Kapitel 7.

Am Nachmittag wurde Kim vom Schulmeister mit dem roten Gesicht angekündigt, er wäre von der Leine gelassen, was aber für Kim erst Bedeutung gewann, als man ihn gehen und spielen hieß. Da rannte er nach dem Basar und fand den jungen Schreiber, dem er die Marke schuldig geblieben.

»Jetzt bezahle ich,« sprach Kim mit königlicher Herablassung, »und muß einen neuen Brief geschrieben haben.«

»Mahbub Ali ist in Umballa,« erzählte der Schreiber. Er war vermöge seines Berufes eine Art Auskunfts-Büro, wenn auch kein allzusicheres.

»Dieser Brief ist nicht an Mahbub, aber an einen Priester. Nimm Deine Feder, schnell, und schreibe: »An Teshoo Lama, den Heiligen von Bhotiyal, der einen Fluß sucht, und der jetzt ist im Tempel von den Tirthankers zu Benares.« – »Nimm mehr Tinte!« – »In drei Tagen gehe ich hinunter nach Nucklao, nach der Schule in Nucklao. Der Name von der Schule ist Xavier. Ich weiß nicht, wo die Schule ist, aber sie ist in Nucklao.«

»Aber ich kenne Nucklao,« unterbrach der Schreiber, »ich weiß wo die Schule ist.«

»Schreibe ihm, wo sie ist; ich gebe einen halben Anna.« Die Rohrfeder kratzte hurtig. »Nun kann er sie finden.« Der Schreiber blickte auf. »Wer beobachtet uns da von der Straße her?«

Kim sah rasch hinüber und gewahrte Oberst Creighton im Tennis-Kostüm.

»Oh, das ist ein Sahib, der mit dem dicken Priester in den Baracken bekannt ist. Er winkt mir.«

»Was tust Du da?« fragte Creighton, als Kim herantrottete.

»Ich – ich laufe nicht davon. Ich sende einen Brief an meinen Heiligen in Benares.«

»Das fiel mir nicht ein. Hast Du ihm geschrieben, daß ich Dich nach Lucknow bringe?«

»Nein, das tat ich nicht. Lest den Brief, wenn Ihr mir nicht glaubt.«

»Warum denn hast Du meinen Namen ausgelassen in dem Brief an den Heiligen?« Der Oberst lächelte sonderbar. Kim nahm seinen Mut in beide Hände.

»Man sagte mir einmal, es wäre unangemessen, Namen von Fremden, die an einer Sache beteiligt waren, zu nennen, denn durch Nennung von Namen würde mancher gute Plan verdorben.«

»Man hat Dich gut unterwiesen,« erwiderte der Oberst. Kim errötete. »Ich habe meine Zigarrentasche auf des Paters Veranda gelassen. Bringe sie mir diesen Abend nach meinem Hause.«

»Wo ist das Haus?« fragte Kim. Sein Scharfsinn sagte ihm, daß er in irgendeiner Art auf die Probe gestellt würde, und er war auf seiner Hut.

»Frage irgend jemand in dem großen Basar.« Der Oberst ging weiter.

»Er hat seine Zigarrentasche vergessen,« sagte Kim, zurückkommend. »Ich soll sie ihm diesen Abend bringen. Mein Brief ist nun fertig – nur noch dreimal: »Komm zu mir! Komm zu mir! Komm zu mir.« Nun will ich die Marke bezahlen und ihn auf die Post tragen.« Er erhob sich, um zu gehen und fragte so obendrein: »Wer ist der Sahib mit dem verdrießlichen Gesicht, der seine Zigarrentasche verlor?«

»Oh, das ist nur Creighton Sahib – ein ganz närrischer Sahib, der ein Oberst-Sahib ist ohne ein Regiment.«

»Was treibt er denn?«

»Gott weiß! Er kauft immerfort Pferde, die er nicht reiten kann und fragt in Rätseln über Werke Gottes – wie Pflanzen und Steine und die Sitten der Leute. Die Händler nennen ihn Vater der Narren, weil er so leicht mit einem Pferd zu beschwindeln ist. Mahbub-Ali sagt, er ist verrückter als alle anderen Sahibs.«

»Oh!« machte Kim und ging. Die Art seiner Erziehung hatte ihm etwas Menschenkenntnis eingebracht, und er sagte sich, daß man einem Narren keine Mitteilung machen würde, die dazu führt, achttausend Mann nebst Kanonen mobil zu machen. Der Oberbefehlshaber von ganz Indien würde nicht so, wie Kim ihn gehört hatte, zu Narren reden, noch würde Mahbub Alis Ton sich ändern, wie er es immer tat, wenn er des Obersten Namen nannte, wäre der Oberst ein Narr. Und deshalb – Kim machte einen Seitensprung – mußte ein Geheimnis da sein, und Mahbub Ali spionierte wahrscheinlich ebenso für den Oberst, wie Kim für Mahbub Ali spioniert hatte. Und augenscheinlich, eben so wie der Roßkamm, achtete der Oberst solche Leute, die sich nicht als die Überklugen geberdeten.

