, daß der eine vor Aufregung rot und blau bis an die Nase war, und daß der andere verschwenderisch Schweiß vergoß. Dieser Anblick entschädigte sie vollkommen für das Strafgericht, das die beiden über sie hatten ergehen lassen. Es scheint – und wer war mehr darüber erstaunt als sie? – daß die beiden greifbare Tatsachen verschwiegen hatten. Die Jungen hatten sich suppressio veri und suggestio falsi zuschulden kommen lassen (wohlbekannte Götter, gegen die sie oft sündigten); sie waren ferner bösartig in ihren Neigungen, unzuverlässigen Charakters, verderblich und aufhetzend in ihrem Einfluß und verfallen den Teufeln des Eigensinns, Hochmuts und eines unerträglichen Selbstbewußtseins. Kurz und gut, sie mußten sich vorsehen und in acht nehmen.

Sie nehmen sich auch in acht, wie es nur Jungen können, die jemand was am Zeuge flicken wollen. Sie warteten eine ganz unerträgliche Woche lang, bis Prout und King wieder ihr königliches Selbst erlangt hatten, warteten, bis ein Kricketmatch ihres eigenen Hauses stattfand, an dem auch Prout teilnahm, warteten ferner, bis er sich im Zelt die Kissen vor die Knie geschnallt hatte und bereit stand, vorwärts zu gehn. King war am Fenster und schrieb auf, und die drei saßen draußen auf einer Bank.

Da meinte Latte zu Käfer: »Na, Käfer, quis custodiet ipsos custodes?«

»Was fragst mich?« entgegnete Käfer. »Ich will nichts privatim mit dir zu tun haben. Du kannst so privat sein wie du willst, auf der andern Seite von der Bank, und ich wünsch‘ dir ’nen schönen guten Abend.«

M’Turk gähnte.

»Ihr hättet wie Christenmenschen ans Tor kommen sollen, statt nach euren – hm – Bengels kreuz und quer durch meinen Grund zu jagen. Ich denk‘, diese Spiele sind einfach Quatsch. Wir wollen zu Oberst Dabney ‚rübergehn und seh’n, ob er wieder ’n paar Wilddiebe abgefaßt hat.«

An diesem Nachmittag herrschte Freude in Aves.

  1. Unübersetzbares Wortspiel. Turkey – Truthahn.

Aladdins Wunderlampe

Aladdins Wunderlampe

II.

Im Musikzimmer im obersten Stock von »Nummer fünf« hatte sich die Aladdin-Truppe zur Probe versammelt. Dickson Quartus, gewöhnlich Dick Vier genannt, war Aladdin, Bühneninspizient, Ballettmeister, das halbe Orchester und größtenteils auch der Librettist, denn das »Buch« war ungeschrieben und mit lokalen Anspielungen gespickt worden. Die Pantomime sollte nächste Woche gegeben werden, unten in dem Parterrezimmer, das Aladdin, Abanazar und der Kaiser von China inne hatten. Der Sklave der Lampe mit der Prinzessin Badrulbudar und der Vitum Twankey bewohnten das Zimmer am anderen Ende des halben Treppenflurs, so daß die Truppe sich leicht versammeln konnte. Der Fußboden erzitterte unter dem Stampfen und Trampeln des Balletts, während Aladdin, in rosa baumwollenen Trikots, einem blauen, mit Flittergold besetzten Jackett und einem Federhut, abwechselnd auf dem Klavier und seinem Banjo herumklimperte. Er war die Seele und der Leiter des Spiels, wie es sich für einen älteren Schüler gehörte, der bereits sein erstes Examen hinter sich hatte und im nächsten Frühjahr nach Landhurst zu kommen hoffte.

Aladdin kam schließlich zu seinem Eigentum, Abanazar lag vergiftet am Fußboden, die Vitum Twankey tanzte ihren Tanz und die Gesellschaft entschied, daß »am Abend alles prächtig gehen würde«.

»Und wie steht’s mit dem Schlußgesang?« fragte der Kaiser, ein lang aufgeschossener blonder Bursche mit dem geisterhaften Anflug eines Schnurrbärtchens, an dem er mannhaft zog. »Wir brauchen irgendein altes Lied, das ordentlich aufkratzt.«

»John Peel?« »Trink‘, Püppchen, trink‘?« schlug Abanazar vor und strich sich die zerknüllten lila Pyjamos wieder glatt. »Puß«-Abanazar sah nie mehr als halb wach aus, aber er hatte ein sanftes, bedachtsames Lächeln, das gut zu der Rolle des bösen Onkels paßte.

»Blech,« sagte Aladdin, »könnt’st ebensogut sagen: »Großvaters Uhr«. Was war das, was du gestern abend in der Arbeitsstube brummtest, Latte?«

Latte, der Sklave der Lampe, in schwarzen Trikots und Wams, eine schwarzseidene Halbmaske vor dem Gesicht, pfiff gemächlich, während er oben auf dem Piano liegen blieb. Es war ein leicht zu behaltender Gassenhauer.

Dick Vier hob kritisch den Kopf und schielte an seiner gewaltigen roten Nase vorbei.

»Noch mal, und ich kann’s«, sagte er und fing an zu klimpern. »Sing‘ die Worte.«

»Hurra, Patsy, sorg‘ fürs Baby! Hurra, auf den Bengel acht!
Wickel‘ ihn in ’nen Ueberrock; er wird wild, wenn er erwacht.
Hurra, Patsy, paß aufs Baby! Ja, jetzt gerade nimmst du ’s Kind,
Er wird strampeln, beißen, schreien die ganze Nacht.
Hurra, Patsy, auf den Bengel acht!«

»Famos, ganz famos!« erklärte Dick Vier. »Wir werden nur kein Klavier haben. Wir müssen es mit dem Banjo fertig bringen – – zu gleicher Zeit spielen und tanzen. Versuch’s, Tertius!«

Der Kaiser legte seine grasgrünen Staatsärmel beiseite und begleitete Dick Vier auf einem schwer vernickelten Banjo. »Ja, ich bin doch die ganze Zeit über tot. Und lieg‘ grad‘ noch mitten auf der Bühne«, meinte Abanazar.

»Oh, das muß Käfer besorgen, los, fang‘ an, Käfer. Du mußt! Laß uns nicht den ganzen Abend warten. Du mußt Pussy irgendwie aus dem Licht schaffen und uns dann zum Schluß alle zum Tanzen bringen.«

»Schön, spielt ihr beide ’s noch mal«, sagte Käfer, der die Vitum Twankey darstellte, in einem grauen Rock und einer Perücke von kastanienbraunen Hängelöckchen, die schief über einer mit alten Schuhsenkeln zusammengebundenen Brille saß. Er schlug mit einem Bein den Takt zu dem Refrain, und die Banjos wurden lauter.

»Bum! Ah! Eh! – Aladdin hat nun sein Weib errungen«, sang er, und Dick Vier wiederholte es.

»Euer Kaiser ist versöhnt!« Tertius stellte sich in Positur, als er seine Zeile hersagte.

»Jetzt spring‘ auf, Pussy, und sag‘: »Ich denk‘, es ist besser, wenn ich wieder auflebe.« Dann fassen wir uns alle an den Händen und kommen nach vorn: »Wir hoffen, daß es Ihnen gut gefallen hat. Verstandez-vous

» Nous avons verstanden. Sehr gut. Was wird zum Schlußballett gesungen? Es sind vier Hopser und dann Kehrt«, sagte Dick Vier.

»Oh!« »Der Vorhang fällt, die Glocke tönt,
Das Märchen ist nun aus.
Die besten Wünsche nehmt von uns,
Eh‘ ihr nun geht nach Haus!«

»Famos! Famos! Jetzt tanzt die Vitum mit der Prinzessin. Los, ‚ran, Turkey.«

M’Turk, in einem violetten Seidenrock und einem koketten blauen Turban, schlotterte langsam vorwärts, wie jemand, der sich durch und durch vor sich selbst schämt. Der Sklave der Lampe kletterte vom Klavier herunter und versetzte ihm ein paar leidenschaftslose Fußtritte. »Spiel‘ auf, Turkey,« sagte er, »dies ist recht.« Da aber klopfte der Finger der Autorität an die Tür. Zufällig war es King. In Talar und Mörtelbrett, der sich an einem Samstagabendspaziergang vor dem Essen erfreute.

»Geschlossene Türen! Geschlossene Türen!« stieß er mürrisch hervor. »Was soll das heißen, und was hat das, wenn ich fragen darf, für ’nen Zweck – dieser gemischte Aufzug?«

»Pantomime, Sir. Wir haben Erlaubnis vom Direktor«, antwortete Abanazar, als der einzige, der von der ersten Klasse dabei war. Dick Vier stand fest da, in dem Selbstvertrauen, das gutsitzenden Trikots entspringt, aber Käfer bemühte sich, sich hinter dem Klavier zu verbergen. Ein grauer Prinzeßrock, der von der Mutter eines Extraneers besorgt war, und eine gesprenkelte baumwollene Taille, die unsystematisch mit Papier von alten Strafarbeiten ausgefüllt war, verleihen einem etwas Lächerliches. Aber Käfer hatte auch in anderer Hinsicht ein schlechtes Gewissen.

»Wie gewöhnlich,« äußerte King mit Grinsen, »unnütze Allotria, gerade wenn eure Karriere, wie sie nun auch sein mag, in der Schwebe ist. Ich sehe. Ach, ich sehe! Die alte Verbrecherbande – – verbündete Mächte der Unordnung: Corkran« – der Sklave der Lampe lächelte höflich – »M’Turk« – der Irländer grinste – »und natürlich der stumme Käfer, unser Freund Gigadibs.«

Abanazar, der Kaiser und Aladdin hatten mehr oder weniger etwas vom Charakter ihrer Rollen, und King überging diese drei. »Komm nur hinter dem Instrument da hervor, mein Tintenbajazzo. Du hast doch sicher, glaub‘ ich, die Knüttelreime für diese Unterhaltung geschmiedet. Hältst dich wohl für ’n Dichter?«

»Er hat eins davon gefunden«, dachte Käfer, als er die Röte auf Kings Backenknochen wahrnahm.

»Ich habe eben das Vergnügen gehabt, einen Erguß von dir zu lesen, der an meine Adresse gerichtet war – einen Erguß, glaube ich, der gereimt sein sollte. So also denkt man über mich, Mr. Gigadibs, in der Tat? Ich bin ja sicher, du brauchst es nicht erst zu erklären, daß er augenscheinlich nicht bestimmt war, mir zu Gesicht zu kommen. Ich habe ihn mit Lachen gelesen – ja, mit Lachen. Diese Papiergeschosse von Tintenjungen – denn ein Junge sind wir doch noch, Mr. Gigadibs – stören meinen Gleichmut nicht.«

»Möcht‘ gern wissen, welches es wär’«, dachte Käfer. Er hatte viele Pasquille vor einem beifallsfreudigen Publikum vom Stapel gelassen, seitdem er die Entdeckung gemacht hatte, daß es möglich war, Satiren in Reime zu bringen.

Um seine unerschütterliche Seelenruhe zu beweisen, fuhr King gemächlich fort, Käfer herunterzureißen. Von seinen aufgegangenen Schuhbändern an bis zu seiner ausgebesserten Brille – ein Dichter auf einer großen Schule führt ein beschwerliches Leben – zog er ihn zum Spott seiner Genossen auf – mit dem gewöhnlichen Resultat. Seine Brennessel-Sticheleien – King hatte eine unangenehme Zunge – brachten ihn schließlich wieder zu guter Laune. Er entwarf ein düsteres Gemälde von Käfers Ende, der als gewöhnlicher Pamphletist in einer Mansarde sterben würde, streute noch ein paar Komplimente über M’Turk und Corkran aus, erinnerte Käfer daran, daß er nach oben gerufen werden würde, um seine Strafe entgegenzunehmen, und begab sich ins Eßzimmer, wo er von neuem über sein Opfer triumphierte.

»Und das Schlimmste ist,« erklärte er mit lauter Stimme bei seiner Suppe, »daß ich solche Perlen von Sarkasmen auf ihre dicken Schädel verschwende. Sie gehen sicher meilenweit über ihren Horizont.«

»Na,« begann der Schulgeistliche langsam, »ich weiß nicht, wie Corkran Ihren Stil schätzt, aber der junge M’Turk liest Ruskin zu seiner Unterhaltung.«

»Unsinn, er tut’s, um sich zu zeigen. Ich traue dem verschlossenen Kelten nicht.«

»So was macht er nicht – ich kam gestern abend ganz unoffiziell in ihr Zimmer, und da leimt M’Turk gerade den Rücken von vier Nummern von »Fors Clavigera« zusammen.«

»Ich weiß nichts über ihre privaten Beschäftigungen,« sagte der Mathematiklehrer hitzig, »aber ich habe durch schlimme Erfahrungen gelernt, daß man Zimmer »Nummer fünf« am besten ungeschoren läßt. Es sind ganz und gar gottlose, junge Teufel.« Er wurde rot, als die andern lachten. – –

Im Musikzimmer aber herrschten Wut und Geschimpfe. Nur Latte, der Sklave der Lampe, lag unbeweglich auf dem Piano.

»Das kleine Schwein Manders II muß ihm deinen Quatsch gezeigt haben. Er schustert sich immer bei King an. Geh und schlag‘ ihn tot«, brachte er langsam heraus. »Welches war es denn, Käfer?«

»Keine Ahnung«, antwortete Käfer und arbeitete sich aus dem Rock heraus. »Eins war darunter, wie er nach Beliebtheit bei den kleinen Jungen jagt, und das andere war, wie er in der Hölle ist und dem Teufel erzählt, er wäre von Balliol. Ich möchte schwören, daß beide ganz richtig gereimt waren. Wahrhaftig! Vielleicht hat Manders II ihm beide gezeigt. Ich will ihm die Zäsuren verbessern.«

Er verschwand zwei Treppen tiefer, störte einen kleinen, rotbackigen Jungen in einem Zimmer auf, das neben Kings Arbeitszimmer lag, das sich wieder unmittelbar unter dem seinen befand, und jagte ihn den Korridor hinauf in ein Zimmer, das den Versammlungen der Unterquarta reserviert war. Dann kam er zurück, höchst in Unordnung, um M’Turk, Latte und die übrigen von der Truppe in ihrem Arbeitszimmer zu finden, wie sie sich an einem kolossalen Schmause delektierten – Kaffee, Kakao, Fladen, frisches Brot, noch heiß und dampfend, Anchovis, drei verschiedene Kompotts und mindestens ebensoviel Pfund Devonshire-Sahne.

»Donnerwetter«, sagte er und stürzte sich auf das Bankett. »Wer hat dafür berappt, Latte?«

»Du«, antwortete Latte ernsthaft.

»Der Deiwel hol‘ euch! Ihr habt doch nicht etwa meine Sonntagsbuxen versetzt?«

»Reiß dir man kein Bein aus! ’s ist bloß deine Uhr.«

»Uhr? Hab‘ sie verloren – schon vor Wochen, draußen auf den Hügeln, als wir den alten Hammel schießen wollten – den Tag, wo unsere Pistole platzte.«

»Sie fiel dir aus der Tasche – du bist so verflucht unvorsichtig, Käfer – und M’Turk und ich hoben sie für dich auf. Ich hab‘ sie ’ne Woche lang getragen, und du hast’s nie gemerkt, Hab‘ sie heut‘ nach dem Essen nach Bideforo gebracht, dreizehn Schilling und sieben Pence bekommen. Hier ist der Schein.«

»Na, das ist doch ein bißchen frech«, meinte Abanazar hinter einem Teller voll Sahne und Kompott, während Käfer, beruhigt über die Sicherheit seiner Sonntagshosen, nicht einmal Ueberraschung, viel weniger noch Verdruß zeigte. Dafür war es M’Turk, der ärgerlich wurde und sagte: »Du hast ihm ’nen Schein gegeben, Latte? Du hast sie versetzt? Du gräßliches Biest! Vor’gen Monat habt ihr meine verkauft, du und Käfer. Hab‘ nie ’nen Schnippsel von ’nem Schein zu sehen gekriegt.«

»Ach, das ist, weil du deine Kommode verschlossen hast und wir den halben Nachmittag vertrödelten, um sie aufzukriegen. Wir hätten sie schon versetzt, wenn du dich nur wie ’n Christ aufge…führt hättest, Turkey.«

»Heilige Tante!« sagte Abanazar, »ihr Burschen seid Sozialdemokraten. Aber trotzdem – ein Dankvotum für Käfer!«

»Das ist verflucht unpassend,« erklärte Latte, »wenn ich all die Mühe gehabt hab‘, sie zu versetzen. Käfer hat gar nicht gewußt, daß, er ’ne Uhr hatte. Ach, wißt ihr, Karnickelei hat mich heut‘ nachmittag nach Bideford mitfahren lassen.«

Karnickelei war der Ortsfuhrmann – ein Ueberbleibsel aus der devonischen Formation. Latte hatte diesen wenig lieblichen Namen erfunden. »Er war ganz hübsch betrunken, sonst hätt‘ er’s auch nicht getan. Karnickelei ist ’n bißchen mißtrauisch gegen mich – manchmal. Aber ich schwor, es wäre pax zwischen uns, und gab ihm ’nen Schilling. Bei zwei Kneipen hielt er an, und heut‘ abend wird er mächtig besoffen sein. Oh, fang‘ nicht an zu lesen, Käfer, jetzt fängt der Kriegsrat an. Was, zum Deiwel, ist mit deinem Kragen los?«

»Hab‘ Manders II in das Schrankzimmer der Unterquarta ‚reingejagt, alle seine verdammten kleinen Freunde kamen mir auf den Kopf«, sagte Käfer hinter einem Glas mit Sardinen und einem Buch hervor.

»Du Esel! Jeder Schafskopf hätte dir sagen können, wo Manders sich verkriechen würde«, sagte M’Turk.

»Hab‘ nicht daran gedacht«, erwiderte Käfer mild und fischte mit einem Löffel Sardinen heraus. »Natürlich nicht, denkst ja nie.« M’Turk zog Käfers Kragen mit einem heftigen Ruck zurecht. »Schütt‘ ja kein Oel auf meine »Fors« oder ich würge dich.«

»Hör‘ auf, du – du irischer Besen! Es ist ja nicht deine verfluchte »Fors«, es ist eine von meinen.«

Das Buch war ein fettiger, braun eingebundener Band aus dem Ende der sechziger Jahre. King hatte ihn Käfer einmal an den Kopf geworfen, damit Käfer nachsehen könnte, woher der Name Gigadibs käme. Käfer hatte das Buch ganz ruhig annektiert und verschiedene Dinge darin gefunden. Die zum vierten Teil verstandenen Verse lebten und aßen mit ihm, wie die Schmutzflecken auf den beiden Zeiten bewiesen. Er zog sich ganz von dieser Welt zurück und schweifte weit umher mit wunderlichen Männern und Frauen, bis M’Turk seinen Kopf mit dem Sardinenlöffel bearbeitete und er zu brummen begann.

»Käfer, du bist angegriffen und beleidigt und angeschnauzt worden von King. Fühlst du das nicht?«

»Laß mich in Ruh‘, wenn ich’s bin, kann ich ja noch mehr Gedichte über ihn schreiben, denk‘ ich.«

»Verrückt, ganz verrückt«, sagte Latte zu den Besuchern, wie jemand, der fremde Tiere vorführt. »Käfer liest einen Esel, der Browning heißt, und M’Turk liest einen Esel, der Ruskin heißt, und – –«

»Ruskin ist kein Esel«, unterbrach ihn M’Turk. »Er ist beinah‘ so gut wie der Opiumesser. Er sagt: wir sind Kinder edler Rassen, erzogen durch Kunst, die uns umgibt. – Das geht auf mich und die Art und Weise, wie ich das Arbeitszimmer dekorierte, als ihr bei dem Dachse Bücherbretter und Weihnachtskarten anmachen wolltet. Kind einer edlen Rasse, erzogen durch Kunst, die dich umgibt, hör‘ auf mit Lesen, oder ich will dir ’ne Sardine den Rücken runterschieben.«

»Es sind zwei gegen einen«, sagte Latte warnend, und Käfer schloß das Buch und gehorchte dem Gesetz, nach dem er und seine Kameraden sechs reichbewegte Jahre gelebt hatten.

Die Besucher paßten voll Vergnügen auf. Zimmer »Nummer fünf« stand in dem Ruf, mehr ausgesuchte Verrücktheiten zustande zu bringen als die ganze übrige Schule zusammen, und soweit seine Lebensregeln Freundschaft mit anderen zuließen, war es höflich und offenherzig zu seinen Nachbarn auf demselben Korridor.

»Was für’n Dreck wollt ihr denn?« fragte Käfer.

»King, King«, entgegnete M’Turk und deutete mit dem Kopf gegen die Wand, wo eine kleine, hölzerne, afrikanische Kriegstrommel hing, die M’Turk von einem seefahrenden Onkel als Geschenk erhalten hatte.

»Dann werden wir wieder aus dem Arbeitszimmer ‚rausgeschmissen werden«, sagte Käfer, der seine Fleischtöpfe liebte. »Mason hat uns auch ‚rausgeschmissen, weil wir darauf getrommelt haben.« Mason war der Mathematiker, der im Speisezimmer Zeugnis abgelegt hatte.

»Trommeln? – O Gott!« sagte Abanazar. »Wir konnten in unserm Arbeitszimmer unser eigenes Wort nicht hören, als ihr das verdammte Ding rührtet. Was habt ihr denn davon, wenn ihr aus eurem Arbeitszimmer ‚rausgesetzt werdet?«

»Wir mußten eine Woche lang im Arbeitssaal sitzen«, sagte Käfer tragisch. »Und es war verflucht kalt.«

»Ja–a, aber Masons Zimmer waren jeden Tag voll von Ratten, solange wir ausquartiert waren. Er brauchte eine Woche, um diesen Schluß zu ziehen«, sagte M’Turk. »Er kann Ratten nicht ausstehen. Im Augenblick, wo er uns wieder zurückkommen ließ, verschwanden die Ratten. Mason ist jetzt ’n bißchen mißtrauisch auf uns, aber er hatte keinen Beweis.«

»Sehr gut, daß er keinen hatte,« meinte Latte, »wenn ich auf den Boden ‚raufging und das verdammte Viehzeug in seinen Schornstein herunterjagte. Aber seht mal – die Frage ist, ob man von unserm Charakter so viel hält, daß wir ’nen Spektakel riskieren können?«

»Meinem schadet’s nichts«, sagte Käfer. »King schwört, ich habe gar keinen.«

»Ich denke nicht an dich«, erwiderte Latte verächtlich. »Du willst nicht in die Armee eintreten, du alte Fledermaus. Ich will nicht geschaßt werden – und der Direktor wird jetzt ziemlich mißtrauisch gegen uns.«

»Blech!« sagte M’Turk, »der Direktor schaßt nicht – nur wegen Roheit oder Stehlen. Aber ich vergaß: – du und Latte seid Diebe – richtige Einbrecher.«

Die Besucher waren starr vor Staunen, aber Latte erklärte die Parabel mit breitem Grinsen.

»Ja, wißt ihr, das kleine Biest Manders II sah Käfer und mich, wie wir im Schlafzimmer M’Turks Kommode aufhämmerten, als wir vorigen Monat seine Uhr nahmen. Natürlich petzte Manders das Mason, und Mason faßte es feierlich als einen Fall von Diebstahl auf, um uns die Ratten anzustreichen.«

»Dadurch bekommen wir Mason aber gerade in die Hände«, fiel M’Turk sanft ein. »Wir waren nett zu ihm, weil er ein neuer Lehrer war und bei den Jungens sich Vertrauen verschaffen wollte. Schade, daß er trotzdem Schlüsse zieht. Latte ging in sein Arbeitszimmer und tat so, als ob er heulte, und erzählte Mason, er wolle ein neues Leben anfangen, wenn Mason ihn diesmal laufen lassen würde, aber Mason wollte nicht. Er sagte, es wäre seine Pflicht, ihn beim Direktor anzuzeigen.«

»Rachsüchtiges Schwein!« erklärte Käfer. »Alles wegen der Ratten! Dann heulte ich auch, und Latte gestand, daß er schon sechs Jahre lang ein regelrechter Dieb gewesen wäre, schon seit er auf die Schule kam, und daß ich es ihm beigebracht hätte, à la Fagin. Mason wurde weiß vor Freude. Er dachte, jetzt hätte er uns im Sack.«

»Großartig! Oh, famos!« sagte Dick Vier, »wir haben niemals was davon gehört.«

»Natürlich nicht! Mason hat’s hübsch für sich behalten. Er schrieb unsere Geständnisse auf Strafarbeitspapier. Nichts war dabei, was er nicht geglaubt hätte«, sagte Latte.

»Und die ganze Geschichte übergab er dem Direktor mit ’nem improvisierten Gebet. Es waren beinah‘ vierzig Seiten«, erzählte Käfer. »Ich half ein bißchen.«

»Und dann, ihr verdrehten Idioten?« fragte Abanazar.

»Oh, wir wurden gerufen, und Latte verlangte, daß die Aussagen ganz vorgelesen werden sollten, und der Direktor gab ihm einen Stoß, daß er in ’nen Papierkorb ‚reinflog. Dann gab er jedem von uns acht Hiebe – die ordentlich zogen – weil – weil – wir uns unerhörte Frechheiten einem neuen Lehrer gegenüber herausgenommen hätten. Ich sah, wie er die Schultern schüttelte, als wir herausgingen, wißt ihr,« sagte Käfer gedankenvoll, »daß Mason uns jetzt in der zweiten Stunde nicht mehr ansehen kann, ohne rot zu werden? Manchmal glotzen wir drei ihn so lange an, bis er beinah‘ auseinanderfließt. Er ist ’ne schrecklich sensitive Kreatur.«

»Er liest »Eric« oder »Nach und Nach«, sagte M’Turk, »deshalb gaben wir ihm »St. Winifreds oder die Schulwelt«. In St. Winifreds verbrachten sie ihre ganze freie Zeit mit Stehlen, wenn sie nicht beteten oder sich in Kneipen besoffen. Na, das war erst vor ’ner Woche, und der Direktor ist ’n bißchen mißtrauisch gegen uns. Er nannte es ausgedachte Teufelei. Latte hat alles erfunden.«

»’s lohnt gar nicht, mit ’nem Lehrer Spektakel zu haben, wenn man ihn nicht blamieren kann«, sagte Latte, höchst bequem auf dem Kaminvorleger ausgestreckt. »Wenn Mason »Nummer fünf« noch nicht kannte – na, jetzt hat er sie kennen gelernt; das ist die ganze Geschichte. Nun, meine teuren, geliebten Hörer« – Latte schlug die Knie untereinander und redete die Gesellschaft an – »haben wir diesen starken, eifrigen Mann King in unsere Hände bekommen. Er ist meilenweit zu weit gegangen, um Streit vom Zaun zu brechen.« (Hier ließ Latte den schwarzseidenen Domino fallen und nahm die Miene eines Richters an.) »Er hat Käfer, M’Turk und mich angegriffen, privatim et seriatim, einen nach dem andern, wie er uns kriegen konnte. Aber jetzt hat er »Nummer fünf« oben im Musikzimmer beleidigt, und in Gegenwart dieser braven Leute.«

»Und außerdem,« bemerkte M’Turk, »ist er ein Philister; er hängt Körbe an. Er trägt eine karierte Krawatte; Ruskin sagt, daß jeder, der eine karierte Krawatte trägt, ohne Zweifel in alle Ewigkeit verdammt ist.«

»Bravo, M’Turk,« schrie Tertius, »ich dachte, er wär‘ bloß ’n Biest.«

»Das ist er auch natürlich, aber er ist noch schlimmer. Er hat einen Porzellankorb mit blauen Bändern und ’ner rosa Katze drauf in seinem Fenster aufgehängt und zieht ’ne Moschuspflanze darin. Und wißt ihr noch, wie ich all die alte Eichenschnitzerei aus der Kirche in Bideford mitnahm, als sie sie restaurierten (Ruskin sagt, daß jeder, der ’ne Kirche restaurieren will, ein gemeiner Kerl ist), und hier anleimte? Na, da kam King und wollte wissen, ob wir’s mit ’ner Laubsäge gemacht hätten!«

Und M’Turks tintiger Daumen deutete zur Erde, vor einer eingebildeten Arena voll blutender Kings. » Placetne, Kind einer edlen Rasse!« schrie er Käfer an.

»Schön,« begann Käfer unschlüssig, »er kommt von Balliol, aber ich will ihm manchmal ’ne Gelegenheit geben. Ihr seht, ich kann ihn immer in Wut bringen durch irgendein neues Poetisches. Er kann mich nicht beim Direktor anzeigen, weil’s ihn lächerlich macht. (Latte hat ganz recht.) Aber ich will ihm nochmal Gelegenheit geben.«

Käfer schlug das Buch vor dem Tisch auf, fuhr mit dem Finger eine Seite herunter und begann aufs Geratewohl:

»Und der mit tiefstem Fußfall dann
In Moskau zu dem Zaren kam,
Und wo im Kreml der Eßtisch weiß
vom Syenit und Marmor glänzt,
Mit fünf der Generäle schritt – –«

»Das taugt nichts, versuch‘ was anderes«, sagte Latte.

»Wart‘ ’n bißchen, ich weiß, was jetzt kommt.« M’Turk las über Käfers Schulter hinweg:

»Die Tabak schnupften allzugleich,
Daß jeder so den Vorwand fänd‘,
Als Tuch zu zieh’n den Seidengurt,
Der weich, weich zwar, aber fester hält
Als Ketten selbst, und keine Flucht
Den starken weißen Nacken läßt.«

»Versteh‘ kein Wort davon«, erklärte Latte.

»Dämlack du! Denk‘ doch nach«, sagte M’Turk. »Diese sechs Kerle erwürgten den Zar, und ’s war nicht zu beweisen. Actum est mit King.«

»Und er hat mir das Buch gegeben«, sagte Käfer.

»Er kommt jetzt gerade vom Essen«, sagte Dick Vier, der durch das Fenster sah. »Manders II ist bei ihm.«

»Jetzt gerad‘ der sicherste Platz für Manders II«, erklärte Käfer.

»Dann könnt ihr Jungens jetzt lieber verduften«, sagte Latte höflich zu den Besuchern. »’s ist nicht anständig, sich in Spektakel auf ’ner fremden Stube zu mischen. Außerdem – wir dürfen auch keine Zeugen haben.«

»Wollt ihr denn schon anfangen?« sagte Aladdin.

»Sofort, wenn nicht früher«, erwiderte Latte und drehte das Gas aus. »Starker, eifriger Mann – King. Schert euch!«

Die Gesellschaft zog sich voll Erwartung in ihr eigenes aufgeräumtes und geräumiges Arbeitszimmer zurück.

»Wenn Latte die Nüstern aufbläst wie ein Pferd,« sagte Aladdin zum Kaiser von China, »ist er auf dem Kriegspfad. Möcht‘ wissen, was King abkriegt.«

»Massig,« meinte der Kaiser, »Nummer fünf« zahlt immer gehörig aus.«

»Weiß nicht, ob ich nicht offiziell Kenntnis davon nehmen müßte«, sagte Abanazar, der sich jetzt eben daran erinnerte, daß er »Aufseher« war.

»Ist nicht deine Sache, Pussy, außerdem, wenn du’s tätest, würden wir sie zu Feinden haben, und dann könnten wir überhaupt nichts mehr vornehmen, sie haben schon losgelegt.«

Die westafrikanische Kriegstrommel war eigentlich nur dazu gemacht, Signale über Buchten und Flußmündungen zu geben. Es war »Nummer fünf« verboten, die Maschine innerhalb der Hörweite von der Schule zum Erwachen zu bringen. Aber jetzt erfüllte ein tiefer, Mark und Bein durchdringender Ton die Korridore, als M’Turk und Käfer voll Verständnis die Oberseite der Trommel rieben. Dann verwandelte er sich in das Blasen von Trompeten. – Wilder, verfolgender Trompeten. Darauf, als M’Turk die eine Seite bearbeitete, die vom Blut ehemaliger Opfer poliert war, ging das Brüllen in abgerissenes, hustendes Heulen über, wie es der Gorilla in seinen heimatlichen Wäldern ausstößt. Dann kam Kings Wutausbruch – drei Treppenstufen auf einmal hinunter, mit dem trockenen Rauschen des langen Rocks. Aladdin und Genossen horchten und quietschten vor Aufregung, als die Tür schmetternd aufgerissen wurde. King stolperte in die Dunkelheit hinein und verfluchte die Tonkünstler bei den Göttern Balliols und friedlicher Ruhe.

»Für eine Woche ‚rausgesetzt«, sagte Aladdin, der die Tür spaltenbreit offenhielt. »Schlüssel soll in fünf Minuten in sein Arbeitszimmer ‚runtergebracht werden. Rowdies – Barbaren – Wilde! Kinder! Er ist ganz nett wütend. Hurra, Patsy, sorg‘ fürs Baby!« sang er mit Flüstertönen, während er sich an den Türdrücker klammerte und einen geräuschlosen Kriegstanz vollführte.

King ging die Treppe wieder hinunter, und Käfer und M’Turk steckten das Gas an, um mit Latte zu beraten. Aber Latte war verschwunden.

»Sieht verdammt schlimm aus«, meinte Käfer und suchte seine Bücher und sein Reißzeug zusammen. »Eine Woche im Arbeitssaal – davon haben wir nichts Besonderes.«

»Ja, aber siehst du denn nicht, daß Latte nicht hier ist, du Eule?« sagte M’Turk. »Bring den Schlüssel ‚runter, mach ’n trauriges Gesicht. King wird dich bloß ’ne halbe Stunde ausschimpfen. Ich geh nach unten in den Arbeitssaal und will schmökern.«

»Wart‘ doch, bis wir sehen«, sagte M’Turk hoffnungsvoll. »Ich weiß nicht mehr als du, was Latte will, aber es ist irgend was. Geh ‚runter und schüre Kings Feuer. Du verstehst das.«

Kaum hatte sich der Schlüssel im Türschloß gedreht, als der Deckel der Kohlenkiste, die gleichzeitig auch Fensterbank war, vorsichtig in die Höhe geschoben wurde. Sie war ein recht enges Versteck gewesen, selbst für den gelenkigen Latte, der den Kopf zwischen die Knie gesteckt hatte, den Bauch unter dem rechten Ohr. Aus einer Tischschublade holte er ein gebrauchtes Katapult, eine Handvoll Rehposten und einen zweiten Stubenschlüssel. Geräuschlos öffnete er dann das Fenster und kniete dabei nieder, die Augen auf den Weg gerichtet, auf die vor dem Abendwind sich beugenden Bäume, die dunklen Linien der Hügel und weiße Kuppe der Brandung, die hoch gegen den Kiesstreifen des Strandes heranbrauste. Tief unten in dem Hohlweg hörte er das Horn des Fuhrmanns heiser tuten. Es lag die Andeutung einer Melodie darin, so etwa, wie wenn der Wind auf einer Ginflasche singen wollte: »Das ist so Brauch in der Armee.«

Latte lächelte mit zusammengekniffenen Lippen und gab in äußerster Schußweite Feuer. Der alte Gaul ruckte in den Deichseln zusammen.

»Na, wo willst du denn hin«, rülpste Karnickelei. Ein zweiter Rehposten durchschlug mit einem unangenehmen »Zipp« den vermoderten Wagenplan.

»Habet«, murmelte Latte. Karnickelei aber fluchte in die stille Nacht hinaus und beteuerte, er sehe den »verfluchten Schulbouske«, der ihn angriff.

*

»So also«, sprach King mit erhobener Stimme zu Käfer, an dem er vor Manders II seinen Witz ausgelassen hatte, wohl wissend, daß es die Gefühle eines Sekundaners verletzt, zum Gelächter eines kleinen Fuchses aufgezogen zu werden. – »So also, Master Käfer, sind wir trotz all unserer Verse, auf die wir so stolz sind, wenn wir uns herausnehmen, in direktem Konflikt mit einer Autoritätsperson zu kommen, selbst mit einer niedrigen, wie zum Beispiel ich, so also sind wir aus unserm Arbeitszimmer herausgeworfen, nicht wahr?«

»Ja, Sir«, antwortete Käfer, mit einem Schafsgrinsen auf den Lippen und dem Grimm des Wolfs im Herzen. Die Hoffnung hatte ihn beinahe verlassen, aber er klammerte sich noch an das wohlbegründete Vertrauen darauf, daß Latte niemals so gefährlich war, als wenn er unsichtbar war.

»Du brauchst nicht zu kritisieren, danke. Aus unserm Arbeitszimmer ausquartiert sind wir, gerade, als ob wir nichts Besseres wären als der kleine Manders II. Nichts als tintige Schuljungen sind wir und müssen als solche behandelt werden.«

Käfer spitzte die Ohren, denn Karnickelei fluchte wütend auf dem Wege, und etwas von seinem Erguß schallte durch das Oberfenster herein. King war ein Anhänger von Ventilation. Er schritt ans Fenster, majestätisch im langen Talar, deutlich sichtbar im Gaslicht.

»Ich seh‘ einen! Ich seh‘ einen«, brüllte Karnickelei, der jetzt einen sichtbaren Feind entdeckt hatte, während ein anderer oben aus der Dunkelheit feuerte. »Ja, du, du langnäsiger, dreckbärtiger Kerl mit vier Augen. Du bist zu alt für solche Geschichten, Ach! Kühl‘ dir deine Nase, sag‘ ich dir! Kühl‘ dir deine lange Nase.«

Käfers Herz hüpfte ihm im Leibe. Irgendwo, irgendwie, das wußte er, stak Latte hinter diesen Erscheinungen. Hoffnung war da und die Aussicht auf Rache. Er nahm sich vor, die Anregung in Betreff der Nase in unsterbliche Verse zu kleiden. King riß das Fenster auf und verwies Karnickelei höchst energisch. Aber der Fuhrmann kannte weder Furcht noch Scheu. Er war von seinem Wagen herabgestiegen und bückte sich am Wegrande nieder.

Es ging alles schnell wie ein Traum. Manders II hob mit einem Schrei die Hand an den Kopf, als ein zackiger Kieselstein gegen ein paar schöne Franzbände im Bücherregal prallte. Ein weiterer folgte über den Schreibtisch. Käfer suchte ihn mit geheucheltem Eifer aufzuhalten und riß bei diesem Bestreben die Arbeitslampe um, die ihr Oel, via Kings Papiere und einige Prachtbände, alles einfettend, auf einen persischen Teppich ergoß. Auf der Fensterbank gab es viele Glassplitter; der Porzellankorb – M’Turks Aversion – war in Splitter gekracht, die Moschuspflanze war heruntergefallen und die Erde über die roten Ripskissen gestreut. Manders II blutete in Strömen von einem Wurf, der ihn gegen den Backenknochen getroffen hatte, und King, unerhörte Worte gebrauchend, deren jedes Käfer im Herzen bewahrte, rannte hinaus, um den Sergeanten zu holen, damit Karnickelei auf der Stelle eingesperrt würde.

»Armer Bengel!« sagte Käfer mit tückisch geheuchelter Sympathie. »Laß‘ es ein bißchen bluten, das verhütet Schlaganfall.« Und er hielt ihm den blutenden Kopf über den Tisch und die Papiere darauf, als er den heulenden Manders nach der Tür führte.

Als er sich dann inmitten der Ruinen allein befand, vergalt Käfer Böses mit Gutem. Wie es kam, daß hier im Zimmer sämtliche Bände auf dem Rücken wie durch einen Kieselstein zerschrammt waren, daß so viel schwarze und Kopiertinte sich auf dem Tuch des Schreibtisches zufällig mit Manders Blut vermischt hatte, daß die große, nicht zugekorkte Leimflasche im Halbkreis über den Fußboden gerollt war, und wie es geschehen konnte, daß der Türdrücker aus weißem Porzellan ebenfalls mit Manders jungem Blut bemalt war, das waren Dinge, die Käfer nicht erklärte, als der wütende King zurückkehrte, um ihn in höflicher Haltung vor dem rauchenden Kaminteppich zu finden.

»Sie hatten es mir noch nicht gesagt, daß ich gehen sollte, Sir«, sagte er mit der Miene eines Casabianca, und King wies ihn in die Dunkelheit hinaus.

Käfer lief schleunigst auf einen Stiefelschrank unter der Treppe zu, um den Freudenparoxismus auszutoben, der ihn fast umbrachte. Er hatte noch nicht Atem geschöpft zu einem ersten Triumphgebrüll, als zwei Hände ihm den Mund stopften.

»Geh ins Schlafzimmer und hol‘ mir meine Sachen. Bring‘ sie ins Badezimmer von »Nummer fünf«. Ich bin noch in Trikots«, raunte Latte, der oben über seinem Kopf saß. »Lauf‘ nicht, geh langsam.«

Aber Käfer schwenkte durch die nächste Tür in den Arbeitssaal und übergab dem ahnungslosen M’Turk seinen Auftrag mit einem krampfhaft hervorgestoßenen Umriß des bisherigen Feldzuges. So brachte also M’Turk mit hölzernem Antlitz die Kleidungsstücke vom Schlafzimmer, während Käfer auf einer Bank nach Atem rang. Dann begruben sich die drei im Badezimmer »Nummer fünf«, drehten alle Hähne auf, füllten den Raum mit Dampf und planschten triefend in der Wanne, wo sie die Einzelheiten des Krieges erörterten.

»Moi! Ich! Je! Ego!« keuchte Latte.

»Ich wartete, bis ich kaum noch ’nen Gedanken hatte, während ihr die Trommel schlugt, versteckte ich mich im Kohlenkasten und zwickte Karnickelei – und Karnickelei schmiß King mit Steinen. War’s nicht wundervoll? Habt ihr das Glas gehört?«

»Na ob – er – er –« kreischte M’Turk und deutete mit zitternden Fingern auf Käfer. »Na ob, ich war mitten drin in allem,« brüllte Käfer, »in seinem Zimmer, als er mich ausschimpfte.«

»Himmel«, sagte Latte mit einem Juchzer und verschwand unterm Wasser.

»Das – das Glas war noch nichts. Manders II hat ’n Loch in’n Kopf gekriegt. Die Lampe über’n Teppich ausgegossen, Blut auf Büchern und Papieren. Der Leim! Der Leim! Der Leim! Die Tinte! Die Tinte! Die Tinte! O Gott!«

Da sprang Latte heraus, über und über gerötet wie er war, und schüttelte Käfer, um ihm eine etwas zusammenhängendere Darstellung beizubringen; aber seine Erzählung warf sie von neuem nieder.

»Ich macht‘, daß ich nach dem Stiefelspind kam, sowie ich King die Treppe herunterkommen hörte. Käfer kam gleich nach mir an. Der andere Schlüssel ist hinter dem losen Brett versteckt. Es ist auch kein Schatten von Beweis da«, sagte Latte. Sie brüllten alle zusammen los.

»Und er hat uns selbst ‚rausgesetzt! Er selbst!« Das war M’Turk. »Er kann ja gar nicht einmal daran gedacht haben, uns in Verdacht zu haben. Oh, Latte, dies war das Herrlichste, was wir je gemacht haben.«

»Leim! Leim! Leim! Massenweise Leim!« jauchzte Käfer, und seine Brillengläser schimmerten durch ein Meer von Seifenschaum. »Tinte und Blut ganz vermischt. Ich hielt dem kleinen Biest seinen Kopf über die lateinische Ausarbeitung für Montag. O Gott! Wie das Oel stank! Und Karnickelei sagte zu King, er soll sich die Nase kühlen. Hast du Karnickelei getroffen, Latte?«

»Na, aber ganz famos! Ganz gehörig hab‘ ich ihn gezwickt. Habt ihr gehört, wie er fluchte? Oh, ich lach‘ mich halb tot in ’ner Minute, wenn ich nicht gleich aufhöre.«

Das Anziehen war eine schwierige Prozedur, und M’Turk fühlte sich verpflichtet, zu tanzen, als er hörte, daß der Blumentopf zerbrochen sei, und dann wiederholte Käfer auch Kings ganzen Erguß, mit Verbesserungen und kräftigen Zusätzen.

»Einfach frech,« sagte Latte, »so verflucht unverschämt zu sein … gegen unschuldige Jungens wie wir. Möcht‘ wissen, was sie in »St. Winifreds« oder »Die Schulwelt« sagen würden. Wahrhaftig! Da fällt mir ein, wir müssen der Unterquarta noch was geben, weil sie Käfer angefallen haben, als er Manders II vertackelte. Los! Das gibt auch ein Alibi, Samiel, und dann, wenn wir sie laufen lassen, sind sie nächstes Mal noch frecher.«

Die Unterquarta hatte vor ihrem Arbeitszimmer eine Wache aufgestellt gehabt – eine Stunde lang, und das bedeutet für einen Jungen auf Lebenszeit. Jetzt waren sie bei ihren gewöhnlichen Sonnabend-Beschäftigungen – brieten Spatzen an rostigen Federn über der Gasflamme, brauten heillose Getränke in Salbentöpfen, balgten Maulwürfe mit Taschenmessern ab, hüteten Pappkartons mit Seidenraupen und diskutierten die Sünden der älteren Schüler mit einer Freiheit, Lebhaftigkeit und Genauigkeit, die ihre Eltern entzückt hätte. Der Schlag fiel aus heiterem Himmel nieder. Latte brachte eine Bank, ganz besetzt von kleinen Bengeln, mit ihren Kochutensilien zum Kentern, M’Turk stürzte sich auf die offenstehenden Schubladen, wie ein Terrier in ein Kaminloch eindringt, während Käfer auf alle die Köpfe Tinte ausleerte, an die er nicht mit Smiths Wörterbuch der klassischen Sprachen appellieren konnte. Drei aufregende Minuten wurden auf eine Menge Seidenwürmer, sorgsam behütete Schmetterlingsgruppen, französische Exerzitien, Schulmützen, halb präparierte Knochen und Schädel und ein Dutzend Töpfe von Hause mitgebrachter Marmelade verwandt. Es gab ein großes Trümmerfeld, und das Zimmer sah aus, als ob drei Ungewitter, die miteinander in Streit lagen, darin gehaust hätten.

»Puh«, stöhnte Latte, als sie aus der Tür waren, und holte Atem.

»Oh, ihr verdammten Kaffern, haltet euch für schrecklich witzig«, und ähnlich klang es von den andern dazwischen.

»Das wäre besorgt. Laß nie deine Sonne über deinem Haß untergehen. Dolle kleine Teufel, die Füchse, hab‘ nicht gemerkt, daß sie zusammenhalten!« »Sechs von ihnen saßen mir auf dem Kopf, als ich nach Manders II ‚reinkam. Ich hab’s ihnen gesagt, was es setzen würde.«

»Jeder hat sein Teil ordentlich gekriegt – wundervolles Gefühl«, sagte M’Turk abweichend, als sie den Korridor entlangstrichen. »Glaub‘ nicht, daß es lohnt, viel von King zu erzählen – was meinst du, Latte?«

»Nicht viel. – Wir sind natürlich die beleidigte Unschuld – g’rad‘ so wie damals, als der olle Foxybus uns anzeigte, wir hätten mal im Versteck geraucht. Hätt‘ ich nicht die Idee gehabt, Pfeffer zu kaufen und in unsere Anzüge zu streuen, dann hätt‘ er’s gerochen. King war verflucht witzig darüber. Nannte uns in der Klasse eine Woche lang »Vögelkonservatoren.«

»Ach, King haßt den Naturwissenschaftlichen Verein, weil der kleine Hartopp Präsident ist. Man muß nichts im Institut tun, was King keinen Ruhm verschafft«, sagte M’Turk. »Aber er müßt‘ wirklich ’n kranker Esel sein, wißt ihr, wenn er glauben wollt‘, daß wir, so alt wir sind, noch ‚rumlaufen und Vögel ausstopfen werden, wie die Füchse.«

»Armer oller King«, meinte Käfer. »Er ist schrecklich unbeliebt im Konferenzzimmer, und sie werden ihn wegen Karnickelei schön aufziehen. Gott! Wie lieblich! Wie schön! Wie prächtig! Aber ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, als der erste Stein ‚reingeflogen kam. Und die Erde aus dem Topf.«

Fünf Minuten machte das Lachen sie wieder hilflos.

Schließlich begaben sie sich nach Abanazars Zimmer und wurden ehrfurchtsvoll empfangen.

»Was ist los?« fragte Latte, der immer jeden Umschwung fühlte.

»Wißt ihr ganz gut«, meinte Abanazar. »Ihr werdet geschaßt werden, wenn sie euch kriegen. King tobt wie ’n Verrückter ‚rum.«

»Wer? Was? Wie? Geschaßt? Weshalb? Wir haben bloß die Kriegstrommel gerührt, wir sind deshalb schon ausquartiert worden.«

»Wollt ihr Burschen etwa sagen, ihr habt Karnickelei nicht betrunken gemacht und aufgehetzt, in Kings Zimmer Steine zu werfen?«

»Ihn aufgehetzt? Nein, ich kann schwören, daß wir das nicht getan haben«, entgegnete Latte, erleichterten Herzens, denn er scheute es, zu lügen. »Was für ’ne schlechte Meinung hast du, Pussy. Wir waren unten und haben gebadet, hat Karnickelei King geschmissen, den starken, eifrigen Mann King? Scheußlich.«

»Furchtbar! King schäumt vor Wut. Da läutet’s zum Gebet. Kommt!«

»Wart‘ ’n Weilchen«, sagte Latte und setzte die Unterhaltung mit lauter und fröhlicher Stimme fort, während sie die Treppe herunterstiegen. »Weshalb hat Karnickelei King geschmissen?«

»Ich weiß«, erklärte Käfer, als sie an Kings offener Tür vorbeigingen. »Ich war in seinem Arbeitszimmer.«

»Stt, du Esel«, zischte der Kaiser von China.

»Ach, er ist zum Gebet ‚runtergegangen«, sagte Käfer, der den Schatten des Hausmeisters an der Wand bemerkte. »Karnickelei war bloß ’n bißchen betrunken und fluchte auf seinen Gaul, und King schimpfte ihn durchs Fenster, und dann natürlich schmiß er King.«

»Willst du sagen,« fragte Latte, »daß King angefangen hat?«

King war hinter ihnen, und jedes wohl abgewogene Wort flog die Treppe wie ein Pfeil hinauf. »Ich kann nur schwören,« sagte Käfer, »daß King wie ein Schifferknecht fluchte. Einfach gräßlich. Ich will meinem Vater davon schreiben.«

»Sag‘ es lieber Mason«, riet ihm Latte. »Er kennt unser zartes Gewissen. Wart‘ ein bißchen, ich muß mein Schuhband zubinden.«

Die andern machten, daß sie weiter kamen. Sie wünschten nicht in Szenen dieser Art hineingezogen zu werden. So fiel es M’Turk zu, die Sachlage unter den Kanonen des Feindes zusammenzufassen.

»Seht ihr,« sagte der Irländer, am Geländer hängend, »erst schnauzt er die kleinen Bengel an, dann schnauzt er die Großen an, und dann schnauzt er einen an, der gar nicht zum Institut gehört, und dann kriegt er es. Ist ihm ganz recht geschehen. – Bitte um Entschuldigung, Sir, ich sah nicht, daß Sie die Treppe herunterkamen.«

Der schwarze Talar zog wie ein Gewitter vorüber, und in seinem Kielwasser, drei in einer Reihe, Arm in Arm, walzte die Aladdin-Truppe den langen Korridor zum Gebet entlang und sang mit unschuldvollstem Eifer:

»Hurra, Patsy, sorg‘ fürs Baby! Hurra, auf den Bengel acht!
Wickel ihn in ’nen Ueberrock, er wird wild, wenn er erwacht.
Hurra, Patsy, paß‘ aufs Baby! Ja, jetzt gerade nimmst du’s Kind!
Er wird strampeln, beißen, schrei’n die ganze Nacht,
Hurra, Patsy, auf den Bengel acht!«

  1. Bezeichnung für die flache Kopfbedeckung.
  2. Balliol College – eine bekannte Schule in Oxford.
  3. Beiname des engl. Schriftstellers Thomas de Quincey (1785–1859).

Ein übelriechendes Intermezzo

Ein übelriechendes Intermezzo

III.

Es war eine altjüngferliche Tante Lattes, die ihm zwei Bücher geschickt hatte, mit der Widmung: »Dem lieben Artie zu seinem sechzehnten Geburtstag«; es war M’Turk, der ihre hypothekarische Beleihung verlangte, und es war Käfer, der aus Bideford zurückkam und sie auf die Fensterbank im Arbeitszimmer »Nummer fünf« warf, mit der Nachricht, daß Bastable nicht mehr als neun Pence auf die beiden vorschießen wollte. Denn »Eric« oder »Nach und Nach« wäre ebensolch erbärmlicher Schund wie »St. Winifreds«. – »Mit deiner Tante scheint mir auch nicht viel los zu sein. Und wir haben beinah‘ auch gar keine Patronen mehr – lieber Artie.« –

Darauf stürzte sich Latte kampflustig auf Käfer, aber M’Turk saß auf Lattes Haupt und nannte ihn »ein Kind, so engelsrein«, bis der Frieden erklärt war. Da sie mit einer lateinischen Arbeit betrübend im Rückstand waren, da es ein brennend heißer Juli-Nachmittag war, und da sie eigentlich bei einem Kricketmatch ihres Hauses hätten dabei sein müssen, fingen sie an, ihre Bekanntschaft mit den beiden Bänden in vertrauter und verrucht spottender Weise zu erneuern.

»Hier sind wir!« begann M’Turk. »Körperliche Züchtigungen brachten bei Eric die schlimmsten Wirkungen hervor. Er quälte sich nicht mit Gewissensbissen oder Reue – merk‘ dir das, Käfer – aber mit Beschämung und heftigem Zorn. Er starrte – O dieser ungezogene Eric! Wollen da aufschlagen, wo er anfängt zu trinken.«

»Wart‘ ’nen Weilchen. Hier ist ’n anderes Beispiel. »Die Prima«, sagt er, »ist das Palladium aller öffentlichen Schulen.« Aber der Quatsch« – Latte behandelte das Buch mit Goldschnittrand ziemlich unsanft – »kann Jungens nicht hindern, zu trinken und zu klemmen und Füchse in der Nacht aus ’nem Fenster zu lassen – und zu tun, was sie wollen. Gott, was haben wir versäumt, daß wir nich‘ nach St.&;nbsp;Winifreds gegangen sind!«

»Es tut mir leid, sehen zu müssen, daß Knaben aus meinem Hause so wenig Interesse am Spiel haben.«

Mister Prout konnte sich höchst geräuschlos bewegen, wenn es ihm beliebte, was durchaus kein Verdienst in eines Jungen Augen ist. Er hatte, ohne anzuklopfen, die Tür des Zimmers aufgestoßen – eine zweite Sünde – und schaute voll Verdacht auf die drei. »Tut mir in der Tat sehr leid, sehen zu müssen, wie ihr hier im Zimmer hockt.«

»Wir sind seit dem Essen immer draußen gewesen, Sir«, sagte M’Turk gelangweilt. – »Ein Spiel ist genau so wie das andere«, und in dieser Woche war es gerade ihr Sport gewesen, mit Salonpistolen nach Kaninchen zu schießen.

»Ich kann keinen Ball sehen, wenn er kommt, Sir«, erklärte Käfer. »Ich habe meine Brille beim Kricket zerbrochen, bis man mich gehen ließ. Ich macht‘ ’s nicht besser als ’n Fuchs, Sir.«

»Tücke scheint immer deine Art zu sein. Tücke und Unheil brüten. Warum könnt ihr denn gar kein Interesse für die Ehre eures Hauses haben?«

Sie hatten diese Phrase schon so oft gehört, bis es sie langweilte. Die »Ehre des Hauses« war Prouts schwache Seite, und sie wußten wohl, wie man ihm nach der Richtung hin etwas am Zeuge flicken konnte.

