Kapitel 1.

Kapitel 1.

Er saß, in trotziger Mißachtung der behördlichen Vorschriften, rittlings auf der Kanone Zam-Zammah, die auf ihrem Ziegel-Unterbau gegenüber dem alten Ajaib-Gher stand – dem Wunderhaus – wie die Eingeborenen das Museum von Lahore nennen. Wer Zam-Zammah, »den feuerspeienden Drachen«, im Besitz hat, besitzt das Punjab; denn das mächtige, grünbronzene Geschütz ist immer des Siegers erste Beute.

Eine Rechtfertigung gab es für Kim – er hatte Lala Dinanaths Sohn von den Kurbellagern heruntergetreten – da den Engländern das Punjab gehörte – und Kim war Engländer. Obgleich so schwarz gebrannt, wie ein Eingeborener, obgleich mit Vorliebe die Landessprache gebrauchend und seine Muttersprache in einem undeutlichen Singsang radebrechend; obschon auf völligem Gleichheitsfuße mit den kleinen Bazar-Buben verkehrend, war Kim doch ein Weißer – ein armer Weißer – von den Allerärmsten einer. Die Halbblut-Frau, die ihm Quartier gab (sie rauchte Opium und behauptete, einen Möbelhandel aus zweiter Hand an dem Platz, wo die billigen Mietwagen stehen, zu betreiben), sagte den Missionären, sie sei Kims Mutterschwester. Seine Mutter aber war Kindermädchen in der Familie eines Obersten gewesen und hatte Kimball O’Hara geheiratet, einen jungen Fahnen-Unteroffizier von den Mavericks, einem irischen Regiment. Dieser nahm später Dienst bei der Sind-Punjab-Delhi-Eisenbahn, und sein Regiment ging ohne ihn heimwärts. O’Haras Weib starb in Ferozepore an der Cholera; er ergab sich dem Trunk und trieb sich mit dem dreijährigen, blitzäugigen Kinde an der Bahnlinie herum. Vereine und Geistliche, um den Knaben besorgt, suchten ihn einzufangen. Aber O’Hara machte sich stets aus dem Staube, bis er endlich auf das Weib traf, das Opium rauchte, von ihr diese Liebhaberei lernte und starb, so wie arme Weiße in Indien sterben. Seine Hinterlassenschaft bestand aus drei Schriftstücken; das eine nannte er sein » ne varietur « weil dies Wort unter seinem Namenszug geschrieben stand, das andere seinen Entlassungsschein; das dritte war Kims Geburtsschein. »Diese Dinger«, so pflegte er in seinen glorreichen Opiumstunden zu sagen, »würden den kleinen Kimbali noch zu einem Manne machen.« Auf keinen Fall dürfte Kim sich von den Papieren trennen, denn sie wirkten durch Magie – eine Magie, wie sie die Männer drüben hinter dem Museum übten, in dem großen blau und weißen Jadoo-Gher – dem magischen Hause – was wir Freimaurer-Loge nennen). Es würde, sprach O’Hara, eines Tages alles zum Rechten kommen und Kims Horn würde hoch erhoben zwischen Säulen hängen – ungeheuren Säulen – starken und schönen. Der Oberst selbst, an der Spitze des stolzesten Regimentes der Welt reitend, würde Kim aufwarten – dem kleinen Kim – der es besser haben sollte, als sein Vater. Neunhundert Teufel erster Klasse, deren Gott ein Roter Ochse auf grünem Felde war, würden Kim dienen, wenn sie nicht O’Hara vergessen hätten – den armen O’Hara, den Vorarbeiter auf der Strecke von Ferozepore. Dabei pflegte er in seinem zerbrochenen Binsenstuhl auf der Veranda bitterlich zu weinen. So geschah es, daß nach seinem Tode das Weib Pergament, Papier und Geburtsschein in ein ledernes Amulett-Etui einnähte und es Kim um den Hals hängte.

»Und eines Tages,« sprach sie, sich der Prophezeihung O’Hara’s verworren erinnernd, »wird ein großer roter Ochse auf grünem Felde zu Dir kommen und ein Oberst, auf hohem Pferde reitend, ja, und« – in’s Englische fallend – »neunhundert Teufel.«

»O,« rief Kim, »ich werde daran denken. Ein roter Ochse wird kommen und ein Oberst zu Pferde. Aber vorher, sagte mein Vater, kommen die zwei Männer, die den Grund klar machen für die Ereignisse. So machen sie’s immer, sagte mein Vater, wenn Männer Magie treiben.«

Hätte die Frau Kim mit seinen Papieren nach dem Orts-»Jadoo-Gher« gesandt, so würde er sicher von der Provinzial-Loge übernommen und in das Freimaurer-Waisenhaus im Gebirge geschickt worden sein; aber was sie von Magie gehört, machte sie mißtrauisch. Auch Kim hatte seine eigenen Ansichten. Als er in die Flegeljahre kam, ging er Missionaren und weißen Leuten von ernstem Aussehen, die zu fragen pflegten, wer er sei und was er treibe, geflissentlich aus dem Wege. Denn Kim trieb, mit großartigem Erfolge, gar nichts. Zwar die wundervolle, wallumgürtete Stadt Lahore kannte er durch und durch, vom Delhi-Tor bis zum äußersten Festungsgraben; zwar stand er auf Du und Du mit Leuten, die ein so seltsames Leben führten, wie selbst Harun al Raschid es sich nicht hätte träumen lassen; zwar lebte er selbst ein so seltsames Leben, wie in »Tausend und eine Nacht« – aber die Missionare und Beamten von wohltätigen Anstalten hätten dies alles ja nicht zu würdigen gewußt. Im Stadtbezirk war sein Spitzname »Kleiner Allerweltsfreund«. Da er klein und unauffällig war, hatte er sehr oft nächtliche Botschaften auf den belebten Hausdächern von fashionablen, geschniegelten jungen Herren auszurichten. Es waren Intriguen, natürlich – er wußte das nur zu genau, hatte er doch, seit er sprechen konnte, alles Böse kennen gelernt. Er lieble solche Streiche um ihrer selbst willen; dies heimliche Umherstreifen durch dunkle Winkel und Gäßchen, das verstohlene Hinaufschleichen durch ein Wasserrohr, den Anblick und die Laute der Frauenwelt auf den flachen Dächern und die ungestüme Flucht von Dach zu Dach im Schutze der schwülen Dunkelheit. Dann gab es heilige Männer, mit Asche beschmierte Fakire, unter ihren steinernen Schreinen bei den Bäumen am Flußufer, mit denen er ganz familiär stand. Er begrüßte sie, wenn sie von ihren Bettelreisen zurückkehrten, und, wenn es niemand sah, aß er auch mit ihnen aus derselben Schüssel.

Die Frau, die ihn in Obhut hatte, flehte unter Tränen, er solle europäische Kleider tragen: Hosen, ein Hemd und einen Schlapphut. Kim zog es vor, in ein Hindu- oder Mohammedaner-Gewand zu schlüpfen, wenn er in gewissen Geschäften unterwegs war. Einer der jungen, fashionablen Männer – es war derselbe, der in der Nacht des Erdbebens auf dem Grunde eines Brunnens tot aufgefunden wurde – hatte ihm einst einen vollständigen Anzug aus Hindu-Stoff, das Kostüm eines Straßenjungen niederer Kaste, gegeben. Kim verbarg es heimlich zwischen einigen Balken auf Nila Rams Zimmerplatz, hinter dem Punjab-Gerichtshof, dort, wo die wohlriechenden Deodar-Klötze zum Austrocknen lagerten, nachdem sie den Ravi herabgetrieben. Wenn Aussicht auf Geschäfte oder Schelmenstreiche bevorstand, holte Kim seinen verborgenen Besitz hervor und kehrte erst beim Morgengrauen zurück in die Veranda, erschöpft vom Jubilieren hinter einer Heiratsprozession her oder vom Schreien bei einer Hindu-Festlichkeit. Zuweilen fand er einen Happen im Hause, öfter aber nicht; dann ging er wieder fort und aß mit seinen eingeborenen Freunden.

Er trommelte mit den Hacken gegen Zam-Zammah und unterbrach bisweilen sein »König vom Schloß«-Spiel mit dem kleinen Chota Lal und Abdullah, des Kuchenbäckers Sohn, um dem eingeborenen Polizisten, der die Reihe von Schuhen vor dem Museum zu bewachen hatte, Grobheiten zuzurufen. Der dicke Punjabmann lächelte nachsichtig. Er kannte Kim schon lange – ebenso der Wasserträger, der die trockene Straße aus seinem ziegenledernen Sack besprengte. Auch der Jawahir Singh, der Museums-Tischler, der über neuen Packkisten gebückt dastand, war ein alter Bekannter Kims, wie überhaupt jedermann rundherum, ausgenommen die Bauern vom Lande, die nach dem Wunderhause kamen, um die Dinge anzustaunen, die in ihrer eignen Provinz ebenso wie auch anderswo angefertigt wurden. Das Museum war bestimmt für die Erzeugnisse indischer Kunst und Industrie. Wer etwas erklärt haben wollte, konnte den Direktor fragen.

»Herunter! Herunter mit Dir! Ich will hinauf,« schrie Abdullah, auf Zam-Zammah’s Rad kletternd.

»Dein Vater war Pastetenkoch. Deine Mutter stahl das »Ghi«, . sang Kim. »Alle Muselmänner sind längst von Zam-Zammah heruntergefallen.«

»Laß mich hinauf!« kreischte der kleine Chota Lal, unter seiner goldgestickten Mütze. Sein Vater war vielleicht eine halbe Million Sterling wert; aber Indien ist das einzige demokratische Land der Welt.

»Die Hindu sind auch von Zam-Zammah herabgefallen. Die Muselmänner stießen sie herunter. Dein Vater war Pastetenkoch« – Er hielt inne, denn um die Ecke, vom geräuschvollen Moti-Bazar her, kam schwerfälligen Ganges ein Mann, wie ihn Kim, der alle Kasten zu kennen glaubte, nie zuvor gesehen. Er war nahezu sechs Fuß hoch und gekleidet in dunkelbraunen Stoff, der, einer Pferdedecke ähnlich, Falte auf Falte schlug; und nicht eine Falte konnte Kim in Zusammenhang bringen mit irgendeinem ihm bekannten Geschäft oder Handwerk. An seinem Gürtel hing ein eiserner Federbehälter von durchbrochener Arbeit und ein hölzerner Rosenkranz, wie ihn heilige Männer tragen. Auf dem Haupte hatte er eine Art riesiger spitzer Deckelmütze mit einem Knopf in der Mitte. Sein Gesicht war gelb und runzelig wie das von Fook Shing, dem chinesischen Schuhmacher im Bazar. Seine Augen zogen sich nach den Winkeln aufwärts und sahen aus wie kleine Spalten aus Onyx.

»Wer ist das?« fragte Kim seine Kameraden.

»Vielleicht ist es ein Mann,« sprach Abdullah hinstarrend, den Finger im Munde.

»Ohne Zweifel,« erwiderte Kim; »aber es ist ein Inder, wie ich ihn noch nie sah.«

»Ein Priester vielleicht,« meinte Chota Lal, den Rosenkranz erspähend. »Sieh, er geht in das Wunder-Haus.«

»Nein, nein,« sagte der Polizist kopfschüttelnd. »Ich verstehe Deine Rede nicht.« Der Konstabler sprach Punjabi. »He, Du! Allerweltsfreund! was sagst Du?«

»Schicke ihn hierher,« rief Kim, von Zam-Zammah herab kletternd und seine nackten Füße schwenkend. »Er ist ein Fremder und Du bist ein Büffel.«

Der Mann drehte sich hilflos um und schob sich zu dem Knaben hin. Er war alt, und sein wollenes Obergewand dunstete noch von dem übelriechenden Wermut der Gebirgspässe.

»O, Kinder, was ist dies große Haus?« fragte er in sehr klarer Urdusprache.

»Das Ajaib-Gher, das Wunder-Haus.« Kim gab ihm keinen Titel, wie Lala oder Mian, denn er konnte des Mannes Glaubensbekenntnis nicht erraten. »Ah! Das Wunder-Haus! Kann da ein jeder eintreten?«

»Es steht über der Pforte geschrieben – jeder kann eintreten.«

»Ohne Bezahlung?«

»Ich gehe ein und aus. Und ich bin kein Bankier,« lachte Kim.

»Ach! Ich bin ein alter Mann, ich wußte es nicht.« Dann, seinen Rosenkranz fingernd, wandte er sich halb dem Museum zu.

»Welcher Kaste gehörst Du an? Wo ist Dein Haus? Kommst Du von ferne her?« fragte Kim.

»Ich kam über Kulu, von jenseits der Kailas – aber was wißt Ihr von den Bergen, wo« – er seufzte – »Luft und Wasser frisch und kühl sind.«

»Aha! Khitai« (ein Chinese), sagte Abdullah stolz. Fook Shing hatte ihn einmal aus seinem Laden gejagt, weil er nach dem Joß (chinesischer Götze) gespieen, der über den Stiefeln thronte.

»Pahari« (ein Bergbewohner), meinte der kleine Chota Lal.

»Ach Kind! Ein Bergbewohner, von Bergen, die Du niemals sehen wirst. Hörtest Du schon von Bhotiyal (Tibet)? Ich bin kein Khitai, aber ein Bhotiya (Tibetaner), wenn Du es wissen mußt – ein Lama – oder sage in Deiner Sprache: ein Guru.«

»Ein Guru von Tibet,« rief Kim. »So einen Mann sah ich noch nie. Sind sie Hindus in Tibet?«

»Wir sind Pilger des ›mittleren Pfades‹ und leben in Frieden in unseren Land-Klöstern; ich aber zog aus, um die Vier Heiligen Plätze zu sehen, bevor ich sterbe. Nun wißt Ihr, die Ihr Kinder seid, so viel als ich, der ich alt bin.« Er lächelte wohlwollend auf die Knaben hernieder.

»Hast Du gegessen?«

Er tappte auf seiner Brust herum und zog eine abgenutzte, hölzerne Bettelschale hervor. Die Knaben nickten. Alle Priester ihrer Bekanntschaft bettelten.

»Ich mag noch nicht essen.« Er bewegte seinen Kopf wie eine alte Schildkröte im Sonnenschein. »Ist es wahr, daß so viele Bildnisse im Wunder-Hause von Lahore stehen?« Er wiederholte die letzten Worte, wie jemand, der sich eine Adresse einprägt.

»Das ist wahr,« sagte Abdullah. »Es ist voll von heidnischen ›Buts‹. Du bist wohl auch ein Götzendiener?«

»Höre nicht auf ihn ,« sprach Kim. »Das Haus gehört der Regierung und Götzendienerei gibt es nicht darin; nur einen Sahib mit einem weißen Bart. Komm mit mir, ich will Dich führen.«

»Fremde Priester fressen Knaben,« wisperte Chota Lal.

»Und er ist ein Fremder und ein But-parast (ein Götzendiener)« sagte Abdullah, der Mohammedaner.

Kim lachte. »Er ist fremd. Lauft, versteckt Euch in Eurer Mutter Schoß, dann seid Ihr sicher. Komm!«

Kim schob sich durch das Drehkreuz am Eingang, der alte Mann folgte, blieb aber bald vor Erstaunen stehen. In der Eintrittshalle standen die größeren Figuren hellenistisch-buddhistischer Skulptur, die – Gelehrte mögen wissen vor wie langer Zeit – von vergessenen Künstlern gefertigt waren, deren Hände nicht ohne Geschick nach dem rätselhaft überkommenen griechischen Stil getastet hatten. Da waren vereinigt Hunderte von Figurenfriesen in Relief, Fragmente von Statuen und Steinplatten mit Figuren, welche die steinernen Wände der buddhistischen Stupas (bienenkorbförmige Baudenkmäler) und Viharas (Klöster) der nördlichen Gegenden bedeckt hatten, um nun, ausgegraben und etikettiert, den Stolz des Museums auszumachen. Mit staunender Bewunderung wandte der Lama sich von einem zum anderen, bis er endlich in verzückter Spannung still stand vor einem Hoch-Relief, das die Krönung oder Apotheose des Buddha wiedergab. Der »Herr« war dargestellt auf einer Lotusblume sitzend, deren Blätter so tief unterhöhlt waren, daß sie fast losgelöst erschienen. Eine anbetende Korona von Königen, Tempelältesten und Buddhas aus den Vorzeiten umgab ihn. Darunter lotusbedeckte Wasser mit Fischen und Wasservögeln. Zwei Dewas mit Schmetterlingsflügeln hielten einen Kranz über seinem Haupte; zwei andere trugen den Sonnenschirm, überragt von der juwelenstrahlenden Hauptbedeckung des Bodhisat.

»Der Herr! Der Herr! Es ist Sakya Muni selbst,« sprach der Lama mit unterdrücktem Schluchzen, und er begann mit halber Stimme die wundervolle buddhistische Anrufung:

»Zu Ihm der Weg – die Lehre groß –
Den Maya trug in ihrem Schoß
Des Segens Herr – der Bhodisat!«

»Und ›Er‹ ist hier! Das höchst vortreffliche Gesetz ist auch hier. Meine Pilgerfahrt hat günstig begonnen. Und welch‘ ein Werk! Welch‘ ein Werk!«

»Dort ist der Sahib,« sagte Kim und hüpfte zwischen den Kasten der Kunstgewerbe und Industrie-Abteilung hindurch zur Seite.

Ein weißbärtiger Engländer blickte auf den Lama hin, der ihn feierlich grüßte und nach einigem Herumtasten ein Notizbuch und einen Streifen Papier zum Vorschein brachte.

»Ja, das ist mein Name,« sprach er, lächelnd auf die plumpe, kindliche Druckschrift deutend.

»Einer von uns, der die Pilgerfahrt nach den Heiligen Plätzen gemacht – er ist jetzt Abt des Lung-Cho-Klosters – gab mir dies,« stammelte der Lama. »Er sprach zu mir von ›Diesen‹.« Seine magere Hand wies zitternd rund umher.

»Willkommen denn, Lama von Tibet. Hier sind die Götterbilder; und hier bin ich,« – er blickte in des Lamas Gesicht – »um Wissen zu sammeln. Komm mit in mein Arbeitszimmer.« Der alte Mann zitterte vor Erregung.

Das Bureau war nur ein kleiner hölzerner, von der mit Skulpturen gefüllten Galerie abgeteilter Verschlag. Kim legte sich nieder, mit dem Ohr gegen einen Riß in der von der Hitze gespaltenen Tür von Zedernholz, um, seinem angeborenen Instinkte gemäß, zu horchen und zu beobachten.

Das Hauptsächlichste des Gesprächs ging über sein Verständnis. Anfangs zögernd sprach der Lama zu dem Direktor von seinem Lama-Kloster »Suchzen«, gegenüber dem Farbigen Felsen und wohl einen viermonatlichen Marsch entfernt. Der Direktor holte ein großes Buch mit Photographien herbei und zeigte ihm das genannte, auf hoher Felsspitze thronende Kloster, das auf das Riesenthal mit den vielfach getönten Felsstufen herniederschaute.

»Ei! Ei!« Der Lama setzte eine in Horn gefaßte Brille von chinesischer Arbeit auf. »Hier ist die kleine Tür, durch die wir das Holz für den Winter tragen. Und Du – der Engländer, kennst das? Der jetzt Abt von Lung-Cho ist, sagte mir, daß Ihr es wisset, aber ich glaubte es nicht. Der Herr, der Erhabene – man ehrt ihn auch hier? Und man kennt sein Leben?«

»Es ist alles in Stein gemeißelt. Komm und schaue, wenn Du ausgeruht hast.«

Der Lama schlürfte hinaus in die Haupthalle; der Direktor schritt ihm zur Seite durch die Sammlungen mit der Andacht des Verehrers und der Hochschätzung des Kunstkenners.

Ereignis auf Ereignis in der wundervollen Geschichte bezeichnete er auf den nachgedunkelten Steinen, zuweilen selbst etwas in Verlegenheit gebracht durch die ungewohnte griechische Stilart, aber entzückt wie ein Kind bei jedem neuen Fund.

Wo die Reihenfolge unterbrochen war, wie bei der Verkündigung, ergänzte der Direktor sie mit Hilfe seiner aufgestapelten französischen und deutschen Bücher, durch Photographien und Abbildungen.

Hier war der fromme Asita, Pendant des Simeon in der christlichen Geschichte, das heilige Kind auf den Knien haltend, während die Eltern andächtig lauschten; und hier waren Vorgänge aus der Legende des Vetters Devadatta. Hier war das böse Weib, das mit schändlicher Lüge den »Herrn« der Unlautbarkeit beschuldigte – hier die Predigt im Wildpark – das Wunder, von dem die Feueranbeter überwältigt wurden – und hier der Bodhisat als Prinz im Königlichen Schmuck; die wunderbare Geburt; der Tod zu Kusinara, wo der schwache Jünger in Ohnmacht sank. Fast unzählige Wiederholungen der Meditation unter dem Bodhisat-Baum fanden sich und die Anbetung der Almosen-Schale war überall zu sehen. Nach wenigen Minuten schon wußte der Direktor, daß sein Gast kein gewöhnlicher, Rosenkranzkugeln zählender Bettler, nein, ein ganzer Gelehrter war. Und sie gingen alles noch einmal durch; der Lama schnupfend, seine Brillengläser putzend und mit Eisenbahnschnelligkeit ein wunderbares Gemisch von Urdu und Tibetanisch redend. Er hatte von den Reisen der chinesischen Pilger Fo-Hian und Hwen-Thiang gehört und war begierig zu erfahren, ob Übersetzungen ihrer Berichte existierten. Mit angehaltenem Atem wendete er hilflos die Blätter von Beal und Stanislas Julien um. »Es ist alles hier – aber für mich ein verschlossener Schatz.« Dann suchte er sich zu beruhigen, um ehrfurchtsvoll den Bruchstücken zu lauschen, die ihm rasch in Urdu wiedergegeben wurden. Zum ersten Male hörte er von den Arbeiten europäischer Gelehrten, die mit Hilfe dieser und hundert anderer Dokumente die heiligen Plätze des Buddhismus festgestellt haben. Dann wurde ihm eine mächtige Karte gezeigt, fleckig, voll gelblicher Linien. Der braune Finger folgte des Direktors Stift von Punkt zu Punkt. Da war Kapilavastu, da das Königreich der Mitte und hier Mahabodhi, das Mekka des Buddhismus; und hier war Kusiganagara, der traurige Platz von des Heiligen Tod. Der alte Mann beugte für eine Weile schweigend das Haupt über die Blätter; der Direktor zündete sich eine neue Pfeife an. Kim war eingeschlafen. Als er erwachte, war die Unterhaltung noch im Flusse, aber ihm besser verständlich.

»Und so geschah es, o Brunnen der Weisheit, daß ich beschloß, nach den Heiligen Plätzen zu pilgern, die »sein« Fuß betreten. Nach dem Geburtsplatz, selbst nach Kapila; dann nach Maha Bodhi, was Buddh Gana ist – nach dem Kloster – dem Wildpark – nach dem Platz Seines Todes.«

Der Lama senkte die Stimme. »Und ich komme allein hierher. Seit fünf, sieben, achtzehn – vierzig Jahren trage ich es in meinen Gedanken, daß das Alte Gesetz nicht wohl befolgt wird. Es ist, Du weißt es, überladen mit Teufelei, Zauberei und Götzendienst. Gerade wie das Kind da draußen eben sagten ja, wie selbst das Kind sagte, mit »But parasti«.

»So ergeht es jeder Glaubenslehre.«

»Meinst Du? Die Bücher meines Klosters habe ich gelesen, und sie waren vertrocknetes Mark: und das späte Ritual, mit dem wir vom Reformierten Gesetz uns beladen haben – auch das hatte keinen Wert in diesen alten Augen. Selbst die Jünger des »Vollkommenen« leben in beständiger Fehde miteinander. Es ist alles Wahn! Ja, Maya, Wahn! Aber ich trage ein anderes Verlangen« – das gefurchte gelbe Gesicht näherte sich ganz dicht dem des Direktors und der lange Nagel des Zeigefingers tippte auf den Tisch – »Eure Gelehrten sind in diesen Büchern den Heiligen Füßen auf allen Wanderungen gefolgt; aber es gibt Dinge, denen sie nicht nachgeforscht haben. Ich weiß nichts – nichts weiß ich – aber ich gehe mich frei zu machen von dem Rad der Dinge, auf einem offenen, breiten Wege.« – (Rad der Dinge ist ein buddhistischer Begriff der Wiederkehr alles Seienden bis zur Erlösung.) Er lächelte mit naivem Triumph. »Als Pilger nach den Heiligen Plätzen erwerbe ich Verdienst. Aber es bleibt mehr zu tun. Höre auf ein wahres Wort. Da unser gnadenreicher Herr noch ein Jüngling war und eine Lebensgefährtin suchte, meinten die Männer an Seines Vaters Hof, daß Er zu zart zur Heirat wäre. Du weißt dies?«

Der Direktor nickte, neugierig, was nun folgen sollte.

»So wurde eine dreifache Kraftprobe mit allen herankommenden Bewerbern angeordnet. Bei der Prüfung des Bogens forderte unser »Herr«, nachdem Er den ihm überreichten Bogen durchgebrochen, einen Bogen, den keiner spannen könnte. Du weißt?«

»Es steht geschrieben. Ich habe es gelesen.«

»Und alle anderen Zeichen überschießend, flog der Pfeil fern und ferner, außer Sicht. Zuletzt fiel er; und wo er die Erde berührte, da brach ein Wasserstrahl hervor, der sogleich zum Strome wurde. Und durch unseres Herrn Gnade und das Verdienst, das Er erwarb, bevor Er Sich selbst frei machte, erhielt der Strom die Eigenschaft, jede Spur und jeden Flecken von Sünde abzuwaschen von dem, der in ihm badet.«

»So steht es geschrieben«, sagte traurig der Direktor.

Der Lama tat einen liefen Atemzug. »Wo ist der Strom, o Brunnen der Weisheit? Wo fiel der Pfeil?«

»O, mein Bruder, ich weiß es nicht.«

»O nein. Du hast es wohl vergessen – das Eine nur, was Du mir nicht gesagt. Sicher, Du mußt es wissen. Sieh, ich bin ein alter Mann! Ich frage Dich – mein Haupt zwischen Deinen Füßen – o, Brunnen der Weisheit! Wir wissen, der Wasserstrahl sprang hervor! Wo denn ist der Fluß? Ein Traum hieß mich ihn finden. So kam ich. Ich bin hier. Aber wo ist der Strom?«

»Wenn ich es wüßte, denkst Du, ich würde es nicht laut hinausrufen?«

»Durch ihn,« fuhr der Lama, ohne ihn zu beachten fort, »erlangt man Befreiung vom Rad der Dinge. Der Strom des Pfeiles! Denk‘ noch einmal nach! Ein kleines Flüßchen, – mag sein – vielleicht in der Hitze vertrocknet? – Aber der Heilige würde einen alten Mann nicht so täuschen.«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«

Der Lama brachte sein tausendfach durchfurchtes Gesicht auf eine Handbreite dem des Engländers nahe.

»Ich sehe. Du weißt es nicht. Da Du der Lehre nicht angehörst, blieb Dir dieses verborgen.«

»Ach! Verborgen – verborgen.«

»Wir sind bald in Banden, Du und ich, mein Bruder. Aber ich« – er erhob sich mit einem Schwung seiner weichen, schweren Umhüllung – »ich gehe, um mich frei zu machen. Komm‘ mit!«

»Ich bin gebunden,« sagte der Kurator … Aber wohin gehst Du?«

»Erst nach Kashi (Benares), wohin sonst? Dort in dem Jaina-Tempel dieser Stadt werde ich einen von der reinen Lehre treffen. Auch er ist im Geheimen ein Sucher, und von ihm kann ich möglicherweise lernen. Kann sein, daß er mit mir nach Buddha-Gaya geht. Von da nördlich und westlich nach Kapilavastu, und da will ich nach dem Flusse suchen. Nein, überall, wohin ich gehe, will ich suchen – denn der Platz, wo der Pfeil fiel, ist nicht bekannt.«

»Und wie willst Du gehen? Es ist ein weiter Ruf bis Delhi, und weiter noch bis Benares.«

»Auf der Heerstraße und mit den Zügen. Von Pathankot, nachdem ich die Hügel verlassen, kam ich hieher in einem Zug. Er fährt schnell. Anfangs wunderte ich mich sehr über die hohen Stangen an der Seite des Weges, die die Fäden aufschnappen und aufschnappen,« er erläuterte pantomimisch das scheinbare Neigen und Wirbeln der Telegraphenstangen, wenn der Zug vorbeisaust. »Aber später, ich saß so zusammengepfercht, ich wünschte, ich hätte gehen können, wie ich es gewohnt bin.«

»Und kennst Du Deinen Weg denn sicher?« fragte der Direktor.

»O, was das betrifft, ich brauche nur zu fragen und Geld zu zahlen; die angestellten Personen befördern jeden nach dem bestimmten Platz. Das wußte ich schon in der Lamaserai aus sicherer Quelle,« sagte mit Stolz der Lama.

»Und wann willst Du fort?« Der Direktor lächelte über diese Mischung von altweltlicher Frömmigkeit und modernem Fortschritt, wie sie jetzt für Indien so bezeichnend ist.

»Sobald als möglich. Ich folge den Spuren Seines Lebens, bis ich zu dem Strom des Pfeiles komme. Es gibt indes ein geschriebenes Papier von den Stunden der Züge, die südwärts gehen.«

»Und Deine Nahrung?« Lamas führen in der Regel einen guten Vorrat an Geld irgendwo bei sich, aber der Direktor wünschte sich davon zu überzeugen.

»Auf der Reise trage ich die Bettelschale wie unser Meister. Ja. So wie Er ging, so gehe ich, mit Verzicht auf meines Klosters Versorgung. Da ich die Hügel verließ, hatte ich einen Chela (Schüler) bei mir, der, wie es die Regel erfordert, für mich bettelte; aber in Kulu, wo wir eine Weile hielten, ergriff ihn ein Fieber und er starb. Ich habe nun keinen Chela, aber ich will die Almosenschale tragen und den Mildtätigen Gelegenheit bieten, Verdienst zu erwerben.« Er nickte tapfer mit dem Kopf. Gelehrte Doktoren einer Lamaserai betteln nicht; aber der Lama war in diesem Punkte Idealist.

»Sei es so,« sagte lächelnd der Direktor. »Gönne mir nun, Dir einen Dienst zu erweisen. Wir beide sind Kollegen, Du und ich. Hier ist ein neues Buch, von weißem, englischem Papier, hier sind gespitzte Bleistifte, zwei und drei, dicke und dünne – alle gut für einen Schreiber. Nun erlaube mir noch Deine Brille.«

Der Direktor sah durch die Gläser. Sie waren arg zerschrammt, aber die Stärke fast genau wie die seiner eigenen Brille, welche er in des Lamas Hand gleiten ließ mit den Worten: »Versuche diese.«

»Eine Feder! Wahrhaftig, so leicht wie eine Feder auf dem Gesicht!« Der alte Mann bewegte entzückt den Kopf und runzelte die Nase aufwärts. »Kaum fühle ich sie. Wie klar ich sehe!«

»Die Gläser sind Bilaur (Krystall) und werden niemals schrammig. Mögen sie Dir zu Deinem Flusse helfen, sie sind Dein!«

»Ich will sie nehmen, und die Stifte auch und das weiße Buch, als Zeichen der Freundschaft zwischen Priester und Priester – und nun« – er tappte an seinem Gürtel herum, löste den eisernen Federbehälter von durchbrochener Arbeit los und legte ihn auf des Direktors Tisch. »Das soll ein Zeichen der Erinnerung sein zwischen Dir und mir – mein Federbehälter. Es ist etwas Altes – so wie ich bin.«

Es war eine Arbeit von altem Muster, chinesisch, von einem Eisen, wie es jetzt nicht mehr gegossen wird; und das Sammlerherz in des Direktors Brust hatte sie vom ersten Augenblick an ersehnt. Um keinen Preis wollte der Lama seine Gabe zurücknehmen.

»Wenn ich zurückkehre und den Fluß gefunden habe, will ich Dir ein geschriebenes Bild von der ›Padma Samthora‹ (heilige Lotosblume) bringen – so wie ich es in der Lamaserai auf Seide zu machen pflegte. Ja – und von dem Rad des Lebens,« sprach er mit halb unterdrücktem Lachen, »denn wir beide sind Kunstkenner, Du und ich.«

Der Kurator hätte ihn gern noch zurückgehalten; denn es gibt nur wenige in der Welt, die noch das Geheimnis der althergebrachten buddhistischen Pinselfederdarstellungen besitzen, die halb geschrieben, halb gezeichnet sind. Aber der Lama schritt bereits weitausgreifend und das Haupt hoch in der Luft, hinaus, stand einen Augenblick noch still vor der großen Statue eines Bodhisat in Meditation und schob sich sodann durch das Drehkreuz.

Kim folgte ihm wie sein Schatten. Was er erlauscht, hatte ihn wild erregt. Dieser Mann war ihm, trotz aller Erfahrung, vollständig neu und er wollte ihn weiter ergründen, genau so wie er ein neues Gebäude oder eine unbekannte Festlichkeit in Lahore ausspionierte. Der Lama war sein Fund und er wollte Besitz von ihm ergreifen. Kims Mutter war nicht umsonst eine Irländerin.

Der alte Mann hielt inne bei Zam-Zammah und schaute sich um, bis sein Auge auf Kim fiel. Der Enthusiasmus seiner Pilgerfahrt war für den Augenblick gedämpft; er fühlte sich verlassen, alt und sehr hungrig.

»Nicht unter der Kanone sitzen!« fuhr ihn der Polizist grob an.

»Hu! Du Eule!« war Kims Erwiderung an des Lamas Stelle. »Setze Dich nur unter die Kanone, wenn es Dir so gefällt. Wann hast Du der Milchfrau die Pantoffeln gestohlen, Dunnoo?«

Das war eine ganz grundlose, der Eingebung des Augenblickes entsprungene Beschuldigung; aber sie machte Dunnoo verstummen, der wußte, daß Kims gellende Stimme Legionen von bösen Bazar-Buben herbeirufen Konnte, wenn’s Not tat.

»Und wen hast Du angebetet da drinnen?« frug Kim leutselig, indem er sich im Schalten neben dem Lama niederkauerte.

»Ich betete keinen an, Kind. Ich verneigte mich vor dem Vortrefflichen Gesetz.«

Kim akzeptierte diese neue Gottheit ohne Gemütsbewegung. Er kannte schon eine gehörige Anzahl.

»Und was willst Du nun tun?«

»Ich bettle. Ich entsinne mich nun, es ist lange her, daß ich aß und trank. Wie ist der Brauch in dieser Stadt, wenn man Mildtätigkeit sucht? Tut man es schweigend, wie in Tibet, oder mit Worten?«

»Die mit Schweigen betteln, verhungern im Schweigen,« antwortete Kim, ein landesübliches Sprichwort anführend. Der Lama versuchte sich zu erheben, sank aber zurück und klagte um seinen Schüler, der in weiter Ferne, in Kulu, gestorben war. Den Kopf zur Seite, beobachtete Kim überlegend und interessiert.

»Gib mir die Schale. Ich kenne die Leute in dieser Stadt, alle, die barmherzig sind. Gib mir die Schale, ich bringe sie Dir gefüllt zurück.« Einfach wie ein Kind, reichte der alte Mann ihm die Schale.

»Ruhe Du. Ich kenne meine Leute.«

Er trottete fort zu der offenen Bude einer Kunjri-Gemüsehändlerin niederer Kaste, die gegenüber der Straßenbahnlinie am Motti-Bazar stand. Die Frau kannte Kim lange genug.

»Oho« rief sie, »bist Du ein Pogi geworden, mit Deiner Bettlerschale?«

»Nein,« sagte Kim stolz. »Es ist ein fremder Priester in der Stadt – ein Mann, wie ich noch nie einen sah.«

»Alter Priester – junger Tiger,« sprach das Weib ärgerlich. »Ich hab‘ die fremden Priester satt! Die fallen wie Fliegen über unsere Ware her. Ist der Vater meines Sohnes ein Brunnen der Barmherzigkeit, um allen zu geben, die betteln?«

»Nein,« antwortete Kim: »Dein Mann ist mehr ein Pagi (Brummbär) als ein Pogi (heiliger Mann). Aber dieser Priester ist neu. Der Sahib in dem Wunderhaus sprach zu ihm wie ein Bruder. O, meine Mutter, fülle mir die Schale! Er wartet!«

»Diese Schale? Meinst Du? Die hat ja einen Bauch wie eine Kuh. Du bist nicht besser als der heilige Stier des Shiwa; der hat mir heute früh schon das Beste von einem Korb voll Zwiebeln aufgefressen, und dann soll ich noch Deine Schale füllen? Da kommt er schon wieder.«

Der ungeheure, mausgraue Brahmini-Stier schob sich mit auf- und niederschaukelnden Schultern durch die vielfarbige Menge, ein gestohlenes Bananenbüschel im Maule. Er hielt gerade auf die Bude zu, sich seiner Privilegien als geheiligtes Tier wohl bewußt, senkte den Kopf und schnüffelte heftig an der Reihe von Körben herum, ehe er seine Wahl traf. Da flog Kims holzbeschuhter kleiner Fuß in die Luft und traf ihn auf die feuchte blaue Schnauze. Er grunzte ärgerlich und stapfte über die Bahnschienen zurück; sein Widerrist zitterte vor Wut.

»Sieh, ich habe Dir mehr gespart, als es kostet, wenn Du die Schale dreimal füllst. Nun, Mutter, ein wenig Reis und getrockneter Fisch obenauf – ja, und etwas Curry-Gemüse.«

Ein Knurren kam aus dem Hintergrund der Bude, wo der Mann lag.

»Er hat den Stier vertrieben,« sagte die Frau halblaut. »Es ist gut, den Armen zu geben.« Sie nahm die Schale und gab sie, mit heißem Reiß gefüllt, zurück.

»Aber mein Pogi ist keine Kuh,« sagte Kim ernsthaft, mit seinen Fingern ein Loch in den Reisberg machend. »Ein wenig Curry ist gut, und ein gebackener Kuchen und etwas eingemachte Frucht würden ihm behagen.«

»Das Loch ist so groß wie Dein Kopf,« sprach murrend das Weib. Aber sie füllte es trotzdem mit gutem, heißem Currygemüse, klappte einen getrockneten Kuchen oben darauf mit einem Stückchen geklärter Butter, legte ein Häufchen Tamarinden-Konserve an die Seite – und Kim betrachtete wohlgefällig die Ladung.

»So ist’s gut, wenn ich im Bazar bin, soll der Ochs nicht wieder an diese Bude kommen. Er ist ein frecher Bettelmann.«

»Und Du?« lachte die Frau. »Aber sprich nicht schlecht von Ochsen. Hast Du mir nicht gesagt, daß eines Tages ein Roter Ochse aus einem Felde kommen wird, um Dir zu helfen? Nun halte alles gerade und fordere des heiligen Mannes Segen für mich. Vielleicht weiß er auch ein Mittel, die kranken Augen meiner Tochter zu heilen? Fordere auch dies, Du kleiner Allerweltsfreund.«

Doch Kim war fortgetanzt vor dem Ende dieser Rede, herrenlosen Hunden und hungrigen Bekanntschaften aus dem Wege gehend.

»So betteln wir, die wir die Sache verstehen, sprach er stolz zu dem Lama, der die gefüllte Schale erstaunt betrachtete. »Iß nun und – ich will mit Dir essen. Heda! Bhisti!« er rief dem Wasserträger, der die Erotons (Krebsblumen) bei dem Museum begoß, »bring‘ Wasser. Wir Männer sind durstig.«

»Wir Männer!« lachte der Bhisti. »Ist ein voller Schlauch genug für so ein Paar? Trinkt denn, im Namen des Erbarmers.«

Er goß einen dünnen Strahl in Kim’s Hände, der nach Landessitte trank. Der Lama aber zog einen Becher aus seinem unerschöpflichen Obergewand und trank mit Feierlichkeit.

»Pardesi (ein Fremdling),« erklärte Kim, als der alte Mann in unbekannter Sprache etwas sagte, was offenbar ein Segen war.

Sie schmausten zufrieden zusammen, bis die Bettelschale geleert war. Dann schnupfte der Lama aus einem schwerfälligen, kürbisförmigen Holzgefäß, ließ seinen Rosenkranz eine Weile durch die Finger gleiten und fiel, als der Schatten von Zam-Zammah länger wurde, in den leisen Schlaf des Alters.

Kim bummelte zu der nächsten Tabakhändlerin, einer jungen, lebhaften Mohammedanerin hinüber und erbettelte sich eine ordinäre Zigarre, von der Sorte, wie sie den Studenten der Punjabi-Universitat, die englischen Brauch kopieren, verkauft werden. Dann rauchte er und, mit hochgezogenen Knieen unter dem Bauch der Kanone sitzend, dachte er nach. Das Resultat dieses Nachdenkens war ein rasches verstohlenes Hinhuschen nach der Richtung von Nila Rams Zimmerplatz.

Der Lama erwachte erst, als das abendliche Leben der Stadt begann mit Lampenanzünden und Rückkehr der weißgekleideten Ober- und Unterbeamten aus dem Gouvernement-Bureau. Verwirrt blickte er nach allen Seiten: niemand aber beachtete ihn, außer einem Hinduknirps in isabellfarbenem Gewand und schmutzigem Turban. Wehklagend beugte der Lama den Kopf auf die Kniee.

»Was ist los?« fragte der Knabe, vor ihm stehen bleibend. »Bist Du beraubt worden?«

»Ach, mein neuer Chela, er ist von mir gegangen: ich weiß nicht, wo er ist.«

»Und welch‘ eine Art Mensch war Dein Schüler?«

»Er war ein Knabe, der zu mir kam an Stelle dessen, der mir gestorben. Wohl weil ich Verdienst erworben, indem ich mich vor dem Gesetz verbeugte da drinnen.« Er wies nach dem Museum hin. »Er kam zu mir und zeigte mir den Weg, den ich verloren. Er leitete mich in das Wunderhaus und ermutigte mich durch seinen Zuspruch, mit dem Wächter der Götterbilder zu reden: das machte mich heiter und stark. Und als ich matt vor Hunger war, da bettelte er für mich, wie ein Chela für seinen Lehrer. Plötzlich ward er mir gesendet. Plötzlich ist er verschwunden. Und ich gedachte, ihn in dem Gesetz zu unterrichten, auf dem Wege nach Benares!«

Kim stand verwundert da. Er halte das Gespräch im Museum belauscht und wußte, daß der alte Mann nur Wahrheit redete. Und Wahrheit ist etwas, das ein Eingeborener selten einem Fremden darbietet.

»Aber ich sehe nun, er war mir nur zu bestimmtem Zweck gesendet; und ich weiß dadurch, daß ich einen gewissen Fluß, den ich suche, finden werde.«

»Den Fluß des Pfeiles,« sprach Kim mit überlegenem Lächeln.

»Ist dies abermals eine Sendung?« rief der Lama. Zu niemand sprach ich von dem, was ich suche, außer zu dem Priester der Götterbilder. Wer bist Du?«

»Dein Chela,« sagte Kim einfach auf den Hacken kauernd. »Niemals in meinem ganzen Leben habe ich einen Mann, wie Du es bist, gesehen. Ich gehe mit Dir nach Benares. Und, außerdem denke ich, daß ein so alter Mann, der zu jedem, der ihm zufällig begegnet, die Wahrheit spricht, stets eines Chela benötigt.«

»Aber der Strom – der Strom des Pfeiles?«

»O, das hörte ich, als Du mit dem Engländer redetest. Ich lehnte an der Türe.«

Der Lama seufzte. »Ich dachte, Du wärest ein Führer, mir geschenkt. Solches geschieht zuweilen – aber ich bin wohl nicht würdig. Du also kennst den Fluß nicht? –«

»Nicht ich.« Kim lachte etwas verlegen. »Ich gehe mit, um auszuschauen nach – nach einem Roten Ochsen auf einem Grünen Feld, der mir helfen soll.« Nach Knabenart hatte Kim, wenn ein Bekannter einen Plan hatte, gleich einen für sich selbst zur Stelle; und wirklich hatte er auch ein Viertelstündchen lang ernsthaft in seinem Knabensinn über seines Vaters Prophezeiung nachgedacht.

»Helfen zu was, Kind?«

»Gott weiß, aber mein Vater sagte mir so. Ich hörte Deine Rede in dem Wunderhaus von all den neuen fremden Orten in den Bergen; und wenn einer, der so alt und so wenig … so gewohnt ist, die Wahrheit zu sprechen – auszieht, um eine solche Kleinigkeit wie einen Fluß zu suchen, so schien es mir, daß auch ich auf die Reise gehen müßte. Wenn es unser Schicksal ist, die Dinge zu finden, so werden wir sie finden – Du Deinen Fluß und ich meinen Ochsen – und die hohen Säulen und noch andere Dinge; die ich vergessen habe.«

»Es sind keine Säulen, aber ein Rad, von dem ich frei werden wollte.«

»Das ist alles einerlei. Vielleicht machen sie mich zum König,« sagte Kim, in heiterer Bereitschaft für alles.