Er war froh, daß er getan hatte, als wisse er des Obersten Haus nicht; und als er bei der Rückkehr in die Kaserne keine Zigarrentasche fand, strahlte er vor Vergnügen. Das war ein Mann nach seinem Herzen – eine versteckte zweideutige Persönlichkeit, die ein geheimes Spiel spielte. Nun, wenn der ein Narr war, so konnte Kim es auch sein.

Er verriet nichts von seinen Gedanken, als Vater Victor während dreier langer Morgen ihm von einer ganz neuen Gesellschaft von Göttern und untergeordneten Gottheiten sprach, besonders von einer Göttin – Maria genannt – die, so schien es ihm, gleichbedeutend war mit Bibi Miriam aus Mahbub Alis Theologie. Er zeigte weder Erregung, als nach der Lektion Vater Victor ihn von Laden zu Laden führte, um seine Ausstattung einzukaufen, noch klagte er, als die neidischen Tambour-Jungen ihn traten, weil er in eine höhere Schule kam; er erwartete den Wechsel der Umstände mit gespanntem Geist. Der gute Vater Victor begleitete ihn zur Station, brachte ihn in einen leeren Wagen zweiter Klasse, nächst Oberst Creightons erstklassigem, und sagte ihm mit wirklicher Rührung Lebewohl.

»Sie werden Dich zu einem Manne machen in St. Xavier, O’Hara – einem weißen, und ich hoffe einem guten Manne. Sie wissen alles von Deiner Herkunft, und der Oberst wird sorgen, daß Du nicht verloren gehst unterwegs oder an einem falschen Platz ausgesetzt wirst. Von religiösen Dingen habe ich Dir, hoffe ich, einen Begriff gegeben und vergiß nicht, wenn man nach Deiner Religion fragt, Du bist katholisch – besser noch sage römisch-katholisch, obwohl ich das Wort nicht gerade liebe.«

Kim zündete eine starke Zigarre an, er hatte sich Vorrat im Basar gekauft, und legte sich hin, um nachzudenken. Diese einsame Fahrt war sehr verschieden von der lustigen Reise in der dritten Klasse mit dem Lama. »Sahibs haben wenig Vergnügen beim Reisen,« dachte er. »Ho heh! Ich rolle von einem Ort zum andern wie ein Fußball. Es ist mein Kismet. Kein Mensch entgeht seinem Kismet. Aber ich soll zu Bibi Miriam beten, und ich bin ein Sahib« – er blickte wehmütig auf seine Stiefel. »Nein, ich bin Kim. Dies ist die große Welt und ich bin nur Kim. Was ist Kim?« Er grübelte über seine eigene Identität, etwas, was er bisher nie getan, bis ihm der Kopf schwindelte. Er war ein unbedeutendes Ding in diesem schwirrenden Wirbel von Indien, und ging südwärts in ein unbekanntes Geschick.

Der Oberst ließ ihn holen und redete lange Zeit mit ihm. So viel Kim verstand, sollte er fleißig lernen, um später in den Vermessungsdienst von Indien einzutreten. Wenn er sehr tüchtig würde, und die erforderlichen Prüfungen bestände, könnte er mit siebzehn Jahren dreißig Rupien monatlich verdienen, und Oberst Creighton würde dafür sorgen, daß er passende Beschäftigung fände.

Anfangs gab Kim sich den Anschein, als verstände er von drei Worten kaum eins. Da begann der Oberst fließend und schön Urdu zu reden, und Kim war zufrieden. Ein Mann, der diese Sprache so genau kannte, der so sanft und leise sich bewegte, dessen Augen so verschieden waren von den blöden, fetten Augen anderer Sahibs, der konnte kein Narr sein.

»Ja, Du mußt Zeichnungen machen lernen von Wegen und Bergen und Flüssen und mußt diese Bilder vor Deinem inneren Auge bewahren, bis die passende Zeit da ist, sie zu Papier zu bringen. Eines Tages vielleicht, wenn Du ein Mann der Maßkette bist und wir zusammen arbeiten, werde ich Dir sagen: »Gehe über jene Hügel und siehe, was jenseits liegt.« Ein anderer aber würde vielleicht sprechen: »Böses Volk lebt in den Hügeln, das den Ketten-Mann totschlagen wird, wenn er wie ein Sahib aussieht.« Was würdest Du dann tun?«

Kim überlegte: Würde es richtig sein, auf des Obersten Lockton einzugehen? »Ich würde Euch wiederholen, was der andere mir gesagt.«

»Aber wenn ich darauf spräche: »Ich gebe Dir hundert Rupien, wenn Du berichtest, was hinter jenen Hügeln liegt – für eine Zeichnung eines Flusses oder eine Mitteilung, wie die Leute drüben gesinnt sind?«

»Was kann ich sagen? Ich bin nur ein Knabe. Wartet bis ich ein Mann bin.« Schnell aber, als er einen Schatten auf des Obersten Stirn sah, fügte er hinzu: »Ich denke aber doch, ich würde die hundert Rupien bald verdienen.«

»Auf welche Art?«

Kim schüttelte den Kopf resolut. »Wenn ich sagen wollte, wie ich sie verdienen will, könnte es ein anderer hören und mir zuvorkommen. Es taugt nichts, was man weiß, um nichts zu verkaufen.«

»Sag es mir denn jetzt.« Der Oberst hielt eine Rupie hoch, Kims Hand streckte sich aus, zog sich aber wieder zurück.