»Wenn Sie uns sagen, wir sollen hinuntergehen, Sir, werden wir natürlich gehen«, sagte Latte mit einer Höflichkeit, die zum Rasen bringen konnte. Aber Prout wußte schon Bescheid. Er hatte das Experiment einmal bei einem großen Match versucht, worauf dann die drei völlig isoliert eine halbe Stunde spielbereit dastanden, vor den Augen aller Besucher, denen gegenüber ein paar Sextaner, die zu diesem Zweck bestochen worden waren, sie als Opfer von Prouts Tyrannei bezeichneten. Und Prout war eine sensible Natur.

In den nie endenden kleinen Komplotts im Eßzimmer hatten King und Macrea, Kollegen und ebenfalls Hausmeister, ihn zu der Ueberzeugung gebracht, daß nur durch Spiele, und durch Spiele allein, Rettung möglich sei. Knaben, um die man sich nicht kümmerte, wären verlorene Knaben. Es müßte Disziplin unter ihnen geschaffen werden. Sich selbst überlassen, würde Prout einen sympathischen Hausmeister abgegeben haben, aber er war niemals sich selbst überlassen, und mit dem verteufelten Scharfblick der Jugend wußten die Jungen, wem sie seinen Eifer zu verdanken hatten. »Müssen wir hinuntergehen, Sir?« fragte M’Turk.

»Ich mag euch nicht befehlen, das zu tun, was ein ordentlicher Junge mit Freuden tun sollte. Es betrübt mich.« Und er schurrte hinaus, mit einem kleinen dunklen Eindruck, daß er gute Saat auf schlechtem Boden gesät habe.

»Na, was denkt er nu‘, was das für’n Zweck haben soll?« fragte Käfer.

»Oh, er ist verrückt gemacht. King redet im Eßzimmer darüber, daß er nichts aus uns machen kann, und Macrea quatscht von Disziplin, und das olle Huftier sitzt zwischen beiden und schwitzt dicke Tropfen. Ich hörte, wie Oke (der Aufwärter im Eßzimmer) neulich Richards (Prouts Hausdiener) im Keller davon erzählte, als ich ‚runter gegangen war, um ’nen bißchen Brot zu klemmen«, erzählte Latte.

»Was sagte Oke?« fragte M’Turk und warf »Eric« in eine Ecke.

»Oh, sagte er, sie machen mehr Spektakel, als wie ’n ganzes Nest voll Dohlen, und die Hälfte davon ist so, als wenn wir gar keine Ohren nicht am Kopf hätten und auf sie hören täten. Sie reden über den ollen Prout – was er getan hat und nich‘ getan hat bei seinen Jungens. Und wie ihre Jungens seine Jungens sind und seine Jungens verdammt schlecht. – Na so was ungefähr, wißt ihr, erzählte Oke, und Richards ging schrecklich wild weg. Er hat ’ne Wut gegen King, wegen irgend was. Möcht‘ wissen, weshalb.«

»Weshalb? King redet über Prout in der Klasse, macht Anspielungen und all‘ solche Sachen. Bloß die Hälfte Jungens sind solche Esel, daß sie nicht sehen können, was er meint. Und besinnt ihr euch noch, was er letzten Dienstag über das Haus mit den Kantonisten sagte? Damit meinte er uns. Er soll ganz gemeine Sachen sagen zu seinem eigenen Haus und macht sich über Prout seins lustig«, erzählte Käfer.

»Na, wir sind ja nicht hergekommen, um uns in ihre Zänkereien zu mischen«, sagte M’Turk ärgerlich. »Wer kommt baden nach dem Aufruf? King hält ihn auf dem Kricketplatz ab. Los!« Turkey, ergriff seinen Strohhut und führte an.

Sie erreichten den gegenüber dem Klippengrund in der Sonnenglut daliegenden Pavillon gerade vor dem Aufruf, und ohne weiter zu fragen, konnten sie aus Kings Stimme und Benehmen ersehen, daß sein Haus auf dem Weg zum Siege war.

»Aha!« sagte er und wandte sich, um seine strahlenden Züge zu zeigen. »Da haben wir ja auch die Zierden des Hauses mit den unsicheren Kantonisten. Ihr haltet wohl Kricket für unter eurer Würde, wie mir scheint« – die Menge in Flanell kicherte – »und nach dem, was ich heute nachmittag gesehen hab‘, denk‘ ich mir, daß viele andere aus eurem Haus auch derselben Ansicht sind. Und darf ich fragen, was ihr mit euren edlen Persönlichkeiten bis zum Tee anzufangen gedenkt?«

»Baden gehen, Sir«, antwortete Latte.

»Und woher dieser plötzliche Eifer für Sauberkeit? Ihr habt nichts an euch, das ihn besonders nahe legt. In der Tat, soweit ich mich erinnere, – ich kann mich irren, aber vor nicht langer Zeit –«

»Fünf Jahre, Sir«, sagte Käfer hitzig.

King sah verdrossen drein. »Einer von euch war damals, was man wasserscheu nennt, ja wasserscheu. Und jetzt wünscht ihr euch zu waschen? Das ist schön, Reinlichkeit schadet niemals einem Jungen – oder einem ganzen Hause. Wir wollen an unser Geschäft gehen«, und er verfügte sich an die Aufruftafel.

»Was, zum Henker, hast du ihm überhaupt was gesagt, Käfer?« sagte M’Turk ärgerlich, als sie auf die großen, offenen Seebäder zuwanderten.

»’s ist nicht anständig, einen daran zu erinnern, daß man wasserscheu gewesen ist. Mein erstes Semester außerdem. Massig Jungens sind’s, wenn sie nicht schwimmen können.«

»Ja, du Esel, aber er sah, daß er dich ‚reingelegt hatte, du hättest King gar nicht antworten sollen.«

»Aber es war nicht anständig, Latte.«

»Mein Himmel! Du bist jetzt sechs Jahre hier und erwartest Anstand! Wahrhaftig, du bist ein schauerlicher Idiot!«

Ein Haufe von Kings Jungen, ebenfalls auf dem Wege zu den Bädern, rief sie an und ersuchte sie dringend, sich zu waschen, um der Ehre ihres Hauses willen.

»Das kommt davon, wenn King quatscht und sich einmischt. Diese jungen Biester hätten nicht an so etwas gedacht, wenn er es ihnen nicht in die Schädel gesetzt. Jetzt werden sie wochenlang ihre Witze darüber machen,« sagte Latte, »kehrt euch nicht daran.«

Die Jungen kamen näher und riefen ihnen ein höchst beleidigendes Wort zu. Schließlich wendeten sie sich in der Windrichtung ab und hielten ostentativ ihre Nasen zu.

»Das ist hübsch«, sagte Käfer. »Sie werden nächstens noch sagen, unser Haus stinkt.«

Als sie vom Bad zurückkamen, mit feuchtem Haar, matt, in Frieden mit der Welt, wurde Käfers Vorsage nur zu wahr. Im Korridor kam ein Fuchs auf sie zu – ein gewöhnlicher Unterquintaner-Fuchs – der ihnen auf Armeslänge ein sorgfältig eingewickeltes Stück Seife überreichte – »mit den Komplimenten von Kings Haus«.

»Wartet!« sagte Latte und hielt einen unmittelbaren Angriff ab. »Wer hat dich dazu angestellt, Nixon? Rakray und White? (Das waren zwei Führer in Kings Haus.) Danke schön, Antwort ist nicht nötig.«

»Oh, es ist zu elend, wenn einem solch Dreck vorgehalten wird, was für’n Sinn hat das? Was für’n Witz ist dabei?« meinte M’Turk.

»Es wird trotzdem bis zu Ende des Semesters gehen.« Käfer schüttelte sorgenvoll das Haupt. Er hatte selbst auf eigene Kosten manche Späße bis zur Abnützung ertragen müssen.

In wenigen Tagen wurde es in der Schule zur überall verbreiteten Legende, daß Prouts Haus sich nicht wasche und deshalb stinke. Mr. King geruhte ausgiebig zu lächeln, als in der Klasse einer seiner Jungen sich mit gewissen Gesten von Käfer abwandte.

»Es scheint dir irgend etwas Unangenehmes anzuhaften, mein lieber Käfer, oder weshalb sollte Button I das Tischtuch zwischen euch sozusagen zerschneiden? Ich gestehe, ich bin vollkommen im Dunkeln, will nicht einer so freundlich sein, mich aufklären?«

Natürlich klärte ihn die ganze Klasse auf.

»Merkwürdig, höchst merkwürdig! Indessen, jedes Haus hat seine Traditionen, und um alle Welt möchte ich mich nicht drin einmischen, Wir sind nun einmal für das Waschen voreingenommen. Fahre fort, Käfer, von » Jugurtha tamen« – und, wenn du kannst, vermeide es, allzuviel herumzuraten.«

Prouts Haus war wütend, weil Macreas und Hartopps Häuser sich mit Kings verbanden, um sie zu beleidigen. Sie beriefen nach dem Essen ein Hausmeeting zusammen – ein aufgeregtes und ärgerliches Meeting, bei dem alle zugegen waren, mit Ausnahme der Aufseher, deren Würde, obgleich sie sympathisierten, ihnen die Teilnahme verbot. Sie verlasen ungrammatische Resolutionen und hielten Reden, die begannen: »Meine Herren, wir haben uns bei dieser Veranlassung versammelt – – «, und endeten: »Es ist ’ne verfluchte Gemeinheit«, genau so, wie Häuser es gemacht haben, seit Zeit und Schule begannen.

Zimmer »Nummer fünf« war mit seiner gewöhnlichen Miene milder Gönnerschaft zugegen. Schließlich äußerte sich M’Turk mit den breiten Kinnbacken folgendermaßen:

»Ihr quatscht und schimpft und schwatzt, das ist alles, was ihr tun könnt. Was hat das für’n Zweck? Kings Haus wird sich bloß freuen, weil sie euch aufgezogen haben, und King wird vergnügt sein. Außerdem, Orrins Resolution da hat ein Schock grammatische Fehler, und King wird schön darüber grinsen.«

»Ich dacht‘, du und Käfer würdet das in Ordnung bringen, und dann würden wir es im Korridor anschlagen«, erklärte der Verfasser zaghaft.

» Par si je le connais. Ich hab‘ keine Lust, mich in die Geschichte einzumengen«, sagte Käfer. »Es ist ’n Vergnügen für Kings Haus. Turkey hat ganz recht.«

»Na, Latte, willst du denn nicht?«

Aber Latte blies die Backen auf, schielte panurgisch seine Nase hinunter, und alles, was er sagte, war: »O ihr elenden Quatschköpfe.«

»Ihr seid drei gemeine Lumpen«, war die augenblickliche Erwiderung der Volksmasse, und sie entehrten sich unter Verwünschungen.

»Das ist ja recht nett,« sagte M’Turk, »wollen unsere Pistolen holen und Karnickel schießen gehen.«

Drei Salonpistolen, nebst der nötigen Munition, waren in Lattes Lade verwahrt, und diese Lade stand in ihrem Schlafzimmer, und ihr Schlafzimmer war ein Mansardenraum mit drei Betten, an den sich ein Zimmer mit zehn Betten anschloß, das wiederum in Verbindung mit der großen Reihe von Schlafzimmern stand, die von einem Ende des Gebäudes bis zum andern lief. Macreas Haus lag neben Prouts, Kings neben Macreas, und dann folgte Hartopps. sorgfältig geschlossen gehaltene Türen teilten Haus von Haus, aber jedes Haus – das Institut war ursprünglich eine Reihe von zwölf Gebäuden gewesen – stand in baulichem Zusammenhang mit dem nächsten, ein gerades Dach überdeckte alles.

Sie fanden Lattes Bett von der Wand links vom Schlafzimmer fortgerückt und Richards‘ hintere Partie aus einem Wandschrank, der zwei Fuß im Geviert hatte, hervorragen.

»Was ist denn los? Das hab‘ ich ja noch nie gesehen, was wollen Sie denn da machen, Dicker?«

»Wasserkannen füllen, Master Corkran.« Richards‘ Stimme klang gedämpft und halb erstickt. »Man hat mir Arbeit gespart. Ja!«

»Sieht so aus«, meinte M’Turk. »Hi! Sie werden ersticken, wenn Sie sich nicht in acht nehmen.«

Richards bewegte sich keuchend rückwärts.

»Ich kann ihn nicht zu fassen kriegen. Ja, das is ’n Wasserhahn, M’Turk. Man hat alle Wasserröhren genommen und einen Stock höher gelegt in den Häusern, hat sie alle unter den Dachrinnen langgeführt. In den letzten Ferien ist es gemacht. Ich kann den Hahn nicht zu fassen Kriegen.«

»Ich werd‘ mal versuchen«, schlug Latte vor, und schlüpfte in die Oeffnung.

»Kriechen sie nach links, Master Corkran. Kriechen Sie nach links und fühlen Sie im Dunkeln nach.«

Latte wandte sich nach links und sah eine lange Linie Bleirohr in einem dreieckigen Tunnel verschwinden, dessen Dach die Sparren und Platten des Hausdaches waren, dessen Boden Querbalken, auf die hohe Kante gelegt, bildeten, und dessen Seitenwand der rohe Mörtelbewurf auf der Fachwerkwand nach dem Schlafzimmer zu war.

»Tolle Sache! Wie weit geht das?«

»Ganz g’rad’aus, Master Corkran – immer g’rad’aus – von einem Ende zum anderen. Geht unter den Dachrinnen lang, haben sie nun schon den Hahn gepackt? Mister King hat’s machen lassen, damit wir nich‘ mehr das Wasser von unten ‚rauftragen müssen, um die Wasserkannen vollzugießen, Kein Platz für’n tüchtigen Mann, wie der alte Richards ist. Un‘ dann bin ich auch zu dick, um da ‚reinzukriechen. Dank‘ schön, Master Corkran.«

Das Wasser sprudelte aus dem Hahn, gerade im Innern des Schrankes, und nachdem er die Kannen gefüllt hatte, wankte Richards dankbar von dannen.

Die Jungen saßen mit großen Augen auf ihren Betten und überlegten die Ausnutzungsmöglichkeiten dieser Entdeckung. Aus den zwei Treppen tiefer gelegenen Räumen war das summende Lärmen des erregten Hauses vernehmbar, denn nirgends ist es so still wie in einem Schlafzimmer mitten am Nachmittag im Hochsommer.

»Es ist übertapeziert gewesen bis jetzt.« M’Turk untersuchte die kleine Tür. »wenn wir’s bloß früher gewußt hätten!«

»Ich meine, wir gehen ‚rein und kundschaften. Um diese Zeit wird keiner ‚raufkommen, wir brauchen uns nicht in acht zu nehmen.«

Sie kletterten unter Lattes Anführung hinein, zogen die Tür hinter sich zu und krochen auf allen Vieren einen dunklen, schmutzigen Pfad entlang, voll von Mörtel, allerhand Spänen und all dem Schurrmurr, den Baumeister in der Rumpelkammer eines Hauses liegen lassen. Der Gang war ungefähr drei Fuß breit und, abgesehen von dem wenigen Licht, das sich an den Kanten der Wandschränke (zu jedem Schlafzimmer gehörte einer) hindurchstahl, fast pechdunkel.

»Hier ist Macreas Haus«, sagte Latte, der das Auge an die Ritze des dritten Wandschrankes gelegt hatte. »Ich kann Barnes Namen auf seiner Lade lesen. Mach‘ nicht solchen Spektakel, Käfer! Wir können richtig bis zum Ende vom Institut kommen, weiter! … Jetzt sind wir bei Kings Haus, ich kann ein 5tück von Rattrays Lade sehen, wie man sich an den verdammten Brettern die Knie stößt!« – Sie hörten, wie er mit den Nägeln an dem Kalkbewurf kratzte.

»Das ist die Decke unten, paßt auf, wenn wir mal ‚ranballerten, daß der Kalk in das untere Schlafzimmer ‚runterfällt«, schlug Käfer vor.

»Los, wollen mal!« flüsterte M’Turk.

»Damit man uns gleich beim erstenmal kriegt? Keinen Zweck! Ei wei, da, ich kann meine Hand hier so weit zwischen die Bretter schieben.«

Latte steckte einen Arm bis zum Ellbogen zwischen die Querbalken.

»Nicht sehr schön hier! Ich mein‘, wir gehn zurück und besprechen die Sache mal. Ist ’n mist’ger Platz hier! Muß sagen, ich bin King für seine Wasserwerke dankbar.«

Sie krochen heraus, bürsteten einer den andern ab, steckten die Salonpistolen in ein Hosenbein und machten, daß sie zu einem tiefen, einsamen Hohlweg kamen, an dessen Böschungen ein Junge manchmal vielleicht ein junges Kaninchen erlegen konnte, sie warfen sich unter den alten, dichten Büschen nieder und fingen an, laut zu denken.

»Wißt ihr,« sagte Latte schließlich, während er nach einem entfernten Sperling zielte, »wir könnten unsere Pistolen da ganz famos verstecken.«

»Huh!« Käfer schnaubte, würgte und gurgelte. Er hatte geschwiegen, seit sie das Schlafzimmer verlassen.

»Habt ihr schon einmal ein Buch gelesen: »Die Geschichte eines Hauses« oder so ähnlich? Ich hab’s neulich aus der Bibliothek gekriegt, ’n Franzose hat’s geschrieben – Violet – oder so ähnlich. Aber es ist übersetzt und riesig interessant. Erklärt einem, wie das Haus gebaut wird.«

»Na, wenn du so drauf versessen bist, das ‚rauszukriegen, brauchst du ja nur nach den neuen Häusern ‚runterzugehen, die sie für die Strandwächter bauen.«

»Wahrhaftig, das tu ich!« Er suchte in seinen Taschen herum. »Gib mir ein paar Pence.«

»Du, Käfer, du bist doch nicht über irgendwas böse, sag‘ mal?« meinte M’Turk, als er ihm die Kupferstücke einhändigte. Er sprach in ernstem Ton, denn wenn auch Latte und M’Turk gelegentlich manövrierten, hatte man das an Käfer bisher in der ganzen Geschichte ihres Bündnisses noch niemals erfahren.

»Nein, ich bin nicht böse, ich hab‘ was vor.«

»Na, wir können ja auch mitkommen«, sagte Latte mit der Miene eines Generals, der zu seinem Adjutanten kein rechtes Zutrauen hat.

»Brauch‘ euch nicht!«

»Ach, laß ihn allein, den quält ein Gedicht«, meinte M’Turk. »Jetzt wird er an den Klippen langgehen und vor sich herquatschen, und nachher, wenn er zurückkommt, spuckt er die ganze Geschichte im Zimmer aus.«

»Weshalb hat er dann aber die zwei Pence gebraucht, Turkey? Er wird jetzt verdammt unabhängig. Hi! Da ist ’n Karnickel. Nein, es ist keins. Es ist ’ne Katze, du ballerst zuerst.«

Zwanzig Minuten später sah ein Junge, einen Strohhut auf dem Hinterkopf und die Hände in den Taschen, den Arbeitern zu, die bei einem halbfertigen Häuschen beschäftigt waren. Er förderte eine Portion übelriechenden Tabaks zutage, und man ließ ihn von dem Vorhof in das Innere passieren, wo er viele Fragen tat.

»Na, nun gib dein verfluchtes Epos zum besten«, sagte Turkey, als sie in das Arbeitszimmer hereinplatzten, wo sie Käfer in » Violet le Duc« und ein paar Zeichnungen vertieft fanden, »wir haben riesigen Spaß gehabt.«

»Epos? Was für’n Epos? Ich war unten bei den Strandwächtern.«

»Kein Epos? Dann wollen wir dich totschlagen, o Käfer«, rief Latte und rüstete sich zum Angriff. »Du hast irgendwas auf dem Gewissen. Das kenn‘ ich schon, wenn du in dem Ton red’st.«

»Euer Onkel Käfer« – er versuchte, langue de guerre zu imitieren, – »ist ein großer Mann.«

»Ach nein, er ist ganz und gar nicht so was. Du täuschst dich selbst, Käfer, würg‘ ihn, Türkey!«

»Ein großer Mann«, gurgelte Käfer vom Flur aus. »Ihr seid elende – laß meinen Schlips los – elende Quatschköpfe. Ich bin der große Mann.«

»Käfer, lie-ber« – Latte fiel ihm rückhaltslos um den Hals – »wir haben dich lieb, und du bist ein Dichter, wenn ich je gesagt hab‘, du wärst ’n Hundssohn, bitt‘ ich um Entschuldigung; aber du weißt so gut wie wir, daß du nichts machen kannst, ohne es zu vermisten.«

»Und du wirst die ganze Geschichte verderben, wenn du sie nicht deinem Onkel Latte erzählst. Hust‘ es aus, Püppchen, und wir wollen sehen, was sich machen läßt, ’ne Idee, du fetter Gauner – ich wußte, du hattest ’ne Idee, als du weggingst! Turkey meinte, es wär‘ ’n Gedicht.«

»Ich hab‘ rausgekriegt, wie Häuser gebaut sind. Ich will’s euch mal sagen. Die Fußbalken des einen Zimmers sind die Deckbalken des Zimmers darunter.«

»Sei nicht so ekelhaft technisch!«

»Na, der Mann hat’s mir so gesagt. Der Fußboden wird auf den Balken heraufgelegt – diese Bretter auf hoher Kante, über die wir krochen – aber der Fußboden hört an ’ner Querwand auf. Na, wenn man nun hinter ’ne Querwand kommt, ebenso wie du in der Mansarde, seht ihr denn nicht, daß ihr irgendwas, was ihr wollt, unter den Fußboden schieben könnt, zwischen die Dielen, und das Geflecht und den Bewurf der Decke unten? seht her. Ich hab’s aufgezeichnet.«

Er wies eine rohe Skizze vor, welche die Verbündeten hinreichend aufklärte. In dem modernen Schullehrplan gibt es kein Fach, das sich mit Architektur befaßt, und keiner von ihnen hatte je darüber nachgedacht, ob Fußböden und Decken hohl oder massiv wären. Außerhalb seiner eigenen unmittelbaren Interessen ist ein Junge ebenso unwissend wie der Wilde, den er so bewundert, aber er hat auch den Instinkt des Wilden.

»Ich sehe«, sagte Latte. »Ich schob meine Hand da hinein. Und dann?«

»Und dann – sie haben uns Stinker genannt, ihr wißt ja. wir könnten irgendwas runterschieben – Schwefel, oder irgendwas, das hübsch scheußlich stinkt. Ich weiß, irgendwie läßt es sich machen.« Käfers Augen wanderten zu Latte, der mit der Zeichnung spielte.

»Stinkt?« meinte Latte fragend. Dann erstrahlte sein Antlitz vor Entzücken, »wahrhaftig! Ich hab’s, schrecklich stinkt! Turkey!« Er sprang auf den Irländer zu. »Heut‘ nachmittag – g’rad‘ als du weggegangen warst, Käfer! Sie ist das richtige!«

»Komm‘ in meine Arme, mein Hauptkerl!« jubelte M’Turk, und sie fielen einander in die Arme und tanzten. »O ein glorioser Tag! Halli! Hallo! Sie wird! Sie wird! Sie wird!«

»Haltet an,« rief Käfer, »ich verstehe nichts.«

»Lieber Mann! So soll’s sein, o Artie, mein herzensguter Jüngling, wir wollen unserm lieben Reggie von pestilenzmäßigem Stinkadores erzählen.«

»Erst wenn der Aufruf gewesen ist, dann los!«

»Hört mal,« sprach Orrin steif, als sie auf ihre Plätze an der wand der Turnhalle zustürzten, »das Haus wird jetzt noch ein Meeting abhalten.«

»Halt’s doch ab!« Lattes Gesicht weilte anderwärts.

»Es ist diesmal über euch drei.«

»Schon gut, bestell‘ ’nen schönen Gruß von mir … Hier, Sir!« und er raste den Korridor hinunter.

Jagend, wie spielende Ziegen, mit Sätzen und Seitensprüngen, mit Kapriolen und Kurbetten, führten sie den beinahe platzenden Käfer nach dem Kaninchenhohlweg und zogen unter einem Steinhaufen den Körper einer frisch erlegten Katze hervor. Nun erkannte Käfer die innere Bedeutung des vorangegangenen und erhob seine Stimme zu einem Lobgesang dafür, daß die Welt so weise Krieger aufweise wie Latte und M’Turk.

»Wohlgenährte alte Lady, nicht wahr? Wie lang wird’s dauern, bis sie in einem geschlossenen Raum ’n bißchen zu stinken anfängt?«

»Bißchen stinken? was für ’n rohes Biest du bist!« sagte M’Turk. »Kann eine arme Pussy-Katze nicht unter Kings Schlafzimmer zu sterben kommen, ohne daß du sie mit deinen dreckigen Bemerkungen verfolgst?«

»Woran krepierte sie unter dem Fußboden?« fragte Käfer, in die Zukunft blickend.

»Oh, darüber werden sie sich nicht den Kopf zerbrechen, wenn sie sie finden«, sagte Latte.

»selbst ’ne Katze darf sich den König ansehen.« M’Turk rollte über seinen eigenen Witz den Abhang hinunter, »Pussy, du weißt nicht, wie nützlich du drei unschuldsvollen, hochherzigen Knaben sein wirst.«

»Sie werden ihretwegen den Fußboden aufreißen müssen, wie sie es in Nummer neun machten, als die Ratte krepierte. Gehör’ge Medizin, massig ordentliche Medizin. Puh! O Gott! Ich möchte, ich könnte aufhören vor Lachen«, sagte Käfer.

»Stinkt! Hi, stinkt! hier ist’s feucht!« M’Turk rang nach Atem, als er seinen Platz wieder erreichte. »Und« – der wunderbare Humor der Jache packte sie, daß sie alle zusammen in einem Knäuel herunterrutschten – »es ist alles zur Ehre des Hauses.«

»Und sie halten jetzt ’n anderes Meeting ab – über uns«, keuchte Latte, die Knie im Graben und das Gesicht im langen Gras.

»Na, dann wollen wir die Kugel ‚rausholen, und dann los. Je früher sie ins Bett gebracht ist, desto besser.«

Gemeinsam verbrachten sie eine gräßliche Arbeit mit einem Federmesser, gemeinsam (fragt nicht, wer sie an seinen Busen bettete) nahmen sie den Körper auf und eilten zurück, während Latte in vollem Trabe ihren Aktionsplan entwarf.

Die Nachmittagssonne, die in breiten Streifen auf den Bettvorlegern lag, sah drei Knaben und einen Regenschirm in einer Schlafzimmerwand verschwinden. Nach fünf Minuten tauchten sie wieder auf, bürsteten sich ganz und gar ab, wuschen sich die Hände, kämmten das Haar und gingen hinunter.

»Bist du sicher, daß du sie weit genug ‚runtergeschoben hast?« fragte M’Turk plötzlich.

»Donnerwetter, Mensch, ich hab‘ sie so weit wie mein Arm und Käfers Regenschirm geschoben. Das müssen gegen sechs Fuß sein. Sie ist in der Mitte von Kings großem Zehnbettenzimmer eingespundet. Vorzügliche zentrale Lage möcht‘ ich sagen, sie wird seine Jungens ausstänkern und Hartopps und Macreas, wenn sie wirklich zu riechen anfängt. Ich schwöre, nur Onkel Latte ist ein großer Mann. Fühlst du, was für ein großer Mann er ist?«

»Na, ich hab‘ zuerst die Idee gehabt, nich‘ wahr, bloß –«

»Du konnt’st es nicht tun ohne deinen Onkel Latte, nich‘ wahr?«

»Jetzt haben sie schon ’ne Woche lang Stinker geschimpft«, sagte M’Turk. »Oh, sie werden’s kriegen.«

»Stinker! Ha! Stin-kee-er!« erscholl es den Korridor hinunter.

»Und sie ist dort«, sagte Latte, die Hände auf die Schultern der andern gelegt. »Sie ist dort und macht sich fertig, sie zu überraschen – auf einmal wird sie anfangen, in ihren Träumen zu ihnen zu flüstern. Dann wird sie stinken. Gott, wie sie stinken wird! Tut mir den Gefallen und denkt mal zwei Minuten dran!«

Mehr oder weniger stillschweigend kamen sie auf ihrem Zimmer an. Dort fingen sie an zu lachen – zu lachen, wie es Jungen nur können. Sie lachten mit den Stirnen auf den Tischen oder auf dem Fußboden, lachten in voller Länge oder über die Rücken der Stühle gebogen oder sich an ein Bücherfach anklammernd, lachten sich krank.

Und mitten dazwischen trat Orrin ein, im Auftrage des Hauses.

»Kümmere dich nicht um uns, Orrin, setz dich. Du weißt nicht, wie wir dich achten und bewundern. Es liegt etwas auf deiner reinen, hohen, jungen Stirn, voll von den Träumen unschuldiger Kindheit, das überaus anziehend ist. Ja, wirklich!«

»Das Haus hat mich geschickt, um euch dies zu geben.« Er legte ein zusammengefaltetes Blatt Papier auf den Tisch und zog sich mit hoheitsvoller Miene zurück.

»Es ist die Resolution! Oh, lest sie vor, irgend einer. Ich bin zu schwach und krank vor Lachen, um sehen zu können«, sagte Käfer.

Latte riß es auseinander, nachdem er vorher daran herumgeschnüffelt hatte.

»Puh! Puh! Hört! Das Haus bemerkt mit Kummer und Verachtung die Haltung von Indiferenz – wieviel »F’s« in Indifferenz, Käfer?«

»Zwei, vorzugsweise.«

»Hier is‘ bloß eins – welche die Bewohner des Arbeitszimmers »Nummer fünf« in bezug auf die Beleidigungen, welche Mister Prouts Haus zugefügt sind, auf dem neulichen Meeting im Klassenzimmer »Nummer zwölf« angenommen haben, und das Haus erteilt hierdurch dem besagten Zimmer ein Tadelsvotum. Das ist alles.«

»Und sie hat mir noch mein ganzes Hemd blutig gemacht!« sagte Käfer.

»Und ich rieche über und über nach der Katze,« sagte M’Turk, »trotzdem ich mich zweimal gewaschen hab‘.«

»Und ich hab‘ beinah‘ Käfers Schirm zerbrochen, als ich sie dahin pflanzte, wo sie blühen soll.«

Die Situation ging über eine Erörterung hinaus, aber nicht über Gelächter. – In dieser Nacht wurde ein schwacher Versuch gemacht, eine Demonstration gegen die drei in ihrem Schlafzimmer zu veranstalten, sie kamen deshalb heraus.

»Seht ihr,« begann Käfer leutselig, wahrend er sein Hosenträger abknöpfte, »der Skandal mit euch ist, daß ihr eine Bande von gedankenlosen Eseln seid, ihr habt nicht mehr Brägen als Spinnen, wir haben euch das massig oft gesagt, nicht wahr?«

»Wir werden euch alle drei hier im Schlafzimmer verprügeln, ihr schimpft immer auf uns, als wenn ihr Aufseher wär’t –«, schrie einer.

»Oh, nein, ihr werdet’s nicht,« sagte Latte, »denn ihr wißt’s, wenn ihr’s tätet, würdet ihr früher oder später am schlechtesten dabei wegkommen. Wir haben gar keine Eile, wir können es uns erlauben, auf unsere kleine Revanche zu warten. Ihr habt euch zu schrecklichen Eseln gemacht, und sowie King morgen was von eurer kostbaren Resolution erwischt, werdet ihr das ‚rausfinden, wenn ihr morgen abend nicht krank und elend seid, will ich – will ich meinen Hut essen.«

Aber noch bevor am nächsten Tage die Mittagsglocke läutete, waren die Prouts über ihren Irrtum jämmerlich aufgeklärt. King empfing einzelne Mitglieder des Hauses mit übertrieben furchtsamer Attitude. Beabsichtigten sie, durch ihre einstimmige Resolution seine Entlassung aus dem Institut herbeizuführen? Welches wären ihre Ansichten über das Schulregiment, damit er sich beeilen könne, sie in die Tat umzusetzen. Er wollte sie um alle Welt nicht beleidigen, aber er fürchtete, daß sein eignes Haus, das keine Resolutionen annahm (sich aber wusch), ein wenig spotten würde.

King war ein glücklicher Mensch, und sein Haus, das sich in der Gnade seines Lächelns sonnte, machte diesen Nachmittag zu einem langen Fegefeuer für die irregeleiteten Prouts. Und Prout selbst, mit trüber und niedergeschlagener Miene, versuchte in der ganzen Sache Recht und Unrecht abzuwägen, geriet aber nur noch tiefer in die Irre. Warum sollte sein Haus »Stinker« genannt werden?

Es war ja wirklich eine Kleinigkeit, aber die Verhältnisse hatten ihm die Erkenntnis beigebracht, daß der Halm sich neigt, wie der Wind weht, und daß es keinen Rauch ohne Feuer gibt. Im Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, wandte er sich im Eßzimmer an King, aber King geruhte gerade, voll munterer Spottlust zu sein, und vollführte gerade dialektische Tänze um Prout.

»Nun,« sagte Latte, als er beim Zubettgehen eine Pilgerfahrt durch die Schlafzimmer unternahm, bevor die Aufseher heraufkamen, »nun, was könnt ihr jetzt zu eurem Besten sagen? Foster, Carton, Finch, Longbridge, Martin, Brett? Ich hörte, wie ihr Burschen es von King bekamt – er machte euch schön ‚runter – und alles, was ihr tun konntet, war, euch zu winden und zu grinsen und zu sagen: Ja, Sir, Nein, Sir, und Oh, Sir, und Bitte schön, Sir. Ihr und eure Resolution! Uh!«

»Oh, hör‘ auf, Latte!«

»Kein bißchen, ihr seid eine famose Bande von Resolutionisten – ihr habt ’nen schönen Spaß daraus gemacht, vielleicht seid ihr nächstes Mal so anständig, uns in Ruh‘ zu lassen.«

Hier wurde das Haus ärgerlich, und mehrere Stimmen machten darauf aufmerksam, daß diese Uebereilung nie vorgekommen wäre, wenn »Zimmer fünf« ihnen von Anfang an beigestanden hätte.

»Aber ihr Burschen seid so verdammt eingebildet, und ihr quatscht im Meeting gerad‘ so, als ob wir ’ne Gesellschaft von Idioten wären«, brummte Orrin mit der Resolution.

»Das ist genau das, was ihr seid! Das ist das, was wir schon die ganze Zeit in eure dicken Schädel einzuhämmern versucht haben«, sagte Latte. »Schad’t nichts, wir wollen’s euch vergeben. Tröstet euch, ihr könnt nichts dafür, daß ihr Esel seid, wißt ihr.« Latte umging geschickt die Flanke des Feindes und sprang ins Bett.

In dieser Nacht gab es den ersten Kummer unter den jubilierenden Kings. Infolge irgendwelcher zufälligen Zugwinde unter dem Fußboden beunruhigte die Katze nicht das Schlafzimmer, in dem sie lag, sondern das nächste nach rechts hin; freilich mehr nur durch einen blaßblauen Eindruck als irgendeinen scharfen Angriff. Aber der bloße Schatten eines Geruchs ist genug für die empfindliche Nase und unverdorbene Zunge der Jugend. Die gute Sitte fordert, daß wir ein paar karbolgetränkte Leinentücher vor das ziehen, was das Schlafzimmer zu Mister King sagte und was Mister King entgegnete. Er war wirklich stolz auf sein Haus und peinlich in allem, was das Wohlergehen der Jungen betraf. Er kam, er schnüffelte, er sagte verschiedenes. Am nächsten Morgen vertraute ein Junge aus diesem Schlafzimmer seinem Busenfreunde, einem Fuchs aus Macreas Hause, an, daß es in ihrer Mitte einige Unruhe gäbe, die King gern verheimlichen wollte.

Aber der Junge aus Macreas hatte auch einen Busenfreund in Prouts Haus, einen krausköpfigen Sextaner von bösartiger Charakteranlage. Der hatte kaum das Geheimnis herausgeholt, als er es auch schon im höchsten Diskant herausschrie, daß es durch die Korridore wie das Quietschen einer Fledermaus schallte.

»Und – und sie haben uns Stinker genannt, die ganze Woche. Ei, und Harland II sagt, sie können in ihrem Schlafzimmer einfach nicht schlafen vor Gestank. Kommt.«

Mit einem Ruf und einem Schrei stürmten die Jungen aus Prouts Hause in den Kampf, und die ganze Pause zwischen der ersten und zweiten Stunde hindurch drängten sich gegen fünfzig zwölfjährige Jungen vor Kings Fenstern zu einem Sang zusammen, dessen Leitmotiv das Wort Stinker bildete.

»Hört die Notschüsse auf See!« sagte Latte. Sie befanden sich in ihrem Arbeitszimmer und suchten Bücher für die zweite Stunde zusammen – Lateinisch bei King. »Ich glaub‘, seine azurne Stirn war ein bißchen bewölkt beim Beten.«

»Nunmehr kommt sie, Schwester Mary.«

»Nunmehr – – –«

»Wenn sie jetzt schon solchen Spektakel machen, was werden sie tun, wenn sie sich erst wirklich bemerkbar macht und Aufsehen erregen wird.«

»Na, bloß keine kommunen Ausfälle, Käfer. Alles, was wir tun müssen, ist, uns wie Gentlemen von dem Spektakel fernzuhalten.«

»’s ist nur eine kleine welke Blume. Wo ist mein Horaz? Seht mal, ich versteh nicht, was sie damit sagen will, daß sie Rattrays Schlafzimmer zuerst ausstänkert, wir haben sie doch unter Whites verbuddelt, nich‘ wahr?« fragte M’Turk, die Stirn in Falten.

»Launenhaftes kleines Ding. Sie treibt sich, glaube ich, unter der ganzen Gegend ‚rum!«

»Heilige Tante! King wird ’n vergnügter Kunde sein in der zweiten Stunde. Ich hab‘ kein einziges bißchen Horaz präpariert«, sagte Käfer. »Los.«

Sie befanden sich jetzt vor der Tür des Klassenzimmers. Es war fünf Minuten vor dem Läuten, und King konnte jeden Augenblick erscheinen.

Turkey drängte sich mit Ellbogenstößen in eine Kohorte sich herumbalgender Füchse, holte Tornton III heraus (denselben, der Harlands Busenfreund gewesen war) und bat ihn, seine Geschichte zu erzählen.

Sie war nur einfach, von Tränen unterbrochen, viele von Kings Haus hatten ihn schon für seine Verleumdung durchgewalkt.

»’s ist nichts,« rief M’Turk, »er sagt, Kings Haus stinkt. Das ist alles.«

»Alte Sache!« rief Latte, »wir wußten das schon vor Jahren, hatten bloß keine Lust, herumzurennen und »Stinker« zu rufen, wenn sie keine haben, wir haben uns ’n paar Manieren angeeignet. Greif ’nen Fuchs, Turkey, und überzeug‘ dich mal.«

Turkeys Kim hielt eine sehr eilige und ängstliche Zierde der Unterquinta an.

»Oh, M’Turk, bitte, laß‘ mich gehen. Ich stinke nicht, ich schwöre – wirklich nicht!«

»Schlechtes Gewissen«, schrie Käfer, »wer sagt denn, daß du stänkest?«

»Was meint ihr darüber?« Latte stieß den kleinen Jungen in Käfers Arme.

»Sef! Sef! Stinkt – gewiß! Ich mein‘, es ist Aussatz oder Schwämmchen. Vielleicht auch beides, weg damit!«

»In der Tat, Master Käfer,« – King kam gewöhnlich eine oder zwei Minuten an die Haustür vor dem Läuten – »wir sind dir ungeheuer verpflichtet für deine Diagnose, die ebensosehr die natürliche Verdorbenheit deines Charakters zu bezeugen scheint als die klägliche Ignoranz in bezug auf die Krankheiten, über die du so geläufig sprichst, wir wollen aber dein Wissen in anderen Richtungen prüfen.«

Das war eine lustige Stunde, aber in seiner Hast, Käfer zu schröpfen, vergaß King ganz und gar, ihm eine Strafarbeit zu geben, und da er ihn gleichzeitig mit vielen unschätzbaren Adjektiven zu späterer Verwendung bereicherte, war Käfer wohl zufrieden und widmete sich die ganze dritte Stunde hindurch (Algebra mit dem kleinen Hartopp) höchst ernsthaft der Ausarbeitung eines Gedichtes, betitelt: »Das Haus der Aussätzigen«.

Nach dem Essen nahm King sein Haus nach den Klippen mit, zum Baden in der See. Es war ein altes Versprechen, aber er wünschte es nicht einlösen zu brauchen, denn die sämtlichen Prouts hatten sich am Hof in Linie aufgestellt und schrien voll Eifer Hurra. In seiner Abwesenheit drang nicht weniger als die halbe Schule in das infizierte Schlafzimmer ein, um ihre eignen Schlüsse zu ziehen. Die Katze hatte in den letzten zwölf Stunden gewonnen, aber ein Schlachtfeld am fünften Tage hätte nicht so schlimm sein können, wie die Spione berichteten.

»Mein Wort, sie tut ihr Bestes«, sagte Latte. »Habt ihr jemals so was gerochen wie das? Ach, und dabei ist sie noch nicht mal unter Whites Schlafzimmer.«

»Wird schon kommen. Laß‘ ihr Zeit«, meinte Käfer. »Sie wird sich drehen, wie ein schwankendes Geißblatt. Was für entsetzliche Aussätzige sie sind. Kein Haus hat das Recht, sich selbst zum Gestank zu machen, in den Nasen anständiger – – –«

»Hochherziger, unschuldiger Knabe. Plagen dich Gewissensbisse und Reue?« fragte M’Turk, während sie liefen, um dem Hause zu begegnen, das von der See heraufkam. King hatte es verlassen, und so brauchte man der Zunge keinen Zaum anzulegen. Vor der Front schwärmte ein Haufen Tirailleure aus allen Häusern, auseinanderstiebend, sich sammelnd, Beleidigungen ausstoßend. An den bedrängten Flanken marschierten die Hopliten, bemooste Häupter, die einen Witz nach dem andern losließen, einfache und primitive Witze aus der Steinzeit. Diesen gesellten sich die drei zu, leidenschaftslos, mit gleichgültiger Miene, beinahe traurig.

»Und sie sehen dabei noch ganz vergnügt aus«, sagte Latte. »Es kann doch nicht Rattray sein, nicht wahr, Rattray?«

Keine Antwort.

»Lieber Rattray? Er scheint über irgend was böse sein. Sieh, Alter, wir tragen es dir gar nicht nach, daß du uns vor’ge Woche die Seife geschickt hast, nicht wahr? Sei vergnügt, Ratte. Du wirst schon ganz gut drüber wegkommen. Wahrscheinlich sind’s bloß ’n paar Füchse, euer Haus ist aber auch so verflucht nachlässig.«

»Ihr geht doch nicht ins Haus zurück, nicht wahr?« fragte M’Turk – die Opfer verlangten nichts Besseres. – »Ihr habt einfach keine Idee von dem Dunst da oben. Natürlich, wenn man immer drinnen hockt wie ihr, kann man’s nicht merken! Aber jetzt, nach dieser hübschen Waschung und der reinen, frischen Luft werdet selbst ihr ’nen Schreck kriegen. ’n viel besseres Quartier wäre draußen in den Erdhöhlen. Wir werden auch etwas Stroh besorgen, nicht wahr?« Das Haus drängte hinein, während ein paar liebenswürdige Kameraden das Lied von »Hohn Broons Leichnam« anstimmten, und verbarrikadierten sich im Arbeitssaal. Stracks zeichnete Latte mit Kreide ein großes Kreuz mit einem »Herr, sei uns gnädig!« an die Tür und überließ es King, es zu finden.

Der Wind schlug in dieser Nacht um und trug einen Leichengeruch in Macreas Schlafzimmer hinüber. Die Folge war, daß die Jungen in Nachtgewändern an die verschlossene Tür zwischen den Häusern hämmerten und die Kings ersuchten, sich zu waschen. »Nummer fünf« kam zur zweiten Stunde mit mehr als einem halben Pfund Kampfer pro Person in den Kleidern, und King, zu vorsichtig, Erklärungen zu fordern, wütete eine Weile und warf sie dann hinaus. So beendete Käfer in Frieden auf dem Zimmer noch ein zweites Gedicht.

»Sie nehmen jetzt Karbol, King denkt, es ist die Kanalisierung, Malpas hat’s mir erzählt«, sagte Latte.

»Massig Karbol wird sie brauchen«, meinte M’Turk. »Kann nichts schaden, mein‘ ich. ’s hält King davon ab, schlimme Streiche zu machen.«

»Ich schwör‘, ich glaubt‘, er wollt‘ mich totschlagen, als ich vorhin schnüffelte. Aber als Burton neulich an mir schnüffelte, hat er sich nicht darum gekümmert. Er hat Alexander nie verboten, in unserer Klasse »Stinker« zu brüllen, ehe – ehe – wir sie kurierten. Er grinste erst recht«, sagte Latte. »Weshalb war er so wütend über dich, Käfer?«

»Aha! Das war ’n schlauer Spaß von mir. Ich hatt‘ ihn schön im Feuer. Ihr wißt, er schimpft immer über den gelehrten Lipsius.«

»Der im Alter von vier Jahren – der Junge?« fragte M’Turk.

»Ja, jedesmal, wenn er hört, ich hab‘ ’n Gedicht geschrieben. Na, als ich mich eben hingesetzt hatte, flüsterte ich Burton I zu: »Wie geht es unserm gelehrten Lipsius?« Der olle Butt grinste wie ’ne Eule. Er wußte nicht, worauf ich anspielte, aber King wußte es ganz gut. Deshalb hat er uns auch nur ‚rausgeschmissen. Seid ihr mir nicht dankbar? Nun halt’s Maul. Ich will die Ballade vom gelehrten Lipsius schreiben.«

»Laß aber jede Grobheit sein«, sagte Latte. »Ich würde bei dieser schönen Gelegenheit nicht grob sein wollen.«

»Nicht um die Welt. Reimt sich auf Stinken irgendwas?«

Im Eßzimmer ließ King beim Frühstück gegenüber Prout sich heftig über Knaben boshafter Veranlagung aus, die ihre wenigen und kümmerlichen Talente dazu mißbrauchen, um die Disziplin zu untergraben und ihre Kameraden zu korrumpieren, verruchte Pläne auszuhecken und den Respekt zu zerstören.

»Sie schienen das aber nicht zu beachten, als Ihr Haus uns – ah – Stinker nannte. Wenn Sie mir nicht versichert hätten, daß Sie sich nie in die Angelegenheiten eines anderen Hauses mischten, möchte ich beinah‘ glauben, daß es ein paar zufällige Bemerkungen Ihrerseits waren, die diesen Unsinn veranlaßten.«

Prout hatte viel durchgemacht, denn King brachte seine schlechte Laune immer zu den Mahlzeiten mit.

»Sie selbst sagten etwas zu Käfer, nicht wahr? Etwas von nicht baden gehen und wasserscheu sein?« warf der Schulkaplan ein. »Ich stand an dem Tage am Pavillon und schrieb auf.«

»Ich mag’s getan haben, scherzweise … Ich mache wirklich keinen Anspruch darauf, mich jeder Bemerkung zu erinnern, die ich unter kleinen Jungen fallen ließ. Und dann weiß ich recht wohl, daß Käfer keine Veranlassung hat, sich beleidigt zu fühlen.«

»Kann sein, aber er oder sie – es kommt auf eins heraus – finden mit dem Geschick des bösen Feindes die schwache Seite eines Menschen heraus. Ich gestehe, ich gehe lieber etwas von meiner Weise ab, um Zimmer Nummer fünf zu beschwichtigen. Es mag Schwäche sein, aber bis jetzt, denke ich, bin ich der einzige hier, den sie noch nicht wild gemacht haben mit ihren Aufmerksamkeiten.«

»Das trifft alles die Sache nicht. Ich schmeichle mir, daß ich mit ihnen umgehen kann, einzig, wie es die Gelegenheit mit sich bringt. Wenn sie sich aber moralisch unterstützt fühlen von denen, die absolute und klare Gerechtigkeit handhaben sollten, dann sage ich, daß mein Stand in der Tat ein schwieriger ist. Von allen Dingen, die ich hasse, muß ich sagen, daß die kleinste Spur von Illoyalität unter uns das schlimmste ist.«

Im Eßzimmer schielte einer auf den andern, und Prout wurde rot.

»Das bestreite ich absolut«, sagte er. »Eh – in der Tat, ich gebe zu, daß ich persönlich gegen alle drei bin. Es ist deshalb nicht fair, zu – –«

»Wie lange gedenken Sie das zu erlauben?« fragte King.

»Aber sicher,« sagte Macrea, der seinen gewöhnlichen Verbündeten im Stich ließ, »die Schuld, wenn überhaupt eine da ist, liegt bei Ihnen, King. Sie können mich nicht verantwortlich machen für den – Sie ziehen wohl das gute, alte Angel-Sächsische vor – Gestank in Ihrem Hause. Meine Jungen beklagen sich jetzt darüber.«

»Was können Sie erwarten? Sie wissen, wie Knaben sind. Natürlich ziehen sie ihren Vorteil aus dem, was ihnen eine vom Himmel gesandte Gelegenheit ist«, sagte der kleine Hartopp. »Was ist denn bloß in Ihren Schlafzimmern, King?«

Mister King erklärte, da er zur einzigen Regel seines Lebens gemacht hätte, sich niemals um eines andern Haus zu kümmern, erwarte er, daß man sich nicht allzusehr um ihn kümmere. Vielleicht würde es sie interessieren, zu erfahren – hier stieß der Kaplan einen schweren Seufzer aus – daß er alle Schritte getan hätte, die – seinem geringen Ermessen nach – der Fall zu erfordern schien. Ja, er hätte ferner sogar, ohne den Gedanken an eine Wiedererstattung, Summen, über deren Höhe er sich nicht verbreiten wollte, für Desinfektionsmittel verausgabt. Dies hätte er getan, weil er aus bitterer, aus höchst bitterer Erfahrung wußte, daß die Leitung des Instituts nachlässig, langsam und kraftlos wäre. Er möchte sogar hinzufügen, beinahe so schwach wie die Leitung gewisser Häuser, die sich jetzt ein Urteil über seine Maßnahmen erlauben zu können glaubten. Mit einem kurzen Ueberblick über seine Schulkarriere und einer Aufzählung seiner Fähigkeiten samt seiner Grade zog er sich zurück und schlug die Tür hinter sich zu.

»Hoho!« sagte der Kaplan. »Unser Leben macht einen klein – setzt einen herab, meine Brüder. Gott helfe allen Schulmeistern! Sie haben’s nötig!«

»Ich liebe die Knaben nicht, gestehe ich« – Prout stieß wild mit der Gabel in das Tischtuch – »und ich behaupte auch nicht, ein strenger Mensch zu sein, das wissen Sie. Aber ich gestehe, ich kann nicht den geringsten Grund sehen, weshalb ich gegen Latte und die andern einschreiten sollte, weil King zufällig belästigt wird von – von –«

»Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«, sagte der kleine Hartopp. »Gewiß nicht, Prout. Kein einziger klagt Sie an, ein Haus gegen das andere aufzuhetzen durch eine Nachlässigkeit.«

»Ein entwürdigendes Leben – ein entwürdigendes Leben.« Der Kaplan stand auf. »Ich gehe französische Exerzitien korrigieren. Zum Mittagessen wird King schon ein paar unglückliche Kinder von dreizehn Jahren zum Gegenstand seines Witzes gemacht haben. Er wird uns jedes Wort von seinen brillanten Aeußerungen wiederholen, und alles wird gut sein.«

»Unsinn,« entgegnete der kleine Hartoop, »wenn Sie es sich mal ’ne Minute überlegen wollten, Prout, würden Sie sehen, daß der »zeitige Strom stinkender Einbildungen«, den King beklagt, ganz und gar auf King selbst zurückzuführen ist. Er »nährt den Fittich, den der Stahl zum Aufschwung trieb«. Natürlich gibt er es nicht zu. Kommen Sie auf ’ne Minute ins Rauchzimmer. Es ist nicht fair, Knaben zu belauschen, aber sie dürften die Sache jetzt gerade von Kings Haus vorhaben. Heimlichkeiten gefallen kleinen Geistern.«

Die schmutzige Höhle neben dem Eßzimmer wurde nur zur Aufbewahrung der Talare benutzt. Ihre Fenster waren aus Milchglas; man konnte nicht hinaussehen, aber man konnte fast jedes Wort hören, das draußen auf dem Kies gesprochen wurde. Ein leichter und vorsichtiger Fußtritt kam von Nummer fünf her heran.

»Rattray,« ertönte eine gedämpfte Stimme – Rattrays Zimmer lag nach dem Weg hinaus – »weißt du, ob Mister King irgendwo in der Nähe ist? Ich habe eine – –« M’Turk ließ seinen Satz diskret unbeendet.

»Nein, er ist ausgegangen«, sagte Rattray vorsichtigerweise.

»Ah, der gelehrte Lipsius lüftet sich, nicht wahr? Seine Königliche Hoheit ist ausgegangen, um sich zu räuchern.« M’Turk kletterte bis zum Gitter empor, wo er wie eine niemals müde Krähe Fuß faßte.

»Und in dem ganzen Institut war kein solch Gestank wie der Gestank von Kings Hause, denn es stank gar sehr, und keiner wußte, was man davon denken sollte. Nur King. Und er wusch die Füchse privatim et seriatim. In den Fischteichen von Heshbon wusch er sie, seine Lenden mit einem Schurz umgürtet.«

»Halt’s Maul, du verrückter Irländer.« Man hörte, wie ein Golfball den Kies auseinanderstäubte.

»Hat gar keinen Zweck, wütend zu werden, Rattray. Wir sind gekommen, um mit dir zu spaßen. Los, Käfer! Sie sind alle zu Hause. Sie sind jetzt alle zu Hause. Du kannst sie jetzt vornehmen.«

»Wo ist der Pomposo Stinkadore? Es ist nicht geraten für einen unschuldigen, hochherzigen Knaben, in diesen Tagen hier bei diesem Hause gesehen zu werden. Ausgezogen ist er? Schad’t nichts. Ich will mein Bestes tun, Rattray. Ich bin jetzt in loco parentis

(»Das geht auf Sie, Prout«, flüsterte Macrea, denn das war Mister Prouts Lieblingsphrase.)

»Ich habe euch ein paar Worte mitzuteilen, wir wollen ein wenig miteinander reden, meine jungen Freunde.«

(Hier sprudelte der lauschende Prout hervor: »Käfer hat sich da eben voll Pathos einen beliebten Satz Kings ausgesucht.«)

»Ich wiederhole, Master Rattray, wir wollen miteinander reden, und der Gegenstand unserer Rede soll nicht Gestank sein, denn das ist ein ekelhaftes, obszönes Wort. Wir werden mit deiner freundlichen Erlaubnis, Master Rattray – die wir erhalten, hoffe ich – diese schreckliche Zunahme latenter Demoralisation untersuchen. Was mir am meisten auffällt, ist nicht so sehr die himmelschreiende Ungeniertheit, mit der ihr unter eurer Bude von Fäulnis noch groß tut (man muß sich zu diesem Diskurs Golfbälle als Interpunktionszeichen denken, aber der alte Rattray traf von jeher schlecht), als die zynische Immoralität, mit der ihr in eurem abschreckenden Aroma umherjubelt. Es sei mir fern, mich in die Angelegenheiten eines andern Hauses zu mischen – –«

(»Guter Gott!« sagte Prout, »das ist ja King!«

»Satz für Satz, Buchstabe für Buchstabe. Hören Sie«, sagte der kleine Hartopp.)