»Ich will Dich andere und bessere Wünsche lehren auf unserem Wege,« sprach würdevoll der Lama. »Laß uns nach Benares gehen.«

»Nicht bei Nacht. Es streifen Diebe umher, warte bis es Tag ist.«

»Aber ich habe keinen Platz zum Schlafen.« Der alle Mann, an die Ordnung seines Klosters gewöhnt, wenn er auch auf der Erde schlief, wie es die Regel war, begehrte doch in solchen Sachen etwas Wohlanständigkeil.

»Wir werden in der Kashmir-Herberge gutes Quartier finden,« meinte Kim, über die Verlegenheit des Lama lachend. »Ich habe dort einen Freund. Komm!«

Die heißen, vollen Bazare waren grell erleuchtet, als sie sich ihren Weg durch das Gedränge aller Rassen Ober-Indiens bahnten, und der Lama wandelte hindurch wie im Traum. Es war seine erste Erfahrung von einer großen, gewerbetreibenden Stadt. Die überfüllten Tramwagen mit den ewig kreischenden Bremsen erschreckten ihn. Halb geschoben, halb gezogen gelangte er an das hohe Gitter der Kashmir-Herberge, den ungeheuren quadratischen Platz gegenüber der Eisenbahnstation, umgeben vom gewölbten Kreuzgange, wo die Kamel- und Pferde-Karawanen bei der Rückkehr von Zentral-Asien einkehren. Hier waren Vertreter aller Stämme, angebundene Ponies und knieende Kamele versorgend, Ballen und Bündel auf- und abladend, Wasser zur Abendmahlzeit mit kreischenden Brunnenwinden heraufholend; vor den schreienden, wildäugigen Hengsten Gras aufhäufend, die knurrenden Karawanenhunde prügelnd, Kameltreiber bezahlend, neue Knechte anwerbend, schreiend, fluchend, streitend, feilschend auf dem vollgedrängten Platze. Die Kreuzgänge, durch drei oder vier gemauerte Stufen erhöht, bildeten den Zufluchtshafen in diesem stürmischen Meer. Die meisten der Gänge waren an Händler vermietet, so wie wir die Bogen eines Viaduktes vermieten. Die Plätze zwischen Säule und Säule waren mit Planken zu Kammern abgeteilt und diese durch schwere Holztüren mit plumpen Vorlegeschlössern von einheimischer Arbeit geschützt. Verschlossene Türen zeigten an, daß der Besitzer abwesend und einige roh – zuweilen sehr roh – gemalte oder mit Kalk geschmierte Striche sagten, wohin er gegangen. Ungefähr so:

»Lutuf Ullah ist nach Kurdistan gereist.« Darunter vielleicht in groben Versen: »O, Allah, der Du leidest, daß Läuse auf dem Rock eines Kabuli leben, warum erlaubst Du, daß diese Laus Lutuf so lange lebt?«

Kim, der den Lama zwischen aufgeregten Menschen und aufgeregten Tieren hindurch gängelte, hielt sich bis ans äußerste Ende seitwärts der Bogengänge nächst der Eisenbahnstation, wo Mahbub Ali, der Pferdehändler hauste, wenn er hereinkam von jenem geheimnisvollen Land, jenseits der Pässe des Nordens.

Kim hatte während seines jungen Lebens mit Mahbub schon mancherlei zu tun gehabt – hauptsächlich zwischen seinem zehnten und dreizehnten Jahre; und der große stämmige Afghane, der seinen Bart scharlachrot färbte (denn er war ältlich und wollte seine grauen Haare nicht zeigen). Kannte des Knaben Wert, was das Stadtgeschwätz betraf. Zuweilen gab er Kim den Auftrag, einen Mann, der durchaus nichts mit Pferden zu tun hatte, zu beobachten, ihm den ganzen Tag zu folgen und von jedem Menschen, mit dem er sprach, zu berichten. Kim machte am Abend seinen Bericht und Mahbub lauschte ohne Wort und Bewegung. Es handelte sich um irgend eine Intrigue. Kim wußte das, aber er wußte auch, daß ihr Wert darauf beruhte, daß er zu keinem Menschen außer Mahbub davon redete. Mahbub gab ihm dafür wundervolle Mahlzeiten, ganz heiß aus der Garküche in der Ecke der Herberge, und einmal sogar acht Anna in Gold.

»Er ist da,« sprach Kim, ein bösartiges Kamel auf die Nase knuffend. »Heda, Mahbub Ali!« Er hielt vor einem dunklen Bogen und schlüpfte hinter den erschrockenen Lama.

Der Pferdehändler, der seinen hohen gestickten Bokhaiiot-Gürtel gelöst hatte, lag, träge an einer immensen silbernen Hookah (Wasserpfeife) ziehend, auf einem Paar Satteltaschen aus Seidenteppichen. Er wendete bei dem Ruf ein wenig den Kopf, und da er nur die hohe schweigende Gestalt sah, lachte er halblaut in seinen Bart.

»Allah! Ein Lama! Ein Roter Lama! Es ist weit von Lahore zu den Pässen, was willst Du hier?«

Der Lama hielt mechanisch die Bettelschale hin.

»Gottes Verdammnis über alle Ungläubigen!« rief Mahbub. »Ich gebe keinem lausigen Tibetaner etwas. Bettle bei meinen Baltis da drüben hinter den Kamelen; die wissen vielleicht Deinen Segen zu würdigen. He! Pferdejungen, hier ist ein Landsmann von Euch, fragt, ob er hungrig ist.«

Ein glattköpfiger, gebeugter Balti, der mit den Pferden herunter gekommen und angeblich eine Art degradierter Buddhist war, grinste dem Priester entgegen und bat in tiefen Kehllauten den Heiligen, sich an das Feuer der Pferdejungen zu setzen.

»Gehe,« sagte Kim, ihn leicht fortschiebend, und der Lama schritt dahin und ließ Kim an der Kante des Kreuzganges zurück.

»Geh,« sagte auch Mahbub Ali, zu seiner Hookah zurückkehrend. »Kleiner Hindu, mach‘ Dich fort, Verdammnis auf alle Ungläubigen! Bettle bei den Leuten meiner Gefolgschaft, die Deines Glaubens sind.«

»Maharaj,« jammerte Kim, sich der Hindu Anrede bedienend und sich höchlich amüsierend, »mein Vater ist tot, meine Mutter ist tot, mein Magen ist leer.«

»Bettle bei meinen Pferdejungen, sage ich. Es müssen auch Kinder unter meinen Leuten sein.«

»O, Mahbub Ali, bin ich denn ein Hindu?« sagte Kim auf englisch.

Der Händler gab kein Zeichen des Erstaunens. Er blinzelte nur unter seinen zottigen Brauen.

»Kleiner Allerweltsfreund,« sagte er, »was soll das bedeuten?«

»Nichts. Ich bin jetzt der Schüler dieses heiligen Mannes, und wir pilgern zusammen nach Benares, sagte er. Er ist ganz verrückt und ich habe die Stadt Lahore satt. Ich sehne mich nach anderer Luft und Wasser.«

»Aber für wen arbeitest Du? Warum kommst Du zu mir?« Die Stimme war rauh vor Argwohn. »Zu wem sonst sollte ich gehen? Ich habe kein Geld. Ohne Geld ist schlecht reisen. Du wirst den Offizieren viele Pferde verkaufen. Es sind sehr feine Pferde diese neuen, ich sah sie mir an. Gib mir eine Rupie, Mabbub Ali, ich will Dir einen Schuldschein geben und bezahlen, wenn ich zu meinem Reichtum komme.

»Hm,« machte Mahbub Ali, nach kurzem Bedenken. »Du hast mich noch nie belogen. Rufe den Lama – und ziehe Dich zurück in die Dunkelheit.«

»O, wir reden eine Sprache,« lachte Kim.

»Wir gehen nach Benares,« sprach der Lama, sobald er verstand, wo hinaus Mahbub Alis Fragen zielten. »Ich und der Knabe. Ich, um einen gewissen Fluß zu suchen.«

»Mag sein – aber der Knabe?«

»Er ist mein Schüler. Er ward mir gesendet, so glaube ich, um mich zu dem Strom zu leiten. Unter einer Kanone saß ich, als er plötzlich zu mir trat. So etwas ist wohl Glücklichen, denen Führung gewährt wurde, zuteil geworden. Aber ich besinne mich jetzt, er sagte: er wäre von dieser Welt – ein Hindu.«

»Und sein Name?«

»Nach dem fragte ich nicht. Ist er nicht mein Schüler?«

»Sein Heimatland, seine Rasse, sein Dorf, – Muselmann – Sikh – Jaina – niedere Kaste oder hohe?«

»Warum sollte ich fragen? Auf dem mittleren Pfade gibt es weder hoch noch niedrig. Da er mein Chela ist. Kann jemand ihn mir nehmen? Denn siehe! Ohne ihn werde ich meinen Fluß nicht finden.« Er wiegte feierlich sein Haupt.

»Niemand soll ihn Dir nehmen. Gehe, setze Dich zu meinen Baltis,« sprach Mahbub Ali, und der Lama, beruhigt durch dies Versprechen, trottete fort.

»Ist er nicht ganz verrückt?« fragte Kim, wieder vorwärts ins Licht tretend. »Warum sollte ich Dich belügen, Hadje?«

Mahbub paffte schweigend an seiner Hookah. Dann begann er, fast flüsternd: »Umballa liegt auf dem Wege nach Benares – wenn wirklich Ihr beiden dahin geht –«

»Tck! Tck! Ich sage Dir, er versteht nicht zu lügen, wie wir beide es verstehen.«

»Und wenn Du eine Botschaft bis Umballa für mich befolgen willst, werde ich Dir Geld geben. Es betrifft ein Pferd – einen weißen Hengst – den ich einem Offizier auf meiner letzten Rückkehr von den Pässen verkaufte. Aber damals – tritt näher und halte Deine Hände empor, als ob Du betteltest – damals war das Pedigree des weißen Hengstes noch nicht vollständig festgestellt: und der Offizier, der jetzt in Umballa ist, forderte von mir, daß das klargestellt würde.« (Mahbub beschrieb nun das Pferd und das Äußere des Offiziers.) »Also, die Botschaft an den Offizier lautet: »Das Pedigree des weißen Hengstes ist vollständig festgestellt.« Dann wird er wissen, daß Du von mir kommst. Er wird dann fragen: »Welchen Beweis hast Du? Und Du wirst antworten: »Mahbub Ali hat mir den Beweis gegeben.«

»Und das alles um einen weißen Hengst,« kicherte Kim, aber mit flammenden Augen.

»Den Stammbaum will ich Dir jetzt geben in meiner eigenen Weise und etwas Schelten dazu.« Ein Schalten huschte hinter Kim vorbei und ein käuendes Kamel. Mahbub Ali hob die Stimme:

»Allah! Bist Du der einzige Bettler in der Stadt? Deine Mutter ist tot. Dein Vater ist tot. So sprechen sie alle. Na, na« – Er drehte sich um, als fühle er nach etwas auf dem Fußboden neben sich, und warf dem Knaben ein Stück weiches, fettiges, muselmännisches Brot zu. »Gehe nun und lege Dich für diese Nacht zu meinen Pferdejungen, Du und der Lama. Morgen vielleicht werde ich Dich in Dienst nehmen.« Kim schlich sich fort, die Zähne in dem Brot, und wie er erwartet, fand er ein kleines Päckchen zusammengefalteten Papieres, eingewickelt in Wachstafft, nebst 3 Silber-Rupien – eine enorme Großmut!

Er lächelte und schob Geld und Papier in sein ledernes Amulett-Etui. Der Lama, von Mahbubs Baltis reichlich bewirtet, schlief schon in einem Winkel der Ställe. Kim legte sich neben ihn und lachte. Er wußte, daß er Mahbub Ali einen Dienst erwies, und nicht einen Augenblick glaubte er an das Märchen von des Hengstes Stammbaum.

Aber Kim ahnte nicht, daß Mahbub Ali, bekannt als einer der besten Pferdehändler im Punjab, als reicher und unternehmender Handelsmann, dessen Karawanen tief ins Innere weltferner Länder eindrangen, eingeschrieben war in eins der Geheimbücher des indischen Überwachungs-Departements, als C. 25 I. B. Zwei oder dreimal jährlich pflegte C. 25 eine kleine Geschichte einzusenden, trocken erzählt, aber sehr interessant, und in den meisten Fällen erwies sich diese – durch Bestätigung von R. L. 7 und M. 4 – als ganz wahr. Die Geschichten betrafen alle möglichen abgelegenen Gebirgs-Fürstentümer, Forschungsreisende von nicht englischer Nationalität, den Handel mit Waffen – davon handelte, kurz gesagt, ein Teil jener großen Masse von übermittelten Informationen, nach denen das indische Gouvernement seine Maßregeln trifft. Aber kürzlich waren fünf verbündete Könige, höchst überflüssiger Weise verbündet, durch eine freundliche Macht des Nordens unterrichtet worden, daß Neuigkeiten aus ihren Territorien nach Britisch Indien durchsickerten. Die Premierminister dieser Könige waren ernstlich erzürnt und taten ihre Schritte nach orientalischer Weise. Unter vielen anderen hatten sie den unverschämten, rotbärtigen Roßhändler in Verdacht, dessen Karawanen, bis zum Bauch im Schnee, ihre Bergvesten durchfurchten. Wenigstens war seine Karawane vor kurzer Zeit auf dem Wege niederwärts zweimal überfallen und beschossen worden, wie Mahbubs Leute angaben, von drei fremden Strolchen, die zu dieser Leistung gedungen oder auch nicht gedungen sein konnten. Deshalb hatte Mahbub vermieden, sich in der ungesunden Stadt Peshawur aufzuhalten, und war ohne Zeitverlust durchmarschiert nach Lahore, wo er, der seine Landsleute kannte, auf merkwürdige Ereignisse vorbereitet war.

Und Mahbub Ali barg etwas bei sich, das er nicht eine Stunde länger als nötig zu behalten wünschte, ein Päckchen dicht zusammen gefaltetes Faserpapier, in Wachstaffet eingewickelt, einen unpersönlichen, nicht adressierten Bericht mit fünf mikroskopisch kleinen Löchern in einer Ecke, der die fünf verbündeten Könige, die freundlich gesinnte nordische Macht, einen Hindu-Bankier in Peshwaur, die Firma einer Waffenfabrik in Belgien und einen halb unabhängigen, wichtigen, mohammedanischen Regenten des Südens aufs Schmählichste verriet. Dieses letzte war das Werk von R. 17, welches Mahbub jenseits des Dora-Passes an sich nahm und für R. 17 weiter trug, da dieser, Umstände halber, über die er keine Macht hatte, seinen Beobachtungsposten nicht verlassen konnte. Dynamit war mild und harmlos neben diesem Rapport von C. 25, und selbst ein Orientale mit eines Orientalen Ansichten über den Wert der Zeit mußte sich sagen, daß der Bericht je früher je besser in den richtigen Händen sein mußte. Mahbub hatte keinen besonderen Wunsch, auf gewaltsame Weise zu sterben, weil zwei oder drei Familien-Blutfehden jenseits der Grenze noch unerledigt an seinen Händen hingen. Er beabsichtigte, sobald diese Schuld beglichen, sich als mehr oder weniger tugendhafter Bürger zur Ruhe zu setzen. Seit seiner Ankunft vor zwei Tagen hatte er das Gitter der Karawanen-Herberge noch nicht durchschritten, wohl aber ostentativ Telegramme versendet nach Bombay, wo er etwas Geld auf der Bank hatte, nach Delhi, wo ein untergeordneter Geschäftsteilhaber von einem Clan Pferde verkaufte an den Agenten eines Rajputana Staates, und nach Umballa, wo ein Engländer dringend den Stammbaum eines weißen Hengstes forderte. Der öffentliche Briefschreiber, der englisch verstand, verfaßte ausgezeichnete Telegramme, wie: – »Creighton, Laurel-Bank, Umballa-Pferd ist Araber wie bereits gemeldet. Bedaure Stammbaum Verzögerung, welchen übersetze.« Und später an dieselbe Adresse: »Bedauere sehr Verzögerung. Sende Stammbaum ab.« Seinem Unterpartner in Delhi drahtete er: »Lutuf Ullah. Drahtete 2000 Rupien Eurem Conto, Luchmann Narains Bank.« Das war alles ganz kaufmännisch, aber jedes dieser Telegramme wurde besprochen und wieder besprochen von Leuten, die sich für berechtigt hielten, die Telegramme zu lesen, bevor sie aus den Händen eines einfältigen Balti, der sie unterwegs alle möglichen Leute lesen ließ, zur Station gelangten.

Als Mahbub in seiner eigenen bilderreichen Sprache so den Brunnen der Nachforschung mit dem Stab der Vorsicht getrübt hatte, kam ihm Kim wie vom Himmel gesendet in den Weg, und gewöhnt, die geringsten Chancen zu nutzen, nahm er diesen, ebenso rasch entschlossen wie gewissenlos, in Dienst.

Ein wandernder Lama mit einem knabenhaften Diener niederer Kaste konnte wohl ein augenblickliches Interesse erregen auf der Pilgerfahrt nach Indien, dem Land der Pilger, aber verdächtigen würde man sie nicht, noch, was wichtiger war, berauben.

Er rief nach frischem Feuer für seine Hookah und überlegte noch einmal. Wenn im schlimmsten Falle der Knabe zu Schaden käme, konnte das Papier niemanden ernstlich kompromittieren, er würde zu passender Zeit nach Umballa gehen und mit geringem Risiko, daß neuer Verdacht entstünde, seine Geschichte mündlich den betreffenden Personen übermitteln. Aber der Rapport von R. L. 7 war der Kernpunkt der ganzen Sache, und käme er nicht in die rechten Hände, konnte das außerordentlich störend werden. Immerhin, Gott war groß, und Mahbub Ali war sich bewußt, alles, was möglich war, getan zu haben. Kim war das einzige Wesen in der Welt, das ihm niemals eine Lüge vorgebracht hatte. Das wäre nun ein fataler Fleck auf Kims Charakter gewesen, hätte Mahbub nicht gewußt, daß er in seinen eigenen Angelegenheiten andere Leute anlog wie nur irgendein Orientale.

So machte sich denn Mahbub Ali auf, quer durch die Herberge bis zu der Pforte der Harpyen, die ihre Augen malen und die Fremdlinge in ihren Netzen fangen. Nicht ohne Mühe fand er das Mädchen, das, wie er vermutete, die spezielle Freundin eines bartlosen Pundit von Kashmir war, der seinem dummen Balti mit den Telegrammen aufgelauert hatte. Es war ein ganz törichtes Unternehmen: denn alsbald fingen sie an, gegen des Propheten Gesetz, parfümierten Branntwein zu trinken, und Mahbub war bald glänzend betrunken. Die Gitter seines Mundes waren gelöst, er verfolgte die Blume des Entzückens mit den Füßen des Rausches, bis er platt auf die Polster fiel, wo dann die Blume des Entzückens mit Hilfe eines bartlosen Pundit von Kashmir ihn vom Kopf bis zu den Füßen gründlich durchsuchte.

Um dieselbe Stunde ungefähr hörte Kim in Mahbubs verlassener Abteilung leise Tritte schallen. Der Roßhändler hatte, sonderbar genug, seine Tür nicht verschlossen, und seine Leute waren vollauf beschäftigt, das ganze Schaf, das Mahbub großmütig zur Feier der Rückkehr gespendet, zu verzehren. Ein geschmeidiger junger Gentleman aus Delhi untersuchte mit Hilfe eines Schlüsselbundes, welche die Blume von des sinnlos Betrunkenen Gürtel losgehakt hatte, jeden Koffer und Ballen, Bündel und Satteltaschen in Mahbubs Besitz noch systematischer, als die Blume und der Pundit den Besitzer selbst.

»Und mir scheint,« sagte die Blume eine Stunde später verächtlich, den runden Ellbogen auf den schnarchenden Körper gestützt, »er ist nichts weiter als ein Schwein von Afghanischem Roßhändler, das nur an Weiber und Pferde denkt. Übrigens – er mag es fortgeschickt haben – wenn es überhaupt da war.«

»Nein – ein Ding, das fünf Könige betrifft, würde er nächst seinem schwarzen Herzen aufbewahren,« sprach der Pundit. »Hast Du nichts gefunden?« fragte er den Delhi-Mann, der lachend den Turban zurechtrückte, als er eintrat. »Ich durchsuchte die Sohlen seiner Pantoffeln, wie die Blume seine Kleider. Dies ist nicht der Mann. Es muß ein anderer sein. Ich lasse nichts unbesehen.«

»Sie sagten nicht, er ist der rechte Mann,« sprach nachdenklich der Pundit. »Sie sagten, sehet zu, ob es der Mann ist, da unsere Nachrichten nicht klar sind.«

»Der Norden ist so voll von Pferdehändlern wie ein alter Rock von Läusen. Da ist Sikhandar-Khan, Nur Ali Beg und Farrukh Shah – alle Führer von Karawanen – die dort Geschäfte machen,« sagte die Blume.

»Die sind noch nicht zurück gekommen,« meinte der Pundit. »Die mußt Du später in Deine Schlinge locken.«

»Pah!« meinte die Blume mit tiefer Verachtung, Mahbubs Kopf von ihrem Schoß rollend. »Ich verdiene mein Geld. Farrukh Shah ist ein Bär, Ali Beg ist ein Prahlhans, und der alte Eikandar Khan – pfui! Geh! Ich will nun schlafen. Dieses Schwein wird vor Tagesgrauen sich nicht rühren.«

Als Mahbub erwachte, hielt die Blume ihm strenge die Sünde der Trunkenheit vor. Asiaten zucken nicht mit der Wimper, wenn sie den Feind überlistet haben; Mahbub Ali aber war nahe daran, als er sich die Kehle reinigte, den Gürtel festschnallte und unter den frühen Morgensternen dahintaumelte, sich zu ärgern.

»Welch ein plumper Streich!« sprach er zu sich selbst. »Als ob nicht jedes Mädchen in Peshawur es so anstellen würde. Aber sie hat es hübsch gemacht. Nun, Gott weiß, wie viele andere noch auf dem Weg sind mit Befehl mich zu untersuchen – vielleicht mit dem Messer. Es steht fest, der Knabe muß nach Umballa, aber mit dem Zuge, denn das Schreiben ist dringend. Ich bleibe hier, folge der Blume nach und trinke Wein, wie es einem afghanischen Roßkamm zukommt.«

Er hielt bei dem zweiten Abteil nächst dem seinen still. Seine Leute lagen in tiefem Schlaf. Von Kim oder vom Lama keine Spur.

»Auf!« Er rüttelte einen Schläfer. »Wohin sind sie gegangen, die hier letzten Abend lagen – der Lama und der Knabe? Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nein,« murrte der Mann, »der alte verrückte Kerl erhob sich beim zweiten Hahnkrähen und sagte, er müßte nach Benares, und der Junge leitete ihn fort.«

»Allahs Fluch über alle Ungläubigen!« rief Mahbub und kletterte, in den Bart brummend, in seine eigene Abteilung.

Es war aber Kim, der den Lama geweckt – Kim, der, mit dem Auge an einem Astloch in der Bretterwand, des Delhi-Mannes Untersuchung der Koffer wahrgenommen halte. Das war kein gewöhnlicher Dieb, der Briefe, Rechnungen und Sättel durchsuchte, auch kein gewöhnlicher Einbrecher, der ein kleines Messer seitwärts zwischen die Sohlen von Mahbubs Pantoffeln schob und die Nähte der Satteltaschen so geschickt durchstach. Zuerst wollte Kim den Alarmruf geben – das langgedehnte »Cho-or cho-or!« (Diebe! Diebe), der nachts das Serai sofort auf die Beine bringt; aber er bedachte sich und zog, die Hand auf dem Amulett, seine eigenen Schlüsse.

»Es muß sich um den Stammbaum handeln, um diese faustdicke Pferdelüge,« dachte er, »das Ding, das ich nach Umballa trage. Besser wir gehen gleich. Die mit dem Messer Taschen untersuchen, könnten mit dem Messer auch bald Bäuche untersuchen. Höre! Höre!« flüsterte er dem leicht schlafenden, alten Manne ins Ohr. »Erhebe Dich. Es ist Zeit – Zeit nach Benares aufzubrechen.«

Gehorsam erhob sich der Lama, und wie Schatten schwanden sie aus dem Serai.

  1. Das Fünfstromland.
  2. Geschmolzene Butter

Kapitel 10.

Kapitel 10.

Lurgan Sahib sprach sich nicht so entschieden aus, aber sein Rat schloß sich dem Mahbubs an, und das Resultat war günstig für Kim. Er wußte nun etwas Besseres zu tun, als Lucknow in Verkleidung zu verlassen, und war Mahbub irgendwie durch eine Nachricht erreichbar, so suchte er ihn in seinem Lager auf und nahm seine Verwandlung unter des Pathans Auge vor. Hätte der kleine Tuschkasten, den er in der Schulzeit beim Kartenzeichnen brauchte, von seiner Verwendung in den Ferien reden können, so wäre Kim wohl relegiert worden. – Einmal zog er mit Mahbub und drei Wagen voll Pferden bis nach dem prächtigen Bombay, und Mahbub schmolz fast vor Zärtlichkeit: als Kim eine Reise durch den Indischen Ozean auf einem Kauffahrteischiff vorschlug, um Golf-Araber zu kaufen, die, wie er von einem Untergebenen des Händlers Abdul Rahman erfahren halte, bessere Preise erzielten, als die Kabuli-Pferde. Mit diesem bedeutenden Kaufmann wußte er anzuknüpfen, als Mahbub mit einigen Gleichgläubigen bei einem großen Haj-Schmaus war.

Bei dem Rückwege über Karachi, zur See, machte Kim die erste Bekanntschaft mit der Seekrankheit. Er saß an dem vorderen Gatter über der Luke, fest überzeugt, daß er vergiftet sei. Des Babus famose Medizin-Schachtel erwies sich nutzlos, obgleich sie in Bombay frisch gefüllt war. Mahbub hatte Geschäfte in Quetta, und dort verdiente Kim, mit Mahbubs Erlaubnis, sein Brot und etwas mehr als Küchenjunge im Hause eines fetten Kommissariats-Sergeanten. In einem unbewachten Augenblick nahm er aus dessen Bureau-Schrank ein kleines, in Pergament gebundenes Hauptbuch, das anscheinend nur Verkäufe von Rindvieh und Kamelen betraf, und im Mondenschein, hinter einem Hintergebäude liegend, kopierte er daraus. Dann legte er das Buch wieder an seinen Platz, verließ auf Mahbubs Rat seinen Dienst ohne Lohn und traf sechs Meilen weiter unten mit Mahbub wieder zusammen, die saubere Kopie auf der Brust tragend.

»Dieser Sergeant ist ein kleiner Fisch,« erklärte Mahbub, »mit der Zeit werden wir größere fangen. Dieser verkauft nur Ochsen zu zwei verschiedenen Preisen – zu einem Preise für sich selbst, zu einem anderen für die Regierung – was, glaube ich, keine Sünde ist.«

»Warum durfte ich das kleine Buch nicht mitnehmen und vollständig kopieren?«

»Das hätte ihn erschreckt, und er würde seine Vorgesetzten benachrichtigt haben. Dadurch hätten wir vielleicht eine große Zahl neuer Flinten verloren, die ihren Weg, von Quetta nach dem Norden suchen. Das Spiel ist zu weit ausgedehnt, man sieht nur wenig davon zurzeit.«

»Oho!« machte Kim und hielt den Mund. Das war in den Monsoon-Ferien, nachdem er den Preis in Mathematik erhalten. Die Weihnachts-Ferien – abgerechnet einige Tage für Privat-Amusements – brachte er bei Lurgan Sahib zu. Dort saß er meist vor einem lodernden Holzfeuer – auf dem Wege nach Jakko lag in dem Jahre vier Fuß tief Schnee – der kleine Hindu war fort, um verheiratet zu werden – und half Lurgan Perlen aufreihen. Nebenbei hatte er ganze Kapitel aus dem Koran auswendig zu lernen und zu wiederholen, bis er sie mit dem Hin- und Herwiegen und dem genauen Tonfall eines Mullah vortragen konnte. Ferner lernte er die Namen und Eigenschaften einheimischer Heilmittel kennen, wie die dunklen Sprüche, die beim Verordnen derselben hergesagt werden müssen. Am Abend schrieb er Zauberformeln auf Pergamente, kunstvoll ausgearbeitete Pentagramme mit den Namen von Teufeln Murra und Awan, dem Begleiter von Königen, gekrönt. In praktischer Weise unterwies Lurgan ihn in seiner eigenen Gesundheitspflege, im Heilen von Fieberanfällen und Anwendung einfacher Arzneimittel auf der Wanderung. Eine Woche vor der Abreise sandte Oberst Creighton – und das war nicht hübsch – eine Reihe von Prüfungs-Fragen, die sich nur mit Ruten und Ketten und Winkeln befaßten.

In den nächsten Ferien zog er mit Mahbub aus und auf einem Kamel, im tiefen Sand fast versinkend, war er dem Verdursten nahe. Sie kamen nach der geheimnisvollen Stadt Bikaneer, wo die Brunnen vierhundert Fuß tief und fast durchaus mit Kamelknochen bekleidet sind. Es war nicht erheiternd für Kim, daß der Oberst – in Nichtachtung des Kontraktes – ihm befahl, eine Karte von der wilden, ummauerten Stadt anzufertigen. Und da es auffallend wäre, wenn mohammedanische Pferdejungen oder Pfeifenreiniger Vermessungsketten um die Hauptstadt eines unabhängigen einheimischen Staates zögen, so war Kim gezwungen, seine Distanzen mit Hilfe der Perlen eines Rosenkranzes abzuschreiten. Zu Teilungen benutzte er gelegentlich den Kompaß, hauptsächlich nach Dunkelwerden, wenn die Kamele gefuttert halten, und mit Hilfe seines kleinen Tuschkastens mit sechs Farbentäfelchen und drei Pinseln brachte er etwas zu Stande, das nicht ungleich der Stadt Jeysalmir war. Mahbub lachte und riet ihm, auch einen geschriebenen Bericht zu machen, und auf den letzten Seiten eines großen Rechnungsbuches, das unter der Klappe von Mahbubs Lieblingssattel lag, fertigte Kim ihn aus.

»Er muß alles enthalten, was Du gesehen, berührt und beobachtet hast. Schreibe, als wenn der Jung-i-Lat (Oberbefehlshaber) selbst im Geheimen mit einer großen Armee, um in den Krieg zu ziehen, gekommen wäre.«

»Wie groß die Armee?«

»Oh, ein halbes Lakh (Ostindisch: Hälfte von 100 000) Männern.«

»Torheit! Bedenke doch, wie selten und wie schlecht die Brunnen in dem Sande sind. Nicht tausend Männer könnten ihren Durst löschen.«

»Dann schreibe das nieder – auch die alten Brüche in den Mauern – und wo das Brennholz geschnitten wird – und wie das Temperament und die Gesinnung des Königs ist. Ich bleibe hier bis alle meine Pferde verkauft sind. Ich will einen Raum beim Torvorbau mieten und Du bist mein Buchhalter. Es soll ein gutes Schloß an der Tür sein.«

Der Bericht, in der fließenden, deutlichen St. Xaviers-Handschrift und die braun und gelbe, mit Lack überzogene Karte war noch vor einigen Jahren vorhanden. (Ein nachlässiger Schreiber verdarb sie mit Notizen über die zweite Dienstreise nach Leistan von E. 23., jetzt aber werden die Bleistift-Bemerkungen ziemlich verwischt sein.) Am zweiten Tage der Rückreise übersetzte Kim, bei der Flamme einer Öllampe schwitzend, Mahbub einen Bericht. Der Pathan erhob sich und beugte sich über die bunten Satteltaschen.

»Ich wußte, er würde eines Ehrenkleides würdig werden und hielt es bereit,« sagte er lächelnd. »Wäre ich Emir von Afghanistan (und wir werden ihn eines Tages sehen) so würde ich Deinen Mund mit Gold füllen.« Er breitete die Gewänder feierlich zu Kims Füßen aus. Da war eine goldgestickte, zu einem Kegel aufsteigende Turban-Mütze von Peshawur, mit einem Turban-Tuch, das in einer breiten Goldfranze endete. Da war eine gestickte Weste von Delhi, die über einem milchweißen, an der rechten Seite schließenden, prächtig niederwallenden Hemde getragen wurde: grüne Pyjamas mit geflochtener, seidener Taillenschnur, und damit nichts fehle, Pantoffeln von russischem Leder, himmlisch riechend, mit kokett aufgebogenen Spitzen.

»An einem Mittwoch und in der Morgenfrühe neue Kleider anzulegen, ist gefährlich,« sprach Mahbub feierlich. »Und wir dürfen nicht vergessen, daß es böses Volk in der Welt gibt. Also!«

Er krönte die Herrlichkeiten, die Kim vor Entzücken den Atem benahmen, durch einen mit Perlmutter und Nickel beschlagenen 9 mm-Revolver mit Selbstentladung.

»Ich wollte erst eine kleinere Bohrung nehmen, besann mich aber, daß diese hier Gouvernements-Kugeln faßt. Mit diesen kann ein Mann überall hin- und hergehen – besonders über die Grenze. Steh auf und laß Dich betrachten.« Er klopfte Kim auf die Schulter. »Mögest Du nimmer ermüden zu schauen, Pathan! Oh, die Herzen, die da brechen, die Augen, die sich abwenden werden unter halb geöffneten Lidern!«

Kim drehte sich rundum, streckte die Zehe und fühlte mechanisch nach dem Schnurrbart, der just zu sprossen begann; dann bückte er sich auf Mahbubs Füße nieder, um diese, da sein Herz zu voll für Worte war, mit seinen bebenden Händen zu streicheln. Mahbub kam ihm zuvor und umarmte ihn.

»Mein Sohn,« sprach er, »bedarf es der Worte zwischen uns? Aber ist nicht die kleine Waffe zum Entzücken? Alle sechs Kartuschen kommen mit einer Drehung heraus. Man soll sie auf der Brust nächst der Haut tragen, damit sie immer wie geölt bleibt. Trage sie sonst nirgends und so es Gott gefällt, wirst Du eines Tages einen Mann damit töten.«

»Oha!« rief Kim kläglich, »wenn ein Sahib einen Menschen tötet, wird er im Gefängnis gehängt.«

»Wahr: aber einen Schritt jenseit der Grenze sind die Leute vernünftiger. Tue sie weg, aber füttere sie zuvor. Was nützt eine ungespeiste Flinte?«

»Wenn ich in die Madrissah zurückgehe, muß ich sie Dir wiedergeben. Sie gestatten keine Waffe. Du wirst sie mir aufbewahren?«

»Sohn, ich bin der Madrissah müde, wo sie einem Manne die besten Jahre nehmen, um ihn zu lehren, was er nur auf der Heerstraße lernen kann. Die Torheit der Sahibs hat weder Kopf noch Fuß. Schadet nichts. Kann sein, dieser geschriebene Bericht erspart die fernere Sklaverei; und Gott weiß, wir brauchen Männer, mehr und mehr, für das Spiel.«

Mit verbundenem Mund, um sich vor dem wehenden Sand zu schützen, wanderten sie durch die Salzwüste nach Jodhpore, wo Mahbub und sein schöner Neffe Habib-Ullah viel Geschäfte machten, und dann – traurig, in europäischen Kleidern, aus denen er fast herausgewachsen war – fuhr Kim in zweiter Klasse nach St. Xavier zurück. Drei Wochen später traf Oberst Creighton, der in Lurgans Laden nach dem Preise von Thibetanischen Geisterdolchen fragte, Mahbub Ali als offenbaren Meuterer an. Lurgan Sahib operierte als Reserve.

»Das Pony ist fertig – vollendet – mit Maul und Schritt – Sahib. Von nun an, wenn es zum Spaß festgehalten wird, wird es von Tag zu Tag seine guten Manieren verlieren. Nehmt ihm den Zügel vom Nacken und laßt ihn los,« sprach der Pferdehändler. »Wir haben ihn nötig.«

»Aber er ist noch so jung, Mahbub – kaum sechzehn – nicht so?«

»Als ich fünfzehn alt war, Sahib, hatte ich meinen Mann geschossen und meinen Mann gezeugt.«

»Du verstockter, alter Heide.« Creighton wandte sich zu Lurgan. Der schwarze Bart nickte dem scharlachgefärbten des Afghanen Beifall zu.

»Ich würde ihn längst verwandt haben,« sagte Lurgan. »Je jünger je besser. Deshalb lasse ich meine Kostbaren Juwelen von einem Kinde hüten. Ihr habt ihn mir gesendet, ihn auf die Probe zu stellen. Ich prüfte ihn in jeder Weise: er ist der einzige Knabe, den ich nicht dahin bringen Konnte, Dinge zu sehen –«

»Im Krystall – im Tintentopf?« fragte Mahbub.

»Nein. Unter meiner Hand. Das ist mir noch nicht vorgekommen. Das zeigt, daß er stark genug ist – aber Ihr meint, Oberst Creighton, das ist nicht so leicht, wie es aussieht – jeden nach seinem Willen tun zu lassen? Und das war vor drei Jahren. Seit der Zeit habe ich ihn vieles gelehrt, Oberst Creighton. Ich glaube, Ihr verwertet ihn jetzt nicht richtig.«

»Hm! Kann sein, Ihr habt Recht. Aber, wie Ihr wißt, ist augenblicklich keine offizielle Arbeit für ihn da.«

»Laßt ihn aus – laßt ihn rennen,« unterbrach Mahbub. »Wer erwartet von einem Füllen, daß es gleich schwere Lasten trägt? Laßt ihn auf gut Glück mit den Karawanen laufen wie unsere weißen Kamel-Füllen. Ich würde ihn zu mir nehmen, aber –«

»Da ist im Süden eine Kleinigkeit zu tun, wobei er sehr nützlich sein könnte,« meinte Lurgan, mit besonders sanftem Ton, seine schweren, blau getuschten Augenlider senkend.

»E. 23. hat das in Händen,« sagte Creighton, rasch einfallend.

»Er darf nicht dorthin. Außerdem versteht er nicht Türkisch.«

»Beschreibt ihm nur das Format und den Geruch der Briefe, die wir brauchen,« beharrte Lurgan, »und er wird sie uns bringen.«

»Nein. Das ist Arbeit für einen Mann,« sagte Creighton. Es betraf eine halsbrecherische Angelegenheit, eine ungehörige, aufwieglerische Korrespondenz zwischen einer Person, die sich als allein maßgebende Autorität in allen Dingen der mohammedanischen Religion durch alle Welt betrachtete, und einem jüngeren Mitglied eines königlichen Hauses, das wegen Frauenraubes auf britischem Territorium in den Geheimakten geführt wurde. Der muselmännische Erzbischof war emphatisch und überarrogant, der junge Prinz nur aufgebracht wegen sogenannter Verkürzung seiner Privilegien gewesen; aber er mußte verhindert werden, eine Korrespondenz weiter zu führen, die ihn schließlich kompromittieren konnte. Einer der Briefe war schon abgefaßt, aber der Finder wurde später, als arabischer Handelsmann gekleidet, tot am Wege gefunden; dies berichtete E. 23. (der die Arbeit übernommen) pflichtgemäß.

Diese Fakten und einige andere, nicht zu veröffentlichende, ließen Mahbub und Lurgan die Köpfe schütteln.

»Laßt ihn denn mit dem Roten Lama gehen,« sagte, mit sichtlicher Überwindung, der Roßkamm. »Er hat den alten Mann lieb. Er kann wenigstens bei dem Rosenkranz seine Schritte abzählen lernen.«

»Ich hatte mich ein paarmal mit dem alten Mann zu beschäftigen – brieflich,« sprach Creighton lächelnd. »Wohin geht er?«

»Er ist diese drei Jahre auf- und abgewandert im Lande. Er sucht einen Strom des Heils. Gottes Fluch über alle –« Mahbub verstummte plötzlich. »Er hat Quartier im Tempel der Tirthankeers oder zu Buddh Gaya, wenn er von der Wanderschaft kommt. Alsdann geht er nach der Madrissah, um den Knaben zu sehen: wir wissen es, denn der Knabe wurde zwei- oder dreimal deswegen bestraft. Er ist ganz verrückt, aber ein friedlicher Mann. Ich habe ihn getroffen. Auch der Babu hat mit ihm zu tun gehabt. Wir beobachteten ihn diese drei Jahre. Rote Lamas sind nicht so häufig in Indien, daß man die Spur verlieren könnte.«

»Babus sind zuweilen sonderbar,« sprach Lurgan nachdenklich. »Wißt Ihr, was Hurree Babu wirklich will? Er will Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften werden durch seine ethnologischen Berichte. Ich teilte ihm alles mit, was Mahbub und der Knabe mir über den Lama gesagt. Hurree Babu geht nach Benares – auf seine eigenen Kosten, denke ich.«

»Ich nicht,« sagte Creighton kurz. Er hatte, aus lebhafter Neugier zu erfahren, was der Lama eigentlich war, Hurrees Reisekosten bezahlt.

»Und er wandte sich an den Lama, wegen Unterweisung über Lamaismus und Teufelstänze und Zauberformeln, verschiedene Male in diesen drei Jahren. Heilige Jungfrau! All das hätte er von mir schon vor Jahren erfahren können. Ich glaube, Hurree Babu wird zu alt für das Umherstreifen. Er sammelt lieber Erfahrungen über Sitten und Lebensweise. Ja, er strebt danach, ein F. R. S. zu werden.« (Fellow of the Royal Society, Mitglied der Akademie der Wissenschaften.)

»Hurree denkt gut von dem Knaben, wie?«

»Oh, sehr! Wir hatten einige heitere Abende zusammen hier in meiner kleinen Behausung. Aber es wäre schade, den Knaben mit Hurree in den ethnologischen Dienst übergehen zu lassen.«

»Nicht für einen ersten Versuch. Was sagt Ihr, Mahbub? Lassen wir den Jungen sechs Monate mit dem Lama gehen! Später wollen wir sehen. Er kann wenigstens Erfahrungen sammeln.«

»Die hat er schon, Sahib – er kennt seinen Weg wie ein Fisch das Wasser, in dem er schwimmt. Aber jedenfalls wäre es richtig, ihn aus der Schule zu nehmen.«

»Gut also,« sprach Creighton halb zu sich selbst. »Er soll mit dem Lama gehen, und will Hurree Babu ein Auge auf sie haben, um so besser. Der Lama wird den Knaben nicht in Verlegenheit bringen, wie Mahbub. Sonderbar – dieser Wunsch ein F. R. S. zu werden! Und doch wie menschlich! Er paßt auch am besten für Ethnologie, Hurree –«

Weder Geld noch Bevorzugung würde Creighton bewogen haben, den Indischen Geheim-Dienst zu verlassen, aber tief in der Seele trug er den Ehrgeiz, F. R. S. hinter seinen Namen zu setzen. Gewisse Ehren waren durch Findigkeit und Hilfe von Freunden zu erzielen; aber, nach seinem besten Ermessen, konnte nur ein Leben voll wertvoller Arbeit einen Mann in die Gesellschaft erheben, die er seit Jahren mit Berichten über fremde asiatische Kulturen und unbekannte Sitten bombardierte. Neun von zehn Männern würden die Langeweile eines Abends in der Akademie fliehen, Creighton aber würde dieser Zehnte sein. Zuweilen sehnte er sich lebhaft nach dem behaglichen London, in die überfüllten Räume, wo silberhaarige und kahlköpfige Herren, die nichts von militärischen Angelegenheiten verstehen, spektroskopische Untersuchungen niedriger Pflanzenarten der eisigen Tundras oder elektrische Flugmaschinen vornehmen oder Apparate handhaben, um das linke Auge eines weiblichen Moskitos in millimetrische Teile zu schneiden. Nach Recht und Billigkeit hätte die Geographische Gesellschaft ihn berufen sollen; aber Männer sind so launisch wie Kinder bei der Wahl ihres Spielzeugs. – Creighton lächelte und dachte um so besser über Hurree Babu, da er mit ihm gleichen Ehrgeiz teilte.

Er legte den Geisterdolch aus der Hand und blickte zu Mahbub auf.

»Wann können wir das Füllen aus dem Stall holen?« fragte der Pferdehändler, in seinem Auge lesend.