»Nein, Sahib, nein. Ich kenne den Preis für die Antwort, aber ich weiß nicht, warum die Frage gestellt ist.«

»Nimm es denn als Geschenk,« sagte Creighton, die Münze hinwerfend. »Es ist gute Anlage in Dir. Lasse sie in St. Xavier nicht stumpf werden. Viele von den Jungen dort verachten die Schwarzen.«

»Dann waren ihre Mütter wohl Basar-Weiber,« sagte Kim. Er wußte wohl, wie tief der Haß des Halbbluts gegen seine schwarzen Brüder ist.

»Wahr; aber Du bist ein Sahib und der Sohn eines Sahib. Deshalb laß Dich nie verleiten, den schwarzen Mann gering zu schätzen. Ich kannte Burschen, die in den Dienst der Regierung eben eingetreten, so taten, als kennten sie weder die Sprache, noch die Sitten der Schwarzen. Für ihre Dummheit wurde ihnen der Lohn gekürzt, Dummheit ist die größte Sünde. Vergiß das nicht.«

Verschiedene Male noch während der langen Reise südwärts ließ der Oberst Kim rufen, immer auf dasselbe Thema zurückkommend.

»Wir werden also alle an demselben Leitdraht sein,« dachte Kim zuletzt, »der Oberst, Mahbub Ali und ich – wenn ich ein Mann der Kette werde. Er wird mich verwenden, wie Mahbub Ali mich verwandte, denke ich. Es ist gut, wenn es mir Gelegenheit gibt, auf die Heerstraße zurückzukommen. Diese Kleidung wird durch Tragen nicht bequemer.«

Vom Lama war nichts zu sehen bei der Ankunft auf der überfüllten Lucknow-Station. Kim schluckte seine Enttäuschung hinunter. Der Oberst packte ihn nebst seiner ganzen Habe in ein Ticcagarri und hieß ihn allein nach St. Xavier fahren.

»Ich sage nicht Lebewohl, denn wir werden uns wiedersehen,« rief er, »und oft, wenn Du von gutem Geist beseelt bleibst. Aber noch bist Du nicht erprobt.«

»Nicht damals, als ich Dir« – Kim wagte das »tum«, die Anrede-Form des Gleichgestellten zu gebrauchen – »in jener Nacht den Stammbaum eines weißen Hengstes überbrachte?«

»Zur rechten Zeit vergessen, ist ein großer Gewinn, kleiner Bruder,« sprach der Oberst mit einem Blick, der Kim zu durchbohren schien. Kim brauchte einige Minuten, sich von diesem Blick zu erholen, dann aber, in seinem Wagen kauernd, sog er voll Befriedigung die neue Luft ein.

»Eine prächtige Stadt,« dachte er, »prächtiger als Lahore. Wie hübsch müssen die Basare sein. Kutscher, fahre mich ein wenig durch die Basare.«

»Mir ist befohlen, Dich nach der Schule zu fahren.« Der Kutscher brauchte das »Du«, was eine Beleidigung gegen einen Weißen ist. Im fließendsten Vernikular machte Kim ihm seinen Irrtum klar, Kletterte auf den Kutschersitz, und im besten Einvernehmen fuhr das Paar stundenlang auf und ab, bewundernd, vergleichend, sich amüsierend. Keine Stadt – Bombay, die Königin aller Städte ausgenommen – ist so schön in ihrem Prachtvollen Stil wie Lucknow; mag man von der Brücke über den Fluß herab sehen oder von der Spitze des Imambra auf die vergoldeten, wie Regenschirme geformten Dächer des Chutter Munzit und die Bäume, in denen die Stadt wie eingebettet liegt. Könige haben sie mit phantastischen Bauwerken geschmückt, mit Stiftungen ausgestaltet, mit Leuten, die von Regierungs-Pensionen leben, vollgestopft und mit Blut getränkt. Lucknow ist das Zentrum des Luxus, des Müßigganges und der Intriguen und teilt mit Delhi den Ruhm, das reinste Urdu zu sprechen.

»Eine schöne Stadt, eine wundervolle Stadt.« Der Kutscher, als Eingeborener, fühlte sich durch das Lob geschmeichelt und erzählte Kim die erstaunlichsten Sachen, wo ein englischer Führer nur von dem Aufstande erzählt hätte.

»Nun wollen wir nach der Schule fahren,« sagte Kim endlich. Die große alte Schule St. Xavier in Partibus, ein Komplex von niedrigen, weißen Gebäuden, rings von weiten Anlagen umgeben, lag dem Gumti-Flusse gegenüber, etwas entfernt von der Stadt.

»Welche Art von Volk ist da drinnen?« frug Kim.

»Junge Sahibs – lauter Teufel. Aber, wenn ich Wahrheit sprechen soll, und ich habe viele von ihnen von und nach der Eisenbahn-Station gefahren, so sah ich niemals einen, der so das Zeug zu einem perfekten Teufel gehabt hätte, wie Du – der junge Sahib, den ich jetzt fahre.«

Natürlicherweise hatte Kim, den man niemals gelehrt halte, so etwas für unanständig zu halten, einen Teil des Tages mit einigen frivolen Dämchen in einer gewissen Straße zugebracht, und ebenso natürlich war er ihnen Kein Kompliment schuldig geblieben.