»Aber zu sagen, daß ihr stinkt, wie gewisse Burschen geringeren Schlages das behaupten, heißt nichts sagen, weniger als nichts. In der Abwesenheit eures geliebten Hausmeisters, für den niemand mehr Achtung hegen kann als ich, will ich, wenn ihr gestattet, die Masse, die unvergleichliche Ueberfülle, den erschreckenden Gestank der Gestänke, Sir, mit denen ihr es verstanden habt, euer Haus heimzusuchen – Oh, verflucht! Ich hab‘ den Rest vergessen, aber es war höchst wundervoll. Seid ihr uns nicht dankbar, daß wir uns in dieser Weise um euch bemühen, Rattray? ’ne Masse von Jungens wird sich nie die Mühe genommen haben, aber wir sind dankbar, Rattray.«

»Ja, wir sind dankbar, schrecklich dankbar«, grunzte M’Turk. »Wir vergessen die Seife nicht. Wir sind höflich. Warum bist du nicht höflich, Ratte?«

»Hallo!« Latte galoppierte heran, die Mütze über einem Auge. »Ermahnt die Stänker, he? Ich fürchte, sie sind zu weit gegangen, um zu bereuen. Rattray, White, Perowne, Malpas! Keine Antwort. Das ist betrübend. Das ist wahrhaftig betrübend. Bringt euren Toten heraus, ihr rotzigen Aussätzigen!«

»Ihr haltet euch für witzig, nicht wahr?« fragte Rattray, durch diese letzte Bemerkung aus seiner Würde gebracht. »Es ist bloß ’ne Ratte oder so was unterm Fußboden, wir werden’s morgen vorkriegen.«

»Versucht nicht, es auf ein armes, stummes Tier zu schieben, das noch dazu tot ist. Ich hasse Ausflüchte. Bei meiner Seele, Rattray!«

»Halt! Hartöppchen sagte in seinem ganzen Leben niemals: »Bei meiner Seele«, meinte Käfer kritisch.

(»Ah!« sagte Prout zu dem kleinen Hartopp.)

»Auf mein Wort, Sir, ich erwartete Besseres von dir, Rattray. Warum kannst du dich nicht wie ein Mann zu deinen Missetaten bekennen? Habe ich jemals Mangel an Vertrauen zu dir gezeigt?«

(»Es ist nicht Bosheit«, murmelte der kleine Hartopp, als ob er eine Frage beantwortete, die niemand getan hatte: »Es ist nur knabenhaft, bloß knabenhaft.«)

»Und dies war das Haus,« Latte ging vom leichten, scherzenden Tonfall zum scherzenden Ernst über, »das war die offene Senkgrube, die uns »Stinker« zu schimpfen wagte. Und jetzt – und jetzt versucht dasselbe Haus, sich hinter einer toten Ratte zu verstecken. Du langweilst mich, Rattray. Du machst mir Ekel. Du reizest mich unaussprechlich. Dank dem Himmel, daß ich ein Mann von Gleichmut bin – –«

(»Das geht an Ihre Adresse, Macrea«, sagte Prout.

»Ich fürchte, ich fürchte.«)

»Sonst würde ich mich kaum zurückhalten können vor deiner spöttischen Visage.«

» Cave!« erklang es gedämpft; Käfer hatte King erspäht, der den Korridor hinuntersegelte.

»Und was macht ihr hier, meine kleinen Freunde?« begann der Hausmeister. »Ich hatte eine flüchtige Idee – verbessert mich, wenn ich unrecht habe – daß, falls ich euch vor meinem Hause finden würde, ich euch mit höchst betrübenden Strafarbeiten und Zwangsarbeiten bedenken müßte!«

»Wir wollen gerade spazieren gehen, Sir«, sagte Käfer.

»Und ihr machtet Halt, um mit Rattray en route zu sprechen?«

»Ja, Sir. Wir haben Golfbälle geworfen«, erklärte Rattray, der aus dem Zimmer herauskam.

(»Die alte Ratte ist ein besserer Diplomat als ich gedacht hätte. Soweit ist er streng bei der Wahrheit geblieben«, sagte der kleine Hartopp. »Beachten Sie die ethische Seite dabei, Prout.«)

»Ah, ihr habt mit ihnen Sport getrieben, nicht wahr? Ich muß sagen, ich beneide euch nicht um die Wahl eurer Partner. Ich glaube, sie sind bei denselben boshaften Ausfällen gewesen, mit denen sie kürzlich so ekelerregend freigebig gewesen sind. Ich möchte euch ernstlich raten, in Zukunft höchst vorsichtige Schritte zu nehmen. Hebt die Golfbälle da auf.« Er ging weiter.

*

Tags darauf wurde Richards, der Zimmermann in der Marine gewesen war und allerhand kleine Arbeiten anvertraut erhielt, beordert, eine Diele im Schlafzimmer aufzuheben, da Mister King der Ansicht wäre, daß dort irgend etwas krepiert sein müßte.

»Wir brauchen unsere ganze Arbeit nicht eines derartigen belanglosen Zwischenfalls wegen zu vernachlässigen, wenn ich auch weiß, daß Kleinigkeiten kleinen Geistern gefallen. Ja, ich habe veranlaßt, daß die Dielen nach dem Frühstück unter Richards‘ Aufsicht gehoben werden. Ich zweifle nicht, daß es für einen gewissen Typus sogenannten Intellekts ungeheuer interessant sein wird; aber jeder Knabe aus meinem Hause oder aus einem andern, der sich auf der Treppe zum Schlafzimmer sehen läßt, hat eo ipso seine dreihundert Zeilen weg.«

Die Jungen versammelten sich nicht auf der Treppe, aber die meisten warteten vor Kings Hause. Richards war verpflichtet worden, die Neuigkeit vom Mansardenfenster herunterzuschreien und, wenn möglich, den Körper vorzuweisen.

»’s ist ’ne tote Katze, ’ne tote Katze!« Richards‘ Antlitz schaute purpurrot aus dem Fenster. Er war in dem Totenzimmer gewesen und hatte eine Zeitlang knien müssen.

»Zum Teufel auch mit der Katze,« schrie M’Turk, »’s ist ein toter Sextaner, der vom letzten Semester übrig gelassen ist. Drei Hurras für King und den toten Fuchs!«

Sie schrien laut Hurra!

»Zeigen Sie sie, zeigen Sie sie! Nur einen Blick darauf!« schrien die jüngeren. »Geben Sie sie den Wanzenjägern. (Das war der Naturwissenschaftliche Verein.) Die Katze hat sich den König angesehen und ist dran gestorben. Husch! Jeh! Joh! Miau! Ftz!« waren einige von den Lauten, die folgten.

Richards erschien wiederum.

»Sie ist ja« – er stockte plötzlich – »schon ’ne ganze Zeit tot gewesen!«

»Na, kommt, wir wollen spazieren gehen«, sagte Latte in einer wohl abgepaßten Pause. »Es ist alles höchst ekelhaft, und ich möcht‘ hoffen, daß das aussätzige Haus das nicht wieder tun wird.«

»Eine arme, unschuldige Katze totschlagen, jedesmal, wenn ihr euch nicht waschen wollt. Es ist doch schrecklich schwer, zwischen euch zu unterscheiden. Ich muß sagen, ich zieh‘ die Katze vor. Sie stinkt nicht ganz so sehr, was hast du vor, Käfer?«

» Je vais lachen. Je vais lachen tout le gesegneten Nachmittag. Jamais je n’ai gelacht comme je lacherai aujourd’hui. Wir wollen uns irgendwo verkriechen.«

Und das schien ihnen das beste.

*

Unten im Keller, wo die Gasflamme flackerte und die Stiefel auf Gestellen standen, hielt Richards inmitten seiner Wichsbürsten Oke vom Eßzimmer, Gumbly vom Speisesaal und der schönen Lena von der Waschküche einen Vortrag.

»Ja – sie war in ’nem schrecklichen Zustand und Verfassung. Sie macht‘ mich beinah‘ krank, sag‘ ich euch. Aber ich zog sie ‚raus, und ich macht‘ alles sauber, wenn sie auch stank wie der Kielraum im Schiff.«

»Sie hat gemaust, denk‘ ich, armes Ding«, sagte Lena.

»Dann hat sie anders gemaust wie jede erschaffne Katze von der Welt, Lena. Ich hob ’s oberste Brett auf, und sie lag auf ihrem Rücken, und ich dreht‘ sie um mit’m Besenstiel, und ihr Rücken war voll von dem Kalk zwischen den Dielen. Ja, ich sag‘ euch! Am untern Kopf, da lag, könnt‘ man sagen, ’n kleines Kopfkissen aus Kalk – das war ‚vor ihr zusammengefegt, weil man sie auf ihrem Rücken geschoben hat. Eine Katze ging niemals auf ihrem Rücken mausen, Lena. Irgendwer hat sie ganz ‚runtergeschoben, so weit, als er sie schieben konnt‘, Katzen machen sich nicht Kissen und sterben drauf. Sie wurd‘ langgeschoben, als sie gerad‘ kalt geworden war.«

»Oh, du bist zu schlau fürs Leben, Dicker. Du mußt heiraten, daß dir ’n bißchen Vernunft beigebracht wird«, sagte Lena, Gumblys Braut.

»Hab‘ ’n bißchen gelernt, noch eh‘ manche Mädchen geboren waren. Hab‘ in der Marine der Königin gedient, und da lernt man’s, die Augen zu gebrauchen. Geh und denk‘ an deine eigene Arbeit, Lena.«

»Meinst du das wirklich, was du uns erzählst?« fragte Oke.

»Frag‘ mich keine Fragen, ich will dir keine Lügen sagen, ’n Kugelloch, g’radedurch von einem End‘ zum andern, un‘ zwei Herzrippen gebrochen wie ’n toter Ast. Ich hab’s gesehen, als ich sie umdrehte. Sie sind schlau, o sie sind schlau. Aber sie sind nich‘ zu schlau für den alten Richards, war mir schon ganz auf der Zungenspitz‘, es zu sagen, aber – er hat gesagt, wir waschen uns nie, ja. Is‘ ihm verflucht recht geschehen, sag‘ ich.«

Richards spuckte auf einen frischen Stiefel und fuhr in seiner Arbeit fort, aus vollem Halse lachend.

  1. Englisches Sprichwort. Hier ein unübersetzbares Wortspiel auf house-master King bezüglich.

Die Impressionisten.

Die Impressionisten.

IV.

Alle vier Hausmeister hatten sich im Arbeitszimmer des Kaplans zusammengefunden, um den Sonnabendabend zusammenzusitzen und zu rauchen. Die drei Pfeifen und die eine Zigarre, die da freundschaftlich ihren Rauch gemeinsam empordampften, waren ein Beweis für die vorzügliche Taktik Ehrwürden John Gilletts. Seit der Entdeckung der Katze war King allzu bereit gewesen, eine Beleidigung zu sehen, wo gar keine gemeint war, und Ehrwürden John, Beichtvater und allgemeiner Vertrauter, hatte sich eine Woche lang abgemüht, wieder ein gutes Einvernehmen herzustellen. Er war fett, glattrasiert bis auf einen großen Schnurrbart, von unerschütterlich guter Laune und, wie diejenigen, die ihn am wenigsten liebten, behaupteten, ein heuchlerischer Jesuit. Er lächelte wohlwollend auf sein Werk herab – vier schwergeprüfte Männer, die sich ohne viel Malice unterhielten.

»Nun denken Sie mal nach«, sagte er, als die Unterhaltung diese Wendung nahm. »Ich will nichts andeuten. Aber jedesmal, wenn irgend jemand direkt gegen Zimmer Nummer fünf eingeschritten ist, war der Erfolg mehr oder weniger demütigend für ihn.«

»Das kann ich nicht zugeben. Ich mahle den trefflichen Käfer täglich zum Heil seiner Seele zu Pulver, und die andern mit ihm«, erklärte King.

»Na, nehmen Sie mal Ihren eigenen Fall, King, und gehen Sie ein paar Jahre zurück. Entsinnen Sie sich noch, wie Prout und Sie ihnen auf der Spur waren – wegen Hüttenbauen und Grenzenüberschreiten, nicht wahr? Haben Sie Oberst Dabney vergessen?«

Die andern lachten. King liebte es nicht, an seine Karriere als Wilddieb erinnert zu werden.

»Das war ein Beispiel. Dann, als Sie Ihre Zimmer unter ihnen hatten – ich sagte immer, das hieße, sich in die Höhle des Löwen begeben – quartierten Sie sie aus.«

»Weil sie entsetzlichen Lärm vollführt hatten. Sie werden doch nicht, Gillett, entschuldigen wollen?«

»Ich sage nur, Sie quartierten sie aus. Am selben Abend wurde aus Ihrem Arbeitszimmer ein Trümmerfeld gemacht.«

»Durch Karnickelei – der ganz verflucht betrunken war – vom Wege aus«, sagte King. »Was hat das – –?«

Ehrwürden John fuhr fort:

»Kürzlich merken sie, daß Verleumdungen über ihre persönliche Reinlichkeit ausgesprengt werden – ein höchst delikater Punkt bei allen Jungen. Sehr schön. Beachten Sie, wie in jedem Fall die Strafe dem Verbrechen entspricht. Eine Woche, King, nachdem Ihr Haus sie »Stinker« geschimpft hat, wird Ihr Haus, gelinde gesagt, durch eine tote Katze ausgestunken, der es beliebt, gerade an dem Fleck zu krepieren, wo sie Sie am meisten plagen kann. Wieder der weitreichende Arm des Zusammentreffens! Summa: Sie klagen sie der Grenzüberschreitung an. Durch irgendwelchen absurden Zusammenhang verschiedener Umstände – sie mögen nun dahinterstecken oder nicht – kommt es dahin, daß Sie und Prout als die erscheinen, die fremdes Gebiet betreten haben. Sie exmittieren sie. Für eine Weile wird Ihr Arbeitszimmer unbewohnbar gemacht. Im letzten Fall habe ich die Parallele schon gezogen. Nun?«

»Sie lag mitten unter Whites Schlafzimmer«, sagte King. »Die Dielen liegen dort doppelt, um jedes Geräusch zu ersticken. Kein Junge, selbst aus meinem eigenen Hause nicht, könnte möglicherweise die Dielen aufgehoben haben, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen – und Karnickelei war jenen Abend phänomenal betrunken.«

»Sie sind wunderbar vom Glück begünstigt. Das hab‘ ich schon immer gesagt. Ich persönlich hab‘ sie ungeheuer gern und besitze auch, glaube ich, ein wenig ihr Vertrauen. Ich gestehe, ich liebe es, »Padre« genannt zu werden. Zwischen mir und ihnen ist Frieden; deshalb werde ich auch nicht mit erheuchelten Beichten von Diebereien geplagt.«

»Sie meinen Masons Fall?« fragte Prout heftig. »Das hat mich immer als besonders skandalös getroffen. Ich meine, der Direktor hätte die Sache gründlicher verfolgen sollen. Mason mag irregeführt worden sein, aber er ist wenigstens durch und durch aufrichtig und meint es gut.«

»Ich muß gestehen, ich kann Ihnen nicht beistimmen, Prout«, sagte Ehrwürden John. »Er fiel auf irgendein dummes Gewäsch herein, daß sie gestohlen hätten, hielt sich – soviel ich weiß, ohne jede Untersuchung – an die Aussage eines andern Jungen, und – offen gesagt – ich meine, er verdiente, was er abbekam.«

»Sie haben mit Ueberlegung Masons beste Gefühle beleidigt«, erklärte Prout. »Ein Wort von ihnen zu mir hätte die ganze Sache erspart. Sie zogen es aber vor, ihn in die Falle zu locken, mit seiner Unkenntnis ihrer Charaktere ihr Spiel zu treiben.«

»Mag sein,« meinte King, »aber ich kann Mason nicht leiden. Ich kann ihn aus demselben Grunde nicht leiden, den Prout zu seinen Gunsten anführt. Er meint’s gut.«

»In unserer Kriminalgeschichte ist Diebstahl noch nicht vorgekommen – wenigstens in meinem Hause«, sagte der kleine Hartopp.

»Na, ist das nicht ein bißchen viel gesagt für den Leiter eines Hauses, das den unschuldigen Hungerleidern von Northam sieben Stück Vieh wegtrieb?« meinte Macrea.

»Stimmt schon«, sagte Hartopp gleichmütig. »Aber das und über die Zeit ausbleiben und ein bißchen wilddieben und Dohlen auf den Klippen jagen, das ist unsere Rettung.«

»Es macht uns viel mehr Aerger als ein Schul – –« begann Prout.

»Als es irgendein vertuschter Skandal tun könnte? Ganz richtig. Unser Ruf bei den Landleuten ist sehr schlecht. Aber ich würde viel lieber mit ’ner Menge ingeniöser Streiche von der Art zu tun haben, als mit – gewissen andern Angriffen.«

»Das mag alles ganz richtig sein, aber sie sind nicht wie andere Knaben, anormal und, meiner Meinung nach, verdorben«, beharrte Prout. »Die moralische Wirkung ihrer Taten muß den Weg für größeren Aerger bahnen. Ich weiß nicht recht, was ich mit ihnen anfangen soll. Ich möchte sie trennen.«

»Natürlich möchten sie das wohl; aber sie haben sechs Jahre lang zusammen die Schule besucht. Ich würde keine Lust haben, es zu tun«, sagte Macrea.

»Sie brauchen das redaktionelle »wir«, fing King auf einmal an. »Es ärgert mich, »wo ist deine Prosaarbeit, Corkran?« – »Ja, Sir, wir sind noch nicht ganz damit fertig, wir werden sie in einer Minute bringen«, und so weiter. Und mit den andern ist’s ebenso.«

»In diesem »wir« steckt doch sehr viel drin«, meinte der kleine Hartopp. »Sie wissen, sie haben bei mir Trigonometrie. M’Turk mag etwas davon begriffen haben, aber Käfer ist gerade wie die Wilden, die an sinus und cosinus zugrunde gehen. Er schreibt ganz vergnügt von Latte ab, der wirklich Freude an Mathematik hat.«

»Warum machen Sie dann nicht ein Ende?« fragte Prout.

»Es gleicht sich bei den Prüfungsarbeiten aus. Dann weist Käfer leere Blätter auf und vertraut auf sein »Englisch«, das ihn vor einem Durchfall retten soll. Ich denke, er verbringt seine meiste Zeit damit, Verse zu schreiben.«

»Ich bitte den Himmel, er möchte ein wenig von seiner Energie in dieser Richtung auf Elegien verwenden.« King richtete sich in die Höhe. »Er ist, mit alleiniger Ausnahme Lattes, der allerschlechteste Verfertiger »barbarischer Hexameter«, der mir je vorgekommen ist.«

»In dem Arbeitszimmer wird die Arbeit verteilt«, meinte der Kaplan. »Latte macht die Mathematik, M’Turk das Latein und Käfer hilft ihnen beim Englischen und Französischen, wenigstens, als er vorigen Monat im Krankenzimmer war – –«

»Und simulierte«, warf Prout ein.

»Sehr möglich – da bemerkte ich ein sehr deutliches Nachlassen in ihren »Roman d’un jeune homme pauvre«-Übersetzungen.«

»Es ist geradezu unmoralisch, meine ich«, erklärte Prout. »Ich bin immer gegen das Arbeitszimmer-System gewesen.«

»Es würde schwer fallen, ein Arbeitszimmer zu finden, wo die Jungen sich untereinander nicht helfen; aber in Nummer fünf ist die Sache wahrhaftig in ein System gebracht worden«, sagte der kleine Hartopp. »Sie haben ein System in den meisten Dingen.«

»Es scheint wenigstens so«, sagte Ehrwürden John. »Ich habe einmal gesehen, wie M’Turk die Treppe hinaufgejagt wurde, um die »Elegie auf einen Friedhof« zu verfassen, während Käfer und Latte Fußball spielen gingen.«

»Es läuft auf systematisches Abschreiben hinaus«, erklärte Prout, und seine Stimme wurde tiefer und tiefer.

»So schlimm ist das nicht«, versetzte der kleine Hartopp. »Sie können einer Kuh nicht das Violinspielen beibringen.«

»Es ist ganz zielbewußtes Abschreiben.«

»Wir haben aber doch unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses gesprochen, nicht wahr?« fragte Ehrwürden John.

»Sie sagen, 3ie haben gehört, wie sie ihre Arbeit in dieser Weise verteilten, Gillett«, beharrte Prout.

»Gütiger Himmel! Machen Sie mich nicht zum Kronzeugen, bester Kollege. Hartopp ist gleichfalls mitschuldig, wenn sie je herausbekämen, daß ich geschwatzt habe, würden unsere Beziehungen darunter leiden – und ich schätze sie.«

»Ich meine, Sie nehmen in dieser Angelegenheit eine schwache Haltung ein«, sagte Prout und sah sich nach Hilfe um. »Es würde vielleicht besser sein, das Arbeitszimmer aufzulösen – eine Zeitlang, nicht wahr?«

»Oh, lösen Sie es auf alle Fälle auf«, meinte Macrea. »Dann werden wir sehen, ob Gilletts Theorie richtig ist.«

»Seien Sie vernünftig, Prout. Lassen Sie sie in Ruhe, oder Unheil wird über Sie kommen? und was noch wichtiger ist, sie werden auf mich ärgerlich sein. Ich bin zu fett – leider! – um von schlimmen Jungen geplagt zu werden, wohin wollen Sie?«

»Unsinn! Sie werden es nicht wagen – aber ich will mir die Sache überlegen«, sagte Prout. »Man muß drüber nachdenken. Sie haben ganz zielbewußt abgeschrieben, und ich muß an meine Pflicht denken.«

»Er ist wahrhaftig imstande, den Jungen ihr Ehrenwort abzunehmen. Ich bin’s, der ein Narr ist.« Ehrwürden schaute voll Bedauern im Kreise umher. »Niemals wieder will ich vergessen, daß ein Lehrer kein Mann ist. Merken sie sich meine Worte«, sagte Ehrwürden John. »Es wird Spektakel geben.«

Am gelben Tiber aber
Herrscht schrecken rings und Lärm.

Aus blauem Himmel (sie freuten sich noch über den Katzenkrieg) war Mr. Prout in ihr Zimmer hereingestürmt, hatte ihnen eine Vorlesung über die Verwerflichkeit des Abschreibens gehalten und sie ersucht, am Montag wieder in den gemeinschaftlichen Arbeitssaal zurückzukehren. Sie hatten den ganzen friedlichen Sabbat über gewütet, solo und im Chorus, denn ihr Vergehen fiel mehr oder weniger alltäglich in allen Arbeitszimmern vor.

»Was hat’s für ’nen Zweck, zu fluchen?« meinte Latte schließlich. »Wir sitzen alle in demselben Boot. Wir müssen zurückgehen und uns wieder mit dem Haus zusammentun. Ein Fach im Arbeitssaal und ’nen Platz in der Arbeitsstunde in Nummer zwölf.« Voll Bedauern schaute er sich in dem gemütlichen Arbeitszimmer um, das M’Turk, der unter ihnen in Kunstsachen zu entscheiden hatte, mit einem Fußgesims, einem Paneel und Cretonnegardinen ausgestattet hatte.

»Ja! Huftier lauert im Arbeitssaal wie ’n brummiger alter Jagdhund und patzt auf, ob wir auch nicht was vorhaben. Ihr wißt er läßt in diesen Tagen sein Haus nie allein«, sagte M’Turk. »Oh, es wird ’ne tolle Sache sein.«

»Warum seid ihr nicht unten und spielt Zirkel? Ich habe kräftige, gesunde Jungen gern. Ihr müßt nicht im Arbeitssaal hocken, warum habt ihr kein Interesse für euer Haus? Hah!« zitierte Käfer.

»I, warum denn nicht! Los! Wir wollen Interesse am Hause nehmen, wir wollen gar nicht aufhören mit Interesse. Ein Jahr lang hat er uns nicht im Arbeitssaal gehabt, wir haben ’n schönes Stück seitdem gelernt. Oh, wir werden ein herrliches Haus daraus machen, eh‘ wir abgehen, wißt ihr noch, jener Bursche in »Eric« oder »St. Winifreds« – so ’ne Art Belial? Ich will Belial sein«, sagte Latte mit verführerischem Grinsen.

»Famos!« meinte Käfer, »und ich Mammon sein. Ich will Geld mit Wucher ausleihen – das sollen sie ja in allen Schulen tun – einen Penny die Woche für einen Schilling; das wird Huftiers schwächlichen Verstand beunruhigen. Du kannst Luzifer sein, Turkey.«

»Was muß ich dabei tun?« M’Turk grinste ebenfalls.

»Hochverrat – und Kabalen – und Boykott. Fang‘ solche heimlichen Intrigen an, von denen Huftier immer redet. Los!«

Das Haus empfing sie bei ihrem Fall mit jenem Gemisch von Spottlust und Sympathie, das allen Jungen entgegengebracht wird, die aus ihrem Arbeitszimmer herausgesetzt sind. Ihr zurückgezogenes Leben machte die drei noch interessanter.

»Ganz wie in alter Zeit, nicht wahr?« Latte suchte sich ein Fach aus und warf seine Bücher hinein, »Wir sind gekommen, um mit euch ’ne weile zu spaßen, meine jungen Freunde, denn unser geliebter Hausmeister hat uns aus unseren Löchern ‚rausgeworfen.«

»Ist euch ganz recht,« sagte Orrin, »ihr Abklauer!«

»Das darf nicht sein«, rief Latte, »wir können unsern wackligen Ruf nicht aufrecht erhalten, Orrin, mein Lie–ber, wenn du solche Bemerkungen machst.«

Sie stürzten sich zärtlich über den Jungen, stießen ihn nach dem offenen Fenster und zogen das Schiebefenster dicht bis auf seinen Nacken herunter. Mit derselben Geschwindigkeit banden sie ihm mit einem Stück Bindfaden die Daumen hinter dem Rücken zusammen und zogen ihm dann, da er wild mit den Füßen stieß, noch die Schuhe aus. So fand ihn Mr. Prout durch Zufall ein paar Minuten später, guillotiniert und in hilfloser Lage, umringt von einer krampfhaft lachenden Menge, die ihm nicht beistehen wollte.

Latte hatte unterdessen in einem oberen Arbeitssaal Verbündete zu einem Rachezug gesammelt. Orrin kam plötzlich an der Spitze einer Truppe heraufgerast, und der Arbeitssaal wurde eine Wolke von Staub, in der Jungen rangen, trampelten, schrien und kreischten. Ein Tisch wurde in den Tumult hineingefahren, ein Haufe von Kriegern rannte gegen eine Türfüllung, daß sie zersplitterte, ein Fenster wurde zerbrochen und eine Gasflamme erlosch. Durch den Wirrwarr gedeckt, entschlüpften die drei auf den Korridor, von wo sie Vorübergehende heranriefen und in den Kampf schickten.

»Zu Hilfe, Kings! Kings! Im Arbeitssaal Nummer zwölf! Zu Hilfe, Prouts – Prouts! Zu Hilfe, Macreas! Zu Hilfe, Hartopps!«

Die jüngeren Schüler schwärmten heraus wie ein Bienenschwarm, taten keine Fragen, kletterten die Treppe herauf und stürzten sich in das Getümmel.

»Nicht schlecht für die Arbeit am ersten Abend«, sagte Latte und rückte seinen Kragen zurecht. »Ich glaub‘, Prout wird ’n bißchen ärgerlich sein. ’s wird besser sein, wenn wir für ein Alibi sorgten.« So saßen sie bis zur Arbeitsstunde an Mr. Kings Fenstergitter.

»Seht ihr,« sprach Latte, als sie mit der gemeinen Herde zusammen zur Arbeitsstunde hinaufschlenderten, »wenn die Häuser schön durcheinander gebracht werden und sich ‚rumprügeln, kann man drauf wetten, daß irgendein Esel ’nen wirklichen Spektakel draus macht. Hallo, Orrin, du siehst so verwirrt aus.«

»Ist alles deine Schuld, du Biest. Du hast es angefangen. Wir haben jeder zweihundert Zeilen gekriegt, und Huftier sucht euch. Seht mal, was das Schwein, Malpas, mir am Auge gemacht hat!«

»Gefällt mir, daß du sagst, wir haben es angefangen. Wer hat uns Abklauer geschimpft? Kann dein kindischer Verstand noch immer nicht Ursache und Wirkung unterscheiden? Eines Tages wirst du ‚rausfinden, daß es sich nicht lohnt, sich über Nummer fünf lustig zu machen.«

»Wo ist der Schilling, den du mir schuldig bist?« fragte Käfer plötzlich.

Latte konnte nicht sehen, daß Prout hinter ihm war, aber er händigte das Geldstück ohne Zaudern aus.

»Ich war dir bloß neun Pence schuldig, du alter Wucherer.«

»Du hast die Zinsen vergessen,« sagte M’Turk, »’n halben Pence die Woche auf den Schilling ist Käfers Satz. Du mußt verflucht reich sein, Käfer.«

»Na – also Käfer pumpte mir sechs Pence –« Latte schwieg plötzlich und tat, als ob er an den Fingern nachrechnete. »Sechs Pence am neunzehnten, nicht wahr?«

»Ja, aber du hast vergessen, du hast mir keine Zinsen für den andern Schilling gegeben, den ich dir vorher gepumpt hab‘.«

»Du hast aber meine Uhr als Pfand genommen.« Das Spiel entwickelte sich beinah‘ automatisch.

»Ganz egal, bezahl‘ mir meine Zinsen, oder ich rechne dir Zinseszinsen an. Denk‘ dran, ich hab‘ ’nen Schuldschein von dir!« schrie Käfer.

»Du bist ’n kaltblütiger Jude«, brummte Latte.

»Husch!« sagte M’Turk, und zwar recht laut, und verschwand, als Prout auf sie zukam.

»Ich habe euch jetzt eben bei jener unangenehmen Sache im Arbeitssaal nicht geseh’n«, begann er.

»Wie, Sir? Wir sind eben von Mister Kings Zimmer hergekommen«, sagte Latte. »Entschuldigen Sie, Sir, woran soll ich arbeiten? Der Tisch, an dem ich sitzen sollte, ist zerbrochen, und die Bank schwimmt voll Tinte.«

»Such‘ dir einen andern Platz – such‘ dir einen andern Platz. Denkst du etwa, ich soll dein Kindermädchen sein? Ich möchte wissen, ob du deinen Kameraden Geld zu borgen pflegst?«

»Nein, Sir; nicht regelmäßig, Sir.«

»Es ist eine höchst tadelnswerte Gewohnheit. Ich glaubte, daß wenigstens mein Haus frei davon wäre. Selbst bei meiner schlechten Meinung von dir hätte ich kaum gedacht, daß dies einer deiner Fehler wäre.«

»Es ist doch nichts schlimmes dabei, Geld zu verborgen, Sir, nicht wahr?«

»Ich werde mich mit dir nicht in ein Gespräch über Moralbegriffe einlassen. Wieviel hast du Corkran geborgt?« »Ich – ich weiß nicht ganz genau«, antwortete Käfer. Es ist schwer, in aller Eile etwas zu erfinden, wenn eine Sache schon im Gange ist.

»Du schienst es noch eben gut genug zu wissen.«

»Ich glaube, es sind zwei Schilling und vier Pence«, sagte M’Turk mit einem Blick kalter Verachtung auf Käfer.

In den hoffnungslos verwickelten Finanzen ihres Arbeitszimmers war das gerade die Summe, auf die M’Turk und Käfer Anspruch machten als ihren Anteil beim Versatz von Lattes zweitbesten Sonntagshosen. Latte jedoch hatte zwei Semester hindurch darauf beharrt, daß das Geld seine Gebühr für Besorgung des Versatzgeschäftes wäre, und hatte es natürlich in einem Schmaus für die Zimmergesellschaft angelegt.

»Paß nun einmal auf! Du wirst deine Operationen als Geldverleiher nicht fortsetzen. Zwei Schilling und vier Pence sagtest du, Corkran?«

Latte hatte nichts gesagt und fuhr darin fort. »Dein Einfluß zum Ueblen ist schon ohnehin stark genug, ohne daß du dir noch ein Uebergewicht über deine Kameraden erkaufst.« Er fühlte in seinen Taschen nach und (o Freude) förderte zwei Schilling und vier Pence zutage. »Bring‘ mir, was du Corkrans Schuldschein nennst, und danke mir, daß ich die Sache nicht weiter verfolge. Das Geld wird dir von deinem Taschengeld abgezogen, Corkran. Die Quittung sofort auf mein Arbeitszimmer.«

Das kümmerte sie wenig! Zwei Schilling und vier Pence auf einmal an irgendeinem hungrigen Tage der Woche sind sechs wöchentliche Sixpence wert.

»Was, zum Deiwel, ist aber ’n Schuldschein?« fragte Käfer. »Ich hab’s bloß in ’nem Buch gelesen.«

»Nun mußt du gefälligst einen machen«, sagte Latte.

»Ja, aber unsere Tinte wird erst ’nen Tag später schwarz. Ich mein‘ er wird das merken.«

» Der nicht. Er ist viel zu ärgerlich«, meinte M’Turk. »Schreib‘ deinen Namen auf ’n Stück Papier von Strafarbeiten, Latte, und schreib‘: »Ich schulde dir zwei Schilling und vier Pence.« – Bist du mir nicht dankbar, Käfer, daß ich das aus Prout ‚rausgequetscht habe? Latte hätte nie bezahlt. – Was, du Esel?«

Mechanisch hatte Käfer das Geld Latte ausgehändigt, als dem Schatzmeister ihres Zimmers. Jahrelange Gewohnheit läßt sich nicht so leicht überwinden.

Nach Aushändigung des Dokuments setzte Prout Käfer die Verwerflichkeit des Geldverleihens auseinander, das, wie alles andere, mit Ausnahme zwangsweisen Kricketspielens, Häuser verderbe und das gute Einvernehmen zwischen Knaben zerstöre, die Jugend kalt und berechnend mache und allem Uebel die Tür öffne. Schließlich wüßte Käfer vielleicht etwas von anderen Fällen? Wenn das der Fall wäre, wäre es seine Pflicht, es als einen Beweis seiner Reue seinem Hausmeister wissen zu lassen. Namen brauchten nicht genannt zu werden.

Käfer wußte nichts – wenigstens, er war nicht ganz sicher, Sir. Wie konnte er gegen seine Freunde aussagen! Das Haus könnte ja natürlich – hier heuchelte er schmerzvolle Delikatesse – voll von solchen Dingen sein. Er war nicht in der Lage, etwas darüber zu sagen. Irgendwelche offene Konkurrenz in seinem Geschäft wäre ihm nicht vorgekommen; wenn aber Mr. Prout der Ansicht wäre, die Sache berühre die Ehre des Hauses (Mr. Prout war ganz und gar dieser Meinung), dann würden vielleicht die Hausordner besser– – –

Er spann die Unterhaltung die halbe Arbeitsstunde hindurch aus.

»Und,« sagte der Amateur-Shylock, als er in den Arbeitssaal zurückkehrte und sich neben Latte niederließ, »wenn er jetzt nicht glaubt, das Haus ist davon angesteckt, dann bin ich ’n richtiger Holländer – so steht die Sache … Ich bin bei Mr. Prout in seinem Arbeitszimmer gewesen, Sir.« – Dies galt dem Lehrer, der die Aufsicht in der Arbeitsstunde führte. »Er hat gesagt, ich könnte mich hinsetzen, wo ich wollte, Sir … Oh, er trieft ganz und gar vor Aufregung … Ja, Sir, ich frag‘ nur Corkran, ob ich in sein Tintenfaß eintauchen darf.«

Nach dem Gebet wurden sie auf dem Wege zu den Schlafzimmern von Harrison und Craye angefallen, zwei Hausordnern, die in ihrem Amte sehr eifrig waren. Die beiden waren sehr ärgerlich.

»Was hast du jetzt mit Hufbiest angefangen, Käfer? Er hat den ganzen Abend auf uns geschimpft.«

»Weshalb hat seine Ehrwürdige Durchleuchting euch denn vorgehabt?« fragte M’Turk.

»Weil Käfer Latte Geld gepumpt hat,« fing Harrison an; »und dann kam Käfer und hat ihm erzählt, daß ziemlich viel Geldverborgen im Haus vorkäme.«

»Nein, das stimmt nicht«, sagte Käfer, der auf einem Stiefelkasten saß. »Das g’rad‘ hab‘ ich ihm nich‘ erzählt. Ich hab‘ einfach die Wahrheit gesagt. Er hat mich gefragt, ob so was viel im Haus vorkäm‘, und ich hab‘ gesagt, ich wüßt‘ nichts davon.«

»Er denkt, ihr seid ’ne Bande von gemeinen Shylocks«, meinte M’Turk. »’s ist noch ganz gut für euch, daß er nich‘ glaubt, ihr seid Einbrecher. Ihr wißt, wenn er mal in seinem gewissenhaften alten Kopf ’ne Idee hat, geht sie ihm auch nich‘ wieder ‚raus.«

»’n Mensch, der’s gut meint. Hat alles zum Besten getan.« Latte bog sich graziös um das Treppengeländer. »Dolle Sache! Schlecht für die Ehre des Hauses – sehr schlimm!«

»Halt’s Maul«, sagte Harrison. »Ihr Burschen tut immer so zu uns, als ob ihr uns ausschimpft, wenn wir euch ausschimpfen wollen.«

»Ihr seid ’n bißchen zu unverschämt«, setzte Craye hinzu.

»Ich weiß nicht, wo da Frechheit ist, außer auf eurer Seite, wenn ihr euch in ’ne Privatangelegenheit zwischen mir und Käfer einmischt, die schon von Prout in Ordnung gebracht ist.« Latte blinzelte den andern vergnügt zu.

»Das ist das schlimmste bei der ganzen Geschichte«, sagte M’Turk und zündete das Gas an. »Sie werden zu Aufsehern gemacht, bevor sie überhaupt schon Takt haben, und dann ärgern sie Leute, die ihnen wirklich helfen könnten, auf die Ehre des Hauses aufzupassen.«

»Wir wollen euch nicht bemühen, das zu tun«, sagte Craye hitzig.

»Weshalb setzt ihr uns denn so zu?« fragte Käfer. »’s ist eure eigne Schuld; ihr habt so verflucht nachlässig auf’s Haus aufgepaßt, daß Prout glaubt, ’s ist ’n Nest von Geldverleihern. Ich hab‘ ihm erzählt, daß ich Latte Geld gepumpt hab‘, und kein andrer. Ich weiß nicht, ob er mir glaubt, aber ich hab‘ meine Schuldigkeit getan. Das übrige ist eure Sache.«

»Jetzt finden wir ‚raus,« erhob Latte seine Stimme, »daß augenscheinlich ’ne ganz organisierte Verschwörung im ganzen Haus ist. Soweit wir wissen, pumpen und verpumpen die Füchse vielleicht weit über ihre Mittel. Wir sind dafür nicht verantwortlich. Wir sind bloß Unteroffiziere und Gemeine.«

»Seid ihr nun überrascht, wenn wir nicht mit dem Haus zusammen sein wollen?« fragte M’Turk voll Würde. »Wir haben uns in unserm Zimmer zu uns gehalten, bis wir ‚rausgesetzt wurden, und nu‘ finden wir uns – in solche Sachen ‚reingemischt. ’s einfach scheußlich.«

»Und dann droht ihr uns und schnauzt uns auf den Treppen an, wegen Sachen, die ganz und gar euch allein angehn. Ihr wißt, wir sind nicht »Aufseher.«

»Und dann habt ihr uns jetzt noch gedroht, daß wir von den Aufsehern Prügel kriegen«, sagte Käfer, der dreist zu erfinden begann, als er die Verwirrung auf den Mienen des Feindes sah.

»Und wenn ihr euch einbildet, es wird euch was nützen, wenn ihr so auf uns loskommt, dann habt ihr euch hübsch geirrt. So ist die Sache, gute Nacht.«

Sie kletterten die Treppe empor, jeder Zoll ihres Rückens beleidigte Unschuld.

»Aber – aber was, zum Deiwel, haben wir denn getan?« sagte Harrison bestürzt zu Craye.

»Weiß nicht. Bloß – es kommt immer so, wenn einer was mit ihnen zu tun hat. Sie tun immer so verflucht plausibel.«

Und Mister Prout rief die guten Jungen von neuem in sein Arbeitszimmer und war sehr erfolgreich darin, sein und ihr unschuldiges Gemüt noch zehn Faden tiefer in augenblendende Wirrnis zu stürzen. Er sprach von Schritten und Maßregeln, von Takt und loyalem Benehmen im Hause und gegen das Haus, und ersuchte sie dringend, die Sache taktvoll anzufassen.

Sie erkundigten sich also bei Käfer, ob er irgendwelche Beziehungen zu einem andern Geschäft hätte. Käfer begab sich stracks zu seinem Hausmeister und wünschte zu wissen, mit welchem Recht Harrison und Craye eine Sache wieder aufgegriffen hätten, die schon zwischen ihm und seinem Hausmeister in Ordnung gebracht worden wäre. In der Rolle der beleidigten Unschuld wurde Käfer von keinem andern Jungen erreicht.

Prout kam darauf der Gedanke, er hätte wohl nicht recht gegen den Verbrecher gehandelt, der sein Vergehen durchaus nicht abzuleugnen oder zu bemänteln versucht hatte. Er ließ Harrison und Craye holen und tadelte sie recht sanft des Tones wegen, den sie gegen einen reuigen Sünder angenommen hätten. Als sie dann wieder nach ihrem Zimmer zurückkehrten, ergingen sie sich in Verzweiflungsreden. Hals über Kopf nahmen sie dann im ganzen Hause ein Verhör vor, brachten die Füchse fast bis zu Krämpfen und förderten schließlich mit erschrecklichem Pomp und viel Parade das natürliche und unvermeidliche System kleiner Leihgeschäfte zutage, das unter kleinen Jungen gang und gäbe ist.

»Ja, Harrison, Thornton II hat mir am vorigen Sonnabend ’nen Penny geborgt, weil ich das Fenster zerschlagen hatte und es bezahlen mußte, und ich hab‘ ihn in Keytes Laden ausgegeben. Ich hab‘ nicht gewußt, daß da was Schlimmes dabei war. Und Wray I hat sich zwei Pence von mir geborgt, als mein Onkel mir ’ne Postanweisung auf fünf Schilling geschickt hatte; ich hab‘ sie bei Keyte einkassiert. Aber er will sie mir vor den Ferien wieder abgeben. Wir haben nicht gewußt, daß da was Unrechtes dabei war.«

Stundenlang quälten sie sich in dieser Weise ab, ohne irgendwelche Wuchergeschäfte herauszubekommen, noch etwas, das Käfers alles übersteigend hohem Zinsfuß nur annähernd gleichkam. Die größeren Schüler – denn Respekt gegen die Aufseher gehörte, ausgenommen bei obligatorischen Spielen, nicht zu den Traditionen der Schule – erklärten ihnen kurz angebunden, sie möchten die Nase nicht in ihre Angelegenheiten stecken. Sie wollten weder Zeugnis ablegen noch irgendwelche Aussagen machen. Harrison wäre ein Idiot, und Craye wäre auch einer; der größte von allen aber wäre, meinten sie, ihr Hausmeister. Wenn ein Haus ganz und gar in Unruhe ist, so rein sein Gewissen auch sein mag, zersplittert es sich in Trupps und Gesellschaften – kleine Versammlungen in der Dämmerstunde, Zusammenkünfte im Schrankzimmer und Gruppen auf dem Korridor. Und wenn sich von Gruppe zu Gruppe mit unendlicher Geheimnistuerei drei verruchte Jungen stehlen und » Cave« schreien, wenn gar kein Anlaß zur Vorsicht vorliegt, und eben erfundenes belangloses Zeug im strengsten Vertrauen mitteilen und dann flüstern: »Erzähl’s nicht weiter!« – dann kann solch ein Haus mit einer sehr schönen Wolke von Komplott und Intrigen umgeben werden.

Nach ein paar Tagen dämmerte es Prout, daß er sich in einer Atmosphäre fortwährenden Hinterhalts bewegte. Geheimnisse umschlossen ihn auf allen Seiten, Warnrufe liefen seinen schweren Füßen voraus, und Losungsworte wurden hinter seinem aufmerksamen Rücken gemurmelt. M’Turk und Latte erfanden allerlei verdrehte und müßige Sätze – Stichworte, die durch das Haus fegten wie Feuer durch Stroh. Es war ein seltener Spaß. Ein einziges praktisches Ergebnis hatte die Wucherkommission doch erzielt, denn wenn ein Junge einen andern mit scheuem Ernst fragte: »Meinst du, daß viel von solchen Sachen im Haus vorgehen?« erhielt er die Antwort: »Na, weißt du, man kann nicht vorsichtig genug sein.« – Die Wirkung solcher Dinge auf einen Hausmeister von menschlichem Gewissen und guten Absichten kann man sich vorstellen. Und ferner ist es auch für einen Mann, der die Achtung der ihm Anvertrauten aufrichtig zu gewinnen bemüht ist, nicht angenehm, sich – wenn auch nur aus gewisser Entfernung – von einem düstern, mürrischen Kelten mit geläufiger Zunge als »Popularitätsprout« bezeichnet zu hören. Ein Gerücht, daß allerlei Geschichten – ungewöhnliche Geschichten – in der Dämmerstunde im Arbeitsraum erzählt werden, von einem Jungen, der durchaus nicht sein Vertrauen besitzt, bringt einen solchen Mann in Aufregung; und selbst sorgfältig überlegte und zarte Höflichkeit – denn Latte umwickelte Prout mit jener Art von Höflichkeit, mit der weise, alte Menschen einem verwirrten Kinde begegnen – stellt seine Gemütsruhe nicht wieder her.

»Der Ton des Hauses scheint sich verändert zu haben – zum Nachteil verändert zu haben«, sagte Prout zu Harrison und Craye. »Habt ihr es bemerkt? Ich argwöhne zwar keinen Augenblick.« – Er argwöhnte niemals etwas, tat aber andererseits auch niemals etwas anderes. Mit den besten Absichten der Welt hatte er schließlich die beiden Hausaufseher in einen Zustand hineingebracht, der so nahe an nervöse Erschöpfung grenzte, wie das bei gesunden Jungen nur möglich sein kann. Und das schlimmste von allem war, daß sie jetzt manchmal darüber nachzudenken begannen, ob Latte und Kompagnie nicht vielleicht doch etwas die Wahrheit trafen mit ihren oft wiederholten Versicherungen, Prout wäre ein trauriger Esel.

»Wie ihr wißt, gehöre ich nicht zu den Leuten, die sich durch jede Kleinigkeit, die ihnen zu Ohren kommt, aus der Fassung bringen lassen. Ich bin dafür, das Haus selbst seine Angelegenheiten ins reine bringen zu lassen, natürlich mit einer leichten, führenden Hand an den Zügeln. Nun macht sich aber ein gewisser Mangel an Respekt bemerklich – weniger Interesse für Angelegenheiten, die die Ehre des Hauses berühren, eine Art von Abgebrühtheit.« – –

»Oh, Prout, das ist ein feiner Mann, ein feiner Mann!
Unser Huftier ist ein feiner Mann.
Er müht sich ab voll Pein,
Denn seine Popularität,
O Pop–u, Pop–u–larität,
Die lange schon gewackelt hat,
Würd‘ leiden, ließ er’s sein.«

Die Tür des Zimmers stand halb offen, und der Gesang, von zwanzig klaren Stimmen vorgetragen, kam schwach von einem Arbeitssaal her. Ganz besonderes Gefallen fanden die Füchse an dem Lied; der Text stammte von Käfer.

»Solche Sachen beachtet ein vernünftiger Mensch nicht,« erklärte Prout mit einem müden Lächeln, »aber, wie ihr wißt, zeigt der Halm, woher der Wind weht. Könnt ihr es auf direkten Einfluß von irgendeiner Seite zurückführen? Ich spreche jetzt zu euch als zu den Aufsehern des Hauses.«

»Da ist nicht der geringste Zweifel daran«, entgegnete Harrison ärgerlich. »Ich weiß, was Sie meinen, Sir. Es fing alles an, als »Nummer fünf« in die Arbeitssäle kam. ’s hat gar keinen Grund, das nicht zuzugeben, Craye, du weißt’s auch ganz gut.«

»Sie machen’s uns manchmal recht schwer«, sagte Craye. »’s ist mehr ihr Betragen, als irgend was anderes, was Harrison meint.«

»Hindern sie euch denn an der Ausübung eurer Pflichten?«

»O nein, Sir, sie gucken bloß und grinsen und rümpfen meistens die Nase.«

»Ah!« sagte Prout voll Sympathie.

»Ich meine, Sir,« sagte Craye und ging der Sache dreist auf den Grund, »’s wird ’n ganz Teil besser sein, wenn sie wieder in ihr Zimmer zurückgeschickt würden. Sie sind viel zu alt, um sich noch im Arbeitssaal ‚rumzutreiben.«

»Sie sind jünger als Orrin oder Flirt und ein Dutzend andere, die mir gerade einfallen.«

»Ja, Sir, das ist aber doch ’n kleiner Unterschied. Sie haben ziemlich viel Einfluß. Sie haben so ’ne Manier, in ’ner ruhigen Weise Spektakel anzustiften, daß man ihnen nicht beikommen kann. Wenigstens, wenn man – – –«

»Und ihr meint, ’s wär‘ besser, wenn sie wieder in ihrem Studierzimmer wären?«

Emphatisch bekannten sich Harrison und Craye zu dieser Meinung, und Harrison sagte nachher zu Craye: »Sie haben unsere Autorität erschüttert. Sie sind zu groß, daß man sie verprügeln könnte; sie haben uns mit ihrer Wuchergeschichte zum Gespött gemacht, und die ganze Schule lacht uns aus. Nächstes Semester will ich eintreten (auf Sandhurst selbstverständlich). Sie haben’s fertig gekriegt, mich schon halb aus meiner Arbeit ‚rauszukriegen mit – mit ihren Verrücktheiten. Wenn sie wieder in ihr Studierzimmer zurückgehen, haben wir vielleicht ’n bißchen Frieden.«

»Hallo, Harrison!« M’Turk kam gemächlich um die Ecke geschlendert, sein Auge über alle möglichen Horizonte schweifen lassend. »Geht’s besser, Alter? Das ist recht. Setz‘ dich darüber hinweg! Setz dich drüber hinweg!«

»Was meinst du?«

»Du siehst ’n bißchen nachdenklich aus«, meinte M’Turk. »Aufreibendes Geschäft, über die Ehre des Hauses zu wachen, nicht wahr? Uebrigens, wie steht’s mit euren prächtigen Entdeckungen?«

»Paß‘ auf«, sagte Harrison und hoffte auf augenblickliche Belohnung. »Wir haben Prout empfohlen, euch wieder in euer Studierzimmer zurückzulassen.«

»Den Deiwel habt ihr! Wer seid ihr in aller Welt denn, daß ihr euch zwischen uns und unsern Hausmeister einmengt? Wahrhaftig, ihr zwei geht höchst übel mit uns um – wahrhaftig, in der Tat. Natürlich können wir nicht wissen, wie weit ihr eure Stellung mißbraucht, um uns bei Mister Prout anzuschwärzen; aber wenn ihr mich mit Absicht anhaltet, um mir zu erzählen, daß ihr hinter unserm Rücken Abmachungen getroffen habt – im Geheimen – mit Prout – dann weiß ich wirklich nicht, was wir tun sollen.«

»Das ist ’ne verfluchte Gemeinheit«, schrie Craye.

»Ist es auch.« M’Turk hatte eine geisterhafte Feierlichkeit angenommen, die seinem langen, mageren Gesicht recht gut stand. »Verdammt noch mal! Ein Aufseher ist eins, und ein Hilfslehrer ist was anderes, aber ihr scheint beides zu verbinden. Ihr empfehlt dies – ihr empfehlt das! Ihr sagt, wie und wann wir auf unser Studierzimmer zurückgehn.«

»Aber – aber wir haben gedacht, es wär‘ euch angenehm, Turkey. Wirklich, wir dachten’s. Ihr werdet’s doch viel bequemer haben, wißt ihr.« Harrisons Stimme klang beinahe nach Tränen.

M’Turk verschwand, als ob er seine Erregung verbergen wollte.

»Sie sind untergekriegt!« Er spürte Latte und Käfer in einer Rumpelkammer auf. »Sie sind schachmatt! Sie haben Huftier drum gebettelt, daß er uns auf »Nummer fünf« zurückläßt. Arme Teufel! Arme kleine Teufel!«

»Das ist der Oelzweig«, erläuterte Latte. »Es ist die wehende weiße Flagge, wahrhaftig! Wir wollen mal drüber nachdenken, wir haben sie schön verwirrt.«

Am selben Tage, gleich nach dem Tee, ließ Mr. Prout sie holen, um ihnen zu sagen, wenn sie es vorzögen, ihre Zukunft durch Vernachlässigung ihrer Arbeiten zu ruinieren, so wäre das ganz und gar ihre eigene Sache. Er möchte ihnen aber zu verstehen geben, daß ihre Anwesenheit im Arbeitssaal auch nicht eine Stunde länger geduldet werden könnte. Was ihn persönlich anbeträfe, so käme es ihm nicht auf die Zeit an, die er darauf verwenden müßte, die Spuren ihres üblen Einflusses zu tilgen. Wie weit Käfer seine jugendliche Einbildungskraft nach der schlechten Seite hin gemißbraucht hätte, dessen würde er sich später vergewissern; und Käfer könnte sicher sein, daß, wenn Mister Prout hinter irgendwelchen seelenverderbenden Einfluß käme – – –

»Was für einen Einfluß, Sir?« fragte Käfer, diesmal wirklich bestürzt, und M’Turk versetzte ihm in Ruhe einen Fußtritt gegen die Knöchel, weil er sich von Prout hatte kriegen lassen.

Käfer, fuhr der Hausmeister fort, wüßte sehr gut, was er meinte. Schlimm und kurz sei ihre Karriere unter seinen Augen gewesen; und da er in loco parentis bei ihren noch unbefleckten Kameraden stände, sei er verpflichtet, seine Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen. Mit der Rückgabe des Schlüssels zum Studierzimmer schloß er seinen Sermon.

»Was bedeutet aber die Geschichte mit der Einbildungskraft nach der schlechten Seite?« fragte Käfer auf der Treppe.

»Ich hab‘ noch nie so ’nen Esel gekannt wie dich, denn du legst dich ja selbst ‚rein«, sagte M’Turk. »Ich hoffe, ich hab‘ dir den Knöchel recht schön abgeledert. Weshalb läßt du dich von jedem ‚reinlegen?«

»Reinlegen – verdammt! Ich muß ihn irgendwie böse gemacht haben, wovon ich nichts weiß. Wenn ich davon vorher ’ne Idee gehabt hätt‘, hätt‘ ich’s ihm natürlich noch besser geben können. Jetzt ist’s zu spät. Wie schade! »Nach der schlechten Seite?« Was hat er damit gemeint?«

»Ganz egal«, erklärte Latte. »Ich hab’s gewußt, wir würden daraus ein glückliches kleines Haus machen können. Denkt dran, ich hab’s gesagt – aber ich schwöre, ich hab‘ nicht geglaubt, wir würden’s so schnell machen können.«

»Nein«, sagte Prout mit Festigkeit im Eßzimmer. »Ich behaupte, daß Gillett unrecht hat. Wirklich, ich habe sie auf ihr Studierzimmer zurückgeschickt.«

»Trotz Ihrer bekannten Ansichten über Abschreiben?« brummte der kleine Hartopp. »Welch ein unmoralischer Kompromiß!«

»Einen Augenblick«, sagte Ehrwürden John. »Ich – wir alle haben seit den letzten zehn Tagen absolute, herzbrechende Verschwiegenheit beobachtet. Jetzt wollen wir wissen. Gestehen Sie – haben Sie seitdem eine einzige zufriedene Minute gehabt?«

»Was mein Haus anbelangt, – nein«, erklärte Prout. »Aber mit Ihrer Ansicht über die Jungen haben sie ganz und gar unrecht. – Um der andern willen, zum Zweck der Selbstverteidigung – – –«

»Ha! Ich hab‘ gesagt, es würde dahin kommen«, murmelte Ehrwürden John.

»– war ich gezwungen, sie zurückzuschicken. Ihr moralischer Einfluß war unsagbar – einfach unsagbar.«

Und Stück für Stück erzählte er seine Geschichte, indem er mit Käfers Wucherei begann und mit dem Appell der Hausaufseher schloß.