»Hm! Wenn ich jetzt seine Entlassung anordne, was wird er, denkt Ihr, tun? Ich habe noch niemals die Erziehung von so einem geleitet.«

»Zu mir wird er kommen,« sagte Mahbub rasch. »Lurgan und ich werden ihn für die Reise vorbereiten.«

»So sei es denn. Sechs Monate mag er gehen wohin er will. Wer aber bürgt für ihn?«

Lurgan neigte leicht den Kopf. »Er wird nicht plaudern, wenn Ihr das fürchtet, Oberst Creighton.«

»Er ist immerhin noch ein Knabe.«

»J – ja; aber erstens, hat er nichts zu erzählen und zweitens, weiß er, was die Folge sein würde. Auch hat er Mahbub sehr lieb und mich ein wenig.«

»Wird er Gehalt beziehen?« fragte der praktische Pferdehändler.

»So viel als zu Nahrung und Wasser notwendig ist. Zwanzig Rupien im Monat.«

Ein Vorzug des Geheim-Dienstes ist, daß keine ermüdende Revision stattfindet. Der Dienst wird lächerlich knapp gehalten, aber die Fonds werden von Männern verwaltet, die weder die Aufführung der einzelnen Posten in den Rechnungen noch Quittungen verlangen. Mahbubs Auge leuchtete auf mit einer fast eines Sikhs würdigen Freude am Gelde und selbst Lurgans unbewegliches Gesicht belebte sich. Er dachte der Zeit, da Kim in das Große Spiel eingefügt würde, das, über ganz Indien verbreitet, weder Tag noch Nacht ruht; und der Ehre und des Ansehens, das ihm, als Lehrer dieses Schülers zu Teil werden würde von den wenigen Auserwählten. Lurgan Sahib hatte E. 23. aus einem verwilderten, frechen, verlogenen kleinen Kerl aus den nordwestlichen Provinzen zu dem gemacht, was E. 23. jetzt war.

Die Freude seiner Lehrer war aber nur schwach und bleich neben Kims Freude, als der Direktor von St. Xavier ihm ankündigte, daß Oberst Creighton ihn rufen lasse.

»Ich vermute, O’Hara,« sprach der Direktor, »daß der Oberst Ihnen eine Stelle als Meß-Assistent im Kanal-Departement ausgewirkt hat. Das ist der Lohn für Fleiß in Mathematik. Es ist ein großes Glück für Sie, denn Sie sind erst siebzehn Jahre alt; aber Sie begreifen, daß Sie nicht dauernd angestellt werden, bevor Sie Ihre Examen im Herbst bestanden haben. Sie müssen also nicht wähnen, daß Sie zum Vergnügen in die Welt hinaus gehen oder daß Ihr Glück nun ein für allemal gemacht ist. Es bleibt noch viel schwere Arbeit für Sie zu tun. Nur wenn es Ihnen gelingt ›pukka‹ zu werden, können Sie es bis zu vierhundert und fünfzig monatlich bringen.« Hierauf gab der Direktor ihm noch gute Lehren betreffs Führung, Sitten und Moral. – Ältere Schüler, die noch keine Aussicht auf Stellung hatten, sprachen wie nur Anglo-Indische Burschen sprechen können, von Begünstigung und Bestechung. Der junge Cazalet, dessen Vater seine Pension in Chunar verzehrte, sprach es unverblümt aus, daß Oberst Creightons Interesse für Kim direkt väterlich sei; und Kim, statt ihm zu vergelten, fluchte nicht einmal. Er dachte nur an das in Aussicht stehende Vergnügen, an Mahbubs gestrigen, in nettem Englisch geschriebenen Brief, der ihn für Nachmittag nach einem Hause hinbestellte, dessen Erwähnung allein des Direktors Haar vor Entsetzen gesträubt haben würde.

Am selben Abend sprach Kim zu Mahbub, bei dem Gepäckwagen auf der Lucknow-Station stehend: »Ich fürchtete, daß, bevor ich heraus wäre, mir das Dach noch auf den Kopf fallen könnte. Oh, mein Vater, ist es denn wirklich wahr?«

Mahbub schnappte mit den Fingern als Zeichen, daß alles wahr sei, und seine Augen funkelten wie rote Kohlen.

»Wo ist dann meine Pistole, daß ich sie trage?«

»Sachte! Ein halbes Jahr magst Du noch ohne Fersenstrick laufen. Das erbat ich für Dich von Oberst Creighton Sahib, mit zwanzig Rupien monatlich. Der alte Rot-Hut weiß, daß Du kommst.«

»Ich will Dir Dustoorie (Kommission) zahlen, drei Monate lang,« sprach Kim ernsthaft. »I – ja, zwei Rupien von meinem Gehalt jeden Monat. Vor allem aber muß ich dies los werden.« Er zupfte an seinen dünnen Leinwandhosen und zerrte an seinem Kragen. »Ich habe alles, was ich auf der Landstraße brauche, bei mir. Meinen Koffer habe ich Lurgan Sahib gesendet.«

»Der Dir seine Salaams sendet – Sahib.«

»Lurgan Sahib ist ein sehr kluger Mann. Und was wirst Du jetzt tun, Mahbub?«

»Ich gehe wieder nordwärts in dem Großen Spiel. Was sonst? Bist Du noch immer gewillt, dem alten Rot-Hut zu folgen?«

»Vergiß nicht, er macht mich zu dem, was ich bin – obwohl er es nicht wußte. Jahr auf Jahr sendet er das Geld für meine Erziehung.«

»Das hätte ich auch tun können,« brummte Mahbub, »wäre es mir nur in meinen Dickkopf gekommen. Laß uns gehen. Die Lampen sind schon angezündet; es wird Dich niemand im Basar bemerken. Wir gehen nach Huneefas Haus.«

Auf dem Wege dahin gab Mahbub Kim fast dieselben Ratschläge, die Lemuel (arabischer König) von seiner Mutter empfing, und, sonderbar genug, er war sehr darauf bedacht, hervorzuheben, wie Huneefa und ihresgleichen Könige zugrunde gerichtet hätten.

»Und dabei erinnere ich mich,« sprach er schelmisch, »eines, der da sagte: Trau einer Schlange mehr als einer Dirne und einer Dirne mehr als einem Pathan. Nun, ausgenommen das von den Pathans, da ich selbst einer bin, ist alles Übrige wahr. Besonders wahr ist es in dem Großen Spiel, denn nur die Weiber sind schuld, wenn Pläne mißlingen, nur Weiber sind schuld, wenn wir im Morgengrauen mit durchschnittener Kehle am Wege liegen. So geschah es dem und dem –,« er gab die grausigsten Details.

»Warum denn aber –?« Kim stockte vor einer schmutzigen Treppe, die in die warme Dunkelheit eines oberen Raumes im Hofe hinter Azim Ullahs Tabakladen führte. Die den Raum kennen, nennen ihn das Vogelbauer – so voll ist er von Wispern und Pfeifen und Flüstern. Das Zimmer, mit seinen unsauberen Kissen und halb ausgerauchten Pfeifen, roch abscheulich nach kaltem Tabak. In einer Ecke lag eine große, unförmliche, in grünliche Gaze gehüllte Frau, Stirn, Nase, Ohr, Nacken, Brust, Arme und Fußknöchel mit plumpen, einheimischen Schmucksachen beschwert. Bewegte sie sich, so war es, als ob kupfernes Geschirr aneinander klirrte. Eine magere Katze miaute hungrig draußen vor dem Fenster. Kim blieb verwirrt neben dem Türvorhang stehen.

»Ist das die Remonte, Mahbub?« frug Huneefa mit träger Stimme, kaum die Pfeifenspitze von den Lippen nehmend. »Oh, Buktanoos!« – wie meist alle von ihrer Art schwor sie bei den Djinns – »Oh, Buktanoos! Er ist hübsch anzuschauen.«

»Das bezieht sich auf den Pferdehandel,« erklärte Mahbub. Kim lachte.

»Solche Rede hörte ich seit meinem sechsten Tag,« erwiderte er, sich im Hellen niederlegend, »wohin soll sie führen?«

»Zu einer Beschützung. Heute Abend ändern wir Deine Farbe. Der Schlaf unter den Dächern hat Dich weiß gemacht wie eine Mandel. Huneefa kennt das Geheimnis einer Farbe, die haftet – kein Anmalen, das zwei oder drei Tage hält. Auch gegen Zufälle auf der Reise stärken wir Dich. Das ist mein Geschenk für Dich, mein Sohn. Lege alles Metallische, was Du an Dir trägst, ab und hierher. Mach‘ Dich bereit, Huneefa.«

Kim zog seinen Kompaß hervor, seinen Tuschkasten und den frisch gefüllten Arznei-Kasten. Diese Dinge hatten ihn auf allen Wegen begleitet, und er schätzte sie in kindlicher Weise sehr hoch.

Das Weib erhob sich langsam und bewegte sich mit vorgestreckten Händen vorwärts. Kim sah, daß sie blind war. »Nein, nein,« murmelte sie, »der Pathan spricht wahr, meine Farbe schwindet nicht in einer Woche oder einem Monat, und die, die ich beschütze, sind in starker Hut.«

»Wenn fern und allein, ist es bös, plötzlich fleckig und aussätzig zu werden,« sprach Mahbub. »So lange Du bei mir warst, konnte ich Dich behüten, und ein Pathan hat gesunde Haut. Entkleide Dich bis zu den Hüften und schau, wie Du gebleicht bist.« Huneefa tastete sich aus einem hinteren Raum zurück. »Es schadet nicht, daß sie nicht sehen kann.« Er nahm eine Zinnschale aus ihrer mit Ringen überladenen Hand. Der Farbstoff schien blau und klebrig. Kim probierte ihn auf seinem Rücken mit einem Klümpchen Baumwolle; Huneefa hörte es. »Nein, nein,« rief sie, »so nutzt es nichts, nur mit den richtigen Zeremonien. Die Farbe ist das Wenigste. Ich verleihe Dir den vollen Schutz des Weges.«

»Jadoo?« (Magie) rief Kim halb erschrocken. Die weisen, blicklosen Augen waren ihm unheimlich. Mahbubs Hand legte sich auf seinen Nacken und drückte ihn nieder, bis er mit der Nase fast den Boden berührte.

»Sei ruhig. Nichts Übles geschieht Dir, mein Sohn. Ich opfere mich für Dich.«

Kim konnte nicht sehen, was die Frau tat, er hörte nur einige Minuten das Klick-Klack ihrer Schmucksachen. Ein Zündholz leuchtete in der Dunkelheit auf, er hörte das wohlbekannte knisternde Geräusch von angezündeten Weihrauchkörnern. Der Raum füllte sich mit Rauch, schwer, aromatisch, betäubend. In wachsender Bewußtlosigkeit vernahm er die Namen von Teufeln – von Zulbazan, dem Sohn des Ebis, der in Bazaren und Paraos sein Wesen treibt und gottlose Bosheiten auf den Halteplätzen an der Wegseite verübt – von Dulhan, der unsichtbar über Moscheen schwebt, sich in die Pantoffeln der Gläubigen schleicht und sie am Beten hindert – von Musboot, dem Dämon der Lüge und der Panik. Bald flüsterte Huneefa ihm ins Ohr, bald hörte er sie wie aus weiter Entfernung reden. Sie berührte ihn mit schauderhaft weichen Fingern, und Mahbubs Griff lastete auf seinem Nacken,– bis der Knabe, endlich losgelassen, völlig bewußtlos lag.

»Allah! Wie er kämpfte! Es wäre uns nie gelungen, ohne daß wir ihn betäubten. Das macht, nehme ich an, sein weißes Blut,« erklärte Mahbub. »Fahre fort mit Dawut (Beschwörung). Gib ihm vollen Schutz.«

»Oh, Hörer! Du, der hört mit Ohren, sei gegenwärtig! Höre, o Hörer!« Huneefa wehklagte, ihre toten Augen wandten sich nach Westen. Der dunkle Raum war voller Wehklagen und Schnaufen.

Auf dem äußeren Balkon richtete eine plumpe Gestalt ihren runden Kugelkopf empor und hustete nervös.

»Unterbrich nicht diese bauchrednerische Zauberei, meine Freundin,« sprach sie auf Englisch, »ich bin der Meinung, daß es Dich wohl verdrießen mag, aber ein erleuchteter Beobachter ist nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.«

»Ich will auf ihr Verderben sinnen! Oh, Prophet, habe Nachsicht mit den Ungläubigen! Laß sie eine Weile in Frieden!« Huneefas Antlitz, nun nordwärts gedreht, verzerrte sich schrecklich, und es war, als ob Stimmen von der Decke herab ihr antworteten.

Hurree Babu nahm sein Notizbuch wieder vor und bewegte sich auf der Schwelle des Balkons hin und her, aber seine Hände zitterten. Huneefa, in einer Art trunkener Extase, wiegte sich, mit gekreuzten Beinen neben Kims stillem Haupte sitzend, hin und her, und rief in der alten Ordnung des Rituals Teufel nach Teufel an und befahl ihnen, dem Knaben fern zu bleiben, möge er unternehmen, was es auch sei.

»Mit ihm sind die Schlüssel der geheimen Dinge. Keiner kennt sie neben ihm. Er weiß, was auf dem trockenen Lande ist, und er weiß, was in dem Meere ist!« Wieder brachen die unheimlichen, wispernden Antworten hervor.

»Ich – ich nehme an, daß nichts Verderbliches bei dieser Operation ist,« sagte der Babu, die bebenden und zuckenden Halsmuskeln Huneefas, die jetzt mit Zungen sprach, anstarrend. »Es – es ist doch wohl nicht wahrscheinlich, daß sie den Knaben umgebracht hat? Wenn ja – verweigere ich mein Zeugnis beim Verhör … Welchen hypothetischen Teufel nannte sie zuletzt?«

»Babuchen,« sagte Mahbub im Dialekt, »ich habe keinen Respekt vor den Teufeln von Hind, aber mit den Söhnen von Eblis ist das eine andere Sache; und ob sie nun jumalee (wohlwollend) oder jullalee (bösartig) sind, jedenfalls lieben sie die Kafirs (Ungläubigen) nicht.«

»Dann, meinst Du, wäre es besser, ich ginge?« sagte Hurree Babu, sich halb erhebend. »Sie sind natürlich entkörperte Phänomene. Spencer sagt –«

Huneefa’s Krisis endete wie gewöhnlich nach solchem Vorgang in einem Paroxismus von Heulen. Schaum auf den Lippen, lag sie erschöpft und bewegungslos neben Kim, und die wahnsinnigen Stimmen schwiegen.

»Uah! Das Werk wäre vollbracht. Dem Knaben wird wohl sein, und Huneefa ist sicherlich Meisterin in Zauberkünsten. Hilf sie bei Seite schleppen, Babu. Fürchte Dich nicht.«

»Wie könnte ich fürchten, was nicht existiert?« sagte Hurree Babu, Englisch sprechend, um sich zu beruhigen. – »Es ist ein eigen Ding, die Magie zu scheuen und zu verachten – und ihr doch heimlich nachzuspüren; Folklore-Berichte für die Akademie zu sammeln und an alle Mächte der Finsternis zu glauben.«

Mahbub schüttelte sich vor Lachen. Er kannte Hurree von der Wanderschaft her. »Laß uns die Malerei fertig machen,« sprach er. »Der Knabe ist gut beschützt, wenn – wenn die Herren der Lüfte Ohren haben zu hören. Ich bin ein Sufi (Freidenker); aber wenn man einer Frau, einem Hengst oder einem Teufel die schwache Seite abgewinnen kann, warum denn auf eine andere Seite gehen und sich einen Tritt holen? Bringe Du den Knaben auf den Weg, Babu, und paß auf, daß der alte Rot-Hut den nicht aus unserem Bereich leitet. Ich muß zu meinen Pferden zurück.«

»Sehr wohl,« sagte Hurree Babu. »Für den Augenblick sieht der Knabe sonderbar aus.«

Um den dritten Hahnenschrei erwachte Kim, mit dem Gefühl, als habe er tausend Jahre geschlafen. Huneefa, in ihrer Ecke, schnarchte laut. Mahbub war fort.

»Ich hoffe, man hat Euch nicht erschreckt,« sprach eine fettige Stimme an seiner Seite. »Ich überwachte die ganze Operation, welche sehr interessant, vom ethnologischen Standpunkt aus, war. Es war höchstklassige Dawut.«

»Huh!« machte Kim, Hurree Babu erkennend, der verbindlich lächelte.

»Ich hatte auch die Ehre, Euer gegenwärtiges Kostüm von Lurgan Sahib zu überbringen. Es ist nicht meine offizielle Obliegenheit, solchen Flittertand an Untergebene abzuliefern, aber« – er kicherte – »Euer Fall ist als eine Ausnahme in den Büchern vermerkt. Ich hoffe, Mr. Lurgan wird meine Tat notieren.«

Kim gähnte und reckte sich. Es war angenehm, sich wieder in losen Kleidern zu bewegen. »Was ist dies?« Er betrachtete neugierig den schweren, von nordischen Gerüchen durchzogenen Düffelstoff.

»Oho! Das ist das unverdächtige Kleid eines Chela, der dem Dienst eines lamaistischen Lamas zugewiesen ist. Vollständig in jeder Beziehung,« sprach Hurree Babu und ging schwerfällig auf den Balkon, um seine Zähne aus einem Wasserkühler zu reinigen. »Ich bin der Meinung, es ist nicht genau die Religion des alten Herrn, sondern eher abweichend von ihr. Ich habe über diese Dinge der Asiatischen Vierteljahrsschrift Berichte erstattet, die man aber ablehnte. Sonderbar, daß der alte Herr selbst aller Religiosität bar ist. Er nimmt es nicht im Geringsten genau.«

»Kennt Ihr ihn denn?«

Hurree Babu hielt die Hand in die Höhe, um anzudeuten, daß er mit dem vorgeschriebenen Zeremoniell beschäftigt sei, das ein wohlerzogener Bengale beim Zähneputzen und solchen Dingen beobachtet. Dann rezitierte er in englischer Sprache ein Arya-Somey-Gebet theistischer Natur und stopfte sich den Mund mit Pan und Betel.

»O-a! Ja. Ich traf ihn einige Mal zu Benares und Buddh Gay und befragte ihn über religiöse Punkte und Teufel-Anbetung. Er ist rein agnostisch gesinnt – eben so wie ich.«

Huneefa regte sich im Schlaf und Hurree Babu stürzte nervös nach der kupfernen Weihrauchschale, die farblos schwarz im Morgenlicht erschien, tauchte einen Finger in den angesammelten Ruß und fuhr damit diagonal über sein Gesicht.

»Wer starb in Deinem Hause?« fragte Kim im Dialekt.

»Niemand. Aber sie könnte den bösen Blick haben – die Zauberin,« entgegnete der Babu.

»Was wirst Du jetzt unternehmen?«

»Ich will Dich auf den Weg nach Benares bringen, wenn Du dahin gehst und Dir mitteilen, was Du von »Uns» wissen mußt.«

»Ich komme. Um wie viel Uhr geht der Zug?«

Er erhob sich, blickte sich in dem öden Zimmer um und in das wachsgelbe Gesicht Huneefas, beim Schimmer der tief stehenden Sonne. »Muß ich der Hexe was bezahlen?«

»Nein. Sie hat Dich durch Zauber geschützt gegen alle Gefahren und alle Teufel – im Namen ihrer Teufel. Es war Mahbubs Wunsch.« Auf Englisch: »Er ist sehr in der Bildung zurück, an solchem Aberglauben zu hängen. Es ist ja nur Bauchredekunst. Bauchsprache –«

Kim schnappte mechanisch mit den Fingern, um jedes Übel abzuwenden – Mahbub, wußte er, sann auf keins – das aus den Manipulationen Huneefas ihn befallen könnte und Hurlee kicherte wieder, vermied aber sehr vorsichtig beim Durchschreiten des Zimmers in Huneefas über den Boden gestreckten Schatten zu treten. Hexen, wenn ihre Zeit über ihnen ist, können eines Mannes Seele an den Fersen festhalten, wenn er in ihren Schatten tritt.

»Nun, hört wohl zu,« sprach der Babu, als sie draußen waren. »Zum Teil werden die Zeremonien, denen wir hier beiwohnten, auch bei der Lieferung von wirkungsvollem Zauberschutz für Die von unserm Departement angewendet. Fühlt an Euern Hals, Ihr findet da ein kleines silbernes, sehr billiges Amulett. Das ist Unseres . Versteht Ihr?«

»O–a, ja – hawa–dilli,« sagte Kim, an seinen Hals fühlend.

»Huneefa macht sie für zwei Rupien, zwölf Annas, eingeschlossen – o, alle Arten von Exorcismus. Sie sind ganz allgemein, ausgenommen, daß sie meist von schwarzer Email sind und inwendig ein Zettel liegt mit Namen von einheimischen Heiligen und solchem Zeug. Das ist Huneefas Werk, seht Ihr? Huneefa liefert sie nur für uns und tut sie es einmal nicht, so legen wir, bevor wir sie ausgeben, ein kleines Stück von einem Türkis hinein. Mr. Lurgan liefert das; eine andere Hilfsquelle gibt es nicht. Ich aber habe dies alles erdacht. Es ist geradezu unoffiziell, natürlich, aber paßt gut für Untergeordnete. Oberst Creighton weiß nichts davon. Er ist Europäer. Der Türkis ist in Papier gewickelt… ja, dies ist der Weg zur Station … Nun, vermutlich geht Ihr mit dem Lama, später, hoffe ich, mit mir oder mit Mahbub. Nehmt an, wir gerieten in eine verdammt kritische Lage. Ich bin ein ängstlicher Mann – sehr ängstlich – aber ich sage Euch, ich bin öfter in verdammt kritischen Lagen gewesen als ich Haare auf dem Kopf habe. Dann sprecht Ihr: ›Ich bin Sohn des Zaubers‹ – Sehr gut.«

»Ich verstehe nicht ganz. Man darf auch hier nicht hören, daß wir Englisch sprechen.«

»Sehr wohl. Ich bin nur ein Babu, der mit seinem Englisch prahlt. Wir Babus sprechen alle Englisch, um damit zu prahlen,« sagte Hurree, sein Schultertuch flott schwenkend. »Was ich sagen wollte: ›Sohn des Zaubers‹ bedeutet, daß Ihr Mitglied der Sat Bhai – der Sieben Brüder sein könntet – was Hindi und Tantric (Lehre der Tantras) ist. Es wird allgemein angenommen, daß es eine erloschene Genossenschaft ist, ich aber habe Berichte geschrieben, um zu beweisen, daß sie noch existiert. Ihr seht, es ist alles mein Gedanke. Sehr wohl! Sat Bhai hat viele Mitglieder und vielleicht – ehe sie Euch flott die Gurgel abschneiden – geben sie Euch eine Chance zum Leben. Das ist jedenfalls nützlich. Und überdies, diese närrischen Eingeborenen – wenn sie nicht gar zu exaltiert sind – besinnen sich, ehe sie einen Mann töten, wenn er sagt, daß er irgend einer spezifischen Organisation angehört, seht Ihr? Ihr sprecht also, wenn Ihr in kritischer Lage seid: ›Ich bin Sohn des Zaubers‹ und Ihr gewinnt – vielleicht – ah – günstigen Wind. Das ist nur für außergewöhnliche Gelegenheiten oder wenn Ihr Unterhandlungen mit einem Unbekannten anknüpfen wollt. Versteht Ihr ganz genau? Seht wohl! Nehmt nun an, ich, oder ein anderer von unserm Departement, träte in ganz fremder Kleidung zu Euch. Mich würdet Ihr nicht erkennen, wenn ich wollte, was wettet Ihr? Ich werde es Euch eines Tages beweisen. Ich komme also als Ladakhi-Händler – o, als irgend etwas – und ich spreche zu Euch: »Ihr wollt kostbare Steine kaufen?« Ihr antwortet: »Sehe ich aus, wie einer, der kostbare Steine kauft?« Und ich spreche: »Selbst ein sehr armer Mann kann Türkisen oder Tarkeean kaufen.«

»Das ist Kichree» (Kedjeree, ind. Gericht aus Reis, Erbsen, Zwiebeln usw. Mischmasch) sagte Kim – »Pflanzen-Curry.«

»Natürlich ist es das. Ihr sprecht: »Laß mich das Tarkeean sehen.« Ich sage: »Es ward von einem Weibe gekocht und ist vielleicht nicht gut für Deine Kaste.« Dann sprecht Ihr: »Es gibt keine Kaste, wenn Männer Tarkeean sehen – wollen.« Ihr pausiert ein wenig zwischen den Worten »sehen – wollen.« Das ist das ganze Geheimnis. Die kleine Pause zwischen den Worten.« Kim wiederholte versuchsweise diese Worte.

»Sehr wohl! Dann, wenn Zeit dazu ist, zeige ich Euch meinen Türkis und Ihr wißt wer ich bin, und dann tauschen wir Ansichten und Dokumente und solche Dinge aus. Und so ist es mit jedem von uns. Zuweilen reden wir von Türkisen, zuweilen von Tarkeean, aber stets mit der kleinen Pause zwischen den Worten. Es ist ganz leicht. Zuerst: »Sohn des Zaubers«, wenn Ihr in kritischer Lage seid. Vielleicht hilft Euch das – vielleicht nicht. Dann: Das, was ich Euch von Tarkeean sagte, wenn Ihr offizielle Geschäfte mit einem Fremden verhandeln wollt. Jetzt, natürlich, habt Ihr keine offiziellen Geschäfte, Ihr seid – ah – ah! Supernumerar auf Probe. Ganz einziges Specimen. Wäret Ihr Asiate von Geburt, könntet Ihr frischweg verwendet werden; dies halbe Jahr Urlaub soll Euch entenglischen, seht Ihr? Der Lama erwartet Euch, denn ich habe ihn halb offiziell unterrichtet, daß Ihr alle Euere Examina bestanden und bald Regierungs-Anstellung zu gewärtigen habt. Oh, ho! Ihr seid jetzt auf Vergünstigungsration gesetzt, seht Ihr? Wenn Ihr aber angerufen werdet, um Söhnen des Zaubers beizustehen, so versucht es flottweg. Nun sage ich Euch Lebewohl, mein lieber Kerl, und ich hoffe, Ihr werdet Euch – ha – das Oberste zu unterst – gut herausziehen.«

Hurree Babu trat einige Schritte in das Gedränge am Eingang der Station zurück und – war verschwunden. Kim tat einen tiefen Atemzug und schüttelte sich. Er fühlte den nickelbeschlagenen Revolver auf seiner Brust, das Amulett an seinem Hals; Bettelschale, Rosenkranz, Geisterdolch (Mr. Lurgan hatte nichts vergessen) waren zur Hand, nebst Medikamenten, Tuschkasten und Kompaß; und in einem alten, abgenutzten, mit Schildkrötenschalen-Muster gestickten Geldgürtel lag der Sold für einen Monat. Könige konnten nicht reicher sein. Er kaufte von einem Hindu Zuckerwerk in einer Blattdüte und aß voller Entzücken, bis ein Polizist ihn von den Stufen verwies.

Kapitel 11.

Kapitel 11.

Es folgte eine plötzliche, natürliche Reaktion.

»Nun bin ich allein – ganz allein,« dachte Kim. »In ganz Indien ist keiner so allein wie ich. Stürbe ich heute, wer würde davon sprechen – und zu wem? Lebe ich aber, und Gott ist gütig – dann wird ein Preis auf meinen Kopf gesetzt, denn ich bin ein Sohn des Zaubers – ich, Kim.«

Sehr wenige Weiße, aber viele Asiaten können sich in Verzückung versetzen durch fortgesetztes Wiederholen ihres eigenen Namens und indem sie den Geist ungestört sich versenken lassen in das, was persönliche Identität genannt wird. Wird man älter, so schwindet diese Gabe gewöhnlich, aber so lange sie vorhanden, kann sie in jedem Augenblick herbeigerufen werden.

»Wer ist Kim – Kim – Kim?«

Er hockte, die Hände im Schoß gefaltet, die Pupillen zu Stecknadelspitzen zusammengezogen, entfernt von jedem anderen Gedanken, in einem Winkel des geräuschvollen Warteraumes. In einer Minute, in einer halben Sekunde, das fühlte er, würde er an der Lösung des gewaltigen Rätsels sein; hier aber, wie es immer geschieht, fiel sein Geist herab von jenen Höhen mit der Schnelligkeit eines verwundeten Vogels und, die Augen mit der Hand bedeckend, schüttelte er den Kopf.

Ein Hindu mit langem Haar, ein Bairagi (heiliger Mann), der eben ein Billett gelöst hatte, hielt vor ihm still in dem Moment und starrte ihn aufmerksam an.

»Ich auch habe es verloren,« sprach er betrübt. »Es ist eines der Tore zu dem Weg, für mich aber hat es sich seit vielen Jahren geschlossen.«

»Was soll die Rede?« fragte Kim verlegen.

»Du wolltest da mit Deinem Geist ergründen, was für ein Ding Deine Seele sein möchte. Der Anfall kam plötzlich. Ich weiß. Wer sollte wissen, wenn nicht ich? Wohin gehst Du?«

»Nach Kashi« (Benares).

»Dort sind keine Götter. Ich habe sie geprüft. Ich gehe nach Prayag (Allahabad) zum fünften Male – den Pfad zur Erleuchtung suchend. Von welchem Glauben bist Du?«

»Ich auch bin ein Sucher,« sagte Kim, eines von des Lamas Lieblingsworten brauchend. »Obwohl,« er vergaß für den Augenblick seine nordische Kleidung – »obwohl Allah allein weiß, was ich suche.«

Der alte Mann schob die Bairagi-Krücke in seine Armhöhle und setzte sich auf ein Stück rötliches Leopardenfell nieder, als Kim beim Ausrufen des Zuges nach Benares gerade aufstehen mußte.

»Gehe in Hoffnung, kleiner Bruder,« sprach er. »Es ist ein langer Weg zu den Füßen des Einen; aber dahin wandern wir alle.«

Kim fühlte sich nicht mehr so verlassen nach diesen Worten, und ehe er zwanzig Meilen in dem gedrängt vollen Wagen hinter sich hatte, erheiterte er seine Reisegefährten mit einer Reihe der wunderbarsten Geschichten von seinen und seines Meisters magischen Kräften.

Benares zeigte sich als eine besonders schmutzige Stadt, aber es gefiel ihm, daß sein Kleid respektiert wurde. Wenigstens ein Drittel der Bevölkerung betet beständig zu einer oder der anderen Gruppe der vielen Millionen Gottheiten, und so wird jede Art heiliger Männer verehrt. Kim wurde nach dem ungefähr eine Meile außerhalb der Stadt gelegenen Tempel der Tirthanker von einem ihm zufällig begegnenden Farmer aus dem Punjab geleitet, einem Kamboh von der Jullundur-Straße, der vergeblich jeden Gott seiner Heimatstätte um Genesung seines kleinen Sohnes angefleht hatte und nun, als letzte Hilfe, Benares versuchte.

»Du kommst vom Norden?« fragte er, sich schwerfällig durch die engen, übelriechenden Straßen schleppend, ähnlich seinem Lieblingsochsen zu Hause.

»Oh, ich kenne das Punjab. Meine Mutter war eine Pahareen, mein Vater aber kam von Amritzar, bei Jandiala,« sagte Kim, seine geläufige Zunge für die Reise vorbereitend.

»Jandiala–Jullundur? Oho! Dann sind wir so etwas wie Nachbarn.« Er nickte zärtlich dem wimmernden Kinde in seinen Armen zu. »Wem dienest Du?«

»Einem sehr heiligen Mann in dem Tempel der Tirthanker.«

»Alle sind sie heilige Männer und alle sehr geldgierig,« sagte der Jat mit Bitterkeit. »Ich bin um die Säulen gewandert, durch die Tempel gegangen, bis meine Füße geschunden waren, aber das Kind ist nicht die Spur besser. Und die Mutter ist ebenfalls krank … still, still, mein Kleiner … gaben ihm einen anderen Namen, als das Fieber kam. Wir steckten ihn in Mädchenkleider. Es gibt nichts, was wir nicht taten. Da sagte ich zu seiner Mutter, als sie mein Bündel nach Benares packte – sie hatte mit mir gehen wollen – ich sagte: Sakhi Sarwal Sultan wird uns am besten helfen. Seine Güte kennen wir, aber die Götter da unten sind uns fremd.« Das Kind bewegte sich auf dem Lager der es fest umschließenden Arme und blickte nach Kim unter seinen schweren Augenlidern hervor.

»Und war alles umsonst?« fragte Kim mit halbem Interesse.

»Alles umsonst – alles umsonst«, sagte das Kind mit vor Fieber zuckenden Lippen.

»Die Götter gaben ihm wenigstens einen guten Verstand,« sprach der Vater mit Stolz. »Zu denken, daß er so klug zugehört hat! Dort ist Dein Tempel. Nun, ich bin ein armer Mann – ich habe mit vielen Priestern zu tun gehabt – aber mein Sohn ist mein Sohn, und wenn ein Geschenk für Deinen Meister ihn heilen kann – ich bin zu Ende mit meinem Verstand.«

Kim bedachte sich eine Weile mit stolzem Gefühl. Vor drei Jahren würde er rasch Vorteil aus der Lage gezogen haben, ohne weiter nachzudenken; jetzt aber zeigte die Achtung, die der Jat ihm zollte, daß er ein Mann war. Überdies hatte er selbst schon einige Male Fieber gehabt und war klug genug zu erkennen, daß hier Hunger die Ursache war.

»Ruf ihn heraus und ich will ihm eine Schuldverschreibung auf mein bestes Joch Ochsen geben, wenn er mein Kind kuriert.«

Kim hielt vor der geschnitzten Außentür des Tempels. Ein weißgekleideter oswalischer Geldwechsler aus Ajmir, der seine Wuchersünden eben wieder frisch getilgt hatte, fragte ihn, was er wollte.

»Ich bin Chela des Teshoo Lama, eines Heiligen von Bhotiyal – da drinnen. Er befahl mir zu kommen. Ich warte. Willst Du ihm das sagen?«

»Vergiß nicht das Kind,« rief der ungeduldige Jat, und brüllte darauf in Punjabisch: »Oh, Heiliger – oh, Schüler des Heiligen – oh, Götter über allen Welten – sehet die Trauer an Eurer Pforte sitzen.« Der Ruf ist so gewöhnlich in Benares, daß die Vorübergehenden nicht einmal den Kopf wandten.

Der Oswale, in Frieden mit der Menschheit, brachte die Botschaft in die Dunkelheit hinter sich und die ungezählten, östlichen Minuten verstrichen, denn der Lama schlief in seiner Zelle und kein Priester wollte ihn wecken. Als das Klick-Klack seines Rosenkranzes endlich die Stille des inneren Hofes, wo die ruhevollen Bildnisse der Arhats stehen, unterbrach, flüsterte ein Novize ihm zu: »Dein Chela ist hier,« und der alle Mann vergaß das Ende seines Gebets und schritt vorwärts.

Kaum erschien die hohe Gestalt in der Pforte, als der Jat herbei eilte und, das Kind emporhaltend, rief: »Blicke auf dieses, Heiliger; und so die Götter wollen, wird er leben – leben!«

Er tastete in seinen Gürtel und zog eine kleine Silbermünze hervor.

»Was bedeutet dies?« Der Lama sah Kim an. Auffällig war, daß er weit besser Urdu sprach als damals, unter Zam-Zammah; aber der Jat wollte kein Privat-Gespräch aufkommen lassen.

»Es ist nur ein Fieber,« sagte Kim. »Das Kind ist nicht gut ernährt.«

»Er wird von jeder Kleinigkeit krank und seine Mutter ist nicht hier.«

»Erlaubst Du, Heiliger, daß ich helfe?«

»Wie! Sie haben Dich zu einem Heiler gemacht?« rief der Lama. »Warte hier,« und er setzte sich zu dem Jat auf die unterste Tempelstufe, indes Kim die kleine Betelschachtel behutsam öffnete. In der Schule hatte er geplant, wie er als ein Sahib zurückkommen und den alten Mann necken wollte, bevor er sich zu erkennen gab – Knabenträume. Er war ernst in diesem Auswählen der Medikamente, nur zuweilen von einer Pause zum Nachdenken und einer gemurmelten Anrufung unterbrochen. Chinin hatte er in Pastillen und dunkelbraune Fleischtäfelchen – vermutlich von Rindfleisch – doch das war nicht seine Sache.

»Nimm also diese sechs,« sprach Kim, sie dem Vater reichend. »Preise die Götter und koche drei davon in Milch, die anderen drei in Wasser. Wenn er die Milch getrunken hat, gib ihm dieses (es war die Hälfte einer Chinin-Pastille) und hülle ihn warm ein. Wenn er erwacht, gib ihm die in Wasser gekochten drei und die zweite Hälfte dieser weißen Pille. Ferner ist hier eine andere braune Medizin, die er auf dem Wege heimwärts nehmen mag.«

»Götter! Welche Weisheit!« rief der Kamboh, starr vor Staunen.

Es war alles, dessen Kim sich entsann aus seiner eigenen Behandlung bei einem Fall von herbstlicher Malaria – nur, daß er noch etwas Geplapper hinzufügte, um dem Lama ein wenig zu imponieren.

»Gehe nun! Am Morgen komme wieder.«

»Aber der Preis – der Preis,« rief der Jat, sich in die Brust werfend. »Mein Sohn ist mein Sohn. Wie kann ich nun, da er wieder gesund werden soll, zu seiner Mutter zurückkommen und sprechen: ich fand Hilfe am Wege und gab nicht einmal eine Schale Milch dafür?«

»Sie sind alle gleich, diese Jats,« sprach Kim ruhig. »Der Jat stand auf seinem Misthaufen, als die Elefanten des Königs vorbei kamen. ›Oh, Treiber,‹ rief er, ›wie teuer verkaufst Du diese kleinen Esel?‹«

Der Jat brach in ein schallendes Gelächter aus, entschuldigte sich aber sofort bei dem Lama. »So pflegt man bei uns zu sagen – ja, es ist die Redekunst meines Landes. So sind wir alle, wir Jats. Morgen werde ich mit dem Kinde kommen und der Segen der Götter meiner Heimstätte – welches gute kleine Götter sind – sei mit Euch beiden. Nun, Sohn, werden wir wieder stark. Speie es nicht aus, kleines Prinzlein! König meines Herzens, speie es nicht aus, und am Morgen werden wir wieder starke Männer sein, Wettkämpfer und Keulenschwinger.«

Er ging, leise singend und summend fort. Der Lama wandte sich zu Kim und seine ganze liebevolle alte Seele strahlte aus seinen schmalen Augen.

»Die Kranken heilen, ist Verdienst sammeln; zuvor aber muß man Weisheit erwerben. Das war weise gehandelt, oh, Freund aller Welt.«

»Durch Dich, Heiliger, bin ich weise gemacht,« sprach Kim, das eben gespielte kleine Spiel vergessend, St. Xavier vergessend, vergessend sein weißes Blut, ja selbst das Große Spiel, und nach Mohammedaner-Art sich niederwerfend in den Staub des Jain-Tempels, um seines Meisters Füße zu berühren. »Meine Kenntnisse danke ich Dir. Drei Jahre habe ich Dein Brot gegessen. Meine Zeit ist um. Von der Schule bin ich entlassen. Ich komme zu Dir.«

»Das ist meine Belohnung. Tritt ein! Tritt ein! Und alles ist wohl beendet?« Sie traten in den inneren von der Nachmittagssonne goldig überstrahlten Hof. »Stehe still, daß ich Dich anschaue. So!« Er betrachtete ihn kritisch. »Er ist nicht länger ein Kind; er ist ein Mann, reif an Weisheit, ein wandernder Arzt. Ich tat wohl – ich tat wohl, als ich Dich den Männern in Waffen überließ in jener dunklen Nacht. Erinnerst Du Dich unseres ersten Tages, unter Zam-Zammah?«

»Oho,« sagte Kim, »erinnerst Du Dich, wie ich vom Wagen sprang, den ersten Tag, als ich –«

»Als Du eintratest in die Pforte des Wissens. Ja. Und des Tages, wo wir die Kuchen zusammen aßen, hinter dem Fluß bei Nucklao. Aha! Oft hast Du für mich gebettelt, aber an dem Tage bettelte ich für Dich.«

»Mit gutem Grund. Ich war ein Schüler hinter den Toren des Wissens und wie ein Sahib gekleidet. Vergiß nicht, Heiliger,« fuhr Kim scherzend fort, »ich bin noch heute ein Sahib – durch Deine Gunst.«

»Wahr. Und ein Sahib in hoher Achtung. Komme mit in meine Zelle, Chela.«

»Wie kannst Du das wissen?«

Der Lama lächelte. »Zuerst durch Briefe des guten Priesters, den wir in dem Lager der bewaffneten Männer trafen; jetzt ist er nach seinem eignen Lande zurückgekehrt und ich sende das Geld seinem Bruder.« Oberst Creighton, der das Vertrauensamt übernommen hatte, als Vater Victor mit den Mavericks nach England ging, war allerdings nicht des Kaplans Bruder. »Aber ich verstehe nicht wohl Sahib-Briefe. Sie müssen mir übersetzt werden. Ich wählte einen sicheren Weg. Oft, wenn ich von meiner Suche zurückkam zu diesem Tempel, der mir stets ein Nest war, traf ich hier einen, der Erleuchtung suchte – einen Mann von Leh – der, wie er sagte, ein Hindu gewesen war – aber müde all der Götter.« Der Lama zeigte auf die Arhats hin.

»Ein fetter Mann?« fragte Kim, mit den Augen zwinkernd.

»Sehr fett. Ich bemerkte aber bald, daß sein Geist sich ganz und gar mit wertlosen Dingen beschäftigte – wie mit Dämonen und Zauberformeln und der Art und Gewohnheit unseres Teetrinkens in den Klöstern und auf welche Weise wir unsere Novizen einführten. Ein Mann, überschwänglich in Fragen; aber er war Dein Freund, Chela. Er erzählte mir, daß Du auf dem Wege zu großen Ehren als ein Schriftgelehrter wärest. Und ich sehe. Du bist ein Arzt.«

»Ein Schreiber bin ich, wenn ich ein Sahib bin und die Jahre, die ein Sahib darauf verwenden muß, habe ich hinter mir. Aber all das ist Nebensache, wenn ich zu Dir als Dein Schüler komme.«

»Eine Novize bist Du gewesen. Bist Du von der Schule gänzlich entlassen? Ich möchte Dich nicht unreif haben.«

»Ich bin ganz frei. Zur rechten Zeit erhalte ich Dienst als Schreiber unter der Regierung –«

»Nicht als ein Krieger. Das ist gut.«

»Aber jetzt bin ich hier, um mit Dir zu wandern. Deshalb kam ich her. Wer hat diese ganze Zeit für Dich gebettelt?« fuhr Kim rasch fort, um seine Rührung zu verbergen.

»Sehr oft bettelte ich selbst; aber, wie Du weißt, bin ich selten hier, nur wenn ich komme, um meinen Schüler wieder zu sehen. Von einem Ende zum andern von Hind bin ich gewandert zu Fuß und in dem Zug. Ein großes und ein wundervolles Land! Aber, wenn ich hier einkehre, ist es, als wäre ich in meinem eigenen Bhotiyal.«

Er schaute sich mit Wohlgefallen in der kleinen, reinlichen Zelle um. Ein niedriges Polster war sein Sitz, auf dem er sich niederließ, mit gekreuzten Beinen in der Stellung des Bodhisat, der aus Betrachtungen erwacht. Ein schwarzer, kaum zwanzig Zoll hoher Tisch von Eichenholz, kupferne Teelassen tragend, stand vor ihm. In einer Ecke befand sich ein kleiner Altar, ebenfalls aus schwerem, geschnitztem Eichenholz mit einer Statue des sitzenden Buddha aus vergoldetem Kupfer, einer Lampe, einer Zündholzbüchse und einigen kupfernen Blumentöpfen.

»Der Hüter der Bildnisse in dem Wunder-Haus erwarb Verdienst, indem er mir dies alles schenkte,« sprach der Lama, Kims Auge folgend. »Wenn man fern ist von seinem eigenen Lande, wecken solche Dinge die Erinnerung, und wir müssen den Herrn verehren, denn Er zeigte den Weg. Sieh!« Er wies auf einen sonderbar aufgerichteten Hügel von gefärbtem Reis, der von einem phantastischen Ornament aus Metall gekrönt war, »als ich noch Abt war in meinem eignen Platz – bevor ich besseres Wissen erlangte – brachte ich täglich diese Gabe dar. Es ist das Opfer des Universums für den Herrn. So bieten wir zu Bhotiyal jeden Tag die Welt dem Höchst Vortrefflichen Gesetz als Opfer dar. Und ich tue es selbst jetzt noch, obwohl ich weiß, daß der Vortreffliche erhaben ist über Habsucht und Geiz.« Er schnupfte aus seiner Dose.

»Es ist wohlgetan, Heiliger,« sagte Kim, sich in die Kissen lehnend, sehr glücklich, aber auch sehr schläfrig.