Er war eben dabei, des Kutschers letzte Ungehörigkeit gebührend anzuerkennen, als sein Auge – es begann zu dunkeln – eine Gestalt gewahrte, die an der Mauer bei einem der weißen Steinpfeiler des Tores saß.

»Halt!« rief Kim. »Halt hier. Ich gehe nicht gleich in die Schule.«

»Aber wer bezahlt mir mein Hin- und Herfahren?« sagte der Kutscher kläglichen Tones. »Ist der Junge toll? Erst war es ein Tanzmädchen, nun ist’s ein Priester.«

Kim stürzte sich Hals über Kopf in die Straße und streichelte die staubigen Füße unter dem schmutzigen gelben Gewand.

»Hier wartete ich einen Tag und einen halben,« sprach der Lama mit sanfter Stimme. »Nein – ich halte einen Schüler bei mir. Er, der mein Freund ist im Tempel der Tirthanker, gab mir einen Führer für die Reise. Ich kam mit dem Zuge von Benares, als Dein Brief mir gegeben wurde. Ja, ich werde gut genährt. Mir mangelt nichts.«

»Aber warum bliebst Du nicht bei der Kulu-Frau, o Heiliger? Wie kamst Du nach Benares? Mein Herz war schwer, seit wir uns trennten.«

»Die Frau ermüdete mich durch immerwährenden Strom der Rede und durch Verlangen von Zaubermitteln für Kindersegen. Ich trennte mich von dieser Gesellschaft und erlaubte ihr, durch Geschenke Verdienst zu erwerben. Sie ist wenigstens eine Frau mit offener Hand, und ich versprach, in ihr Haus zurückzukehren, wenn es nötig würde. Dann, als ich mich allein gewahrte in dieser großen und schrecklichen Welt, besann ich mich auf den Zug nach Benares, wo, wie ich wußte, einer sich aufhielt in Tirthankers Tempel, der ein Sucher ist, wie ich.«

»Ach! Dein Strom,« rief Kim. »Ich hatte den Strom vergessen.«

»Sobald, mein Chela? Ich vergaß ihn nie. Aber, als ich Dich verlassen, schien es mir besser, zu dem Tempel zu gehen und Rat zu erbitten; denn, siehst Du, Indien ist so groß, und es könnte sein, daß weise Männer vor uns, vielleicht zwei oder drei, eine Urkunde hinterlassen hätten über die Lage unseres Stromes. Sie debattieren darüber im Tempel der Tirthanker; der eine sagt dieses, der andere jenes. Sie sind höfliche Leute.«

»Das ist gut. Aber was tust Du jetzt?«

»Ich sammle Verdienst, indem ich Dir, mein Chela, zur Weisheit verhelfe. Der Priester von der Schar der Männer, die dem Roten Stier dienen, schrieb mir, es würde alles für Dich geschehen, wie ich es wünsche. Ich sandte das Geld, das für ein Jahr genügt, und ich kam, wie Du siehst, um Dich in die Pforte des Wissens eingehen zu sehen.«

»Die Pferde werden kalt, und ihre Futterzeit ist vorüber,« jammerte der Kutscher.

»Geh zum Teufel und bleibe da mit Deiner verrufenen Tante!« schnarrte Kim über seine Schulter weg. »Ich bin ganz verlassen in diesem Land; ich weiß nicht, wohin ich komme und wie es mir gehen wird. Mein Herz war in dem Brief, den ich Dir schickte. Außer Mahbub Ali, und er ist ein Pathan (Afghane), habe ich nur Dich, Heiliger. Gehe nicht ganz fort von mir.«

»Ich habe das auch bedacht,« sprach der Lama mit schwankender Stimme. »Es ist Klar, daß von Zeit zu Zeit ich Verdienst damit sammeln werde – falls ich zuvor nicht meinen Strom gefunden – wenn ich mich überzeuge, daß Deine Füße den Pfad des Wissens wandeln. Was sie Dich lehren werden, ich weiß es nicht; aber der Priester schrieb mir, daß in ganz Indien keines Sahibs Sohn besser unterrichtet werden soll, als Du. Von Zeit zu Zeit also werde ich wiederkommen. Kann sein. Du wirst solch ein Sahib, wie der, der mir diese Brille gab« – der Lama rieb sie sorgfältig ab – »in dem Wunderhaus zu Lahore. Dies ist meine Hoffnung, denn er war ein Brunnen der Weisheit – weiser als mancher Abt – … Und wiederum kann sein, Du vergissest mich und unsere Begegnung.«

»Wenn ich Dein Brot esse,« rief Kim leidenschaftlich, »wie könnte ich Dich jemals vergessen?«

»Nein – nein.« Er schob den Knaben von sich. »Ich muß nach Benares zurück. Von Zeit zu Zeit, da ich nun den Gebrauch der Briefschreiber in diesem Lande kenne, werde ich Dir einen Brief senden, und von Zeit zu Zeit werde ich kommen, um Dich zu sehen.«

»Aber wohin soll ich meine Briefe senden?« fragte Kim und klammerte sich an das gelbe Gewand, ganz vergessend, daß er ein Sahib war.