»Käfer in der Rolle eines Shylock – das ist mir neu«, sagte King mit gekniffenen Lippen. »Mir sind Gerüchte davon zu Ohren gekommen – – –«

»Vorher?« fragte Prout.

»Nein, nachdem sie mit ihnen zu tun gehabt hatten; aber ich war vorsichtig und fragte nicht weiter nach. Ich mische mich niemals in – – –«

»Ich selbst«, erklärte Hartopp, »würde ihm mit Vergnügen fünf Schilling geben, wenn er eine einfache Zinsesrechnung ohne drei grobe Fehler zustande brächte.«

»O–o–oh!« Mason, der Mathematiklehrer stotterte, und eine gewaltige Freude lag auf seinem Gesicht: »Sie sind zum Narren gehalten worden – genau so wie ich.«

»Und Sie haben also eine Untersuchung vorgenommen?« Die Stimme des kleinen Hartopp ertränkte Masons Worte, ehe Prout ihren Sinn erfassen konnte.

»Der Junge selbst deutete an, daß ein gut Teil von solchen Sachen im Hause vorkäme«, erklärte Prout.

»Auf dem Gebiet ist er unübertroffener Meister«, sagte der Kaplan. »Doch, was die Ehre des Hauses anbetrifft –«

»Sie haben sie in einer Woche heruntergebracht. Und ich habe danach gestrebt, sie für Jahre zu befestigen. Meine eigenen Hausaufseher – und ein Junge beklagt sich nicht gern über einen andern – ersuchten mich, sie von ihnen zu befreien. Sie behaupten, Sie besitzen ihr vertrauen, Gillett: sie können Ihnen ja die Geschichte anders erzählen. Was mich anbetrifft, können sie auf ihre eigene Manier zum Teufel gehn. Ich bin müde und ihrer überdrüssig«, sagte Prout voll Bitterkeit.

Aber es war Ehrwürden John, der sich mit lächelnder Miene zum Teufel begab, gerade nachdem »Nummer fünf« die Ueberreste eines sehr angenehmen kleinen Schmauses abgeräumt hatte (er kostete sie zwei Schilling und vier Pence) und sich zur Arbeit hinsetzte.

»Kommen Sie herein, Padre, kommen Sie herein«, rief Latte und schob den besten Stuhl herbei, »Wir sind in den letzten zehn Tagen nur so ganz offiziell mit Ihnen zusammengekommen.«

»Ihr waret verurteilt«, entgegnete Ehrwürden John. »Mit Uebeltätern gebe ich mich nicht ab.«

»Ah, jetzt sind wir aber wieder rehabilitiert«, sagte M’Turk. »Mister Prout hat sich erweichen lassen.«

»Ohne einen Flecken auf unserm Charakter«, setzte Käfer hinzu. »Es war eine schmerzliche Episode, Padre, höchst schmerzlich.«

»Nun überlegt mal ’ne Weile und denkt nach, mes enfants. Ich habe heut abend über euren Charakter gesprochen. Was zum Henker, um im Schuljargon zu sprechen, habt ihr in Mr. Prouts Haus angestellt? Es ist nichts dabei zu lachen. Er sagt, ihr habt den Ton im Hause so heruntergebracht, daß er euch wieder in euer Studierzimmer zurückschicken mußte. Ist das wahr?«

»Jedes Wort davon, Padre.«

»Sei nicht leichtfertig, Turkey, hört auf mich. Ich hab‘ euch oft genug gesagt, daß kein Junge in der Schule mehr Einfluß zum Guten oder Bösen hat als ihr. Ihr wißt, ich rede nicht von Ethik und Moralgesetzen, weil ich nicht glaube, daß ein junges Menschentier versteht, was das für zukünftige Jahre bedeutet. Ebenso kann ich auch nicht glauben, daß ihr die Kleineren verdorben habt. Unterbrich mich nicht, Käfer. Hör‘ zu! Mister Prout hat die Idee, daß du deine Kameraden auf die eine oder die andre Art verdorben hast.«

»Mister Prout hat gar viele Ideen, Padre«, meinte Käfer gelangweilt. »Was für eine denn?«

»Nun, er erzählt mir, er hätte gehört, wie du in der Dämmerstunde im Arbeitssaal eine Geschichte im Flüsterton erzählt hättest. Und gerade, als er die Tür aufmachte, sagte Orrin: »Halt’s Maul, Käfer; das ist zu gräßlich.« Nun, was sagst du dazu?«

»Besinnen Sie sich noch auf »die belagerte Stadt« von Mrs. Oliphant, die Sie mir voriges Semester borgten?« fragte Käfer.

Der Padre nickte.

»Daraus hab‘ ich die Idee. Nur an Stelle ’ner Stadt macht‘ ich das Institut draus, im Nebel, belagert von Geistern toter Jungen, die die Jungen aus ihren Betten im Schlafzimmer rausschleppten. Die Namen sind alle wirklich. Man muß es ganz leise erzählen – mit den Namen. Orrin gefiel es nicht ein bißchen. Keiner von allen hat’s mich zu Ende vorlesen lassen. G’rade zum Schluß wird’s erst recht grausig.«

»Aber um alles in der Welt, warum hast du das nicht Mister Prout erklärt, anstatt ihn in der Einbildung zu lassen – – –?«

»Padre Sahib,« meinte M’Turk, »es hat gar keinen Zweck, Mr. Prout was zu erklären, wenn er nicht die eine Einbildung hat, muß er die andre haben.«

»Er tut’s in der besten Absicht. Er ist in loco parentis«, brummte Latte.

»Ihr jungen Dämonen!« erwiderte Ehrwürden John. »Soll ich darunter verstehen, daß die Sache mit der Wucherei eine andere Einbildung eures Hausmeisters war?«

»Na, wir haben ’n bißchen dabei geholfen«, sagte Latte. »Ich war Käfer zwei Schilling und vier Pence schuldig – wenigstens behauptete Käfer, es wär‘ so – aber ich hatte nie die Absicht, sie ihm zu bezahlen. Dann fingen wir auf der Treppe ’n bißchen davon zu reden an, und – und Mr. Prout fiel augenblicklich drauf ‚rein. So war die Sache, padre. Er zahlte ’s sofort bar aus (zog’s mir sogleich von meinem Taschengeld ab), und Käfer gab ihm ganz nach der Ordnung meinen Schuldschein. Was nachher passiert ist, weiß ich nicht.«

»Ich war zu ehrlich«, meinte Käfer. »Ich bin immer so. Lehen 5ie, Padre, er hatte eine Einbildung, und ich glaube, ich hätte sie ihm ausreden sollen; aber natürlich konnte ich nicht ganz genau wissen, daß sein Haus sich nicht mit Geldverleihen abgab. Nicht wahr? Ich dachte, die Aufseher würden mehr davon wissen als ich. Sie sollten es. Sie sind wacklige Paladine öffentlicher Schulen.«

»Sie wußten ja auch was davon – aber da war die Sache schon vorbei«, meinte M’Turk. »Das ist ein Paar von so gewissenhaften, gutmütigen, rechtschaffenen, unschuldigen Jungen, wie Sie sie je treffen möchten, Padre. Sie haben das Haus von oben nach unten gekehrt – Harrison und Craye – mit den besten Absichten von der Welt.«

»Sie behaupteten es.«

»Sie gaben es laut und deutlich vor.«

»Sie kamen und schrien es uns ins Ohr«, sagte Latte.

»Meine eigene private Einbildung ist, daß ihr alle drei unfehlbar gehängt werdet«, meinte Ehrwürden John.

»Warum? Wir haben nichts getan«, erwiderte M’Turk. »Es war alles Mister Prout. Haben Sie schon mal ein Buch über japanische Ringkämpfer gelesen? Mein Onkel – er ist in der Marine – schenkte mir mal ein schönes.«

»Versuch‘ nicht, das Thema zu wechseln, Turkey.«

»Will ich gar nicht, Sir. Ich will nur ’ne Illustration geben – ’s ist ebenso gut wie ’ne Rede. Diese Kerle von Ringkämpfern haben so ’ne Art von Trick. Da hat dann der andre Bursche die ganze Arbeit. Und zuletzt geben sie ihm ’nen kleinen Schubs, und er wirft sich selbst um. Das heißt shibbuwichee oder tokonoma oder irgendso. Mister Prout ist ein shibbuwicher. Es ist nicht unsere Schuld.«

»Haben Sie geglaubt, wir gingen ‚rum und verdürben den Füchsen ihren Charakter?« fragte Käfer. »Sie haben gar keinen, den man vornehmen könnte, und wenn sie einen hätten, wär‘ er schon längst verdorben. Ich bin ein Fuchs gewesen, Padre.«

»Na, ich wußte ja, ich kannte das normale Gebiet eurer Sünden; wenn ihr euch aber auch so viel Mühe gebt, zufällige Beweise gegen euch aufzuhäufen, könnt ihr gar keinen verantwortlich machen, wenn –«

»Wir machen auch gar keinen verantwortlich, Padre. Wir haben kein einziges Wort gegen Mister Prout gesagt, nicht wahr?« Latte sah die andern an. »Wir lieben ihn. Er hat gar keine Idee, wie wir ihn lieben.«

»Hm! Ihr versteht eure Liebe recht gut zu verstecken. Habt ihr je darüber nachgedacht, wer euch in erster Linie aus eurem Studierzimmer herausgebracht hat?«

»Mister Prout war’s, der uns ausquartiert hat«, erklärte Latte mit Nachdruck.

»Nun, ich bin’s gewesen. Ich hab’s nicht beabsichtigt, aber ein paar Worte meinerseits, fürchte ich, brachten Mister Prout die Einbildung bei –«

»Nummer fünf« lachte laut.

»Sehen sie, Padre, mit Ihnen ist es dieselbe Sache«, sagte M’Turk. »Er ist schnell dabei, ’ne Einbildung zu haben, nicht wahr? Aber sie müssen nicht denken, wir lieben ihn nicht, weil wir so sind. Es ist auch keine Unze Schlechtes an ihm.«

Es klopfte zweimal an die Tür.

»Nummer fünf« soll sofort zum Herrn Direktor auf sein Zimmer kommen«, ertönte die Stimme Foxys, des Schulsergeanten.

»Huh!« sagte Ehrwürden John. »Es scheint mir, als ob es bei gewissen Leuten etwas Gehöriges setzen wird.«

»Mein Wort! Mister Prout ist hingegangen und hat es dem Direktor erzählt«, sagte Latte. »Er trägt den Mantel nach beiden Seiten. ’s ist nicht anständig, den Direktor in ’nen Hausskandal ‚reinzuziehen.«

»Ich möchte euch ein Diarium empfehlen – auf einen, hm, sicheren, bestimmten Teil«, schlug Ehrwürden John uneigennützig vor.

»Huh! Er haut über die Schultern, und ’s würd‘ drauf klopfen wie auf ein riesiges Scheunentor«, meinte Käfer. »Gute Nacht, Padre. Wir sind bloß deshalb gerufen.«

Wieder einmal standen sie vor dem Direktor – Balial, Mammon und Luzifer. Aber sie hatten es mit einem Mann zu tun, der schlauer als sie alle war. Mister Prout hatte eine halbe Stunde lang mit ihm gesprochen, bedrückt und niedergeschlagen, und der Direktor hatte alles das durchschaut, was dem Hausmeister verborgen geblieben war.

»Ihr habt Mister Prout geärgert«, sagte er nachdenklich. »Hausmeister sind nicht dazu da, um von Jungen mehr als nötig geärgert zu werden. Ich mag nicht durch solche Dinge geärgert werden. Ihr ärgert mich. Das ist ein sehr ernstes Vergehen. Seht ihr das ein?«

»Ja, Sir!«

»Schön. Nun habe ich die Absicht, euch zu ärgern, aus persönlichen und privaten Gründen, weil ihr mir meine Zeit nehmt. Ihr seid viel zu groß, um Prügel zu bekommen; deshalb meine ich, ich werde euch mein Mißfallen auf irgendeine andere Weise zeigen müssen. Was meint ihr, jeder tausend Zeilen, eine Woche Arrest oder irgend so was Aehnliches? Seid viel zu groß, geschlagen zu werden, nicht?«

»O nein, Sir«, sagte Latte vergnügt, denn eine Woche Arrest im Sommerhalbjahr ist eine schlimme Sache.

»Sehr schön. Dann wollen wir also tun, was wir können. Ich wünsche, daß ihr mich nicht ärgern sollt.«

Es waren schöne, langgezogene, gleichmäßige Schläge, denen ein leichtes prüfendes Tasten voranging. Was sie aber am meisten fühlten, war seine unangenehme Angewohnheit, bei den einzelnen Schlägen mit dem Sprechen innezuhalten. So ging es:

»In den – unteren Klassen würde man mir nachsagen, ich schlüge – einfach drauf los. Ihr solltet für eure Privilegien dankbarer sein, als ihr seid. Es gibt eine Grenze – man lernt sie durch Erfahrung kennen, Käfer – über die hinaus es niemals geraten ist, eine persönliche Vendetta zu verfolgen, denn – rühr‘ dich nicht – früher oder später kommt man – in Kollision mit der – höheren Autorität, die ihre Leute kennt. Et ego – bitte, M’Turk – in Arcadia vixi. ’s ist doch ’ne himmelschreiende Ungerechtigkeit, die euch – eigentlich ’n bißchen nahegehen sollte. So, das ist alles! Ihr werdet jetzt euerm Hausmeister sagen, daß ihr von mir offiziell Schläge bekommen habt.«

»Mein Wort drauf,« sagte M’Turk und rieb sich den ganzen Korridor hinunter die Schulterblätter, »das war ’ne Sache! Der alte Bates hat ein verdammt sicheres Auge.«

»War’s nicht schlau von mir,« fragte Latte, »um die Prügel zu bitten, statt der Strafarbeiten?«

»Quatsch! Wir waren von Anfang an deshalb ‚reingerufen. Ich sah schon, wie er mit seinen alten klugen Augen blinzelte«, erklärte Käfer. »Ich hätt‘ um ’n Haar geheult.«

»Na, ich hab‘ auch g’rade nicht gelächelt«, bekannte Latte.

»Wir wollen ins Waschzimmer ‚runtergehn und uns den Schaden beseh’n. Einer von uns kann den Spiegel halten, und die andern seh’n sich’s an.«

Das dauerte beinahe zehn Minuten. Die Striemen waren sehr rot und sehr gerade. Auch nicht um einen Pfennig wichen sie untereinander ab in Gründlichkeit, Wirksamkeit und einer gewissen Reinheit der Linienführung, die das Werk des Künstlers kennzeichnet.

»Was macht ihr hier unten?« Mister Prout stand oben auf der Treppe; das Geräusch des Plätscherns hatte ihn herbeigelockt.

»Wir sind bloß vom Direktor geschlagen worden, Sir, und waschen uns das Blut ab. Wir werden uns in einer Minute melden, Sir. ( Sotta voce.) Das kann sich Huftier gutschreiben!«

»Na, er verdient’s auch, armer Teufel der«, meinte M’Turk und zog sein Hemd an. »Wir haben ihn um zehn Pfund leichter gemacht, seit wir angefangen haben.«

»Ja, aber warum sind wir nicht auf den Direktor wütend? Er sagte, ’s wäre ’ne himmelschreiende Ungerechtigkeit. Das ist’s auch!« sagte Käfer.

»Ein lieber Mann«, erklärte M’Turk in einem Ton, der jede weitere Antwort ausschloß.

Latte aber lachte, bis er sich an einer Wanne halten mußte.

»Du bist ’n komischer Esel! Was soll das heißen?« fragte Käfer.

»Ich – ich denke nur an die himmelschreiende Ungerechtigkeit!«

Die Reformatoren

Die Reformatoren

V.

Die Niederlage war nicht abzustreiten. Der Sieg war auf Prouts Seite, aber sie mißgönnten ihn ihm nicht. Hatte er sich über die Spielregeln hinweggesetzt, indem er sich an den Direktor wandte, so hatten sie dafür auch ihren guten Spaß gehabt.

Ehrwürden John nahm die erste Gelegenheit wahr, die Geschichte zu besprechen. Mitglieder einer Junggesellen-Tafelrunde in einer Schule, wo die Zimmer der Lehrer absichtlich zwischen die Arbeitszimmer und -säle verstreut sind, können, wenn sie nur Lust haben, recht viel Einblick in das Leben ihrer Schützlinge gewinnen. »Nummer fünf« hatte voll Vorsicht ein paar Jahre darauf verwandt, Ehrwürden John zu prüfen. Er war entschieden ein Gentleman. Bevor er ein Studierzimmer betrat, klopfte er an die Tür; er benahm sich wie ein Besucher und nicht wie ein verirrter Liktor; er hielt niemals langweilige Reden und machte von den vertraulichen Mitteilungen müßiger Stunden niemals im offiziellen Leben Gebrauch. Prout war stets eine schreckliche Plage, und King kam nie anders, als ein blutiger Racheengel. Selbst der kleine Hartopp, der in Naturgeschichte unterrichtete, vergaß sein Amt selten. Doch Ehrwürden John war ein gern gesehener und beliebter Gast bei »Nummer fünf«.

Er saß da in ihrem einzigen Armstuhl, eine krumme Holzpfeife zwischen den Zähnen, das Kinn mit den drei Falten auf den geistlichen Kragen gesenkt, und blies wie ein liebenswürdiger Walfisch. »Nummer fünf« äußerte sich über das Leben, wie es ihnen erschien, und besonders über das letzte Interview mit dem Direktor – in der Wucherangelegenheit.

»Einmal Prügel die Woche würde euch gewaltig gut tun«, sagte er, mit den Augen zwinkernd und sich schüttelnd; – »ihr war’t, wie ihr sagt, natürlich vollständig im Recht.«

»Freilich, Padre! Wir hätten es beweisen können, wenn er uns nur hätte reden lassen,« behauptete Latte, »aber er tat’s nicht. Der Direktor ist ’n schlauer Vogel.«

»Er kennt euch ganz genau. Ho! Ho! Na, ihr habt auch ordentlich darauf hingearbeitet.«

»Aber er ist schrecklich anständig. Er macht’s nicht so, daß er einen Jungen am Morgen prügelt und ihm am Nachmittag ’ne Predigt hält«, erklärte Käfer.

»Er kann’s nicht, er ist kein Theologe, dank dem Himmel«, sagte M’Turk. »Nummer fünf« war sehr stark gegen geistliche Direktoren eingenommen, und stets bereit, mit ihrem Pastor darüber zu disputieren.

»Beinahe alle anderen Schulen haben Theologen zu Direktoren«, sagte Ehrwürden John sanft.

»Es ist nicht gut für die Jungen,« äußerte Latte, »’s macht sie bockig. Mit Ihnen ist’s natürlich was anderes, Sir. Sie gehören zur Schule – ebenso wie wir. Ich meine gewöhnliche Theologen.«

»Na, ich bin ein ganz gewöhnlicher Theologe; und Mister Hartopp ist doch auch ordiniert.«

»Ja, aber er wurde es erst, nachdem er schon zum Institut gekommen war. Wir sahen ihn zu seinem Examen reisen. So ist es in der Ordnung«, sagte Käfer. »Aber denken Sie mal, wenn jetzt der Direktor reiste und ordiniert würde.«

»Was würde dann passieren, Käfer?«

»Oh, das Institut würde in einem Jahr in Stücken sein, Sir. Gar kein Zweifel dran.«

»Wie kannst du das wissen?« Ehrwürden John lächelte.

»Wir sind jetzt beinahe sechs Jahre hier. Es gibt mächtig wenig Dinge, von denen wir nichts wissen«, entgegnete Latte. »Sie selbst kamen sogar ’n Semester nach mir, Sir. Ich kann mich noch erinnern, wie sie in der Klasse in Ihrer ersten Stunde nach unsern Namen fragten. Mister King, Mister Prout und natürlich der Direktor sind die einzigen Lehrer, die länger hier sind als wir.«

»Ja, ja, wir haben tüchtig gewechselt im Konferenzzimmer.«

»Huh!« machte Käfer mit einem Grunzen. »Sie kamen her, und dann gingen sie weg und verheirateten sich. Aber ganz gut, daß wir sie los sind!«

»Ist unser Käfer nicht fürs Heiraten?«

»Nein, Padre, spaßen Sie nicht über mich. Ich hab‘ in den Ferien Jungen getroffen, die verheiratete Hausmeister haben. Das ist einfach schrecklich! Sie haben Babys und Zahnen und Masern, und alle solche Sachen bringen sie in die Schule; und die Lehrerfrauen geben Teegesellschaften – Teegesellschaften, Padre! – Und laden die Jungen zum Frühstück ein.«

»Das macht nicht so viel aus«, sagte Latte. »Aber die Hausmeister lassen ihre Häuser allein und überlassen alles ganz und gar den Aufsehern. Ja, in einer Schule, hat mir ein Junge erzählt, da waren Decken vor den Türen, und zwischen dem Haus und der Wohnung vom Lehrer war ein Weg von ’ner Meile. Sie konnten tun, was sie wollten.«

»Seht an – Satan schimpft über die Sünde.« »Oh, Streiche muß es schon geben; aber Sie wissen, was ich meine, Padre. Nach einem Weilchen wird’s schlimmer und schlimmer. Dann gibt’s einen großen Krach und einen Skandal, der in die Zeitungen kommt, und ’ne Menge Jungens werden geschaßt, nicht wahr?«

»Immer sind’s die falschen, das müssen Sie nicht vergessen. Nehmen Sie ’ne Tasse Kakao, Padre?« fragte M’Turk, den Kessel in der Hand.

»Danke, ich rauche. Immer die Unrichtigen? Weiter, mein Latte!«

»Und dann« – Latte erwärmte sich an seinem Thema – »sagen alle: »Wer hätte so was gedacht! Schreckliche Jungen! Verdorbene kleine Kreaturen!« – Das kommt alles davon, meine ich, wenn man verheiratete Hausmeister hat.«

»Ein Danielsurteil!«

»Aber es ist so«, fiel M’Turk ein. »Ich bin in den Ferien mit Jungen zusammengekommen, und sie haben mir dasselbe erzählt. Es sieht schrecklich nett aus, wenn man das so sieht – ein hübsches apartes Haus und eine hübsche Frau und all das. Aber es ist nicht so. Es hält die Hausmeister von ihrer Arbeit ab, und die Aufseher bekommen viel zu viel Macht, und – und – es verdirbt einfach alles. Seh’n Sie, es ist ja nicht so, als ob wir ’ne gewöhnliche Schule wären. Wir nehmen ‚rausgeworfene Pressiers ebenso gut auf wie kleine Jungen wie Latte. Wir haben das getan, um uns dadurch bekannt zu machen, und wir bringen sie auf eine oder die andre Weise nach Sandhurst ‚rein, nicht wahr?«

»’s ist wahr, o Turk. Du sprichst wie ein Buch, Turkey.«

»Und deshalb brauchen wir ganz andre Lehrer, nicht wahr, als andre Schulen? Wir sind nicht so wie die übrigen Schulen.«

»Es führt auch dazu, daß die kleinen Jungens auf alle Art von den Großen gezwiebelt werden – hat mir ein Junge erzählt«, sagte Käfer.

»Na, ihr nehmt einem ledigen Manne auch seine meiste Zeit, muß ich sagen.« Ehrwürden John betrachtete seine Gastfreunde kritisch. »Aber habt ihr niemals das Gefühl, daß die Welt – das Konferenzzimmer – sich manchmal zu viel mit euch zu schaffen macht?«

»Nicht gerade – im Sommer wenigstens.« Lattes Auge schweifte zufrieden durch das Fenster. »Unsere Grenzen sind hübsch weit, und wir sind recht viel uns selbst überlassen.«

»Zum Beispiel, ich sitze hier in eurem Arbeitszimmer euch recht im Wege, nicht wahr?«

»Sie sind’s wirklich nicht, Padre. Bleiben Sie sitzen. Gehen Sie nicht, Sir. Sie wissen, wir sind immer froh, wenn Sie kommen.«

Die Aufrichtigkeit dieser Worte war nicht zu bezweifeln. Ehrwürden John wurde ein wenig rot vor Vergnügen und stopfte seine Pfeife noch einmal.

»Und wir wissen gewöhnlich auch, wo die Herren aus dem Konferenzzimmer sind«, erzählte Käfer triumphierend. »Sind Sie nicht vergangene Nacht nach zehn unten durch unsere Schlafzimmer gekommen, Sir?«

»Ich ging mit eurem Hausmeister eine Pfeife rauchen. Nein, ich habe ihm keine Andeutungen gemacht. Ich nahm den kürzesten Weg durch eure Schlafzimmer.«

»Ich roch ’ne Spur von Tabak diesen Morgen. Ihrer ist stärker als Mister Prouts. Ich wußte es«, sagte Käfer und wiegte sein Haupt.

»Himmlische Güte!« sagte Ehrwürden John abwesend. Erst ein paar Jahre später erkannte Käfer, daß dies mehr seiner Einfalt als seiner Beobachtungsgabe galt. Die langen, hellen, vorhanglosen Schlafzimmer wurden zu allen Stunden der Nacht von Lehrern durchschritten, die einander besuchten, denn Junggesellen sitzen später auf als verheiratete Leute. Käfer hatte es sich nie im Traum einfallen lassen, daß dieser ständigen Ueberwachung eine Absicht zugrunde liegen möchte.

»Da wir über Tyrannei sprechen,« begann Ehrwürden John wieder, – »ihr alle habt es wohl hübsch schlimm gehabt, als ihr Füchse war’t, nicht wahr?«

»Na, wir müssen ziemlich scheußliche kleine Biester gewesen sein«, meinte Käfer, voll Ernst den Abgrund überschauend, der zwischen elf und sechzehn Jahren liegt, »Wahrhaftig, was für Rauhbeine waren das damals: Fairburn, »Gobby«, Maunsell und die ganze Gesellschaft.«

»Ich weiß noch, wie »Gobby« uns die drei blinden Mäuse nannte, und wir auf den Schränken sitzen und singen mußten, während er mit Tintenfässern nach uns schmiß«, erzählte Latte. »Das waren noch Rauhbeine, nicht wahr?«

»Aber so was gibt’s jetzt gar nicht mehr«, sagte M’Turk besänftigend.

»Da seid ihr im Irrtum. Man ist immer geneigt, zu behaupten, daß alles in Ordnung ist, solange einem selbst nichts geschieht. Ich möchte manchmal doch wissen, ob es wirklich damit vorbei ist.«

»Die Füchse piesacken sich untereinander schrecklich; aber die oberen Klassen, müßte man meinen, haben zum Examen zu ochsen. Sie haben jetzt an was andres zu denken«, meinte Käfer.

»Nun? was meinen sie?« Latte hatte des Kaplans Miene beobachtet.

»Ich habe meine Zweifel daran.« Dann brach er plötzlich heraus: »Mein Wort darauf, für ein paar einigermaßen intelligente Jungen beobachtet ihr nicht sehr scharf. Ich glaube, ihr hattet zu sehr damit zu tun, eurem Hausmeister die Hölle heiß zu machen, daß ihr die Dinge vor eurer Nase nicht sehen konntet, als ihr vergangene Woche in den Arbeitssälen war’t.«

»Was meinen Sie, Sir? Ich – ich schwöre, wir haben gar nichts gesehen«, sagte Käfer.

»Dann will ich euch ’nen Wink geben, aufzupassen. Wenn ein kleiner Junge in einer Ecke heult und seine Kleider wie Lumpen sind, und er nie etwas arbeitet und notorisch die schmutzigste kleine »Korridorgefahr« ist, – dann muß irgendwo etwas in Unordnung sein.«

»Das ist Clewer«, sagte M’Turk leise.

»Ja, Clewer. Er kommt zu mir in französische Nachhilfestunde. Es ist sein erstes Semester, und er ist fast eben solch ein Wrack, wie du es warst, Käfer. Er ist von Natur ja nicht schlau, aber er ist malträtiert worden, daß er fast ein Idiot geworden ist.«

»Ach nein. Sie stellen sich nur so, damit sie keine Prügel mehr bekommen«, behauptete Käfer. »Das kenne ich.«

»Ich habe freilich niemals gesehen, daß er geprügelt wurde«, sagte Ehrwürden John.

»Die richtige Sorte tut das nicht öffentlich«, erklärte Käfer. »Faibern hat mich nie angerührt, wenn uns einer sah.«

»Du brauchst das nicht auszuquatschen, Käfer«, sagte M’Turk. »Wir haben zu unserer Zeit alle unser Teil gekriegt.«

»Ich hab‘ aber mehr abgekriegt als jeder andere«, klagte Käfer. »Wenn Sie eine Autorität über Piesacken brauchen, Padre, dann kommen Sie zu mir. Korkzieher – Bürsten – Schlüssel – Kopfnüsse – Armdrehen – Katzenköpfe – und alle die andern Sachen.«

»Ja, ich brauche dich als Autorität – oder vielmehr euer aller Autorität, um dem ein Ende zu machen.«

»Wenn Abana und Pharpar da sind, Padre – Harrison, Craye? Das sind Mister Prouts Lieblinge«, erklärte M’Turk ein wenig bitter, »wir sind nicht einmal Unteraufseher.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber andererseits, da die Füchse meistens aus bloßer Gedankenlosigkeit malträtiert werden – – –«

»Ganz und gar nicht, Padre«, sagte M’Turk. »piesacken ist piesacken. Sie tun es ganz aus Absicht. In der Stunde denken sie es sich aus, und in der Pause probieren sie’s dann.«

»Ganz egal, wenn die Sache an den Aufseher kommt, gibt es einen neuen Skandal im Haus. Ihr habt schon einen verursacht. Lacht nicht noch. Hört zu. Ich bitte euch – meine eigne zehnte Legion – die Sache ganz still in die Hand zu nehmen. Ich möchte, daß der kleine Clewer hübsch sauber und anständig gemacht wird – – –«

»Deiwel soll mich holen, wenn ich ihn wasche«, flüsterte Latte.

»Anständig und ’n bißchen Selbstachtung bekommt. Was den andern Jungen betrifft, was es auch sein mag – so könnt ihr euren Einfluß« – ein ganz und gar weltliches Licht flackerte in des Kaplans Augen – »ganz wie es euch beliebt benutzen, um – um ihm vom Ueblen abzuraten. Das ist alles. Ich will’s euch überlassen. Gute Nacht, mes enfants

*

»Na, was sollen wir jetzt tun?« »Nummer fünf« starrte einander an.

»Der kleine Clewer würde seine Augen drum geben, wenn er ’nen Platz hätte, wo er ruhig sitzen könnte. Das weiß ich. Wenn wir ihn als Fuchs in unser Arbeitszimmer nähmen, was?« schlug Käfer vor.

»Nein«, entgegnete M’Turk entschieden. »Er ist ’n dreckiges kleines Biest und würde alles vernichten. Außerdem, wir wollen doch nicht solche verfluchten Geschichten anfangen wie in »Eric«. Hast du Lust, mit ihm ‚rumzuspazieren, den Arm um seinen Hals?«

»Er würd‘ die Kompottöpfe jedenfalls leer machen und die Hafersuppe nehmen – ’s ist ’ne verfluchte Sache.«

»Das ist nicht das richtige«, äußerte Latte und beförderte seine Absätze mit einem Krach auf den Tisch. »Wenn wir den lustigen Spaßmacher ‚rauskriegen, der ihn gezwiebelt hat, und ihn glücklich machen, wird alles in Ordnung sein. Warum haben wir ihn aber eigentlich nicht ‚rausgekriegt, als wir in den Arbeitssälen waren?«

»’s kann ja sein, daß ’n Haufen Füchse Clewer vorgehabt hat. Das machen sie manchmal.«

»Dann müssen wir alle aus den unteren Klassen in unserm Haus verprügeln – aufs Geratewohl. Los!« sagte M’Turk.

»Sei doch man friedlich! Wir müssen keinen Lärm bei der Geschichte machen. Wer’s nun auch gewesen ist, er muß ganz ruhig gewesen sein, sonst hätten wir ihn gesehen«, äußerte Latte. »Wir wollen mal ‚rumgehen und herumschnüffeln, bis wir’s ‚raushaben.«

Sie suchten die Arbeitssäle des Hauses ab und gingen alle jüngeren und älteren Schüler des Hauses durch, gegen die sie Verdacht hatten – durchforschten dann auf Käfers Anregung die Waschräume und Schrankzimmer, aber ohne Erfolg. Jeder schien da zu sein, außer Clewer.

»Doll!« sagte Latte und blieb vor der Tür eines Arbeitszimmers stehen. »Alle Wetter!«

Ein dünnes Winseln, von Schluchzen unterbrochen, drang gedämpft durch die Tür.

»Als schön Kitty eines Morgens wanderte –«

»Lauter, du junger Teufel, oder ich schmeiß dir ein Buch an den Kopf.«

»Eine Kanne voll Milch am Arm – Oh, Campbell, bitte, laß sein! – Auf den Markt zu – – –«

Ein Buch klatschte gegen etwas Weiches, und Quietschen erhob sich.

»Na, ich hätt‘ nicht gedacht, daß es ’n Junge aus ’nem Arbeitszimmer wäre. Das erklärt auch, warum wir nichts von ihm gemerkt haben«, sagte Käfer. »Sefton und Campbell sind ziemlich schwer zu packen. Und man kann auch nicht in ihr Zimmer wie in ’nen Arbeitssaal ‚reingehen.«

»Solch Schwein!« M’Turk horchte. »Was fürn Spaß ist dabei? Ich glaube, Clewer ist ihr Fuchs.«

»Sie sind nicht Aufseher. Das ist ’n guter Spaß«, sagte Latte mit seinem Kriegsgrinsen. »Sefton und Campbell! Um! Campbell und Sefton! Ah! Einer von ihnen ist ’n Pressier.«

Die beiden waren frühreife, bärtige Jünglinge zwischen siebzehn und achtzehn Jahren, die von ihren verzweifelnden Eltern ins Institut geschickt worden waren, in der Hoffnung, daß sechs Monate beständiger Paukerei sie vielleicht für Sandhurst zureiten könnten. Nominell waren sie in Mister Prouts Haus, in Wirklichkeit aber standen sie direkt unter des Direktors Aufsicht, und da dieser Sorge trug, niemals fremden Neulingen einen Aufseherposten zu geben, glaubten sie Grund zum Aerger gegen die ganze Schule zu haben. Sefton war drei Monate auf einer Londoner Presse gewesen, und die Geschichte seiner dortigen Abenteuer verlor nichts beim Erzählen. Campbell, der für sehr gewählte Kleidung war und ein fließendes Mundwerk hatte, folgte seiner Führung und schaute gleichfalls hochmütig auf die übrige Welt herab. Dies war erst ihr zweites Semester, und die Schule, an das, was sie profanerweise »Pressiers« nannte, gewöhnt, war ihnen mit ziemlich unangenehmer Reserve begegnet. Doch ihre Backenbärte – Sefton besaß ein wirkliches Rasiermesser – und ihre Schnurrbärte machten ohne alle Frage Eindruck.

»Sollen wir ‚reingehen und ihnen abraten?« fragte M’Turk. »Ich hab‘ nie mit ihnen zu tun gehabt, aber ich möchte auf meinen Hut wetten, daß Campbell feige ist.«

»Nein. Das ist oratio directa«, sagte Latte und schüttelte den Kopf. »Ich bin mehr für oratio obliqua. Und dann, wo bliebe dann unser moralischer Einfluß? Denk‘ doch daran.«

»Quatsch! Was willst du denn tun?« Käfer ging in den Arbeitssaal »Nummer neun«, der neben dem Studierzimmer lag.

»Ich?« Das Feuer des Krieges bedeckte Lattes Antlitz. »Oh, ich möchte meinen Spaß mit ihnen haben. Seid mal ’ne Weile ruhig!«

Er steckte die Hände in die Taschen und starrte durch das Fenster auf die See, zwischen den Zähnen hindurch pfeifend. Dann klappte ein Fuß auf den Boden, eine Schulter hob sich, und er begann den kurzen, raschen Schleifer – Lattes Kriegstanz beim Nachdenken. Dreimal hatte er den leeren Arbeitssaal durchquert, mit geschlossenen Lippen und gedehnten Nüstern, sich wiegend in schnellem Schritt. Dann hielt er vor dem stummen Käfer und knuffte ihm sanft das Haupt, indes jener sich den Hieben beugte. M’Turk hob ein Knie hoch und schwankte hin und her. Sie konnten Clewer heulen hören, als ob ihm das Herz brechen wollte.

»Käfer ist das Opfer«, sagte Latte schließlich. »Es tut mir leid um dich, Käfer. Besinnst du dich noch auf Galtons »Kunst zu reisen« (in einer Klasse hatte man das unterhaltende Werk studiert) und das Zicklein, das durch sein Blöken den Tiger anlockte?«

»O verflucht!« sagte Käfer voll Unbehagen. Es war nicht sein erstes Auftreten als Opfer. »Kannst du nicht ohne mich fertig werden?«

»Fürchte, ’s geht nicht, lieber Käfer. Du sollst von Turkey und mir gepiesackt werden. Je mehr du heulst, desto besser wird’s natürlich sein. Turkey, geh und klemme irgendwo ’nen Bakel und ’nen Strick. Wir wollen ihn als Köder anbinden – à la Galton. Weißt du noch, wie »Molly« Fairburn uns Hahnenkampf spielen ließ, die Schuhe ausgezogen und die Knie heraufgebunden?«

»Aber das tat verdammt weh.«

»Natürlich tat’s das. Was für’n schlauer Junge du bist, Käfer! Turkey wird dich den ganzen Fußboden entlang schubsen. Wir haben alle ’nen großen Streit gehabt, und ich hab‘ euch hierbei abgefaßt. Borg‘ mir dein Taschentuch.«

Käfer wurde zum Hahnenkampf zurechtgemacht; zwischen die hochgezogenen Knie und die Ellbogen wurde ein Stock gesteckt, und die Knie außerdem noch mit einem Strick zusammengebunden. In dieser Lage rollte er auf einen Stoß Lattes dahin, sich über und über mit Staub bedeckend.

»Fahr ihm ins Haar, Turkey. Jetzt kommst du dran! »Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an.« Ihr beide seid in solcher dollen Wut gegen mich, daß ihr bloß flucht. Denkt dran. Ich werde euch mit ’nem Bakel kitzeln. Du mußt blöken, Käfer.«

»Ganz recht. In ’nem halben Augenblick fang‘ ich an«, sagte Käfer.

»Nun fang‘ an und denk‘ an das Blöken des Zickleins.«

»Hört auf, ihr Biester. Laßt mich aufsteh’n. Ihr habt mir beinah‘ die Knie abgeschnitten. Oh, ihr verfluchten – – – hört auf! Das ist kein Spaß!« Käfers Protest war im Ton ein Kunstwerk.

»Gib’s ihm, Turkey! Gib ihm Fußtritte! Kull’re ihn. Schlag‘ ihn tot! Sei nicht feig, Käfer, du Biest. Gib ihm noch ’nen Fußstoß, Turkey.«

»Er heult nicht wirklich. Dreh dich, Käfer, oder ich schubse dich ins Kamingitter«, brüllte M’Turk. Sie vollführten einen gräßlichen Lärm. Der Köder lockte denn auch ihre Leute an.

»Hallo! Was ist das fürn Spaß?« Sefton und Campbell kamen herein und fanden Käfer, auf der Seite liegend, den Kopf gegen den Kamin, und heftig weinend, während M’Turk ihn mit den Zehen in den Rücken stich.

»’s ist bloß Käfer«, erklärte Latte. »Er tut nur so, als ob er was hat. Ich kann Turkey nicht dazu bringen, ihm mehr zu geben.«

Sefton nahm sofort beide Jungen vor, und sein Antlitz erglühte. »Schon gut, ich werd‘ ihnen helfen. Steht auf und macht Hahnenkampf, ihr beide. Gib mir den Bakel. Ich will sie kitzeln. Das ist ’n Spaß. Los, Campbell, wir wollen sie zwiebeln.«

Da wandte sich M’Turk gegen Latte und warf ihm eine Flut von Schimpfworten an den Kopf.

»Du sagtest doch, wir wollten Hahnenkampf machen, Latte, los!«

»Bist ’n großer Esel gewesen, daß du mir geglaubt hast!« schrie Latte.

»Habt ihr Jungen Streit gehabt?« fragte Campbell.

»Streit?« meinte Latte. »Ho! Ich erziehe sie bloß. Verstehst du was vom Hahnenkampf, Seffy?«

»Ob ich was davon verstehe? Na, bei Maclagan, wo ich in der Stadt auf der Presse war, haben wir immer in seinem Sprechzimmer Hahnenkampf gemacht, und der kleine Maclagan durfte nicht aufmucksen. Aber wir waren dort natürlich auch so gut wie Erwachsene. Ob ich was davon verstehe? Ich will’s euch zeigen.«

»Kann ich aufsteh’n?« winselte Käfer, während Latte auf seiner Schulter saß.

»Jamm’re nicht, du fettes Luder. Du sollst jetzt gegen Seffy kämpfen.«

»Er schlägt mich aber tot!«

»Oh, wir wollen sie in unser Studierzimmer schleppen«, schlug Campbell vor. »Da ist es nett und ruhig. Ich werde mit Turkey Hahnenkampf machen. Das ist zur Ausbildung für den kleinen Clewer.«

»Famos! Wir behalten die Schuhe an, und sie müssen sie ausziehn«, sagte Sefton vergnügt. Die beiden wurden im Studierzimmer auf den Boden hingeworfen. Latte rollte sie hinter einen Armstuhl.

»Jetzt will ich euch beide zurecht machen und dann den Stierkampf dirigieren. Donner, was für Handgelenke du hast, Seffy. Sie sind zu dick für ’n Taschentuch; habt ihr noch irgend ’n Strick?« fragte er.

»Massenhaft – da in der Ecke«, erwiderte Sefton. »Mach‘ fix! Hör‘ auf zu blöken, Käfer, du Biest. Wir werden jetzt ’ne famose Schlacht haben. Die Besiegten müssen die Sieger besiegen – müssen Oden dichten zu Ehren des Ueberwinders. Du nennst dich ja selbst ’nen verdammt großen Dichter, nicht wahr, Käfer? Ich werd‘ dir’s Dichten beibringen.« – Er wälzte sich an Campbells Seite in Position.

Schnell und mit Sachkenntnis wurden die Stöcke durch die natürlichen Haken gesteckt und die Handgelenke mit fest zusammengezogenen Stricken umbunden, unter einem Begleitkonzert von Injurien von seiten M’Turks, der gebunden, verlassen und rollbar hinter dem Stuhl lag.

Latte brachte Campbell und Sefton in die Ecke und eilte dann zu seinem Verbündeten, unterwegs noch schnell die Tür schließend.

»So, nun ist alles in Ordnung«, sprach er dann mit ganz veränderter Stimme.

»Was, zum Teufel – –« begann Sefton. Käfers falsche Tränen flossen nicht mehr; M’Turk stand wieder auf den Füßen und grinste. Dann banden sie ihre Feinde an Knien und Handgelenken noch fester. Latte setzte sich in den Armstuhl und betrachtete mild lächelnd die ganze Szene. Der Mensch, der zum Hahnenkampf zurecht gemacht ist, ist vielleicht das hilfloseste Ding auf der Welt.

»Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an. Oh, ihr riesigen Esel!« – Er lehnte sich zurück und lachte, bis er nicht mehr konnte. Die Opfer begannen die Situation langsam zu begreifen.

»Ihr werdet von uns die schönsten Prügel kriegen, die ihr je in eurem jungen Leben gehabt habt, wenn wir wieder aufkommen!« donnerte Sefton vom Fußboden. »Ihr werdet nachher schon schön heulen. Was, zum Deiwel, soll das heißen?«

»Das werdet ihr in zwei Augenblicken seh’n«, sagte M’Turk. »Flucht nicht so. Was wir wissen wollen, ist, warum ihr beiden riesigen Schweine Clewer gepiesackt habt?«

»Das geht euch nichts an.«

»Warum habt ihr Clewer gepiesackt?« Die Frage wurde von allen dreien abwechselnd mit wahnsinnig machender Wiederholung gestellt. Sie verstanden ihre Sache.

»Weil wir Lust hatten«, lautete schließlich die Antwort. »Laßt uns aufstehen.« Sie wußten noch immer nicht, worauf das alles hinzielte.

»Na, jetzt werden wir euch piesacken, weil wir Lust haben. Wir werden ebenso anständig gegen euch sein, wie ihr’s gegen Clewer war’t. Er konnte nichts gegen euch tun. Ihr könnt nichts gegen uns tun. Toll, nicht wahr?«

»Wir können nichts tun? Wartet’s nur ab!«

»Ah,« sagte Käfer nachdenklich, »man merkt, daß noch nie mit euch jemand ordentlich gespaßt hat. Oeffentlich Prügel gibt’s nicht bei ’nem anständigen Spaß. Ich wette ’nen Bob, ihr werdet weinen und alles mögliche versprechen.«

»Paß auf, kleiner Käfer, wir werden dich halb totschlagen, wenn wir wieder aufkommen. Ich verspreche dir das auf jeden Fall.«

»Jetzt wirst du erst mal halb totgeschlagen werden. Habt ihr Clewer Kopfnüsse gegeben?«

»Habt ihr Clewer Kopfnüsse gegeben?« echote M’Turk. Und bei der zwanzigsten Wiederholung – kein Junge kann die Marter einer unaufhörlich wiederholten Frage aushalten, und das ist eben die Hauptsache beim Malträtieren – erfolgte die Beichte.

»Ja, wir haben – der Teufel soll euch holen!« »Dann wollen wir euch Kopfnüsse geben.« Und sie bekamen sie, ausgeteilt nach alten Erfahrungen. Kopfnüsse sind keine Kleinigkeit, aber Molly Fairburn hätte sie in den alten Tagen nicht besser verabfolgen können.

»Habt ihr Clewer die Bürste gegeben?«

Dieses Mal wurde die Frage früher beantwortet, und fünf Minuten lang nach Lattes Uhr bekamen sie die Bürste. Sie konnten sich nicht einmal krümmen in ihren Banden. Beim Bürstegeben ist übrigens keine Bürste erforderlich.

»Habt ihr Clewer den Schlüssel gegeben?«

»Nein, wir haben’s nicht! Ich schwöre, wir haben’s nicht!« schrie Campbell, in Todeszuckungen sich wälzend.

»Dann wollen wir ihn euch geben, damit ihr sehen könnt, wie’s gewesen wäre, wenn ihr’s getan hättet.«

Die Folter des Schlüssels – wozu übrigens kein Schlüssel gebraucht wird – tut entsetzlich weh. Mehrere Minuten lang mußten sie sie erdulden, und die Aeußerungen, die sie fallen ließen, machten Knebel notwendig.

»Habt ihr Clewer Korkzieher gegeben?«

»Ja. Oh, verdammt sollt ihr sein, blödsinnige Bande! Laßt uns in Ruhe, ihr Gesindel!«

Sie bekamen Korkzieher, und diese Folter – sie hat nichts mit einem Korkzieher zu tun – ist noch schlimmer als die des Schlüssels.

Die methodischen und schweigsamen Angriffe erschöpften die Nerven. Vor jeder neuen Folter kam der erbarmungslose, betäubende Regen von Fragen, und wenn sie nicht zur Sache antworteten, wurden ihnen Taschentücher von Isabellenfarbe in den Mund gesteckt.

»Das wären wohl all die Sachen, die ihr mit Clewer gemacht habt? Nimm die Knebel ‚raus, Turkey, und laß sie antworten.«

»Ja, ich schwör‘, das war alles. Oh, ihr schlagt uns tot, Latte«, schrie Campbell.

»Genau das hat Clewer zu euch gesagt. Ich hab’s gehört. Jetzt wollen wir euch zeigen, was richtiges Piesacken ist. Was ich von dir nicht leiden kann, Sefton, ist, daß du mit deinem meterhohen Kragen und deinen Lackstiefeln hier ins Institut kommst und glaubst, du kamst uns noch was beibringen? Nimm ihm den Knebel ‚raus und laß ihn antworten.«

»Nein«, lautete die grimmige Antwort.

»Er sagt nein. Wir wollen ihn einwiegen. Campbell kann zuseh’n.«

Einen Jungen einzuwiegen, dazu gehören drei Jungen und zwei Boxerhandschuhe. Auch in diesem Fall hat die Operation nichts mit ihrem Namen zu tun. Sefton wurde gewiegt, bis ihm die Augen tief im Kopf saßen und er, krank und betäubt, nach Atem schnaubte und krächzte.

»Heil’ge Tante!« sagte Campbell erschreckt aus seiner Ecke her und wurde ganz bleich.

»Schafft ihn weg«, ordnete Latte an. »Bringt Campbell her. So, dies heißt Piesacken. Oh, ich vergaß! Sage, Campbell, weshalb hast du Clewer gepiesackt? Nehmt ihm den Knebel ‚raus und laßt ihn antworten.«

»Ich – ich weiß es nicht. Oh, laßt mich in Ruhe! Ich schwöre, ich will pax machen. Wiegt mich nicht!«

»Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an. Er sagt, er weiß es nicht. Setz‘ ihn aufrecht, Käfer. Gib mir den Handschuh und steck‘ ihm den Knebel ‚rein.«

In tiefer Stille wurde Campbell vierundzwanzigmal »gewiegt«.

»Ich glaube, ich sterbe«, stöhnte er.

»Er sagt, er stirbt. Bringt ihn weg. Nun, Sefton! Oh, ich vergaß. Sefton, weshalb hast du Clewer gepiesackt?«

Die Antwort läßt sich im Druck nicht wiedergeben, doch Lattes ruhiges Antlitz bedeckte nicht die leiseste Röte.

»Gib ihm Katzenköpfe, Turkey.«

Und sogleich bekam er Katzenköpfe. Die hart erkaufte Erfahrung von nahezu achtzehn Jahren stand zu seiner Verfügung, aber er schien sie nicht zu schätzen.

»Er sagt, wir sind gemein. Bringt ihn weg! Nun, Campbell! Oh, ich vergaß! Na, Campbell, warum hast du Clewer gepiesackt?«

Jetzt kamen die Tränen – heiße Tränen, Flehen um Gnade und kriechende Friedensversprechungen. Sie sollten mit den Foltern aufhören, und Campbell würde niemals die Hand wider sie erheben. Die Fragen begannen von neuem, begleitet von heftigen Ueberredungskünsten.

»Du scheinst kaputt zu sein, Campbell. Bist du kaputt?«

»Ja. Schrecklich.«

»Er sagt, er ist kaputt. Bist du gebändigt?«

»Ja, ja! Ich schwöre, ich bin’s. Oh, hör‘ auf!«

»Er sagt, er ist gebändigt. Bist du gehorsam?«

»Ja!«

»Er sagt, er ist gehorsam. Bist du ganz verteufelt gehorsam?«

»Ja!«

»Er sagt, er ist ganz verteufelt gehorsam. Wirst du Clewer niemals mehr piesacken?«

»Nein. Nei–ein!«

»Er sagt, er wird Clewer nicht mehr piesacken. Oder irgend wen anders?«

»Nein. Ich schwöre, ich werd’s nicht tun.«

»Oder irgend wen anders. Wie ist das mit den Prügeln, die du und Sefton uns geben wolltet?«

»Ich werd‘ nicht! Ich werd‘ nicht! Ich schwöre, ich werd‘ nicht!«

»Er sagt, er wird uns nicht prügeln. Glaubst du, daß du etwas vom Piesacken verstehst?«

»Nein – ich versteh‘ nichts!«

»Er sagt, er versteht nichts vom Piesacken. Haben wir dir nicht ’n bißchen beigebracht?«

»Ja – ja!«

»Er sagt, wir haben ihm ’n bißchen beigebracht. Bist du nicht dankbar?«

»Ja!«

»Er sagt, er ist dankbar. Bringt ihn weg. Oh, ich vergaß! Höre, Campbell, weshalb hast du Clewer gepiesackt?«

Er begann von neuem zu weinen; seine Nerven waren hin. »Weil ich ein Rauhbein war. Ich denke, das ist es, was ihr von mir hören wollt.«

»Er sagt, er ist ein Rauhbein. Stimmt. Legt ihn in die Ecke. Campbell hat genug Spaß. Jetzt Sefton!«

»Ihr Teufel! Ihr jungen Satans!« Dies und noch viel mehr erscholl, als Sefton von geschickten Knien gegen den Kamin befördert wurde.

»Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an. Wir wollen dich jetzt schön machen. Wo verwahrt er sein Rasierzeug? (Campbell gab Auskunft.) Käfer, hol‘ Wasser. Turkey, schlag‘ Schaum. Wir werden dich jetzt rasieren, Seffy. Deshalb wird’s besser sein, wenn du still liegst, sonst wirst du geschnitten werden. Ich hab‘ bis jetzt noch nie jemand rasiert.«

»Laß sein! Oh, laß sein! Bitte, laß sein!«

»Wirst jetzt höflicher, eh? Ich will nur einen netten, kleinen Backenbart abnehmen –«

»Ich will – ich will pax machen, wenn du’s sein läßt. Ich schwöre, ich will euch eure Prügel schenken, wenn ich aufstehen kann.«

»Und auch die Hälfte von dem Schnurrbart, auf den wir so stolz sind. Er sagt, er will uns unsere Prügel schenken. Ist er nicht nett?«

M’Turk lachte in den vernickelten Rasiernapf hinein und brachte Seftons Kopf zwischen Lattes Knie, die sich wie ein Schraubstock zusammenschlossen.

»Wartet ’nen Augenblick,« sagte Käfer, »man kann lange Haare nicht rasieren. Ihr müßt den Schnurrbart erst kurz schneiden und ihn dann abschaben.«

»Na, ich werde nicht erst nach ’ner Schere auf die Jagd gehen. Tut’s nicht auch ’n Streichholz? Reich‘ uns die Streichholzschachtel. Er ist ein Schwein, wißt ihr; deshalb müssen wir ihn sengen. Lieg‘ still!«

Er zündete einen Wachszündfaden an, zog aber plötzlich die Hand zurück. »Ich brauche ja bloß die Hälfte abnehmen.«

»Das ist gut.« Käfer schwenkte den Rasierpinsel. »Ich werd‘ ihn in der Mitte einseifen, ja? Du kannst das andre abbrennen.«

Der dünnhaarige frühe Jünglingsschnurrbart ging in Flammen auf bis zu der Seifenlinie in der Mitte der Lippe, und Latte rieb die verbrannten Stoppeln mit dem Daumen fort. Es war kein sehr sauberes Rasieren, aber es erfüllte seinen Zweck überreichlich.

»Jetzt den Backenbart auf der andern Seite. Dreht ihn um!« Auch dies wurde mit Streichholz und Rasiermesser erledigt. »Gebt ihm seinen Rasierspiegel. Nehmt den Knebel ‚raus! Ich möchte hören, was er sagen wird.«

Aber es kamen keine Worte. Sefton starrte voll Entsetzen und Verzweiflung auf das einseitige Wrack. Zwei dicke Tränen rollten ihm über die Backen.

»Oh, ich vergaß! Du, Sefton, weshalb hast du Clewer gepiesackt?«

»Laß mich in Ruh‘! Oh, ihr verdammten Rauhbeine, laßt mich in Ruh‘! Hab‘ ich denn noch nicht genug bekommen?«

»Er sagt, wir sollen ihn in Ruhe lassen«, sagte M’Turk.

»Er sagt, wir piesacken ihn, und wir haben noch nicht mal angefangen«, sagte Käfer. »Du bist undankbar, Seffy! Donner, du siehst scheußlich abschreckend aus!«

»Er sagt, er hat genug gehabt«, fing Latte an. »Er irrt sich.«

»Wohlan, ans Werk, ans Werk!« sang M’Turk und schwenkte einen Knüppel. »Weiter, mein famoser Narziß, verlieb‘ dich nur nicht in dein eigenes Spiegelbild.«

»Oh, laßt ihn sein,« rief Campbell aus seiner Ecke, »er heult ja.«

Sefton schrie wie ein Zwölfjähriger vor Schmerz, Scham, verletzter Eitelkeit und äußerster Hilflosigkeit.