»Und,« der alte Mann lachte in sich hinein, »ich male auch Bilder von dem Rad des Lebens. Alle drei Tage ein Bild. Ich war damit beschäftigt, oder, kann auch sein, ich halte gerade meine Augen ein wenig geschlossen, als sie mir Deine Botschaft brachten. Es ist gut, daß Du da bist. Ich will Dich meine Kunst lehren – nicht aus Stolz – aber weil Du lernen mußt. Die Sahibs besitzen nicht alle Weisheit dieser Welt.«

Unter dem Tisch hervor zog er ein Blatt sonderbar riechendes, gelbes, chinesisches Papier, Pinsel und ein Täfelchen chinesischer Tusche. Mit klarsten, schärfsten Linien hatte er darauf das große Rad mit seinen sechs Speichen gezeichnet, dessen Achse die in einer Gestalt vereinten Tiere Schwein, Schlange und Taube bilden (Unwissenheit, Zorn, Wollust), und dessen Felder den ganzen Himmel und die ganze Hölle und allen Wechsel menschlichen Lebens bedeuten. Man erzählt, daß der Bodhisat selbst es zuerst mit Reiskörnern in Staub zeichnete, um seinen Schülern den Zusammenhang der Dinge zu erklären. Wie es so von Generation zu Generation kam, kristallisierte es sich zu einer wunderbaren, gewissermaßen verabredeten Figur, die von Hunderten kleiner Zeichen wimmelte, deren jedes eine besondere Bedeutung hatte. Es gibt nur wenige, die dieses gezeichnete Gleichnis zu deuten vermögen, und vielleicht nicht zwanzig auf der ganzen Welt, die es ohne Vorlagen genau wiederzugeben vermöchten. Und von diesen zwanzig wiederum bleiben nur drei übrig, die es sowohl zu zeichnen wie auszulegen wissen.

»Ich habe ein wenig zeichnen gelernt«, sagte Kim. »Aber dies ist ein Wunder über Wunder.«

»Vor vielen Jahren habe ich es gemalt,« sprach der Lama. »Es gab eine Zeit, wo ich ein Bild fertig malte zwischen einer und der nächsten Nacht. Ich will Dich die Kunst lehren, nach gehöriger Vorbereitung; und ich will Dir die Bedeutung des Rades klar machen.«

»Wir nehmen also unsere Wanderschaft wieder auf?«

»Unsere Wanderschaft und unsere Suche. Ich wartete nur auf Dich. In hundert Träumen ward es mir verkündet – besonders aber in dem, den ich träumte in der Nacht nach dem Tage, wo die Pforte des Wissens zum erstenmal hinter Dir sich schloß – daß ohne Dich ich meinen Strom nicht finden würde. Wieder und immer wieder, Du weißt es, suchte ich den Gedanken zu bannen, weil ich ein Blendwerk fürchtete. Deshalb wollte ich Dich nicht mit mir nehmen an dem Tage zu Lucknow, wo wir die Kuchen miteinander aßen. Ich wollte Dich nicht mit mir nehmen, bis die Zeit reif und günstig war. Von den Hügeln bis zur See und von der See bis zu den Hügeln bin ich gewandert, aber es war vergebens. Da gedachte ich der Jataka.«

Er erzählte Kim die Geschichte von dem Elefanten mit der Beinfessel, die er den Jan-Priestern so oft erzählt.

»Weiterer Offenbarungen bedarf es nicht,« fuhr er heiter fort, »Du warst mir als Hilfe gesendet. Ohne diese Hilfe konnte meine Suche nicht gelingen. Deshalb wollen wir wieder zusammen ausziehen und unsere Suche ist sicher.«

»Und wohin gehen wir?«

»Was liegt daran, Freund der ganzen Welt? Die Suche, sage ich, ist sicher. Wenn die Not es erfordert, wird der Strom zu unseren Füßen aus der Erde hervorbrechen. Ich erwarb Verdienst, da ich Dich zu den Toren des Wissens sandte, ich gab Dir das Juwel, das Weisheit heißt. Du kehrtest zurück, ich sah es eben – ein Nachfolger Sakyamunis, des Arztes, dessen Altäre viele in Bhotiyal sind. Es genügt. Wir sind zusammen und alles ist, wie vordem – Freund der ganzen Welt – Freund der Sterne – mein Chela!«

Dann sprachen sie von weltlichen Dingen; bemerkenswert war, daß der Lama nie nach Einzelheiten des Lebens in St. Xavier frug, noch den geringsten Wunsch äußerte, von den Sitten und Gebräuchen der Sahibs zu hören. Er lebte nur in der Vergangenheit und erinnerte sich jedes Schrittes ihrer ersten wundervollen gemeinschaftlichen Reise; er lächelte dabei und rieb sich die Hände, bis er, sich zusammenrollend, in den plötzlichen Schlaf des hohen Alters sank.

Kim sah den letzten staubigen Sonnenschein aus dem Hofe schwinden und spielte mit seinem Geisterdolch und Rosenkranz. Das Getöse von Benares, der ältesten aller Städte der Erde, die Tag und Nacht wach ist vor den Göttern, schallte rund um die Mauern, wie die Wogen der See gegen einen Wellenbrecher. Hin und wieder schritt ein Jain-Priester mit einer kleinen Opfergabe für die Götterbilder durch den Hof, seinen Weg vorher fegend, um kein lebendes Wesen zu zerstören. Eine Lampe schimmerte und der Laut eines Gebetes folgte. Kim sah nach den Sternen, die einer nach dem andern hervortraten in dem feuchtwarmen Dunkel, bis er in Schlaf fiel am Fuße des kleinen Altars. In dieser Nacht träumte er nur Hindostianisch, nicht ein Wort Englisch…

»Heiliger, denke an das Kind, dem wir die Medizin gaben,« sprach Kim, als der Lama gegen drei Uhr morgens aus Träumen erwachend, die Pilgerfahrt antreten wollte, »der Jat wird mit dem Tageslicht hier sein.«

»Du hast wohl gesprochen. In meiner Eile würde ich ein Unrecht begangen haben.« Er setzte sich wieder auf die Kissen und nahm seinen Rosenkranz vor. »In Wahrheit, alte Menschen sind wie Kinder,« sagte er betrübt. »Sie wünschen etwas – siehe da! – es muß sogleich erfüllt werden, sonst werden sie zornig und weinen. Oft auf meiner Wanderschaft war ich bereit, mit dem Fuß zu stampfen, wenn ein Ochsenkarren mir den Weg versperrte, ja selbst wenn es nur eine Staubwolke war. Das war nicht so, als ich noch ein Mann war – vor langer Zeit. Trotzdem ist es sündhaft –«

»Aber, Heiliger, Du bist doch wirklich alt.«

»Das Ding ist geschehen. Eine Ursache ist in die Welt gegangen und wer, krank oder gesund, wissend oder unwissend, alt oder jung, könnte die Wirkung dieser Ursache zügeln? Steht das Rad still, wenn ein Kind es dreht – oder ein Trunkener? Chela, dies ist eine große und eine schreckliche Welt.«

»Ich finde sie gut.« Kim gähnte. »Ist etwas zu essen da? Seit gestern Abend habe ich nicht gegessen.«

»Ich hatte vergessen, was Du brauchst. Dort ist kalter Reis und guter Tee von Bhotiyal.«

»Weit können wir nicht gehen mit solchem Stoff.« Kim sehnte sich, wie ein Europäer, nach Fleischnahrung, die in einem Jain-Tempel nicht zu erlangen ist. Doch statt mit der Bettelschale hinaus zu gehen, beruhigte er seinen Magen mit Klümpchen von kaltem Reis. Die Morgendämmerung brachte den Farmer, redselig stotternd vor Dankbarkeit.

»In der Nacht brach sich das Fieber und der Schweiß kam,« rief er. »Fühlt ihn an. Seine Haut ist frisch. Ihm schmeckten die gesalzenen Täfelchen und die Milch trank er mit Gier.« Er zog das Tuch vom Gesicht des Kindes, das Kim schläfrig anlächelte. Eine Gruppe von Jain-Priestern, schweigend, aber ganz Aufmerksamkeil, hatte sich bei der Tempeltür gesammelt. Sie wußten und Kim sah, daß sie wußten, wie der alte Lama seinen Schüler gefunden hatte. Höflich, wie sie sind, hatten sie sich während der Nacht weder durch Gegenwart, noch Wort, noch Bewegung aufgedrängt, wofür Kim ihnen, bei Sonnenaufgang, sich dankbar erwies.

»Danke den Göttern der Jains, Bruder,« sprach er zu dem Jat, den Namen der Götter nicht wissend. »Das Fieber ist wirklich gebrochen.«

»Schauet! Sehet!« rief der Lama, vor Freude strahlend, seinen Gastgebern zu. »Gab es jemals solchen Chela? Er folgt unserm Herrn, dem Heiler.«

Die Jains erkennen offiziell alle Götter des Hindu-Glaubens an, ebensowohl den Lingam, wie die Schlange. Sie tragen die Schnur der Brahmahnen und sind Anhänger jedes Rechtes der Kasten-Vorschrift der Hindu. Aber, weil sie den Lama kannten und liebten, weil er ein alter Mann war, weil er den Weg suchte, weil er ihr Gast war und endlich – weil er nachts oft lange Gespräche mit dem Oberpriester führte, der ein so freidenkender Metaphysiker, als je einer ein Haar siebzig Mal gespalten – deshalb nickten sie dem Lama Beifall zu.

»Vergiß aber nicht,« – Kim beugte sich über das Kind – »dieses Übel kann wiederkehren.«

»Nicht, wenn Du das richtige Zaubermittel hast,« erwiderte der Vater.

»Aber wir gehen bald fort.«

»Wahr,« sprach der Lama, sich an alle Jains wendend. »Wir gehen jetzt zusammen auf die Suche, von der ich oft geredet. Ich wartete, bis mein Chela reif wäre. Schauet ihn an! Wir gehen nach dem Norden. Niemals wieder werde ich auf diesen Ort meiner Ruhe blicken, o Männer des guten Willens.«

»Ich aber bin kein Bettler.« Der Landmann sprang auf, das Kind an sich pressend.

»Schweige. Störe den Heiligen nicht,« rief ihm ein Priester zu.

»Geh,« flüsterte Kim. »Triff uns wieder unter der großen Eisenbahnbrücke, und um aller Götter unseres Punjab willen, bringe Futter mit – Curry, Hülsenfrucht, in Fett gebacken« Kuchen und Zuckerwerk. Besonders Zuckerwerk. Beeile Dich.« Die Blässe des Hungers kleidete Kim gut, als er dastand, schlank und schmächtig, in seinen dunkelfarbigen, wallenden Gewändern, eine Hand auf dem Rosenkranz, die andere wie zum Segnen ausgestreckt, eine Stellung, die er dem Lama getreu nachahmte. Ein europäischer Zuschauer hätte sagen können, er gliche einem auf einem Kirchenfenster gemalten jungen Heiligen mehr, als einem Jungen im Wachsen, der bleich vor Hunger ist.

Lang und förmlich wurde der Abschied, dreimal beendet und dreimal von vorn angefangen. Der Sucher, er – der den Lama vom fernen Tibet her nach diesem Hafen geladen hatte, ein haarloser Asket, mit silberweißem Antlitz – nahm nicht teil daran: er weilte, wie immer, in Betrachtungen unter den Götterbildern. Die anderen waren menschlicher, nötigten dem alten Manne kleine Gaben auf, eine Betelschachtel, einen neuen, eisernen Federkasten, einen Beutel für Eßwaren und dergleichen mehr, warnten ihn vor den Gefahren der Welt draußen und prophezeiten ein glückliches Ende der Suche.

Kim indessen, einsamer denn je, hockte auf den Stufen und fluchte in St. Xaviers Art.

»Aber es ist mein eigener Fehler,« dachte er. »Mit Mahbub oder Lurgan Sahib aß ich ihr Brod; in St. Xavier drei Mahlzeiten am Tage. Hier kann ich zusehen, wo ich etwas bekomme. Ich fühle mich nicht wohl. Wie würde mir ein Teller mit Fleisch behagen … Heiliger, bist Du zu Ende?«

Der Lama, beide Hände erhoben, begann eine letzte Segenspendung in zierlichem Chinesisch. »Ich muß mich auf Deine Schultern lehnen,« sprach er, als die Tempelpforte sich hinter ihnen schloß. »Wir werden steif, glaube ich.«

Das Gewicht eines sechs Fuß hohen Mannes ist nicht leicht zu stützen durch Meilen von gedrängt vollen Straßen, und Kim, außerdem mit Bündeln und Päckchen für die Reise beladen, war froh, den Schatten der Eisenbahnbrücke zu erreichen.

»Hier essen wir,« sagte er entschlossen, als der Kamboh, blau gekleidet und lächelnd, in Sicht kam, einen Korb in einer Hand, das Kind an der anderen.

»Greift zu, Heilige,« rief er aus fünfzig Fuß Entfernung. (Auf einer flachen Stelle unter dem ersten Brückenbogen waren sie sicher vor den Blicken hungriger Priester.) »Reis und Curry, Kuchen, noch warm und gut gewürzt mit Hing (Asafötida), Käse und Zucker. König meiner Felder« – dies zu seinem kleinen Sohn – »laß uns diesen heiligen Männern zeigen, daß wir Jats von Jullundur einen Dienst vergelten können… ich hatte gehört, daß die Jains nur essen, was sie selbst gekocht haben, aber wahrlich,« – er blickte höflich weg nach dem breiten Strom – »wo kein Auge ist, ist keine Kaste.«

»Und wir,« sagte Kim, sich umdrehend und eine Blattschüssel für den Lama füllend, »sind erhaben über alle Kasten.«

Schweigend sättigten sie sich an der guten Speise. Erst, als er das Letzte von dem klebrig süßen Stoff von seinem Finger abgeleckt, bemerkte Kim, daß auch der Kamboh reisefertig dastand.

»Wenn wir denselben Weg haben,« sagte er hastig, »gehe ich mit Dir. Man findet nicht oft einen Wundertäter, und das Kind ist noch schwach. Aber ich bin auch kein schwaches Rohr.« Er hob seinen Lathi empor, einen fünf Fuß langen Bambusstock, mit polierten Eisenringen umgeben, und schwang ihn durch die Luft. »Man sagt, die Jats wären streitsüchtig, doch das ist nicht wahr. Nur wenn man uns in die Quere kommt, dann sind wir wie unsere Büffel.«

»So ist es,« sagte Kim. »Und ein guter Stock ist ein guter Beweis.«

Der Lama blickte in ruhiger Stimmung stromaufwärts, wo in grauer Perspektive unaufhörlich die Rauchsäulen von den Verbrennungs-Plätzen aufstiegen. Hin und wieder, ungeachtet aller behördlichen Verordnungen, trieben Überreste von halb verbrannten Leichen auf dem rasch fließenden Strom abwärts.

»Ohne Dich,« sprach der Kamboh, das Kind an seine rauhe Brust pressend, »wäre ich vielleicht heute dorthin gegangen – mit diesem hier. Die Priester lehren uns, daß Benares heilig ist – was niemand bezweifelt – und daß es begehrenswert ist, dort zu sterben. Ihre Götter aber kenne ich nicht, und Geld fordern sie auch; und hat man sein Gebet verrichtet, so behauptet irgend ein geschorener Kopf, es sei wertlos, wenn man nicht aufs neue betet. Wasch Dich hier! Wasch Dich dort! Begieße, bade, trinke und sammle Blumen – aber jedes Mal bezahle die Priester. Nein, das Punjab für mich und die Erde des Jullundur-Landes für die beste Scholle darauf.«

»Ich habe oft gesagt – in dem Tempel, glaube ich – daß, wenn die Not es erheischt, der Fluß zu unseren Füßen sich auftun wird. Deshalb wollen wir jetzt nordwärts wandern,« sprach der Lama, sich erhebend. »Ich erinnere mich eines angenehmen, von Fruchtbäumen umgebenen Platzes, wo man in Betrachtungen sich ergehen kann – und wo die Luft kühler ist. Sie kommt dort von den Bergen und von dem Schnee der Berge.«

»Wie ist der Name des Ortes?« fragte Kim.

»Wie sollte ich das wissen? Warst Du nicht – nein, das war, nachdem die Armee aus der Erde herauswuchs und Dich fortführte. Dort weilte ich im Nachsinnen in einem Raume unter dem Taubenschlag – hätte sie nur nicht immerwährend geredet.«

»Oho! die Frau von Kulu. Das ist bei Saharunpore.«

»Wie führt der Geist Deinen Meister? Wandert er zu Fuß wegen früherer Sünden?« fragte leise der Jat. »Es ist ein weiter Weg bis Delhi.«

»Nein,« antwortete Kim. »Ich will um ein Billet für den Zug betteln.« In Indien bekennt man sich nicht zum Besitz von Geld.

»Dann im Namen der Götter, laßt uns den Feuerwagen nehmen. Mein Sohn ist am besten in den Armen seiner Mutter aufgehoben. Die Regierung legt uns viele Steuern auf, aber ein Gutes gibt sie uns, den Zug, der Freunde verbindet, und die Sehnsucht haben, zusammenführt. Ein wundervolles Ding ist der Zug.«

Einige Stunden später drängten sie sich in den Zug hinein und schliefen wahrend der Tageshitze. Der Kamboh quälte Kim mit Fragen nach des Lamas Leben und Tun und erhielt merkwürdige Antworten. Kim sah behaglich in die ebene, nordwestliche Landschaft hinaus und plauderte mit den ein- und aussteigenden Passagieren. Noch heute halten die indischen Landleute die Fahrkarten und das Abknipsen der Fahrkarten für eine unerklärliche Unterdrückung. Sie begreifen nicht, warum, wenn sie für ein Zauberpapier bezahlt haben, Fremde große Stücke von dem Zauber abreißen. So gibt es immer noch lange und heftige Debatten zwischen den Reisenden und Billettabnehmern. Kim half dabei einige Male mit ernstem Rat und zeigte seine Klugheit vor dem Lama und dem bewundernden Kamboh. Bei Somna sandte das Schicksal ihm etwas zum nachdenken. Da polterte, als der Zug schon in Bewegung war, ein armer, magerer, kleiner Mann in den Wagen – ein Mahratta – wie Kim aus der Form des fest anliegenden Turbans schloß. Sein Gesicht war zerschnitten, sein Obergewand, von Musselin, zerrissen und ein Bein verbunden. Er erzählte ihnen, daß ein Bauernwagen umgestürzt und er beinahe getötet worden wäre; er wollte jetzt nach Delhi, wo sein Sohn lebte. Kim betrachtete ihn genauer. Wenn er, wie er erzählte, auf der Erde hin und her gerollt wäre, so hätte seine Haut geschrammt sein müssen. Aber alle seine Wunden schienen Schnitte zu sein, und durch einen einfachen Fall vom Wagen konnte ein Mann nicht so in Schrecken gesetzt sein. Als er mit zitternden Fingern das zerrissene Tuch um seinen Hals festknüpfen wollte, legte er ein Amulett blos, von der Art, die man Herzstärker nennt. Amulette sind gewöhnlich genug, aber nicht solche, die an plattiertem Kupferdraht hängen, noch weniger solche von schwarzer Emaille auf Silber. Außer dem Lama und dem Kamboh war niemand in dem Abteil, das glücklicherweise ein altmodisches, abgeschlossenes war. Kim tat, als ob er sich die Brust kratzen wollte und legte dabei sein eigenes Amulett blos. Des Mahrattas Gesicht veränderte sich sofort, und er legte sein Amulett frei auf die Brust.

»Ja,« wandte er sich an den Kamboh, »ich war in Eile, und der Wagen, von einem Mischling geführt, prallte mit einem Rad an einen Brückenpfeiler und außer dem Schaden, den ich nahm, ging eine volle Schüssel von »Tarkeean« verloren. Ich war kein Sohn des Zaubers (glücklicher Mann) an dem Tage.«

»Das war ein großer Verlust,« sagte der Kamboh, so gleichgültig wie möglich. Seine Erfahrungen in Benares hatten ihn mißtrauisch gemacht.

»Wer kochte es?« fragte Kim.

»Ein Weib.« Der Mahratta hob die Augen.

»Aber jedes Weib kann Tarkeean kochen,« sagte der Kamboh. »Es ist ein gutes Currygericht.«

»O ja,« sagte der Mahratta, »es ist ein gutes Currygericht.«

»Und billig,« sagte Kim. »Aber, was meint die Kaste?«

»O, es gibt keine Kaste, wo Männer Tarkeean sehen – – wollen,« erwiderte der Mahratta in dem vorgeschriebenen Tonfall. »In wessen Dienst bist Du?«

»In dem Dienst dieses Heiligen.« Kim zeigte auf den glücklichen, schläfrigen Lama, der mit einem Ruck bei dem vielgeliebten Wort erwachte.

»Ah, er ward vom Himmel gesendet, um mir zu helfen. Freund aller Welt ist er genannt. Auch Freund der Sterne nennt man ihn. Er wandelt als ein Heiliger – seine Zeit ist reif. Groß ist seine Weisheit.«

»Und ein Sohn des Zaubers,« flüsterte Kim. Der Kamboh zündete eilig seine Pfeife an, aus Furcht, daß der Mahratta ihn anbettelte.

»Und wer ist das?« fragte der Mahratta, nervös seitwärts schielend.

»Einer, dessen Kind ich – wir heilen, der uns sehr verpflichtet ist. – Setze Dich ans Fenster, Mann von Jullundur. Hier ist ein Kranker.«

»Humpf! Ich habe gar kein Verlangen, mit herumgelaufenen Landstreichern zusammen zu sitzen. Meine Ohren sind nicht lang, und ich bin kein neugieriges Weib.« Der Jat ließ sich schwer in eine entfernte Ecke fallen.

»Bist Du etwas wie ein Heiler? Ich bin zehn Klafter tief in Not,« flüsterte, an das letzte Wort Kims anknüpfend, der Mahratta.

»Der Mann ist über und über voll Wunden,« wandte Kim sich an den Kamboh. »Ich will versuchen, ihn zu heilen. Niemand störte mich, als ich Dein Kind behandelte.«

»Ich verdiene Tadel,« sagte demütig der Kamboh. »Ich schulde Dir das Leben meines Sohnes. Du bist ein Wundertäter – ich weiß es.«

»Zeige mir die Schnitte.« Kim neigte sich über des Mahrattas Brust, vom Klopfen seines Herzens fast erstickend, denn dies war das Große Spiel aus dem ff. »Nun erzähle mir Deine Geschichte, Bruder, schnell, indem ich Zaubersprüche murmele.«

»Ich komme vom Süden, wo ich mein Werk zu tun hatte. Einen von uns haben sie auf der Landstraße erschlagen. Hast Du es gehört?« Kim schüttelte den Kopf. Er wußte natürlich nichts über den Vorgänger des E. 23., der unten im Süden, im Anzug eines arabischen Händlers, tot gefunden war. »Nachdem ich einen gewissen Brief gefunden, den ich suchen sollte, eilte ich davon. Ich entkam aus der Stadt und kam nach Mhow. So sicher fühlte ich mich, daß ich nicht einmal mein Äußeres änderte. In Mhow erhob ein Weib Klage gegen mich wegen Juwelen-Diebstahls in der Stadt, die ich eben verlassen. Da merkte ich, daß die Meute hinter mir war. Aus Mhow entrann ich bei Nacht mittels Bestechung der Polizei, die ohne Zweifel ebenfalls bestochen war, um mich in die Hände meiner Feinde zu liefern. Darauf verbarg ich mich eine Woche als Büßer in einem Tempel in der allen Stadt Chitor; aber ich wußte nicht, wohin mit dem Brief, den ich bei mir hatte. Endlich begrub ich ihn unter dem Stein der Königin zu Chitor, an dem Platz, der uns allen bekannt ist.«

Kim wußte nichts davon, aber nicht um die Welt hätte er die Erzählung unterbrochen.

»Zu Chitor, siehst Du, war ich ganz in des Königs Macht; denn Kotah ostwärts ist außer dem Gesetz der Königin (von England, Viktoria), und Jeypur und Gwalior liegen ebenfalls ostwärts. Spione liebt man nicht, und Gerechtigkeit gibt es nicht. Ich wurde gejagt wie ein nasser Schakal, aber ich schlug mich durch bis Bandakui. Da hörte ich, daß ich eines Mordes angeklagt war in der Stadt, aus der ich eben kam – des Mordes an einem Knaben. Sie hatten beides zur Stelle, die Leiche und den Zeugen.«

»Aber gibt es keinen Schutz bei der Regierung?«

»Für uns von dem Spiel gibt es keinen Schutz. Wenn wir sterben, sterben wir. Unser Name wird in dem Buch ausgelöscht – das ist alles. In Bandakui, wo einer von uns lebt, suchte ich die Spur zu verwischen, indem ich mein Gesicht änderte und mich zum Mahratten machte. So kam ich nach Agra und wollte nun nach Chitor zurück, um den Brief zu holen. So sicher dachte ich ihnen entwischt zu sein. Deshalb sandte ich niemandem ein Telegramm, um anzugeben, wo der Brief sich befinde. Ich wünschte alle Ehre für mich zu haben.«

Kim nickte. Diese Empfindung verstand er gut.

»Aber in Agra, als ich durch die Straßen ging, hielt mich ein Mann wegen Schulden an, brachte Zeugen vor, und man schleppte mich vor Gericht hierhin und dahin. O, sie sind schlau dort im Süden! Er gab mich als seinen Baumwoll-Agenten an. Möge er in der Hölle dafür braten.«

»Und warst Du das?«

»O Tor! Der Mann, den man wegen des Briefes suchte, war ich! Ich flüchtete mich durch den Schlachthof und kam bei dem Hause des Juden heraus, der, einen Auflauf befürchtend, mich weiter beförderte. Zu Fuß kam ich bis Somna, ich hatte nur noch Geld zu einem Billett nach Delhi – und dort, als ich mit Fieber in einem Graben lag, sprang einer aus dem Gebüsch und stach mich und zerschlug mich und durchsuchte mich von Kopf bis Fuß – im Angesicht des Zuges!«

»Wie kam es, daß er Dich nicht vollständig tötete?«

»So dumm sind sie nicht. Wenn ich in Delhi, auf Veranlassung von Advokaten, wegen erwiesener Mordtat, verhaftet werde, so verfällt mein Leib dem Staat, der ihn fordert. Dann werde ich unter Bewachung zurück befördert und dann – sterbe ich langsam – als ein Beispiel für uns übrige. Der Süden ist nicht mein Geschmack! Im Kreise, wie – eine Ziege mit einem Auge – irrte ich umher. Seit zwei Tagen habe ich nichts gegessen. Ich bin gezeichnet,« – er berührte die schmutzige Bandage seines Beines – »so daß sie mich zu Delhi erkennen müssen.«

»So lange Du im Zuge bleibst, bist Du wenigstens sicher.«

»Sei ein Jahr in dem Großen Spiel und sage mir das dann wieder! In Delhi werden die Drähte gegen mich in Bewegung sein, jeder Schnitt, jeder Lumpen auf meinem Leibe wird beschrieben. Zwanzig – hundert – wenn nötig – werden bezeugen, daß ich den Knaben erschlug. Da ist nichts zu machen!«

Kim kannte genug von dem Charakter der Eingeborenen, um zu wissen, daß es so war, daß selbst der Leichnam des Knaben zur Stelle sein würde. – Des Mahratten Finger Zuckten vor Schmerz. Der Kamboh stierte verdrossen aus seiner Ecke heraus; der Lama war bei seinem Rosenkranz. Kim machte sich an des Mannes Brust zu schaffen, als ob er ärztlich untersuchte und dachte sich – Zaubersprüche murmelnd – einen Plan aus.

»Hast Du auch einen Zauber, meine Gestalt zu verändern? Sonst bin ich ein toter Mann. Hätte ich nur zehn – nur fünf Minuten Zeit gehabt, wäre ich nicht so gehetzt worden, so hätte ich – –«

»Ist er jetzt geheilt, Wundertäter?« fragte neidisch der Kamboh. »Gesungen hast Du lang genug.«

»Nein. Für seine Wunden gibt es, sehe ich, keine Heilung, wenn er nicht drei Tage im Gewande eines Bairagi sitzt.«

Diese Art Buße wird fetten Handelsleuten gewöhnlich von ihren geistlichen Beratern vorgeschrieben.

»Ein Priester sucht immer wieder einen Priester zu machen,« war die Erwiderung. Wie meist rohe und vorurteilsvolle Leute, Konnte er seine Junge nicht vor Verhöhnung der Kirche hüten.

»Also muß Dein Sohn ein Priester werden! Mir scheint, er muß wieder von meinem Chinin nehmen.«

»Wir Jats sind alle Büffel,« sagte der Jat, wieder Kleinlaut werdend.

Kim strich eine Fingerspitze voll bitteren Zeuges auf des Kindes bebende schmale Lippen. »Ich habe von Dir nichts verlangt als Speise. Mißgönnst Tu mir die? Ich will diesen Mann heilen. Habe ich Deine Erlaubnis – Fürst?«

Des Mannes große Fäuste flogen flehend in die Höhe. »Nein – nein. Verspotte mich nicht.«

»Es beliebt mir, diesen Kranken zu heilen. Du sollst Verdienst erwerben, indem Du mir beistehst. Welche Farbe hat die Asche in Deinem Pfeifenkopf? Weiß? Das ist günstig. Ist rohes Turmevic (Gelbwurz) unter Deinen Speiseresten?«

»Ich – ich –«

Öffne Dein Bündel!«

Es enthielt die gewöhnliche Sammlung kleiner Abfälle: Flicken von Zeug, quacksalberische Medikamente, billige Jahrmarkts-Geschenke, ein Tuch voll Atta (graues, grob gemahlenes Mehl), Röllchen von Bauern-Tabak, wohlfeile Pfeifenrohre und ein Pack Curry, in eine Decke gewickelt. Kim durchsuchte alles mit der Miene eines weisen Zauberers, mohammedanische Beschwörungen murmelnd.

»Dies ist Weisheit, die ich von den Sahibs lernte,« flüsterte er dem Lama zu: und wenn man an seine Erziehung bei Lurgan denkt, war das Wahrheit. »Die Sterne künden ein großes Unheil im Schicksal dieses Mannes, das – das setzt ihn in Schrecken. Soll ich es verhindern?«

»Freund der Sterne, Du hast stets das Rechte erwählt. Handle nach Deinem Belieben. Ist es eine neue Heilung?«

»Rasch! Mach rasch! Ehe der Zug hält.«

»Eine Heilung von dem Schatten des Todes,« flüsterte Kim. Er mischte das Mehl mit Kohlen- und Tabaksasche in dem Pfeifenkopf von rotem Ton. E. 23. nahm schweigend seinen Turban ab und schüttelte sein langes schwarzes Haar herunter.

»Das ist mein Essen, Priester,« grollte der Jat.

»Ein Büffel in dem Tempel! Hast Du gewagt, herzusehen? Narren muß man etwas vormachen. Aber hüte Deine Augen. Bemerkst Du schon einen Nebel vor ihnen? Ich rettete das Kind und als Dank – oh. Du Schamloser!«

Der Mann wich vor Kims scharfem, ernsten Blick zurück.

»Soll ich Dich verfluchen, oder soll ich –« Er riß das äußere Tuch vom Bündel und warf es über den gesenkten Kopf. »Wage nur den Wunsch, herzublicken und – und selbst ich kann Dich nicht retten. Sitz still! Sei stumm!«

»Ich bin blind – stumm. Nur verfluche mich nicht! Ko – Komm her, Kind! Wir wollen Blindekuh spielen. Um meinetwillen, piep nicht unter dem Tuch hervor.«

»Ich sehe Hoffnung,« flüsterte E. 23. »Was für einen Plan hast Du?«

»Das kommt später,« sagte Kim, ihm das leichte Hemd herabziehend. E. 23. wich zurück mit der Scheu des Nordwestlers vor Entblößung seines Körpers.

»Was heißt Kaste, wenn es uns an den Hals geht?« meinte Kim, das Hemd bis auf die Hüften niederstreifend.

»Wir müssen Dich zu einem gelben Saddhu machen. Entkleide Dich – entkleide Dich rasch und schüttele das Haar über die Augen, während ich die Asche streue. Nun ein Kasten-Abzeichen auf Deine Stirn.« Er nahm aus dem Kleinen Tuschkasten unter seinem Gewand ein Täfelchen Karminlack.

»Bist Du nur ein Anfänger?« fragte E. 23., buchstäblich um sein Leben ringend, indem er seine Körperhüllen abstreifte und nackt, nur mit dem Hüftentuch, dastand, indeß Kim ihm ein vornehmes Kastenzeichen auf die mit Asche beschmierte Stirn kleckste.

»Seit zwei Tagen erst in das Spiel eingetreten, Bruder,« antwortete Kim. »Schmiere mehr Asche auf Deine Brust.«

»Hast Du wohl einen Arzt – für kranke Perlen getroffen?«

Er faßte sein langes, fest verschlungenes Turbantuch, und mit flinker Hand rollte er es um und über seine Stiften, nach dem verwickelten Muster eines Saddhu-Gurtes.

»Hah! Erkennst Du seine Hand? Eine Weile war er mein Lehrer. Wir müssen Deine Beine verbinden. Asche heilt Wunden. Beschmiere sie nochmals.«

»Einst war ich sein Stolz. Du aber bist fast geschickter als ich. Die Götter sind uns gnädig! Gib mir das

Es war eine Zinnbüchse mit Opiumpillen zwischen dem Kehricht des Bündels. E. 23. verschluckte eine halbe Handvoll. »Sie sind gut gegen Hunger, Angst und Kälte. Und sie machen die Augen rot,« erklärte er. »Nun habe ich wieder Mut zum Spiel. Es fehlt mir nur die Zunge eines Saddhu. Was machen wir mit den alten Kleidern?«

Kim rollte sie fest zusammen und stopfte sie in die lockeren Falten seines Unterkleides. Mit gelber Ockerfarbe schmierte er breite Streifen auf Brust und Beine, auf den Hintergrund von Mehl, Asche und Turmeric.

»Das Blut auf Deinem Leib, Bruder, genügt um Dich zu hängen.«

»Kann sein; aber nicht Grund genug, ihn aus dem Fenster zu werfen … Es ist getan.« Seine Stimme klang hell vor Entzücken über die Verkleidung. »Wende Dich um, o Jat! Und schau!«

»Die Götter mögen uns schützen!« rief der Kamboh unter seiner Kopfdecke heraus springend wie ein Büffel aus dem Schilf. »Wo aber ist der Mahratta geblieben? Was hast Du mit ihm angefangen?«

Kim war von Lurgan Sahib erzogen; und E. 23. durch die Art seiner Tätigkeit kein schlechter Schauspieler. Statt des verängstigten zitternden Hausierers lehnte da in der Ecke mit auf dem Sitz gekreuzten Beinen ein mit Asche beschmierter, gelbstreifig bemalter Saddhu, aus dessen geschwollenen Augen (Opium wirkt schnell auf leeren Magen) List und Frechheit leuchtete. Kims braunen Rosenkranz trug er am Halse und ein ärmliches Stück geblümten Kattuns um die Schultern. Das Kind versteckte sein Gesicht an des erstaunten Vaters Brust.

»Schau auf, Prinzlein! Wir reisen mit Zauberern, aber Dir werden sie nichts tun. O, weine nicht … Wozu heilt man heute ein Kind, wenn man es morgen durch Furcht töten will?«

»Das Kind wird Glück haben in seinem ganzen Leben, denn es hat einer wunderbaren Heilung beigewohnt. Als ich noch ein Kind war, machte ich schon Menschen und Pferde aus Ton.«

»Das tat ich auch schon,« piepte das Kind. »Und Sir Banas kommt in der Nacht hinten in unsere Küche und macht sie lebendig.«

»Du also fürchtest Dich vor nichts, he, Prinzlein?«

»Ich fürchte mich, weil mein Vater sich fürchtete. Ich fühlte seine Arme beben.«

»Oh, furchtsames Hühnchen!« sagte Kim, und der beschämte Jat lachte. »Ich habe den armen Hausierer geheilt. Er muß nun seinen Verdienst und seine Rechnungsbücher im Stich lassen und drei Nächte an der Wegseite sitzen, um der Bosheit seiner Feinde Herr zu werden. Die Sterne sind gegen ihn.«

»Je weniger Wucherer, desto besser, sage ich. Aber Saddhu oder nicht Saddhu, er soll mir den Stoff um seine Schultern bezahlen.«

»So? Aber das da auf Deiner Schulter ist Dein Kind, das vor noch nicht zwei Tagen dem Scheiterhaufen verfallen war. Noch eins muß ich Dir sagen. Ich machte diese Wunderheilung in Deiner Gegenwart, weil die Not groß war. Ich änderte des Kranken Leib und Seele. Aber, o Mann von Jullundur, wenn Du jemals bei irgendeiner Gelegenheit Dich dessen entsinnst, was Du hier gesehen, sei es bei den Ältesten unter dem Dorfbaum oder in Deinem eigenen Hause oder in Gegenwart Deines Priesters, wenn er Dein Vieh segnet, so soll eine Seuche unter Deine Büffel kommen, und eine Flamme auf Dein Dach, und Ratten in Deine Korntenne und der Fluch der Götter über Deine Felder, daß sie verdorren vor Deinen Füßen und hinter Deiner Pflugschar.« Diesen Teil einer Verwünschung hatte Kim in den Tagen seiner Unschuld von einem Fakir am Taksali-Tor aufgeschnappt.

»Höre auf, Heiliger! Aus Barmherzigkeit, höre auf!« rief der Jat. »Verfluche meinen Haushalt nicht. Ich sah nichts. Ich hörte nichts. Ich bin Deine Kuh.« Und er streichelte Kims nackten Fuß, der rhythmisch den Boden klopfte.

»Aber da es Dir erlaubt wurde, mir beizustehen mit ein bißchen Mehl und ein bißchen Opium und solchen Kleinigkeiten, die anzunehmen ich Dir die Ehre erwies, so werden die Götter Dir dies vergelten durch einen Segen –« den Kim endlich, zu des Mannes unendlicher Erleichterung erteilte, und den er von Lurgan Sahib gelernt hatte.

Der Lama starrte hierbei aufmerksamer durch seine Brillengläser als er es bei der Verkleidung getan.

»Freund der Sterne,« sprach er, »Du hast große Weisheit erworben. Hüte Dich, daß sie nicht Stolz gebiert. Kein Mann, der das Gesetz vor Augen hat, wird übereilt von etwas reden, das er gesehen, oder das ihm begegnet ist.«

»Nein – nein – wahrlich nicht,« rief der Bauer, voller Angst, daß der Meister es noch schlimmer machen könnte als der Schüler.

E. 23. mit offenem Munde, lag im Banne des Opiums, der für einen erschöpften Asiaten Fleisch, Tabak und Medizin zugleich ist.

So, schweigend in Mißverständnis und Angst, erreichten sie Delhi zur Zeit, als die Lampen angezündet wurden.

Viertes Kapitel.

Viertes Kapitel.

»Nun, wie schmeckt der Erfolg?« fragte Torpenhow, etwa drei Monate später. Er war gerade von einem Ferienaufenthalte auf dem Lande zurückgekehrt. »Gut,« erwiderte Dick, der vor der Staffelei in dem Atelier saß und seine Lippen leckte. »Ich brauche mehr, ich hoffe auf mehr. Die mageren Jahre sind vorüber, ich heiße die fetten willkommen.«

»Seien Sie vorsichtig, Freundchen. Auf diesem Wege liegt viel Böses.« Torpenhow lag in einem großen Sessel und hatte einen kleinen, schlafenden Dachshund auf seiner Brust liegen, während Dick eine neue Leinwand aufspannte und auf derselben zu zeichnen begann. Eine Estrade im Hintergrund und eine Gliederpuppe waren die einzigen Gegenstände im Zimmer. Dieselben erhoben sich von einem wackeligen Podium, auf dem mit Filz überzogene Wasserflaschen, Gürtel, Fahnen, ein Ballen getragener Uniformstücke und eine Trophäe von verschiedenen Waffen sich befanden. Die Spuren von schmutzigen Füßen auf der Estrade zeigten, daß ein militärisches Modell soeben fortgegangen war. Der wässerige Sonnenschein eines Herbsttages verschwand allmälich, während die Ecken des Ateliers im Schatten lagen.

»Ja,« sagte Dick offenherzig, »ich liebe die Macht, einen Spaß, den Lärm, doch vor allem das Geld; am meisten jedoch liebe ich die Leute, die Lärm machen und das Geld bezahlen. Am meisten! Doch es ist eine sonderbare Bande, eine erstaunlich sonderbare Bande!«

»Wenigstens sind die Leute gut genug gegen Sie gewesen. Diese kleine armselige Ausstellung Ihrer Skizzen muß gut bezahlt worden sein. Haben Sie gesehen, daß die Zeitungen dieselbe eine ›wilde Arbeitausstellung‹ genannt haben?«

»Das thut nichts! Ich verkaufte jeden Faden Leinwand, den ich dazu gebraucht; ich glaube, auf mein Wort, sie hielten mich für einen Künstler, der alles aus sich selbst gelernt hat. Ich hätte gewiß noch bessere Preise erzielt, wenn ich meine Sachen auf Wolle gearbeitet oder auf Kamelknochen eingekratzt hätte, anstatt nur Schwarz und Weiß und Farbe zu gebrauchen. Wahrhaftig, diese Leute sind eine sonderbare Bande. Beschränkt ist nicht das richtige Wort, um sie zu beschreiben. Neulich traf ich einen Burschen, der mir sagte, es sei unmöglich, daß die Schatten auf weißem Sande blau – ultramarin – sein könnten, wie sie wirklich waren. Später erfuhr ich, daß dieser Mensch nicht weiter als bis zur Bucht von Brighton gekommen war, trotzdem wußte er alles, was Kunst betraf; hol ihn der Henker! Er hielt mir eine Vorlesung über dieselbe und empfahl mir, eine Schule zu besuchen, um die Technik zu lernen. Ich möchte wohl wissen, was der alte Kami dazu gesagt haben würde?«

»Wann waren Sie unter Kamis Leitung, Sie Mann von außergewöhnlichen Anfängen?«

»Ich studirte zwei Jahre bei ihm in Paris. Er lehrte vermittelst persönlichem Magnetismus. Das einzige, was er beständig sagte, war: ›continuez, mes enfants‹, während man daraus das beste entnehmen mußte, was man konnte. Er hatte einen göttlichen Strich und wußte auch manches über Farbe. Kami pflegte Farben zu träumen; ich möchte schwören, daß er nie den wirklichen, natürlichen Gegenstand gesehen; aber er entwickelte denselben, und es war gut.«

»Entsinnen Sie sich einer jener Ansichten im Sudan?« fragte Torpenhow mit herausforderndem Dehnen.

Dick erbebte ans seinem Platze. »Nichts davon! Es erweckt in mir das Verlangen, wieder dorthin zu gehen. Was waren das für Farben! Opal und Ambra, Bernstein und Weinrot, Ziegelrot und Schwefel – Kakaduschopfschwefel – gegen Braun, mit einem negerschwarzen Felsen, inmitten von dem Ganzen aufsteigend, und einem dekorativen Fries von Kamelen vor einem reinen, hell türkisfarbigen Himmel.« Er fing an auf und ab zu gehen. »Und dennoch, Sie wissen es ja, wenn man versuchte, diesen Leuten hier die Dinge wiederzugeben, wie Gott sie geschaffen, ihrer Fassungskraft angemessen abgeschwächt, und nach den Fähigkeiten, die er uns verliehen –«

»Bescheidener Mann! Fahren Sie fort.«

»Ein halbes Dutzend junger Heiden, die nicht einmal in Algier gewesen sind, wird Ihnen sagen, erstens, daß Ihre Idee entlehnt und zweitens, daß das nicht Kunst sei.«

»Das kommt davon, daß ich die Stadt einen Monat lang verlassen habe, Dickie. Sie sind zwischen den Spielzeugläden spazieren gegangen und haben die Leute schwatzen hören.«

»Ich konnte es nicht ändern,« entgegnete Dick reuevoll. »Sie waren nicht hier und diese langen Abende kamen mir so einsam vor. Ein Mann kann nicht immer arbeiten.«

»Ein Mann hätte in eine Schenke gehen und sich anständig betrinken können.«

»Ich wollte, ich hätte es gethan; aber ich kam mit allerlei Leuten zusammen. Sie sagten, sie wären Künstler, auch wußte ich, daß einige von ihnen zeichnen konnten, doch sie wollten nicht zeichnen, Sie gaben mir Thee – um fünf Uhr nachmittags Thee! – und sprachen über Kunst und den Zustand ihrer Seelen; als ob ich mich um ihre Seelen bekümmerte. Ich habe in den letzten sechs Monaten mehr über Kunst gehört und weniger davon gesehen, als während meines ganzen Lebens. Entsinnen Sie sich Cassavattis, der für irgend ein festländisches Syndikat arbeitete, da draußen bei einer Wüstenkolonne? Er war ein förmlicher Weihnachtsbaum, als er ins Feld zog mit seiner Wasserflasche, Tragbändern, Revolver, Schreibmappe, Haushälterin, Wagenlaternen und der Himmel weiß, was alles. Gewöhnlich tändelte er mit all den Dingen einher und zeigte uns ihren Gebrauch; aber niemals schien er besonders viel zu thun, außer die Berichte von Nilghai zu kopiren.«

»Der liebe alte Nilghai! Er ist in der Stadt und fetter als je. Er muß heute abend herkommen. Ich verstehe vollkommen den Vergleich. Sie hätten sich von all diesen männlichen Narren fern halten sollen; es geschieht Ihnen ganz recht, auch hoffe ich, daß es Ihren Verstand geklärt hat.«

»Es hat mich gelehrt, was die Kunst – die heilige, erhabene Kunst – bedeutet.«

»Geben Sie ihnen, was sie verstehen, und wenn Sie es einmal gethan, thun Sie es wieder.«

Dick holte eine Leinwand hervor, die an der Wand lehnte.