»Nach dem Tempel der Thirthanker zu Benares. Das ist der Ort, den ich gewählt habe, bis ich meinen Strom finde. Weine nicht; denn sieh, jedes Begehren ist Wahn und fesselt uns von neuem auf das Rad. Gehe ein in die Pforten des Wissens! Laß mich Dich gehen sehen … Liebst Du mich? Dann gehe, oder mein Herz zerspringt … Ich werde wiederkommen. Gewiß, ich komme wieder.«

Der Lama sah das Ticca-garri in den umzäunten Hof fahren und schritt hinweg, bei jedem Schrille schnupfend.

»Die Tore des Wissens« schlossen sich mit Geräusch.

Der im Lande geborene und auferzogene Knabe hat seine besonderen Sitten und Manieren, wie in keinem anderen Land; und seine Lehrer behandeln ihn in einer Weise, die einem englischen Lehrer unverständlich sein würde.

Kims Erlebnisse in St. Xavier, die eines Knaben unter dreihundert frühreifen jungen Menschen, von welchen die meisten noch nie das Meer gesehen hatten, bieten wenig Neues. Er verbüßte die gewöhnlichen Strafen für Fortlaufen über die bestimmten Schranken, wenn Cholera in der Stadt war und er nach dem Basar rannte, um einen Briefschreiber aufzutreiben, solange er selbst noch nicht Englisch schreiben konnte. Er wurde natürlich angeschrieben wegen des Rauchens und wegen so saftiger Kraftausdrücke, wie sie selbst in St. Xavier unerhört waren. Er lernte sich waschen mit der scheinheiligen Gewissenhaftigkeit der Eingeborenen, in deren Meinung der Engländer für sehr schmutzig gilt. Er trieb die gewöhnlichen Späße mit den geduldigen Kulis, die die Punkahs ziehen mußten in den Schlafräumen, wo die Knaben in den heißen Nächten sich herumwarfen und bis zur Morgendämmerung Geschichten erzählten; und schweigend maß er sich in Gedanken mit seinen selbstbewußten Kameraden. Diese waren Söhne von untergeordneten Beamten beim Eisenbahn-, Telegraphen- und Kanaldienst, von Offizieren in und außer Dienst, zuweilen aktiven als Oberbefehlshaber der Armee eines feudalen Rajahs; von Regierungs-Pensionierten, von Pflanzern, von Missionaren und Ladenbesitzern aus der Residentschaft. Einige waren jüngere Söhne von alten eurasischen Familien, die sich in Durrumtollah festgewurzelt haben – von Pereiras, de Souzas, de Silvas. Ihre Eltern konnten sie wohl in England erziehen lassen, aber sie bevorzugten die Schule, die sie in ihrer eigenen Jugend besucht, und so folgte in St. Xavier eine gelbbleiche Generation der anderen. Ihre Wohnsitze erstreckten sich von Howrah, wo der Eisenbahnverkehr herrscht, bis zu verlassenen Quartieren, wie Monghyr und Chunar, vergessenen Teeplantagen an der Shillong-Straße, Dörfern in Oudh oder dem Dekkan, wo ihre Väter große Grundbesitzer waren, Missions-Stationen, sieben Tage von der nächsten Eisenbahn entfernt, Seehäfen, tausend Meilen gen Süden, im Angesicht der metallschimmernden Indischen Brandung und noch südlicheren China-Baumpflanzungen. Die Erzählung allein ihrer Abenteuer, die für sie keine Abenteuer waren, auf ihren Reisen von und nach der Schule, hätte einem europäischen Knaben das Haar gesträubt. Sie waren es gewohnt, allein hundert Meilen weit durch Dschungel zu streichen, immer mit der entzückenden Möglichkeit, von Tigern angefallen zu werden; aber sie würden eben so wenig im August-Monat im Canal la Manche gebadet haben, wie ihre europäischen Brüder stillgelegen hätten, wenn ein Leopard ihren Reisekarren umschnüffelte. Da waren Knaben von fünfzehn Jahren, die anderthalb Tage auf einem Inselchen inmitten eines angeschwollenen Stromes zugebracht und wie etwas selbstverständliches die Leitung über eine dort lagernde, vor Angst halb wahnsinnige Pilgerschar, auf der Rückkehr von irgendeinem Heiligengrab begriffen, übernommen hatten. Andere wieder, ältere, hatten einen ihnen zufällig begegnenden, einem Rajah gehörigen Elefanten, im Namen von St. Francis Xavier für sich requiriert, als der Fahrweg zu ihres Vaters Besitzung von dem Regen zerstört war, und hätten um ein Haar das ungeheuere Tier in einer Wanderdüne verloren. Da war ein Knabe, der erzählte und niemand zweifelte an seinen Worten, daß er seinem Vater geholfen hätte, einen Angriff von Akas von der Veranda aus mit Flinten zurückzutreiben, in den Tagen, als diese Kopfjäger noch einsame Pflanzungen keck überfielen.