»Willst du nicht pax machen, Sefton? Du kannst gegen diese jungen Teufel nicht ankommen – –«

»Sei nicht unartig, Campbell, mein Lie–ber,« warnte M’Turk, »sonst kommst du noch einmal ‚ran.«

»Ihr seid Teufel, wißt ihr das?« beharrte Campbell.

»Was? Weil wir euch ein bißchen gezwiebelt haben – ebenso, wie ihr es mit Clewer gemacht habt? wie lange habt ihr schon mit ihm Spaß gemacht?« fragte Latte. »Das ganze Semester?«

»Wir haben ihn aber nicht immer geprügelt!«

»Wenn ihr ihn kriegen konntet, habt ihr’s getan«, erklärte Käfer, der mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden saß und von Zeit zu Zeit einen Knüppel auf Seftons Füße fallen ließ. »Hab‘ ich nicht recht?«

»Ja – vielleicht war’s so.«

»Und ihr habt auch aufgepaßt, ihn zu kriegen? Hab‘ ich nicht recht? Weil er ein schreckliches kleines Biest war, was? Hab‘ ich nicht recht? Na, seht ihr, ihr seid auch schreckliche Biester, und ihr kriegt dasselbe, was er bekam – weil er ein Biest war. Weil wir nun mal Lust haben.«

»Wir haben ihn nie wirklich gepiesackt – so wie ihr uns.«

»Ah!« machte Käfer. »Sie piesacken nie wirklich – »Molly« Fairburn tat’s auch nicht. Hat nur ein klein bißchen geprügelt. So sagen sie dann. Schlagen ihnen bloß die Seele aus dem Leib, daß sie in die Schrankzimmer gehn und heulen. Stecken den Kopf zwischen die Mäntel und heulen sich aus. Schreiben den Tag dreimal nach Haus‘ – ja, du Biest, ich hab’s getan – und bitten, man soll sie wegnehmen. Du bist nie ordentlich gepiesackt worden, Campbell. Tut mir leid, daß du pax gemacht hast.«

»Mir nicht«, meinte Campbell, der etwas Humorist war. »Gib acht, du schlägst Sefton.«

In seiner Erregung hatte Käfer den Knüppel ohne Ueberlegung gebraucht, und Sefton schrie jetzt um Gnade.

»Und du!« rief Käfer und drehte sich auf seinem Platz um, »du bist auch nie gepiesackt worden. Wo warst du, eh‘ du hierher kamst?«

»Ich – ich hatte einen Hauslehrer.«

»Ah! das paßte dir. Du hast nie in deinem Leben geheult. Aber jetzt heulst du, wahrhaftig, heulst du jetzt nicht?«

»Kannst du’s nicht sehen, du blindes Biest?« Sefton fiel seitwärts hinüber. Die Tränen hatten durch den angetrockneten Seifenschaum Furchen gezogen. Krach! sauste ihm der Kricketstab auf die Krümmung der Hinterseite.

»Blind bin ich«, sagte Käfer, »und ein Biest? Laß sein, Latte. Ich will mit unserm Freund ein bißchen spaßen, à la »Molly« Fairburn. Ich glaube, ich kann seh’n. Kann ich seh’n, Sefton?«

»Der Punkt ist gut gewählt,« meinte M’Turk, der den Knüppel bei seiner Arbeit beobachtete, »’s würd‘ besser sein, wenn du sagtest, daß er sieht, Seffy.«

»Ja – du kannst! Ich schwöre, du siehst!« brüllte Sefton, denn kräftige Beweisgründe zwangen ihn dazu.

»Sind meine Augen nicht nett?« Der Knüppel hob und senkte sich stetig während dieser Katechese. »Ja.«

»Ein sanftes Braun – nicht wahr?«

»Ja – – ja!«

»Was für ein Lügner du bist! Sie sind himmelblau. Sind sie nicht himmelblau?«

»Ja – o ja!«

»Du weißt von einer Minute zur andern nicht, was du willst. Du mußt lernen – du mußt lernen.«

»Du kannst wohl nicht genug kriegen?« sagte Latte. »Sei doch man friedlich, Käfer.«

»Das hab‘ ich für mich getan«, erklärte Käfer, »weil er gesagt hat, ich wäre ’n Biest.«

» Pax, o pax!« schrie Sefton, »wir wollen pax machen. Ich bin ganz ruhig. Laß mich sein. Ich bin kaputt. Ich kann’s nicht mehr aushalten.«

»Ugh! Und wir haben eben erst angefangen!« grunzte M’Turk. »Sie hätten Clewer nicht sein lassen, möcht‘ ich schwören.«

»Beichte, entschuldige dich – schnell!« ermunterte Latte.

Vom Fußboden her erklärte Sefton seine bedingungslose Unterwerfung, sogar noch demütiger als Campbell. Er würde nie wieder jemand anrühren. Er würde zeitlebens sich ruhig verhalten.

»Wir können’s annehmen, denke ich«, meinte Latte. »So ist’s recht. Sefton, bist du kaputt? Vortrefflich. Hör‘ auf, Käfer! Aber bevor wir euch aufsteh’n lassen, wollt ihr beide uns noch eine Freude machen mit »Kitty von Coleraine« – à la Clewer.«

»Das ist nicht anständig«, erklärte Campbell; »wir haben uns unterworfen.«

»Natürlich habt ihr’s. Jetzt werdet ihr tun, was wir euch sagen – ebenso, wie’s Clewer machen würde. Wenn ihr euch nicht unterworfen hättet, würdet ihr jetzt erst richtig gepiesackt. Da ihr euch aber unterworfen habt – hörst du, Seffy – singt ihr Oden zu Ehren der Sieger. Fix!«

Sie ließen sich protzig auf Stühlen nieder. Campball und Sefton sahen einander an, fanden aber in dem gegenseitigen Anblick auch keinen Trost und stimmten also »Kitty von Coleraine« an.

»Verdammt schlecht«, erklärte Latte, als der jämmerliche Klagegesang beendet war. »Wenn ihr euch nicht unterworfen hättet, würde es unsere schmerzliche Pflicht sein, euch Bücher an den Kopf zu schmeißen, weil ihr falsch gesungen habt. Na, nun ist’s gut!«

Er befreite sie von ihren Banden, aber ein paar Minuten lang konnten sie sich noch nicht erheben. Campbell war zuerst auf seinen Füßen; er lächelte unbehaglich. Sefton wankte auf den Tisch zu, begrub den Kopf in den Armen und weinte krampfhaft. Keiner von beiden hatte auch nur einen Schatten von Kampflust – nur Schreck, Trübsal und Beschämung beherrschte sie.

»Bitte – kann – kann er sich nicht noch vor dem Tee rasieren?« fragte Campbell. »In zehn Minuten läutet’s.«

Latte schüttelte den Kopf. Er hatte die Absicht, den Halbrasierten zum Teetisch zu eskortieren.

M’Turk gähnte in seinem Stuhl, und Käfer wischte sich das Gesicht. Die Aufregung und Anstrengung hatte sie total erschöpft.

»Wenn ich was davon verstände, würde ich euch wahrhaftig ’ne moralische Vorlesung halten«, sagte Latte ernst.

»Quatsch‘ nicht; sie haben sich unterworfen«, widersprach M’Turk.

»Solch nettes moralisches Zureden treibt einem Jungen solche Sachen aus.«

»Seht ihr nicht, wie anständig wir gewesen sind? Wir hätten Clewer ‚reinrufen können, daß er zuseh’n sollte«, sprach Latte. »Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an. Aber wir haben’s nicht getan. Wir brauchten bloß ’n paar Jungens im Institut von der Geschichte erzählen, und man würde euch schön nachschreien. Ihr würdet nicht das Leben wert sein. Aber wir werden das nicht tun. Wir wirken nur moralisch auf euch ein, Campbell; und wenn du oder Seffy nichts davon ausquatscht, wird keiner von uns was sagen.«

»Du bist wahrhaftig anständig, mein Wort drauf«, meinte Campbell. »Ich glaub‘, ich war ziemlich gemein gegen Clewer.«

»Es sah so aus«, entgegnete Latte. »Aber ich meine, Seffy braucht nicht mit ’nem schielenden Bart in den Speisesaal zu kommen. Wär‘ sehr schlimm, den Füchsen gegenüber, wenn sie das sehen würden. Er darf sich rasieren. Bist du nicht dankbar, Sefton?«

Er hob den Kopf nicht. Sefton war in tiefen Schlaf gesunken.

»Das ist doll«, meinte M’Turk, als ein Schnarchton von einem Schluchzen abgelöst wurde. »Unverschämt, meine ich, oder er tut bloß so.«

»Nein, es stimmt«, erklärte Käfer. »Wenn »Molly« Fairburn mich so ’ne Stunde vorgehabt hatte, verkroch ich mich irgendwo und schlief ’ne Weile auf ’ner Bank. Armer Teufel! Aber er hat mich ’nen verdammt großen Dichter geschimpft.«

»Na, kommt.« Latte sprach leiser. »Adieu, Campbell. Denk‘ dran, wenn ihr nichts sagt, sagt auch keiner von uns was.«

Eigentlich wäre nun ein Kriegstanz am Platze gewesen, aber die drei waren so sehr müde, daß sie schon beinahe über den Teetassen in ihrem Studierzimmer einnickten. Sie schliefen dann auch bis zur Arbeitsstunde.

*

»Ein höchst merkwürdiger Brief. Sind denn alle Eltern unheilbar verrückt? Was sagen sie dazu?« fragte der Direktor und reichte Ehrwürden John acht engbeschriebene Seiten.

»Der einzige Sohn seiner Mutter, und die war eine Witwe. Die Art nimmt am allerwenigsten Vernunft an.« Der Kaplan las mit zusammengekniffenen Lippen.

»Wenn die Hälfte jener Beschwerden wahr wäre, müßte er im Krankenhause sein. Aber er befindet sich schrecklich wohl. Rasiert ist er allerdings, das hab‘ ich bemerkt.«

»Dazu gezwungen, wie seine Mutter erklärt. Wie köstlich! Wie heilsam!«

» Sie brauchen ihr nicht zu antworten. Es kommt nicht oft vor, daß ich nicht weiß, was in der Schule passiert ist; dies aber ist mir entgangen.«

»Wenn Sie mich fragten, würde ich Ihnen raten, in diesem Fall nicht besänftigend zu antworten. Wenn man gezwungen ist, Pressiers aufzunehmen – – –«

»Heute morgen war er bei mir in der Privatstunde vollkommen gesund«, sagte der Direktor nachdenklich. »Ganz ungewöhnlich wohl schien ihm zu sein.«

»– – dann erziehen sie die Schule, oder – wie in diesem Falle – die Schule erzieht sie. Ich ziehe unsere eigene Methode vor«, schloß der Kaplan.

»Sie glauben, das war es?« Der Direktor zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Ich bin dessen sicher. Aber nichts entschuldigt sie, daß sie das Institut schlecht zu machen versuchen.«

»Das ist ein Punkt, wegen dessen ich sie mir noch vornehmen will«, antwortete der Direktor.

Die Auguren blinzelten sich zu.

*

Ein paar Tage später suchte Ehrwürden John »Nummer fünf« auf. »Warum haben wir Sie nicht früher geseh’n, Padre?« fragten sie.

»Ich habe den Lauf der Zeiten und Ereignisse beobachtet und Menschen – und Jungen«, entgegnete er. »Ich bin mit meiner zehnten Legion zufrieden. Ich mache ihr mein Kompliment. Clewer warf heute morgen in der Klasse mit Papierkugeln, statt seine Arbeit zu tun. Er schreibt jetzt seine fünfzig Zeilen ab, wegen – unerhörter Frechheit.«

»Sie können uns nicht tadeln, Sir«, sagte Käfer. »Sie haben uns gesagt, wir sollten – die – die Bedrückung verhindern. Das ist das schlimmste für ’nen Fuchs.«

»Ich kenne Jungens, die fünf Jahre älter sind als er und mit Papierkugeln werfen, Käfer. Solch einem hab ich vor nicht langer Zeit zweihundert Zeilen aufgegeben. Und jetzt fällt mir ein, ob die Arbeit jemals aufgezeigt worden ist.«

»Ist sie aufgezeigt, Turkey?« fragte Käfer, ohne zu erröten.

»Meinen Sie nicht, Padre, daß Clewer ’n bißchen sauberer geworden ist?« fiel Latte ein.

»Wir sind ganz gewaltige moralische Reformatoren«, sagte M’Turk.

»Latte machte alles, aber es war ’n Spaß«, erzählte Käfer.

»Ich habe die moralische Reformation nach verschiedenen Richtungen hin bemerkt. Habe ich euch nicht gesagt, ihr hättet mehr Einfluß als alle andern Jungen im Institut, wenn ihr ihn nur anwenden wolltet?«

»Der Spaß nimmt einen aber ordentlich mit – unsere Art von moralischer Ueberredung oft anzuwenden. Außerdem, sehen Sie, macht es Clewer bloß unverschämt.«

»Ich dachte nicht an Clewer; ich dachte an – an die andern, Latte.«

»Oh, wir haben uns nicht viel um die andern gekümmert«, sagte M’Turk. »Nicht wahr?«

»Aber ich – von Anfang an.«

»Dann haben Sie gewußt, Sir.«

Eine große, zu Boden geblasene Tabakswolke.

»Jungen erziehen einander gegenseitig mehr, als unsereins kann oder darf. Wenn ich die Hälfte jener moralischen Ueberredung angewandt hatte, die ihr nun gebraucht oder nicht gebraucht habt –«

»Mit den besten Absichten von der Welt, vergessen sie unsere frommen Absichten nicht, padre«, sagte M’Turk.

»Ich glaube, dann würde ich jetzt in Bideford im Gefängnis schmachten, nicht wahr? Na, um mit dem Direktor zu sprechen, in einer kleinen Angelegenheit, die wir zu vergessen übereingekommen sind, und die mich immer als himmelschreiende Ungerechtigkeit berührt. – worüber lacht ihr denn, ihr jungen Sünder? Ist es nicht wahr? Ich bin nicht hierher gekommen, um mich auslachen zu lassen. Ich kam nur in diese Sündenhöhle, um zu sehen, ob einer von euch vielleicht Lust hätte, nach den Klippen baden zu kommen. Aber ich sehe, ihr wollt nicht.«

»Wir wollen nicht?! Einen halben Augenblick, Padre Sahib; wir wollen nur unsere Handtücher holen, und dann nous sommes avec vous!“

  1. Vulgär für Schilling.

Eine besondere Arbeitsstunde.

Eine besondere Arbeitsstunde.

VI.

Es war ein Monat seit den Osterferien verflossen, als Stettson I, ein Tagesschüler, die Diphtheritis bekam. Der Direktor war sehr ärgerlich. Er setzte neue, sehr enggezogene Grenzen fest – die Ansteckung wurde einem entfernt liegenden Gutshause zugeschrieben – legte den Aufsehern dringend ans Herz, alle, die diese Grenze überschritten, zu prügeln, und versprach ihnen auch noch einige Extra-Aufmerksamkeiten von seiner eigenen Hand. Für Stettson I, der im Hause seiner Mutter Quarantäne halten mußte, war überhaupt keine Bezeichnung schlecht genug, denn er hatte den Durchschnitts-Gesundheitsstand der Schule heruntergebracht. So äußerte er sich in der Turnhalle nach dem Gebet. Dann schrieb er gegen zweihundert Briefe an ebenso viele ängstliche Eltern und Vormünder und ersuchte das Institut, den alten Kurs beizubehalten. Die Beunruhigung griff nicht um sich, aber eines Nachts fuhr ein Dogcart vor die Tür des Direktors vor, und am nächsten Morgen war er fort und hatte alle Geschäfte Mister King anvertraut, dem ältesten Hausmeister. Der Direktor war oft in der Stadt, und in der Schule war man des frommen Glaubens, er bestäche dort Beamte und suchte Einzelheiten über die Examina-Arbeiten zu erfahren. – Seine jetzige Abwesenheit dehnte sich aber ungewöhnlich lange aus.

»Schlauer alter Vogel!« sagte Latte zu seinen Verbündeten an einem regnerischen Nachmittag im Studierzimmer. »Er muß auf krummen Wegen gewandelt und eingesperrt worden sein – – unter falschem Namen.«

»Weshalb?« Käfer war sofort freudig bereit, das Pasquill munter auszuarbeiten.

»Vierzig Schilling, oder ’nen Monat brummen, weil er den Hausknecht bei Pavon vertakelt hat. Vater trinkt immer gern ’n bißchen, wenn er in der Stadt is‘. Ich wünsch‘ aber, er wäre wieder zurück. Ich bin schon beinah‘ krank von Kings »Geißeln und Plagen« und seinen Vorlesungen über den Geist in öffentlichen Schulen – pah! – und die hitzige Schuljugend!«

»Krasse materielle Lebensanschauung, äh, in den mittleren Klassen – wird nur auf die Zensur hingearbeitet. Kein richtiger Schüler in der ganzen Klasse.« Das zitierte M’Turk, während er mit dem Feuerhaken Löcher ins Kaminsims bohrte.

»Das ist g’rad keine besondere Beschäftigung für den Nachmittag, – stinkt auch dabei. Wir wollen ‚rausgehn und rauchen. Hier hab‘ ich was Feines.« Latte wies eine lange Importe vor – Manilaformat. »Hab‘ sie in den Ferien meinem Vater geklemmt. Ich trau‘ mich nicht recht ‚ran, – ist stärker als ’ne Pfeife. Wir wollen sie zusammen rauchen – wie beim Palmer. Von Hand zu Hand gehend – nicht wahr? Wir wollen uns hinter der alten Egge auf dem Weg nach der Affenfarm hinlagern.«

»Das ist über die Grenze. Die Grenzen sind jetzt verflucht scharf gezogen. Und dann – wir werden ja danach schön sterben müssen.«

Käfer beschnüffelte die Zigarre kritisch: »’s is‘ ’n richtiger Pomposo Stinkadore?«

»Du kannst’s ja, – ich werd‘ schon nicht. Was meinst du, Turkey?«

»Oh, mir ist’s schon recht.«

»Setz‘ dir die Mütze auf. Zwei gegen einen, Käfer! Los, kommt!«

Vor der Anschlagtafel im Korridor sahen sie eine Gruppe Jungen, der kleine Foxy, der Schulsergeant, mitten darunter.

»Wohl weitere Grenzen«, sagte Latte, »Hallo, Foxybus, um wen trauern Sie?« – Der Sergeant trug ein breites Kreppband um den Arm.

»Er war in meinem alten Regiment«, erklärte Foxy und wies durch ein Kopfneigen auf die Tafel, wo mitten unter den Aufruflisten ein Zeitungsausschnitt angesteckt war.

»Donner noch mal!« rief Latte aus, während er mit abgezogenem Hute las. »’s ist der alte Duncan – »Mastschwein« Duncan – im Dienst gefallen. Sammelte seine Leute mit hervorragender Tapferkeit – das tat er selbstverständlich. Der Leichnam wurde gefunden. Das ist gut. sie zerhacken sie nämlich manchmal, nicht wahr, Foxy?«

»Schrecklich«, sagte der Sergeant kurz.

»Armes altes Mastschwein! Ich war noch ’n Fuchs, als er abging. Wie viele sind das jetzt von uns, Foxy?«

»Mister Duncan, das ist der neunte. Als er hierherkam, war er nicht größer als jetzt der kleine Grey III. Und in meinem alten Regiment! Ja, Mister Corkran, jetzt sind’s neun von uns.«

Die Jungen gingen in den Nebel hinaus, sie schlenderten langsam dahin.

»Möcht‘ doch wissen, wie das ist, wenn man so getroffen wird, und all das«, meinte Latte, als sie einen Hohlweg hinunterpaschten. »Wo ist’s passiert, Käfer?«

»Oh, irgendwo in Indien, wir prügeln uns da immer ‚rum. Aber du, Latte, was hat das nur für ’nen Zweck, unter ’ner Hecke zu sitzen und zu gerben? Es ist verflucht kalt. Es ist verflucht naß, und wir werden teufelsmäßig sicher abgefaßt werden.«

»Quatsch nicht! Kannst du sagen, daß euer Onkel Latte euch schon mal hat ‚reinfallen lassen?« –

Wie viele andere Feldherren überging Latte gern frühere Niederlagen.

Sie zwängten sich durch eine tropfennasse Hecke, landeten inmitten feuchter Erdschollen und ließen sich auf einer rostbedeckten Egge nieder. Die Zigarre brannte mit Sprühen wie Salpeter. Sie rauchten behutsam daran, und jeder überreichte sie dem andern zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Doch ganz gut, daß wir nicht jeder eine haben, nicht wahr?« stieß Latte zwischen zusammengekniffenen Zähnen hervor und schüttelte sich. Zur Bestätigung seiner Worte gab er unmittelbar darauf alles von sich, was er in sich hatte, und die andern folgten seinem Beispiel.

»Ich hab’s euch ja gesagt«, jammerte Käfer, kalten Schweiß auf der Stirne. »Oh, Latte, du bist ein Schafskopf!«

»Je gerbe, tu gerbes, il gerbe, nous gerbons!« M’Turk leistete seinen Tribut und lag dann verzweiflungsvoll auf dem kalten Eisen.

»Irgendwas ist mit dem verfluchten Ding nicht in Ordnung. Du, Käfer, hast du vielleicht Tinte drauf gegossen?«

Aber Käfer war nicht in der Lage zu antworten. Schwach und leer wälzten sie sich auf der Egge herum, daß der Rost ihre Mäntel rot karierte. Der verlassene Zigarrenstummel rauchte unter ihren kalten Nasen weiter. Da, auf einmal, ohne daß sie es gehört, stand der Direktor vor ihnen, der eigentlich in der Stadt hätte sein müssen, um Examinatoren zu bestechen – der Direktor, phantastisch angezogen, mit breitkrämpigem Jägerhut und Lodenrock.

»Ah!« sagte er und drehte seinen Schnurrbart. »Sehr gut. Ich hätte mir denken können, wer’s war. Ihr werdet jetzt nach dem Institut zurückgehen, Mister King eine Empfehlung von mir bestellen und ihn bitten, euch eine spezielle Extratracht Prügel zu verabfolgen. Außerdem werdet ihr mir 500 Zeilen abschreiben. Ich werde morgen zurück sein. Fünfhundert Zeilen morgen um fünf Uhr. Und dies ist durchaus nicht die Zeit, über die Grenze zu laufen, spezielle Extratracht. Und dann habt ihr noch eine Woche Hausarrest. Bitte!«

Er verschwand hinter der Egge ebenso schnell, wie er gekommen war. In dem tiefen Hohlweg wurden Frauenstimmen hörbar.

»Oh, dieser verdammte Alte!« brach Turk los, als die stimmen verhallt waren, »Latte, du mit deiner Dämlichkeit bist allein schuld.«

»Schlag ihn tot! Schlag ihn tot!« ächzte Käfer.

»Ich kann nicht – ich muß wieder gerben. ’s ist mir ja ganz egal, aber King wird schon vor Vergnügen brüllen: Spezielle Extratracht, oh!«

Latte gab keine Antwort, nicht einmal eine friedliche, sie gingen nach dem Institut und erhielten das, wonach sie geschickt waren. King war höchst vergnügt hierüber, denn wegen ihres Alters waren die Jungen für gewöhnlich seiner Macht entzogen und besonderer Gerichtsbarkeit unterstellt. Zu seinem weiteren Glück war er auch nicht für sanfte Methode.

»Seltsam, wie doch der Wunsch die Erfüllung übereilt«, zitierte Käfer in Beziehung aus irgendeinem shakespeareschen Drama, das in diesem Semester gerade durchgenommen wurde, sie machten, daß sie in ihr Studierzimmer kamen, und setzten sich zu ihrer Strafarbeit nieder.

»Du hast ganz recht, Käfer«, begann Latte in sanften und versöhnenden Tönen. »Denk‘ doch, wenn uns der Direktor zu einem Aufseher geschickt hätte – das hätten wir nicht sobald vergessen dürfen.« »Hör‘ mal,« erklärte M’Turk kalt und bitter, »wir wollen uns mit dir der Geschichte wegen nicht zanken, weil’s das nicht wert ist, aber wir müssen dir doch sagen, daß du jetzt mal exkommuniziert bist, Latte. Du bist ’n ganzer Esel.«

»Wie konnt‘ ich wissen, daß der Direktor uns abfassen wird? Was macht er überhaupt in dem dollen Anzug?«

»Versuch‘ nicht, von was anderm zu reden«, brummte Käfer voll Ernst.

»Na, Stettson I hat allein schuld. Wenn er nicht auf einmal Diphtheritis gekriegt hätte, wär‘ das gar nicht passiert. Aber, meint ihr nicht auch, ’s ist komisch, daß er uns auf dem Weg über’n Hals gekommen ist.«

»Halt’s Maul, du bist tot!« erklärte Käfer. »Die Spur deiner verdammten Füße ist getilgt, und dein Wappenschild ist verkehrt aufgehängt, und – ich meine – du darfst jetzt einen Monat nichts von Fressalien abkriegen.«

»Oh, laß mich doch in Ruh‘! Ich möchte –«

»In Ruh‘? was – wir haben ’ne Woche lang Hausarrest.« M’Turk weinte beinahe, als er sich der Trostlosigkeit ihrer Lage bewußt wurde. »Prügel von King, fünfhundert Zeilen und Hausarrest. Denkst du etwa, wir werden dich küssen, Latte, du Biest?«

»Hör‘ mal ’ne Weile mit Schimpfen auf, ich möcht‘ gerne wissen, wo der Direktor gesteckt hat.«

»Na, du weißt’s ja. hast doch gesehen, daß er ganz wohl und munter war. hast doch gesehen, daß er Stettson I seine Mutter poussierte. Das war sie, im Hohlweg – ich hab‘ sie gehört, vor der Mutter von ’nem Tagesschüler sind uns also Prügel zudiktiert worden. Uebrigens, ’ne magere olle hexe«, sagte M’Turk. »Möchtest du noch irgendwas anderes ‚rauskriegen?«

»Hab‘ keine Lust, ich schwör‘ – werd ihn eines Tages auch schon noch ‚rankriegen«, grollte Latte.

»Sieht g’rade so aus«, meinte M’Turk. »Spezielle Extratracht, ’ne Woche Hausarrest und fünfhundert – – und jetzt fängst du an, darüber zu schimpfen, hilf mir, ihn aufhängen, Käfer!« – Latte hatte ihnen seinen Virgil an die Köpfe geworfen.

Der Direktor kehrte am nächsten Morgen ohne weitere Erklärung zurück und fand die fünfhundert Zeilen auf ihn wartend. Mister Kings Vizekönigtum hatte die ganze Schule ein wenig abgespannt. King hatte rundherum und vor und über den Köpfen der Jungen gesprochen, in erhabenem, aber wechselndem Stil – von dem Geist in öffentlichen Schulen und den Traditionen aller Institute, denn er verstand, jede Gelegenheit wahrzunehmen. Außer einem heißen Haß, den er in zweihundertfünfzig Herzen gegen alle andern Institute erweckt, hatte er nur wenig erreicht – so wenig in der Tat, daß er, als es ihm zwei Tage nach der Rückkehr des Direktors passierte, Latte und Kompagnie, die zwar Hausarrest hatten, aber um Aushilfe nie verlegen waren, beim Murmelspiel im Korridor anzutreffen – daß er dann erklärte, er wäre nicht überrascht – nicht im geringsten überrascht. – Das hatte er überhaupt von Personen mit ihrer Moral erwartet.

»Aber Murmelspiel ist ja gar nicht verboten, Sir, ’s ist ’n sehr interessantes Spiel«, erklärte Käfer, die Knie weiß von Kalk und Staub; darauf bekam er zweihundert Zeilen wegen Unverschämtheit und außerdem den Auftrag, sich beim nächsten Aufseher zur Strafe und Exekution zu melden.

Hinter geschlossenen Türen in Flints Arbeitszimmer – Flint hatte die Aufsicht über die Spiele – ereignete sich folgendes:

»Oh, hör‘ mal, Flint. King hat mich zu dir geschickt, weil ich Murmeln im Korridor gespielt und geschrien hab‘: »Schusser« und »Spannen«.

»Was denkt er denn, was ich damit zu tun hab‘?« war die Entgegnung.

»Keine Ahnung. Na?« Käfer grinste boshaft, »Was soll ich ihm sagen? Er ist ziemlich wütend darüber.«

»Wenn es dem Direktor einfällt, auf der Tafel im Korridor Murmelspielen zu verbieten, dann kann ich was tun, aber auf die Anzeige eines Hausmeisters kann ich nicht einschreiten. Er weiß das ebensogut wie ich.«

Diesen Orakelspruch übermittelte Käfer ganz unversüßt King, der sich beeilte, Flint zu interviewen.

Flint war schon sieben und ein halbes Jahr im Institut. Zechs Monate hatte er allerdings auf einer Londoner Presse zugebracht, die er aber wieder voll Heimweh verließ, um sich bei dem Direktor den letzten Schliff für die Armee anzueignen. Es waren noch vier oder fünf ältere Schüler da, die genau dieselbe Erfahrung gemacht hatten, ganz abgesehen von den Jungen, die aus anderen Instituten wegen einer gewissen Art von Uebermenschentum herausgeworfen und vom Direktor jetzt ganz umgemodelt waren. Es war kein einziger Primaner da, den man ohne Handschuhe anfassen konnte – das hatte King schon gemerkt.

»Soll ich darunter verstehen, daß es Ihre Absicht ist, Klippschulspiele unter den Fenstern Ihres Studierzimmers zu gestatten, Flint? Wenn das der Fall ist, kann ich nur sagen – « Er sagte viel, und Flint hörte höflich zu.

»Ja, Sir, wenn der Direktor das für nötig hält, deshalb die Aufseher zusammenzurufen, dann müssen wir uns mit der Sache befassen. Aber es ist immer im Institut so eingeführt gewesen, daß die Aufseher in einer Sache, die die ganze Schule betrifft, ohne direkten Befehl vom Direktor nichts tun können.«

Es folgten dann noch mehr Auseinandersetzungen, und auf beiden Seiten wurde man etwas ungemütlich.

Als sich nachdem die Aufseher zwanglos in seinem Studierzimmer versammelten, berichtete Flint von seinem Abenteuer.

»Er hat schon ’ne ganze Woche darauf hingearbeitet, und jetzt hat er’s. Ihr wißt ebensogut wie ich, wenn er uns jetzt nicht immer seinen blauen Dunst vorgequatscht hätte, wär’s diesem jungen Teufel von Käfer nicht im Traum eingefallen, mit Murmeln zu spielen.«

»Das wissen wir,« sagte Perowne, »aber darum handelt sich’s nicht. Nach Flints Darstellung hat King auf die Aufseher in solchen Ausdrücken geschimpft, daß ’n erstklassiger Spektakel ganz gerechtfertigt ist. Auswurf von den Pressen, ungehobelte Lümmel vom Lande – nicht wahr? Nun, es ist nicht unmöglich, daß Aufseher –«

»Quatsch!« erklärte Flint. »King ist unser bester klassischer Pauker, den wir haben,– und ’s wär‘ nicht anständig, den Direktor mit ’nem Skandal zu behelligen. Er hat jetzt mit Extrastunden und Examenarbeiten genug zu tun. Außerdem, wie ich schon zu King gesagt hab‘, wir sind keine staatliche Schule, wir sind ’ne Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht, die vier Prozent bezahlt. Mein Vater hat auch Anteile.«

»Was hat das mit der Geschichte zu tun?« fragte Venner, ein rothaariger Jüngling von neunzehn Jahren.

»Na, sollen wir uns denn selbst Schaden tun? meine ich. Wir sind hier, um in die Armee einzutreten oder nicht – nicht wahr? King ist vom Aufsichtsrat angestellt, uns Unterricht zu geben. Alles andere ist Quatsch. Könnt ihr das nicht einsehen?«

Vielleicht war es, daß die Luft ihm ein wenig schwül erschien, daß der Direktor mit seiner Nachmittagszigarre in Flints Studierzimmer erschien. Aber er war so oft gegen Abend im Zimmer eines oder des andern Aufsehers, daß niemand etwas argwöhnte, als er höflich eintrat, nach dem Klopfen, das die Etikette verlangte.

»Eine Versammlung der Aufseher?« Er hob die Augenbrauen in dem klugen Gesicht.

»Das nicht gerade, Sir, wir besprechen bloß manches. Wollen sie nicht den bequemen Stuhl nehmen?«

»Danke. Luxusverwöhnte Jünglinge, die ihr seid.« Er dehnte sich in Flints großem Faulenzer und dampfte eine Weile schweigend. »Na, da ihr alle hier seid, kann ich euch ja bekennen, daß ich der Bote mit der seidenen Schnur bin.«

Die jungen Gesichter wurden ernst. Das bedeutete, daß eine Anzahl von ihnen Extrastunden bekommen und von allen ferneren Spielen ausgeschlossen sein sollte. Für die ersten fünfzehn von ihnen bedeutet das für die Zukunft ja Erfolge in Sandhurst, für die Gegenwart aber Ruin.

»Ja, ich will mein Pfund Fleisch haben, ihr solltet eigentlich schon vor dem Exeter-Match fertig sein, aber es ist unsere verdammte Pflicht, Exeter zu schlagen.«

»Ist das nicht auch beim Match der alten Schüler der Fall?« meinte Perowne. Dieses Match war das Ereignis des Ostersemesters.

»Wollen hoffen, daß sie nicht trainiert sind. Zuerst mal an die Liste. Zuerst muß ich Flint haben. Euklid kommt heran. Sie müssen mit mir ’n paar Beweise vornehmen. Perowne – Mechanik-Extrastunde. Dawson bekommt Extrastunde bei Mister King und Venner deutsche bei mir. Nun, hab‘ ich den ersten fünfzehn großen Schaden getan?« Er lächelte leicht.

»Ruiniert, fürchte ich, Sir«, antwortete Flint. »Können sie uns nicht bis zum Ende des Semesters dispensieren?«

»Unmöglich, ’s wird diesmal scharf zugehen bei den Aufnahmeprüfungen für Sandhurst.«

»Und alles, um von diesen gemeinen Afghanen in Stücke gehackt zu werden«, meinte Dawson. »Ich glaube, ’s wird diesmal kein so großer Andrang sein, nicht wahr?«

»Oh, da fällt mir etwas ein. Crandall kommt mit den alten Schülern her – ich habe zwanzig eingeladen, aber wir werden nur eine kleine Mannschaft zusammenbekommen. Ich weiß auch nicht, ob er viel leisten können wird. ’s hat ihn ziemlich mitgenommen, daß er den alten Duncan tot gefunden hat.«

»Crandall I – der von der Artillerie?« fragte Perowne.

»Nein, der jüngere – »Patentfatzke« Crandall; er steht in einem Eingeborenen-Infanterieregiment. Er war wohl noch vor Ihrer Zeit da, Perowne?«

»In den Zeitungen stand nichts von ihm. Von »Mastschwein« haben wir natürlich gelesen. Was hat denn Crandall getan, Sir?«

»Ich habe eine indische Zeitung mitgebracht, die mir seine Mutter geschickt hat. Es war ein ziemlich tüchtiges – ich glaube, ihr sagt – Stück Arbeit. Soll ich’s vorlesen?«

Der Direktor verstand vorzulesen; als er mit der enggedruckten Viertelspalte fertig war, dankten ihm alle höflich.

»Das ist gut für das alte Institut!« meinte Perowne. »Ist aber schade, daß er nicht zurechtkam, »Mastschwein« zu retten. Das ist der neunte von uns in den letzten Jahren, nicht wahr?«

»Ja … Und fünf Jahre vor diesem Semester hab‘ ich den alten Duncan noch der Extrastunden wegen von allen Spielen ausgeschlossen«, sagte der Direktor. »Uebrigens, wem wollen Sie die Leitung der Spiele übergeben, Flint?«

»Ich hab‘ noch nicht darüber nachgedacht. Wen würden Sie vorschlagen, Sir?«

»Danke dafür! Ich habe zufällig hinter meinem Rücken zu hören bekommen, daß Bates – ein schlauer Vogel ist, aber er hat gar keine Lust, die Verantwortung für einen neuen Spielleiter zu tragen. Machen Sie das untereinander ab. Gute Nacht!«

»Und dies ist der Mann, den wir mit einem Skandal ärgern wollten«, erklärte Flint, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.

»Ich hab‘ dir bloß was vorgeredet«, entgegnete Perowne hastig. »Du fällst auch auf alles ‚rein, Flint.«

»Na, das ist ja egal. Der Direktor hat die ersten fünfzehn total auseinandergeschlagen, und wir können jetzt die Stücke aufsammeln, oder die alten Schüler werden ’nen leichten Sieg haben. Wir wollen sämtliche zweiten fünfzehn heranholen und ordentlich trainieren. Es sind massenweise Talente da, die wir bis zum Match ordentlich instand bringen können.«

Der Fall wurde der Schule so dringend dargestellt, daß selbst Latte und M’Turk, die Fußball zu verabscheuen vorgaben, die Partie in allem Ernst mitmachten. Sie wurden auf der Stelle eingereiht, ehe ihr Eifer wieder erkalten konnte, und die Würde, die ihnen ihre Mützen verliehen, erforderte, daß sie einige Bemühungen zur Schau tragen mußten. Die Mannschaft für das Match wurde an wenigstens vier von den sieben Tagen trainiert, und die Schule sah Hoffnung dämmern.

In der letzten Woche des Semesters kamen nach und nach die alten Schüler an. Der Grad der Bewillkommnung entsprach der Schätzung ihres Wertes. Gentlemen-Kadetten aus Sandhurst und Woolwich, die erst vor einem Jahre abgegangen waren, aber ungeheuer eingebildet waren, wurden mit einem fröhlichen: »Hallo! Wie sieht’s denn dort aus?« empfangen von denen, die jetzt ihre Studierzimmer inne hatten. Subalterne der Miliz wurden mehr beachtet, aber es verstand sich von selbst, daß sie nicht aus dem echten Metall waren. Die, welche sich nicht für die Armee geeignet und umgesattelt hatten und zum Handels- oder Bankfach übergegangen waren, wurden aus alter Freundschaft aufgenommen, aber weiter kein Aufhebens von ihnen gemacht. Wenn man aber die richtigen Leute, ausgebackene Offiziere oder Gentlemen – die an den Enden der Erde gewesen und wieder zurückgekommen waren und doch nicht zurückhaltend taten – wenn diese mit dem Direktor auf die Szene traten, dann wichen alle Schüler rechts und links vor ihnen in stummer Bewunderung zurück. Und wenn einer Flint oder gar dem jetzigen Spielleiter die Hand auf die Schulter legte und rief: »Gerechter Himmel! Was soll das heißen, daß du so wächst? Du warst ein verdammter kleiner Fuchs, als ich abging«, dann umgab Flint ein sichtbarer Glorienschein. Sie spazierten mit dem kleinen, rothaarigen Schulsergeanten im Korridor auf und ab und erzählten Neues von den alten Regimentern; sie liefen in die Klassenzimmer und sogen den wohlbekannten Geruch von Tinte und Kalkbewurf ein; sie entdeckten Neffen und Vettern in den unteren Klassen und beschenkten sie mit ungeheuren Reichtümern, oder sie drangen in die Turnhalle und ließen sich von Foxy die neuen Recks zeigen.

Am meisten aber unterhielten sie sich mit dem Direktor, der Beichtvater und Generalagent für sie alle war; denn was sie in ihrer unbedachten Jugend ausgeschrien hatten, davon erhielten sie jetzt in ihrem sorglosen Jünglingsalter den Beweis – zu wissen, daß Bates ein schlauer Vogel war. Junges Blut, das mit eines Speisewirtes Tochter zu Plymouth angebandelt hatte; Erfahrung, die zu einem kleinen Vermächtnis gekommen war, aber dem Advokaten mißtraute; Ehrgeiz, der vor einem Kreuzweg stand und fürchtete, den Weg zu wählen, der der weitere war; Verschwendung, die von Gläubigern verfolgt wurde; Arroganz, die sich in einen Streit im Regiment verwickelt hatte – und sie alle brachten ihren Kummer vor den Direktor, und Chiron wies ihnen in Worten, die für kleine Knaben ganz ungeeignet gewesen wären, einen ruhigen und sicheren Weg – heraus, herum oder darunter weg. So überschwemmten sie sein Haus, rauchten seine Zigarren und tranken auf seine Gesundheit, wie sie überall auf der weiten Erde getrunken hatten, wenn zwei oder drei aus der alten Schule zusammengekommen waren.

»Hören Sie mir keine Minute auf zu rauchen«, sagte der Direktor. »Je mehr Sie außer Training sind, desto besser ist’s für uns. Ich hab die ersten fünfzehn mit Extrastunden auf den Hund gebracht.«

»Na, wir sind auch ’ne gemischte Gesellschaft. Haben Sie ihnen gesagt, daß wir einen Ersatzmann gebrauchen, selbst wenn Trandall spielen kann?« fragte ein Leutnant von den Pionieren.

»Er schrieb mir, er würde spielen, er kann also nicht schwer verwundet sein. Er kommt morgen früh an.«

»Crandall&;nbsp; II war’s, und er hat des armen Duncan Körper gerettet?« Der Direktor nickte. »Wo wollen Sie ihn denn unterbringen? Wir haben Sie schon von Haus und Dach vertrieben, Direktor Sahib«, sagte ein Schwadronkommandeur von den englischen Lanzenreitern, der auf Urlaub in der Heimat war.

»Ich fürchte, er wird nach oben in sein altes Schlafzimmer gehen müssen. Sie wissen, alte Schüler können dies Privilegium beanspruchen. Ja, ich glaube, der kleine Crandall&;nbsp; II wird sich dort noch einmal zu Bett legen müssen.«

»Bates Sahib,« – ein Artillerist schlang seinen Arm um des Direktors Nacken – »Sie haben da noch einen Hintergedanken dabei. Geben Sie’s nur zu. Ich kenne dies Zwinkern.«

»Kannst du’s denn nicht merken, du Kuckuck?« unterbrach ihn ein Marineingenieur. »Crandall geht ins Schlafzimmer hinauf, als eine Art Anschauungsunterricht, zu moralischer Nutzanwendung und so weiter. Hab‘ ich nicht recht, Direktor Sahib?«

»Allerdings. Sie wissen zuviel, Purios. Sie bekamen 79 dafür Prügel von mir.«

»Ja, Sir, und es ist meine persönliche Meinung, daß Sie den Stock gekreidet hatten.«

»Nein. – Aber ich habe ein sicheres Auge. Vielleicht hat Sie das getäuscht.«

Das öffnete die Schleusen für neue Erinnerungen, und alle fingen an, Geschichten aus der Schule zu erzählen.

Als Crandall&;nbsp; II, d. h. R. Crandall, Leutnant in einem indischen Linienregiment, von Exeter am Morgen des Spieltages ankam, wurde er die ganze Front des Institutes mit Hurrarufen begrüßt, denn die Aufseher hatten den Inhalt dessen, was ihnen der Direktor in Flints Studierzimmer vorgelesen, weiter verbreitet. Als Prouts Haus erfuhr, daß er als alter Schüler sein Recht auf ein Bett für eine Nacht in Anspruch nehmen würde, rannte Käfer in Kings nebenanliegendes Haus und vollführte in dem Arbeitssaal ein öffentliches Freudengebrüll, bis er sich unter einem Hagel von Tintenfässern zurückziehen mußte.

»Was kümmerst du dich überhaupt um die Bande?« meinte Latte, der als Ersatzmann für die alten Schüler spielte und in schwarzem Trikot, weißen Kniehosen und schwarzen Strümpfen glänzte. »Ich sprach mit ihm oben im Schlafzimmer, als er sich umzog. Zog ihm den Sweater herunter. Er ist auf dem Arm ganz zerhauen, schrecklich rot sind die. Er wird uns davon heut nacht erzählen. Ich bat ihn darum, als ich ihm die Schuhe zuband.«

»Na, das war frech«, meinte Käfer voll Neid.

»Es flog mir so ‚raus, bevor ich dran dachte. Aber er war nicht ein bißchen ärgerlich. Er ist ’n ganz famoser Junge. Ich schwör‘, ich werd‘ heut‘ ganz teufelsmäßig spielen. Auf, Turkey!«

Die Technik jenes Match gehört einem vergangenen Zeitalter an. Eng und heftig drängten sich die Schüler aneinander und gerade und zweckmäßig wurde der Ball gestoßen, und um das Getümmel herum standen die Schüler und schrien: »Köpfe gebückt und gestoßen!« Gegen Ende des Spiels verlor man allgemein jeden Sinn für Dezenz, und Mütter von Tagschülern, die der Grenze zu nahe standen, konnten Worte hören, die nicht auf dem Programm standen. Es wurde zwar niemand richtig vom Felde fortgetragen, aber auf beiden Seiten fühlte man sich glücklicher, als Schluß gerufen wurde. Käfer half Latte und M’Turk in ihre Ueberröcke. Die beiden hatten sich in dem vielbeinigen Herzen der Dinge gegenüber gestanden, und jeder hatte, wie Latte sagte, dem andern zur Ehre gereicht. Als sie hölzern hinter den Mannschaften einherschwankten – Ersatzmänner sind den bärtigen Männern nicht gleichgestellt – kamen sie an einem Ponywagen vorbei, der in der Nähe der Mauer hielt, und eine heisere Stimme rief: »Famos gespielt, wirklich ganz famos!« Es war Stettson&;nbsp; I, hohläugig und mit bleichen Wangen, der unter der Eskorte eines ungeduldigen Kutschers sich seinen Weg zum Spielplatz erkämpft hatte.

»Hallo! Stettson«, rief Latte verdutzt. »Kann man dir jetzt ohne Gefahr näher kommen?«

»Oh, ja, ich bin ganz gesund. Sie wollten mich erst gar nicht ‚rauslassen, aber ich mußte zum Spiel kommen. Dein Mund sieht hübsch geschwollen aus.«

»Turkey trampelte mir drauf – aus Versehen mit Absicht. Na ’s freut mich, daß es dir besser geht, denn wir haben mit dir noch ’n Hühnchen zu pflücken, du und deine Kehlkopfschleimhäute habt uns in ’ne schöne Geschichte gebracht, junger Mann.«

»Ich hab’s gehört«, antwortete der Junge lachend. »Der Direktor hat mir’s erzählt.«

»Er hat’s erzählt, Deuwel noch mal! Mann!« »Ach, kommt ‚rauf ins Institut. Meine Beine werden mir steif, wenn wir hier stehen und schwatzen.«

»Sei ruhig, Turkey. Ich muß die Sache ‚rauskriegen. Na.«

»Er war die ganze Zeit über, wo ich krank war, in unserm Hause.«

»Weshalb? Warum vernachlässigt er das Institut in dieser Weise? Wir dachten, er war in der Stadt!«

»Ich war nicht bei Besinnung, wißt ihr, und sie sagen, ich hab‘ unaufhörlich nach ihm gerufen.«

»Frechheit, du bist bloß ’n Tagschüler.«

»Er kam aber doch, er hat mir – ’s Leben gerettet. Ich war in einer Nacht schon ganz zugestopft, pfiff schon auf dem letzten Loch, sagte der Doktor, und man senkte mir eine Röhre oder so was in die Gurgel, und der Direktor sog den Stoff heraus.«

»Ugh.«

»Er hätte selbst Diphtheritis kriegen können, sagte der Doktor. Deshalb blieb er bei uns im Hause, anstatt zurückzugehen. In zwanzig Minuten wär‘ ich weg gewesen, sagt der Doktor!«

Hier peitschte der Kutscher, der seine Befehle hatte, los und überfuhr die drei beinahe.

»Wahrhaftig!« erklärte Käfer. »Das ist ganz nett heroisch.«

»Ganz nett!« M’Turks Knie traf ihn in den Rücken und kanonierte ihn gegen Latte, der ihn zurückstieß. »Du müßtest aufgehängt werden!«

»Und der Direktor müßte das V. C. (Victoria Cross) kriegen«, meinte Latte. »Was, er hätte ja jetzt schon tot und begraben sein können! Aber er ist’s nicht, aber er tat’s nicht. Ho! Ho! Er klemmte sich durch die Hecken wie ’ne stramme alte Schwarzdrossel. Spezielle Extra-Tracht. – Fünfhundert Zeilen, eine Woche Hausarrest – fertig war die Laube.«

»Ich hab‘ so was Aehnliches in einem Buch gelesen«, erzählte Käfer. »Donner, was für’n Mensch, denkt doch bloß mal darüber nach.«

»Ich denke schon«, sagte M’Turk, und er ließ ein wildes, irisches Geheul los, daß die Mannschaften sich umdrehten.

»Halt‘ deinen fetten Mund«, sagte Latte, der vor Ungeduld tanzte. »Ueberlaßt es eurem Onkel Latte, und er wird sich den Direktor schon langen. Wenn du ein Wort sagst, Käfer, eh‘ ich dir’s erlaube, schwör‘ ich, ich schlage dich tot. Habeo capitem crinibus minimis. Ich hab‘ ihn an den kurzen Haaren zu fassen gekriegt. Jetzt macht Gesichter, als ob nichts passiert ist.«

Jede Verheimlichung war aber unnötig. Die Schüler waren zu eifrig dabei, die abgehetzte Mannschaft mit Hurrarufen zu feiern. Sie drängten sich in die Waschzimmer, ohne der schmutzigen Stiefel zu achten, während die Mannschaften sich wuschen. Sie begrüßten Crandall II mit Hurrageschrei, wo sie ihn nur zu Gesicht bekamen, und sie schrien wilder als je Hurra nach dem Gebet, als die alten Schüler, im Abendanzug, und vor allem Volk ihre Schnurrbärte drehend, sich zu ihnen gesellten, anstatt sich zu den Lehrern zu stellen, sich der Mauer entlang, unmittelbar vor den Aufsehern, aufstellten, wo der Direktor sie anrief, noch zudem mit I, II, III, nach ihrem alten Namen.

»Ja, das ist alles recht schön,« sagte er nach dem Essen zu seinen Gästen, »aber man verliert die Jungen dabei ein bißchen aus dem Auge. Nachher gibt’s dann Kummer und Trübsal, fürchte ich. Sie würden besser tun, früh heraufzugehen, Crandall II. Das ganze Schlafzimmer wird Ihretwegen aufgeblieben sein. Ich weiß nicht, zu welchen schwindelnden Höhen Sie Ihr Beruf noch emporführen wird, das kann ich Ihnen sagen, Sie werden nie wieder eine solche vollkommene Anbetung genießen, wie man Ihnen jetzt entgegenbringt.«

»Was schert mich Anbetung. Ich will meine Zigarre zu Ende rauchen, Sir!«

»Es ist alles lauteres Gold. Gehen Sie hin, wo Ihrer Ruhm wartet – Crandall II.«

Die Szene dieser Apotheose war ein Mansardenzimmer von zehn Betten, das mit drei andern ohne Zwischentüren in fortlaufender Verbindung stand. Das Gas flackerte über den unpolierten kiefernen Waschtischen. Unaufhörlich pfiff der Zugwind hindurch, und draußen vor den nackten Fenstern schlug die See gegen die Klippen.

»Dasselbe alte Bett – dieselbe alte Matratze, glaube ich«, sagte Crandall und gähnte. »Alles noch so wie früher. Oh, was bin ich lahm. Ich hatte keine Idee, daß ihr Jungen so spielen könntet.« Er strich sich über sein zerschlagenes Schienbein. »Ihr habt uns allen ’nen ordentlichen Denkzettel gegeben.«

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie ihre Scheu überwunden hatten. Weshalb, konnten sie nicht sagen, – aber sie fühlten sich behaglicher, als Crandall sich umdrehte und sein Gebet sprach – eine Zeremonie, an die er mehrere Jahre nicht mehr gedacht hatte.

»Oh, das ist dumm, ich habe vergessen, das Gas auszudrehen.«

»Bitte, machen Sie sich keine Mühe,« sagte der Aufseher des Schlafzimmers, »das besorgt Worthington.«

Ein Zwölfjähriger, im Nachtgewand, der darauf gewartet hatte, sich zu zeigen, sprang von seinem Bett nach dem Gasarm und wieder zurück, über einen Waschtisch hinweg.

»Wie macht ihr’s, wenn er schon eingeschlafen ist?« fragte Crandall lachend.

»Schieben ihm mal ’nen kalten Eisenhaken untern Hals.«

»Als ich noch Jüngster im Schlafzimmer war, war’s ’n nasser Schwamm. – – – Hallo, was ist los?«

Das Dunkel war verhüllt mit Flüstern, dem Geräusch schleppender Decken, dem Tappen bloßer Füße auf dem bloßen Fußboden, Protesten, Lachen und Drohungen, wie: »Sei ruhig, du Esel! – Hock‘ dich doch auf den Fußboden hin! – Ich sag‘ dir, du wirst dich nicht auf mein Bett setzen! – Gib auf’s Zahnputzglas acht!« usw.

»Latte, – Corkran sagte,« begann der Aufseher, und sein Ton drückte aus, wie tief er Lattes Frechheit empfand, »daß Sie uns vielleicht etwas von der Geschichte mit Duncans Leiche erzählen würden.«

»Ja, ja, ja«, wurde ringsum mutig geflüstert. »Erzählen Sie uns das!«

»Da ist nichts zu erzählen. Was, um Himmels willen tanzt ihr Jungen denn auf dem kalten Fußboden herum?«

»Kümmern Sie sich nicht um uns – erzählen Sie uns von Mastschwein.«

So drehte sich denn Crandall auf seinem Kopfkissen herum und sprach zur Generation, die er nicht sehen konnte.

»Na also, vor ungefähr drei Monaten kommandierte er einen Geldtransport – einen Wagen voll von Rupien für die Truppenlöhnung – fünftausend Rupien in Silber. Es ging nach einem Platz, der Fort Pearson heißt, in der Nähe von Kalabagh.«

»Ich bin dort geboren, das Fort wurde nach meinem Onkel genannt«, quiekte ein kleiner Fuchs.

»Halt’s Maul – du mit deinem Onkel! Kümmern sie sich nicht um ihn, Crandall.«

»Nein, kümmern wir uns nicht um ihn. Die Afridis bekamen heraus, daß dieses Geld unterwegs war, und sie lauerten dem ganzen Zug auf, ein paar Meilen, bevor er das Fort erreicht hatte, und hauten auf die Eskorte ein. Duncan wurde verwundet, und die Mannschaften machten, daß sie fortkamen. Es waren im ganzen nicht mehr als 20 Sepons, und dagegen ein ganzer Haufen Afridis. Als sich die Geschichte zutrug, war ich gerade dienstlich auf Fort Pearson. Ich hatte das Feuer gehört und wollte gerade sehen, was los war, als Duncans Leute ankamen. So gingen wir alle zusammen wieder zurück. Sie erzählten etwas von einem Offizier, aber ich konnte nicht hinter den Zusammenhang kommen, als ich einen Burschen unter den Rädern des Wagens sah, auf einen Arm gestützt und in der Hand einen Revolver. Ihr wißt, die Eskorte hatte den Wagen verlassen, und die Afridis, sie sind ’ne verdammt argwöhnische Gesellschaft, dachten – der Rückzug wäre ’ne Falle – ’ne Art von Kriegslist, versteht ihr – und der Rückzug wäre der Köder. Deshalb hatten sie den armen Duncan in Ruh‘ liegen lassen. Im Augenblick, wo sie gemerkt hatten, wie wenig wir waren, ging ein Rennen los auf den Fleck zu, wer den alten Duncan zuerst erreichen könnte. Wir rannten und sie rannten, und wir gewannen, und nach einem kleinen Herumprügeln zogen sie ab. Ich wußte gar nicht, daß es einer von uns war, bis ich gerade über ihm stand. Es gibt massenweise Duncans in der Armee, und der Name allein konnte mich natürlich nicht darauf bringen. Er war im ganzen nicht sehr verändert. Er hatte einen Schuß durch die Lunge bekommen, der arme alte Kerl, und war riesig durstig. Ich gab ihm zu trinken und setzte mich neben ihm nieder – und – ’s war doch komisch! – er sagte: »Hallo, Patentfatzke!« und ich sagte: »Hallo, Mastschwein! Hoffe, du bist nicht verletzt« oder irgend so was Aehnliches. Aber er starb in ein oder zwei Minuten – und ich hielt die ganze Zeit seinen Kopf auf meinen Knien. – Hört mal. Ihr Jungen da draußen werdet euch zu Tode erkälten, geht lieber ins Bett.«

»Jawohl, in einer Minute. Aber Ihre Schmarren – Ihre Schmarren. Wie kam’s, daß Sie verwundet wurden?«

»Das passierte, als wir den Körper zum Fort zurückbrachten. Sie kamen noch mal auf uns zu, und da gab’s ’n bißchen Gedränge.« »Haben Sie einen totgeschlagen?«

»Ja, soll mich nicht wundern. Gute Nacht.«

»Gute Nacht. Danke schön, Crandall. Danken Ihnen vielmals, Crandall. Gute Nacht!«

Die unsichtbare Menge zog sich zurück. Die Insassen des Schlafzimmers selbst huschten ins Bett und lagen eine Weile still.