»Hier ist eine Probe von wirklicher Kunst; es soll eine Kopie für ein Wochenblatt werden. Ich nannte es ›Sein letzter Schuß‹. Es ist nach dem kleinen Aquarell gearbeitet, das ich vor den Thoren von El Maghaib anfertigte. Ich köderte mein Modell, einen schönen Schützen, mit einem guten Trunk; ließ ihn dann dursten und wieder dursten, und machte schließlich aus ihm einen wilden, verteufelten Burschen mit dem Helm auf dem Hinterkopfe und der größten Todesfurcht in den Augen, während das Blut aus einem Hiebe über seinen Knöchel tröpfelte. Er war nicht schön, aber ganz ein Soldat und ein Mann.«

»Noch einmal, bescheidenes Kind!«

Dick lachte. »Nun ja, ich spreche ja nur zu Ihnen. Ich malte ihn so gut ich konnte, indem ich Rücksicht auf die Weichheit der Oelfarben nahm. Der Kunstleiter jenes Blattes sagte mir, daß seinen Abonnenten das Bild nicht gefallen würde. Es sei grob, roh und gewaltsam, da ein Mann, wenn er um sein Leben kämpfe, natürlich sanft wäre; man wollte etwas Ruhigeres, mit ein wenig mehr Farbe haben. Ich hätte ihm manches darauf erwidern können, aber man kann eben so gut zu einem Schaf sprechen, als zu einem Kunstleiter. Ich zog meinen ›Letzten Schuß‹ zurück. Betrachten Sie das Resultat! Ich kleidete ihn in einen hübschen roten Rock, ohne einen einzigen Flecken. Das ist Kunst. Ich wichste seine Stiefel, – bemerken Sie das schöne Licht auf der Zehe. Das ist Kunst. Ich putzte auch seine Büchse – im Dienste sind die Büchsen stets geputzt – weil das Kunst ist. Seinen Helm machte ich mit Schlemmkreide blank, – Schlemmkreide wird immer im aktiven Dienste gebraucht und ist für die Kunst unentbehrlich. Dann rasirte ich sein Kinn, wusch seine Hände und gab ihm das Aussehen fetter Ruhe. Resultat: Musterbild für Militärschneider. Preis, dem Himmel sei Dank, doppelt so viel als für die erste Skizze, der ziemlich bescheiden gewesen.«

»Haben Sie die Absicht, das Ding als Ihre Arbeit auszugeben?«

»Weshalb nicht? Ich that es, nur im Interesse der geheiligten, einheimischen Kunst und ›Dickensons Wochenblatt‹.«

Torpenhow rauchte eine Zeit lang schweigend weiter, dann erfolgte der Urteilsspruch, begleitet von rollenden Tabakswolken: »Wenn Sie nur eine Masse von aufgeblähter Eitelkeit wären, Dick, so würde ich nichts sagen, ich würde Sie zum Henker gehen lassen mit Ihrem Malstock; wenn ich jedoch bedenke, was Sie mir sind, und sehe, daß Sie zu der Eitelkeit noch den kindischen Groll eines zwölfjährigen Mädchens hinzufügen, dann rühre ich mich Ihretwegen. Also!«

Die Leinwand riß auseinander, als Torpenhows gestiefelter Fuß hindurch fuhr, während der Teckel hinuntersprang, weil er glaubte, es seien Ratten da.

»Wenn Sie irgend etwas darauf zu erwidern haben, so thun Sie es. Sie können es nicht. Ich fahre also fort. Sie sind ein Idiot, weil kein vom Weibe geborener Mensch stark genug ist, sich mit seinem Publikum solche Freiheiten herauszunehmen, obschon es ist – alles, was Sie eben gesagt, daß es sei.«

»Aber die Leute verstehen nichts Besseres. Was kann man von Geschöpfen erwarten, die in diesem Lichte geboren und erzogen sind?« Dabei deutete Dick auf den gelben Nebel. »Wenn sie Möbelpolitur haben wollen, so laßt sie doch dieselbe haben, so lange sie dafür bezahlen. Sie sind nur Männer und Weiber; Sie sprechen, als ob es Götter wären.«

»Das klingt sehr schön, hat aber mit diesem Falle nichts zu schaffen. So sind die Leute, für die Sie arbeiten müssen, möge es Ihnen nun gefallen oder nicht. Sie sind Ihre Herren. Täuschen Sie sich nicht, Dickie, Sie sind nicht kräftig genug, um mit ihnen spielen zu können; oder mit sich selbst, was viel wichtiger ist. Außerdem, – kommen Sie her, Dickie; diese rote Sudelei hier findet nirgends Beifall; – wenn Sie sich nicht in acht nehmen, so werden Sie unter den Fluch des Checkbuches geraten, und das ist schlimmer als der Tod. Sie werden sich berauschen an leicht erworbenem Gelde, – halb berauscht sind Sie bereits. Für Geld und Ihre eigene höllische Eitelkeit sind Sie willens, leichtsinnig schlechte Arbeit in die Welt zu schicken. Sie werden, ohne es zu wissen, noch genug schlechte Arbeit liefern. Und, Dickie, da ich Sie liebe und weiß, daß auch Sie mich lieb haben, so werde ich nicht zugeben, daß Sie sich die Nase abschneiden, um Ihr Gesicht zu ärgern, nicht für alles Gold in England, So, das ist abgemacht. Nun fluchen Sie.«

»Ich kann nicht,« sagte Dick. »Ich habe versucht, zornig zu werden, aber ich kann nicht; Sie sind so abscheulich vernünftig. Ich denke, es wird viel Lärm bei ›Dickensons Wochenblatt‹ geben.«

»Weshalb gebraucht der Dickenson Sie, um für ein Wochenblatt zu arbeiten? Das heißt, seine Kraft langsam verbluten lassen.«

»Es bringt aber den höchst wünschenswerten Dollar ein,« erwiderte Dick, die Hände in den Taschen.

Torpenhow betrachtete ihn mit großer Verachtung. »Wirklich, ich glaubte, er wäre ein Mann,« sagte er. »Er ist ein Kind!«

»Nein, das ist er nicht,« entgegnete Dick, sich rasch umdrehend, »Sie haben gar keine Idee davon, was die Gewißheit, Geld einzukassiren für einen Mann bedeutet, der dasselbe stets schmerzlich entbehrt hat. Nichts kann mich bezahlen für einige Freuden meines Lebens; so zum Beispiel, als wir auf jenem chinesischen Schweineschiff zu jeder Mahlzeit Brot und Schinken aßen, weil Ho-Wang uns nichts Besseres erlauben wollte, und alles nach Schweinefleisch – chinesischem Schweinefleisch – schmeckte. Ich habe hierfür gearbeitet, geschwitzt und gehungert, Linie auf Linie und Monat nach Monat. Und nun ich es erreicht habe, will ich soviel als möglich daraus machen, so lang es dauert. Laß sie bezahlen – sie verstehen nichts davon.«

»Was beliebt Euer Majestät zu wünschen. Sie können nicht mehr rauchen, wie Sie jetzt thun; Sie wollen nicht trinken; Sie sind kein Feinschmecker und Sie kleiden sich in Schwarz, wie der Augenschein zeigt. Sie wollten sich neulich kein Pferd anschaffen, als ich es vorschlug, weil dasselbe, wie Sie sagten, lahm werden könnte, und wenn Sie über die Straße müssen, nehmen Sie ein Kabriolet. Sie sind auch nicht thöricht genug, zu glauben, daß Theater und alle lebenden Dinge, welche man da herum laufen kann, das Leben bedeuten. Was für irdische Bedürfnisse haben Sie für Geld?«

»Es ist da, gesegnet sei sein goldenes Herz,« sagte Dick, »es ist die ganze Zeit über da. Die Vorsehung hat mir Nüsse geschickt, da ich Zähne habe, sie aufzuknacken. Noch habe ich die Nuß nicht gefunden, die ich aufknacken möchte, aber ich erhalte inzwischen meine Zähne geschärft. Vielleicht gehen wir, Sie und ich, eines Tages auf eine Wanderung rund um die weite Welt.«

»Mit nichts zu arbeiten für uns, mit niemand, der uns quält, und niemand, mit dem wir wetteifern könnten? In einer Woche würden Sie unfähig zum Sprechen sein. Außerdem würde ich nicht mitgehen. Ich verlange nicht darnach, etwas zu profitiren, um den Preis einer Menschenseele; denn das würde es bedeuten. Dick, es verlohnt nicht der Mühe, darüber zu sprechen. Sie sind ein Narr!«

»Das sehe ich nicht ein. Als ich mich auf jenem chinesischen Schweineboote befand, erwarb unser Kapitän dadurch ganz gewaltigen Kredit, daß er etwa fünfundzwanzigtausend sehr seekranke Ferkel rettete, als unser alter Kasten von einem Dampfer mit einer Holz-Dschunk unklar wurde. Nehmen Sie nun diese Ferkel als eine Parallele …«

»O, hol der Teufel Ihre Parallele! Wenn ich mich bemühe, Ihre Seele zu retten, zu bessern, ziehen Sie immer eine von den unbedeutenden Anekdoten aus ihrer dunklen Vergangenheit herbei. Schweine sind nicht das britische Publikum; Kredit auf hoher See ist nicht Kredit hier, und Selbstachtung bleibt Selbstachtung in der ganzen Welt. Gehen Sie, aus, machen Sie einen Spaziergang und versuchen Sie, etwas Selbstachtung zu erlangen. Wenn Nilghai heute abend herauf kommt, kann ich ihm dann Ihre Sachen zeigen?«

»Gewiß. Nächstens werden Sie noch fragen, ob Sie an meiner Thür anklopfen müssen.« Darauf ging Dick fort, um in dein rasch dichter werdenden Londoner Nebel mit sich selbst Rat zu pflegen.

Eine halbe Stunde nachdem Dick sein Atelier verlassen, arbeitete sich Nilghai die Treppen hinauf. Er war sowohl der oberste als auch der ungeheuerlichste aller Kriegskorrespondenten; seine Erfahrungen datirten aus der Zeit, als das Zündnadelgewehr aufkam. Mit Ausnahme seines Verbündeten, Keneu, des »Großen Kriegsadlers«, gab es keinen mächtigeren Mann in der Zunft als ihn; er begann seine Gespräche stets mit der Neuigkeit, daß es im Frühjahre im Balkan Unruhen geben würde. Torpenhow lachte, als er eintrat.

»Machen Sie sich nichts aus den Unruhen im Balkan; diese kleine Staaten sind immer am Schreien. Haben Sie von Dicks Glück gehört?«

»Ja; er ist zu öffentlicher Anerkennung gelangt, nicht wahr? Ich hoffe, Sie halten ihn hübsch demütig. Er bedarf von Zeit zu Zeit einiges Niederdrücken.«

»Das ist richtig. Er fängt an, sich Freiheiten herauszunehmen mit dem, was er für seinen Ruf hält.«

»Schon! Beim Zeus, er besitzt Unverschämtheit! Ich weiß nichts von seinem Ruf, aber er wird eine Lerche schießen, wenn er derartiges versucht.«

»So sagte ich ihm; doch denke ich nicht, daß er es glaubt.«

»Das thut man nie, wenn man zuerst beginnt. Was ist das zerrissene Ding da auf dem Boden?«

»Eine Probe seiner letzten Unverschämtheit.«

Torpenhow legte die zerrissenen Stücke der Leinwand aneinander und zeigte Nilghai das Bild, der dasselbe einen Augenblick ansah und pfiff.

»Es ist ein Chromo,« sagte er, – »ein Chromo – Citholeo-Margarino-Ding! Was hat ihn dazu veranlaßt? Und dennoch, wie durch und durch hat er dasjenige erfaßt, was ein Publikum fesseln kann, das mit seinen Stiefeln denkt und mit den Ellenbogen liest! Die kaltblütige Unverschämtheit dieser Arbeit rettet sie fast; aber er darf so nicht fortfahren. Ist er nicht vielleicht zu viel gelobt und aufgemuntert worden? Sie wissen, die Leute hier haben gar keinen Begriff von richtigem Maß und Ziel. Sie nennen ihn einen zweiten Detaille und einen künftigen Meissonier, so lange seine Manier in der Mode ist. Es ist lustige Kost für ein Füllen.«

»Ich glaube wohl, daß es Dick viel berührt. Man könnte ebenso gut einen jungen Wolf einen Löwen nennen und von ihm erwarten, das Kompliment gegen einen Knochen auszutauschen. Dicks Seele ist in der Bank; er arbeitet für seine Kasse.«

»Nun er die Kriegsarbeit aufgegeben, sieht er, wie ich vermute, nicht ein, daß die Verpflichtungen des Dienstes genau dieselben sind; nur die Eigentümer haben gewechselt.«

»Wie sollte er das wissen? Er glaubt, er sei sein eigener Herr.«

»So? Ich könnte ihn zu seinem eignen Besten enttäuschen, wenn noch etwas Macht in Druckerschwärze liegt. Er bedarf der Peitsche.«

»Dann thun Sie es gründlich mit Wissenschaft. Ich würde selbst ihn vornehmen, aber ich habe ihn zu lieb.«

»Ich habe keine Skrupeln. Er hatte die Keckheit, zu versuchen, mich einmal in Kairo bei einer Frau auszustechen. Ich vergaß das, aber nun erinnere ich mich daran.«

»Stach er Sie wirtlich aus?«

»Sie werden es sehen, wenn ich mit ihm fertig bin. Aber wozu ist es gut allem nach? Lassen Sie ihn allein; er wird schon wieder kommen, wenn er irgend wie das Zeug dazu hat, den Schwanz hinter sich herschleppend und wedelnd. In einer Woche liegt mehr Leben als in einem lebendigen Wochenblatte. Nichsdestoweniger will ich ihn zudecken, und zwar ganz gehörig in dem ›Kataklysmus‹.«

»Viel Glück dazu; doch ich bilde mir ein, nichts geringeres als eine Brechstange würde Dick zum Stutzen bringen. Seine Seele scheint durch irgend etwas entstammt gewesen zu sein, bevor wir mit ihm zusammen trafen. Er ist außerordentlich mißtrauisch und gänzlich subordinations-, gesetzwidrig.«

»Sache des Temperaments,« sagte Nilghai. »Dasselbe ist bei den Pferden der Fall. Wenn man einige durchprügelt, so arbeiten sie; andere schlagen aus, wenn man sie prügelt, während einige ausgehen, nachdem man sie geprügelt hat, um, mit den Händen in den Taschen, einen Spaziergang zu machen.«

»Genau das, was Dick gethan hat,« bemerkte Torpenhow. »Warten Sie, bis er zurückkommt; inzwischen können Sie anfangen, ihn hier gehörig vorzunehmen. Ich will Ihnen in seinem Atelier etwas von seiner letzten und schlechtesten Arbeit zeigen.«

Dick hatte instinktmäßig fließendes Wasser aufgesucht, um seine Gemütsstimmung zu beruhigen. Er lehnte über die Brüstung und beachtete die Strömung der Themse durch die Bogen der Westminsterbrücke. Er hatte angefangen, über Torpenhows Rat nachzudenken, sich indes sehr bald, seiner Gewohnheit gemäß, in das Studium der Gesichter der vorüberflutenden Menge verloren. Einige trugen den Tod auf ihren Gesichtern geschrieben, und Dick wunderte sich darüber, daß sie lachen konnten; andere, zum größten Teil plump und roh gebaut, strahlten vor Liebe, während viele die Spuren der Arbeit zeigten; doch aus allen war etwas zu entnehmen, wie Dick wußte. Der Arme wenigstens würde leiden, um zu lernen, und der Reiche bezahlen für die Ausnutzung dessen, was er gelernt hat. Sein Ruf in der Welt und seine Bilanz bei der Bank würden zunehmen; um so besser für ihn, Er hatte gelitten; jetzt wollte er von dem Bösen anderer Zoll erheben.

Der Nebel wurde einen Augenblick auseinandergetrieben, die Sonne schien wie eine blutigrote Scheibe auf dem Wasser. Dick betrachtete den Fleck, bis das Geräusch der Ebbe zwischen den Pfeilern dahin starb, wie das Waschen der See zur Zeit derselben. Ein von seinem Liebhaber hart bedrängtes Mädchen rief schamlos: »O, geh fort, du Bestie!«, während der Luftzug, welcher den Nebel auseinandergejagt, den schwarzen Rauch eines Flußdampfers, der unten an der Mauer lag, in Dicks Gesicht trieb. Er wurde einen Augenblick geblendet, drehte sich um und fand sich dem Gesichte von – Maisie gegenüber.

Es war kein Irrtum. Die Jahre hatten das Kind in eine Frau umgewandelt, aber nicht die dunkelgrauen Augen, die dünnen roten Lippen, den festgeschnittenen Mund und das Kinn verändert, und damit alles so wäre wie früher, so trug sie auch noch einen eng anschließenden grauen Anzug. Dick machte einen Schritt vorwärts und rief »Hallo!« nach Art der Schulknaben, worauf Maisie erwiderte: »O, Dick, sind Sie das?« Dann klopfte – unwillkürlich und bevor sein Gehirn Zeit gefunden hatte, von dem Gedanken an seine Bilanz in der Bank sich loszureißen und den Nerven zu gebieten – jeder Puls in Dicks Körper mächtig und der Gaumen wurde ihm trocken im Munde. Der Nebel schloß sich wieder; Maisies Gesicht erschien perlenweiß in demselben. Sie sprachen kein Wort, doch Dick ging neben ihr über das Trottoir der Brücke, vollkommen Schritt mit ihr haltend, gerade wie bei ihren nachmittäglichen Spaziergängen nach den Schlammbänken, Dann fragte Dick etwas heiser:

»Was ist aus Amomma geworden?«

»Sie ist gestorben, Dick. Nicht an den Patronen. Sie hatte zu viel gefressen. Sie war immer so gefräßig. Ist es nicht komisch?«

»Ja. Nein. Meinen Sie Amomma?«

»Ja. Nein. Dieses hier. Woher sind Sie gekommen?«

»Von dort her,« Er zeigte durch die Nebel nach Osten. »Und Sie?«

»O, ich wohne im Norden – dem schwarzen Norden, durch den ganzen Park hin. Ich bin sehr beschäftigt!«

»Was thun Sie?«

»Ich male sehr viel. Das ist alles, was ich zu thun habe.«

»Was, wie ist denn das gekommen? Sie hatten dreihundert jährlich.«

»Ich habe sie noch. Ich male; das ist alles.«

»Sind Sie denn allein?«

»Ein Mädchen lebt bei mir. Gehen Sie nicht so schnell, Dick; Sie sind aus dem Tritt gekommen.«

»Bemerkten Sie das denn?«

»Natürlich. Sie kamen immer aus dem Tritt.«

»Das ist wahr; thut mir leid. Sie malen immer noch?«

»Gewiß. Ich sagte ja, ich müßte. Ich war bei Slade, dann bei Merton in St. Johns-Word, dem großen Atelier, dann kam ich in die Nationalgalerie, und jetzt arbeite ich unter Kami.«

»Aber Kami befindet sich doch gewiß in Paris?«

»Nein; er hat sein Lehratelier in Vitry-sur-Marne. Ich arbeite bei ihm im Sommer, während des Winters lebe ich in London. Ich bin eine gute Haushälterin.«

»Verkaufen Sie viel?«

»Hin und wieder, aber nicht häufig. Da ist mein Omnibus; ich muß ihn nehmen, oder ich verliere eine halbe Stunde. Leben Sie wohl. Dick.«

»Adieu, Maisie. Wollen Sie mir nicht sagen, wo Sie wohnen? Ich muß Sie wieder sehen; vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich – ich male selbst ein wenig.«

»Ich werde vielleicht morgen im Park sein, wenn es kein gutes Licht zum Malen ist. Ich gehe gewöhnlich vom Marmorbogen herunter und wieder zurück; das ist mein kleiner Spaziergang, Natürlich werde ich Sie wieder sehen,« Sie stieg in den Omnibus und war bald im Nebel verschwunden.

»Nun – ich – bin – verdammt!« rief Dick aus, und kehrte nach Hause zurück.

Torpenhow und Nilghai fanden ihn auf den Stufen zur Atelierthüre sitzend und jene Worte mit furchtbarem Ernste wiederholend.

»Sie werden noch mehr verdammt sein, wenn ich mit Ihnen fertig bin,« sagte Nilghai, seinen kolossalen Umfang hinter Torpenhows Schulter aufrichtend und ein Blatt von einem Halbtrocknen Manuskripte hin und her wehend. »Dick, es ist allgemein bekannt, daß Sie an einem angeschwollenen Kopfe leiden.«

»Hallo, Nilghai! Wieder zurück? Wie steht es mit dem Balkan und all den kleinen Balkanen? Die eine Seite Ihres Gesichts ist, wie gewöhnlich, darauf aus, etwas zu entwerfen.«

»Kümmern Sie sich nicht darum. Ich bin beauftragt, Sie gedruckt zu züchtigen. Torpenhow weigert sich aus falschem Schamgefühl. Ich habe mir den Schund in Ihrem Atelier ungesehen; derselbe ist einfach schmachvoll.«

»Oho! Ist es das? Wenn Sie glauben, Sie können mich heruntermachen, so irren Sie sich. Sie können nur beschreiben, und brauchen auf dem Papier so viel Raum sich umzuwenden, wie ein P. und O. Frachtschiff. Aber fahren Sie fort und fassen Sie sich kurz; ich will zu Bett gehen.«

»Hm, hm! Der erste Teil beschäftigt sich nur mit Ihren Bildern. Hier ist der Schluß: ›Für eine ohne Ueberzeugung ausgeführte Arbeit, für ein an Trivialitäten verschwendetes Talent, für leichtfertig verwendete Mühe in der Absicht, den Beifall eines von der Mode beherrschten Publikums zu gewinnen –‹«

»Das ist ›Sein letzter Schuß‹, zweite Ausgabe. Jahren Sie fort,«

»›– zu gewinnen, da gibt es nur ein Ende, – die Vergessenheit, welcher Duldung vorausgeht und die Verachtung folgt. Mr. Heldar muß noch beweisen, daß er dieser Gefahr nicht ausgesetzt ist.‹«

»Wau–wau–wau–wau!« rief Dick aus. »Es ist ein ungeschickter Schluß und gemeine Journalistik, aber es ist ganz wahr. Und dennoch,« dabei sprang er auf und griff nach dem Manuskripte, »Sie benarbter, liederlicher, abgenutzter alter Gladiator! Sie werden, wenn ein Krieg ausbricht, fortgeschickt, um den bestialischen Blutdurst des blinden, rohen britischen Publikums zu befriedigen. Man hat jetzt keine Arenas mehr, aber man muß Spezialkorrespondenten haben. Sie sind ein fetter Gladiator, der durch eine Fallthür heraufkommt und über das spricht, was er gesehen hat. Sie stehen genau auf demselben Niveau wie ein energischer Bischof, eine liebenswürdige Schauspielerin, ein verwüstender Cyklon, oder – mein eignes süßes Selbst. Und Sie nehmen sich heraus, mir über meine Arbeit eine Vorlesung zu halten! Nilghai, wenn es sich der Mühe verlohnte, würde ich Sie in vier Zeitschriften karikiren!«

Nilghai zuckte zusammen; daran hatte er nicht gedacht.

»Ich will dieses Zeug, wie es da ist, nehmen und es in kleine Stückchen zerreißen. – So!« Das Manuskript flog in Fetzen hinunter in das dunkle Treppenhaus. »Gehen Sie nach Hause, Nilghai,« fuhr Dick fort, »gehen Sie heim, in Ihr einsames kleines Bett und lassen Sie mich in Ruhe. Ich will mich bis morgen schlafen legen.«

»Wie, es ist noch nicht sieben!« rief Torpenhow erstaunt aus.

»Es soll zwei Uhr morgens sein, wenn es mir so beliebt,« erwiderte Dick, sich mit dem Rücken an die Atelierthür lehnend. »Ich habe mit einer ernsten Krisis zu ringen und bedarf keines Mittagessens.«

Die Thür flog zu und wurde abgeschlossen.

»Was kann man mit einem solchen Menschen anfangen?« bemerkte Nilghai.

»Ihn allein lassen. Er ist verrückt, wie ein Hutmacher.«

Um elf Uhr wurde an die Thüre des Ateliers geklopft.

»Ist der Nilghai noch bei Ihnen?« fragte eine Stimme im Zimmer, »Dann sagen Sie ihm, er hatte seinen ganzen langweiligen Unsinn in ein Epigramm zusammenfassen können: ›Nur der Freie ist gebunden, und nur der Gebundene ist frei.‹ Sagen Sie ihm, er wäre ein Idiot, Torp, und ich ein zweiter.«

»Sehr richtig. Kommen Sie heraus und verzehren Sie Ihr Nachtessen. Sie rauchen bei einem leeren Magen.«

Es erfolgte keine Antwort.

Fünftes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Mm nächsten Morgen fand Torpenhow Dick in die tiefste Ruhe des Tabakrauchens versunken.

»Nun, Sie Wahnsinniger, wie fühlen Sie sich?«

»Ich weiß es nicht, ich bin dabei, es herauszufinden«

»Sie thäten viel besser daran, etwas zu arbeiten.«

»Mag sein, aber ich habe keine Eile. Ich habe eine Entdeckung gemacht Torp, in meinem Kosmos ist zu viel » ego« vorhanden.«

»Wahrhaftig! Verdanken Sie diese Entdeckung meinen oder Nilghais Vorlesungen?«

»Sie kam plötzlich über mich, ganz von selbst Viel zu viel ego, und nun will ich mich an die Arbeit machen.«

Er drehte einige halb vollendete Skizzen um, zog eine neue Leinwand auf, reinigte drei Pinsel, ließ Binkie in die Zehen der Gliederpuppe beißen, rasselte durch seine Sammlung von Waffen und Ausrüstungsgegenständen und ging dann plötzlich aus, indem er erklärte, er hatte für den Tag genug gethan. »Das ist entschieden unanständig,« sagte Torpenhow, »und das erstemal, daß Dick jemals an einem hellen Morgen fortgegangen ist. Vielleicht hat er entdeckt, daß er eine Seele besitzt oder ein Künstlertemperament oder irgend etwas ebenso Wertvolles. Das kommt davon, wenn man ihn einen Monat lang sich selbst überläßt. Vielleicht ist er in Abendgesellschaften gewesen. Ich muß doch das herausbringen.« Er läutete dem kahlköpfigen, alten Haushälter, den nichts in Erstaunen versetzen oder beunruhigen konnte.

»Hat Mr. Heldar außer dem Hause gespeist, so lange ich fort war, Benton?«

»Niemals hat er in der ganzen Zeit seinen Gesellschaftsanzug herausgelegt, Herr. Meistens dinirte er hier, aber, zuweilen brachte er einige sehr elegant aussehende junge Herren nach dem Theater mit herauf. Auffallend elegant waren sie. Die Herren hier im obersten Stockwerk thun meistens, was ihnen beliebt, aber es scheint mir, Herr, daß, einen Spazierstock fünf Treppen hinunterfallen lassen und dann zu vieren neben einander hinuntergehen, um ihn wieder zu holen und um halb zwei Uhr morgens dabei zu singen: ›Bring den Whiskey zurück, Willie, mein Liebling!‹ – nicht ein- oder zweimal, sondern sehr häufig – gerade nicht viel Mitleid für die übrigen Mitbewohner zeigt. Was ich sagen wollte, ist: ›Was du nicht willst, das dir geschieht, das füg auch keinem andern zu.‹ Das ist mein Wahlspruch.«

»Natürlich, natürlich! Ich fürchte, das oberste Stockwerk ist nicht das ruhigste im Hause.«

»Ich beklage mich nicht, Herr. Ich habe freundlich mit Mr. Heldar gesprochen, doch er lachte und machte mir ein Bild von meiner Frau, das ebenso gut ist wie ein kolorirtes Gemälde. Es hat nicht den hellen Glanz einer Photographie, aber ich sage ›Einem geschenkten Gaul steht man nicht ins Maul‹ Mr. Heldar hat seit Wochen seine Gesellschaftskleider nicht angehabt.«

»Dann ist alles gut,« sagte sich Torpenhow »Orgien sind gesund, und Dick hat einen Kopf für sich, doch wenn es sich träfe, daß Weiber mit ihm liebäugeln, so bin ich meiner Sache doch nicht so gewiß.«

Dick hatte sich nördlich durch den Park gewendet aber im Gerste wanderte er mit Maisie auf den Schlammbänken. Er lachte laut auf, als er sich des Tages entsann, an dem er Amommas Hörner mit Papierkrausen geschmückt und Maisie, ganz blaß vor Zorn, ihn geknufft hatte. Wie lang erschienen diese Jahre, wenn er darauf zurückblickte, und wie eng war Maisie mit jeder Stunde derselben verknüpft! Sturm auf dem Meere und Maisie in einem grauen Kleide am Strande, sich ihr nasses Haar aus den Augen streichend und lachend über den Wettkampf der heimwärts fahrenden Fischersmaks; heißer Sonnenschein auf den Schlammbänken und Maisie ärgerlich schnüffelnd mit erhobenem Kinn; Maisie vor dem Winde fliegend, der über den Strand fegte und ihr den Sand wie Schrotkörner um die Ohren jagte; Maisie, sehr ernsthaft und sicher, Mrs. Jennet Lügen erzählend, während Dick sie mit gröberen Unwahrheiten unterstützte; Maisie, sorgfältig ihren Weg von Stein zu Stein suchend, mit einem Revolver in der Hand und zusammengebissenen Zähnen; und Maisie in einem grauen Kleide auf dem Grase zwischen der Mündung einer Kanone und einem nickenden Seemohn sitzend. Diese Bilder zogen eins nach dem andern bei ihm vorüber, doch das letzte verweilte am längsten. Dick war vollkommen glücklich in diesem ruhigen Frieden, der für sein Gemüt ebenso neu war wie fremd für seine Erfahrung. Es fiel ihm gar nicht ein, daß es auch noch andere Ansprüche an seine Zeit geben könnte, als vormittags durch den Park zu bummeln.

»Das ist wirklich gutes Licht zum Arbeiten,« sagte er, gemütlich seinen Schatten betrachtend. »Mancher arme Teufel müßte dankbar dafür sein. Doch da ist Maisie.«

Sie kam vom Marmorbogen aufs ihn zu, während er bemerkte, daß die Zierlichkeit ihres Ganges sich nicht geändert. Es war gut, sie noch als Maisie und gleichsam als seine nächste Nachbarin zu finden. Es fand keine Begrüßung zwischen ihnen statt, weil es in früheren Tagen auch nie geschehen war.

»Was thun Sie zu dieser Stunde außerhalb Ihres Ateliers?« fragte Dick wie jemand, der das Recht dazu hatte.

»Faulenzen. Geradezu faulenzen. Ich wurde ärgerlich über ein Kinn und kratzte es aus. Dann ließ ich es zwischen einem kleinen Haufen von gemalten Schnitzeln und ging fort.«

»Ich weiß, was mit dem Palettemesser arbeiten bedeutet. Was war es für ein Stück?«

»Ein Studienkopf, der nicht gelingen wollte – abscheuliches Ding!«

»Ich arbeite nicht gerne über eine ausgekratzte Malerei, wenn ich Fleisch male. Die Striche kommen wollig heraus, wenn die Farbe trocknet.«

»Nicht, wenn man sorgfältig auskratzt.« Maisie schwenkte mit der Hand, um ihre Methode deutlich zu machen. Auf der weißen Manschette befand sich ein Klex von Farbe.

Dick lachte.

»Sie sind noch ebenso unordentlich wie früher.«

»Das kommt wohl von Ihnen. Sehen Sie nur auf Ihre eigene Manschette!«

»Beim Himmel, ja! Es ist noch schlimmer als bei Ihnen. Ich glaube, wir haben uns in nichts viel geändert. Lassen Sie uns doch einmal sehen.« Er blickte prüfend auf Maisie. Der blasse blaue Nebel eines Herbsttages hing zwischen den Baumstämmen des Parkes und bildete einen Hintergrund für das graue Kleid, die Toque aus blauem Sammet auf dem schwarzen Haar und dem entschlossenen Profile.

»Nein, nichts hat sich geändert. Wie gut das ist! Entsinnen Sie sich noch, wie ich Ihr Haar in dem Bügel eines kleinen Handkoffers einklemmte?«

Maisie nickte, zwinkerte mit den Augen und wandte ihr Gesicht voll Dick zu.

»Warten Sie eine Minute,« sagte er. »Der Mund hat sich in den Ecken ein wenig heruntergezogen. Wer hat Ihnen Kummer bereitet, Maisie?«

»Niemand als wie ich selbst. Ich schien mit meiner Arbeit niemals vorwärts zu kommen, obschon ich es hart genug versuchte; auch sagte Kami –«

»› Continuez, mesdemoiselles! Continuez tou-jours, mes enfants!‹ Kami ist entmutigend. Ich bitte um Entschuldigung.«

»Ja, das sagt er immer. Er erzählte mir im letzten Sommer, daß es besser mit mir ginge und ließ mich in diesem Jahre etwas ausstellen.«

»Nicht hier, nicht wahr?«

»Natürlich nicht. Im Salon.«

»Sie fliegen hoch.«

»Ich habe lange genug mit meinen Flügeln angestoßen. Wo stellen Sie aus, Dick?«

»Ich stelle nicht aus, ich verkaufe.«

»Was ist denn Ihr Genre?«

»Haben Sie nicht davon gehört?« Dick riß die Augen auf. War das möglich? Er sann auf ein Mittel, sie zu überzeugen. Sie befanden sich nicht weit vom Marmorbogen. »Kommen Sie ein Stückchen die Oxfordstreet hinauf, so werde ich es Ihnen zeigen.« Ein kleiner Haufe von Leuten stand vor einem Bilderladen, den Dick gut kannte. »Da drinnen befindet sich eine Reproduktion von einer meiner Arbeiten,« sagte er mit verhaltenem Triumph. Niemals zuvor hatte ihm der Erfolg so süß geschmeckt. »Sie sehen die Art von Dingen, welche ich male. Gefällt es Ihnen?«

Maisie erblickte den wilden Wirbel einer Feldbatterie, die im Feuer in Aktion trat. Zwei Artilleristen standen hinter ihr in der Menge.

»Sie haben das eine Vorderpferd verloren,« sagte der eine zum andern. »Es ist schrecklich zerrissen, aber sie kommen mit den übrigen gut vorwärts. Der Vorderfahrer fährt besser als Du, Tom. Sieh, wie verständig er sein Pferd leitet!«

»Nummer drei wird beim nächsten Stoß vom Vorderwagen fallen,« lautete die Antwort.

»Nein, er wird es nicht. Sieh nur, wie er seine Füße gegen das Eisen anstemmt. Es ist alles in Ordnung.«

Dick beobachtete Maisies Gesicht; sein Herz schwoll vor Freude – ein schöner, allgemeiner Triumph. Sie interessirte sich mehr für die kleine Menge als für das Gemälde. Das war etwas, was sie verstehen konnte.

»Und ich brauchte es so nötig! O, ich brauchte es so sehr!« sagte sie schließlich leise.

»Ich – alles ich!« sagte Dick gelassen. »Sehen Sie ihre Gesichter an. Es packt sie; sie wissen nicht, was sie veranlaßt, Augen und Mund aufzusperren, aber ich weiß es. Und ich weiß, meine Arbeit ist gut.«

»Ja, ich sehe es. O, was ist es doch für eine schöne Sache, es zu etwas gebracht zu haben!«

»Es zu etwas gebracht zu haben, in der That! Ich mußte dafür hinausgehen und mich darnach umschauen. Was denken Sie davon?«

»Ich nenne es einen Erfolg. Erzählen Sie mir, wie Sie hinausgingen!«

Sie kehrten in den Park zurück, wo Dick, mit der ganzen Anmaßung eines jungen Mannes einer Frau gegenüber, von seinen Thaten erzählte, wobei anfänglich seine Ich – Ich – Ich durch seinen Bericht blitzten, wie die Telegraphenstangen bei einem Reisenden vorüberblitzen. Maisie hörte zu und nickte mit dem Kopfe. Die Geschichten von Kampf und Entbehrung bewegten sie nicht um eine Haaresbreite. Bei dem Ende einer jeden Episode schloß er: »Und das gab mir die Kenntnis von der Behandlung der Farbe,« oder des Lichtes, oder was immer es sonst gewesen sein mochte, was ihn veranlaßt hatte, seine Zwecke zu verfolgen und zu verstehen. Er führte sie atemlos durch die halbe Welt, zu ihr sprechend, wie er noch niemals in seinem ganzen Leben gesprochen hatte. In der Flut seiner Begeisterung kam das große Verlangen über ihn, dieses Mädchen zu gewinnen, das mit dem Kopf nickte und sagte: »Ich verstehe. Fahren Sie fort!« – es zu gewinnen und mit fortzunehmen, weil es Maisie war, weil es ihn verstand, weil es sein Recht und eine Frau war, nach welcher er vor allen Frauen verlangte.

Dann hörte er plötzlich auf zu erzählen und sagte: »So nahm ich alles, was ich brauchte, und mußte dafür kämpfen. Jetzt erzählen Sie.«

Maisies Bericht war beinahe so grau wie ihr Anzug. Er umfaßte Jahre voll geduldiger, mühsamer Arbeit, unterstützt durch einen rasenden Stolz, der durch nichts gebrochen werden konnte, weder durch das Lachen der Kunsthändler noch durch die ihre Arbeit verzögernden Nebel, während Kami sich unfreundlich und spöttisch zeigte und die Mädchen in anderen Ateliers nur gezwungen höflich waren. Es gab nur wenige lichte Punkte, wenn Gemälde von ihr in Provinzausstellungen angenommen worden; doch sie schloß mit der oft wiederholten Klage: »Sie sehen, Dick, daß ich keinen Erfolg hatte, obgleich ich so hart arbeitete.«

Da wurde Dick von Mitleid ergriffen. Ebenso hatte Maisie gesprochen, als sie den Wellenbrecher nicht treffen konnte, eine halbe Stunde, bevor er sie geküßt. Das war wie gestern geschehen. »Machen Sie sich nichts daraus,« sagte er. »Ich will Ihnen etwas sagen, wenn Sie es glauben wollen.« Die Worte hatten Bezug auf jenen Vorfall. »Das ganze Ding, Schloß, Schaft und Lauf, ist nicht so viel wert, als ein großer, gelber Seemohn unter dem Fort Kerling.«

Maisie errötete ein wenig. »Sie haben gut reden, denn Sie hatten Erfolg und ich nicht.«

»Lassen Sie mich sprechen; ich weiß, Sie werden mich verstehen. Teure Maisie, es klingt thöricht, aber diese zehn Jahre haben niemals existirt, und ich bin zurückgekehrt. Es ist wirklich genau dasselbe. Sehen Sie das ein? Sie sind nun allein, ebenso wie ich. Weshalb soll man sich quälen, was nützt das? Kommen Sie anstatt dessen zu mir, mein Liebling!«

Maisie stocherte mit ihrem Sonnenschirm in dem Kies. Sie saßen auf einer Bank. »Ich verstehe,« sagte sie leise. »Doch ich habe meine Arbeit zu verrichten, und ich muß es thun.«

»Dann thun Sie es mit mir, Teuerste. Ich will Sie nicht hindern.«

»Nein, ich könnte es nicht. Es ist meine Arbeit – meine – meine! Ich bin mein ganzes Leben hindurch für mich allein gewesen und will niemand angehören, außer mir selbst. Ich erinnere mich an alles ebenso gut wie Sie, aber das zählt nicht mit. Wir waren damals Kinder und wußten nicht, was vor uns lag. Seien Sie nicht selbstsüchtig, Dick. Ich glaube, ich sehe meinen Weg zu einem kleinen Erfolge im nächsten Jahre vor mir. Nehmen Sie mir denselben nicht!«

»Ich bitte um Verzeihung, mein Liebling. Es ist meine Schuld, daß ich so thöricht gesprochen habe. Ich kann nicht erwarten, daß Sie meinetwegen Ihr ganzes Leben hingeben. Ich will auf meinen Platz zurückkehren und noch ein wenig warten.«

»Aber, Dick, ich möchte Sie nicht gern aus meinem Leben entfernen, nun Sie gerade zurückgekommen sind.«

»Ich stehe ganz zu Ihrem Befehle, verzeihen Sie mir!« Dick verschlang das beunruhigte kleine Gesicht mit seinen Augen. Es lag in denselben ein Triumph, weil er nicht begreifen konnte, daß Maisie sich weigern würde, ihn früher oder später zu lieben, da er sie doch liebte.

»Es ist schlecht von mir,« sagte Maisie, noch langsamer als vorher, »es ist schlecht und selbstsüchtig, aber ach, ich bin immer so einsam gewesen! Nein, Sie mißverstehen mich! Nun ich Sie wiedergesehen habe – es ist thöricht, aber ich möchte Sie gern in meinem Leben haben.«

»Natürlich. Wir gehören zu einander.«

»O nein, aber Sie verstanden mich stets, und in meiner Arbeit gibt es so vieles, wobei Sie mir helfen könnten. Sie verstehen die Sachen und kennen die Mittel und Wege, sie auszuführen. Sie müssen.«

»Ich thue es, denke ich, oder ich kenne mich selbst nicht. Dann nehme ich also an, Sie wünschen, daß wir uns nicht wieder ans den Augen verlieren und ich Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen möchte.«

»Ja, aber denken Sie daran, Dick, daß nichts weiter daraus folgen wird. Das ist es, weshalb ich mich für selbstsüchtig halte. Lassen Sie die Dinge bleiben, wie sie sind. Ich bedarf Ihrer Hilfe.«

»Sie sollen dieselbe haben. Doch lassen Sie uns darüber nachdenken. Ich muß zuerst Ihre Bilder sehen und Ihre Skizzen durchblättern, um Ihre Richtung herauszufinden. Sie sollten nur sehen, was die Blätter über meine Richtung sagen! Dann will ich Ihnen guten Rat erteilen und Sie werden dementsprechend malen. Ist es nicht das, Maisie?«

Schon wieder lag ein unheiliger Triumph in Dicks Augen.

»Es ist wirklich gut von Ihnen – viel zu gut. Weil Sie sich selbst über das trösten, was niemals geschehen wird, ich weiß es, und dennoch wünsche ich, Sie festzuhalten. Tadeln Sie mich später nicht deswegen, bitte.«

»Ich trete mit offenen Augen in die Sache ein. Ueberdies, die Königin kann niemals unrecht thun. Es ist nicht Ihre Selbstsucht, die mich berührt; es ist Ihre Kühnheit, mir vorzuschlagen, mich benützen zu wollen.«

»Puh! Sie sind nur Dick – und ein Bilderladen.«

»Sehr gut: das ist alles, was ich bin. Aber, Maisie, glauben Sie denn nicht, daß ich Sie liebe? Ich möchte nicht, daß Sie irgendwie falsche Begriffe über Brüder und Schwestern haben.«

Maisie blickte einen Moment auf und schlug dann ihre Augen nieder.

»Es ist Unsinn, aber – ich glaube es. Ich wollte, ich könnte Sie fortschicken, bevor Sie böse auf mich werden. Aber – aber das Mädchen, welches bei mir wohnt, ist rothaarig und sehr empfindlich, und alle unsere Ansichten sind verschieden.«

»Die unsrigen ebenfalls, denke ich. Das thut nichts. In drei Monaten, von heute an, werden wir zusammen über alles das lachen.«

Maisie schüttelte traurig den Kopf. »Ich wußte ja, Sie würden mich nicht verstehen; es wird Sie um so stärker treffen, wenn Sie es einsehen. Blicken Sie mir ins Gesicht, Dick, und sagen Sie mir, was Sie dort sehen!«

Sie standen auf und blickten einander einen Augenblick an. Der Nebel wurde dichter und dämpfte den Lärm von London jenseits der Einfriedung. Dick wandte seine ganze, so mühsam erlangte Kenntnis von Physiognomien an, um jene Augen, den Mund und das Kinn unter der schwarzsammetnen Toque zu betrachten.