Und jede Geschichte wurde mit der leidenschaftslosen, ruhigen Stimme der Eingeborenen erzählt, oft untermischt von seltsamen Betrachtungen, die ihnen, halb unbewußt, von ihren eingeborenen Pflegemüttern überkommen waren und mit Redewendungen, die zeigten, daß sie im selben Augenblick aus dem Dialekt übertragen waren. Kim beobachtete, lauschte und zollte Beifall. Das war kein fades, eintöniges Geschwätz von Trommlerjungen, das handelte vom Leben, das er verstand und halb und halb kannte. Diese Atmosphäre sagte ihm zu. Er wuchs zusehends. Man gab ihm einen weißen Drellanzug, als es warm wurde; die äußerliche Behaglichkeit erfreute ihn, wie es ihm Freude machte, seinen scharfen Verstand an den ihm zuerteilten Aufgaben zu erproben. Seine schnelle Auffassung würde einen europäischen Lehrer entzückt haben; in St. Xavier aber war diese stürmische Entwicklung des Geistes unter der Einwirkung der Sonne und Umgebung ebenso bekannt, wie ein plötzliches Versagen, das im Alter von zwei- oder dreiundzwanzig Jahren eintritt.

Er hielt sich aber bescheiden zurück, wie man ihm empfohlen hatte.

Wenn während der heißen Nächte Geschichten erzählt wurden, hütete er sich wohl, seine Reminiszenzen aufzutischen, denn in St. Xavier sieht man auf den Knaben herab, der sich viel mit Eingeborenen abgibt. Man darf nicht vergessen, daß man ein Sahib ist und eines Tages, wenn das Examen bestanden, über Eingeborene befehlen wird.

Kim nahm sich das ad notam; er begann zu verstehen, wohin ein gutes Examen führt.

Es kamen die Ferien von August bis Oktober – die langen Ferien, durch Hitze und Regen bedingt. Man sagte Kim, er würde nordwärts geschickt nach einer Hügel-Station jenseits Umballa, wo Vater Victor ihn unterbringen würde.

»Eine Kasernen-Schule?« fragte Kim, der viel fragte und noch mehr dachte.

»Ich vermute es,« antwortete der Lehrer. »Es wird Dir nicht schaden, wenn Du einmal keine dummen Streiche machen kannst. Du kannst mit dem jungen de Castro bis Delhi fahren.«

Kim erwog es von allen Seiten. Er war fleißig gewesen, wie der Oberst ihm geraten. Die Ferien gehörten dem Schüler ganz allein; soviel hatte er aus den Reden seiner Kameraden erfahren und – nach St. Xavier eine Kasernen-Schule – das war unerträglich. Überdies – und das war ein unschätzbares Zaubermittel – er konnte jetzt schreiben! In drei Monaten hatte er begreifen lernen, wie Menschen mit einander reden können, ohne daß ein Dritter darum weiß, mittels einer halben Anna und ein bißchen Wissen. Kein Wort war von dem Lama gekommen; aber dafür war ja die Landstraße da. Kim sehnte sich nach der Liebkosung weichen Schmutzes, der zwischen den Zehen aufspritzt; der Mund wässerte ihm nach mit Butter und Kohl gedämpftem Hammelfleisch, nach Reis mit scharf riechendem Cardamom gemischt, dem safranfarbigen Reis mit Zwiebeln und Knoblauch, und nach den verbotenen fettigen Süßigkeiten der Bazare. In der Kasernen-Schule würde man ihm rohes Fleisch auf flachen Schüsseln geben, und rauchen dürfte er nur heimlich. Wiederum – er war ein Sahib und in St. Xavier – und das Schwein Mahbub Ali … Nein, er wollte Mahbubs Gastfreundschaft nicht auf die Probe stellen – und doch … Im Schlafsaal brachte er seine Gedanken zu Ende und kam zu der Erkenntnis, daß er ungerecht gegen Mahbub wäre.

Die Schule war leer, fast alle Lehrer schon fort; Oberst Creightons Freibillet für die Eisenbahn hielt Kim in der Hand und lobte sich selbst, daß er Creightons und Mahbubs Geld nicht vernascht hatte. Noch war er Herr über zwei Rupien und sieben Annas. Sein neuer Büffelleder-Koffer, »K. O’H.« gezeichnet, und sein zusammengerolltes Bettzeug lag in dem leeren Schlafsaal. »Sahibs schleppen sich immer mit ihrer Bagage herum,« sprach Kim, der seinen zunickend. »Ihr bleibt hier.« Er trat hinaus in den warmen Regen, lächelte sündhaft und suchte ein gewisses Haus auf, dessen Aussehen er vor längerer Zeit sich gemerkt hatte.

»Halt! Weißt Du nicht, welcher Art Mädchen in diesem Quartiere sind? O, schäme Dich!«

»Bin ich gestern geboren?« Kim kauerte sich nach heimischer Sitte in jenem Obergeschoß auf den Polstern nieder. »Ein wenig Farbstoff und ein paar Meter Zeug, um einen Scherz auszuführen, ist das viel verlangt?«

»Wer ist Sie ? Jung genug für einen Sahib bist Du zu solchem Teufelsstreich.«

»O, Sie? Sie ist die Tochter eines gewissen Schulmeisters in einer Militärstation. Er hat mich zweimal geprügelt, weil ich in diesen Kleidern über ihre Mauer stieg. Ich möchte es nun als ein Gärtnerbursche versuchen. Alle Männer sind so eifersüchtig.«

»Das ist richtig. Halt Dein Gesicht ruhig, während ich den Saft aufspritze.«

»Nicht zu schwarz, Naikan. Ich möchte ihr nicht wie ein Nigger erscheinen.«

»O, Liebe macht sich daraus nichts. Und wie alt ist sie?«

»Zwölf Jahre, glaube ich,« sagte der unverschämte Kim.