»Hören Sie, Crandall –« Lattes Stimme klang ganz fremdartig ehrfürchtig.

»Nun, was?«

»Den Fall gesetzt, daß ein Mensch ’nen andern an Diphtheritis im Sterben fände – die Kehle ganz zugestopft – und ihm würd‘ ’ne Röhre in die Kehle gesteckt. Und der Mensch söge den ganzen Stoff heraus – was würden Sie da sagen?«

»Hm!« machte Crandall nachdenklich. »Ich hab‘ bloß einmal von solch einem Fall gehört, – und da war’s ein Doktor. Er tat’s für eine Frau.«

»Oh, dies war keine Frau, es war ein Junge.«

»Das macht die Sache dann noch besser. ’s ist so ziemlich das Tapferste, was ein Mann tun kann. Warum aber – – –?«

»Oh, ich hörte nur, daß irgendwo ein Mensch das getan hat. Das ist die ganze Geschichte.«

»Dann ist er ’n braver Mann.«

»Würden Sie sich davor fürchten?«

»Na – doch. Jeder würd’s tun. Stell‘ dir doch mal vor – so ruhig an Diphtheritis sterben!«

»Na! Ach! hören Sie mal zu!« Der Satz erstarb in einem Grunzen, denn Latte war aus dem Bett gesprungen und saß mit M’Turk auf Käfers Kopf, der sonst auf der Stelle die Mine hätte springen lassen.

Der folgende Tag, der letzte des Semesters, war ein paar ganz unwesentlichen Prüfungen gewidmet, begann mit Grimm und Krieg. Mister King hatte die Entdeckung gemacht, daß beinahe sein ganzes Haus – er wohnte, wie bekannt, in der langen Reihe der Gebäude Tür an Tür neben Prouts – die Türen der Schlafzimmer geöffnet hatte und hinübergegangen war, um einer Erzählung Crandalls zuzuhören. Er ging zum Direktor, Klage führend, gekränkt appellierend, denn er billigte es nie, daß sogenannten jungen Weltkindern gestattet wurde, die Moral der Jugend zu verderben. – Sehr schön, sagte der Direktor, er würde sich der Sache annehmen.

»Es tut mir ja furchtbar leid«, sagte der schuldige Crandall. »Ich glaube nicht, daß ich ihnen etwas erzählt habe, was sie nicht hören dürfen. Machen Sie ihnen meinetwegen nicht die Hölle heiß.«

»Tck!« antwortete der Direktor mit einem leisen Wink. »’s sind nicht die Jungen, die Unruhe stiften, es sind die Lehrer. Nichtsdestoweniger, Prout und King gestatteten Schlafzimmerversammlungen in diesem Maße nicht, und man muß die Hausmeister unterstützen. Außerdem, ’s hat keinen Zweck, zwei Häuser allein zu bestrafen, so spät im Semester. Man muß gerecht sein und keinen ausschließen. Wollen mal zusehen. Sie haben eine Ferienarbeit über Ostern auf, die natürlich keiner von ihnen mit einem Auge ansehen wird. Wir werden der ganzen Schule, mit Ausnahme der Aufseher und der Jungen, die Studierzimmer haben, heute abend eine regelrechte Arbeitsstunde geben, und das Lehrerkollegium muß einen Lehrer stellen, der die Aufsicht zu führen hat. Man muß gegen alle gerecht sein.«

»Arbeitsstunde am letzten Abend des Semesters. Puh!« sagte Crandall, der an seine eigne wilde Jugend dachte. »Ich glaube, da wird’s Streiche geben.«

Die Schüler, die sich inmitten gepackter Koffer vergnügten, im ganzen Korridor Lärm vollführten und in den Klassenzimmern Freudengebrüll ausstießen, empfingen die Nachricht mit Bestürzung und Wut. Keine Schule der Welt hatte am letzten Abend des Semesters Arbeitsstunde. Das war scheußlich, tryannisch und Gesetz, Religion und Moralgesetze umstoßend. Sie wollten in die Klassenzimmer gehen, und sie wollten ihre abgesetzte Ferienarbeit mitnehmen, aber – hier lächelten sie und überlegten, was für eine Art von Mann das Lehrerkollegium wohl gegen sie heraufsenden würde. Das Los fiel auf Mason, den Leichtgläubigen und Enthusiasten, der die Jugend liebte. Kein anderer Lehrer hatte Lust, diese Arbeitsstunde abzuhalten, denn die Schule entbehrte den festigenden Einfluß von Traditionen, und Leute, die an den geordneten Gang in alten Instituten gewöhnt waren, fanden sie bisweilen aufsässig. Die vier langen Arbeitssäle, in denen alles unter dem Range von Studierzimmerinhabern arbeitete, empfingen Mason mit Beifallsdonnern. Ehe er sich zweimal räuspern konnte, beehrten sie ihn mit einer metrischen Aufzählung der Ehegesetze Großbritanniens, mit Beziehungen auf den Hohenpriester und den Führer des Volkes Israel.

Die unteren Klassen erinnerten sich daran, daß dies der letzte Tag wäre, und er deshalb alles als Spaß nehmen müßte. Als er gerade gegen sie losdonnern wollte, fingen die Unterquarta und die Obertertia in einem Zuge an, krank zu werden, mit viel Geräusch und Realistik. Mister Mason versuchte, von allen furchtlosen Dingen unter dem Himmel – mit ihnen zu verhandeln, und ein kühner Geist an einem Tisch hinter seinem Rücken ersuchte ihn, »fünfzig Zeilen abzuschreiben, weil er die ‚and nicht in die ‚öhe ge’alten ‚abe, bevor er sprach!« Als jemand, der sich auf sein dialektfreies Englisch sehr viel einbildete, traf Mason dies ins Herz, und während er den Dialektschüler zu entdecken suchte, drehten die Ober- und Untersekundaner drei Arbeitssäle weiter das Gas aus und warfen mit Tintenfässern. Es war eine angenehme, animierende Arbeitsstunde. Die Schüler in den Arbeitszimmern und die Aufseher hörten fernab das Echo davon, und im Eßzimmer lächelte man beim Dessert.

Latte wartete, die Uhr in der Hand, bis halb neun.

»Wenn es noch weiter so fort geht, wird der Direktor kommen«, sagte er. »wir wollen’s jetzt zuerst in den Studierzimmern erzählen und dann in den Arbeitssälen. Nehmt euch zusammen.«

Er ließ Käfer keine Zeit, dramatisch zu werden, oder M’Turk zu trödeln, sie stürzten von Studierzimmer zu Studierzimmer, erzählten, was sie zu erzählen hatten, und liefen weiter, ohne sich auf nähere Erklärungen einzulassen, sobald sie sahen, daß man sie verstanden hatte. Der Lärm jener heillosen Arbeitsstunde aber wuchs und nahm zu. An der Tür von Flints Studierzimmer trafen sie auf Mason, der den Korridor hinunterflog.

»Er geht den Direktor holen. Schnell! Fix!«

Atemlos stürzten sie Seite an Seite in den Arbeitssaal »Nummer zwölf«.

»Der Direktor! Der Direktor! Der Direktor!« Der Ruf ließ den Tumult für eine Minute verstummen, und Latte sprang auf einen Tisch und schrie: »Er ging und sog den Diphtheriestoff aus Stettson I Kehle, als wir dachten, er war in der Stadt. Hört mit dem Spektakel auf, ihr Esel! Stettson I wäre gestorben, wenn der Direktor das nicht getan hätte. Der Direktor selbst hätte sterben können. Crandall sagt, es ist das Tapferste, was irgend ’n lebender Mann tun kann, und« – seine Stimme überschlug sich – »der Direktor weiß nicht, daß wir’s wissen!«

M’Turk und Käfer sprangen von Tisch zu Tisch und verbreiteten die Neuigkeit unter den jüngeren Schülern. Es trat eine Pause ein, und dann kam der Direktor herein, Mason hinter ihm. Es war hergebracht und ordnungsgemäß, daß kein Junge in seiner Gegenwart sprach oder sich bewegte. Er erwartete scheues Schweigen. Er wurde mit Hurrarufen empfangen, stetigen, unaufhörlichen Hurrarufen. Da er ein kluger Mann war, ging er wieder fort, und die Schüler blieben schweigend und ein wenig erschreckt zurück.

»Es ist alles in Ordnung«, erklärte Latte. »Er kann nicht viel tun. Es ist nicht, wie wenn ihr die Tische aufeinandergestellt hattet, wie wir’s mal getan haben, als der alte Carleton Arbeitsstunde abhielt. Nur Mut! Hört ihr, wie sie im Studierzimmer Hurra schreien?« Schreiend flog er raketenähnlich hinaus und traf auf Flint und die Aufseher, die beinahe die Decken vom Korridor abhoben.

Wenn der Direktor einer Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht, die vier Prozent zahlt, auf seinem geheiligten Wege zum Gebet mit Hurrarufen begrüßt wird, nicht nur von vier Arbeitssälen voller Jungen, die auf ihre Bestrafung warten, sondern auch von seinen getreuen Aufsehern, dann verlangt er entweder eine Aufklärung oder geht voll Würde seinen Weg weiter, indes der älteste Hausmeister wie ein gereizter Kater dreinschaut und einem bleichen und bebenden Mathematiklehrer auseinandersetzt, daß gewisse Methoden – nicht die seinen, Gott sei Dank – gewöhnlich gewisse Resultate zeitigen. Die alten Schüler waren zartfühlend dem Aufruf ferngeblieben. Zu den in der Turnhalle versammelten Schülern aber sprach der Direktor in eisigem Tone: »Es kommt nicht oft vor, daß ich euch nicht verstehe; heute abend aber, muß ich gestehen, ist das der Fall. Nach eurem idiotischen Betragen in der Arbeitsstunde scheinen jetzt einige von euch mich für die geeignete Person zu halten, die mit Hurra begrüßt werden kann. Ich werde euch jetzt zeigen, daß ich das nicht bin.«

Krach – Krach – Krach – erklang ein dreifaches Hurra. Der Direktor blickte finster unter der Gasflamme drein.

»Das ist genug. Das wird euch nichts nützen. Die Kleinen (liebten diese Anrede nicht) werden in den Ferien mir jeder dreihundert Zeilen abschreiben, weiter will ich mich nicht um sie kümmern. Die oberen Klassen werden mir jeder tausend Zeilen in den Ferien abschreiben, die am Abend eurer Rückkunft aufgezeigt werden. Und ferner – – –«

»Donner, der gibt’s ordentlich«, flüsterte Latte.

»Für euer Benehmen gegen Mister Mason sollen die oberen Klassen morgen Schläge von mir bekommen, wenn ich euch euer Reisegeld gebe. Darunter werden auch die drei aus einem Arbeitszimmer sein, die ich in der Klasse auf dem Tisch tanzend antraf, als ich heraufkam. Die Aufseher bleiben nach dem Aufruf hier.«

Die Schüler gingen schweigend auseinander, versammelten sich aber in Erwartung der kommenden Dinge vor der Tür der Turnhalle.

»Und jetzt, Flint,« sagte der Direktor, »haben Sie wohl die Güte, mir einige Aufklärung über euer Betragen zu geben.«

»Ja, Sir,« begann Flint verzweiflungsvoll, »wenn Sie einem Jungen, der an Diphtheritis im Sterben liegt, das Leben retten mit Gefahr Ihres eignen, und wenn das Institut das erfahrt, na – was können sie dann anders erwarten, Sir?«

»Hm, sehe schon. Dann war der Lärm also keine Unverschämtheit. Bei Streichen kann ich ein Auge zudrücken, aber Frechheiten kann ich nicht vertragen. Das entschuldigt aber trotzdem die Unverschämtheiten gegen Mister Mason nicht. Ich will die Strafarbeit, denke ich, diesmal noch vergessen; aber bei den Prügeln bleibt es.«

Die Neuigkeit verbreitete sich, und die Schüler starrten den Direktor erstaunt und bewunderungsvoll an, als er nach seinem Hause ging. Das war ein Mann, den man bewundern mußte. Es kam selten vor, daß er schlug, aber dann geschah es mit höchster Technik. Die Exekution an etwa hundert Jungen mußte etwas Heroisches, Ungeheures werden.

»Alles in Ordnung, Direktor Sahib. Wir wissen schon Bescheid«, sagte Crandall, als der Direktor mit einem Seufzer in seinem Rauchzimmer die Robe ablegte. »Ich hab’s jetzt eben von unserm Ersatzmann herausbekommen. Er hat mir vergangene Nacht meine Meinung über Ihre Tat abgelockt. Ich wußte noch nicht, daß Sie es waren, von dem er sprach. Schlauer junger Kerl. Sommersprossiger Junge mit scharfen Augen – Corkran, glaub‘ ich, heißt er.«

»Oh, danke, ich kenne ihn«, entgegnete der Direktor, und nachdenklich setzte er hinzu: »Ja, ich hätte sie mit eingeschlossen, selbst wenn ich sie nicht gesehen hätte.«

»Wenn die alten Zöglinge nicht schon ein wenig mitgenommen wären, würden wir Sie jetzt im Triumph den Korridor entlang tragen«, sagte der Ingenieur. »Oh, Bates, wie konnten Sie nur? Sie hätten sich anstecken können, und wo wären wir dann geblieben?«

»Ich hab’s immer gewußt, daß Sie jeden Tag zwanzig von uns wert waren. Jetzt bin ich dessen ganz sicher«, erklärte der Schwadronskommandeur und sah sich um, ob ihm jemand widersprechen würde.

»Er darf aber doch eigentlich keine Schule mehr leiten. Versprechen Sie, daß Sie es nie wieder so machen werden, Bates Sahib. Wir können nicht ruhig von hier fortgehen, wenn Sie sich in solche Gefahren begeben«, sagte der Artillerist.

»Bates Sahib, Sie werden doch nicht die ganzen oberen Klassen schlagen, wie?« sagte Crandall.

»Ich kann Streiche durchgehen lassen, wie gesagt, aber Unverschämtheiten kann ich nicht ausstehen. Masons Schicksal ist schon schwer genug, selbst wenn er an mir einen Rückhalt hat. Außerdem haben die Leute vom Golfklub gehört, wie sie »Aaron und Moses« sangen. Ich werde noch Klagen der Eltern von Tagesschülern darüber zu hören bekommen. Schicklichkeit muß gewahrt werden.«

»Wir werden Ihnen helfen«, sagten alle Gäste.

Einer nach dem andern erhielten die Schüler der oberen Klassen ihre Schläge, die Röcke über dem Arm, das Reisegeld vor ihnen auf dem Tisch. Unten auf dem Wege warteten indes schon die Wagen, die sie zur Station bringen sollten. Der Direktor fing mit Latte, M’Turk und Käfer an. Er teilte mit getreuer Gerechtigkeit aus.

»Und hier ist euer Reisegeld. Adieu, und vergnügte Ferien!«

»Adieu. Danke Sir!« – Ein Händedruck wurde gewechselt.

»Heute morgen übereilt der Wunsch die Erfüllung nicht sehr. Wir haben die Sahne gekriegt«, meinte Latte. »Jetzt warten wir, bis noch ’n paar Jungen herauskommen, und dann wollen wir erst ordentlich Hurra schreien.«

»Unsertwegen braucht ihr nicht zu warten«, sagte Crandall im Namen der alten Schüler. »Jetzt wollen wir anfangen.«

Solange die Hurrarufe nur im Korridor erschallten, war alles gut, als sie sich aber bis in die Turnhalle fortpflanzten, und als selbst die Jungen, die noch ihr Teil erwarteten, zu rufen begannen, da gab der Direktor es verzweifelnd auf, und die Uebriggebliebenen stürzten auf ihn zu, um ihm die Hände zu schütteln.

Dann schrien sie unaufhörlich und voller Hingebung ihr Hurra, bis die Wagen heimlich an den Gebäuden vorbeigerumpelt waren.

»Hab‘ ich nicht gesagt, ich würd‘ auch ihn schon eines Tages rankriegen?« sagte Latte oben auf dem Bock, als sie in die enge Northamstraße einschwenkten. Jetzt alle los! Ich taktiere:

Es ist so Brauch in der Armee,
Und in der Flotte ist es Brauch,
Und in den öffentlichen Schulen auch,
Und niemand kann’s bestreiten!«

  1. Eingeborener Soldat in der indischen Armee.
  2. Der Londoner Dialekt verschluckt gewöhnlich das h, spricht aber dafür die mit einem Vokal beginnenden Worte aspiriert aus.

Kapitel 9.

Kapitel 9.

Mit frischem Sinn schwang Kim sich auf die nächste Drehung des Rades. Für eine Weile wollte er wieder mal Sahib sein. In diesem Gedanken sah er sich, sobald er die breite Straße unter dem Simla-Rathaus erreichte, nach jemand um, dem er imponieren konnte. Ein Hindu-Knabe von ungefähr zehn Jahren hockte unter einem Laternenpfahl.

»Wo ist Mr. Lurgans Haus?« fragte Kim.

»Ich verstehe nicht Englisch,« war die Antwort, und Kim änderte seine Sprache.

»Ich werde es Dir zeigen.«

Sie schritten miteinander durch das geheimnisvolle Zwielicht, unter sich das Geräusch der Stadt am Bergabhang, im Hauch eines kühlen Windes vom Deodargekrönten Jakko herab, der die Sterne zu berühren schien.

Die Lichter aus den auf allen Anhöhen zerstreuten Häusern bildeten gleichsam ein zweites Firmament. Dazwischen bewegliche Lichter von den Rickhaws, die die laut sprechende, sorglose englische Gesellschaft zum Diner führten.

»Hier ist es«, sagte Kims Führer und hielt vor einer Veranda, in gleicher Höhe mit der Hauptstraße. Keine Tür hielt sie zurück, nur ein Vorhang von Rohrschnüren, den Lampenlicht von innen durchschimmerte.

»Er ist gekommen,« sprach der Knabe mit einer Stimme, kaum lauter als ein Seufzer und verschwand. Kim war sicher, daß der Knabe auf dem Posten gewesen war, um ihn zu führen, nahm es aber kühl auf und teilte den Vorhang. Ein Mann mit schwarzem Bart und einem grünen Schirm über den Augen saß an einem Tisch, und mit Kurzen, weißen Händen pickte er Kügelchen von Licht, eins nach dem anderen, von einer Platte auf, reihte sie auf eine glänzende, seidene Schnur und summte dabei. Kim merkte, daß der Raum hinter dem Lichtkreis mit Dingen angefüllt war, die Düfte wie von allen Tempeln des Ostens verbreiteten. Ein Hauch von Moschus, ein Geruch von Sandelholz und ein kränklicher Duft von Jasmin-Öl schlug ihm entgegen.

»Ich bin hier,« sprach Kim endlich im Dialekt: die Wohlgerüche machten ihn vergessen, daß er ein Sahib sein wollte.

»Neunundsiebzig, achtzig, einundachtzig,« zählte der Mann, eine Perle nach der anderen und so schnell aufreihend, daß Kim kaum der Bewegung der Finger folgen konnte. Er schob den grünen Schirm zurück und sah Kim eine halbe Minute fest an. Die Pupillen der Augen erweiterten sich und schrumpften wieder ein zur Größe von Nadelspitzen, wie willkürlich. Ein Fakir am Taksali-Tor besaß diese Gabe, und verdiente Geld damit, besonders wenn er dumme Weiber verfluchte. Kim starrte neugierig hin. Sein verrufener Freund Konnte auch die Ohren bewegen wie eine Ziege, und Kim war enttäuscht, daß dieser neue Mann es nicht ebenfalls tat.

»Fürchte Dich nicht«, sprach Lurgan plötzlich.

»Warum sollte ich mich fürchten?«

»Du wirst diese Nacht hier schlafen und bei mir bleiben, bis es Zeit ist, nach Nucklao zurückzukehren. Es ist Befehl.«

»Es ist Befehl,« wiederholte Kim. »Aber wo soll ich schlafen?«

»Hier in diesem Raum.« Lurgan bewegte die Hand nach dem Dunkel hinter ihm.

»Gut,« sagte Kim ruhig. »Jetzt?«

Lurgan nickte und hielt die Lampe über seinen Kopf. Unter dem Lichtschein sprang aus der Wand hervor eine Sammlung Tibetanischer Teufeltanz-Masken, die über den mit Teufeln bestickten Gewandungen hingen, welche zu solcher grausigen Festlichkeit gehören – finster grinsende Masken, gehörnte Masken, Masken mit wahnsinnigem Schreckensausdruck. In einer Ecke drohte ihm ein japanesischer Krieger mit Schild und Federschmuck mit seiner Hellebarde, und Massen von Khandas (Lanzen) und Kuttars (kurze Dolche) warfen den unsicheren Lichtschein zurück. Was Kim aber mehr als dies alles interessierte – er hatte Teufeltanz-Masken im Museum zu Lahore gesehen – war die Erscheinung des sanftäugigen Hindu-Kindes, das ihn in der Tür verlassen und nun plötzlich mit gekreuzten Beinen und einem Lächeln auf den scharlachroten Lippen unter dem Perlentische saß.

»Ich glaube, Lurgan Sahib will mir Furcht einflößen, und bin sicher, der Teufelsbalg unter dem Tisch möchte sehen, daß ich mich fürchte.« Laut sprach er: »Dieser Raum gleicht einem Wunder-Haus. Wo ist mein Bett?« Lurgan Sahib zeigte nach einem landesüblichen Polster in der Ecke unter den scheußlichen Masken, nahm die Lampe und ließ den Raum in Dunkelheit zurück.

»War das Lurgan Sahib?« fragte Kim, als er sich zusammengekauert hatte. Keine Antwort. Doch hörte er den Hindu-Knaben atmen, und von dem Hauch geleitet, kroch er über den Boden und knuffte mit den Fäusten in das Dunkel hinein. »Gib Antwort, Teufel. Betrügt man so einen Sahib?«

Aus der Finsternis hörte er das Echo eines Gekichers. Sein weichgliedriger Führer konnte es nicht sein, denn der weinte. So rief Kim laut: »Lurgan Sahib! O, Lurgan Sahib! Ist es Befehl, daß Dein Diener nicht mit mir spricht?«

»Es ist Befehl!« Die Stimme kam hinter ihm hervor, und er fuhr zusammen.

»Gut also. Aber wisse,« brummte er, als er sein Lager wieder suchte, »wenn es hell ist, werde ich Dich prügeln. Ich kann keine Hindus leiden.«

Das war keine angenehme Nacht. Der Raum war voll von Stimmen und Musik. Zweimal ward Kim geweckt dadurch, daß man seinen Namen rief. Beim zweiten Mal erhob er sich und suchte umher. Dabei stieß er mit der Nase an einen Kasten, der offenbar mit menschlicher Zunge sprach, aber nicht mit irgendwie menschlichen Tönen. Der Kasten schien in einer zinnernen Trompete zu enden und durch Drähte mit einem kleineren Kasten auf dem Boden verbunden zu sein, soviel Kim durch Betasten erkannte. Und die Stimme, hart und schwirrend, kam aus der Trompete. Kim rieb sich die Nase, wurde wütend und dachte – in Hindostanisch – wie gewöhnlich: »Für einen Bettler aus dem Bazar möchte das passen, aber – ich bin ein Sahib und der Sohn eines Sahibs und – was doppelt so viel wert ist, ein Student von Nucklao. Ja,« (hier fiel er wieder in Englisch), »ein Knabe von St. Xavier. Verdammt seien Mr. Lurgans Augen! – – Es ist eine Art Maschinerie wie eine Nähmaschine. Es ist eine Unverschämtheit von ihm, aber uns von Lucknow schreckt man nicht so – Nein!«

Wieder in Hindi: »Aber was gewinnt er dabei? Er ist nur ein Handelsmann, ich bin in seinem Laden. Creighton Sahib ist aber ein Oberst – und Creighton Sahib hat wohl befohlen, daß hier alles so gemacht wird. Wie ich den Hindu morgen prügeln will! Was gibt’s da wieder?«

Der Trompetenkasten stieß einen Strom von Schimpfreden aus, wie selbst Kim sie nie gehört und das mit einer monotonen und doch so durchdringenden Stimme, daß für einen Moment sich ihm das Haar im Nacken sträubte. Als das teuflische Ding Atem holte, wurde Kim beruhigt durch leises, nähmaschinenartiges Schwirren.

»Chup (sei still)!« schrie er und wieder hörte er ein Kichern, das ihn resolut machte. »Chup! – oder ich schlage Dir den Kopf ein.«

Der Kasten hörte nicht auf ihn. Kim riß an der Trompete und es hob sich etwas mit einem Klick. Er hatte augenscheinlich eine Klappe losgebrochen. Wenn da ein Teufel drinnen saß, so war es Zeit für ihn – er schnüffelte – so rochen die Nähmaschinen im Basar. Den Shaitan wollte er austreiben. Er schlüpfte aus seinem Rock und stopfte ihn in den Mund des Kastens. Etwas Langes und Rundes bog sich unter dem Druck – ein Schwirren – und die Stimme schwieg, wie eine Stimme wohl muß, wenn ein dreifach zusammengerollter Rock auf den Wachs-Zylinder und in das Werk eines kostspieligen Phonographen hinein gepreßt wird. Kim schlief guten Mutes wieder ein.

Am Morgen sah er Lurgan Sahib an seinem Lager stehen.

»Oha!« rief Kim, entschlossen an seinem Sahibtum festzuhalten; »hier war ein Kasten, der im Dunkeln schlechtes Zeug redete. Ich stoppte ihn aber. War es Euer Kasten?«

Der Mann streckte ihm die Hand entgegen.

»Gib mir die Hand, O’Hara,« sagte er. »Ja, es war mein Kasten. Ich halte solche Dinger, denn meine Freunde, die Rajahs, mögen sie gern. Dieser da ist zerbrochen, war aber billig eingekauft. Ja, meine Freunde, die Könige, lieben Spielsachen – und ich auch – zuweilen.«

Kim betrachtete ihn verstohlen. Ein Sahib war er, insoweit er wie ein Sahib gekleidet war; der Akzent seines Urdu und die Aussprache seines Englisch zeigte aber, daß er nichts weniger als ein Sahib war. Er schien zu verstehen, was im Geiste des Knaben vorging, ohne daß dieser den Mund öffnete, und er gab keine Erklärungen wie Vater Victor oder die Lehrer in Lucknow. Besser aber, er behandelte Kim wie einen Gleichgestellten, auf asiatische Weise.

»Tut mir leid, daß Ihr meinen Jungen heute morgen nicht prügeln könnt. Er sagt, er will Euch mit Gift oder Messer töten. Er ist eifersüchtig. Ich habe ihn in die Ecke gestellt und werde heute nicht mit ihm sprechen. Er hat eben versucht, mich umzubringen. Ihr müßt mir beim Frühstück helfen. Er ist zu eifersüchtig; man kann ihm jetzt nicht trauen.«

Ein von England unverfälscht importierter Sahib würde eine große Wichtigkeit aus solcher Sache gemacht haben; Lurgan Sahib erzählte sie so einfach, wie Mahbub Ali seine kleinen Geschäfte im Norden berichtete.

Die hintere Veranda war direkt über den Hügelabhang hinausgebaut und man guckte in des Nachbars Schornstein hinunter, wie es in Simla gewöhnlich Brauch ist. Mehr noch als das rein persische Mahl, das Lurgan mit eigener Hand bereitete, interessierte Kim der Inhalt des Ladens. Das Museum von Lahors war größer, aber hier waren mehr Wunder – Geisterdolche und Gebetmühlen von Tibet, Halsketten von Bernstein und Türkisen; Spangen von grünem Speckstein, sonderbar zusammengefügte Weihrauch-Stäbe in mit rohem Granat inkrustierten Krügen; die Teufelsmasken von voriger Nacht und eine Wand voll von pfauenblauen Draperien; vergoldete Buddha-Gestalten und kleine, tragbare Lack-Altäre; russische Samowars mit Türkisen auf den Deckeln; chinesisches Teegeschirr, dünn wie Eierschalen, in zierlichen achteckigen Rohrschachteln; Kruzifixe von gelbem Elfenbein, »meist aus Japan,« grade diese, sagte Lurgan Sahib; abscheulich riechende, staubige Teppich-Ballen hinter zerfetzte und vermoderte geometrische Tafeln geschoben. Persische Wasserkrüge für Handwaschung nach der Mahlzeit; schwere kupferne Räucherbüchsen, weder persisch noch chinesisch, mit Friesen von phantastischen, rundtanzenden Teufeln umgeben; fleckige silberne Gürtel, die sich wie rohes Leder zusammenknoteten; Haarnadeln von Jetstein, Elfenbein und Zelluloid; Waffen von allen Arten und tausend andere Raritäten lagen in Kasten oder sonstwie aufgehäuft, auch einfach auf dem Boden verstreut, so daß nur ein Raum um den gebrechlichen Plankentisch frei blieb, an dem Lurgan Sahib arbeitete.

»Diese Sachen sind nichts«, sprach er, Kims Blick folgend. »Ich kaufe sie, weil sie hübsch sind und zuweilen verkaufe ich davon, wenn – der Käufer mir gefällt. Meine Arbeit ist auf dem Tisch – etwas davon.«

Es blitzte in dem Morgenlicht – rote, blaue, grüne Blitze, vermischt hier und da mit dem verführerischen blauweißen Strahl von Diamanten. Kim öffnete die Augen weit.

»Oh, die sind ganz gesund, diese Steine. Die Sonne schadet ihnen nichts. Nebenbei sind sie billig. Aber mit kranken Steinen ist es anders.« Er füllte Kims Teller aufs Neue. »Außer mir selbst gibt es keinen Arzt für kranke Perlen oder jemand, der Türkisen ihre blaue Farbe wiedergeben könnte. Opale überlasse ich andern – jeder Narr kann einen Opal kurieren – aber für eine kranke Perle bin nur ich allein da. Gesetzt, ich sollte sterben! Da wäre kein anderer da… O nein! Ihr könnt nichts mit Juwelen anfangen. Genug, wenn Ihr später einmal etwas von Türkisen versteht.«

Er begab sich an das Ende der Veranda, um den schweren, porösen Thon-Wasserkrug aus dem Filter zu füllen.

»Wünscht Ihr zu trinken?«

Kim nickte. Lurgan, fünfzehn Fuß vom Tisch entfernt, legte eine Hand auf den Krug. Im nächsten Augenblick stand der Krug, gefüllt bis auf einen halben Zoll vom Rande, dicht neben Kims Ellbogen; nur das weiße Tischtuch zeigte sich leicht gekräuselt – da wo er sich vorbeigeschoben hatte.

»Wiah!« machte Kim im äußersten Erstaunen. »Das ist Magie.« Lurgan Sahibs Lächeln zeigte, daß das Kompliment ihm gefiel.

»Werft ihn zurück.«

»Er wird zerbrechen.«

»Ich sage, werft ihn zurück.«

Kim schleuderte ihn aufs Geratewohl. Er fiel hart und zerbrach in fünfzig Stücke; das Wasser tropfte durch den rohen Bretterboden der Veranda.

»Ich sagte, er würde zerbrechen.«

»Ganz gleich. Schaut ihn an. Seht nach dem größten Stück hin.« Das lag, mit einem Glitzern von Wasser in seiner Höhlung, wie ein Stern, auf dem Boden. Kim sah scharf darauf hin; Lurgan legte ihm die Hand ins Genick, strich einige Male darüber hin und flüsterte: »Schaut! Er soll wieder lebendig werden, Stück für Stück. Erst soll das große Stück sich mit den zwei anderen, links und rechts, vereinigen – links und rechts. Seht!«

Hätte es sein Leben gekostet, Kim hätte seinen Kopf nicht wenden können. Die leichte Berührung hielt ihn wie in einem Schraubstock, und sein Blut kribbelte ihm wohltätig in den Adern. Wo drei Stücke des Kruges gelegen halten, lag jetzt eines und darüber erschien der schattenhafte Umriß des ganzen Gefäßes. Er konnte die Veranda hindurch schimmern sehen, aber es wurde mit jedem seiner Pulsschläge körperhafter und dunkler. Und doch war der Krug – wie langsam die Gedanken kamen! – Der Krug war vor seinen Augen zerschmettert. Eine neue Welle von prickelndem Feuer rann ihm den Nacken herab, als Lurgan Sahib seine Hand wegzog.

»Seht! Es hat wieder Form bekommen,« sprach er.

Bis hierher hatte Kim in Hindi gedacht, aber ein Zittern überflog ihn, und mit einer Anstrengung, wie ein Schwimmer vor Haifischen sich aus dem Wasser schleudert, schwang sein Geist sich auf der Dunkelheil, die ihn verschlang und suchte – suchte – Zuflucht im englischen Einmaleins!

»Schaut! Es Kommt wieder in Form,« wisperte Lurgan Sahib.

Der Krug war zerschmettert worden – ja! Zerschmettert – nicht mit dem landesüblichen Wort, an das wollte er nicht denken – ja, zerschmettert – in mehr als fünfzig Stücke – und zwei mal drei ist sechs, drei mal drei ist neun und vier mal drei ist zwölf. Verzweifelt klammerte er sich an die Zahlen. Der schattenhafte Umriß des Kruges schwand wie ein Nebel, als er sich die Augen rieb. Da lagen die Scherben; da trocknete das verspritzte Wasser im Sonnenlicht und durch die Spalten des Verandabodens sah er, streifig, die weiße Hausmauer darunter – und drei mal zwölf ist sechsunddreißig!

»Seht! Kommt er wieder in Form?« fragte Lurgan.

»Aber er ist zerschmettert – zerschmettert,« keuchte er –

Lurgan hatte einige Sekunden leise gemurmelt. Kim drehte den Kopf mühsam zur Seite. »Schau! Dekho! Da ist er wie er da war.«

»Da ist er wie er da war,« sprach Lurgan, Kim scharf beobachtend, während der Knabe sich den Nacken rieb.

»Aber Ihr seid der erste von den vielen, der es je so gesehen.« Er trocknete sich die breite Stirn.

»War das Magie?« fragte Kim argwöhnisch. Das Kribbeln in seinen Adern hatte aufgehört; er fühlte sich ungewöhnlich wach.

»Nein, das war nicht Magie. Ich wollte nur sehen, ob da ein Fleck in einem Edelstein war. Es passiert wohl, daß sehr feine Juwelen in Stücke zerfallen, wenn ein Mann sie in die Hand nimmt, der sich darauf versteht. Deshalb muß man sehr vorsichtig sein, ehe man sie befestigt. Sagt mir, sahet Ihr die Form des Gefäßes?«

»Kurze Zeit nur. Es schien wie eine Blume aus der Erde zu wachsen.«

»Und was tatet Ihr dann? Ich meine, was dachtet Ihr?«

»Oha! Ich wußte, es war zerbrochen und so, ich glaube, dachte ich – und es war zerbrochen.«

»Hm! Hat irgend jemand zuvor solche Magie mit Euch ausgeübt?«

»Wenn das wäre, denkt Ihr, ich würde es wieder geduldet haben? Ich würde fortlaufen.«

»Und jetzt fürchtet Ihr Euch nicht.«

»Nicht jetzt.«

Lurgan sah ihn noch schärfer an. »Ich werde Mahbub Ali fragen – nicht gleich; aber später einmal,« murmelte er. Dann laut: »Ich bin zufrieden mit Euch – ja und wieder – nein. Ihr seid der erste, der sich gut herausgezogen hat. Ich möchte wissen was es war, das … Aber Ihr habt recht. Ihr solltet das nicht sagen – selbst mir nicht.«

Er wandte sich nach dem halb dunklen Laden und setzte sich, die Hände sanft reibend, an den Tisch. Ein leises heiseres Schluchzen kam hinter einem Teppichballen hervor. Es war das Hindu-Kind, das gehorsam das Gesicht der Wand zugekehrt hatte. Seine kleinen Schultern zuckten vom Weinen.

»Ah! Er ist eifersüchtig, so eifersüchtig. Möchte wissen, ob er noch einmal versuchen wird, mir mein Frühstück zu vergiften, so daß ich es frisch kochen muß.«

»Kubbee – Kubbee, nahin (niemals, niemals. Nein!)« kam es in gebrochenen Lauten.

»Und ob er wohl diesen andern Knaben töten wird?«

»Kubbee, Kubbee nahin.«

»Was denkt Ihr , wird er’s tun?« wandte sich Lurgan plötzlich zu Kim.

»Oha! Wie kann ich wissen? Ich würde ihn fortschicken. Warum wollte er Euch vergiften?«

»Weil er mich liebt. Denkt, Ihr hättet jemand lieb und es käme einer, der dem Manne, den Ihr liebtet, besser gefiele als Ihr, was würdet Ihr tun?«

Kim dachte nach. Lurgan wiederholte seine Worte langsam im Dialekt.

»Ich würde den Mann nicht vergiften,« sprach Kim nachdenklich, »den Knaben aber würde ich prügeln – wenn er sich unterstände, meinen Mann zu lieben. Erst aber würde ich den Knaben fragen, ob er ihn liebte.«

»Ah! Er denkt, daß jeder mich lieben muß.«

»Dann denke ich, daß er ein Narr ist.«

»Hörst Du?« sprach Lurgan zu den bebenden Schultern, »des Sahibs Sohn denkt, Du wärest ein kleiner Narr. Komm hervor und das nächste Mal, wenn Dein Herz beunruhigt ist, brauche nicht ganz so offen weißes Arsenik. Sicherlich, der Teufel Dasim wäre heule Herr an unserer Tafel gewesen. Ich hätte sterben können, Kind, und ein Fremder Hätte dann die Juwelen gehütet. Komm!«

Das Kind, mit vom Weinen geschwollenen Augenlidern. kroch hinter dem Ballen hervor und warf sich leidenschaftlich Lurgan zu Füßen mit so überschwenglicher Reue, daß es selbst Kim bewegte.

»Ich will nach dem Farbenkasten sehen, ich will die Juwelen treu bewachen! Oh, mein Vater und meine Mutter, schicke ihn fort!« Er wies nach Kim mit einem Ruck seiner nackten Ferse nach rückwärts.

»Noch nicht – noch nicht. In kurzer Zeit wird er wieder gehen. Jetzt aber ist er in der Schule, in einer neuen Madrissah, und Du sollst sein Lehrer sein. Spiele das Juwelen-Spiel gegen ihn. Ich will nachzählen.«

Das Kind trocknete rasch seine Tränen, schlüpfte in den Raum hinter dem Laden und kehrte mit einer kupfernen Platte zurück.

»Reiche sie mir!« sprach er zu Lurgan. »Laß sie aus Deiner Hand Kommen, er möchte sonst glauben, ich hätte sie zuvor gesehen.«

»Geduld – Geduld,« erwiderte Lurgan und aus einer Schublade unter dem Tisch legte er eine Handvoll klirrender kleiner Dinge auf die Platte.

»Nun,« sprach das Kind, eine alte Zeitung schwenkend, »sieh sie Dir an. Fremder, solange Du willst. Zähle, und wenn nötig, befühle sie. Ein Blick genügt für mich.« Es wandte sich stolz um.

»Aber was für ein Spiel ist das?«

»Wenn Du sie befühlt und gezählt hast und sicher bist, daß Du alle im Kopf behalten kannst, bedecke ich sie mit diesem Papier und Du mußt Lurgan Sahib die Abrechnung machen. Die meinige schreibe ich nieder.«

»Oha!« Der Trieb des Wetteifers erwachte in Kim. Er beugte sich über den Teller. Nur fünfzehn Steine lagen darauf. »Das ist leicht,« sagte er nach einer Minute. Das Kind bedeckte die glitzernden Steine mit dem Papier und kritzelte in ein einheimisches Rechnungsbuch.

»Es liegen unter dem Papier,« sprach Kim in voller Eile, »fünf blaue Steine, ein großer, ein kleinerer und drei kleine. Vier grüne Steine und einer mit einem Loch: ein gelber Stein, durch den ich hindurch sehen kann und einer wie von einem Pfeifenstiel. Zwei rote Steine sind da und – und – ich hatte die Zahl 15, aber zwei habe ich vergessen. Nein! Gib mir Zeit. Einer war von Elfenbein, klein und bräunlich: und – und – gib mir Zeit …«

»Eins – zwei –« Lurgan zählte sie bis zehn vor. Kim schüttelte den Kopf.

»Hör meine Rechnung,« fiel das Kind, zitternd vor Lust ein. »Erstens sind da zwei Saphire mit Flecken – einer von zwei Ruttees (ein Gewicht) und einer von vier, denke ich. Der Saphir von vier Ruttees ist an der Kante abgebröckelt. Da ist ein glatter turkestanischer Türkis mit schwarzen Adern und – und zwei mit Inschriften – der eine mit dem Namen Gottes in Gold, der andere ist quer über gespalten, er ist aus einem alten Ring, deshalb kann ich die Inschrift nicht lesen. Nun haben wir alle fünf blauen Steine. Vier fehlerhafte Smaragde sind da: der eine ist an zwei Stellen angebohrt und der andere ein wenig angeschliffen –«

»Ihr Gewicht?« fragte Lurgan Sahib gleichmütig.

»Drei – fünf – fünf – und vier Ruttees, denke ich. Da ist ein Stück von allem grünlichen Bernstein und ein geschliffener Topas aus Europa. Ein Rubin von Burma, ohne Fehler und zwei Ruttees schwer. Ein geschnitztes Stück Elfenbein, eine Ratte, die ein Ei aussaugt, darstellend, und zum Schluß ist da – ah, ha! ein runder Krystall, so groß wie eine Bohne in ein goldenes Blatt gefaßt.«

Er klatschte zum Schluß in die Hände.

»Er ist Dein Meister,« sprach Lurgan lächelnd.

»Huh! Er kannte die Namen der Steine,« sagte Kim errötend. »Versuche es noch einmal! Mit gewöhnlichen Dingen, die uns beiden bekannt sind.«

Sie füllten den Teller wieder mit Kuriositäten und Spielereien, die sie in dem Laden und selbst in der Küche Zusammen gesucht, und jedesmal gewann das Kind zu Kims größter Verwunderung. »Bindet mir die Augen zu,« rief er herausfordernd, »laßt mich nur einmal mit den Fingern fühlen und auch so soll er hinter mir zurückbleiben, er, mit offenen Augen!«

Kim stampfte vor Ärger mit dem Fuß, als der Knabe seine Sache gut machte.

»Wären es Menschen oder – Pferde,« rief er, »so würde ich mehr leisten. Dies Spiel mit Zangen und Messern und Scheeren ist zu kleinlich.«

»Lerne erst – lehre später,« sprach Lurgan. »Ist er Dein Meister?«

»Er ist’s. Aber wie wird es gemacht?«

»Indem man es so oft wiederholt, bis man es gut macht. Es ist wert, daß man es lernt.«

Der Hindu-Knabe, in stolzester Laune, klopfte Kim tatsächlich auf den Rücken. »Verzweifle nicht,« sagte er, »ich will es Dich lehren.«

»Und ich will aufpassen, daß Du gut belehrt wirst,« sagte Lurgan, im Dialekt redend: »denn ausgenommen meinen Knaben hier – es war töricht von ihm, so viel weißes Arsenik Zu kaufen, da er es von mir hätte haben können – ausgenommen meinen Knaben hier, habe ich seit langer Zeit keinen getroffen, der so wie Du es verdient hätte, unterrichtet zu werden. Und es bleiben Dir noch zehn Tage bis zur Rückkehr nach Lucknow, wo sie nichts lehren – für so hohen Preis. Wir werden, denke ich, Freunde.«

Das waren zehn tolle Tage, Kim belustigte sich aber zu gut dabei, um über ihre Tollheit zu grübeln. Am Morgen spielten sie das Juwelen-Spiel, zuweilen mit wirklichen Edelsteinen, zuweilen mit Haufen von Dolchen und Messern, zuweilen mit Bildern von Eingeborenen. Am Nachmittag beobachteten beide Knaben, schweigend, hinter einem Teppich-Ballen oder einem Schirm verborgen, Mr. Lurgans viele und sehr sonderbare Besucher. Da kamen kleine Rajahs, deren Begleitung in der Veranda herum hustete, um Kuriositäten – wie Phonographen und mechanisches Spielzeug – zu kaufen; Damen, die Halsketten suchten, und Männer, die, so schien es Kim – aber seine Phantasie konnte möglicherweise durch seine Erziehung verderbt sein – die die Damen suchten. Eingeborene von unabhängigen und lehnspflichtigen Höfen, deren angebliches Begehr die Reparatur zerrissener Halsketten war – Ströme von Licht ergossen sich über den Tisch – deren wahres Geschäft aber schien: Geld zu borgen für zornige Maharanees oder bedrängte junge Rajahs. Da waren Babus, zu denen Lurgan Sahib mit Ernst und Autorität redete; aber das Ende jeder Unterredung war, daß er Geld in Silber oder kursierenden Papieren auszahlte. Zuweilen fanden sich theatralische, langberockte Eingeborene zusammen, die metaphysische Gespräche in englischer oder bengalischer Mundart führten, zu Lurgans größtem Ergötzen. Er interessierte sich für religiöse Dinge. Am Abend halten Kim und der Hindu-Knabe – dessen Name nach Lurgans Belieben wechselte – detaillierten Bericht über alles, was sie gesehen und gehört, wie auch ihr Urteil über jedes Besuchers Charakter nach Gesicht, Rede und Benehmen, abzugeben. Ebenfalls ihre Vermutung über den wahren Zweck des Besuchs. Nach dem Abendessen wandte sich Lurgan Sahibs Phantasie gern dem zu, was er »Aufputz« nannte und mit lebhaftem und zugleich lehrreichen Interesse behandelte. Er verstand es, Gesichter mit einem Pinseltupfen hier und einer Linie dort bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Der Laden war voll von allerlei Arten Gewändern und Turbanen und Kim ward abwechselnd verkleidet als junger Muselmann von guter Familie, als Ölhändler oder – und das war der lustigste Abend – als Sohn eines Grundbesitzers in Oudh, in vollster Gala. Lurgan Sahib hatte ein Habichtsauge für den kleinsten Fehler in der Verkleidung. Auf einem abgenutzten Teakholz-Lager ausgestreckt, erklärte er stundenlang wie diese oder jene Kaste redete, ging, hustete, nieste oder ausspie, und, da das »Wie« wenig sagen will in dieser Welt, das »Warum« von all diesem. Bei diesem Spiel war das Hindu-Kind schwerfällig. Sein kleiner Geist, scharf wie ein Eiszapfen, wo es sich um Juwelen-Zählen handelte, konnte sich nicht in das Wesen eines anderen hineindenken; in Kim aber wachte ein Dämon auf und jubilierte, wenn er eine Verkleidung nach der anderen anlegte und Rede und Bewegung mit ihr veränderte.

In seiner Begeisterung führte er es Lurgan eines Abends vor, wie die Schüler einer gewissen Kaste von Fakiren, alte Bekannte von Lahore her, um Almosen am Wege betteln; dann, welche Art Sprache einem Engländer und welche einem Farmer aus dem Punjab oder einer Frau gegenüber sie führten. Lurgan Sahib lachte unbändig und bat Kim, eine halbe Stunde unbeweglich so zu bleiben, wie er war, mit gekreuzten Beinen, wild blickend und mit Asche beschmiert; dann Kam ein plumper feister Babu herein, dessen bestrumpfte Beine vor Fett wackelten. Ihn überschüttete Kim mit einem Schauer solcher Straßen-Unterhaltung. Lurgan aber – und das verdroß Kim – beachtete den Babu und nicht das Spiel.

»Ich meine,« sprach schwerfällig der Babu, eine Zigarette anzündend, »dies ist eine außerordentliche, wirkungsvolle Leistung. Hättet Ihr mich nicht vorher aufmerksam gemacht, würde ich geglaubt haben, daß – daß – daß Ihr mich in die Beine kniffet. Wie bald kann er ein annähernd richtiger Mann von der Kette werden? Denn dann will ich ihn einweihen.«

»Dazu muß er erst in Lucknow etwas lernen.«

»Dann sagt ihm, daß er verdammt schnell lernen soll. Gute Nacht, Lurgan.« Der Babu schwankte hinaus mit dem Gang einer furchtsamen Kuh.

Als die Liste der Besucher vom Tage aufgezählt wurde, fragte Lurgan, was Kim von dem eben Fortgegangenen halte.

»Gott weiß,« sprach Kim leicht hin. Der Ton hätte Mahbub Ali vielleicht täuschen können, bei dem Heiler kranker Perlen aber versagte er.

»Das ist wahr. Gott weiß es: ich wünsche aber zu wissen, was Du denkst.«

Kim blinzelte seitwärts nach seinem Gefährten, dessen Auge einen Blick hatte, der die Wahrheit herauszwang.

»Ich – ich denke, er will mich brauchen, wenn ich von der Schule komme, aber« – mit zutraulichem Ton, da Lurgan beifällig nickte – »ich begreife nicht, wie er verschiedene Kleidung tragen und verschiedene Sprachen sprechen soll.«

»Du wirst vieles erst später verstehen. Er schreibt Geschichten für einen gewissen Oberst. Allein in Simla ist er hoch geehrt, und bemerkenswert ist, er hat keinen Namen, nur eine Nummer und einen Buchstaben – das ist so Gebrauch unter uns.«

»Und ist auch ein Preis auf seinen Kopf gesetzt – wie auf Mah – wie auf all die anderen?«

»Noch nicht. Wenn aber ein Knabe – er sitzt jetzt hier – aufstände und ginge – schau, die Tür ist offen – bis an ein gewisses Haus mit rot gemalter Veranda, hinter dem Gebäude, das früher das alle Theater in dem unteren Basar war, und flüsterte durch die Fensterläden: »Hurree Chunder Mookerjee brachte die schlimme Nachricht vom letzten Monat,« der Knabe könnte einen Gürtel voll Rupien mitnehmen.«

»Wie viele?« fragte Kim rasch.

»Fünfhunderttausend – soviel er fordern würde.«

»Gut. Und wie lange hätte der Knabe zu leben, nachdem die Neuigkeit mitgeteilt wäre? Er grinste vergnügt dicht an Lurgans Bart.

»Ah! Das ist wohl zu bedenken. Vielleicht, wenn er es sehr gescheit anfinge, den Tag zu Ende – aber nicht die Nacht. Auf keinen Fall die Nacht.«

»Was ist denn aber des Babus Sold, wenn soviel auf seinen Kopf gesetzt ist?«

»Achtzig – vielleicht hundert – vielleicht hundert und fünfzig Rupien; aber der Sold ist das Geringste bei der Arbeit. Von Zeit zu Zeit läßt Gott Männer geboren weiden – und Du bist einer von diesen – die aus reiner Lust an Gefahr ihr Leben riskieren und Neues entdecken – heute vielleicht von ganz entfernten Dingen, morgen von irgendeinem versteckt liegenden Berg, den nächsten Tag von Leuten ganz in der Nähe, die eine Torheit gegen den Staat begangen haben. Solcher Seelen gibt es wenige, und von diesen wenigen sind wohl kaum zehn von der besten Art. Zu diesen Zehn rechne ich den Babu, und das ist wunderbar. Wie groß und begehrenswert muß ein Geschäft sein, das das Herz eines Bengalen kühn macht!«

»Wahr. Aber die Tage gehen mir zu langsam. Ich bin noch ein Knabe, und erst seit zwei Monaten lernte ich Angrezi (Englisch) schreiben. Noch heute kann ich es nicht gut lesen. Und es sind noch Jahre und Jahre und lange Jahre, bevor ich nur ein Mann von der Kette sein kann.«

»Habe Geduld, Freund aller Welt,« – Kim stutzte bei der Benennung – »wollte, ich hätte einige von den Jahren, die Dich so ungeduldig machen. Ich habe Dich in verschiedenen kleinen Versuchen auf die Probe gestellt. Das soll nicht vergessen werden, wenn ich dem Oberst Sahib Bericht erstatte.« Dann plötzlich in englischer Sprache, lachend: »Beim Zeus! O’Hara, ich glaube, in Euch steckt viel. Aber Ihr dürft nicht stolz werden und nicht schwatzen. Ihr müßt nach Lucknow zurückkehren, ein braver kleiner Junge sein und über den Büchern sitzen, und in den nächsten Ferien vielleicht, wenn Ihr es wünscht, könnt Ihr wieder zu mir kommen.« Kim sah enttäuscht aus. »O, ich sage: wenn Ihr es wünscht. Ich weiß, wohin Ihr gehen möchtet.«

Vier Tage später war für Kim ein Platz auf dem Rücksitz einer Kalka-Tonga bestellt. Sein Reisegefährte war der walfischähnliche Babu, der, einen ausgefranzten Shawl um den Kopf geschlungen und das fette linke Bein in durchsichtigem Strumpf auf den Sitz gezogen, in der Morgenkälte schauderte und stöhnte.

»Wie kommt es, daß dieser Mann einer von »Uns« ist?« dachte Kim, den breiten Rücken betrachtend, während sie die Straße abwärts rüttelten; und dieser Gedankengang zog ihn weiter in heitere Zukunftsträume. Lurgan Sahib hatte ihm fünf Rupien gegeben – eine stattliche Summe – dazu die Versicherung seiner Protektion, wenn er fleißig lernen würde.

Ungleich Mahbub Ali, hatte Lurgan deutlich von dem Lohn gesprochen, der dem Gehorsam folgen würde, und Kim war zufrieden. Wenn er nur, wie der Babu, der Würde einer Zahl und eines Buchstabens – und eines Preises auf seinen Kopf – teilhaftig würde! Eines Tages würde er das alles erreichen. Eines Tages würde er so mächtig sein, fast wie Mahbub Ali. Statt der Hausbücher von einstmals würde dann halb Indien der Schauplatz seiner Nachforschungen sein. Der Spur von Königen und Ministern würde er folgen, wie er einst in Lahore in Mahbubs Spiondienst der Spur von Kommissionären und Advokaten gefolgt war. Inzwischen war die Gegenwart, mit St. Xavier in Aussicht, auch nicht zu verachten. Neu angekommene Knaben würden zu protegieren und neue Abenteuer aus der Ferienzeit anzuhören sein. Der junge Martin, Sohn des Teepflanzers zu Manipur, hatte geprahlt, er würde mit einer Flinte in den Krieg gegen die Kopfjäger gehen. Das konnte ja sein, aber sicher war Martin nicht bei einer Feuerwerk-Explosion durch den Vorhof eines Patiala-Palastes geschleudert; noch hatte er … Kim rechnete sich seine Abenteuer während der letzten drei Monate vor. Er konnte St. Xavier in Erstaunen setzen, selbst die größten Jungen, die sich schon rasierten – durch seine Erzählung, wäre das erlaubt gewesen. In nicht zu ferner Zeit, wie Lurgan ihm versicherte, würde ein Preis auf seinen Kopf gesetzt werden; wenn er aber jetzt törichte Reden führte, würde nicht allein dieser Preis nicht gesetzt, sondern auch würde Oberst Creighton ihn verstoßen, und – er würde dem Zorn Lurgan Sahibs und Mahbub Alis überliefert bleiben für die kurze Zeit, die er dann noch zu leben hätte.