»Es ist dieselbe Maisie, und ich bin ebenfalls derselbe,« sagte er. »Wir haben beide genau ebenso viel eigenen Willen, und bei einem oder dem andern von uns muß derselbe gebrochen werden. Jetzt aber wollen wir über die Zukunft sprechen. Ich muß dieser Tage zu Ihnen kommen und mir Ihre Bilder ansehen; ich setze voraus, wenn das rothaarige Mädchen zugegen ist.«

»Sonntags habe ich am besten Zeit, Sie müssen an den Sonntagen kommen. Es gibt so sehr viele Dinge, über die ich mit Ihnen sprechen und Sie um Rat fragen mochte. Jetzt muß ich aber nach Hause gehen und arbeiten.«

»Versuchen Sie, bis zum nächsten Sonntag herauszufinden, was ich bin,« sagte Dick. »Begnügen Sie sich nicht mit meinem Worte für irgend etwas, was ich Ihnen erzählt habe. Adieu, mein Liebling, gesegnet mögen Sie sein.«

Maisie eilte davon wie eine kleine graue Maus. Dick blickte ihr nach, bis sie ihm aus den Augen gekommen; aber er hörte nicht, wie sie ganz nüchtern zu sich sagte: »Ich bin eine Elende – eine abscheuliche, selbstsüchtige Elende. Aber es ist Dick, und Dick wird es verstehen.«

Noch niemand hat erklärt, was wirklich geschieht, wenn eine unwiderstehliche Gewalt mit einem unbeweglichen Pfosten zusammentrifft, obgleich manche tief darüber nachgedacht haben, gerade wie Dick. Er versuchte sich selbst die Versicherung zu geben, daß Maisie in wenigen Wochen, allein durch seine Anwesenheit, sich würde leiten und auf bessere Gedanken bringen lassen. Dann erinnerte er sich wieder viel zu deutlich an ihr Gesicht und alles, was auf demselben geschrieben stand.

»Wenn ich irgend etwas von Physiognomien verstehe,« sagte er, »so steht alles andere auf diesem Gesichte als Liebe. Ich werde das selbst hineinlegen müssen; und dieses Kinn und dieser Mund werden nicht umsonst gewonnen werden. Aber sie hat recht. Sie weiß, was sie braucht, und will es erreichen. Was für eine Unverschämtheit! Mich! Von allen Leuten auf der weiten Welt mich zu benützen! Aber es ist Maisie. Darüber ist nicht hinauszukommen, und es ist so gut, sie wiederzusehen. Diese Sache muß seit Jahren in meinem Kopfe geschlummert haben … Sie will mich benützen, wie ich Binal in Port Saïd benutzt habe. Sie hat ganz recht. Es ist etwas verletzend. Ich soll sie jeden Sonntag sehen wie ein junger Mensch, der einem Dienstmädchen den Hof macht. Sie ist ihrer Sache sicher; und dennoch – dieser Mund ist kein Mund, der sich ergibt. Ich werde sie jedesmal küssen wollen und muß dabei auf ihre Bilder sehen – und dabei weiß ich nicht einmal, was für ein Genre sie malt und soll über Kunst sprechen – Frauenkunst! Deshalb, im einzelnen und ewiglich, verdammt seien alle Arten von Kunst! Einmal brachte sie mich gut vorwärts, und nun ist sie mir im Wege Ich will nach Hause gehen und etwas Kunst machen.«

Auf halbem Wege nach seinem Atelier überkam ihn ein schrecklicher Gedanke. Die Gestalt einer allein lebenden Frau erhob sich vor ihm im Nebel.

»Sie ist ganz allein in London mit einem rothaarigen, empfänglichen Mädchen, das wahrscheinlich die Verdauung eines Straußes besitzt. Die meisten rothaarigen Leute haben eine solche. Maisie ist ein galliges kleines Ding. Sie werden essen wie einsame Frauen – Mahlzeiten zu allen Stunden und Thee bei allen Mahlzeiten. Ich entsinne mich, wie die Studenten in Paris sich gewöhnlich durchfütterten. Sie kann jede Minute krank werden, und ich würde nicht im stande sein, ihr zu helfen. Pfui! Das ist zehnmal schlimmer, als eine Frau haben!«

Als es schummerig wurde kam Torpenhow in Dicks Atelier und blickte ihn mit Augen voll strenger Liebe an, die zwischen Männern entsteht, welche zusammen an demselben Ruder gezogen haben und durch Gewohnheit, Gebrauch und die Vertraulichkeiten der Arbeit an einander gefesselt sind. Das ist eine wahre Liebe, die nicht stirbt, obschon sie Streit, Tadel und die größte Aufrichtigkeit gestattet und ermutigt, sondern zunimmt und probehaltig ist gegen Abwesenheit und schlechte Ausführung.

Dick verhielt sich schweigsam, nachdem er Torpenhow die gestopfte Beratungspfeife überreicht hatte. Er dachte an Maisie und deren wahrscheinliche Entbehrungen. Es war für ihn etwas Neues, an jemand anders als Torpenhow zu denken, der für sich selbst denken konnte. Hier war endlich ein Ausgang für jene Kassenbilanz. Er konnte Maisie reichlich mit Juwelen schmücken, – ein dickes goldnes Halsband um den kleinen Nacken, Armbänder um die gerundeten Arme und wertvolle Ringe an den Fingern dieser kühlen, ringlosen Hände, die er zwischen den seinigen gehalten hatte. Es war ein alberner Gedanke, denn Maisie würde ihm nicht einmal erlauben, ihr auch nur einen einzigen Ring an einen Finger zu stecken und über goldne Schmucksachen lachen. Es würde besser sein, mit ihr ruhig in der Dämmerung zu sitzen, mit seinem Arme um ihren Nacken und ihr Gesicht an seiner Schulter, wie es sich für Mann und Frau schickte. Torpenhows Stiefeln knarrten an jenem Abende, während seine starke Stimme schnarrte. Dicks Augenbrauen zogen sich zusammen und er murmelte ein böses Wort, weil er allen seinen Erfolg als ein Recht und eine Abschlagszahlung für frühere Entbehrungen in Empfang genommen hatte und nun im Kampfe von einer Frau aufgehalten wurde, die diesen Erfolg zugab und doch nicht sofort ihn liebte.

»Hören Sie, alter Herr,« begann Torpenhow, der zwei oder drei vergebliche Versuche zu einem Gespräche gemacht; »ich habe Sie doch nicht verletzt, durch irgend etwas, was ich letzthin gesagt, wie?«

»Sie! Nein. Wie könnten Sie?«

»Die Leber nicht in Ordnung?«

»Der wirklich gesunde Mensch weiß gar nicht, daß er eine Leber hat. Ich bin nur im allgemeinen ein wenig verstimmt und ermüdet durch verschiedene Dinge. Ich vermute, es ist meine Seele.«

»Der wirklich gesunde Mensch weiß gar nicht, daß er eine Seele hat. Was haben Sie mit dergleichen Luxusartikeln zu schaffen?«

»Es kam ganz von selbst. Wer ist der Mann, der sagt, daß wir alle Eilande wären, die sich gegenseitig Lügen zuriefen über Meere von Mißverständnissen?«

»Er hat recht, wer es auch sein möge – ausgenommen, was die Mißverständnisse anbelangt. Ich glaube nicht, daß wir einander mißverstehen können.«

Der blaue Rauch ringelte sich in Wolken von der Decke zurück. Torpenhow fragte eindringlich:

»Dick, ist es eine Frau?«

»Gehangen mögen Sie werden, wenn es etwas ist, das nur im entferntesten einer Frau gleicht; und wenn Sie so zu sprechen anfangen, werde ich mir ein Atelier aus roten Ziegelsteinen mieten mit weiß gemalter Verputzung und Begonien, blauen Hungarien zwischen Topfpalmen zu drei Schilling und sechs Pennys, auch werde ich alle meine Bilder in anilinfarbige Plüschrahmen einfassen lassen und jede Frau einladen, die kläfft, jammert und klagt über das, was, wie ihr Guidebuch ihr gesagt, Kunst ist, und Sie, Torp, sollen sie empfangen, – in einem schnupftabakbraunen Sammetrock mit gelben Hosen und einem orangenfarbigen Halstuche. Das wird Ihnen gefallen!«

»Zu dünn, Dick. Ein besserer Mann als Sie leugnete mit Fluchen und Schwören bei einer denkwürdigen Gelegenheit. Sie haben zu stark aufgetragen, gerade wie er es that. Es ist nicht meine Sache, natürlich, aber es ist erquickend, zu denken, daß irgendwo unter den Sternen eine fürchterliche Tracht Schläge für Sie aufbewahrt ist. Ob dieselbe vom Himmel oder von der Erde kommen wird, weiß ich nicht, aber es steht fest, daß sie kommen und Sie etwas zusammenrütteln wird. Sie haben es nötig, etwas durchgehämmert zu werden.«

Dick schauerte es. »Vortrefflich,« sagte er. »Wenn dieses Eiland zerbröckeln sollte, wird es Sie rufen.«

»Ich werde um die Ecke kommen und helfen, es noch etwas mehr zu zerbröckeln. Wir reden Unsinn, Kommen Sie mit in ein Theater.«

Sechstes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Einige Wochen später kehrte Dick an einem nebeligen Sonntage durch den Park nach seinem Atelier zurück. »Das sind offenbar die Schläge, die Torp meinte,« sagte er »Sie treffen mich härter, als ich erwartete, aber die Königin kann nichts Unrechtes thun, auch hat sie wirklich einen Begriff vom Zeichnen.« Er kam gerade von einem sonntäglichen Besuche bei Maisie – stets unter den grünen Augen des rothaarigen, empfindsamen Mädchens, welches er auf den ersten Blick hassen gelernt – und wurde von einem starken Gefühl der Scham geprickelt. Sonntag auf Sonntag war er, in seinen besten Kleidern, nach dem häßlichen Hause nördlich vom Park hinüber gewandert, anfänglich, um Maisies Bilder anzusehen, und dann dieselben zu kritisiren und seinen Rat darüber zu erteilen, da er gefunden, daß sie Erzeugnisse waren, denen guter Rat nicht schaden könne. Sonntag auf Sonntag war er, wahrend seine Liebe bei jedem Besuche wuchs, genötigt gewesen, sein Herz zum Schweigen zu zwingen, wenn dasselbe ihn antrieb, Maisie zu küssen. Sonntag auf Sonntag hatte der Kopf über das Herz gesiegt und ihn gewarnt, daß Maisie noch nicht erreichbar sei, und daß es besser wäre, so zusammenhängend als möglich über die Mysterien der Zunft zu sprechen, die alles für sie waren. Daher war es sein Los, jede Woche in dem über dem schmutzigen Garten erbauten Atelier Folterqualen zu erdulden und Maisie zu beobachten, wie sie mit den Theetassen hin und her ging. Thee war ihm in hohem Grade zuwider, aber seitdem er es ihm möglich machte, etwas länger in ihrer Gegenwart zu verweilen, trank er ihn mit großer Andacht, während das rothaarige Mädchen in einer Ecke saß und ihn beobachtete, ohne ein Wort zu sprechen. Das Mädchen beobachtete ihn stets. Nur ein einzigesmal, als es das Atelier verlassen hatte, zeigte Maisie ihm ein Album, das einige armselige Ausschnitte aus Provinzialzeitungen enthielt, möglichst kurz gehaltene, eilige Notizen über einige von ihren Bildern, die sie nach auswärtigen Ausstellungen geschickt hatte. Dick bückte sich und küßte den mit Farbe beschmierten Daumen auf dem offenen Blatte. »O, meine Liebe, meine Liebe,« murmelte er, »sind diese Dinge wohl Ihrer würdig? Werfen Sie dieselben in den Papierkorb!«

»Nicht bevor ich etwas Besseres erhalte,« sagte Maisie, das Album schließend.

Darauf machte Dick, angetrieben durch Mangel an Respekt vor seinem Publikum und die tiefste Rücksicht für das Mädchen, den Vorschlag, er wollte ein Bild malen und Maisie sollte dasselbe unterzeichnen.

»Das ist kindisch,« entgegnete Maisie; »ich dachte das wirklich nicht von Ihnen. Es muß meine Arbeit sein, meine, meine!«

»Dann gehen Sie hin und zeichnen Sie Medaillons zur Ausschmückung von Häusern reicher Brauer. Dazu sind Sie durchaus befähigt.« Dick war elend und wild zu Mute.

»Bessere Sachen als Medaillons, Dick,« lautete die Antwort in einem Tone, der ihn an das furchtlose Sprechen des grauäugigen kleinen Wesens Mrs. Jennet gegenüber erinnerte. Dick hätte sich bis aufs äußerste gedemütigt, wenn nicht gerade das andere Mädchen hereingekommen wäre.

Am nächsten Sonntage legte er zu Maisies Füßen kleine Geschenke von Pinseln nieder, die fast von selbst malen konnten, sowie von Farben, an deren Dauerhaftigkeit er glaubte, und war übertrieben aufmerksam bei der Arbeit, die sie unter den Händen hatte. Dasselbe erforderte, unter anderen Dingen, eine Darlegung seiner innersten Ueberzeugung. Torpenhows Haar würde sich aufgerichtet haben, hätte er die Flut von Worten gehört, mit denen Dick sein eignes Evangelium über die Kunst predigte.

Dick wäre einen Monat früher ebenso erstaunt gewesen; aber es war Maisies Wille und Belieben, so daß er seine Worte zusammensuchte, um ihrem Begriffsvermögen alles das klar zu machen, was ihm selbst einst von den Geheimnissen der Arbeit verborgen gewesen. Es liegt nicht die mindeste Schwierigkeit in der Ausführung einer Sache, wenn man nur weiß, wie es gemacht wird; das schwierigste ist, einem seine Methode auseinanderzusetzen.

»Ich könnte das da ganz richtig machen, wenn ich einen Pinsel in der Hand hätte,« sagte Dick verzweiflungsvoll mit Rücksicht auf die Zeichnung eines Kinns, das, wie Maisie klagte, nicht gelingen wollte; »sieht aus wie Fleisch«, – es war dasselbe Kinn, das sie mit dem Palettemesser ausgekratzt hatte, – »aber ich hielte es fast für unmöglich, Sie zu unterweisen. In Ihrer Art zu malen, liegt ein seltsamer häßlicher, holländischer Strich, der mir aber gefällt; indes kommt es mir so vor, als ob Sie schwach im Zeichnen wären. Sie machen Verkürzungen, als ob Sie niemals ein Modell benützt hätten und haben Kamis weichliche Manier angenommen, das Fleisch im Schatten zu behandeln. Dann wieder malen Sie zu hart, ohne es selbst zu wissen. Ich glaube, Sie verwenden ihre Zeit zu viel auf Entwürfe. Oel ist die Hauptsache, oft reißen drei Quadratzoll von dem aufgetragenen, schimmernden Zeug in der Ecke eines Bildes ein schlechtes Ding heraus – ich weiß es. Es ist unmoralisch. Zeichnen Sie eine kurze Zeit lang nur Konturen, dann kann ich Ihnen mehr über Ihre Fähigkeiten sagen, wie der alte Kami zu sagen pflegte.«

Maisie protestirte; sie machte sich nichts daraus, nur Konturen zu zeichnen.

»Ich weiß,« sagte Dick, »Sie möchten gern Ihre Studienköpfe mit einem Bündel Blumen am Halse malen, um die schlechte Modellirung zu verbergen.« Das rothaarige Mädchen lachte ein wenig. »Sie möchten gern Landschaften mit Vieh malen, das knietief im Grase steht, um die schlechte Zeichnung zu vertuschen. Sie möchten überhaupt ein gut Teil mehr malen als Sie können. Sie haben Verständnis von Farbe, aber es fehlt Ihnen die Form. Farbenkenntnis ist eine Gabe, – legen Sie das beiseite und denken Sie nicht mehr daran – was jedoch die Form anbelangt, so können Sie darin herangebildet werden. Nun, alle Ihre Studienköpfe, – und einige davon sind recht gut – werden Sie genau auf dem Standpunkte zurückhalten, auf dem Sie sich jetzt befinden. Beim Zeichnen von Konturen müssen Sie entweder vor- oder rückwärts gehen, auch werden Sie alle Ihre Schwächen dabei zeigen.«

»Aber andere Leute –,« begann Maisie.

»Sie müssen nicht darauf sehen, was andere Leute thun. Wenn deren Seelen Ihre Seele wären, so würde es etwas anderes sein. Sie stehen und fallen durch Ihre eigne Arbeit, denken Sie daran, und es heißt wirklich Zeit verschwenden, bei diesem Kampfe an irgend etwas anderes zu denken.«

Dick machte eine Pause, während die so lange entschlossen unterdrückte Sehnsucht wieder in seine Augen zurückkehrte. Er sah Maisie an, und in seinem Blick lag die Frage so deutlich, als wenn er sie in Worten ausgedrückt hätte: wäre es nicht Zeit, diese öde Wildnis von Leinwand und Ratschlägen zu verlassen und sich die Hände mit Liebe fürs Leben zu reichen?

Maisie stimmte dem neuen Schulprogramm so anbetungswert zu, daß Dick sich nur mit Mühe zurückhalten konnte, sie zu nehmen und nach dem nächsten Standesamte zu tragen. Unbedingter Gehorsam gegen das ausgesprochene Wort und reine Gleichgiltigkeit für das unausgesprochene Verlangen verhöhnten und bekämpften seine Seele. Er besaß in jenem Hause Ansehen, – ein in der That auf einen halben Nachmittag von sieben Tagen beschränktes Ansehen, aber doch ein wirkliches, so lange es währte. Maisie hatte gelernt, sich in vielen Dingen an ihn zu wenden, von der geeignetsten Verpackung von Bildern bis zu dem Zustande eines rauchenden Kamins. Das rothaarige Mädchen fragte ihn niemals um Rat; andererseits nahm es sein Erscheinen ohne Widerspruch an und beobachtete ihn stets. Er entdeckte, daß die Mahlzeiten des Haushaltes unregelmäßig und mangelhaft seien; dieselben bestanden hauptsächlich in Thee, Pickles und Zwieback, wie er von Anfang an vermutet hatte. Die Mädchen ließen glauben, daß sie wöchentlich einkauften, aber sie lebten, mit Hilfe einer Arbeitsfrau, so unregelmäßig wie junge Raben. Maisie verwendete den größten Teil ihres Einkommens auf Modelle, während das andere Mädchen für Gerätschaften schwärmte, die so verfeinert waren wie seine eigne Arbeit rauh war. Mit der seiner Zeit von den Docks her teuer erkauften Erfahrung, warnte Dick Maisie, und sagte ihr, daß die Folge dieses halben Verhungerns darin bestehen würde, ihre Fähigkeit zur Arbeit zu lähmen, was bedeutend schlimmer als der Tod wäre. Maisie beherzigte diese Warnung und achtete nun mehr auf das, was sie aß und trank. Wenn seine Unruhe ihn überkam, was gewöhnlich während der langen Dämmerstunden im Winter der Fall war, so traf die Erinnerung an diesen kleinen Ort häuslicher Autorität, sowie an seine Arbeit mit einer Herdbürste in dem rauchenden Kamine des Wohnzimmers, Dick wie ein Peitschenhieb. Er sah ein, daß der Gedanke hieran der Gipfel seiner Leiden sei, bis das rothaarige Mädchen ihm eines Sonntags ankündigte, es wolle eine Studie von Dicks Kopf anfertigen, er möchte daher so gut sein, still zu sitzen und – gerade wie ein Hintergedanke – Maisie anblicken. Er saß auch, weil er es füglich nicht abschlagen konnte, und dachte eine halbe Stunde lang an alle die Leute, die er früher für seine künstlerischen Zwecke benutzt hatte; am deutlichsten erinnerte er sich Binals, – jenes Binals, der einst ein Künstler gewesen und immer von seiner Entartung sprach.

Es war weiter nichts als die rohe Skizze eines Kopfes, aber sie stellte die stumme Erwartung, die Sehnsucht und vor allem die hoffnungslose Knechtschaft des Mannes mit einem Anfluge von bitterem Spotte dar.

»Ich will die Skizze kaufen,« sagte Dick plötzlich, »zu jedem Preise, den Sie verlangen.«

»Mein Preis ist zu hoch, aber ich denke, Sie werden ebenso dankbar sein, wenn –« Die noch feuchte Skizze flatterte aus der Hand des Mädchens und fiel in die Asche des Ofens im Atelier; als sie dieselbe wieder aufhob, war sie hoffnungslos beschmutzt.

»O, sie ist ganz verdorben!« rief Maisie aus. »Ich habe sie nicht einmal gesehen. War sie ähnlich?«

»Ich danke Ihnen,« sagte Dick leise zu dem rothaarigen Mädchen und entfernte sich rasch.

»Wie dieser Mann mich haßt!« bemerkte das Mädchen. »Und wie er Sie liebt, Maisie!«

»Was für ein Unsinn! Ich weiß, Dick ist sehr vernarrt in mich, aber er hat seine Arbeit und ich habe die meinige.«

»Ja, er ist vernarrt in Sie, und ich denke, er weiß, es ist etwas an der Empfänglichkeit für Eindrücke, trotz alledem. Maisie, können Sie nicht sehen?«

»Sehen? Was sehen?«

»Nichts; nur weiß ich, daß, wenn ich einen Mann dahin bringen könnte, mich so anzusehen, wie dieser Mann Sie ansieht, ich würde – ich weiß nicht, was ich thun würde. Aber er haßt mich. O, wie er mich haßt!«

Sie hatte hierin doch nicht ganz recht. Dicks Haß wurde auf einige Augenblicke durch Dankbarkeit gemildert, und dann vergaß er das Mädchen vollständig. Nur das Gefühl der Scham blieb zurück und nahm zu, als er im Nebel durch den Park ging. »An einem dieser Tage wird eine Explosion stattfinden,« sagte er ingrimmig. »Aber es ist nicht Maisies Schuld; sie hat recht, ganz recht, soweit sie es versteht; ich kann sie nicht tadeln. Diese Sache dauert nun seit beinah drei Monaten. Drei Monate! – und mich hat es zehn Jahre des Herumziehens draußen gekostet, um die Kenntnis, den rohesten Begriff von meiner Arbeit zu erlangen. Das ist richtig, aber dann mußte ich mich nicht jeden Sonntag mit Stiften, Zeichenstiften und Palettmessern verwunden. O, mein kleiner Liebling, wenn ich Dich jemals bändige, wird jemand sehr schlechte Zeiten davon haben. Nein, sie wird nicht. Ich werde ein ebenso großer Thor ihretwegen sein, wie ich es jetzt bin. Ich werde an meinem Hochzeitstage das rothaarige Mädchen vergiften; – es ist schädlich, gefährlich – und nun will ich die gegenwärtigen schlechten Zeiten an Torp auslassen.«

Torpenhow hatte sich in letzter Zeit mehr als einmal bewogen gefühlt, Dick eine Vorlesung über die Sünde der Leichtfertigkeit zu halten, die Dick angehört, ohne ein Wort zu erwidern. In den Wochen zwischen den ersten Sonntagen seines Lehramtes, hatte er sich weislich an seine Arbeit gefügt, entschlossen, daß Maisie wenigstens die volle Ausdehnung seiner Fähigkeiten kennen lernen sollte. Dann hatte er Maisie gelehrt, daß sie nicht die mindeste Aufmerksamkeit anderen Arbeiten als den ihrigen schenken müsse, und Maisie hatte ihm nur allzu gut gehorcht. Sie befolgte seine Ratschläge, interessirte sich jedoch nicht für seine Bilder.

»Ihre Sachen riechen nach Tabak und Blut,« sagte sie einmal. »Können Sie denn nichts anderes malen als Soldaten?«

»Ich konnte einen Kopf von Dir malen, über den Du Dich verwundern würdest,« dachte Dick – das war, bevor das rothaarige Mädchen ihn unter die Guillotine gebracht hatte, – aber er erwiderte nur »es thut mir leid,« und quälte an jenem Abende Torpenhows Seele mit Blasphemien gegen die Kunst. Später, ganz unmerklich und gegen seinen Willen, hörte er auf, sich für seine eignen Arbeiten zu interessiren. Um Maisies willen und um der Selbstachtung zu schmeicheln, die er an jedem Sonntage verlor, wie es ihm schien, wollte er nicht wissentlich schlechtes Zeug hervorbringen, aber seitdem Maisie sich nicht einmal um seine besten Sachen bekümmerte, wäre es wirklich besser, nichts zu thun und die Zeit zwischen den Sonntagen mit Warten hinzubringen. Torpenhow war empört, als die Wochen so nutzlos verstrichen und griff ihn eines Sonntagabends an, als Dick sich aufs äußerste erschöpft fühlte nach einer dreistündigen Selbstbeherrschung in Maisies Gegenwart. Es war ein sehr erregtes Gespräch, worauf Torpenhow sich zurückzog, um sich mit Nilghai zu beraten, der hereingekommen war, um über kontinentale Politik zu sprechen.

»Vollständig müßig ist er? Sorglos und in seiner Gemütsstimmung beunruhigt?« fragte Nilghai.

»Es ist nicht der Mühe wert, sich darüber zu ängstigen. Dick spielt wahrscheinlich den Narren bei irgend einer Frau.« »Ist denn das nicht schlimm genug?«

»Nein, Sie mag ihn wohl aus seiner Thätigkeit reißen und seine Arbeit eine Zeit lang aushalten; sie kann auch eines Tages hieherkommen und ihm eine Scene auf dem Treppenflur machen; man weiß ja das niemals, aber so lange Dick nicht aus eigenem Antriebe davon spricht, thäten Sie besser, die Sache gar nicht zu berühren. Er ist kein leicht zu behandelnder Mensch.«

»Nein, ich wollte, er wäre es. Er ist ein so aggressiver, selbstbewußter Bursche!«

»Er wird das mit der Zeit schon ablegen. Er muß lernen, daß man nicht mit einer Büchse voll Farbenblasen und einem schmierigen Pinsel die Welt auf und nieder stürmen kann. Sind Sie vernarrt in ihn?«

»Ich würde jede Strafe auf mich nehmen, die ihm bevorsteht, wenn ich es könnte; aber das schlimmste dabei ist, daß kein Mensch seinen Bruder davor bewahren kann.«

»Nein, und noch schlimmer ist es, daß es in einem solchen Kriege nicht zum Abfeuern, zur Entdeckung kommt. Dick muß seine Lektion lernen, so gut wie jeder von uns. Um von Krieg zu sprechen, im Frühjahre werden Unruhen im Balkan stattfinden.«

»Diese Unruhen sollen schon lange kommen. Ich bin neugierig, ob wir Dick mit hinausbringen können, wenn sie eintreten?«

Bald darauf trat Dick ins Zimmer; die Frage wurde ihm vorgelegt. »Nicht gut genug für mich,« erwiderte er kurz. »Ich befinde mich zu behaglich, wo ich bin.«

»Sie werden doch all das Zeug in den Blättern nicht für Ernst nehmen?« sagte Nilghai. »In weniger als sechs Monaten sind Sie nicht mehr in der Mode, – das Publikum wird dann Ihre Manieren kennen und zu etwas Neuem übergehen; wo werden Sie dann sein?«

»Hier, in England.«

»Wenn Sie anständige Arbeit bei uns ausführen könnten? Unsinn! Ich werde dorthin gehen; Keneu, Torp, Cassavatti, eine ganze Menge von uns werden dort sein, und wir so viel zu thun haben, wie wir nur leisten können, mit unbegrenzter Gelegenheit zum Fechten und Dinge zu sehen, die den Ruf von drei Weretschagins begründen könnten.«

»Hm,« machte Dick, die Lippen aufwerfend.

»Sie ziehen vor, hier zu bleiben und sich einzubilden, daß die ganze Welt Ihre Bilder angafft? Denken Sie doch daran, wie voll von Havarien, bezüglich seiner Bestrebungen und Vergnügungen, das Leben eines Mannes ist. Wenn zwanzigtausend von ihnen die Zeit finden, zwischen ihren Mahlzeiten sich umzublicken und irgend etwas zu murmeln über eine Sache, so sind dieselben nicht im mindesten dabei interessirt; das reine Resultat heißt: Ruhm, Ansehen, Anerkennung, dem Geschmacke der Maßgebenden entsprechend.«

»Ich weiß das ebenso gut wie Sie. Geben Sie mir Kredit auf ein wenig Verstand?« »Ich will gehangen werden, wenn ich es thue!«

»Dann lassen Sie sich hängen; wahrscheinlich werden Sie es auch – als ein Spion, von wütenden Türken. O! Ich bin müde, todmüde, alle Kraft hat mich verlassen!« Dick ließ sich in einen Stuhl fallen und war nach einer Minute fest eingeschlafen. »Das ist ein böses Zeichen,« sagte Nilghai leise. Torpenhow nahm ihm die Pfeife aus der Rocktasche, welche dort zu brennen angefangen, und legte ihm ein Kissen unter den Kopf. »Wir können es nicht ändern,« sagte er. »Es ist eine gute, häßliche Art von Kopf; ich bin vernarrt in ihn. Da ist die Narbe von dem Schmiß, den er erhielt, als er in jenem Carré über den Kopf gehauen wurde.«

»Es sollte mich gar nicht wundern, wenn das ihn nicht etwas verrückt gemacht hätte.«

»Ich doch. Er ist ein sehr eifriger Verrückter.« Darauf fing Dick schrecklich zu schnarchen an.

»O, keine Zuneigung kann gegen dergleichen standhalten. Wachen Sie auf. Dick, und schlafen Sie anderswo, wenn Sie dabei einen solchen Lärm machen wollen.«

»Wenn ein Kater die ganze Nacht auf den Dächern sich herumgetrieben hat,« murmelte Nilghai in seinen Bart, »so schläft er gewöhnlich den Tag über. Das ist aus der Naturgeschichte.«

Dick stolperte, sich die Augen reibend und gähnend, hinaus. Während der Nacht fiel ihm eine so einfache wie glänzende Idee ein, daß er sich wunderte, weshalb er dieselbe nicht schon früher gehabt. Er wollte Maisie an einem Wochentage besuchen, einen Ausflug vorschlagen und sie auf der Eisenbahn nach Fort Keeling mitnehmen; nach demselben Platze, auf dem sie vor zehn Jahren umhergeschweift waren.

»Nach einer allgemeinen Regel,« sagte er sich am folgenden Morgen, »ist es nicht gut, eine alte Fährte zweimal zu kreuzen; die Dinge erinnern einen an die Vergangenheit, ein kalter Wind erhebt sich und man fühlt sich traurig; aber dieses ist eine Ausnahme von jeder Regel, die jemals bestand. Ich will sogleich zu Maisie gehen.«

Glücklicherweise war das rothaarige Mädchen ausgegangen, um Einkäufe zu machen, als er dort eintraf, wahrend Maisie, in einer mit Farbe bespritzten Bluse, im Kriege mit ihrer Leinwand lag. Sie war nicht sonderlich erfreut, ihn zu sehen, denn Besuche an Wochentagen waren gegen die Verabredung; er bedurfte daher seines ganzen Mutes, um seine Absicht zu erklären.

»Ich weiß, Sie arbeiten viel zu angestrengt,« schloß er mit einer Miene von Autorität. »Wenn Sie so weiter machen, werden Sie zusammenbrechen. Sie thäten wirklich viel besser daran, mitzukommen.«

»Wohin?« fragte Maisie ermüdet. Sie hatte zu lange vor ihrer Staffelei gestanden und war in der That erschöpft.

»Wohin es Ihnen beliebt. Wir wollen morgen früh irgend einen Zug nehmen und sehen, wo er anhält. Irgendwo werden wir frühstücken und abends bringe ich Sie wieder zurück.«

»Wenn es morgen gutes Licht zum Arbeiten ist, verliere ich einen Tag.« Maisie balancirte unentschlossen die schwere Palette aus weißem Nußbaum.

Dick unterdrückte einen Fluch, der ihm auf die Lippen kam. Er hatte noch nicht gelernt, mit dem Mädchen Geduld zu haben, für welches die Arbeit alles in allem war.

»Sie werden noch sehr viel mehr verlieren, meine Teure, wenn Sie jede Stunde Licht zum Arbeiten benützen. Sich überarbeiten ist nur mörderischer Müßiggang. Seien Sie nicht unverständig. Ich werde Sie morgen gleich nach dem Frühstück abholen.«

»Aber Sie werden doch sicherlich auch –«

»Nein, sicherlich nicht. Ich will Sie haben und niemand anders. Außerdem haßt sie mich gerade so sehr, wie ich sie hasse. Es wurde ihr gar nichts daran liegen, mitzukommen. Also, auf morgen, und beten Sie, daß wir Sonnenschein haben.« Dick ging entzückt von dannen und arbeitete infolge dessen nicht einen Strich. Er kämpfte mit dem heftigen Verlangen, einen Extrazug zu bestellen, begnügte sich indes damit, einen großen grauen Känguruhmantel zu kaufen, der mit glänzend schwarzem Marder gefüttert war, und ging dann nach Hause, um nachzudenken.

»Ich gehe morgen den ganzen Tag mit Dick aus,« sagte Maisie zu dem rothaarigen Mädchen, als dasselbe später, müde von seinen Einkäufen in Edgware Road, zurückkehrte.

»Er verdient es. Ich will, während Ihrer Abwesenheit, den Fußboden im Atelier gründlich scheuern lassen; er ist sehr schmutzig.«

Maisie hatte sich seit Monaten an keinem Feiertage erfreut und blickte der kleinen Erholung fröhlich entgegen, wenn auch nicht ganz ohne Besorgnis.

»Es gibt keinen angenehmeren Menschen als Dick, wenn er vernünftig spricht,« dachte sie, »aber ich bin überzeugt, er wird albern sein und mich quälen, während ich ihm doch nichts von dem sagen kann, was er gern hört. Wenn er vernünftig wäre, würde ich ihn viel lieber haben.«

Als Dick am nächsten Morgen erschien und Maisie in ihrem grauen Ulster und schwarzsammetnen Hütchen im Hausflur stehen sah, strahlten seine Augen vor Freude. Marmorpaläste, aber nicht schmutzige Imitationen aus geädertem Holze, waren sicherlich passender als Hintergrund für eine solche Gottheit. Das rothaarige Mädchen zog sie einen Augenblick ins Atelier und küßte sie eilig. Maisies Augenbrauen erhoben sich bis zum Rande der Stirn, sie waren gar nicht an dergleichen Zärtlichkeiten für einander gewöhnt. »Denken Sie an meinen Hut,« sagte sie davoneilend und die Stufen hinunterlaufend zu Dick, der bei dem Kabriolet stand und auf sie wartete.

»Sind Sie auch warm genug? Möchten Sie nicht gern noch etwas frühstücken? Legen Sie diesen Mantel über Ihre Kniee.«

»Ich fühle mich ganz behaglich, danke. Wohin gehen wir, Dick? O, hören Sie doch auf, so zu singen; die Leute werden uns für verrückt halten.« »Lassen Sie dieselben denken, was sie wollen, wenn es ihnen nur keinen Schaden thut. Sie wissen nicht, wer wir sind. Auf mein Wort, Maisie, Sie sehen reizend aus.«

Maisie blickte gerade aus vor sich hin und erwiderte nichts. Der Wind eines scharfen, klaren Wintermorgens hatte Farbe in ihre Wangen gebracht. Ueber ihnen wurden die crêmefarbigen Rauchwolken fortgetrieben, um einem hellblauen Himmel Platz zu machen, während einige unvorsichtige Spatzen sich von einem Wassertümpel erhoben und das Kommen des Frühlings mit viel Geschrei verkündigten.

»Es wird reizendes Wetter auf dem Lande sein,« bemerkte Dick.

»Aber wohin gehen wir denn?«

»Abwarten und dann sehen.«

Sie hielten bei der Viktoria-Station, wo Dick Billets nahm. Einen Augenblick dachte Maisie, die behaglich vor dem Kaminfeuer im Wartesaale saß, daß es doch viel angenehmer wäre, einen Mann nach dem Billetschalter zu schicken als sich selbst mit dem Ellenbogen durch die Menge Bahn zu machen. Dick führte sie in einen Pullmanwaggon – nur, weil es dort warm war, während sie diese Verschwendung mit ernstlich entrüsteten Augen betrachtete, als der Zug sich in Bewegung setzte.

»Ich möchte wissen, wohin wir gehen,« wiederholte sie zum zwanzigstenmale. Der Name einer ihr wohl erinnerlichen Station ertönte gegen das Ende der Fahrt, und Maisie war nun aufgeklärt. »O, Dick, Sie Abscheulicher!«

»Nun, ich glaubte, Sie würden diesen Platz gern einmal wiedersehen. Sie sind ja seit langer Zeit nicht hier gewesen, nicht wahr?«

»Nein, Es verlangte mich niemals darnach, Mrs. Jennet wieder zu sehen; und sie war das einzige, was ich hier gekannt.«

»Nicht ganz. Sehen Sie eine Minute aus dem Fenster. Dort steht die Windmühle über den Kartoffelfeldern, man hat da noch keine Villen gebaut; entsinnen Sie sich, wie ich Sie in der Mühle eingesperrt hatte?«

»Ja. Wie Mrs. Jannett Sie dafür geprügelt hat! Ich sagte ihr nie, daß Sie es gewesen wären.«

»Sie vermutete es. Ich klemmte einen Stock unter die Thür und sagte Ihnen, ich wollte Amomma lebendig in den Kartoffeln begraben, was Sie auch glaubten. In jenen Tagen waren Sie vertrauender Natur.«

Sie lachten und lehnten sich hinaus, um sich umzuschauen, alte Landmarken mit manchen Erinnerungen identifizirend. Dick richtete sein Auge auf die Rundung von Maisies Wange, die sich sehr nahe der seinigen befand, und beobachtete, wie das Blut unter der reinen Haut pulsirte. Er gratulirte sich selbst zu seiner List und sah voraus, daß der Abend ihm eine große Belohnung bringen würde.

Als der Zug hielt, gingen sie fort, um eine alte Stadt mit neuen Augen zu betrachten. Zuerst besahen sie, aber von einer gewissen Entfernung, das Haus von Mrs. Jannet.

»Nehmen Sie an, sie käme jetzt heraus; was würden Sie thun?« fragte Dick mit verstelltem Schrecken.

»Ich würde ihr ein Gesicht schneiden.«

»Laß sehen,« sagte Dick, in die Sprache ihrer Kindheit verfallend. Maisie schnitt ein Gesicht nach der kleinen Villa hin, worüber Dick laut lachte.

»Das ist schändlich,« sagte Maisie, die Stimme von Mrs. Jennet nachahmend. »Maisie, Du gehst sofort hinein und lernst das Altargebet, das Evangelium und die Epistel für die nächsten drei Sonntage. Nach allem, was ich Dich gelehrt habe, auch noch drei Dankgebete jeden Sonntag nach dem Essen! Dick verleitet Dich immer zu Unfug. Wenn Du kein Gentleman bist, Dick, so könntest Du doch wenigstens –«

Der Ausspruch endete plötzlich. Maisie erinnerte sich, wann er zum letztenmale angewendet wurde.

»– versuchen, Dich wie ein solcher zu benehmen,« fiel Dick rasch ein. »Ganz recht. Jetzt wollen wir einen kleinen Lunch zu uns nehmen, und dann nach Fort Keeling gehen – wenn Sie nicht lieber dahin fahren wollen?«

»Wir müssen zu Fuß gehen, schon aus Respekt für den Ort. Wie wenig hat alles sich hier geändert!«

Sie wanderten durch unveränderte Straßen nach der See zu, unter dem Einflusse aller dieser alten Gegenstände. Sie gingen bei dem Laden eines Konfektionsgeschäftes vorbei, das in jenen Tagen, als ihr vereinigtes Taschengeld wöchentlich einen Schilling betrug, hoch in ihrer Achtung stand.

»Dick, haben Sie einige Pfennige?« fragte Maisie, halb zu sich selbst.

»Nur drei, und wenn Sie glauben, Sie bekommen zwei davon, um sich Pfefferminzkuchen zu kaufen, so irren Sie sich. Sie sagt, Pfefferminzkuchen schicken sich nicht für Damen.«

Sie lachten wieder und Maisies Wangen färbten sich, während in Dicks Herzen das Blut kochte. Nach einem reichlichen Lunch gingen sie nach dem Strande und Fort Keeling hinunter über eine weite, vom Winde gepeitschte Landstrecke, die kein Baumeister für wert gehalten hatte zur Bebauung. Die Winterbrise kam von der See her und summte in ihren Ohren.

»Maisie,« sagte Dick. »Ihre Nase bekommt an der Spitze einen Anstrich von Preußisch-blau. Ich will mit Ihnen um die Wette laufen, soweit Sie wollen und um was es Ihnen beliebt.«

Sie blickte sich vorsichtig um und fing dann lachend an zu laufen, so rasch als der Ulster es gestattete, bis sie außer Atem war.

»Wir liefen gewöhnlich meilenweit,« keuchte sie. »Es ist dumm, daß wir jetzt nicht laufen können.«

»Das Alter, Teuerste. Das kommt davon, wenn man fett und weichlich in der Stadt wird. Wenn ich Sie an den Haaren reißen wollte, liefen Sie gewöhnlich drei Meilen weit, dabei so laut kreischend, wie Sie konnten. Ich möchte wohl wissen, ob Sie so kreischten, um Mrs. Fennet mit einem Rohrstocke herbeizurufen, damit sie –«

»Dick, ich habe Ihnen nie in meinem Leben absichtlich Prügel zugezogen.«

»Nein, natürlich thaten Sie das nicht. Lieber Himmel! Blicken Sie auf die See.«

»Weshalb, sie ist noch ebenso wie sonst!« sagte Maisie. –

Torpenhow hatte von Mr. Beeton herausgebracht, daß Dick, sauber angekleidet und rasirt, das Haus um halb acht Uhr morgens, mit einer Reisedecke über dem Arm, verlassen hatte. Nilghai rollte gegen Mittag ins Zimmer, um Schach zu spielen und sich über Politik zu unterhalten.

»Es ist schlimmer, als ich mir vorgestellt,« sagte Torpenhow.

»O, der ewige Dick, wie ich voraussetze! Sie kakeln über ihn, wie eine Henne mit einem einzigen Küken. Lassen Sie ihn doch dumme Streiche machen, wenn er meint, daß es ihn amüsiren wird. Sie können wohl einen jungen Hund durchpeitschen, aber nicht einen jungen Mann.«

»Es ist nicht eine Frau; es ist ein Mädchen.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Er stand auf und ging um acht Uhr morgens aus – stand mitten in der Nacht auf, beim Himmel! etwas, das er niemals thut, ausgenommen, wenn er im Dienst ist. Und auch dann mußten wir ihn aus seinen Decken herausklopfen, ehe das Gefecht bei El-Maghrib anfing, wie Sie sich erinnern werden. Es ist ekelhaft.« »Es sieht eigentümlich aus; aber vielleicht hat er sich entschlossen, endlich ein Pferd zu kaufen. Er kann ja auch deshalb so früh fortgegangen sein, nicht wahr?«

»So einen feurigen Satan kaufen! Er würde es uns gesagt haben, wenn ein Pferd im Spiele wäre. Es ist ein Mädchen.«

»Seien Sie dessen nicht so gewiß. Vielleicht ist es nur eine verheiratete Frau.«

»Dick hat etwas Sinn für Humor, wenn Sie auch keinen haben. Wer steht denn in der Dämmerung auf, um eines andern Mannes Weib zu besuchen? Es ist ein Mädchen.«

»Dann lassen Sie es doch ein Mädchen sein. Sie kann ihn lehren, daß es auch noch etwas anderes auf der Welt gibt außer ihm selbst.«

»Sie wird seine Hand verderben, seine Zeit verschwenden, ihn heiraten und für immer seine Arbeit ruiniren. Er wird ein respektabler, verheirateter Mann sein, bevor wir es verhindern können, und nie wieder am langen Tau gehen.«

»Alles ganz gut möglich, aber die Erde wird sich nicht anders drehen, wenn es geschieht… ha! ha! Ich gäbe etwas darum, Dick zu sehen, mit den Jungens auf die Freite gehend. Quälen Sie sich deswegen nicht. Diese Dinge stehen bei Allah, wir können dieselben nur beobachten. Holen Sie die Schachfiguren.«–

Das rothaarige Mädchen lag in seinem Zimmer und starrte auf die Decke desselben; seine Hände öffneten und schlossen sich von Zeit zu Zeit fast krampfhaft.