»Schmiere auch etwas auf die Brust. Könnte passieren, daß der Vater mir die Kleider herunterreißt, und wenn ich buntscheckig bin –« er lachte.

Das Mädchen arbeitete flink, einen zusammengewickelten Zeuglappen in die braune Farbe tunkend, die länger hält als Wallnuß-Tinktur.

»Nun besorge mir ein Tuch zum Turban. O weh, mein Kopf ist nicht geschoren, und er wird mir sicher den Turban abreißen.«

»Ich bin kein Barbier, aber ich will Dir helfen. Du bist ein geborener Herzensbrecher. Und diese ganze Verkleidung für einen Abend? Du weißt doch, der Stoff läßt sich nicht wieder abwaschen?« Sie schüttelte sich vor Lachen, daß die Spangen an Arm- und Fußgelenk klirrten. »Aber, wer bezahlt mich für meine Arbeit? Huneefa selbst könnte Dir keinen besseren Stoff geben.«

»Hoffe auf die Götter, meine Schwester,« sagte Kim, das Gesicht verziehend, als die Farbe anfing zu trocknen. »Außerdem, hast Du jemals einen Sahib so angemalt?«

»Nein, niemals. Aber ein Spaß ist kein Geld.«

»Aber viel mehr wert.«

»Kind, Du bist ohne jeden Zweifel der schamloseste Sohn Shaitans (Teufel), der mir je vorgekommen. Einem armen Mädchen so die Zeit zu rauben und dann zu sprechen: »Ist der Spaß nicht genug!« Du wirst es weit bringen in der Welt.« Sie machte ihm eine spöttische Tanzmädchen-Verbeugung.

»Ganz einerlei. Beeile Dich und schneide mein Haar.

Kim wiegte sich von einem Fuß auf den anderen mit vor Freude blitzenden Augen, im Gedanken an die fetten Tage, die nun kommen sollten. Er gab dem Mädchen vier Annas und rannte die Treppe hinab, jeder Zoll ein Hindu-Knabe niederer Kaste. Einer Kochbude galt sein erster Besuch, wo er sich gütlich tat in fetten Schlemmereien.

Auf dem Bahnhof beobachtete er den jungen de Castro, wie er, ganz mit roten Hitzbläschen bedeckt, in einen Wagen zweiter Klasse stieg. Kim zog die dritte vor und war da die Seele der Gesellschaft. Er erzählte, daß er Gehilfe eines Gauklers sei, der ihn fieberkrank zurücklassen mußte, und daß er seinen Meister jetzt in Umballa aufsuchen wollte. Wechselten die Reisenden, so änderte er sein Thema oder schmückte es mit Phantasieblüten aus, die um so üppiger wucherten, als er so lange der Landessprache entbehrt hatte. In ganz Indien gab es in dieser Nacht keinen vergnügteren Menschen als Kim. In Umballa stieg er aus und steuerte nun ostwärts, über durchweichte Felder patschend, nach dem Dorfe zu, wo der alte Soldat lebte.

Um dieselbe Zeit ungefähr wurde Oberst Creighton in Simla telegraphisch aus Lucknow benachrichtigt, daß der junge O’Hara verschwunden sei. Mahbub Ali war in der Stadt, um Pferde zu verkaufen; ihm erzählte der Oberst die Geschichte, als er eines Morgens durch die Annandale-Reitbahn ritt.

»O, das hat nichts zu bedeuten,« meinte der Roßkamm. »Menschen sind wie Pferde. Zu gewissen Zeiten müssen sie Salz haben, und wenn keins in der Krippe ist, lecken sie es von der Erde auf. Er ist wieder ein bißchen Landstreicher geworden. Die Madrissah (Schule) langweilte ihn. Ich sah das kommen. Das nächste Mal will ich ihn selbst mit auf die Landstraße nehmen. Beunruhigt Euch nicht, Creighton Sahib. Es ist, als ob ein Polo-Pony sich losreißt und fortrennt, um das Spiel allein zu lernen.«

»Du meinst also nicht, daß er tot ist?«

»Fieber könnte ihn töten. Sonst fürchte ich nichts für den Jungen. Ein Affe fällt nicht von den Bäumen.«

An derselben Stelle, am nächsten Morgen, trieb Mahbub seinen Hengst an des Obersten Seite. »Es ist, wie ich dachte,« sagte er. »Durch Umballa ist er wenigstens gekommen, und da er im Bazar erfuhr, daß ich hier bin, hat er mir einen Brief geschrieben.«

»Lies,« sprach der Oberst mit einem Seufzer der Erleichterung. Es war lächerlich, daß ein Mann von seiner Stellung Interesse nahm an einem kleinen, landgeborenen Vagabunden. Aber er gedachte der Unterredungen im Eisenbahnzug, und oft während der letzten Monate war ihm die Erinnerung an den sonderbaren, schweigsamen, sich selbst beherrschenden Knaben gekommen. Seine Flucht war der Gipfel der Unverschämtheit freilich, aber sie zeigte Mut und Findigkeit.

Mahbubs Augen zwinkerten, wie er in die Mitte des Platzes lenkte, wo niemand ungesehen sich nahen konnte.