»So würde ich Delhi hingeben, um einen Fisch zu gewinnen,« war seine sprichwörtliche Philosophie. Ihm gebührte es, seine Ferienzeit zu vergessen (blieb doch immer noch das Vergnügen, Abenteuer zu erdichten) und, wie Lurgan sagte, zu arbeiten.

Von allen Knaben, die nach St. Xavier zurückkehrten, von Sukkur in den Sandwüsten her, bis zu Galla unter den Palmen, war keiner so voll guter Vorsätze, wie Kimball O’Hara, der da nach Umballa hinunterrasselte hinter Hurree Chunder Mookerjee, dessen Name in den Büchern einer Sektion des Ethnologischen Amtes R. 17 war. Und war es nötig, Kim noch mehr anzuspornen, so tat der Babu es in vollem Maß. Nach einer reichlichen Mahlzeit in Kalka redete er ununterbrochen.

Kehrte Kim in die Schule zurück, dann wollte er, Magister der Universität von Calcutta, ihm die Vorteile einer guten Erziehung klar machen. Es waren Preise zu gewinnen für gehörigen Fleiß im Lateinischen und bei Wordsworth »Excursion« (das war für Kim Chaldäisch). Auch Französisch war Lebensfrage; das beste hörte man in Chandernagore, einige Meilen von Calcutta. Ja, man konnte bei strenger Aufmerksamkeit weil kommen, er selbst wäre weit damit gekommen, wenn man den Dramen Lear und Julius Cäsar strenge Aufmerksamkeit schenkte; beide ständen bei den Examinatoren in hohem Werte. Lear wäre nicht so voll historischer Beziehungen wie Julius Cäsar; das Buch kostete vier Annas, man könnte es aber im Bow-Basar aus zweiter Hand für zwei Annas kaufen. Noch wichtiger als Wordsworth und die eminenten Autoren Burke und Hare wäre die Kunst und Wissenschaft der Vermessung. Ein Knabe, der sein Examen hierin bestanden – für welches, beiläufig bemerkt – Keine Einpauke-Bücher existieren – könnte bei einfachem Marschieren durch eine Gegend, mit Hilfe von Kompaß und Richtscheit und scharfem Blick ein Bild von der Gegend mitnehmen, das mit großen Summen geprägten Silbers bezahlt würde.

Da es gelegentlich nicht ratsam sein würde, Meßketten mit sich zu tragen, so würde so ein Knabe gut tun, die genaue Länge seines eigenen Fußes zu kennen, so daß er, was Hurree Chunder »nebensächliche Hilfsmittel« nannte, dennoch seine Distanzen abschreiten könnte. Um Tausende von Schritten richtig zu zählen, hatte Hurree Chunders Erfahrung ihn gelehrt, daß dafür ein Rosenkranz von 81 oder 108 Perlen unschätzbar wertvoll sei, denn er wäre teilbar und abermals teilbar in den verschiedensten Multiplikationen. Aus dem überstürzten Schwall der englischen Worte erhaschte Kim doch die Haupt-Tendenz ihres Sinnes und die fesselte ihn sehr. Hier war eine neue Fertigkeit, die ein Mann in seinem Kopf aufspeichern konnte; und nach dem Anschein der großen, weiten Welt, die sich vor ihm auftat, schien es: je mehr ein Mann wisse, desto besser für ihn.

Nachdem der Babu lange Zeit in dieser Weise geredet, sagte er plötzlich: »Ich hoffe, eines Tages Euere amtliche Bekanntschaft zu machen. Ad interim, wenn ich mich so ausdrücken darf, gebe ich Euch diese Beteldose, die ein sehr schätzbarer Gegenstand ist und mich vor vier Jahren zwei Rupien kostete.« Es war ein billiges, in Herzform geschnittenes Blechding mit drei Abteilungen, zur Aufnahme der ewigen Betelnuß von Kalk und Betelpfeffer-Blatt, war aber angefüllt mit kleinen Pillen-Fläschchen. Das zum Lohn des Verdienstes, daß Ihr da oben den heiligen Mann so gut kopiert habt. Seht, Ihr seid so jung und denkt, Ihr haltet für ewig aus und achtet nicht auf Euren Körper. Es ist aber sehr schlimm, mitten in der Arbeit krank zu werden. Ich lege Wert auf Arzeneimittel; man soll sie auch zur Hand haben, um arme Leute zu kurieren. Dieses sind gute Departements-Medizinen: Chinin und so weiter. Ich gebe sie Euch als Andenken. Lebt nun wohl! Ich habe dringende Privatgeschäfte hier am Wege.«

Geräuschlos wie eine Katze schlüpfte er vom Wagen, rief eine vorbeifahrende Ekka an und rasselte weiter, Kim, vor Erstaunen stumm und mit der Blechdose in den Händen, zurücklassend.

Die Erziehungs-Geschichte eines Knaben interessiert außer den Eltern nur wenige, und Kim war, wie ihr wißt, ein Waise. In den Büchern von St. Xavier in Partibus ist bemerkt, daß am Schlusse jedes Quartals ein Bericht über Kims Fortschritte dem Oberst Creighton und Vater Victor (durch dessen Hand regelmäßig das Schulgeld einging) zugesandt wurde. Ferner ist in denselben Büchern bemerkt, daß Kim große Begabung für mathematische Studien und Landkarten-Zeichnen entwickelte, und daß er einen Preis (Das Leben Lord Lawrences, zwei Bände in Kalbleder gebunden, zu neun Rupien vier Annas) für seine Leistungen in diesen Fächern errang, ebenso in einem Wettbewerb der Schüler von St. Xavier mit dem mohammedanischen Allyghur-Colleg, als er vierzehn Jahre und zehn Monate alt war. Er wurde auch ungefähr zur selben Zeit noch einmal geimpft (woraus wir schließen, daß eine Blattern-Epidemie in Lucknow herrschte). Bleistiftnotizen am Rande einer alten Zeugnis-Liste besagen, daß er verschiedene Male bestraft wurde wegen »Conversierens mit unpassenden Persönlichkeiten«, und es scheint, daß er einmal zu schwerer Strafe verurteilt wurde, weil »er sich einen ganzen Tag in Gesellschaft eines alten Straßen-Bettlers umhergetrieben hatte«. Das war damals, als er über das Gitter kletterte und einen ganzen Tag mit dem Lama am Ufer des Goomkee zubrachte und ihn anflehte, in den nächsten Ferien mit ihm wandern zu dürfen, einen Monat nur – nur eine kurze Woche – gegen welche Bitte der Lama sich wie ein Kieselstein verhielt, indem er behauptete, die Zeit dafür wäre noch nicht gekommen. Kims Aufgabe, sagte der alte Mann, indes sie zusammen Kuchen aßen, wäre, erst alle Weisheil der Sahibs zu erwerben, und dann würde er sehen …

Die Hand der Freundschaft mußte auch diesmal die Geißel des Unheils abgewendet haben, denn es scheint, daß Kim sechs Wochen später eine Prüfung in Elementar-Vermessungslehre bestand und ein gutes Zeugnis erhielt. Mit diesem Datum schließen die Berichte. Sein Name fehlt unter dem jährlichen Schub derer, die in den niederen Vermessungsdienst von Indien eintraten, dagegen war er gebucht mit dem Zusatz: »nach Übereinkunft aus der Schule entlassen«.

Verschiedene Male im Laufe dieser drei Jahre tauchte in dem Tempel der Tirthanker zu Benares der Lama auf, etwas abgemagert, einen Schatten gelber, wenn das möglich war, aber sanft und harmlos wie immer. Zuweilen kam er vom Süden her – vom Süden von Tuticorin – von wo die wunderbaren Feuerschiffe nach Ceylon gehen, wo es Priester gibt, die Pali (Tochtersprache des Sanskrit) verstehen, zuweilen vom feuchten, grünen Westen, wo die Tausende von Schornsteinen der Baumwoll-Fabriken Bombay wie ein Ring umgeben. Und einmal kam er vom Norden her, von wo er achthundert Meilen hin- und zurückgewandert war, um einen Tag mit dem Hüter der Bildnisse in dem Wunderhaus sich zu unterhalten. Er schritt dann in seine Zelle in dem Kühlen Marmor-Tempel – die Priester waren gütig mit dem alten Mann – wusch den Staub des Weges ab, betete und fuhr (er war nun an die Eisenbahn gewöhnt) in dritter Klasse nach Lucknow. Kehrte er von Lucknow zurück, so war es auffallend – wie sein Freund, der Sucher, gegen den Oberpriester bemerkte – daß er für einige Zeit nicht von der Sehnsucht nach seinem Strom redete, oder wunderbare Bilder von dem Rad des Lebens zeichnete, sondern von der Schönheit und der Weisheit eines gewissen, geheimnisvollen Chela sprach, den kein Mann des Tempels je gesehen.

»Ja, er war den Spuren der Heiligen Füße durch ganz Indien gefolgt. (Der Vorsteher des Tempels besitzt noch einen höchst wunderbaren Bericht über seine Wanderungen und Meditationen.) Es blieb nur noch übrig, im Leben den Strom des Pfeiles zu finden. Jedoch war es ihm in seinen Träumen kund geworden, daß dies ein Unternehmen ohne Aussicht auf Erfolg war, wenn nicht ein Chela mit dem Sucher war, bestimmt die Suche glücklich zu Ende zu führen – ein Chela in großer Weisheit erfahren – solcher Weisheit, wie weißhaarige Hüter von Bildnissen sie besitzen. Zum Beispiel (hier wurde der Schnupftabakbeutel hervorgeholt, und die gutmütigen Jain-Priester hörten schweigend zu): –

»Vor langen, langen Zeiten, als Devadatta König von Benares war – lasset alle lauschen der Iâtaka (Geburtsgeschichte des Buddha) – war von den Jägern des Königs ein Elefant gefangen, und bevor er sich befreien konnte, mit einem grausamen, eisernen Beinring belastet. Mit Haß und Wut im Herzen suchte er das Eisen abzustreifen, und in den Wäldern auf- und abwärts rennend, flehte er seine Brüder-Elefanten an, es abzureißen. Mit ihren starken Rüsseln, einer nach dem anderen, versuchten sie es, aber vergebens. Zuletzt gaben sie ihre Meinung ab, daß der Ring nicht von tierischer Kraft zu brechen sei. Und im Dickicht, noch feucht von der Geburt, lag ein neugeborenes Kalb der Herde, dessen Mutter gestorben war. Der gefesselte Elefant, seine eigene Qual vergessend, sprach: »Wenn ich nicht diesem Säugling helfe, so wird er unter unseren Füßen sterben.« So stand er über dem jungen Ding und machte seine Beine zu Schutzpfeilern gegen die unruhig sich bewegende Herde. Milch erbettelte er von einer tugendhaften Kuh, und das Kalb gedieh, und der gefesselte Elefant ward des Kalbes Führer und Verteidiger. Aber die Tage eines Elefanten – laßt alle lauschen der Jâtaka! – sind fünfunddreißig Jahre bis zu seiner vollen Stärke,‘ und durch fünfunddreißig Regen beschützte der gefesselte Elefant den jüngeren, und durch die ganze, lange Zeit hindurch fraß das Eisen sich in das Fleisch ein.

Da, eines Tages sah der junge Elefant das halb im Fleisch begrabene Eisen und wendete sich zu dem älteren und sprach: »Was ist dies?« »Das ist eben mein Kummer,« sprach der, der ihn betreut hatte. Da streckte der andere seinen Rüssel aus, und so schnell wie man ein Auge aufschlägt, zertrümmerte er den Ring und sprach: »Die bestimmte Zeit ist gekommen«. So ward der tugendhafte Elefant, der geduldig ausgeharrt und Gutes getan hatte, erlöst zu der bestimmten Zeit durch dasselbe Kalb, das er gerettet und geliebt – laßt alle lauschen der Jâtaka! – denn der Elefant war Ananda, und das Kalb, das den Ring zerbrach, war kein anderer als Unser Herr …«

Dann wiegte er feierlich sein Haupt, und über dem immer klappernden Rosenkranz wies er darauf hin, wie frei dies Elefanten-Kalb von der Sünde des Stolzes war.

»Es war so demütig wie ein Chela, der seinen Meister draußen im Staube vor den Pforten des Wissens sitzen sah und diese Pforten übersprang, obwohl sie geschlossen waren, und seinen Meister ans Herz nahm vor den Augen der stolzbrüstigen Stadt.«

So sprach der Lama. Und er ging und kam durch Indien so sacht, wie eine Fledermaus. Eine scharfzungige, alte Dame, in einem Hause zwischen den Fruchtbäumen hinter Saharunpore, ehrte ihn, wie das Weib den Propheten ehrte, aber seines Bleibens war nicht hinter den Wänden. Er saß in einem Raume des Vorhofs, auf den girrende Tauben hinabsahen, und sie neben ihm, den überflüssigen Schleier beiseite gelegt, schwatzte von Geistern und Teufeln in Kulu, von ungeborenen Enkeln und von dem frechzungigen Burschen, der auf dem Rastplatz sie angeredet hatte. Einmal auch streifte er allein von der großen Heerstraße unterhalb Umballa nach dem Dorfe zu, dessen Priester ihm Opium gegeben halte; der gütige Himmel aber, der Lamas beschützt, leitete ihn, der gedankenvoll und arglos im Zwielicht durch die Ähren schritt, zu des Risaldars Tür. Hier hätte es bald ein schweres Mißverständnis gegeben, denn der alte Soldat fragte, warum der Freund der Sterne desselben Weges allein, erst sechs Tage vorher gekommen sei.

»Das kann nicht sein,« meinte der Lama. »Er ist zu seinem eigenen Volk zurückgegangen.«

Sein Wirt bestand darauf. »In jener Ecke saß er vor fünf Nächten und erzählte hundert lustige Geschichten. Wahr ist, er verschwand etwas plötzlich in der Dämmerung, nachdem er närrische Reden mit meiner Enkelin geführt. Er wächst zusehends, aber es ist derselbe Freund der Sterne, der mir das wahre Wort von dem Kriege brachte. Habt Ihr Euch getrennt?«

»Ja – und nein,« erwiderte der Lama. »Wir – wir haben uns nicht ganz getrennt, aber die Zeit ist noch nicht reif, wo wir zusammen wandern können. Er erwirbt Weisheit an einem anderen Ort. Wir müssen warten.«

Ganz gleich – aber, wenn es nicht der Knabe war, wie käme es, daß er beständig von Dir sprach?«

»Und was sagte er?« fragte der Lama eifrig.

»Süße Worte – hundert, tausend, daß Du sein Vater und seine Mutter wärest und all dergleichen. Schade, daß er nicht in den Dienst der Königin tritt. Er ist ohne Furcht.«

Diese Nachricht beunruhigte den Lama, der noch nicht wußte, wie gewissenhaft Kim den mit Mahbub Ali geschlossenen und von Oberst Creighton widerwillig genehmigten Kontrakt innehielt.

»Man kann kein junges Pony fern vom Spiel halten,« sagte der Roßkamm, als der Oberst behauptete, dies Vagabundieren durch Indien in Ferienzeiten sei ein Unsinn. »Verbietet man ihm zu gehen und kommen, wie er mag, so wird er sich nicht um Verbot kümmern. Und, wer soll ihn wieder einfangen? Oberst Sahib, nur einmal in tausend Jahren wird ein Roß, so geeignet für das Spiel, geboren wie dieses, unser Füllen. Und wir haben Männer nötig.«

Kapitel 5.

Kapitel 5.

Wieder schob die träge, schlürfende Prozession sich langsam vorwärts, und sie schlief, bis der nächste Rastplatz erreicht war. Es war ein nur kurzer Marsch gewesen, und noch eine Stunde blieb bis Sonnenuntergang, so daß Kim nach neuer Zerstreuung ausschauen konnte.

»Warum nicht lieber still sitzen und ruhen?« meinte einer aus der Eskorte. »Nur Teufel und Engländer laufen ohne Grund hin und her.«

»Schließe nicht Freundschaft mit dem Teufel, mit einem Affen oder einem Knaben,« sagte ein anderer, »keiner weiß, was sie im nächsten Augenblick anstellen werden.«

Kim kehrte ihnen verächtlich den Rücken – er hatte nicht Lust, die alte Geschichte anzuhören, wie der Teufel mit den Knaben spielte und es zu bereuen hatte – und schlenderte langsam vorwärts.

Der Lama folgte ihm. Den ganzen Tag, wenn immer sie einen Fluß trafen, hatte er sich gewendet, ihn zu betrachten, aber bei keinem war ihm ein Zeichen geworden. Unwillkürlich auch waren seine Gedanken etwas von der Suche abgezogen durch das Behagen, sich in angemessener Sprache unterhalten zu können und von einer Frau von edler Herkunft sich geziemend gewürdigt und als ihr geistlicher Berater respektiert zu sehen. Und dann war er ja vorbereitet, noch Jahre in Gelassenheit seiner Suche zu weihen. Von der Ungeduld des weißen Mannes besaß er nichts, beseelt wie er war von seinem tiefen Glauben.

»Wohin gehest Du?« rief er Kim nach.

»Nirgendwo hin; es war ein kurzer Marsch und all dieses« – Kim bewegte seine Hand durch die Luft – »ist mir neu.«

»Sie ist ohne Zweifel eine weise und scharfsinnige Frau. Aber es hält schwer, nachzudenken, wenn – –«

»Alle Frauen sind so.« Kim sprach, als wäre er der weise Salomo.

»Vor der Lamaserai befand sich eine breite Terrasse von Stein,« murmelte der Lama, den abgenutzten Rosenkranz drehend, »da wandelte ich auf und ab mit meinem Rosenkranz, und sie trägt die Spuren meiner Füße.«

Er ließ die Perlen klappern und begann das »Om mane padme hum« seiner Andacht, dankbar für die Kühle, die Stille und das Fehlen des Staubes.

Kims müßige Augen schweiften über die flache Ebene, ohne Zweck und Ziel; nur, daß die Bauart der nahen Hütten ihm neu schien und seine Aufmerksamkeit fesselte. Sie hoben sich ab von einem im Lichte des Nachmittags braun und purpurn schimmernden Weidegründe mit einer mächtigen Gruppe von Mangos im Mittelpunkte. Dem Knaben schien es sonderbar, daß kein Schrein auf einem so angemessenen Platze stand; er beobachtete solche Dinge so scharf, wie irgend ein Priester. Weit über die Ebene her, klein in der Entfernung, kamen Seite an Seite vier Männer. Kim schaute scharf durch die gekrümmte Hand und gewahrte das Blinken von Metall.

»Soldaten. Weiße Soldaten!« sagte er. »Laß uns sehen.«

»Es sollen immer Soldaten sein, wenn Du und ich allein zusammen gehen. Aber ich habe die weißen Soldaten nie gesehen.«

»Sie sind nicht schlimm, nur, wenn sie betrunken sind. Bleib hinter diesem Baum.«

Sie traten hinter die dicken Stämme in das kühle Dunkel der Mangogruppe. Zwei kleine Gestalten machten Halt; die anderen traten unsicher vorwärts. Sie waren die Vorhut eines auf dem Marsch begriffenen Regiments, wie üblich, vorausgeschickt, um das Lager abzustecken. Sie trugen fünf Fuß lange Stäbe mit flatternden Flaggen und riefen einander an, wenn sie sich auf der Ebene verteilten. Endlich traten sie schweren Schrittes unter die Mangobäume.

»Hier oder hier herum soll es sein – die Offiziers-Zelte unter den Bäumen, wir anderen draußen. Ist der Platz für die Bagagewagen abgeteilt?«

Sie riefen den Kameraden in der Entfernung wieder zu, und die laute Antwort kam gedämpft zurück.

»Stoßt die Flaggenstange hier ein,« befahl einer.

»Was bereiten sie vor?« fragte der Lama verwundert. »Dies ist eine große und schreckliche Welt. Welche Devise trägt die Fahne?«

Ein Soldat stieß, einige Fuß entfernt von ihnen, die Stange in den Grund, knurrte unzufrieden, zog sie wieder heraus, trug sie seinem Gefährten zu, der sich den beschatteten, grünen Platz ansah und sie zurück brachte.

Kim starrte mit aufgerissenen Augen, kurz und schwer durch die Zähne atmend. Die Soldaten stampften weiter in den Sonnenschein.

»Oh, Heiliger!« keuchte Kim, »mein Horoskop! Die Zeichnung im Staube des Priesters in Umballa! Erinnerst Du Dich, was er sagte? Erst kommen zwei – Ferashes – (Diener für die Zelte) um alles vorzubereiten – auf einen dunklen Platz, wie es immer beim Beginn einer Vision ist.«

»Aber dies ist Keine Vision,« sprach der Lama. »Es ist ein Blendwerk der Welt, nichts weiter.«

»Und nach ihnen kommt der Stier – der Rote Stier auf grünem Feld. Schau! Da ist er!«

Er zeigte nach der Fahne, die nicht zehn Fuß weit, im Abendwinde hin und her klappte. Es war nur eine gewöhnliche Lager-Abgrenzungsfahne, aber das Regiment, immer peinlich genau in Nadelarbeit-Sachen, hatte sie mit der Devise des Regiments versehen lassen, dem Roten Stier – dem Abzeichen der Mavericks – dem großen Roten Stier auf einem Hintergrunde von irischem Grün.

»Ich sehe, und nun erinnere ich mich,« sprach der Lama. »Gewiß, es ist Dein Stier. Gewiß auch kamen die beiden Männer, um alles bereit zu machen.«

»Es sind Soldaten – weiße Soldaten. Was sagte der Priester? Das Banner des Stieres von Anfang bis zu Ende bedeutet Krieg und Bewaffnete. Heiliger, dies gilt meiner Suche.«

»Wahr. Es ist wahr.« Der Lama blickte starr nach dem Wappen, das rot im Zwielicht schimmerte.

»Der Priester zu Umballa sprach, Dein Zeichen wäre das des Krieges.«

»Was sollen wir nun beginnen?«

»Warten. Laß uns warten.«

»Selbst die Dunkelheit klärt nun auf,« sagte Kim. Es war nur natürlich, daß die Strahlen der untergehenden Sonne, durch die Baumzweige brechend, den Mango-Hain minutenlang mit sanftem Goldlicht füllten; für Kim aber war dies die Krönung der Prophezeiung des Brahmanen von Umballa.

»Horch!« sagte der Lama, »da wird in der Ferne eine Trommel geschlagen.«

Anfänglich klang der Ton schwach durch die stille Luft, wie das Klopfen einer Arterie im Kopfe, bald gesellte sich ein schärferer dazu.

»Ah! Die Musik,« erklärte Kim. Er kannte den Klang von Militär-Musik, den Lama erschreckte er.

Am Ende der Ebene ward eine lange, staubige Kolonne sichtbar. Der Wind trug jetzt die Klänge deutlicher herbei, schrille Pfeifen wurden hörbar. Es war das Musik-Corps der Mavericks, das das Regiment ins Lager spielte. Die Leute waren auf der Marschroute mit der Bagage. Die wellenförmige Kolonne bewegte sich jetzt in der Ebene vorwärts, sich links und rechts teilend, schwirrend wie ein Ameisenhaufen und eine Reihe Wagen am Schlusse.

»Aber dies ist Zauberei!« rief der Lama.

Die Fläche punktierte sich mit Zelten, die aus den Wagen gleich fertig heraus zu wachsen schienen. Ein anderer Trupp Männer überschwemmte den Hain, schlug schweigend ein ungeheures Zelt auf, daneben noch acht oder neun kleinere, brachte Kochtöpfe, Pfannen und Bündel ans Tageslicht, die von einer Schar eingeborener Diener in Empfang genommen wurden, und den Lauschern schien der Mango-Hain bald in eine geordnete Stadt umgewandelt.

»Laß uns gehen,« sprach der Lama, ängstlich rückwärts drängend, als die Feuer flammten und weiße Offiziere mit klirrenden Degen das Meß-Zelt betraten.

»Bleibe im Schatten stehen. Hinter dem Licht eines Feuers kann niemand sehen«, sagte Kim, mit den Blicken an der Fahne haftend. Zum erstenmal konnte er beobachten, wie ein geübtes Regiment in dreißig Minuten ein Lager aufschlägt.

»Sieh! sieh! sieh!« gluckste der Lama, »dort kommt ein Priester.«

Es war Bennet von der englischen Kirche, Kaplan des Regiments, in staubigem Schwarz daher hinkend. Einer aus seiner Schar hatte eine boshafte Bemerkung über die feurige Geschwindigkeit des Kaplans gemacht, und ihn zu beschämen war Bennet den ganzen Tag Schritt für Schritt mit den Soldaten marschiert. Das schwarze Gewand, das goldene Kreuz an der Uhrkette, sein bartloses Haupt mit dem weichen schwarzen Schlapphut kennzeichneten ihn genügend als »heiligen Mann« über ganz Indien. Er ließ sich in einen Feldstuhl an der Tür des Meßzeltes fallen und warf seine Stiefel ab. Drei oder vier Offiziere umstanden ihn und lachten und scherzten über seine Heldentat.

»Die Rede der weißen Männer ermangelt jeder Würde«, sprach der Lama, der nur nach dem Ton der Stimmen urteilte. »Aber des Priesters Gesicht habe ich beobachtet und ich glaube, er ist kenntnisreich. Wahrscheinlich versteht er unsere Sprache. Ich möchte von meiner Sache zu ihm reden.«

»Sprich nie zu einem weißen Mann, ehe er gefüttert ist«, sagte Kim, ein bekanntes Sprichwort anführend. »Jetzt wollen sie essen und – und ich glaube kaum, daß es sich lohnt, bei ihnen zu betteln. Laß uns nach dem Rastplatz zurückkehren. Wenn wir gegessen haben, wollen wir wieder hierher kommen. Es war sicher ein Roter Stier – mein Roter Stier.«

Beide waren merklich in Gedanken versunken, als das Gefolge der alten Dame ihnen das Mahl vorsetzte, und niemand störte sie, denn es ziemt sich nicht, einen Gast zu stören.

»Nun«, meinte Kim, in den Zähnen stochernd, »wollen wir nach dem Platz zurückgehen; aber Du, Heiliger, mußt auf halbem Wege etwas warten, denn Deine Füße sind schwerer als meine, und mich treibt’s, mehr von dem Roten Stier zu sehen.«

»Aber wie kannst Du ihre Rede verstehen? Gehe langsam. Der Weg ist dunkel«, sprach ängstlich der Lama.

Kim beachtete die Frage nicht. »Ich bemerkte einen Platz nahe den Bäumen«, sagte er, »wo Du sitzen kannst, bis ich Dich rufe. Nein« – als der Lama eine Einwendung versuchte – »bedenke, dies ist meine Suche – die Suche nach meinem Roten Stier. Das Zeichen der Sterne war nicht für Dich. Ich kenne ein wenig die Sitten der weißen Soldaten und ich bin immer begierig, Neues zu erfahren.«

»Was von dieser Welt wäre Dir unbekannt?« Der Lama hockte gehorsam in einer kleinen Höhlung am Wege nieder, kaum hundert Yards entfernt von der Gruppe der Mangos, die sich dunkel gegen den sternenbesäten Himmel abhoben.

»Bleibe hier, bis ich rufe.« Kim entwich in das Dunkel. Er wußte, daß nach aller Wahrscheinlichkeit Schildwachen um das Lager herum stehen würden und lachte in sich hinein, als er die schweren Tritte einer solchen vernahm. Ein Knabe, der in Mondscheinnächten über die Dächer von Lahore dahinzuschleichen und jeden dunklen Fleck und jeden dunklen Winkel zu benutzen verstand, um seine Verfolger zu täuschen, schreckt nicht zurück vor einer Reihe gut geschulter Soldaten. Er bezeigte ihnen seine Achtung, indem er zwischen zweien von ihnen durchkroch und, bald rennend, bald anhaltend, bald sich duckend und platt auf den Boden legend, machte er seinen Weg bis zu dem erleuchteten Meß-Zelte, wo er, an einen Mangobaum gepreßt, lauschend harrte, ob ihm der Zufall einen Wink gäbe.

Was seine Gedanken allein beschäftigte, war, alles über den Roten Stier zu erfahren. Er setzte voraus – und seine Einbildungskraft war ebenso sonderbar und sprunghaft in ihrer Begrenzung wie in ihrer Ausdehnung – daß die Männer, die neunhundert vollwichtigen Teufel aus seines Vater Prophezeiung, nach Dunkelwerden vor dem Stiere beten würden, wie die Hindu zu der heiligen Kuh beten. Das wenigstens wäre ihm richtig und logisch erschienen und daher mußte der Pater mit dem goldenen Kreuz wohl der Mann sein, der zu Rat zu ziehen sei. Dagegen fielen ihm wieder die strengen Gesichter der Patres ein, denen er in Lahore so sorgfältig auswich, und so konnte auch dieser Priester ein neugieriger Plagegeist sein, der ihm befehlen würde, in die Schule zu gehen. Aber war es nicht erwiesen zu Umballa, daß sein Zeichen in den hohen Himmeln Krieg und bewaffnete Männer bedeute? War er nicht der Freund der Sterne sowohl als der ganzen Welt, bis an die Zähne vollgestopft mit den gewichtigsten Geheimnissen? Zuletzt und zuerst – als eigentlicher Unterstrom seiner raschen Gedanken – dieses Abenteuer, wenngleich der englische Ausdruck ihm fehlte, war ein toller Spatz – eine köstliche Fortsetzung seiner früheren Flüge über die Dächer und dazu die Erfüllung einer erhabenen Prophezeiung. Er lag platt auf dem Bauch und schlängelte sich, eine Hand auf dem Amulett um seinen Hals, an die Tür des Meß-Zeltes heran.

Es war, wie er vermutete. Die Sahibs beteten zu ihrem Gott; denn in der Mitte der Meß-Tafel – deren einziger Schmuck, wenn das Regiment auf der Marschroute war – stand ein Stier von Gold – Gold, das einer alten Kriegsbeute aus dem Sommer-Palast in Peking entstammte – ein goldroter Stier, gesenkten Kopfes, zum Sprunge bereit, auf einem Felde von irischem Grün. Ihm hielten die Sahibs ihre Gläser entgegen und riefen laut durcheinander. Der Reverend Arthur Bennet verließ nach diesem Toast gewöhnlich die Messe und da er von dem Marsch sehr ermüdet war, eilte er heute besonders. Kim, mit leicht erhobenem Kopf, starrte noch nach seinem Stammwappen auf dem Tische, als der Kaplan ihm auf die rechte Schulter trat. Kim wich zurück unter dem harten Leder, rollte seitwärts und brachte den Kaplan zu Fall, der, ein Mann der Tat, ihn an der Gurgel packte und fast zu Tode würgte. Kim trat ihm verzweifelt in die Magengegend. Mr. Bennet Keuchte, wand sich empor, ohne los zu lassen, rollte wieder über und schleppte Kim zuletzt schweigend in sein eignes Zelt. Die Mavericks waren unverbesserliche Spötter, und Schweigen schien dem Engländer das Beste, bis er sich vollkommen unterrichtet hatte.

»Was, es ist ein Knabe!« sprach er, als er seine Beute unter das Licht der Laterne an der Zeltstange gebracht, und ihn heftig schüttelnd, rief er: »was hast Du gemacht? Du bist ein Dieb? Choor Mallum?« Sein hindostanisch stand auf schwachen Füßen, und der zerzauste und erboste Kim beschloß, den Charakter, den man ihm aufdrängte, beizubehalten. Zu Atem gekommen, ersann er eine hübsche, halbwegs glaubhafte Geschichte von einer Verwandschaft mit einem der Meß-Küchenjungen, blickte dabei aber mit scharfem Auge unter die linke Achselhöhle des Kaplans. Der Augenblick kam, er schlüpfte hindurch nach der Tür, aber ein langer Arm streckte sich nach seinem Nacken aus, eine Hand ergriff die Schnur des Amuletts und schloß sich über demselben.

»Gib es mir. Oh, gib es mir! Ist etwas verloren? Gib mir die Papiere.«

Das war englisch – das blecherne, zersägte Englisch der Eingeborenen und der Kaplan sprang empor.

»Ein Skapulier«, rief er, die Hand öffnend. »Nein, eine Art heidnischen Zaubers. So – Du sprichst englisch? Kleine Jungen, die stehlen, werden geprügelt. Weißt Du das?«

»Ich – ich stehle nicht.« Kim tanzte in seiner Todesangst wie ein Terrier vor einem erhobenen Stock. »Oh, gib es mir zurück. Es ist mein Amulett. Stiehl es mir nicht.«

Der Kaplan gab nicht acht, er ging nach der Zelttür und rief laut. Ein dicker, glatt geschorener Mann erschien.

»Ich wünsche Ihren Rat, Vater Victor,« sprach Bennet. »Ich fand diesen Knaben im Dunkeln vor dem Meß-Zelte. In ähnlichem Falle würde ich ihn gezüchtigt und laufen lassen haben, weil ich einen Dieb in ihm vermutete. Aber er spricht englisch und scheint Wert zu legen auf ein Amulett, das er um seinen Nacken trägt. Ich dachte, daß Sie vielleicht mir helfen würden.«

Zwischen ihm und dem römisch-katholischen Kaplan des irischen Kontingents lag, nach Bennetts Ansicht, ein unüberbrückbarer Abgrund. Bemerkenswert aber war es, daß, wenn immer die englische Kirche ein menschliches Problem zu lösen hatte, sie sehr bereit war, die römische Kirche zu befragen. Bennetts offizielle Abneigung gegen »das Weib in Scharlach und all ihr Zubehör« war nicht größer, als seine nicht offizielle Hochachtung für Vater Victor.

»Ein Dieb, der englisch redet, ist es? Laßt mich sein Zaubermittel sehen. Nein, ein Skapulier ist es nicht, Bennet.« Er streckte die Hand aus.

»Aber haben wir ein Recht, es zu öffnen? Eine gesunde Tracht Prügel –«

»Ich habe nicht gestohlen,« protestierte Kim. »Ihr habt mir Tritte über den ganzen Körper versetzt. Gebt mir jetzt mein Amulett, und ich will gehen.«

»Nicht gar so rasch, wollen erst sehen,« sprach Vater Victor, das »ne varietur«-Pergament des armen O’Hara entrollend, sein Abschieds-Attest und Kims Taufschein. Auf diesen letzteren hatte O’Hara, in der konfusen Idee, daß er damit für seinen Sohn Wunder bewirke, unzählige Mal die Worte gekritzelt: »Seht nach dem Knaben. Bitte, seht nach dem Knaben,« und darunter seinen vollen Namen und die Nummer seines Regiments.

»Mächte der Finsternis drunten!« rief Vater Victor, Bennett alles hinüber reichend. »Wißt Ihr, was alles dieses ist?«

»Ja,« sagte Kim, »das ist alles mein, und ich will nun fort.«

»Ich verstehe mich nicht recht,« meinte Bennett. »Er führte wohl alles absichtlich bei sich. Mag eine Bettler-List sein.«

»Bis jetzt sah ich noch keinen Bettler weniger beflissen am Platz zu bleiben. Hier scheint mir so was wie ein fideles Geheimnis dahinter zu stecken. Glauben Sie an göttliche Vorsehung, Bennett?«

»Ich hoffe doch.«

»Nun, ich glaube an Wunder. Das kommt auf eins heraus. Mächte der Finsternis? Kimball O’Hara! Und sein Sohn! Aber er ist doch ein Eingeborener und ich selbst war zugegen, als Kimball sich mit Anni Schott verheiratete. Seit wann besitzest Du diese Dinge, Knabe?«

»Seit ich ein kleines Kind war.« Vater Victor trat rasch vor und öffnete Kims Obergewand. »Sehen Sie, Bennett, er ist nicht sehr dunkel. Wie heißest Du?«

»Kim.«

»Oder Kimball?«

»Vielleicht. Wollt Ihr mich nun fortlassen?«

»Wie sonst?«

»Sie nennen mich Kim Rishti Ke. Das heißt: Kim von den Rishti.«

»Was ist das – Rishti?«

»I – Rishti – das war das Regiment – meines Vaters Regiment –

»Irisch, oh, ich verstehe.«

»Ja–a! Das sagte mir mein Vater. Mein Vater, er hat gelebt.«

»Hat gelebt wo?«

»Hat gelebt. Ist nun tot – fort – weg.«

»Oh! Du bist kurz angebunden mit Deiner Antwort!« Bennett unterbrach ihn. »Möglich, daß ich dem Knaben Unrecht tat. Er ist ein Weißer, sicher, so augenscheinlich verwildert er auch ist. Ich muß ihn arg zertreten haben. Ich meine, – – ein Schluck Wein.«

»Geben Sie ihm ein Glas Sherry und lassen Sie ihn sich auf das Feldbett strecken. Nun, Kim,« fuhr Vater Victor fort, »niemand wird Dir etwas zu leide tun. Trink das aus und teile uns alles über Dich selbst mit. Aber die Wahrheit, wenn Du nichts dawider hast.«

Kim hustete ein wenig, als er das Glas niederstellte und überlegte. Hier galt es vorsichtig und erfinderisch sein. Kleine Jungen, die in einem Feldlager umher streifen, werden sonst, nach einer Züchtigung, hinaus geworfen. Er aber halte keine Schläge bekommen. Das Amulett wirkte offenbar zu seinen Gunsten, und es schien, daß das Horoskop von Umballa und die wenigen Worte, deren er sich aus seines Vaters Faseleien erinnerte, wunderbar dazu stimmten. Weshalb sonst hätte der dicke Pater sich so ereifert und der dünne ihm das Glas heißen gelben Weines gegeben?

»Mein Vater, er starb in Lahore-Stadt, als ich noch sehr klein war. Die Frau, sie hatte eine Kabarri-Bude, nahe dem Platz, wo die Mietwagen stehen.« Kim begann mit einem Wagnis, nicht ganz sicher, wie weit die Wahrheit ihm dienen könnte.

»Deine Mutter?«

»Nein« – mit einer Geberde des Abscheus – »Die ging weg, als ich geboren wurde. Mein Vater, er erhielt diese Papiere vom Jadoo-Gher (Zauberhaus) – wie nennt Ihr das? »Freimaurerloge –« (Bennett nickte) »denn er war in gutem Ansehen – wie nennt Ihr das?« (Bennett nickte wieder.) »Mein Vater sagte mir das. Er sagte auch und auch der Brahmane, der die Zeichnung im Staube zu Umballa machte, vor zwei Tagen, er sagte, daß ich einen Roten Stier auf grünem Felde finden würde und daß der Stier mir helfen würde.«

»Ein phänomenaler kleiner Lügner,« murmelte Bennett.

»Mächte der Dunkelheit drunten, welch ein Land!« murmelte Vater Victor. »Weiter, Kim.«

»Ich habe nicht gestohlen. Und dazu – jetzt bin ich der Schüler eines sehr heiligen Mannes. Er sitzt da draußen. Wir sahen zwei Männer mit Fahnen kommen, die machten den Platz bereit. Das ist immer so in einem Traum oder in bezug auf eine – eine – Prophezeiung. Da wußte ich, daß es wahr werden würde. Ich sah den Roten Stier auf dem grünen Feld, und mein Vater, er sagte: ›Neunhundert erstklassige große Pukka-Teufel und der Oberst zu Pferde werden für Dich sorgen, wenn Du den Roten Stier findest!‹ Wie ich den Roten Stier sah – ich wußte nicht, was ich machen sollte; ich ging fort und kam zurück, als es dunkel war. Ich wollte den Stier wieder sehen, und ich sah den Stier wieder und sah – wie die Sahibs zu ihm beteten. Ich denke, der Stier wird mir helfen. Der heilige Mann sagte das auch. Er sitzt draußen. Werdet Ihr ihm wehe tun, wenn ich ihm jetzt eine Nachricht schicke? Er ist sehr heilig. Er kann alles bezeugen, was ich sagte und er weiß, ich bin kein Dieb.«

»Offiziere, die einen Stier anbeten! Was in aller Welt soll man daraus machen?« rief Bennett. »Schüler eines heiligen Mannes! Ist der Junge verrückt?«

»Er ist O’Haras Junge, ganz sicher. O’Haras Sohn, verbündet mit allen Mächten der Finsternis. Er macht’s wie sein Vater, wenn er betrunken war. Wir täten gut, den heiligen Mann herzubitten. Er mag etwas wissen.«

»Er weiß nichts,« sagte Kim. »Ich will ihn Euch zeigen, wenn Ihr mit mir kommt. Er ist mein Meister. Dann können wir fortgehen.«

»Mächte der Dunkelheit!« war alles, was Vater Victor sagen konnte, als Bennett, die Hand fest auf Kims Schulter, mit diesem hinaus schritt.

Sie fanden den Lama, wo er sich niedergelegt hatte.

»Meine Suche ist beendet,« rief Kim in der Landessprache ihm zu. »Ich fand den Stier, aber Gott weiß, was nun folgen wird. Sie werden Dir nichts tun. Komm zu des fetten Priesters Zelt mit diesem dünnen Mann und sieh, wie es endet. Es ist alles neu und sie verstehen nicht Hindi. Sie sind nur ungestriegelte Esel.«

»Dann ist es nicht gut, ihrer Unwissenheit zu spotten,« erwiderte der Lama. »Es ist mir lieb, daß Du froh bist, Chela.«

Arglos und würdevoll schritt er in das kleine Zelt, begrüßte die Kirchen als Mann der Kirche und setzte sich neben der offenen Kohlenpfanne nieder. Das Lampenlicht, von der gelben Auskleidung des Zeltes zurückgeworfen, ließ sein Antlitz goldrot erscheinen.

Bennett blickte auf ihn mit der dreifach kalten Teilnahmlosigkeit jenes Bekenntnisses, das neun Zehntel der Welt als »Heiden« in einen Topf wirft.

»Und wie ist das Ende Deiner Suche?« wandte der Lama sich an Kim. »Welche Gabe brachte Dir der Rote Stier?«

»Er sagt: ›Was wirst Du tun?‹« Kim übernahm aus eigener Ermächtigung die Rolle des Dolmetsch. Bennett starrte Vater Victor voll Unbehagen an.

»Ich sehe nicht ein, was dieser Fakir mit dem Knaben zu tun hat,« begann er, »der entweder sein Narr oder sein Verbündeter sein mag. Wir können nicht zugeben, daß ein Knabe von englischer Abkunft – angenommen, er sei der Sohn eines Freimaurers – so sollte er je eher je besser in das Freimaurer-Waisenhaus kommen.«

»Ah! So denken Sie als Sekretär der militärischen Loge,« sagte Vater Victor, »aber wir könnten, meine ich, dem alten Manne erst mitteilen, was wir zu tun beabsichtigen. Er steht nicht aus wie ein Bösewicht.«

»Nach meiner Erfahrung ist das orientalische Gemüt nie zu ergründen. Jetzt, Kimball, verlange ich, daß Du diesem Manne Wort für Wort wiederholst, was ich sage.«

Kim faßte den Inhalt der nächstfolgenden Sätze zusammen und begann:

»Heiliger, der magere Narr, der wie ein Kamel aussieht, sagt, ich wäre der Sohn eines Sahib.«

»Aber wie denn das?«

»Oh, es ist wahr. Ich wußte es seit meiner Geburt. Er aber konnte es nur durch mein Amulett herausfinden und indem er alle die Papiere las. Er denkt, wer einmal ein Sahib ist, bleibt ein Sahib. Die beiden beraten nun, ob ich bei diesem Regiment bleiben oder in eine Madrissah (Schule) geschickt werden soll. Dies Letzte hat mir schon früher gedroht, aber ich wußte es stets zu vermeiden. Der fette Narr denkt so , und der wie ein Kamel aussieht, so . Aber das hat nichts zu bedeuten. Ich mag eine Nacht, vielleicht noch eine, hier festgehalten werden, das ist mir schon früher passiert – dann laufe ich davon und kehre zu Dir zurück.«

»Aber sage ihnen doch, daß Du mein Chela bist. Sage ihnen, daß Du mir gesendet wurdest, als ich verwirrt und hinfällig war. Sage ihnen von unserer Suche und sie werden Dich sicher gehen lassen.«

»Ich habe ihnen schon alles gesagt. Sie lachen und drohen mit der Polizei.«

»Was redet Ihr da?« frug Bennett.

»Oha! Er sagt nur, wenn Ihr mich nicht gehen laßt, so hindert Ihr ihn in seinen besonderen und dringenden Angelegenheilen – seinem dringenden und besonderen Vorhaben» – diese Redensart war eine Reminiszenz aus einer Rede eines eurasischen Schreibers im Kanal-Departement – aber sie rief nur ein Lächeln hervor, das ihn erbitterte. »Und wenn Ihr wüßtet , was sein Vorhaben ist, würdet Ihr es nicht so abscheulich eilig haben, Euch hinein zu mischen.«

»Was ist es denn?« fragte Vater Victor nicht ohne Mitgefühl, indem er des Lamas Gesicht betrachtete.

»Es ist ein Fluß in diesem Lande, den er so sehr zu finden wünscht. Der war durch einen Pfeil hervorgebracht, welcher« – Kim trat ungeduldig mit dem Fuß auf bei dem Versuch, seine Gedanken vom Dialekt in sein plumpes Englisch zu übersetzen – »o ja, der vom Herrgott Buddha selbst gemacht war, wißt Ihr, und wenn Ihr Euch darin selbst wascht, so wascht Ihr alle Eure Sünden weg und werdet so weiß wie weiße Watte.« (Kim halte so etwas einmal von einer Missions-Rede aufgeschnappt.) »Ich bin sein Schüler und den Fluß müssen wir finden. Es ist so sehr wichtig für uns.«

»Wiederhole dies noch einmal,« sagte Bennett.

Kim gehorchte, aber mit Zusätzen.

»Aber das ist ja die reinste Gotteslästerung,« rief die Kirche von England.

»Tck! Tck!« sagte Vater Victor teilnahmsvoll. »Ich würde viel darum geben, den Dialekt zu verstehen. Ein Fluß, der von Sünden reinigt! Und wie lange sucht Ihr den schon?«

»Oh, viele Tage. Jetzt wünschen wir fortzugehen, um weiter zu suchen. Hier ist er nicht, seht Ihr.«

»Ich sehe,« sprach ernst Vater Victor. »Aber Du kannst nicht ferner in des alten Mannes Begleitung gehen, Kim. Du bist eines Soldaten Sohn. Sage ihm, das Regiment würde für Dich sorgen und Dich zu einem braven Manne machen, zu einem Mann so brav wie Dein – so brav wie ein Mann eben werden kann. Sage ihm, daß, wenn er an Wunder glaubt, er glauben muß, daß –«

»Weshalb mit seiner Leichtgläubigkeit Scherz treiben?« unterbrach Bennett.

»Ich tue nichts dergleichen. Er muß glauben, daß des Knaben Hierherkunft – zu seinem eigenen Regiment – auf der Suche nach seinem eignen Stier, eine Art von Wunder ist. Bedenken Sie doch, Bennett, wie die Umstände sich zusammen fügen! Gerade dieser eine Knabe in ganz Indien und unser Regiment, – aus allen übrigen heraus – auf der Marschroute, treffen sich hier. Das ist Prädestination. Ja, Kim, sage es ihm, es ist Kismet, Kismet … Mallum? Verstehst Du?«

Er wandte sich zu dem Lama um, dem man ebensowohl von Mesopotamien hätte reden können.

»Sie sagen« – des alten Mannes Auge leuchtete auf, als Kim ihn anredete – » »sie sagen, daß die Bedeutung meines Horoskops sich jetzt erfülle, und da ich zu diesen Leuten und ihrem Roten Stier hergeleitet wäre – obgleich. Du weißt es, ich nur aus Neugier in ihren Weg kam – ich nun in eine Madrissah gehen und ein Sahib werden müßte. Nun, ich tue so, als ob ich einwillige. Im schlimmsten Fall werden wir nur einige Mahlzeiten getrennt voneinander verzehren. Dann schlüpfe ich fort und folge Dir auf der Straße nach Saharunpore. Darum, Heiliger, bleibe bei der Kulu-Frau. Entferne Dich auf keinen Fall weit von ihren Wagen, bis ich wiederkomme. Keine Frage! Mein Symbol ist Krieg und Männer in Waffen. Sieh, wie sie mir Wein zu trinken gaben und mich auf ein Ehrenlager legten! Mein Vater muß eine hohe Person gewesen sein. Wenn sie mich nun unter sich zu Ehren erheben, gut – wenn nicht, auch gut. Wie es auch kommen mag, zu Dir werde ich zurück laufen, wenn ich es satt habe. Aber bleibe bei der Rajputni, sonst finde ich Deine Fußspur nicht wieder … O ja-ah,« wandte der Knabe sich zu den Priestern, »jetzt habe ich ihm alles gesagt, was Ihr befohlen.«

»Ich sehe nicht ein, warum er noch wartet,« meinte Bennett, in seine Hosentasche greifend, »die Details können wir später feststellen – ich werde ihm eine Rupie geben –«

»Geben Sie ihm Zeit,« sagte Vater Victor, die Hand des Geistlichen zurückhaltend, »vielleicht – er scheint den Knaben lieb zu haben –«

Der Lama zerrte an seinem Rosenkranz und zog den breiten Hutrand über seine Augen.

»Was kann er noch wollen?«

»Er sagt« – Kim hielt seine Hand empor – »er sagt: Seid still! Er will zu mir allein sprechen. Ihr seht, Ihr versteht nicht das kleinste Wort von seiner Rede und wenn Ihr ihn stört, mag er Euch vielleicht verwünschen. Wenn er seine Perlen so angreift, will er immer, daß man still ist.«

Die beiden Engländer blieben sprachlos; aber ein Etwas in Bennetts Auge verhieß Kim nichts Gutes, wenn er dem frommen Arm der Kirche überliefert werden sollte.

»Ein Sahib und der Sohn eines Sahib –« des Lamas Stimme klang heiser vor schmerzlicher Bewegung.

»Aber kein weißer Mann kennt das Land und die Sitten des Landes, wie Du sie kennst. Wie ist es möglich, daß dies wahr ist?«

»Was schadet’s, Heiliger! Denke, es ist nur für eine oder zwei Nächte. Erinnere Dich, ich kann mich rasch verwandeln. Es wird alles wieder so werden, wie damals, als ich zuerst mit Dir sprach unter Zam-Zammah, der großen Kanone.« –

»Als ein Knabe in der weißen Gewandung der weißen Männer – als ich zuerst das Wunderhaus betrat. Und beim zweiten Male warst Du ein Hindu. Wie wird Deine dritte Inkarnation sein?« Er lächelte traurig. »Ach Chela, Du hast einem alten Manne ein Unrecht getan, denn mein Herz ging zu Dir.«

»Und meins zu Dir. Aber wie konnte ich wissen, daß der Rote Stier mich in solche Geschichten bringen würde?«

Der Lama bedeckte sein Gesicht wieder und rasselte nervös mit dem Rosenkranz. Kim hockte an seiner Seite nieder und ergriff eine Falte seines Gewandes.

»Nun habe ich zu verstehen, daß der Knabe ein Sahib ist?« murmelte der Lama. »Solch ein Sahib, wie der, der die Bilder hütet in dem Wunderhaus.« Er sprach, als ob er eine Lektion wiederholte. »So geziemt es sich, daß er es nicht anders macht, wie andere Sahibs es machen. Er muß zurückkehren zu seinem eigenen Volk.«

»Für einen Tag und eine Nacht und noch vielleicht einen Tag,« tröstete Kim.

»Halt da!« Vater Victor sah Kim sich nach der Tür hinausschlängeln und stellte ein Bein davor.

»Ich verstehe die Sitten der weißen Männer nicht. Der Priester der Bildnisse in dem Wunderhaus von Lahore war gütiger, als der dünne Priester hier. Diesen Knaben will man mir nehmen? Einen Sahib wollen sie aus meinem Schüler machen? Wehe mir, wie soll ich meinen Strom finden? Haben sie keine Schüler? Frage!«

»Er sagt, er sei sehr traurig, daß er nun seinen Strom nicht finden würde. Er sagt, warum Ihr keine Schüler habt und nicht aufhört, ihn zu quälen? Er will von seinen Sünden rein gewaschen werden.«

Weder Bennett noch Vater Victor fanden ein Wort der Erwiderung.

So sprach denn Kim, traurig um des Lamas Schmerz, auf englisch: »Wenn Ihr uns nun fortlassen wolltet, wir würden still gehen und nicht stehlen. Wir wollen nur nach dem Fluß ausschauen, wie wir taten, ehe man mich fing. Oh, ich wollte, ich wäre nicht gekommen, um den roten Stier zu finden und all das andere. Ich will nichts weiter davon.«

»Es ist das beste Stück Arbeit, das Du jemals für Dich getan hast, junger Mann,« sagte Bennett.

»Gütiger Himmel, ich weiß nicht, wie ich ihn trösten soll,« sprach Vater Victor, den Lama teilnahmsvoll betrachtend; »er Kann den Knaben nicht mit fort führen und doch – er ist ein guter Mann – ich fühle es, er ist ein guter Mann. Bennett, wenn Sie ihm die Rupie anbieten, wird er Sie in Grund und Boden verfluchen.«

Sie lauschten gegenseitig auf ihre Atemzüge – drei – fünf volle Minuten. Dann hob der Lama sein Haupt empor und blickte – über sie hinweg – in Raum und Leere.

»Und ich bin ein Wandler des Pfades!« rief er bitter. »Die Sünde ist mein und die Strafe ist mein. Ich machte mich selbst glauben, – denn jetzt sehe ich ein, daß ich mir selbst etwas weismachte – Du wärest mir gesandt, mir beizustehen in meiner Suche, und so ging mein Herz zu Dir, um Deines Mitleids willen, um Deiner Höflichkeit, um Deiner Weisheit willen, bei Deinen jungen Jahren. Aber die dem Pfade folgen, dürfen sich nicht das Feuer eines Wunsches oder einer Zuneigung erlauben, denn dies alles ist Wahn. Wie sagt …« Er zitierte eine Sentenz aus einem alten, alten chinesischen Text, stützte sie auf eine andere und verstärkte sie durch eine dritte. »Ich wich ab vom Wege, mein Chela. Es war nicht Deine Schuld. Mich entzückte der Anblick des Lebens, des fremden Volkes auf den Straßen und Deine Freude an all diesem. Ich freute mich mit Dir, ich, der an meine Suche und nur allein an meine Suche denken mußte. Nun bin ich kummervoll, denn Du wirst mir genommen und mein Strom ist fern von mir. Das ist das Gesetz: ich habe es gebrochen.«

»Mächte der Finsternis drunten!« sprach Vater Victor, der, geschult durch die Beichte, den Schmerz aus jeder Silbe heraus hörte.

»Ich sehe ein, daß das Zeichen des Roten Stieres ein Zeichen war für mich wie für Dich. Jede Begierde ist rot – und übel. Ich will Buße tun und meinen Fluß allein finden.«

»Kehre wenigstens zurück zu der Kulu-Frau,« flehte Kim, »Du wirst auf dem Wege sonst verloren gehen. Sie wird Dich ernähren, bis ich zu Dir zurücklaufe.«

»Und nun,« – der Lama sprach in einem anderen Ton, als er sich jetzt zu Kim wandte – »was werden sie mit Dir beginnen? Vielleicht vermag ich, indem ich Verdienst erwerbe, geschehenes Böses auszulöschen.«

»Mich zu einem Sahib machen – so denken sie. Den Tag nach morgen kehre ich zu Dir zurück. Sei nicht traurig.«

»Was für einen Sahib? So einen wie jener oder wie dieser Mann?« Er zeigte auf Vater Victor. »So einen, wie die sind, die ich diesen Abend gesehen – die Schwerter tragen und mit den Füßen stampfen?«

»Kann sein.«

»Das wäre nicht gut. Diese Männer folgen der Begierde und geraten in die Leere. Von ihrer Art darfst Du nicht sein.«

»Der Umballa-Priester sagte, mein Stern wäre Krieg,« warf Kim dazwischen. »Ich will diese Narren fragen – aber es ist wahrlich nicht nötig. Ich werde noch diese Nacht fortlaufen, so gern ich auch Neues sehe.«

Kim richtete auf englisch einige Fragen an Vater Victor und übersetzte dem Lama die Antworten.