Die Taglöhnerin, die den Fußboden des Ateliers scheuern sollte, klopfte an ihre Thür: »Bitte um Verzeihung, Miß,« sagte sie, »zum Reinigen des Fußbodens gebraucht man zwei, wohl auch drei Sorten von Seife, eine gelbe, eine mit bunten Flecken und eine desinfizirende. Nun, gerade bevor ich meinen Eimer in den Flur stellte, dachte ich, es wäre vielleicht gut, wenn ich heraufkäme, um Sie zu fragen, welche Sorte von Seife Sie wünschten, um die Tische und Bretter abzuscheuern. Die gelbe Seife, Miß –«

In dieser Frage lag durchaus nichts, was den Wutausbruch hätte verursachen können, der das rothaarige Mädchen mitten ins Zimmer trieb und dasselbe veranlaßte fast zu schreien: »Glauben Sie etwa, daß ich mich darum kümmere, was Sie gebrauchen? Eine Sorte wird es wohl thun! – irgend eine Sorte!«

Die Frau eilte davon, während das rothaarige Mädchen einen Augenblick auf sein eignes Bild im Spiegel sah und dann sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte. Es war, als ob es ein verschämtes Geheimnis laut hinaus geschrieen hätte.

Siebentes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Das Meer hatte sich in der That nicht verändert. Das Wasser stand niedrig auf den Schlammbänken und die Glocken-Boje von Marazion klang und schwang sich in der Strömung der Ebbe. Auf dem weißen Sande am Strande zitterten und nickten sich vertrocknete Stiele von Seemohn einander zu.

»Ich sehe nicht den alten Wellenbrecher,« sagte Maisie. »Lassen Sie uns dankbar für das viele sein, was wir noch haben. Ich glaube nicht, daß man ein einziges neues Geschütz im Fort aufgestellt hat, seitdem wir hier waren. Kommen Sie, wir wollen nachsehen.«

Sie gelangten auf das Glacis von Fort Keeling und setzten sich in einem vor dem Winde geschützten Winkel unter der geleerten Mündung einer vierzigpfundigen Kanone.

»Wenn jetzt doch Amomma hier wäre!« rief Maisie aus.

Beide schwiegen längere Zeit; dann nahm Dick Maisies Hand und sprach ihren Namen aus.

Sie schüttelte den Kopf und blickte auf die See hinaus.

»Maisie, mein Liebling, macht es gar keinen Unterschied?«

»Nein!« erwiderte sie die Zähne zusammenbeißend. »Ich – ich würde es Ihnen sagen, wenn es der Fall wäre, aber das ist es nicht. O, Dick, ich bitte Sie, seien Sie vernünftig.«

»Glauben Sie nicht, daß es jemals geschehen wird?«

»Nein, ich bin fest überzeugt davon.«

»Weshalb?«

Maisie ließ ihr Kinn auf der Hand ruhen und sprach rasch, ihre Augen auf die See gerichtet:

»Ich weiß ganz genau, was Sie wünschen, aber ich kann es Ihnen nicht geben, Dick. Es ist nicht meine Schuld, wirklich nicht. Wenn ich fühlte, daß ich irgend jemand lieb haben konnte – aber das ist nicht der Fall. Ich verstehe einfach nicht, was ein solches Gefühl bedeutet.«

»Ist das wahr, Teuerste?«

»Sie sind so gut gegen mich gewesen, Dickie, und die einzige Möglichkeit, wie ich Ihnen dafür danken kann, ist, daß ich die Wahrheit spreche. Ich würde es nicht wagen, eine Lüge auszusprechen. Ich verachte mich selbst schon genug, daß es so ist.«

»Weswegen nur, um aller Welt willen?«

»Weil – weil ich alles von Ihnen annehme, was Sie mir geben, ohne Ihnen das geringste zurückzugeben. Es ist niedrig und selbstsüchtig von mir und quält mich, wenn ich daran denke.«

»Merken Sie sich ein für allemal, daß ich meine eigenen Angelegenheiten leiten kann, und wenn es mir gefällt, irgend etwas zu thun, so sind Sie deswegen nicht zu tadeln. Sie haben sich nicht das mindeste vorzuwerfen, Liebling.«

»Ja, ich habe es wohl; schon das Reden darüber macht es schlimmer.«

»Dann sprechen Sie doch nicht davon.«

»Wie kann ich es denn ändern? Sowie Sie mich eine Minute allein antreffen, sprechen Sie immer darüber, und ist das nicht der Fall, so liegt es in Ihren Mienen. Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich zuweilen verachte.«

»Großer Gott!« rief Dick aus, fast aufspringend. »Reden Sie jetzt die Wahrheit, Maisie, sollten Sie dieselbe auch nie wieder reden! Belästige ich Sie oder diese Quälerei?«

»Nein, durchaus nicht.«

»Wollen Sie mir es sagen, wenn es der Fall ist?«

»Ich glaube, daß ich es Sie wissen lassen würde.«

»Ich danke Ihnen. Die andere Sache ist verhängnisvoll. Aber Sie müssen lernen, einem Manne zu verzeihen, wenn er liebt; er ist dann stets lästig. Sie müssen das kennen gelernt haben?«

Maisie hielt diese letzte Frage nicht einer Antwort wert, so daß Dick genötigt war, dieselbe zu wiederholen.

»Natürlich gab es noch andere Männer. Sie plagten mich immer gerade dann, wenn ich mitten in meiner Arbeit war und zwangen mich, ihnen zuzuhören.«

»Hörten Sie zu?«

»Anfänglich wohl, doch sie konnten nicht begreifen, weshalb ich mich gar nicht um sie kümmerte. Gewöhnlich lobten sie meine Bilder, und ich glaubte, sie meinten es aufrichtig, so daß ich stolz auf ihr Lob wurde und es Kami erzählte, doch dieser – ich vergesse das niemals – lachte mich einmal aus.«

»Es gefällt Ihnen nicht besonders, ausgelacht zu werden, Maisie, nicht wahr?«

»Ich hasse es. Ich habe nie über andere Leute gelacht, außer – außer wenn sie schlechte Arbeit gemacht. Dick, sagen Sie mir ehrlich, was halten Sie von meinen Bildern im allgemeinen, von allen, die Sie gesehen haben?«

»Rechtschaffen, rechtschaffen, ganz rechtschaffen!« erwiderte Dick mit einem Stichworte aus früherer Zeit.

»Erzählen Sie mir, was Kami gesagt.«

Maisie zögerte. »Er – er sagte, es läge Gefühl in ihnen.«

»Wie können Sie mir nur eine solche Lüge erzählen? Denken Sie daran, daß ich zwei Jahre bei Kami gelernt habe. Ich weiß ganz genau, was er sagte.«

»Es ist keine Lüge.«

»Es ist noch schlimmer, es ist die halbe Wahrheit. Kami sagte, den Kopf auf eine Seite legend, – so – › Il y a du sentiment, mais n’y apas de parti pris.‹« Dabei schnarrte Dick das »r« so drohend heraus, wie Kami es zu thun pflegte.

»Ja, das hat er gesagt; ich fange an zu glauben, daß er recht hat.«

»Gewiß hat er das.« Dick fügte hinzu, daß zwei Leute auf der Welt weder unrecht handeln noch sprechen könnten. Kami sei der eine Mann.

»Und Sie sagen jetzt dasselbe. Es ist so entmutigend.«

»Es thut mir leid, aber Sie baten mich, die Wahrheit zu sagen. Außerdem liebe ich Sie viel zu sehr, um mir ein Urteil über Ihre Arbeit anzumaßen. Dieselbe ist tüchtig, mitunter fleißig – nicht immer, – zuweilen liegt auch Talent darin, doch kann man keinen besondern Grund herausfinden, weshalb sie überhaupt ausgeführt worden ist. Wenigstens ist es das, was ich dabei empfunden habe.«

»Es gibt für nichts einen besondern Grund, weshalb es je gemacht worden ist. Sie wissen das eben so gut wie ich. Ich brauche allein Erfolg.«

»Dann haben Sie den falschen Weg eingeschlagen, ihn zu erlangen. Hat Kami Ihnen das nie gesagt?«

»Reden Sie nicht von Kami zu mir; ich will wissen, was Sie denken. Meine Arbeit taugt nichts, um damit zu beginnen.«

»Das habe ich nicht gesagt, und denke es auch nicht.«

»Nun, dann ist es Dilettantenarbeit.«

»Das ist sie ganz bestimmt nicht. Sie sind ein fleißiges Mädchen, Liebling, durch und durch, und ich achte Sie deswegen sehr hoch.«

»Sie lachen nicht über mich hinter meinem Rücken?«

»Nein, meine Teure; Sie sehen, daß Sie mir mehr sind, als irgend sonst jemand. Nehmen Sie diesen Mantel um, oder Sie werden sich erkälten.«

Maisie hüllte sich in den sanften Marderpelz, das graue Känguruhfell nach außen wendend.

»Das ist köstlich,« sagte sie, ihr Kinn gedankenvoll an dem Pelzwerk reibend. »Nun? weshalb habe ich unrecht, wenn ich versuche, ein wenig Erfolg zu erreichen?«

»Gerade, weil Sie es versuchen. Verstehen Sie mich nicht, Liebling? Gute Arbeit hat nichts damit zu schaffen, – gehört nicht zu der Person, die sie ausführt. Das muß von außen kommen.«

»Aber wie wirkt das –«

»Warten Sie eine Minute. Alles, was wir thun können, ist, zu lernen, wie wir unser Werk ausführen müssen, die Meister unserer Stoffe zu sein, nicht die Diener, und uns nie vor etwas fürchten.«

»Das verstehe ich.«

»Alles übrige kommt von außen her. Wenn wir uns ruhig hinsetzen, um die Eindrücke auszuarbeiten, die wir empfangen, so können wir kaum etwas thun, was schlecht ist. Sehr viel hängt davon ab, die Steine und den Mörtel des Handwerks als Meister zu handhaben. Aber sowie wir dabei an den Erfolg und die Wirkung unsres Werkes zu denken beginnen – mit einem Auge nach der Galerie zu liebäugeln – verlieren wir Fähigkeit, Strich und alles übrige. Wenigstens habe ich es so gefunden. Anstatt ruhig zu sein und alles Talent, das man besitzt, auf die Arbeit zu verwenden, regt man sich über etwas auf, das man keinen Augenblick fördern noch verhindern kann. Sehen Sie das ein?«

»Für Sie ist es so leicht, in dieser Weise zu sprechen. Dem Publikum gefällt, was Sie malen. Denken Sie dabei niemals an die Galerie?«

»Viel zu oft, aber ich bin stets dafür durch den Verlust an Fähigkeit bestraft worden. Es ist das so einfach, wie die Regeldetri. Wenn wir unsere Arbeit zu leicht nehmen, indem wir dieselbe zu unseren Zwecken benützen, so wird unser Werk es auch leicht mit uns nehmen, und da wir die schwächeren sind, werden wir darunter zu leiden haben.«

»Ich habe meine Arbeit nie leichtsinnig aufgefaßt; Sie wissen, daß dieselbe alles für mich ist.«

»Natürlich; aber, ob Sie sich nun dessen bewußt sind oder nicht, Sie machen zwei Pinselstriche für sich selbst gegen einen für Ihr Werk. Es ist nicht Ihre Schuld, Liebling; ich thue genau dasselbe und weiß, daß ich es thue. Die meisten französischen Schulen, und sämtliche Schulen hier, halten die Schüler dazu an, um ihres eignen Kredits und ihres eigenen Stolzes willen zu arbeiten. Man sagte mir, alle Welt interessire sich für meine Arbeiten und lobte mich bei Kami, so daß ich ganz aufrichtig glaubte, die Welt bedürfe der Erhebung und der Beeinflussung, sowie aller Arten Unverschämtheiten durch meine Pinsel. Beim Himmel, ich glaubte das wirklich! Wenn mir mein schwacher Kopf zerbarst bei der Erkenntnis, daß ich nichts ausführen könne, weil es mir an hinreichender Kenntnis meines Handwerks fehlte, lief ich gewöhnlich umher, mich über meine eigene Herrlichkeit verwundernd und über meine Bereitwilligkeit, die Welt in Erstaunen zu versetzen.«

»Aber sicherlich kann man das zuweilen thun?«

»Sehr selten mit Ueberlegung, mein Liebling. Und wenn es geschieht, so ist es so ein winziges Ding, während die Welt so groß ist und doch nur ein millionster Teil derselben sich darum kümmert. Maisie, kommen Sie mit mir, ich will Ihnen etwas von der Größe der Welt zeigen. Man kann das Arbeiten ebenso wenig entbehren als das Essen, – das geht ganz von selbst, – aber man kann versuchen, einzusehen, für was man arbeitet. Ich kenne solche kleine himmlischen Plätze, wohin ich Sie mitnehmen könnte, – unter der Linie verstreute Eilande. Man erblickt sie, nachdem man sich wochenlang durch das Wasser gearbeitet hat, das so schwarz wie schwarzer Marmor ist, weil es eine solche Tiefe hat, während man vorn im Bug sitzt und die Sonne aufgehen sieht, die fast erschrocken ist über diese einsamen Meere.«

»Wer ist erschrocken? Sie, oder die Sonne?«

»Die Sonne, natürlich. Es gibt dort Geräusche unter dem Wasser und Töne oben in der Luft. Dann findet man die Insel belebt von feuchtheißen Orchideen, die gegen einen den Mund aufsperren und alles thun können, nur nicht sprechen. Da gibt es einen dreihundert Fuß hohen Wasserfall, gerade wie ein Vorhang aus grüner Seide mit Silber besetzt, während Millionen von Bienen oben in den Felsen leben; man hört, wie die fetten Kokosnüsse von den Palmen fallen, und befiehlt einem elfenbeinweißen Diener, eine lange gelbe Hängematte mit Quasten, wie reifer Mais, aufzuhängen, man streckt die Füße aus, hört die Bienen summen und das Wasser fallen, bis man einschläft.«

»Kann man dort arbeiten?«

»Gewiß. Man muß stets irgend etwas thun. Man hängt seine Leinwand an einem Palmenbaume auf und läßt die Papageien kritisiren. Wenn sie sich balgen, wirft man einen reifen Eiercrêmeapfel nach ihnen, der in einen Schaum von Crême zerplatzt. Es gibt dort Hunderte solcher Plätze. Kommen Sie mit und sehen Sie sich dieselben an.«

»Mir gefällt jener Platz durchaus nicht. Es klingt so träge. Erzählen Sie mir nun einem andern.«

»Wie denken Sie über eine große, rote, tote Stadt, ganz aus rotem Sandstein erbaut, zwischen dem rauhe grüne Aloë wachsen, verlassen auf honigfarbigem Sande liegend? Dort befinden sich vierzig tote Könige, Maisie, ein jeder in einem prächtigen Grabmale, eins immer schöner als das andere. Man blickt auf Paläste, Straßen, Läden und Zisternen, und denkt, daß Menschen dort leben müßten, bis man ein winziges graues Eichhörnchen sieht, das ganz allein seine Nase auf dem Marktplatze reibt, während ein wie Juwelen schimmernder Pfau aus einem geschnitzten Thorweg stolzirt und seinen Schwanz gegen ein marmornes Sieb ausbreitet, das so fein wie Spitzen durchbrochen ist. Dann wandert ein Affe, – ein kleiner schwarzer Affe – über den Hauptplatz, um aus einer vierzig Fuß tiefen Zisterne zu trinken; er gleitet an den Schlingpflanzen bis zum Wasserspiegel hinunter, während ein Freund ihn am Schwanze festhält, im Falle er hineinstürzen sollte.«

»Ist das alles wahr?«

»Ich bin dort gewesen und habe es gesehen. Der Abend kommt, das Licht wechselt, bis es gerade so ist, als ob man mitten in einem großen Opal stände. Etwas vor Sonnenuntergang, so pünktlich wie ein Uhrwerk, trabt ein großer, borstiger wilder Eber, gefolgt von seiner Familie, durch das Thor der Stadt, den Schaum von seinen Hauern schüttelnd. Man klettert auf die Schulter eines blinden Gottes aus schwarzem Stein und beobachtet, wie das Schwein sich einen Palast für die Nacht aussucht und, mit dem Schwanz wackelnd, hineintappt. Darauf erhebt sich der Nachtwind, der Sand bewegt sich und man hört die Wüste außerhalb der Stadt ertönen: ›Jetzt lege ich mich zum Schlafen nieder,‹ und alles ist finster, bis der Mond aufgeht. Teure Maisie, kommen Sie mit mir und sehen Sie, wie die Welt wirklich ist. Sie ist sehr lieblich und ist auch ebenso schrecklich – aber ich würde Sie nichts Schreckliches sehen lassen, – und weder Ihr noch mein Leben würde sich um Bilder oder sonst etwas kümmern, ausgenommen um unsere eigne Arbeit und unsere Liebe. Kommen Sie, ich werde Ihnen zeigen, wie man Sangaree braut und eine Hängematte aufschlingt, und – o, tausend andere Dinge; Sie werden dann selbst sehen, was Farben bedeuten, und wir werden zusammen erfahren, was Liebe bedeutet, dann wird es uns vielleicht vergönnt sein, gute Arbeiten zu machen. Kommen Sie mit!«

»Weshalb?« fragte Maisie.

»Wie können Sie etwas leisten, bevor Sie nicht alles gesehen haben, oder doch so viel als Ihnen möglich ist. Außerdem, mein Liebling, liebe ich Sie. Kommen Sie fort mit mir. Sie haben hier nichts zu schaffen, Sie gehöre» hier nicht her; Sie sind eine halbe Zigeunerin, – Ihr Gesicht sagt das; und ich – schon der Geruch des offenen, weiten Wassers macht mich ruhelos. Kommen Sie mit über das Meer und werden Sie glücklich!«

Er hatte sich erhoben und stand im Schatten der Kanone, während er auf das Mädchen herabsah. Der kurze Winternachmittag war verstrichen und der Wintermond wanderte über die ruhige See, bevor sie es wußten. Lange, regelmäßige Linien von Silber zeigten, wo ein Kräuseln der wachsenden Flut über die Schlammbänke lief. Der Wind hatte sich gelegt, in der vollständigen Stille konnten sie hören, wie ein Esel das gefrorene Gras, viele Ellen entfernt, abrupfte. Ein schwacher Schlag, wie der einer gedämpften Trommel, ertönte aus dem vom Monde beschienenen Nebel.

»Was ist das?« fragte Maisie rasch. »Es klingt wie Herzklopfen. Wo ist es?«

Dick war so zornig über diese plötzliche Unterbrechung seines Vortrags, daß er sich nicht getraute gleich zu sprechen, und hörte während dieses Schweigens ebenfalls den Ton. Maisie beobachtete ihn, von ihrem Sitze unter der Kanone aus, mit einer gewissen Furcht. Sie wünschte so sehr, daß er vernünftig sein und aufhören möchte, sie mit überseeischen Dingen zu quälen, die sie verstehen und auch wieder nicht verstehen konnte. Sie war indes auf den Wechsel in seinem Gesichte nicht vorbereitet, als er lauschte.

»Es ist ein Dampfer,« sagte er, »ein Zwillingsschraubendampfer, nach dem Schlage zu urteilen. Ich kann ihn nicht entdecken, doch muß er sehr nahe bei der Küste sich befinden. Ah!« rief er aus, als der rote Schein einer Rakete durch den Nebel zog, »er hält näher ans Land, um zu signalisiren, bevor er in den Kanal fährt.«

»Ist es ein Wrack?« fragte Maisie, für die diese Worte wie griechisch waren.

Dicks Augen waren auf die See gerichtet. »Ein Wrack! Was für ein Unsinn! Er meldet sich nur an. Eine rote Rakete vorwärts – jetzt ist ein grünes Licht hinten und zwei rote Raketen von der Kommandobrücke.«

»Was bedeutet das?«

»Es ist das Signal der Croß-Keys-Linie, die nach Australien fährt. Ich bin neugierig, welcher Dampfer es ist.«

Der Klang seiner Stimme war verändert; er schien mit sich selbst zu sprechen, was Maisie nicht besonders gefiel. Das Mondlicht brach einen Augenblick durch den Nebel, die schwarzen Seiten eines langen Dampfers streifend, der sich den Kanal hinunter arbeitete.

»Vier Masten und drei Schornsteine, – er hat viel Tiefgang; das muß der ›Barralong‹ oder der ›Bhutia‹ sein. Nein, der Bhutia hat einen Klipperbug, es ist der Barralong nach Australien. In einer Woche wird er das Kreuz des Südens über sich haben – glücklicher alter Kasten! – o, du glücklicher alter Kasten!«

Er starrte gespannt auf den Dampfer und ging die Böschung des Forts hinauf, um einen besseren Ausblick zu haben, doch verdichtete sich der Nebel auf der See wieder, wahrend der Schlag der Schraube schwächer wurde. Maisie rief ihm ärgerlich etwas zu, worauf er sich umwandte, die Augen noch immer seewärts gerichtet. »Haben Sie jemals das Kreuz des Südens über Ihrem Kopfe aufflammen sehen?« fragte er. »Es ist herrlich!«

»Nein!« erwiderte sie kurz, »und ich verlange auch gar nicht darnach. Wenn Sie dasselbe für so entzückend halten, weshalb gehen Sie denn nicht hin und betrachten es selbst?«

Sie lichtete ihr Gesicht aus der sanften Schwärze des Marderpelzes um ihren Hals empor, während ihre Augen wie Diamanten leuchteten. Das Mondlicht fiel auf den grauen Känguruhpelz und verwandelte denselben in gefrorenes Silber.

»Beim Himmel, Maisie, Sie sehen wie ein kleines heidnisches, hieher verschlagenes Idol aus.« Ihre Augen zeigten, daß ihr dieses Kompliment nicht besonders gefiel. »Es thut mir leid,« fuhr er fort. »Es ist nicht der Mühe wert, das Kreuz des Südens zu betrachten, wenn man niemand hat, der einem dabei hilft. Jener Dampfer ist außer Hörweite gekommen.«

»Dick,« sagte sie ruhig, »nehmen Sie an, ich wäre jetzt zu Ihnen gekommen – seien Sie eine Minute still – gerade wie ich bin, und hätte Sie lieb, gerade so viel, wie es wirklich der Fall ist.«

»Doch nicht etwa wie einen Bruder? Sie sagten damals im Park, das thäten Sie nicht.«

»Ich hatte niemals einen Bruder. Nehmen Sie an, ich sagte: Führen Sie mich zu jenen Plätzen und mit der Zeit könnte ich Sie vielleicht wirklich lieben, was würden Sie dann thun?«

»Sie in einem Kabriolet direkt dorthin schicken, woher Sie gekommen sind. Nein, das würde ich nicht thun, sondern Sie zu Fuß gehen lassen. Aber Sie würden es nicht thun können, Teure, und ich möchte nicht das Wagnis auf mich nehmen. Sie sind es wert, daß man wartet, bis Sie ohne Vorbehalt kommen können.«

»Glauben Sie das aufrichtig?«

»Ich habe eine unbestimmte Idee, daß ich es glaube. Ist es Ihnen nie in diesem Lichte erschienen?«

»O – ja. Ich komme mir deswegen so schlecht vor.«

»Schlechter als gewöhnlich?«

»Sie wissen gar nicht, was ich alles denke; es ist fast zu abscheulich, um es sagen zu können.«

»Denken Sie nicht daran. Sie versprachen mir ja, die Wahrheit zu sagen.« »Es ist so sehr undankbar von mir, aber – aber, obschon ich weiß, wie gern Sie mich haben und ich Sie sehr gern um mich habe, so – so würde ich Sie dennoch aufopfern, wenn ich dadurch erreichte, wonach ich verlange.«

»Mein armer kleiner Liebling! Ich kenne diesen Gemütszustand; derselbe führt zu keiner guten Arbeit.«

»Sie sind nicht böse? Bedenken Sie, daß ich mich selbst verabscheue.«

»Ich fühle mich nicht gerade besonders geschmeichelt – ich hatte wohl etwas mehr erwartet, – aber ich bin nicht böse. Ihretwegen thut es mir leid. Sie hätten vor Jahren eine solche Kleinlichkeit von sich abwerfen sollen.«

»Sie haben kein Recht, mich zu beschützen! Ich brauche nur das, wofür ich seit so langer Zeit gearbeitet habe. Sie erlangten es ohne viel Mühe, und – und ich glaube nicht, daß das ehrlich ist.«

»Was kann ich dabei thun? Ich würde zehn Jahre meines Lebens dafür hingeben, könnte ich Ihnen verschaffen, was Sie gebrauchen; aber ich kann Ihnen nicht helfen, durchaus nicht.«

Maisie murmelte einige widersprechende Worte.

Er fuhr fort: »Nach dem, was Sie mir soeben gesagt, weiß ich, daß Sie auf dem falschen Wege zum Erfolge sich befinden. Man erlangt denselben nicht, indem man andere Leute aufopfert – ich habe das häufig in mir unterdrückt; Sie müssen sich selbst aufopfern und unter strenger Aufsicht leben, niemals an sich selbst denken und nie wirkliche Befriedigung über Ihre Arbeit fühlen, ausgenommen im Augenblicke des Beginnens, nachdem Sie einen Gedanken erfaßt haben.«

»Wie können Sie alles das glauben?«

»Es ist gar nicht die Rede von glauben oder nicht glauben. Das ist das Gesetz und Sie müssen entweder dasselbe befolgen oder es von der Hand weisen, wie es Ihnen beliebt. Ich versuche, ihm zu gehorchen, aber ich kann es nicht, und dann wird unter den Händen meine Arbeit schlecht. Ich weiß, daß unter solchen Umständen vier Fünftel der Arbeiten eines jeden schlecht ausfallen müssen. Aber der Rest ist der Mühe wert, die man darauf verwendet hat.«

»Ist es denn nicht hübsch, auch für schlechte Arbeit Ruf zu erlangen?«

»Es ist viel zu hübsch. Aber – Darf ich Ihnen etwas erzählen? Es ist keine hübsche Erzählung, aber Sie sind in vieler Beziehung wie ein Mann, daß ich mich ganz vergesse, wenn ich mit Ihnen spreche.«

»Erzählen Sie.«

»Einst, als ich draußen im Sudan war, kam ich an eine Stelle, wo wir vor drei Tagen ein Gefecht gehabt; es lagen zwölfhundert Tote dort, da wir keine Zeit gehabt, sie zu begraben.«

»Wie gräßlich!«

»Ich war mit einer großen Skizze beschäftigt und neugierig, was die Leute zu Hause von derselben halten wurden. Der Anblick dieses Schlachtfeldes lehrte mich sehr viel; dasselbe glich genau einem Beete von schrecklichen Giftpilzen in allen Farben, und niemals hatte ich Menschen in solchen Massen zu ihrem Ursprunge zurückkehren gesehen. Da begriff ich, daß Männer und Weiber nur Material sind, mit welchem man arbeiten muß und alles, was dieselben sagten oder thaten, ohne jeden Belang sei, Sehen Sie das ein? Um mich genauer auszudrücken, so können Sie ebenso gut Ihr Ohr auf die Palette herniederbeugen, um zu hören, was Ihre Farben Ihnen sagen.«

»Dick, das ist abscheulich!«

»Warten Sie eine Minute. Ich sagte, um mich genauer auszudrücken: Unglücklicherweise muß ein jeder entweder ein Mann oder eine Frau sein.«

»Ich bin froh, daß Sie das wenigstens zugeben.«

»In Ihrem Falle thue ich es nicht. Sie sind keine Frau. Aber gewöhnliche Leute, Maisie, müssen sich als solche benehmen und arbeiten. Das macht mich eben so wild.«

Er schlenderte einen Kiesel ins Wasser, als er gesprochen.

»Ich weiß, daß es nicht meine Sache ist, mich um das zu kümmern, was die Leute sagen; ich kann einsehen, daß es meine Leistungen, meine Eigentümlichkeit verdirbt, wenn ich auf sie höre, und dennoch, – hol der Henker sie alle –,« ein zweiter Kiesel flog seewärts, »ich muß weiter, wenn ich auf den richtigen Weg gedrängt werde. Gerade wenn ich auf der Stirn eines Mannes sehen kann, daß er seine Lügen durch eine Menge schöner Redensarten verbirgt, so machen mich diese Lügen dennoch glücklich und spielen mir das Unheil in die Hand.«

»Und wenn der Mann keine schönen Redensarten macht?«

»Dann, meine Geliebte –« sagte Dick lächelnd, »vergesse ich, daß ich der Verwalter dieser Talente bin, und ich fühle das Verlangen, dem Manne die Liebe und Anerkennung für meine Arbeit mit einem dicken Stocke beizubringen. Es ist überhaupt zu demütigend; aber ich glaube, wenn jemand ein Engel wäre und malte menschliche Wesen ganz nach dem äußeren Eindrucke, so würde man im Strich verlieren, was man im Auffassen gewinnt.«

Maisie lachte bei der Idee, sich Dick als einen Engel vorzustellen.

»Sie scheinen demnach zu glauben,« sagte sie, »daß alles Angenehme, Hübsche Ihre Hand verdirbt.«

»O nein. Es ist die Regel, das Gesetz – gerade ebenso wie es bei Mrs. Jennet der Fall war. Alles, was niedlich ist, verdirbt Ihre Hand. Es freut mich, daß Sie das so klar sehen.«

»Ich liebe diese Ansicht nicht.«

»Auch ich nicht. Wenn man aber seine Aufträge erhalten hat, was kann man dann thun? Sind Sie stark genug, allein stand zu halten?«

»Ich denke, ich muß.«

»Lassen Sie mich Ihnen helfen, mein Liebling. Wir können einer den andern stützen und versuchen, geradeaus zu gehen. Wir werden schrecklich stolpern, aber es wird immer besser sein, als wenn jeder für sich allein strauchelt. Maisie, können Sie das Vernünftige davon nicht einsehen?«

»Ich glaube nicht, daß wir mit einander vorwärts gehen können. Wir würden zwei von demselben Geschäfte sein und niemals übereinstimmen.«

»Wie gern möchte ich den Mann antreffen, der dieses Sprichwort gemacht hat! Er lebte gewiß in einer Höhle und aß rohe Beeren. Ich würde ihn an den Spitzen seiner eignen Pfeile kauen lassen. Nun?«

»Ich würde mit Ihnen nur halb verheiratet sein. Ich würde mich wegen meiner Arbeiten quälen und plagen, gerade wie jetzt. Von sieben Tagen würde ich vier nicht dazu fähig sein.«

»Sie reden, als ob sonst kein Mensch auf der Welt gewöhnt sei, den Pinsel zu führen. Glauben Sie etwa, daß ich dieses Gefühl des Quälens und Aengstigens nicht kenne? Sie sind glücklich, wenn Sie dasselbe nur vier Tage von sieben haben. Was würde das für einen Unterschied machen?«

»Einen sehr großen, wenn Sie dieses Gefühl ebenfalls hätten.«

»Ja, aber ich würde es respektiren. Ein anderer thäte es vielleicht nicht; er würde Sie auslachen. Aber es hat ja gar keinen Zweck darüber zu sprechen; wenn Sie glauben, daß Sie in dieser Weise mich noch nicht lieben können.«

Die Flut hatte inzwischen die Schlammbänke beinahe vollständig bedeckt und zwanzig kleine Wellen brachen sich am Strande, bevor es Maisie beliebte zu sprechen. »Dick,« sagte sie langsam, »ich glaube wirklich, daß Sie viel besser sind als ich.«

»Das scheint sich nicht auf unsre Angelegenheit zu beziehen – aber was meinen Sie damit?«

»Ich weiß es nicht genau, doch jedenfalls besser in dem, was Sie über Arbeit und andere Dinge sagten; und dann sind Sie auch so geduldig. Ja, wirklich, Sie sind besser als ich.«

Dick vergegenwärtigte sich rasch das Traurige im Leben eines Mannes, der Schiffbruch mit seinen Hoffnungen gelitten, und erblickte nichts darin, was ihn mit einem Gefühle von Mut erfüllen konnte. Er hob den Saum des Mantels auf und führte ihn an seine Lippen.

»Wie können Sie Dinge sehen, die ich nicht sehen kann?« sagte Maisie, die so that, als ob sie nichts bemerkt hätte. »Ich glaube nicht, was Sie glauben; aber Sie haben recht, denke ich.«

»Wenn ich irgend etwas gesehen habe, so konnte ich es, weiß Gott, nur für Sie sehen, und es nur Ihnen allein sagen. Vor einer Minute schien Ihnen alles klar zu sein, doch ich handle nicht nach meinen Worten. Sie wollten mir helfen… Wir beide leben einsam in der Welt, und – und Sie möchten mich gern um sich haben?«

»Natürlich möchte ich das. Ich glaube kaum, daß Sie sich vorstellen können, wie schrecklich einsam ich bin.«

»Ich kann es wohl, mein Liebling.«

»Als ich vor zwei Jahren zuerst das kleine Haus bezog, wanderte ich gewöhnlich in dem Garten auf und nieder und versuchte zu weinen. Ich kann nie weinen. Können Sie es?«

»Es ist einige Zeit her, daß ich es versuchte. Was quälte Sie damals? Überanstrengung?«

»Ich weiß es nicht; aber ich träumte immer, daß ich zusammengebrochen wäre, kein Geld hätte und in London verhungern müsse. Ich mußte jeden Tag daran denken und fürchtete mich – o, wie sehr fürchtete ich mich!«

»Ich kenne diese Angst; es ist das schrecklichste von allem; zuweilen weckte sie mich in der Nacht auf. Sie brauchten indes dieselbe nicht kennen zu lernen.«

»Wie wissen Sie das?«

»Das ist einerlei! Sind Ihre dreihundert jährlich sicher?«

»Sie sind in Consols angelegt.«

»Sehr gut. Sollte jemand zu Ihnen kommen und Ihnen eine bessere Kapitalsanlage empfehlen – selbst wenn ich selbst es thäte – so hören Sie gar nicht darauf. Niemals legen Sie das Geld wo anders an und verborgen nie einen Pfennig davon, – selbst nicht dem rothaarigen Mädchen.«

»Zanken Sie nicht so mit mir! Ich bin nicht leicht so thöricht.«

»Die Erde ist voll von Männern, die ihre Seele für dreihundert Pfund jährlich verkaufen würden, während Weiber zu Ihnen kommen, schwatzen und hier eine Fünfpfundnote und dort eine Zehnpfundnote von Ihnen borgen; und eine Frau hat kein Gewissen für Geldschulden. Behalten Sie Ihr Geld für sich, Maisie, denn nichts ist schrecklicher auf der Welt, als arm zu sein in London. Es hat mich genug geängstigt. Beim Himmel, es jagte mir Furcht ein, und unsereins darf sich vor Nichts fürchten.«

Einem jeden Manne ist sein besonderer Schrecken bestimmt, ein Schrecken, der ihn bis zum Verlust seiner Mannhaftigkeit herunterdrückt, wenn er nicht gegen denselben ankämpft. Dicks Erfahrung rn Betreff des gemeinen Elendes aus Mangel war tief in sein Gemüt eingedrungen und, damit er nicht zu leicht übermütig werden möge, stand die Erinnerung daran hinter ihm, mit dem Versuche, ihn zu beschämen, wenn Käufer kamen, um seine Bilder zu erwerben. Wenn Nilghai wider seinen Willen zitterte beim Anblick des stillen grünen Wassers eines Sees oder eines Mühlteiches, wenn Torpenhow zurückbebte vor einem weißen Arme, der schlagen und stechen oder ihn für sein Zurückweichen strafen konnte, so fürchtete sich Dick vor der Armut, die er einmal halb aus Scherz gekostet hatte. Sein Schrecken war größer als der seiner Gefährtin.

Maisie beobachtete beim Mondschein sein bewegtes Gesicht. »Sie haben jetzt Geld genug,« sagte sie beruhigend.

»Ich werde nie genug bekommen,« begann er mit häßlichem Nachdruck. Dann fügte er lachend hinzu: »Ich werde immer um drei Pence in meiner Rechnung zu kurz kommen.«

»Weshalb um drei Pence?«

»Ich trug einmal den Reisesack eines Mannes von der Station Liverpool Street nach der Blackfriarsbrücke; es war ein Geschäft für einen Sixpence – Sie brauchen nicht zu lachen, es war wirklich so, und ich hatte das Geld verzweifelt nötig. Er gab mir nur drei Pence und war nicht einmal so anständig, dieselben in Silber zu bezahlen. So viel Geld ich auch verdienen mag, niemals werde ich jene drei Pence aus der Welt schaffen.«

Das war nicht die passende Sprache für einen Mann, der über die Heiligkeit der Arbeit gepredigt halte. Es verletzte Maisie, die es vorzog, ihre Bezahlung in Beifall zu erhalten, der die wahre Belohnung sein mußte, da alle Menschen ihn begehrten. Sie suchte ihre kleine Börse hervor und nahm ganz ernsthaft ein Dreipencestück heraus.

»Da ist es,« sagte sie. »Ich will Sie bezahlen, Dickie; quälen Sie sich nun nicht mehr deswegen, es ist nicht der Mühe wert. Sind Sie bezahlt?«

»Ich bin es,« erwiderte der menschliche Apostel der schönen Künste, das Geldstück annehmend. »Ich bin tausendfältig bezahlt und wir wollen jene Rechnung abschließen. Das Stück soll an meiner Uhrkette hängen; Sie sind ein Engel, Maisie.«

»Ich bin ganz steif und kalt geworden. Mein Mantel ist ganz weiß und Ihr Schnurrbart ebenfalls! Ich fühlte gar nicht, daß es so kalt sei.«

Ein leichter Frostreif hatte sich auf die Schultern von Dicks Ulster gelegt. Er hatte das Wetter ganz vergessen. Sie mußten beide lachen, und mit diesem Gelächter endigte jedes ernste Gespräch.

Sie liefen landeinwärts über die Ebene, um sich zu erwärmen, dann drehten sie sich um und blickten auf die Pracht der vollen Flut im Mondschein und die dichten schwarzen Schatten der Heckensträucher Es war eine neue Freude für Dick, daß Maisie gerade wie er die Farben sehen konnte, – das Blau in dem Weiß des Nebels, das Violet in den grauen Zaunpfählen und alles übrige, was sich dort befand – nicht von eurer einzigen Schattirung, sondern von tausend Farben. Der Mondschein erhellte Maisies Seele, so daß sie, die gewöhnlich so zurückhaltend war, über sich selbst und alles, was sie interessirte, plauderte, – von Kami, dem weisesten der Lehrer, und den Mädchen im Atelier, – von den Polen, die sich zu Tode arbeiten würden, wenn man sie nicht zurückhielte, von den Franzosen, die viel mehr schwatzten, als sie je ausführen würden, von den nachlässigen Engländern, die sich hoffnungslos abmühen und nicht begreifen können, daß Neigung nicht auch Talent mit sich bringt, von den Amerikanern, deren raspelnde Stimmen in der Stille eines heißen Nachmittags abgespannte Nerven zum Zerspringen bringen können und deren Nachtessen zu Indigestionen führt, von stürmischen Russen, die weder zu halten noch zu binden sind und den Mädchen Geistergeschichten erzählen, bis dieselben kreischen, von steifen Deutschen, die kommen, um eine einzige Sache zu lernen, und, sobald sie dieselbe bemeistert haben, ebenso steif wieder fortgehen und immerfort Gemälde kopiren. Dick hörte entzückt zu, weil es Maisie war, die erzählte. Er kannte dieses Leben von früher her.

»Es hat sich nicht viel geändert,« sagte er. »Stiehlt man noch immer Farben während der Frühstückszeit?«

»Nicht stehlen; ›anziehen‹ ist die Bezeichnung dafür. Natürlich thut man es. Ich bin brav – ich zog nur Ultramarin an mich; es sind aber Schüler dort, die Bleiweiß anziehen.«

»Ich habe es selbst gethan. Man kann es nicht ändern, wenn die Paletten aufgehangen sind. Jede Farbe ist Gemeingut, sobald sie herunterrinnt – obschon man sie auch häufig durch einen Tropfen Oel zum Rinnen bringt. Es lehrt die Leutchen ihre Farbenblasen nicht herumliegen zu lassen und verschwenderisch damit umzugehen.«

»Ich möchte gern einige von Ihren Farben, ›anziehen‹, Dick. Vielleicht erhielte ich mit denselben Ihre Erfolge.«

»Ich will kein böses Wort sagen, obschon ich es wohl möchte. Was in der Welt hat Erfolg oder Mangel an Erfolg zu bedeuten, verglichen mit – Nein, ich will diese Frage nicht mehr berühren. Es ist Zeit, nach der Stadt zurückzukehren.«

»Ich bin betrübt, Dick, aber –«

»Sie haben viel mehr Interesse dafür, als für mich.«

»Ich weiß es nicht, doch glaube ich es kaum.«

»Was geben Sie mir, wenn ich Ihnen ein sicheres Mittel für alles sage, dessen Sie bedürfen, – für die Störung, den Lärm, die Verwirrung und alles übrige? Wollen Sie versprechen mir zu gehorchen?«

»Natürlich.«

»Zuerst müssen Sie niemals eine Mahlzeit vergessen, weil Sie zufällig bei der Arbeit sind, Sie vergaßen in voriger Woche zweimal Ihr Frühstück,« sagte Dick aufs Geratewohl, denn er wußte, mit wem er es zu thun hatte.

»Nein, nein, – nur einmal, wirklich.«

»Das ist schon schlimm genug. Dann müssen Sie nicht eine Tasse Thee mit einem Zwieback anstatt eines regelrechten Mittagessens zu sich nehmen, weil Mittagessen zufällig eine Störung ist.«

»Sie machen sich über mich lustig.«

»Nie in meinem Leben war ich ernsthafter. O, meine Liebe, meine Liebe, ist es niemals in Ihnen aufgedämmert, was Sie mir sind? Hier ist die ganze Erde verschworen, Sie zu erstarren, oder über den Haufen zu rennen, oder Sie bis auf die Haut zu durchnässen, oder Sie um Ihr Geld zu betrügen, oder Sie sterben zu lassen an Ueberanstrengung und Mangel an Nahrung, während ich nicht das mindeste Recht habe, nach Ihnen zu sehen. Wie, ich weiß nicht einmal, ob Sie verständig genug sind, sich warm anzukleiden, wenn es kalt ist.«

»Dick, Sie sind der abscheulichste Mensch, mit dem man sprechen kann, – wirklich! Wie, glauben Sie denn, daß ich mich eingerichtet habe, als Sie fort waren?« »Ich war nicht hier, und ich wußte es nicht. Nun ich aber zurückgekehrt bin, würde ich alles, was ich habe, hingeben für das Recht, Ihnen befehlen zu können, Sie möchten herein kommen, wenn es draußen regnet.«

»Ihre Erfolge auch?«

Diesmal kostete es Dick ernstliche Ueberwindung, um einige böse Worte zu unterdrücken.

»Wie Mrs. Jennet zu sagen pflegte. Sie machen einem viele Sorgen, Maisie, Sie sind zu lange in den Schulen eingesperrt gewesen und denken, daß jedermann auf Sie blickt. Es gibt nicht zwölfhundert Personen in der ganzen Welt, die etwas von Bildern verstehen; die übrigen behaupten es, kümmern sich aber nicht darum. Bedenken Sie, ich habe zwölfhundert tote Männer auf einem Bette von Giftpilzen gesehen. Es ist nur die Stimme des allerkleinsten Teiles der Leute, die den Erfolg macht; die wirkliche Welt kümmert sich nicht einen Pfifferling darum. So viel ich weiß, hat jeder Mann auf der Welt seine eigene Maisie, um sich mit ihr herumzustreiten.

»Arme Maisie!

»Armer Dick, denke ich. Glauben Sie etwa, daß er Lust hat, ein Bild zu betrachten, während er für das kämpft, was ihm teurer ist als sein Leben? Und selbst wenn er es thäte und die ganze Welt es thäte und tausend Millionen Menschen erhöben sich und fangen Hymnen zu meiner Ehre und meinem Ruhme, würde das alles bei mir das Bewußtsein aufwiegen, daß Sie an einem Regentage ohne Schirm ausgingen, um in Edgware Road Einkäufe zu machen? Jetzt wollen wir nach der Station gehen.«

»Aber Sie sagten am Strande…« beharrte Maisie, nicht ganz ohne Furcht.

Dick stöhnte laut: »Ja, ich weiß, was ich sagte. Meine Arbeit ist für mich alles, was ich habe oder bin oder zu sein hoffe, und ich glaube, ich habe das Gesetz gelernt, das dieselbe regiert; aber es ist mir etwas Sinn für Scherz geblieben, – obschon Sie mir denselben so ziemlich ausgetrieben haben. Ich kann gerade sehen, daß es nicht Alles für die übrige Welt ist. Handeln Sie nach meinen Worten, nicht nach meinen Thaten.«

Maisie hütete sich, die fragliche Debatte wieder zu eröffnen, so daß sie ganz vergnügt nach London zurückkehrten. Die Endstation unterbrach Dick mitten in einer beredten Lobpreisung über die Schönheiten der Leibesbewegung. Er wollte Maisie ein Pferd kaufen – ein Pferd, wie noch niemals eines seinen Kopf nach dem Gebiß heruntergebeugt, – wollte dasselbe einstellen, mit noch einem zweiten zusammen, einige zwanzig Meilen von London entfernt, und Maisie sollte, nur ihrer Gesundheit wegen, zwei- oder dreimal in der Woche mit ihm ausreiten.