»Der Freund der Sterne, der der Freund ist aller Welt –«

»Was soll das heißen?«

»Ein Name, den wir ihm in Lahore gaben. – ‹Der Freund aller Welt nimmt sich die Erlaubnis, seine eigenen Wege zu gehen. Er wird an dem bestimmten Tag zurückkehren. Laß den Koffer und das Bettzeug holen, und wenn Anlaß zu Tadel ist, lasse die Hand der Freundschaft die Geißel des Unheils abwenden.‹ Es steht noch etwas mehr da, aber –«

»Nur zu, lies.«

»‹Gewisse Dinge kennen die Leute nicht, die mit Gabeln essen. Es ist besser, ein Weilchen mit beiden Händen zu essen. Sprich süße Worte zu denen, die dies nicht verstehen, damit die Rückkunft günstig sei.‹ Nun, die Art, wie das ausgedrückt ist, ist natürlich das Werk des Briefschreibers, aber seht, wie klug der Knabe es gedreht hat, so daß keiner, der nicht Bescheid weiß, etwas verstehen kann.«

»Ist das die Hand der Freundschaft, die die Geißel des Unheils abwenden soll?« lachte der Oberst.

»Seht, wie gescheit der Junge ist. Daß er wieder auf die Landstraße gehen würde, sagte ich. Da er Euere Absichten noch nicht kannte –«

»Ich bin dessen nicht ganz sicher,« murmelte der Oberst.

»So hält er sich an mich, den Frieden mit Euch zu vermitteln. Ist er nicht klug? Er sagt, er wird wiederkommen. Er vervollständigt nur sein Wissen. Denkt, Sahib, er war drei Monate in der Schule. Dies Gebiß ist ihm noch empfindlich im Maule. Ich erfreue mich daran, daß das Pony das Spiel lernt.«

»Aber ein ander Mal darf er nicht allein gehen.«

»Warum nicht? Er ging allein, bevor er unter Oberst Creightons Protektion kam. Wenn er in das große Spiel eintritt, muß er allein gehen – allein und seinen Kopf riskieren. Wenn er dann anders spuckt oder niest oder niedersitzt, als das Volk, das er beobachten soll, kann er totgeschlagen werden. Weshalb ihn jetzt zurückhalten? Denkt was die Perser sagen: Der Schakal, der in den Wildnissen von Mazanderan lebt, kann nur von Hunden aus Mazanderan gepackt werden.«

»Wahr! Wahr, Mahbub Ali. Und, wenn er nicht zu Schaden kommt, ist’s gut. Aber eine große Unverschämtheit bleibt es.«

»Nicht einmal mir sagt er, wohin er geht. Er ist kein Narr. Wenn seine Zeit um ist, wird er zu mir kommen. Er reift schneller, als Sahibs rechnen.«

Einen Monat später erfüllte Mahbubs Prophezeiung sich buchstäblich. Er war in Umballa, um einen Pferde-Transport abzuholen, und ritt in der Dämmerung allein auf der Kalka-Straße, als Kim ihn traf, um ein Almosen bettelte, eine Verwünschung erhielt und auf Englisch antwortete. Mahbub schnappte vor Erstaunen.

»Oho! Und wo bist Du gewesen?«

»Auf und ab – abwärts und aufwärts.«

»Komm unter jenen Baum, aus der Nässe heraus, und erzähle.«

»Eine Weile blieb ich bei einem alten Mann, nahe Umballa, dann im Hause einer Bekanntschaft in Umballa. Mit einem von ihnen wanderte ich südwärts bis Delhi. Das ist eine wunderbare Stadt. Darauf trieb ich einen Ochsenwagen für einen Teli (Ölhändler) nach Norden, hörte aber bald von einem großen Fest in Puttiala und eilte dorthin in Gesellschaft eines Feuerwerkers. Es war ein großartiges Fest.« Kim rieb sich den Magen. »Ich sah Rajahs und Elefanten mit goldenem und silbernem Sattelschmuck; und sie brannten alles Feuerwerk auf einmal ab; dabei wurden elf Menschen getötet, mein Feuerwerker darunter, und ich wurde durch ein Zelt geblasen, tat mir aber nichts. Dann kam ich auf die Landstraße zurück mit einem Reiter, einem Sikh, dem ich als Groom diente für mein Brod, und hier bin ich.«

»Shabash (Spitzbube)!« rief Mahbub Ali.

»Und was sagt der Oberst Sahib? Ich möchte nicht geprügelt werden.«

»Die Hand der Freundschaft hat die Geißel des Unheils abgewendet. Ein ander Mal aber, wenn Du umherschweifen willst, muß es mit mir sein. Dies ist noch zu früh.«

»Spät genug für mich. Ich habe ein wenig Englisch lesen und schreiben gelernt in der Madrissah. Ich werde bald ganz und gar ein Sahib sein.

»Hört ihn!« lachte Mahbub Ali, sich die kleine durchnäßte Gestalt ansehend, die da vor ihm im Schlamm herumtanzte. »Salaam – Sahib,« und er verbeugte sich ironisch. »Bist der Landstraße müde, oder willst mit nach Umballa kommen und mit den Pferden zurück machen?«

»Ich gehe mit Dir, Mahbub Ali.«