Dann sprach er weiter: »Er sagt, »Ihr nehmt ihn mir und könnt nicht sagen, was Ihr aus ihm machen wollt.« Er sagt: »Sagt es mir, bevor ich gehe, denn es ist kein Kleines, ein Kind zu erziehen.«

»Du wirst in eine Schule geschickt. Späterhin werden wir weiter sehen. Kimball, ich vermute, Du möchtest gerne Soldat werden.«

»Gorah – log (weiße Leute)! Oh, nein! oh, nein!« Kim schüttelte den Kopf heftig. Drill und schablonenmäßige Übung paßte nicht zu seiner Beschaffenheit. »Ich will kein Soldat werden.«

»Du wirst werden, was man Dir befiehlt,« sagte Bennett, »und solltest dankbar sein, daß wir Dir helfen wollen.«

Kim lächelte mitleidig. Wenn diese Männer wähnten, er würde etwas tun, was ihm nicht gefiele, desto besser.

Wieder ein längeres Stillschweigen. Bennett wurde ungeduldig und machte eine Andeutung – ob nicht eine Schildwache den Fakir fortschaffen sollte –.

»Schenken sie oder verkaufen sie das Wissen unter den Sahibs? Frage sie,« sprach der Lama und Kim dolmetschte.

»Sie sagen: der Lehrer bekommt Geld – aber das Geld wird das Regiment zahlen … wozu das alles? Es ist ja nur für eine Nacht.«

»Und – je mehr Geld gezahlt wird, je mehr wird Wissen gegeben?« Der Lama beachtete Kims Plan einer baldigen Flucht nicht. »Es ist nicht unrecht, für Wissen zu zahlen; dem Unwissenden zu Weisheit verhelfen, ist immer ein Verdienst.« Der Rosenkranz rasselte heftig, wie ein Abacus (eine Art von Brettspiel), dann sah er seinen Quälern ins Gesicht.

»Frage sie, für wieviel Geld sie einen weisen und angemessenen Unterricht geben, und in welcher Stadt dieser Unterricht gegeben werden soll?«

»Nun,« sagte Vater Victor, als Kim übersetzt hatte, »das hängt von Umständen ab. Das Regiment würde für Dich zahlen für die ganze Zeit, die Du im Militär-Waisenhaus wärest; oder Du könntest in die Liste des Punjab-Freimaurer-Waisenhauses eingetragen werden (das wird aber weder er noch Du verstehen); die beste Erziehung, die ein Knabe in Indien finden kann, ist natürlich zu St. Xavier in Partibus zu Lucknow.« Die Übersetzung dauerte Bennett zu lange; er suchte sie zu unterbrechen.

»Er will wissen wieviel?« sagte Kim sanft.

»Zwei bis drei Hundert Rupien jährlich,« antwortete Vater Victor, der über nichts mehr erstaunte. Bennett, ungeduldig, begriff nicht.

»Er sagt: Schreibt den Namen und das Geld auf ein Papier und gebt es ihm. Und er sagt: Ihr müßt Euren Namen darunter setzen, denn er will Euch in einigen Tagen einen Brief schreiben. Er sagt: Du bist ein guter Mann. Er sagt: der andere Mann ist ein Tor. Er will fortgehen.«

Der Lama erhob sich plötzlich. »Ich folge meiner Suche,« rief er und war gegangen.

»Er wird mitten unter die Schildwachen hinein rennen,« rief Vater Victor, aufspringend, als der Lama hinaus stapfte. Kim machte eine rasche Bewegung, zu folgen, hielt aber inne. Man hörte keinen Anruf draußen. Der Lama war verschwunden.

Kim setzte sich gelassen auf des Kaplans Feldbett. Der Lama hatte wenigstens versprochen, bei der Rajput-Frau von Kulu zu bleiben; das übrige hatte keine Schwierigkeiten. Es belustigte ihn, daß die beiden Patres so augenscheinlich erregt waren. Sie redeten lange flüsternd miteinander. Vater Victor schien einen dringenden Vorschlag zu machen und Bennett abgeneigt zu sein. Das war alles sehr fesselnd, aber Kim ward schläfrig. Dann riefen sie noch Leute ins Zelt – unter ihnen war sicher der Oberst, von dem sein Vater prophezeite – man fragte ihn noch nach mancherlei, besonders auch nach der Frau, die sich seiner angenommen und die man, schien es, nicht für einen sehr passenden Vormund hielt. Kim antwortete möglichst aufrichtig. Das alles war neu und interessant und früher oder später wie es ihm beliebte, konnte er ja untertauchen im grauen, großen, formlosen Indien und Zelte und Patres und Oberst hinter sich lassen. Einstweilen, wenn denn die Sahibs so leicht erregbar waren, würde er sein Bestes tun, sie in Erregung zu halten.

Nach längerer Besprechung, von der er nichts verstehen konnte, überlieferten sie ihn einem Wachtmeister, mit strengem Befehl, ihn nicht entwischen zu lassen. Das Regiment hatte nach Umballa zu marschieren und Kim sollte, teils auf Kosten der Loge und teils durch Subskription, nach Sanawar geschickt werden.

»Es ist über alle Begriffe verwunderlich, Oberst,« schloß Vater Victor, nachdem er zehn Minuten ununterbrochen geredet hatte. »Sein buddhistischer Freund verschwand, nachdem er meinen Namen und meine Adresse erfragt. Ich werde nicht klug daraus, ob er für die Erziehung des Knaben zahlen oder eine Art Zauberkraft für eigene Rechnung erfinden will.« Dann zu Kim: »Du wirst Deinem Freunde, dem Roten Stier, einst noch dankbar sein. Wir wollen in Sanawar einen Mann aus Dir machen – selbst um den Preis, daß Du Protestant werden müßtest.«

»Sicher – aber ganz sicher,« sagte Bennett.

»Ihr aber werdet nicht nach Sanawar gehen,« sagte Kim.

»Wir aber werden auch nach Sanawar gehen, kleiner Mann. So ist der Befehl des Höchstkommandierenden, der wohl ein wenig mehr gilt als O’Haras Sohn.«

»Ihr werdet nicht nach Sanawar gehen, Ihr werdet in den Krieg gehen.«

Ein schallendes Gelächter folgte diesen Worten.

»Wenn Du Dein eigenes Regiment erst etwas besser kennst, Kim, wirst Du eine Marschlinie nicht mehr mit einer Schlachtlinie verwechseln. Wir werden, hoffen wir, auch einmal in den Krieg ziehen.«

»Oha! ich weiß mehr.« Kim lenkte sein Schiff einmal wieder auf gut Glück. Wenn sie nicht in den Krieg zogen, wußten sie wenigstens nicht, was er wußte aus dem Gespräch in der Veranda zu Umballa.

»Ich weiß, Ihr seid jetzt noch nicht mit im Krieg; aber ich sage Euch, sobald Ihr in Umballa seid, werdet Ihr in den Krieg geschickt – den neuen Krieg. Es ist ein Krieg von achttausend Mann, noch dazu die Kanonen.«

»Das ist deutlich. Hast Du prophetische Gaben neben Deinen anderen Talenten? Wachtmeister, führt ihn fort. Gebt ihm einen Anzug von den Tambour-Jungen und gebt acht, daß er Euch nicht durch die Finger schlüpft. Wer sagt, – daß das Zeitalter der Wunder vorüber ist! Ich will zu Bett gehen. In meinem Kopf dreht sich alles.«

Am fernen Ende des Lagers, schweigsam wie ein wildes Tier, saß Kim eine Stunde später, über und über frisch gewaschen, in einem Kleid von schrecklichem Stoff, der ihm Arme und Beine zerscheuerte.

»Ein wunderlicher junger Vogel,« sagte der Unteroffizier. »Taucht auf in Obhut eines gelbköpfigen studierten Brahmanen, trägt seines Vaters Freimaurer-Papiere um den Hals gebunden und redet Gott weiß was von einem Roten Ochsen. Der weise Brahmane verduftet ohne weitere Erklärung und der Junge sitzt kreuzbeinig auf des Kaplans Bett und prophezeit den Leuten großartig einen blutigen Krieg. Ich will sein Bein lieber am Zeltpfahl festbinden, damit er mir nicht durchs Dach geht. Indien ist ein wildes Land für einen gottesfürchtigen Mann. Was sagtest Du von dem Krieg?«

»Achttausend Mann und Kanonen dazu,« sagte Kim. »Ihr werdet es bald sehen.«

Du bist ein geriebener kleiner Kobold. Leg Dich zu den Trommler-Jungen in die Baba. Die beiden Burschen an Deiner Seite sollen Deinen Schlummer bewachen.«

Kapitel 6.

Kapitel 6.

Sehr früh am nächsten Morgen wurden die weißen Zelte abgebrochen und verschwanden. Die Mavericks zogen auf einer Seitenstraße nach Umballa, die den Rastplatz nicht streifte, und Kim, neben einem Bagage-Wagen, unter dem Feuer der Glossen von Soldatenfrauen dahintrottend, war nicht so zuversichtlich wie am Abend vorher. Er bemerkte, daß er scharf bewacht wurde – Vater Victor an der einen, Bennett an der andern Seite.

Am Vormittag hielt die Kolonne plötzlich inne. Eine Ordonnanz zu Kamel überreichte dem Oberst einen Brief. Er las und sprach mit seinem Major. Eine Meile hinter sich her hörte Kim ein lautes, freudiges Gebraus von Stimmen durch den dicken Staub herüberrollen. Dann schlug ihn jemand auf den Rücken und rief: »Sag uns, woher Du das wußtest, Du Satanskind? Lieber Vater, versuchen Sie, es aus ihm heraus zu bekommen.«

Ein Pony hielt neben ihm und er wurde auf des Priesters Sattel hinaufgezogen.

»Nun, mein Sohn, Deine Prophezeiung von letzter Nacht ist wahr geworden. Unsere Ordre lautet, in Umballa den Train zu nehmen, um morgen zur Front zu gelangen.«

»Was ist das?« fragte Kim, dem Front und Train unbekannte Worte waren.

»Wir ziehen in den Krieg, wie Du ihn nennst.«

»Natürlich geht Ihr in den Krieg, ich sagte es letzte Nacht.«

»Das tatest Du; aber Mächte der Finsternis, wie konntest Du das wissen?«

Kims Augen funkelten. Er schloß die Lippen, nickte mit dem Kopf und sah unaussprechlich geheimnisvoll aus. Der Kaplan ritt weiter durch den Staub, und Gemeine, Unteroffiziere und Sergeanten machten sich gegenseitig auf den Knaben aufmerksam. Der Oberst an der Spitze der Kolonne starrte ihn neugierig an. »Es war wahrscheinlich ein Bazar-Gerücht,« sagte er, »aber selbst dann –« Er durchlas wieder das Papier in seiner Hand. »Zum Teufel, die Sache ist erst in den letzten achtundvierzig Stunden entschieden.«

»Gibt es mehr solche wie Du in Indien?« fragte Vater Victor, »oder bist Du speziell Naturspiel, Monstrosität, ein jusus naturae?«

»Nun da ich Euch alles gesagt habe, wollt Ihr mich nun zurückgehen lassen zu meinem alten Mann?« sprach der Knabe. »Wenn er nicht bei der Frau aus Kulu geblieben ist, so fürchte ich, daß er sterben wird.«

»Nach dem, was ich von ihm gesehen, meine ich, er wird selbst für sich sorgen können, ohne Dich. Nein, Du hast uns Glück gebracht und wir wollen Dich zu einem Manne machen. Ich will Dich nach Deinem Bagage-Wagen zurückbringen und heute abend kannst Du zu mir kommen.«

Für den Rest des Tages war Kim Gegenstand auszeichnender Beachtung unter einigen Hundert weißer Männer. Die Geschichte seines Erscheinens im Lager, der Entdeckung seiner Abstammung und seine Prophezeiung hatten durch öfteres Erzählen nicht verloren. Eine unförmig dicke weiße Frau fragte ihn von einem Haufen Bettzeug herunter geheimnisvoll: ob er glaube, daß ihr Mann wiederkommen würde aus dem Feldzug? Kim dachte tiefsinnig nach und sagte: daß er wiederkommen würde, und die Frau gab ihm zu essen. In mancher Beziehung war dieser große, von Zeit zu Zeit Musik machende Zug – diese lustig schwatzende und lachende Menge – einer Festlichkeit in Lahore wohl ähnlich. Bis soweit war keine schwere Arbeit in Aussicht und er beschloß, dem Schauspiel seine Protektion zu gewähren. Am Abend zogen ihnen Musikkorps entgegen, um die Mavericks ins Lager, nahe der Umballa-Eisenbahn-Station, zu spielen. Das war eine interessante Nacht. Leute von anderen Regimentern kamen, um die Mavericks zu besuchen. Die Mavericks machten wieder Besuche. Ihre Patrouillen zogen aus, sie zurückzugeleiten und begegneten Patrouillen anderer Regimenter in dem gleichen Dienst, und nach einer Weile bliesen die Hörner wie toll, um dem Tumult zu steuern. Die Mavericks hatten ihren flotten Ruf aufrecht zu halten; aber sie standen am nächsten Morgen auf dem Bahnsteig tadellos in Reih‘ und Glied; und Kim, bei den Kranken, den Weibern und Dienern zurückgelassen, schrie begeistert Lebewohl, als die Züge abfuhren. Das Leben eines Sahib war bis soweit amüsant; dennoch wollte er es vorläufig nur mit vorsichtiger Hand erfassen. Er wurde unter Aufsicht eines Tambour-Jungen rückwärts abgewimmelt nach einer leeren, kalkgetünchten Baracke, deren Fußboden mit Abfall von Papieren und Stricken bedeckt war, und wo sein einsamer Schritt von den Decken widerhallte. Nach Landesart rollte er sich zusammen auf einem Gurtenbrett und schlief ein. Ein verdrießlicher Mann humpelte die Veranda herunter, weckte ihn auf und sagte, er wäre der Schulmeister. Das war genug für Kim; er verkroch sich in sein Gehäuse. Er konnte gerade die verschiedenen englischen Polizeibekanntmachungen in Lahore heraustifteln, denn die betrafen seine Behaglichkeit; und unter den mancherlei Leuten, die für ihn sorgten, war ein schnurriger Deutscher gewesen, der Dekorationen für ein wanderndes Parsi-Theater malte. Dieser sagte Kim, daß er »auf den Barrikaden von 48 gewesen« und deshalb – wenigstens verstand Kim es so – wollte er den Knaben schreiben lehren gegen Beköstigung. Bis zu den einzelnen Buchstaben war Kim mit Müh und Not vorgedrungen, aber er war nicht sehr erbaut von ihnen.

»Ich weiß gar nichts. Laß mich in Ruhe!« rief Kim, Übles ahnend. Darauf packte ihn der Mann am Ohr, zerrte ihn nach einem abgelegenen Seitenbau, wo ein Dutzend Tambour-Jungen auf Bänken saßen und befahl ihm, still zu sitzen, wenn er sonst nichts könnte. Das brachte er erfolgreich zustande. Der Mann erklärte dies und jenes, durch weiße Linien auf einem schwarzen Brett, wenigstens eine halbe Stunde lang und Kim setzte seinen unterbrochenen Schlummer fort. Der gegenwärtige Stand der Dinge mißfiel ihm sehr, denn dies war ja die Schule und Disziplin, die zu vermeiden er zwei Drittel seines jungen Lebens gestrebt hatte. Plötzlich kam ihm eine wundervolle Idee und er wunderte sich, daß sie ihm nicht früher gekommen. Der Schulmeister entließ sie und der erste, der durch die Veranda in den offenen Sonnenschein sprang, war Kim.

»Hör Du! Halt! Steh!« rief eine schrille Stimme hinter ihm. »Ich habe Dich zu bewachen. Meine Ordre ist, Dich nicht aus den Augen zu lassen. Wo willst Du hin?« Es war der Trommler-Junge, der sich den ganzen Vormittag an ihn gehängt hatte, ein fetter, sommersprossiger Kerl von vielleicht vierzehn Jahren und Kim verabscheute ihn von den Schuhsohlen bis an die Mützenbänder.

»Nach dem Basar – um Zuckerwerk zu kaufen – für Dich,« sagte Kim – mit Bedacht. »Hoh! der Basar ist verbotenes Terrain. Gehen wir dorthin, bekommen wir eine Tracht Prügel. Komm zurück.«

»Wie nahe dürfen wir denn gehen?« Kim wußte nicht, was »Terrain« bedeutete, wollte aber höflich bleiben – für jetzt.

»Wie nah? Wie weit meinst Du? So weit bis an den Baum unten am Wege.«

»Dann will ich bis dahin gehen.«

»Gut. Ich gehe nicht. Es ist zu heiß. Ich kann Dich von hier bewachen. Fortlaufen nutzt Dir nichts. Tätest Du es, würde man Dich an Deinem Anzug erkennen. Das ist Regimentsstoff, den Du trägst. Irgendeine Patrouille in Umballa würde Dich rascher zurückbringen als Du fortgerannt wärest.«

Das machte Kim weniger Bedenken als daß seine Kleidung ihn beim Laufen beschweren würde. Er schlenderte nach dem Baum an der Ecke der schattenlosen Straße, die nach dem Basar führte, und beobachtete die Vorübergehenden. Meistens waren es Kasernenaufwärter der niedrigsten Kasten. Kim rief einen Auskehrer an, der sofort mit einer Grobheit antwortete im natürlichen Glauben, daß der europäische Knabe nicht folgen könne. Die rasche leise Antwort verdutzte ihn; Kim legte seinen ganzen Ärger hinein, froh, jemand beschimpfen zu können in der ihm geläufigsten Sprache. »Und nun geh zum nächsten Briefschreiber im Basar und bestelle ihn hierher. Ich will einen Brief schreiben.«

»Aber – aber, was für eines weißen Mannes Sohn bist Du, daß Du einen Basar-Briefschreiber brauchst? Ist denn kein Schulmeister in den Baracken?«

»Ahi! die Hölle kann mit der Art gepflastert werden! Tu wie ich Dir befehle, Du – Du Sklave. Deine Mutter hat unter einem Korb geheiratet! Knecht des Lal Beg (Kim kannte den Gott der Auskehrer) laufe, wie ich Dir befehle, oder wir sprechen uns wieder.«

Der Mann eilte fort. »Da ist ein weißer Knabe aus der Kaserne,« stotterte er, sich an den ersten Briefschreiber, den er traf, wendend, »der wartet unter einem Baum und er ist kein weißer Knabe, und er will Dich haben.«

»Wird er bezahlen? fragte der wackere Schreiber, Federn, Siegelwachs und Schreibpult zusammenpackend.

»Ich weiß nicht. Er ist nicht wie andere Knaben. Geh und sieh; es ist der Mühe wert.«

Kim tanzte vor Ungeduld bis der schmächtige junge Kayeth sichtbar wurde. Sobald seine Stimme ihn erreichen konnte, verwünschte er ihn mit Volubilität.

»Erst verlange ich Bezahlung,« sagte der Schreiber. »Das Schimpfen hat den Preis erhöht. Aber wer bist Du, in dieser Weise gekleidet und in jener Weise schimpfend?«

»Aha! Das sollst Du aus dem Brief erfahren, den Du schreiben sollst. So was hast Du noch nie gehört. Aber ich habe keine Eile. Ein anderer Schreiber kann’s auch tun. Umballa ist so voll von Schreibern wie Lahore.«

»Vier Annas,« sagte der Schreiber, setzte sich nieder und breitete im Schatten eines verlassenen Kasernen-Flügels seinen Plaid aus.

Mechanisch hockte Kim ihm zur Seite nieder – hockte nieder wie nur Eingeborene es können – trotz seiner abscheulich pressenden Hosen. Der Schreiber beobachtete ihn verstohlen.

»Das ist ein Preis, den man von Sahibs fordert,« sagte Kim. »Nenne nun einen vernünftigen.«

»Ein und einen halben Anna. Wer weiß, ob Du nicht fortläufst, wenn ich den Brief geschrieben habe?«

»Ich darf nicht über diesen Baum hinaus gehen. Nun ist die Marke noch zu berechnen.«

»Von dem Preis der Marke erhalte ich keine Provision. Noch einmal, was für eine Art von weißem Knaben bist Du?«

»Das wird in dem Briefe gesagt werden: der ist an »Mahbub Ali, den Roßkamm, im Kashmir-Serai zu Lahore.« Er ist mein Freund.«

»Wunder über Wunder!« murmelte der Schreiber, ein Stäbchen in die Tinte tauchend. »Soll ich in Hindi schreiben?«

»Aber sicher. An Mahbub Ali also. Beginne!

»Ich bin mit dem alten Mann heruntergekommen so weit bis Umballa in dem Zug. In Umballa trug ich hin die Nachricht von dem Stammbaum der braunen Stute.« Nach dem, was er in dem Garten gesehen, hütete er sich wohl, von weißen Hengsten zu schreiben.

»Ein wenig langsamer. Was soll’s mit der braunen Stute? Ist es an Mahbub Ali, den großen Händler?«

»An wen sonst? Ich war in seinem Dienst. Nimm mehr Tinte. Weiter! »Wie der Befehl war, so tat ich. Wir gingen dann zu Fuß nach Benares; aber am dritten Tage fanden wir ein gewisses Regiment.« Ist das geschrieben?«

»Ah! Schelm!« murmelte der Schreiber, ganz Ohr.

»Ich ging in das Lager und wurde gefangen und durch das Amulett an meinem Hals, das Du kennst, wurde es klar, daß ich der Sohn bin von einem Mann in dem Regiment, gemäß der Prophezeiung von dem Roten Stier, die, Du weißt das, in unserm Basar die Runde machte.« Kim hielt inne, damit dieser Pfeil gehörig in des Briefschreibers Gemüt eindringe, räusperte sich und fuhr fort: »Ein Priester kleidete mich und gab mir einen neuen Namen – Ein Priester war aber ein Narr. Die Kleider sind sehr schwer, aber ich bin ein Sahib und mein Herz ist auch schwer. Sie schicken mich in eine Schule und hauen mich. Ich mag nicht die Luft und das Wasser hier. Komm denn und hilf mir, Mahbub Ali, oder schicke mir etwas Geld, denn ich habe nicht genug, um den Schreiber zu bezahlen, der dies schreibt.«

»Der dies schreibt.« »Es ist meine eigene Schuld, daß ich mich betrügen ließ. Du bist so schlau wie Husain Bu, der die Schatzstempel zu Hucklas fälschte. Aber welch eine Geschichte! Welch eine Geschichte! Kann sie denn wahr sein?«

»Es bringt keinen Vorteil, Mahbub Ali zu belügen. Gescheiter ist es, seinen Freunden zu helfen, ihnen eine Briefmarke auf Pump zu geben. Wenn das Geld kommt, bezahle ich.«

Der Schreiber brummte zweifelhaft, nahm aber seinen Stempel aus seinem Kasten, siegelte den Brief, reichte ihn Kim und ging. Mahbub Alis Name war eine Macht in Umballa.

»Das ist der Weg, sich gut mit den Göttern zu stellen,« rief Kim ihm nach.

»Bezahle mich zweifach, wenn das Geld kommt,« rief der Mann zurück.

»Was hattest Du mit dem Nigger zu treiben?« fragte der Tambour-Junge, als Kim in die Veranda zurückkehrte. »Ich habe aufgepaßt.«

»Ich habe nur mit ihm gesprochen.«

»Kannst Du denn sprechen wie ein Nigger? Kannst Du?«

»Nein, nein, nur ein bißchen. Was tun wir jetzt?«

»Die Hörner werden in einer halben Minute blasen zum Essen. Mein Gott! Wäre ich nur mit dem Regiment zur Front marschiert. Nichts hier tun, nur in die Schule gehen – ist scheußlich. Meinst Du das nicht?«

»O ja!«

»Ich möchte fortlaufen, wenn ich wüßte, wohin. Aber wie die Leute sagen, in diesem verdammten Indien ist einer gefangen, wenn er auch frei ist. Du kannst nicht entwischen, wirst gleich zurück transportiert. Ich habe es schön satt.«

»Bist Du in Be – England gewesen?«

»Mit meiner Mutter bin ich gekommen, mit dem letzten Truppenschub. Sollte meinen, ich war in England. Was ein dummer kleiner Betteljunge bist Du. Bist wohl in der Gosse aufgewachsen, bist Du?«

»O ja. Erzähl mir was von England. Mein Vater kam daher.«

Wenn Kim auch kein Wort von dem glaubte, was sein Gefährte von der Liverpooler-Vorstadt, die für ihn England war, erzählte, so ließ er das nicht merken. So schlich die Zeit bis zum Mittagessen hin, einem wenig verlockenden Mahl, das den Knaben und einigen Invaliden im Winkel eines Kasernen-Baumes vorgesetzt wurde. Kim wurde fast niedergeschlagen, nur daß er an Mahbub Ali geschrieben, richtete ihn etwas auf. An die Gleichgültigkeit in der Mitte von Eingeborenen war er gewöhnt, aber diese gänzliche Verlassenheit unter weißen Menschen war ihm unheimlich. Er freute sich, als im Laufe des Nachmittags ein großer Soldat ihn zu Vater Victor führte, der in einer andern Abteilung hinter einem andern staubigen Paradeplatz wohnte. Der Priester las eben einen mit carminroter Tinte geschriebenen englischen Brief. Er betrachtete Kim mit besonderer Neugier.

»Und wie gefällt Dir’s bis jetzt, mein Sohn?« fragte er. »Nicht besonders, he? Es muß hart, sehr hart sein für ein wildes Tier. Hör zu. Ich habe eine erstaunliche Epistel von Deinem Freund.«

»Wo ist er? Ist er wohl? Ohe! Wenn er mir Briefe schreiben kann, ist alles gut.«

»Du hast ihn lieb?«

»Natürlich, ich habe ihn lieb. Er hat mich lieb.«

»Es scheint so, nach Diesem da. Er kann nicht englisch schreiben, wie?«

»O nein. Nicht daß ich wüßte. Aber er fand wohl einen Briefschreiber, der sehr gut englisch schreibt und so schreibt er. Ich hoffe, Ihr versteht?«

»Das kommt darauf an. Weißt Du etwas von seinen Geldangelegenheiten?« Kims Gesicht zeigte, daß er nichts wisse.

»Was kann ich wissen?«

»Das frage ich. Nun hör zu, ob Du hieraus Kopf und Schwanz zusammen bringen kannst. Wir wollen den Anfang überspringen … es ist von Jagadhir Road geschrieben…

»Ich sitze an Wegseite in tiefer Meditation, vertraue zu sein begünstigt durch Ew. Gnaden Beifall zu gegenwärtigem Schritt, den ich empfehle Ew. Gnaden auszuführen um Allmächtigen Gottes willen. Erziehung ist größter Segen, wenn von bester Art. Anderswie ist sie in aller Welt kein Nutzen« (Wahrhaftig, da hat der alte Mann den Nagel auf den Kopf getroffen!) »Wenn Ew. Gnaden einwilligen zu geben meinem Knaben beste Erziehung Xavier, Unterredung unterm Datum 15ten dieses, in Eurem Zelt,« (Ein ganz geschäftsmäßiger Ton hier!) »dann Allmächtigen Gottes Segen für Ew. Gnaden Nachkommen bis zu dritter und vierter Generation und« – (Nun paß auf!) – »vertraue in Ew. Gnaden demütigen Diener für vollständige Zahlung per Wechsel per annum dreihundert Rupien das Jahr für eine kostspielige Erziehung St. Xavier, Lucknow, und erlaube kurze Zeit zu befördern Selbiges per Wechsel zu senden nach irgend einem Teil von Indien, wie Ew. Gnaden selbst angeben werden. Dieser Diener Ew. Gnaden hat jetzt nicht Platz wo zu legen Scheitel seines Hauptes, aber gehend nach Benares im Zug wegen Verfolgung von alte Frau, die so viel redet und nicht gern wohnsitzen will zu Saharunpore in irgendwie häuslicher Befugnis« (Nun, was in aller Welt, kann das bedeuten?)

»Sie hat ihn aufgefordert zu werden Puro – ihr Geistlicher – in Saharunpore, denke ich, und er will das nicht wegen seines Flusses. Sie konnte reden.«

»Ist Dir das klar? Es geht über meine Begriffe… »So nach Benares gehend, wo finden wird Adresse und befördern Rupien für Knabe, der ist Augapfel, und um Allmächtigen Gottes willen führt diese Erziehung aus und Euer Bittsteller wird immer wie es Pflicht ist fürchterlich beten.« Geschrieben von Sobrao Satai, durchgefallen bei Alahabad-Universität, für Ehrwürdigen Teshoo Lama den Priester von Such-zen der ein Strom sucht, Adresse: Tirthankers Tempel, Benares. P. M. – »Bitte merkt wohl, Knabe ist Augapfel und Rupien werden gesendet per Wechsel dreihundert per annum. Um Allmächtigen Gottes willen.«

»Nun, ist das reiner Wahnsinn oder ein Geschäftsvorschlag? Ich frage Dich, denn ich bin mit meinem Witz am Ende.«

»Er sagt, er will mir dreihundert Rupien das Jahr geben, und er wird sie mir geben.«

»O, so faßt Du es auf, ja?«

»Gewiß. Wenn er es sagt!«

Der Priester pfiff, dann sprach er zu Kim, wie zu einem Gleichstehenden:

»Ich glaube es nicht, aber wir werden ja sehen. Du solltest heute nach dem Militär-Waisenhaus zu Sanawar, wo das Regiment Dich erhalten würde bis zu dem Alter Deines Eintritts. Du würdest im Glauben der Kirche von England erzogen. Bennet hat es so festgestellt. Im anderen Falle, wenn Du nach St. Xavier kämest, hättest Du eine bessere Erziehung – und die Religion. Siehst Du mein Dilemma?« Kim sah nichts weiter als den Lama, der mit dem Zug südwärts fuhr, ohne jemand, der für ihn bettelte.

»Ich brauche nur Zeit. Wenn Dein Freund das Geld von Benares schickt – Mächte der Finsternis drunten, ein Straßenbettler, der dreihundert Rupien aufbringen kann – wirst Du nach Lucknow gehen und ich bezahle die Reise, denn ich kann das Subskriptions-Geld nicht anrühren, wenn ich beabsichtige, wie ich es tue, einen Katholiken aus Dir zu machen. Wenn er es nicht schickt, mußt Du ins Militär-Waisenhaus auf Regiments-Unkosten. Ich will ihm drei Tage Zeit geben, obwohl ich es gar nicht glaube. Und wenn selbst… wenn später die Zahlungen ausblieben … aber es geht über meine Begriffe. Wir können in dieser Welt immer nur Schritt für Schritt machen. Dank Gott. Und Bennett schickten sie ins Feld und mich ließen sie zurück. Er kann nicht alles erwarten.«

»Oooh ja,« sagte Kim ohne zu verstehen.

Der Priester lehnte sich vorwärts. »Ich würde einen Monat Gehalt drum geben, wüßte ich was in Deinem kleinen runden Kopf steckt.«

»Es ist nichts darin,« sagte Kim, ihn kratzend. Er dachte, ob Mahbub Ali ihm wohl eine ganze Rupie schicken würde. Dann konnte er den Schreiber bezahlen und Briefe an den Lama nach Benares schreiben. Vielleicht suchte Mahbub Ali ihn auf, wenn er das nächste Mal mit Pferden südwärts käme. Sicher war ihm bekannt, daß durch Übergabe des Briefes durch Kim an den Offizier der große Krieg entstanden war, von dem alle die Knaben und Männer beim Mittagstisch in der Kaserne so laut geredet hatten. Wüßte aber Mahbub Ali nicht davon, so wäre es gewagt, ihm davon zu reden. Mahbub Ali war scharf mit Jungen, die zuviel wußten oder zu wissen glaubten.

»Nun, bis wir Weiteres hören« – unterbrach Vater Victors Stimme diese Träumerei – »kannst Du hingehen und mit den anderen Jungen spielen. Sie werden Dich etwas lehren – wird Dir aber schwerlich gefallen.«

Der Tag schleppte sich so müde zu Ende. Als er schlafen ging, zeigte man ihm, wie er seine Kleider zusammen legen und seine Stiefel hinaus tragen müsse; die anderen Jungen machten sich über ihn lustig. Hörner weckten ihn beim Morgengrauen, der Schulmeister packte ihn nach dem Frühstück, hielt ihm eine Seite unverständlicher Buchstaben unter die Nase, gab ihnen unsinnige Namen und prügelte ihn ohne Grund. Kim überlegte, ob er sich nicht Opium von einem Kasernen-Feger borgen und ihn vergiften könnte,– aber da sie alle öffentlich an einem Tische aßen (was Kim ganz besonders empörte, da er bei den Mahlzeiten gern der Welt den Rücken kehrte), konnte der Streich gefährlich enden. Dann wagte er nach dem Dorfe zu fliehen, wo der Priester den Lama mit Opium betäubt hatte, dem Dorfe, wo der alte Soldat lebte. Aber weitsehende Schildwachen trieben bei jedem Versuche die kleine, rote Gestalt zurück. Hosen und Jacke lähmten Körper und Geist zugleich,– so gab er den Plan auf und verließ sich nach orientalischer Art auf Zeit und Zufall. Drei qualvolle Tage verflossen in den großen, öden weißen Räumen. Am Nachmittag ging er wohl hinaus unter Eskorte des Tambour-Jungen und alles, was er hörte, waren Schimpfreden, die Kim längst kannte und verachtete. Der Junge rächte sich für sein Schweigen und Mangel an Interesse durch Schläge, was ganz natürlich war. Ihm lag nichts an den verbotenen Bazaren. Er nannte alle Eingeborenen »Niggers«; Knechte und Auskehrer warfen ihm abscheuliche Namen ins Gesicht, die er, irregeleitet durch ihre ehrerbietige Haltung, nicht verstand. Das war Kim ein Trost für die Schläge.

Am Morgen des vierten Tages kam ein Strafgericht über den Trommler. Sie waren mit einander bis an die Umballa-Rennbahn gegangen. Allein und weinend kam er zurück, erzählend: der junge O’Hara, dem er nichts Besonderes zu leide getan, habe einen rotbärtigen »Nigger« zu Pferde angerufen; der Nigger sei über ihn hergefallen mit einer besonders zärtlichen Reitpeitsche, habe dann den jungen O’Hara aufgehoben und sei im vollen Galopp mit ihm davon gesprengt. Die Kunde kam zu Vater Victor, er zog die Oberlippe herunter. Er war schon genug überrascht durch einen Brief aus dem Tempel der Tirthankers in Benares, der eine Anweisung auf 300 Rupien von einem eingeborenen Bankier einschloß, nebst einem erstaunlichen Gebet an den Allmächtigen Gott. Der Lama würde noch ungehaltener gewesen sein, als der Priester, hätte er gewußt, wie der Briefschreiber seinen Ausdruck »um Verdienst zu erwerben« übersetzt hatte.

»Mächte der Finsternis!« Vater Victor fummelte mit der Anweisung herum. »Und nun ist er davon mit einem seiner Augenblicksfreunde. Ich weiß nicht, wird es mir eine größere Erleichterung sein, ihn wieder zu bekommen oder ihn los zu sein. Er geht über meine Begriffe. Wie zum Teufel – ja, er ist der Mann, den ich meine – kann ein Straßenbettler Geld auftreiben, um weiße Knaben zu erziehen?«

Drei Meilen entfernt, auf der Umballa-Rennbahn, sprach Mahbub Ali, einen grauen Cabuli-Hengst zügelnd, zu Kim, der vor ihm im Sattel saß: »Aber kleiner Allerweltsfreund, hier ist meine Ehre und Reputation im Spiel. Alle Offizier-Sahibs in allen Regimentern und ganz Umballa kennen Mahbub Ali. Man hat gesehen, daß ich Dich aufhob und den Jungen schlug. Man sieht uns jetzt auf dieser Ebene von weit her. Wie kann ich Dich fortbringen? oder Dein Verschwinden erklären, wenn ich Dich absetze und in die Ähren rennen lasse? Man würde mich ins Gefängnis bringen. Sei ruhig. Einmal ein Sahib, immer ein Sahib. Wenn Du ein Mann bist – wer weiß – dankst Du es Mahbub Ali.«

»Bring mich über die Schildwachen hinweg, daß ich diese roten Kleider abwerfen kann, gib mir Geld, ich will nach Benares gehen und wieder bei meinem Lama bleiben. Ich will kein Sahib sein, und denke doch, ich überbrachte die Botschaft.«

Der Hengst bäumte sich wild. Mahbub Ali hatte ihm unvorsichtig den scharfkantigen Steigbügel in die Weichen getrieben. (Er war nicht von der modernen Art von Roßhändlern, die englische Stiefel und Sporen tragen.) Kim zog seine eigenen Schlüsse aus diesem Betragen.

»Das war eine Kleinigkeit; lag ja auf dem Wege nach Benares. Ich und der Sahib haben das längst vergessen. Ich schicke so viele Briefe und Botschaften an die Leute, die nach Pferden fragen. Ich weiß kaum, war es dieser oder jener. Handelte sich’s nicht um eine braune Stute, deren Stammbaum Peters Sahib wissen wollte?«

Kim merkte sofort die Falle. Hätte er »braune Stute« gesagt, würde Mahbub Ali an seiner Bereitwilligkeit auf die Verwechselung einzugehen, sofort gemerkt haben, daß der Knabe Verdacht hatte. Kim erwiderte deshalb:

»Braune Stute? Nein. Ich vergesse meine Bestellungen nicht so. Es war ein weißer Hengst.«

»Ah, so war es. Ein weißer arabischer Hengst. Aber Du schriebst mir »braune Stute«.

»Wer wird einem Briefschreiber die Wahrheit sagen?« antwortete Kim, der Mahbubs Handfläche auf seinem Herzen fühlte.

»He! Mahbub, Du alter Schelm, halt an!« rief eine Stimme und ein Engländer jagte auf einem kleinen Polo-Pony an seine Seite. »Ich habe das halbe Land nach Dir durchjagt. Dein Cabuli versteht zu laufen. Verkäuflich, denk ich?«

»Ich habe eine Remonte auf Lager, vom Himmel ausersehen für das seine, schwierige Polo-Spiel. Er hat nicht seines Gleichen. Er –«

»Spielt Polo und wartet bei Tisch auf. Ja. Wir wissen das. Was zum Teufel, hast Du denn da?«

»Einen Knaben,« antwortete Mahbub ernsthaft. »Ein anderer Knabe prügelte ihn. Sein Vater war einst in dem großen Krieg ein weißer Soldat. Der Junge war von Kindheit an in Lahore. Als Baby spielte er mit meinen Pferden. Jetzt, glaube ich, wollen sie ihn zum Soldaten machen. Er wurde von seines Vaters Regiment aufgegriffen, das in letzter Woche in den Krieg zog. Es scheint mir aber, als hätte er keine Lust Soldat zu werden. Ich nahm ihn auf einen Ritt mit. Sag mir, wo Deine Kaserne liegt, ich will Dich absetzen.«

»Laß mich los. Ich kann die Baracken allein finden.«

»Und wenn Du fortläufst, wird man nicht mir die Schuld geben?«

»Er wird zu seinem Essen zurücklaufen. Wohin sollte er sonst laufen?«

»Er wurde im Lande geboren. Er hat Freunde. Er geht hin, wo es ihm beliebt. Er ist ein durchtriebener Bengel. Es gilt nur sein Kleid zu wechseln und im Nu wäre er ein Hindu-Knabe niederer Kaste!«

»Was zum Henker!« Der Engländer sah den Knaben kritisch an, während Mahbub nach der Kaserne umwendete. Kim knirschte mit den Zähnen. Mahbub spottete seiner, wie ungläubige Afghanen tun, denn er fuhr fort:

»Sie werden ihn in eine Schule schicken, ihm schwere Stiefel anziehen und ihn in dies Zeug einzwängen. Dann wird er alles, was er weiß, vergessen. Nun, wo ist Deine Kaserne?«

Kim zeigte – sprechen konnte er nicht – auf Vater Victors Abteilung.

»Vielleicht wird er ein guter Soldat,« sprach Mahbub nachdenklich, »jedenfalls eine gute Ordonnanz. Ich schickte ihn einmal mit einer Botschaft von Lahore ab. Eine Bestellung, den Stammbaum eines weißen Hengstes betreffend.«

Das war ein tödlicher Insult über den andern und der Sahib, dem er so schlau jenen Krieg weckenden Brief überbrachte, hörte es wohl. Kim sah Mahbub Ali in Flammen braten für seine Verräterei, für sich selbst aber nur Aussicht auf Kasernen, Schulen und wieder Kasernen. Er blickte flehend auf das scharf geschnittene Gesicht, auf dem kein Schimmer von Verständnis sich zeigte: aber selbst in dieser äußersten Not fiel es ihm nicht ein, des weißen Mannes Erbarmen anzusprechen, noch den Afghanen anzuklagen. Und Mahbub starrte bedächtig den Engländer an, und dieser ebenso bedächtig den stummen und zitternden Kim.

»Mein Pferd ist gut zugeritten,« sagte der Händler. »Andere würden ausgeschlagen haben, Sahib.«

»Ah,« sagte der Engländer endlich, seines Ponys dampfende Flanken mit dem Peitschenknopf reibend, »wer will einen Soldaten aus dem Jungen machen?«

»Er sagt, das Regiment, das ihn aufgefunden hat, besonders aber der Pater Sahib des Regiments.«

»Da ist der Pater!« rief Kim atemlos, als Vater Victor barhäuptig von der Veranda herunter auf sie zusegelte.

»Mächte der Finsternis, O’Hara! Wie viele verschiedenartige Freunde hältst Du Dir in Indien?« rief er, als Kim herabglitt und hilflos vor ihm stand.

»Guten Morgen, Padre,« rief der Oberst heiter. » Par renommée kenne ich Sie gut genug. Wollte immer schon herüber kommen Sie zu besuchen. Ich bin Creighton.«

»Vom Ethnologischen Dienst?« sagte Vater Victor. Der Oberst nickte. »Wahrhaftig, mich freut’s Sie zu sehen; und ich schulde Ihnen Dank, daß Sie den Knaben zurückbrachten.«

»Verdiene keinen Dank, Padre. Der Junge war nicht fortgelaufen. Sie kennen den alten Mahbub Ali nicht?« Der Roßkamm saß regungslos im Sonnenschein. »Wenn Sie einen Monat in der Station gewesen sind, werden Sie ihn kennen. Er verkauft uns alle seine Schindmähren. Dieser Junge ist aber ein Kuriosum. Können Sie mir Näheres über ihn sagen?«

»Ich Ihnen etwas sagen?« stöhnte Vater Victor. »Sie wären der Einzige, der mir in meinen Verlegenheiten helfen könnte. Ich Ihnen Näheres sagen! Mächte der Finsternis, ich brenne vor Ungeduld jemand zu fragen, der über die Eingeborenen Bescheid weiß.«

Ein Groom kam um die Ecke. Oberst Creighton erhob die Stimme und rief in Urdu: »Sehr wohl, Mahbub Ali, aber was soll’s nützen, daß Ihr so viel von dem Pony erzählt! Nicht ein Pie (kleinste Kopfmünze, ca. ein Pfennig) mehr als hundert und fünfzig Rupien gebe ich.«

»Der Sahib ist etwas erregt und hitzig von dem Ritt,« erwiderte der Pferdehändler mit dem Blinzeln eines privilegierten Spaßmachers.

»Bald werden die vortrefflichen Eigenschaften meines Pferdes ihm einleuchten. Ich will warten, bis er sein Gespräch mit dem Pater beendet. Unter jenem Baum will ich warten.«

»Hol Euch der Teufel!« Der Oberst lachte. »Das kommt davon, wenn man eines von Mahbubs Pferden ansieht. Er ist ein richtiger Blutegel, Padre. Warte also, Mahbub, wenn Du so viel überflüssige Zeit hast. Wo ist der Knabe? Oh, er ist hingegangen, um mit Mahbub zu schwatzen. Sonderbarer Junge! Darf ich Sie bitten, mein Pferd unterstellen zu lassen?«

Er ließ sich in einen Sessel fallen, von dem aus er Kim und Mahbub Ali unter dem Baum beobachten konnte. Der Pater war hineingegangen, um Zigarren zu holen.

Creighton hörte Kim mit Bitterkeit sprechen: »Trau einem Brahmanen mehr als einer Schlange, einer Schlange mehr als einer Dirne und einer Dirne mehr als einem Afghanen, Mahbub Ali.«

»Das ist alles gleich«, der große, rote Bart wackelte feierlich. »Kinder sollten keinen Teppich auf dem Webstuhl sehen, ehe das Muster fertig ist. Glaube mir, Freund aller Welt, ich erzeige Dir einen großen Dienst. Sie sollen keinen Soldaten aus Dir machen.«

»Du pfiffiger, alter Sünder,« dachte Creighton. »Aber Du hast nicht Unrecht. Der Junge darf nicht unnütz verbraucht werden, wenn er so wertvoll ist.«

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick,« rief der Pater von innen. »Ich will nur die Dokumente dieser Sache holen.«

»Wenn durch mich Dir die Gunst dieses tapfern und weisen Oberst-Sahib zuteil wird und Du zu Ehren gebracht wirst, wie willst Du dann Mahbub Ali danken, wenn Du ein Mann bist?«

»Nein, nein; ich bat Dich, mich wieder auf die Landstraße zu bringen, wo ich sicher gewesen wäre, aber Du hast mich wieder an die Engländer verkauft. Wie viel Blutgeld werden sie Dir geben?«

»Ein kostbarer kleiner Dämon!« Der Oberst biß seine Zigarre ab und wandte sich höflich zu Vater Victor.

»Was für Briefe sind das, die der fette Priester vor dem Oberst herumschwenkt? Tritt hinter den Hengst, als ob Du nach dem Zügel fühltest!« sprach Mahbub Ali.

»Ein Brief von meinem Lama, den er von Jagadhir-Road schrieb; er will dreihundert Rupien das Jahr für meinen Unterricht zahlen.«

»Oho! Ist der alte Rot-Hut von der Sorte? in welcher Schule?«

»Gott weiß. Ich denke in Nucklao.«

»Ja. Da ist eine große Schule für die Söhne von Sahibs und Halb-Sahibs. Ich sah sie, als ich dort Pferde verkaufte. So liebte der Lama auch den Freund-aller-Welt?«

»Und wie? und er erzählte keine Lügen und lieferte mich nicht in die Gefangenschaft.«

»Kein Wunder, daß der Pater den Knäuel nicht zu entwirren versteht. Wie eifrig er mit dem Oberst-Sahib redet.« Mahbub Ali kicherte. »Bei Allah!« – sein scharfes Auge streifte die Veranda einen Augenblick – »Dein Lama hat, was mir ein Wechsel scheint, geschickt. Ich habe zuweilen mit Wechseln zu tun gehabt. Der Oberst-Sahib sieht ihn sich an.«

»Was nützt mir das alles?« sagte Kim trübselig, »Du gehst fort und mich stecken sie wieder in die kahlen Räume, wo kein ordentlicher Platz zum Schlafen ist und wo die Jungen mich hauen.«

»Ich glaube es nicht. Habe Geduld, Kind. Alle Pathans betrügen nicht – ausgenommen beim Roßkauf.« Fünf – zehn – fünfzehn Minuten gingen hin, Vater Victor redete energisch oder stellte Fragen, die der Oberst beantwortete.

»Nun habe ich Ihnen alles gesagt, was ich von dem Knaben weiß, vom Anfang bis zum Ende; und es ist mir eine wahre Erleichterung. Haben Sie je etwas Ähnliches gehört?«

»Nun, jedenfalls hat der alte Mann das Geld geschickt. Gobind Sahais Unterschrift ist gut von hier bis China,« sagte der Oberst. »Je mehr man von Eingeborenen weiß, je weniger weiß man, was sie, oder was sie nicht tun werden.«

»Das ist tröstlich – von seiten des Chefs des Ethnologischen Amtes! O diese Mischung von Roten Stieren und Flüssen des Heils (armer Heide, Gott helfe ihm!) und Geldanweisungen und Freimaurer-Papieren. Sind Sie zufällig auch Freimaurer?«

»Wahrhaftig, ich bin’s, das fällt mir gerade ein. Das ist ein Grund mehr,« sprach der Oberst ziemlich zerstreut.

»Ich bin froh, daß Sie überhaupt einen Sinn darin finden. Wie ich schon sagte, dieses Gemisch von Dingen verwirrt mich. Dazu die Prophezeiung vor unserm Oberst. Wie er dasaß auf meinem Bett, sein Hemdchen auseinander geschoben, daß die weiße Haut vorschimmerte; und wie die Prophezeiung wahr wurde! Nun, sie werden ihm den Unsinn schon auskurieren in St. Xavier, meinen Sie nicht?«

»Werden ihn mit Weihwasser besprengen,« lachte der Oberst.

»Auf mein Wort, mir scheint, ich sollte das zuweilen tun. Ich hoffe, er wird zu einem guten Katholiken erzogen werden. Was mich noch beunruhigt, ist, was dann werden soll, wenn der alte Bettelmann –«

»Lama, Lama, lieber Herr; und manche von ihnen sind Gentlemen in ihrem eigenen Lande.«

»Der Lama also – das nächste Jahr nicht zahlt? Er hat sich im Drang des Augenblicks als solider Geschäftsmann bewährt, aber er kann sterben. Und – das Geld von einem Heiden anzunehmen, um einem Kinde eine christliche Erziehung zu geben –«

»Aber er hat deutlich ausgesprochen, was er will. Sobald er wußte, daß der Knabe ein Weißer war, hat er seine Anordnungen demgemäß gemacht. Den Gehalt eines Monats möchte ich darum geben, zu hören, wie er das alles im Tirthanker-Tempel in Benares erklärt. Sehen Sie, Padre, ich behaupte nicht, die Eingeborenen durchaus zu kennen, aber wenn er sagt, er zahlt, wird er zahlen – tot oder lebendig. Ich meine damit, seine Erben werden die Schuld übernehmen. Mein Rat ist, schicken Sie den Knaben nach Lucknow. Wenn der anglikanische Kaplan denkt, Sie hätten ihm den Rang abgelaufen –«

»Schlimm für Bennett! Er wurde statt meiner zur Front geschickt. Doughty erklärte mich gesundheitlich für unfähig. Ich werde Doughty exkommunizieren, wenn er lebendig zurück kommt! Bennet müßte eigentlich zufrieden sein mit –«

»Dem Ruhm und Ihnen die Religion belassen. Ganz recht! Ich denke aber wirklich, Bennett wird es sich nicht zu Herzen nehmen. Schieben Sie die Schuld auf mich. Ich – nun – ich hätte sehr empfohlen, den Knaben nach St. Xavier zu schicken. Er kann mit dem Freipaß für Soldaten-Waisen fahren, so wird das Reisegeld gespart. Seine Ausstattung bezahlen Sie aus den Regiments-Beiträgen. Der Loge werden die Kosten seiner Erziehung erspart, das wird die Loge in gute Laune versetzen. Es ist ganz einfach. Ich muß nächste Woche nach Lucknow hinunter. Ich werde unterwegs nach dem Knaben sehen, ihn außerdem meinen Dienern in Obhut geben und so weiter.«

»Sie sind ein guter Mann.«

»Nicht im Geringsten. Sie sind im Irrtum. Der Lama hat uns Geld zu einem bestimmten Zweck geschickt. Wir können es nicht wohl zurückgeben. Wir haben zu tun, was er sagt. Das wäre abgemacht, nicht wahr? Sollen wir festsetzen, daß Sie nächsten Dienstag ihn mir zum Süd-Nachtzug bringen? Das sind nur drei Tage. Er kann nicht viel Schaden anrichten in drei Tagen.«

»Es ist mir eine Last von der Seel‘, aber – dieses Ding hier« – er schwenkte eine Anweisung – »ich kenne so wenig Gobind-Sahai wie seine Bank, die ein Loch in einer Mauer sein mag.«

» Sie sind niemals als Subalterner in Schulden gewesen! Ich will den Wechsel einlösen, wenn Sie es wünschen und Ihnen den Wert einschicken.«

»Aber das noch zu Ihrer übrigen Arbeit! Es wäre zu viel –«

»Es macht mir nicht die geringste Mühe. Als Ethnologe, sehen Sie, ist die Sache mir sogar interessant. Ich mache vielleicht einen Bericht darüber in einer Arbeit, die ich für die Regierung liefere. Die Verwandlung eines Regiments-Abzeichens wie Ihr Roter Stier in den Fetisch, dem der Knabe folgt, ist sehr interessant.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Etwas können Sie doch für mich tun. Wir Ethnologen alle sind, wie Dohlen, neidisch, einer auf des andern Entdeckung. Sie sind zwar nur für uns selbst von Interesse, aber Sie wissen ja, wie wir Bücher-Sammler einmal sind. Bitte, lassen Sie kein Wort direkt oder indirekt über die asiatische Seite in des Knaben Charakter bekannt werden, auch nicht von seinen Abenteuern, seinen Prophezeiungen und so weiter. Ich will das späterhin aus dem Jungen heraus holen, sehen Sie, und –

»Ja. Sie werden einen wundervollen Bericht daraus machen. Niemand soll ein Wort von mir hören, bis ich die Geschichte gedruckt lese.«

»Danke Ihnen. Das geht einem Ethnologen gerade ins Herz. Doch ich muß nun frühstücken. Himmel! Ist der alte Mahbub noch hier?« Er sprach laut und der Roßhändler trat aus dem Schatten des Baumes hervor. »Nun, was gibt’s noch?«

»Was das junge Pferd anbetrifft,« sprach Mahbub, »so sage ich, wenn ein Füllen dazu geschaffen ist, ein Polo-Pony zu werden und ohne angelernt zu sein, dem Ball genau folgt – wenn so ein Füllen das Spiel instinktiv begreift – dann sage ich, ist es ein großes Unrecht, das Füllen vor einen schweren Wagen zu spannen, Sahib.«

»So denke ich auch, Mahbub. Das Füllen soll für Polo eingeschrieben werden. (Diese Kerle denken in der Welt an nichts als an Pferde, Padre.) Morgen werde ich sehen, Mahbub, ob Du etwas Gutes zu verkaufen hast.«

Der Händler salutierte, nach Reitart, durch Schwenken der freien Hand. »Hab ein wenig Geduld, kleiner Allerweltsfreund,« flüsterte er dem geängsteten Kim zu. »Dein Glück ist gemacht. Bald gehst Du nach Nucklao und – hier ist etwas, um den Briefschreiber zu bezahlen. Ich werde Dich, denke ich, oft wiedersehen,« und er schlenderte die Straße entlang.

»Hör mich an, Kim,« rief der Oberst im Dialekt von der Veranda herunter, »in drei Tagen gehst Du mit mir nach Lucknow und wirst auf jedem Schritt Neues sehen. Sitz also diese drei Tage still und lauf nicht fort. Du kommst in die Schule in Lucknow.«

»Werde ich dort meinen Heiligen treffen?« fragte Kim flehentlich.

»Wenigstens liegt Lucknow näher zu Benares als Umballa. Vielleicht nehme ich Dich unter meinem Schutz mit. Mahbub Ali weiß Bescheid und er wird zornig sein, wenn Du wieder ein Landstreicher wirst. Erinnere Dich auch – viel ist mir gesagt worden, was ich nicht vergesse.«

»Ich will warten,« sagte Kim, »aber die Jungen werden mich prügeln.«

Die Trompeten bliesen zum Mittagessen.