»Das ist abgeschmackt,« sagte sie. »Es würde sich nicht schicken.«

»Nun, wer in ganz London würde genügendes Interesse oder die Keckheit haben, uns beide aufzufordern, Rechenschaft von dem abzulegen, was uns zu thun beliebt.« Maisie blickte auf die Lampen, den Nebel und den häßlichen Tunnel. Dick hatte recht; aber Pferdefleisch paßte nicht zur Kunst, wie sie dieselbe verstand.

»Sie sind zuweilen wirklich sehr nett und artig, aber noch häufiger sehr närrisch. Ich werde Ihnen nicht erlauben, mir ein Pferd zu schenken oder Sie heute Abend mitnehmen; ich will allein nach Hause gehen. Nur etwas müssen Sie mir versprechen; Sie sollen nicht mehr an die Extra-Dreipence denken, nicht wahr? Denken Sie daran, daß Sie bezahlt worden sind; ich kann nicht zugeben, daß Sie wegen einer solchen Geringfügigkeit zornig sind und schlechte Arbeit machen. Sie können so Großes leisten, daß Sie nicht so kleinlich sein dürfen.«

Das hieß den Spieß mit einer kleinen Rache umdrehen. Es blieb Dick nichts übrig, als Maisie in ein Kabriolet zu heben.

»Leben Sie wohl,« sagte sie einfach. »Sie kommen doch am Sonntag? Es war ein schöner Tag, Dick. Weshalb kann es nicht immer so sein?«

»Weil die Liebe dem Konturenzeichnen gleicht; man muß entweder vorwärts oder zurück gehen, stillstehen kann man nicht. Beiläufig, fahren Sie fort mit Ihrem Konturenzeichnen. Gute Nacht und schonen Sie sich, meinet- und auch Ihretwegen.«

Er wandte sich um und ging nachdenklich nach Hause. Der Tag hatte ihm nichts gebracht von dem, was er gehofft, aber er hatte sich doch Maisie mehr genähert, und das war gewiß manchen Tag wert. Das Ende war jetzt nur noch eine Frage der Zeit und der Preis wohl des Wartens würdig. Ganz instinktmäßig war er nach dem Flusse hingewandert.

»Sie verstand mich sogleich,« sagte er, auf das Wasser hinblickend. »Sie fand auf der Stelle meine kleine Schwachheit heraus und bezahlte die Sache. Mein Gott, wie gut verstand sie mich! Sie sagte auch, ich wäre besser als sie. Besser als sie!« Er lachte über die Thorheit dieser Bemerkung. »Ich möchte wohl wissen, ob Mädchen nur die Hälfte von dem Leben eines Mannes ahnen. Sie können es nicht, – sonst würden sie uns nicht heiraten.« Er nahm Maisies Gabe aus der Tasche und betrachtete dieselbe wie ein Wunder und als ein Unterpfand in dem Sinne, daß es eines Tages ihn zu vollständiger Glückseligkeit führen wurde. Inzwischen war Maisie allein in London, ohne jeden Schutz vor Gefahren aller Art, die es in dieser übervölkerten Wildnis gab.

Dick betete zu dem Fatum nach Art der Heiden und warf das kleine Silberstück in den Strom. Wenn irgend ein Unglück eintreffen müsse, so möchte die Schwere desselben auf ihn fallen und Maisie verschont bleiben, da dieses Dreipencestück ihm das teuerste von allem war, was er besaß. Es war ja nur eine kleine Münze, aber Maisie hatte sie gegeben und die Themse sie jetzt empfangen, das Fatum würde sicherlich für diesmal bestochen sein.

Die Versenkung des Geldstückes ins Wasser schien für den Augenblick seine Gedanken von Maisie abzulenken. Er entfernte sich von der Brücke und ging pfeifend in seine Wohnung mit einem heftigen Verlangen nach Unterhaltung mit Männern und einer Pfeife Tabak, nach dieser seiner ersten Erfahrung, einen ganzen Tag mit einem weiblichen Wesen zuzubringen. Noch ein stärkeres Verlangen hatte sein Herz empfunden, als sich so unerwartet vor ihm die Vision des Barralong erhob, wie derselbe tief in die See tauchte und nach dem Kreuz des Südens segelte.

Achtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Torpenhow beschäftigte sich damit, die letzten Blätter eines Manuskripts zu paginiren, während Nilghai, der gekommen war, um Schach zu spielen, und blieb, um über Taktik zu sprechen, den ersten Teil desselben durchlas und ihn inzwischen zornig kommentirte.

»Es ist pittoresk genug und auch skizzenhaft,« sagte er, »aber als eine ernsthafte Betrachtung der Verhältnisse im östlichen Europa ist es nicht viel wert.«

»Jedenfalls ist es von meiner Hand… Siebenunddreißig, achtunddreißig, neununddreißig Blätter zusammen; sind es nicht so viel? Das wird zwischen elf bis zwölf Seiten wertvoller falscher Berichte geben. Hallo!« Torpenhow schob die Schreiberei zusammen und summte:

»Hab‘ Lämmlein feil, hab‘ Lämmlein feil,
Wär‘ Geld und Gut mein Erb‘ und Teil,
Ich riefe nimmer: Hab‘ Lämmlein feil!«

Dick trat selbstbewußt und ein wenig mißtrauisch ins Zimmer, aber in der besten Laune von der Welt. »Endlich zurück?« fragte Torpenhow.

»Mehr oder weniger. Was haben Sie gethan?«

»Gearbeitet. Dick, Sie führen sich auf, als ob die Bank von England hinter Ihnen stände. Sonntag, Montag, Dienstag sind Sie ausgegangen und haben nicht einen Strich gemacht. Es ist skandalös!«

»Die Einfälle, die Ideen kommen und gehen, – sie kommen und gehen wie unser Tabak,« antwortete er, seine Pfeife stopfend. »Außerdem,« er hielt an, um einen Span in den Rost zu stecken, »streicht Apollo nicht immer seine – O, hol der Henker Ihre plumpen Spässe, Nilghai!«

»Dies ist nicht der Ort, um über die Theorie direkter Inspiration zu predigen,« sagte Nilghai, Torpenhows großen Blasebalg, der an einem Nagel an der Wand hing, nehmend. »Wir glauben an Schusterpech. Da! – wo wollen Sie sich hinsetzen?«

»Wenn Sie nicht so groß und fett waren,« erwiderte Dick, sich nach einer Waffe umschauend, »so würde ich…«

»Keine halsbrecherischen Kunststücke in meinen Zimmern! Ihr beide habt jüngst mein halbes Meublement zerbrochen, als ihr euch mit Kissen warft. Sie könnten wohl so viel Anstand haben, zu Binkie: ›Wie befinden Sie sich?‹ zu sagen. Sehen Sie ihn nur an!«

Binkie war vom Sofa heruntergesprungen und schmeichelte sich an Dicks Kniee an, wahrend er dessen Stiefel kratzte.

»Lieber kleiner Kerl,« sagte Dickie, ihn aufhebend und auf den schwarzen Fleck über dem rechten Auge küssend. »That dir der Onkel etwas, Binks? Hat dich der abscheuliche Nilghai vom Sofa gedrängt? Beiß ihn, Mr. Binkie!« Er warf ihn Nilghai auf den Magen, da der große Mann bequem ausgestreckt lag und Binkie sich anstellte, als ob er Nilghai Zoll für Zoll zerreißen wollte, bis ein Sofakissen ihn niederhielt, und ihn veranlaßte, keuchend seine Zunge gegen die Gesellschaft auszustrecken.

»Der kleine Binkie unternahm heute morgen einen Spaziergang, bevor Sie aufgestanden waren, Torp. Ich sah ihn, wie er sich beim Metzger an der Ecke liebenswürdig machte, als die Fensterläden abgenommen wurden – gerade als ob er in seinem eigenen Hause nicht genug zu fressen bekäme,« sagte Dick.

»Binks, ist das ein wahrhafter Bericht?« fragte Torpenhow streng. Der kleine Hund zog sich unter das Sofakissen zurück und zeigte durch sein feistes weißes Hinterteil, daß ihn die weitere Unterhaltung in der That nicht interessirte.

»Da fällt mir ein, daß heute früh noch ein anderer tadelnswerter Hund ausging, um sich herumzutreiben,« sagte Nilghai. »Weshalb sind Sie so zeitig auf den Beinen gewesen? Torp erzählte mir, Sie hätten vielleicht ein Pferd kaufen wollen?«

»Er weiß doch, daß für ein so ernstes Geschäft drei von uns erforderlich wären. Nein, ich fühlte mich einsam und unglücklich, deshalb ging ich fort, um das Meer zu sehen und die hübschen absegelnden Schiffe zu beobachten.« »Wohin gingen Sie?«

»Irgendwohin an den Kanal; Proply oder Snigly oder sonst eine Pferdeschwemme war der Name; ich habe ihn vergessen, aber es war nur eine Fahrt von zwei Stunden von London und viele Schiffe kamen und gingen.«

»Sahen Sie ein bekanntes Fahrzeug?«

»Nur den ›Barralong‹, der auswärts nach Australien ging, und ein Getreideschiff aus Odessa, tief geladen. Es war ein nebeliger Tag, doch die See roch gut.«

»Weshalb zieht man denn seine besten Hosen an, um den Barralong zu sehen?« bemerkte Torpenhow spitzig.

»Weil ich keine anderen habe außer meinen Mallumpen. Dann wollte ich auch der See Ehre erweisen!«

»Machte die See Sie wieder ruhelos?« fragte Nilghai.

»Ganz verrückt. Sprechen Sie nicht davon. Es thut mir leid, daß ich hinging.«

Torpenhow und Nilghai tauschten einen Blick aus, als Dick sich bückte und sich mit des ersteren Stiefeln und Schuhen beschäftigte.

»Diese werden passen,« sagte er schließlich. »Ich kann gerade nicht behaupten, daß Sie viel Geschmack in Pantoffeln haben, doch ist die Hauptsache, daß sie passen.« Er schlüpfte in ein Paar niedriger Lederpantoffel und legte sich ausgestreckt auf eine Chaiselongue. »Das sind meine Lieblingsschuhe,« sagte Torpenhow, »ich wollte sie gerade selbst anziehen.«

»Alles nur Ihre verwerfliche Selbstsucht! Gerade wenn Sie sehen, daß ich mich eine Minute glücklich fühle, müssen Sie mich plagen und stören. Suchen Sie sich ein anderes Paar.«

»Es ist wirklich gut für Sie, Torp, daß Dick nicht Ihre Kleider tragen kann. Ihr beide lebt in Gütergemeinschaft,« sagte Nilghai.

»Dick hat nie etwas, das ich tragen kann. Er schmarotzert nur gewöhnlich.«

»Hol Sie der Henker, Sie haben wohl in meinen Kästen herumgestöbert?« entgegnete Dick. »Ich legte gestern einen Sovereign in den Tabakskasten. Wie können Sie erwarten, daß jemand seine Rechnungen in Ordnung hält, wenn Sie…«

Hier fing Nilghai zu lachen an und Torpenhow ebenfalls.

»Versteckte gestern einen Sovereign. Sie sind nicht von dieser Sorte von Finanziers. Sie liehen mir vor etwa einem Monat einen Fünfer. Entsinnen Sie sich?« sagte Torpenhow.

»Ja, natürlich.«

»Entsinnen Sie sich auch, daß ich Ihnen denselben nach zehn Tagen zurückzahlte und Sie ihn auf den Boden des Tabakskastens legten?«

»Beim Himmel, that ich das? Ich dachte, ich hätte ihn in einen von meinen Farbenkästen gelegt.«

»Sie dachten! Vor einer Woche ging ich in Ihr Atelier, um mir etwas Tabak zu nehmen, und fand ihn.«

»Was thaten Sie damit?«

»Ich nahm Nilghai mit in ein Theater und gab ihm zu essen.«

»Sie konnten Nilghai nicht satt füttern für zweimal so viel Geld – selbst nicht, wenn Sie ihm Armeeochsenfleisch gaben. Nun, ich denke, ich würde es früher oder später entdeckt haben.«

»Sie sind in vieler Hinsicht ein erstaunlicher Kuckuck,« bemerkte Nilghai, noch immer kichernd bei dem Gedanken an das Diner. »Machen Sie sich nichts daraus. Wir beide hatten schwer gearbeitet, und es war Ihr unverdientes Geld, das wir ausgaben, und da Sie nur ein Bummler sind, so machte es nichts aus.«

»Das ist wirklich ergötzlich – von jemand, der beinahe platzt von meiner Mahlzeit. Ich werde mir das Diner dieser Tage zurückgeben lassen. Wie wäre es, wenn wir jetzt in ein Theater gingen?«

»Unsere Stiefel anziehen, uns umkleiden und waschen?« sagte Nilghai faul.

»Ich ziehe meinen Antrag zurück.«

»Ich denke, daß wir – das heißt wir alle, um der Abwechslung willen – einer ergreifenden Abwechslung, wie Sie wissen – unsere Kohle und Leinwand zur Hand nehmen und unsere Arbeit fortsetzen.« Torpenhow sprach etwas spitzig, doch Dick bewegte nur seine Zehen in den weichen ledernen Pantoffeln.

»Was für ein gedankenloser Vogel ist das! Wenn ich eine unvollendete Figur unter der Hand hatte, so fehlte es mir an einem Modell; wenn ich mein Modell hatte, so besaß ich kein Geld dafür, und niemals ließ ich eine Kohlenzeichnung unfixirt über Nacht; und wenn ich mein Modell und Geld hätte und zwanzig Photographien von Hintergründen, so könnte ich heute abend doch nicht arbeiten. Ich fühle mich nicht dazu ausgelegt.«

»Binkie, mein Hündchen, er ist ein faules Schwein, nicht wahr?« sagte Nilghai.

»Nun gut, ich will etwas thun,« sagte Dick, rasch sich erhebend. »Ich will das Nungabungabuch holen und ein anderes Bild zu der Nilghaisage hinzufügen.«

»Haben Sie ihn nicht vielleicht etwas zu sehr gequält?« fragte Nilghai, als Dick das Zimmer verlassen hatte.

»Vielleicht, aber ich weiß, was er leisten kann, wenn er will. Es macht mich ganz rasend, wenn ich ihn loben höre für seine früheren Arbeiten, da ich weiß, was er thun könnte. Sie und ich sind dazu da, um…«

»Durch das Kismet und unsere eigenen Vollmachten, das übrige ist Mitleid. Ich habe viel darüber nachgedacht.«

»Auch ich, aber wir kennen jetzt unsere Grenzen. Ich bin ganz niedergeschlagen, wenn ich daran denke, was Dick sein könnte, wenn er sich ganz seiner Arbeit hingeben würde. Das ist es, was mich seinetwegen so böse macht.« »Und wenn alles gesagt und gethan ist, so werden Sie mit vollem Rechte – eines Mädchens wegen beiseite geschoben werden.«

»Ich bin neugierig darauf. Wo meinen Sie, daß er heute gewesen ist?«

»An der See. Bemerkten Sie nicht den Blick in seinen Augen, als er von ihr sprach? Er ist so ruhelos wie eine Schwalbe im Herbst.«

»Ja, aber ging er wohl allein?«

»Ich weiß es nicht, und es kümmert mich auch nicht, doch hat er den Anfang des Reisefiebers in sich. Er hat Abwechslung und Bewegung nötig, die Anzeichen davon sind gar nicht zu verkennen. Was er auch vorhin gesagt haben mag, er fühlt den Ruf in die Ferne jetzt in sich.«

»Es könnte seine Rettung sein,« bemerkte Torpenhow.

»Vielleicht – wenn Sie die Verantwortlichkeit übernehmen wollen, sein Retter zu werden; ich selbst bin nicht geneigt, mich mit Seelen zu befassen.«

Dick kehrte mit einem großen verschlossenen Skizzenbuche zurück, welches Nilghai gut kannte und keineswegs liebte. Dick hatte in dasselbe während seiner freien Zeit alle Arten von aufregenden Ereignissen gezeichnet, die er entweder selbst erfahren oder von anderen gehört hatte aus allen vier Ecken der Erde. Doch der weite Umfang von Nilghais Körper und Leben zogen ihn am meisten an. Wenn es ihm an der Wirklichkeit fehlte, so griff er auf die wildeste Dichtung zurück und stellte Ereignisse aus Nilghais Laufbahn dar, die unziemlich waren, seine Heiraten mit verschiedenen afrikanischen Prinzessinnen, seinen schamlosen Verrat von Truppencorps des Mahdi für arabische Weiber, seine Tätowirung durch geschickte Operateure in Birmah, seine Unterredung mit dem gelben Henker auf dem blutgetränkten Hinrichtungsplatze in Canton und schließlich den Uebergang seiner Seele in die Körper von Walfischen, Elefanten und Tukans. Torpenhow hatte von Zeit zu Zeit sich reimende Beschreibungen hinzugefügt, so daß das Ganze ein merkwürdiges Kunstwerk war, weil Dick behauptete, mit Rücksicht auf den Namen des Buches, der eigentlich »nackend« bedeutete, daß es unrecht wäre, Nilghai unter irgend welchen Umständen mit Kleidern zu zeichnen. Infolge dessen war die letzte Skizze, welche den vielgeprüften Mann darstellte, wie er beim Kriegsministerium seine Ansprüche auf die ägyptische Medaille geltend machte, kaum besonders zartfühlend. Dick setzte sich bequem an Torpenhows Tisch und wandte die einzelnen Seiten des Buches um.

»Was für ein Glück wären Sie für Blake gewesen, Nilghai!« sagte er. »In einigen von diesen Skizzen herrscht ein saftiges Blaßrot, das mehr als lebensähnlich ist. Nilghai während des Badens umringt von den Leuten des Mahdi, das beruhte auf einer Thatsache, wie?«

»Es war fast mein letztes Bad, Sie unehrerbietiger Sudler. Ist Binkie noch nicht in die Sage gekommen?«

»Nein; Binkie hat nichts gethan als essen und Katzen töten. Laßt uns weiter sehen. Hier sind Sie als Heiliger aus geflecktem Glase in einer Kirche. Verteufelt dekorative Linien Ihres anatomischen Baues; Sie müßten eigentlich dankbar sein, daß Sie in dieser Weise der Nachwelt überliefert werden. Nach fünfzig Jahren werden Sie noch existiren in seltenen und merkwürdigen Facsimiles, das Stück zu zehn Guineen. Was soll ich jetzt zeichnen? Das häusliche Leben des Nilghai?«

»Habe gar keins geführt.«

»Also dann das unhäusliche Leben des Nilghai. Natürlich! Massenversammlungen seiner Weiber in Trafalgar Square! Das ist es. Sie kamen von allen Enden der Erde, um Nilghais Hochzeit mit einer englischen Braut beizuwohnen. Das soll in Sepia gemalt werden. Es ist ein süßes Sujet für einen Maler.«

»Es ist eine skandalöse Zeitverschwendung,« bemerkte Torpenhow.

»Schelten Sie nicht; es erhält einem die Hand in der Uebung, besonders wenn man ohne Stift beginnt.« Dick machte sich rasch an die Arbeit. »Das ist Nelsons Säule. Sogleich wird Nilghai oben darauf erscheinen.«

»Geben Sie ihm diesmal wenigstens einige Kleider!«

»Gewiß – einen Schleier und einen Kranz aus Orangenblüten, weil er verheiratet ist.«

»Wahrhaftig, das ist wirklich geschickt,« sagte Torpenhow über die Schulter blickend, als Dick mit drei raschen Pinselstrichen einen sehr fetten Rucken und gewaltige Schultern auf das Papier warf, die sich an den Stein lehnten.

»Stellen Sie sich vor,« fuhr Dick fort, »wenn wir etwas von diesen lieben kleinen Dingern veröffentlichen könnten, jedesmal wenn Nilghai einen Mann, der schreiben kann, mietet, um dem Publikum eine ehrliche Meinung von meinen Bildern beizubringen.«

»Sie werden mir doch zugeben, daß ich es Ihnen stets mitteile, wenn ich etwas Derartiges gethan habe. Ich weiß, daß ich Sie nicht verarbeiten kann, wenn Sie es nötig haben, deshalb übertrage ich den Spaß einem andern. Zum Beispiel der junge Maclagan –«

»Nein – nur eine halbe Minute, alter Herr; strecken Sie Ihre Hand nach der dunklen Wandtapete aus – Sie brummen nur immer und schimpfen mich. Diese linke Schulter ist gar nicht zu zeichnen; ich muß buchstäblich einen Schleier darüber werfen. Wo ist mein Federmesser? Nun, was ist es mit Maclagan?«

»Ich gab ihm nur den Auftrag, Sie im allgemeinen zu prügeln, weil Sie kein Werk geschaffen, das für immer dauern wird.«

»Worauf dieser junge Narr« – Dick bog den Kopf zurück und schloß ein Auge, als er das Blatt unter seiner Hand etwas änderte – »alleingelassen mit einem Tintenfaß und dem, was er für seine eigenen Gedanken hielt, beides in den Zeitungen über mich ausschüttete. Sie hätten wohl einen erwachsenen Menschen für das Geschäft engagiren können, Nilghai. Wie sieht der Brautschleier jetzt aus, Torp?«

»Wie, zum Henker, können drei Kleckse und zwei Ritze den Stoff so vom Körper abhalten, wie es der Fall ist?« sagte Torpenhow, für den Dicks Methoden stets neu waren.

»Es hängt nur davon ab, wohin man sie macht. Wenn Maclagan das bei seinem Geschäfte gewußt hätte, so würde er es wohl besser ausgeführt haben.«

»Weshalb wenden Sie denn diese verdammten Kleckse nicht bei etwas an, das von Dauer sein wird?« sagte Nilghai dringend, der wirklich viel Mühe und Verdruß gehabt hatte, als er zu Dicks Bestem die Feder eines jungen Mannes gemietet, der den größten Teil seiner Zeit einer eifrigen Betrachtung der Zwecke und Ziele der Kunst widmete, die, wie er schrieb, ein und unteilbar sei.

»Warten Sie eine Minute, bis ich sehe, wie ich meine Prozession von Weibern arrangiren muß. Sie scheinen sehr ausgedehnt geheiratet zu haben, und ich muß sie roh skizziren mit Bleistift – Mederinnen, Partherinnen, Edomiterinnen. – Nun, ich setze die Schwäche, Gottlosigkeit und Keckheit, eine Arbeit zu versuchen, die leben wird, wie man sagt, beiseite und bin zufrieden mit dem Bewußtsein, daß ich heute mein Bestes gethan habe; Aehnliches werde ich nicht wieder machen, in den nächsten Stunden wenigstens nicht, wahrscheinlich für Jahre nicht, höchst wahrscheinlich niemals.«

»Was! Haben Sie einen Stoff vorrätig für Ihr bestes Werk?« fragte Torpenhow.

»Haben Sie etwas verkauft?« sagte Nilghai.

»O nein. Es ist nicht hier und auch nicht verkauft; besser als das: es kann gar nicht verkauft werden, und ich glaube nicht, daß irgend jemand weiß, wo es ist… Immer noch mehr Weiber auf der Nordseite des Squares. Bemerken Sie das tugendhafte Entsetzen des Löwen?«

»Sie könnten uns wohl eine Erklärung geben,« sagte Torpenhow, worauf Dick den Kopf von dem Papier aufhob.

»Die See rief es in mein Gedächtnis zurück,« sagte er langsam. »Ich wünschte, sie hätte es nicht gethan. Es wiegt einige tausend Tonnen – wenn man es nicht mit einem scharfen Meißel herausschneidet.«

»Seien Sie nicht so blödsinnig. Sie können uns gegenüber keine Pose annehmen,« sagte Nilghai.

»Bei der ganzen Sache ist durchaus von keiner Pose die Rede. Es ist ein Faktum. Ich fuhr von Lima nach Auckland in einem großen, alten Passagierschiffe, das für untauglich erklärt und in ein Frachtschiff umgeändert worden war; es gehörte einer italienischen Firma zweiten Ranges. Es war ein hinfälliger Kasten. Wir waren auf fünfzehn Tonnen Kohlen täglich reduzirt worden und schätzten uns glücklich, wenn wir es bis auf sieben Knoten in der Stunde brachten. Dann stoppten wir gewöhnlich, ließen die Zapfenlager sich abkühlen und waren neugierig, ob der Sprung in der Welle größer geworden?«

»Waren Sie in jener Zeit Steward oder Heizer?«

»Ich war damals sehr verschwenderisch, deshalb reiste ich als Passagier, sonst, denke ich, wäre ich wohl Steward gewesen,« erwiderte Dick ganz ernsthaft, sich wieder mit der Prozession der Weiber beschäftigend, »Ich war der einzige Passagier von Lima, das Schiff hatte nur halbe Ladung und war voll von Ratten, Kakerlaken und Skorpionen.«

»Aber was hat denn das mit dem Bilde zu thun?«

»Warten Sie nur eine Minute. Der Dampfer war früher bei dem Handel in China beschäftigt gewesen, so daß im Zwischendeck Abteilungen für zweitausend Schweine angebracht waren. Diese waren geblieben, doch das Schiff leer, während das Licht durch die Seitenluken einfiel – ein sehr lästiges Licht, um dabei zu arbeiten, bis man sich daran gewohnt hatte. Ich war wochenlang ganz unbeschäftigt. Die Schiffskarten waren zerrissen, und unser Schiffer wagte es nicht, südlich zu segeln, aus Furcht, in einen Sturm zu geraten. So begnügte er sich damit, sämtliche Gesellschaftsinseln, eine nach der andern, anzulaufen, während ich ins Zwischendeck hinunterstieg und bei einer Schiffsluke, möglichst weit nach vorn, an meinem Bilde arbeitete. An Bord befand sich etwas braune und grüne Farbe, mit der man die Boote anstrich, sowie auch schwarze Farbe für das Eisenzeug; das war alles, was ich hatte.«

»Die Passagiere müssen Sie für verrückt gehalten haben.«

»Es war nur ein einziger an Bord, und der war eine Frau, doch gab diese mir die Idee zu meinem Bilde.«

»Wie sah sie aus?« fragte Torpenhow.

»Sie war eine Art von Negerjüdin aus Kuba mit moralischen Heiratsgedanken. Sie konnte weder lesen noch schreiben und hatte es auch nicht nötig; gewöhnlich kam sie herunter und sah mir beim Malen zu, obschon es dem Schiffer nicht besonders gefiel, weil er ihre Ueberfahrt bezahlt hatte und meistens auf der Kommandobrücke sein mußte.«

»Ich verstehe. Das muß lustig gewesen sein.«

»Es war die beste Zeit, die ich je erlebt. Erstens wußten wir nicht, ob wir hinauf oder hinunter gehen sollten, wenn die See unruhig war; wenn Windstille herrschte, war es ein Paradies, die Frau mischte gewöhnlich die Farben und sprach gebrochen englisch, während der Schiffer sich alle Minuten nach dem Zwischendeck hinunterschlich, weil er behauptete, er befürchte, daß Feuer entstehen könnte. Wir konnten daher niemals sicher sein, nicht erwischt zu werden: doch hatte ich ein glänzendes Sujet, das ich nur in drei Hauptfarben ausarbeiten konnte.«

»Was war es für ein Sujet?«

»Zwei Zeilen in Poesie:

›Nie können die Teufel tief unter dem Meer,
        Auch die Heere der Himmlischen nie
Mehr reißen die Seele mir los von der Seele
        Der löblichen Annabel Lee.‹

»Es entwickelte sich ganz von selbst auf der See. Ich zeichnete diesen Kampf, in grünem Wasser über der nackten, erstickenden Seele ausgefochten, während die Frau mir als Modell diente zu den Teufeln sowie auch gleichzeitig zu den Engeln – Seeteufeln und Seeengeln – die halb ertrunkene Seele zwischen sich. Es klingt nicht besonders großartig, aber wenn im Zwischendeck eine gute Beleuchtung war, so sah es sehr schön aus. Es war sieben Fuß hoch und vierzehn Fuß breit, alles in wechselndem Licht für eben solche Beleuchtung gemalt.«

»Inspirirte die Frau Sie?« fragte Torpenhow.

»Sie und das Meer gemeinschaftlich – ganz gewaltig. Es befand sich sehr viel falsche Zeichnung in jenem Bilde. Ich entsinne mich, daß ich gegen meine Gewohnheit Verkürzungen anbrachte, ganz allein aus Vergnügen an denselben; dennoch ist es das Beste, was ich je gemacht; jetzt vermute ich, daß das Schiff abgebrochen oder untergegangen ist. Ach, was war das für eine Zeit!«

»Was geschah dann später?«

»Es ging alles zu Ende. Als ich das Schiff verließ, wurde es mit Wolle beladen, doch selbst die Einlader ließen das Bild bis zuletzt frei. Die Augen der Dämonen jagten ihnen Furcht ein, wie ich aufrichtig glaube.«

»Und die Frau?«

»Sie fürchtete sich ebenfalls, als das Bild fertig war. Gewöhnlich bekreuzte sie sich, ehe sie hinunterging, um es zu betrachten. Genau drei Farben und keine Möglichkeit, andere zu bekommen, die See außerhalb und unbegrenzte Liebelei innerhalb, dabei die Furcht vor dem Tode fortwährend über uns, o Gott!«

Er hatte aufgehört, die Skizze zu betrachten, starrte aber gerade aus vor sich hin.

»Weshalb versuchen Sie jetzt nicht etwas Aehnliches?« fragte Nilghai.

»Weil dergleichen Dinge nicht durch Fasten und Beten über einen kommen. Wenn ich ein Frachtschiff und eine kubanische Jüdin sowie ein anderes Sujet mit demselben alten Leben wieder fände, möchte ich es wohl thun.«

»Sie werden das alles hier nicht finden,« bemerkte Nilghai.

»Nein, das glaube ich auch.« Dick machte heftig das Skizzenbuch zu. »Dieses Zimmer ist so heiß wie ein Ofen. Oeffne doch einer das Fenster.«

Er lehnte sich hinaus und betrachtete die dichte Finsternis Londons unter sich. Die Zimmer lagen viel höher als die nächsten Häuser und überragten hundert Schornsteine mit gebogenen Kuppen, die wie sitzende Katzen aussahen, wenn sie sich herumdrehten, und andere seltsame Dinge aus Ziegeln oder Zink, von eisernen Stützen gehalten und mit S-Klammern befestigt. Nördlich warfen die Lichter des Piccadillyzirkus und des Leicestersquare einen kupferfarbigen Schimmer über die schwarzen Dächer, während südlich die Reihen der Lichter auf der Themse lagen. Ein Zug rollte über eine der Eisenbahnbrücken, dessen Donner einen Augenblick den dumpfen Lärm in den Straßen übertonte. Nilghai blickte auf seine Uhr und sagte kurz:

»Das ist der Nachtzug nach Paris. Man kann von hier bis St. Petersburg ein Billet nehmen, wenn man will.«

Dick zwängte Kopf und Schultern durch das Fenster und sah über den Fluß. Torpenhow trat an seine Seite, während Nilghai sich an das Pianino setzte und dasselbe öffnete. Binkie dehnte sich, sich so breit wie möglich machend, auf dem Sofa aus wie jemand, der nicht so leicht zu stören ist.

»Nun,« fügte Nilghai zu den beiden anderen, »habt ihr früher niemals diesen Ort gesehen?«

Ein Dampfschlepper auf dem Flusse pfiff, als er die beladenen Fahrzeuge ans Werst schleppte. Dann drang der Lärm des Verkehrs ins Zimmer. Torpenhow stieß Dick an. »Ein guter Platz, um Geld zu verdienen – ein schlechter Platz, um darin zu leben, Dickie, nicht wahr?«

Dick stützte sein Kinn auf die Hand, als er mit den Worten eines nicht unberühmten Generals erwiderte: »Mein Gott, was für eine Stadt zum Plündern!«

Binkie fand, daß die Nachtluft seinen Bart kitzelte, und nieste kläglich.

»Wir werden dem armen Binkie eine Erkältung zuziehen,« sagte Torpenhow. »Kommen Sie herein.«

Sie zogen ihre Köpfe ins Zimmer zurück. »Sie, Dick, werden eines Tages in Kensal Green, wenn es inzwischen nicht geschlossen wird, begraben werden, zwei Fuß von irgend jemand anderem, Ihrem Weibe und Ihrer Familie, entfernt.«

»Allah wolle es verhüten! Ich werde weit fortgehen, bevor diese Zeit eintritt. Gib einem Menschen Platz, seine Beine auszustrecken, Mr. Binkie!« Dick warf sich aufs Sofa und zwickte Binkies Sammetohren, während er gewaltig gähnte.

»Sie werden diesen Garderobekasten sehr verstimmt finden,« bemerkte Torpenhow zu Nilghai, »Er wird, außer von Ihnen, von niemand berührt.« »Ein Stück großartiger Verschwendung,« brummte Dick, »Nilghai kommt nur, wenn ich nicht zu Hause bin.«

»Das ist nur der Fall, weil Sie stets fort sind, Heulen Sie los, Nilghai, und lassen Sie ihn etwas hören.«

Nur Totschlag und Trug hat der Nilglmi betrieben.
Verwässerter Dickens ist, was er geschrieben;
Doch erhebt er die Stimme auch nur von fern.
Dann stürben sogar die Mahdieh gern.

Dick führte diese Verse aus Torpenhows Niederschreibungen in dem Nungabungabuche an. »Wie nennt man das Elentier in Kanada, Nilghai?«

Dieser lachte. Das Singen war sein einziges gesellschaftliches Talent, wie manches Korrespondentenzelt in seinen Landen erfahren hatte.

»Was soll ich singen?« fragte er, sich in dem Stuhl umdrehend.

»Moll Roe am Morgen,« sagte Torvenhow aufs Geratewohl.

»Nein,« sagte Dick scharf, so daß Nilghai seine Augen aufsperrte. Das alte Lied, dessen Worte er vollständig auswendig wußte, war kein hübsches, doch hatte es Dick früher häufig, ohne zu zucken, angehört. Ohne Vorspiel begann er nun den herrlichen Gesang, der die Herzen der Zigeuner des Meeres erfreut und bewegt:

»Lebt wohl und adieu, ihr spanischen Damen,
Ihr spanischen Damen, lebt Wohl und adieu!«

Dick warf sich unbehaglich auf dem Sofa umher, denn er konnte hören, wie der Bug des Barralong durch das grüne Wasser der See brach, auf seinem Wege zu dem Kreuz des Südens. Dann kam der Chor:

»Wir tollen und brüllen wie britische Segler,
Wir tollen und brüllen die Salzflut entlang,
Bis wir werfen das Lot im Kanal von Altengland –
Fünfundvierzig Meilen sind’s bis Scilly von Ushant.«

»Fünfunddreißig – fünfunddreißig,« rief Dick ausgelassen. »Mengen Sie sich nicht in die heilige Schrift. Weiter, Nilghai!«

»Zuerst sahn ein Land wir, das hieß der Tote.«

worauf sie mit vieler Kraft das Lied zu Ende sangen.

»Es würde ein besseres Lied sein, wenn sie ihren Bug nach der andern Seite hin gewendet hatten – nach den Lichtern von Ushant zum Beispiel,« meinte Nilghai.

»Ihre Arme herumwerfend wie eine wahnsinnige Windmühle,« sagte Torpenhow. »Lassen Sie uns noch ein anderes hören, Nilghai! Sie haben heute abend eine schöne Stimme wie ein Nebelhorn.«

»Singen Sie den ›Gangeslotsen‹; Sie sangen ihn im Carré in der Nacht vor der Schlacht bei El-Maghrib. Beiläufig, ich möchte wohl wissen, wie viele von dem Chore heute noch am Leben sind,« bemerkte Dick.

Trovenhow dachte einen Augenblick nach. »Beim Himmel, ich glaube, nur Sie und ich. Rayner, Vickory und Deanes – alle sind tot; Vincent bekam die Blattern in Kairo, brachte sie mit hierher und, und starb daran. Ja, nur Sie, ich und Nilghai sind übrig geblieben.«

»Hm! Dennoch sagen die Leute hier, die ihr Leben lang ihre Arbeit in einem wohl durchwärmten Atelier verrichtet haben mit einem Polizisten an jeder Straßenecke, daß ich in meinen Bildern zu viel übertreibe.«

»Sie kaufen Ihre Arbeiten, nicht Ihre Lebensversicherungspolicen, teures Kind,« bemerkte Nilghai.

»Ich setzte das eine ein, um das andere zu gewinnen. Predigen Sie nicht! Vorwärts mit dem Lotsen! Wo in aller Welt kamen Sie an dieses Lied?«

»Auf einem Grabsteine,« antwortete Nilghai. »Auf einem Grabsteine in einem fernen Lande. Ich machte dazu eine Begleitung mit einer Menge von Baßaccorden.«

»O, Eitelkeit! Fangen Sie an!«

Nilghai begann:

Mein Tau hab‘ gelöst ich, Maaten, werd‘ schon von der Flut gewiegt,
Ich hab‘ Befehl, zu segeln, da ihr vor Anker liegt!

An heit’rem Junimorgen fuhr nie ich hinaus aufs Meer
So hoffnungsreich, das Gewissen so rein und das Herz so sorgenleer.

Schulter an Schulter, Hans, mein Junge, hinein, wo die Massen sich staun!
Die Messer blank, ihr Maaten – doch nicht mit der Schneide gehaun!

»Den Brahminen schließt krumm,« ruft Sharnock, »vom Holzstoß reißt das Scheit,
Die blasse Witwe für mich, Hans, für dich die bräunliche Maid!«

Jung‘ Hans (bist nah an sechzig!), was hat dich so dunkel gemacht?
Sanft blau ist Käthchens Auge – was schwärzte deins? –
Horch! gib acht!

Sie sangen jetzt alle drei. Dick mit dem Brüllen des Windes auf hoher See in den Ohren, als er seine tiefe Baßstimme erschallen ließ.

Das Morgengeschütz! – He, aufgepaßt! – Die Artebusen her! –
Mein Blei drang Hollands Admiral ins Herz, wie es dringt ins Meer!

Treib, treib den Ganges hinunter, das Lot zum Wurfe bereit.
Und ank’re mich nahe bei Sharnock – zunächst meiner bräunlichen Maid

Mein Segen auf Käthchen in Fairlight, – Hollwell, für dich mein Dank! –
Frisch auf! Wir steuern gen Himmel, vorüber an Riff und Bank!

»Nun,« sagte Dick, als sie das Lied zu Ende gesungen, »was ist in diesem Unsinn enthalten, das einen Mann ruhelos machen könnte?«

»Das kommt auf den Mann selbst an,« meinte Torpenhow.

»Den Mann, der hinuntergefahren ist, um die See wieder zu sehen,« bemerkte Nitghai.

»Ich wußte nicht, daß sie mich in diesem Maße aufregen würde.«

»Das sagen Männer immer, wenn sie hingehen, um einer Frau Lebewohl zu sagen. Doch ist es leichter, drei Frauen los zu werden, als ein Stück aus seinem Leben und seinen Umgebungen.«

»Aber eine Frau kann sein –« begann Dick unbedacht.

»Ein Stück vom Leben eines Mannes,« fuhr Torpenhow fort. »Nein, das kann sie nicht.« Sein Gesicht verfinsterte sich einen Augenblick. »Sie sagt, sie müsse mit Ihnen sympathisiren und Ihnen helfen bei Ihrer Arbeit, sowie bei allem andern, was ein Mann doch offenbar allein machen muß. Dann schickt sie Ihnen fünf Briefchen täglich, um zu fragen, weshalb, zum Teufel, Sie Ihre Zeit nicht mit ihr verschwendet haben.«

»Verallgemeinern Sie nicht,« bemerkte Nilghai, »In der Zeit, bis Sie bei fünf Briefchen täglich angelangt sind, müssen Sie eine Menge anderer Dinge durchmachen und sich dementsprechend benommen haben. Sie sollten dergleichen Sachen nicht anfangen, mein Sohn.«

»Ich hätte nicht an die See hinuntergehen sollen,« erwiderte Dick, sehr begierig, die Unterhaltung zu wechseln. »Und Sie hätten nicht singen sollen.«

»Die See schickt Ihnen nicht fünf Briefchen täglich,« sagte Nilghai.

»Nein, aber ich bin verhängnisvoll kompromittirt. Sie ist eine ausdauernde alte Hexe; es thut mir leid, daß ich ihr begegnet bin.«

»Hört, wie er seine erste Liebe lästert! Weshalb sollten Sie denn nicht auf sie hören?« sagte Torpenhow.

Bevor Dick antworten konnte, erhob Nilghai seine Stimme und begann so kräftig, daß die Fenster klirrten, das Lied »Die Männer der See«, das, wie allgemein bekannt, anfängt:

»Die See ist ein böses altes Weib,«

und nach acht Zeilen voll lebhafter, wahrhaftiger Schilderung mit einem Refrain endigt, so schwerfällig wie das Geklapper eines Ankerspills, wenn das Schiff widerwillig auf die Barren kommt, wo die Leute schwitzen und auf den Planken umherstampfen.

»Habt gehegt uns, treu gepflegt uns!
Güt’ger noch ist das Meer,
Denn sein Ruf dringt uns zu Herzen!«
Sprach der Matrosen Heer.

Nilghai sang diesen Vers zweimal mit einfachem Ausdruck, in der Absicht, daß Dick ihn hören sollte; doch dieser wartete auf den Abschied der Männer von ihren Frauen.

»Müßt, ihr Lieben, uns betrüben?
Teurer noch ist das Meer,
Euer Schlummer ein so süßer!«
Sprach der Matrosen Heer.

Die rauhen Worte klangen wie der Anprall der Wellen gegen den Bug des gebrechlichen Dampfers von Lima in den Tagen, als Dick Farben mischte, liebte, Teufel und Engel im Halbdunkel zeichnete und neugierig war, ob nicht in der nächsten Minute das Messer des italienischen Kapitäns ihm zwischen den Schulterblättern sitzen wurde. Und das Reisefieber, das häufiger vorhanden ist als manche andere Krankheiten, erwachte und wütete in ihm, ihn, der Maisie mehr liebte als irgend sonst etwas auf der Welt, antreibend, fortzugehen und wieder die frühere Hitze, das alte Leben zu kosten, sich herumzubalgen, zu fluchen, zu spielen und mit seinen Gefährten leichtfertige Liebschaften aufzusuchen. Was hinderte ihn, ein Schiff zu nehmen und die See noch einmal kennen zu lernen, durch sie sich zu neuen Bildern zu begeistern, mit Binat auf dem Strande von Port Saïd zu plaudern, wahrend die gelbe Tina die Getränke mischte, das Krachen des Gewehrfeuers zu hören und den Rauch fortrollen, sich verdünnen und wieder verdichten zu sehen, bis die glänzenden schwarzen Gesichter durch denselben hervorbrachen; und in dieser Hölle war ein jeder allein für seinen eigenen Kopf verantwortlich und von einem ungefesselten Arm niedergeschlagen worden! Es war ja unmöglich, ganz unmöglich, dennoch –

»O, ihr Väter auf dem Kirchhof!
Aelter noch ist das Meer;
Unsere Gräber um so grüner!“
Sprach der Matrosen Heer.

»Was ist es, das Sie zurückhält?« fragte Torpenhow während des langen Schweigens, das auf den Gesang folgte.

»Sie sagten vor einiger Zeit, daß Sie an einer Reise um die Welt nicht teilnehmen würden, Torp.«

»Das war vor Monaten, und ich war nur dagegen, daß Sie Geld für die Kosten der Reise erwarben. Sie haben hier Ihren Bolzen abgeschossen, der auf Sie zurückgeprallt ist. Gehen Sie fort, arbeiten Sie und sehen Sie sich die Welt an!«

»Versuchen Sie, etwas von Ihrem Fett abzusetzen; Sie sind unverhältnismäßig dick geworden,« bemerkte Nilghai, vom Stuhl sich hinüber beugend und Dick oberhalb der rechten Rippen in die Seite packend. »Weich wie Glaserkitt – der reine Talg infolge von Ueberfütterung. Trainiren Sie es fort, Dickie!«

»Wir sind alle gleich dick, Nilghai. Nächstens werden Sie den Platz, auf dem Sie sitzen, nicht verlassen können, mit den Augen zwinkern, nach Luft schnappen und am Schlagfluß sterben.«

»Das thut nichts. Schiffen Sie sich ein. Fahren Sie nach Lima oder Brasilien. In Südamerika gibt es immer Unruhen.«

»Bilden Sie sich vielleicht ein, daß man mir sagen muß, wohin ich gehen soll. Du lieber Himmel, die einzige Schwierigkeit ist, zu wissen, wo ich anhalten soll. Aber ich werde hier bleiben, wie ich Ihnen vorhin sagte.«

»Dann werden Sie in Kensal Green begraben und mit den übrigen in Staub verwandelt werden,« sagte Torpenhow. »Denken Sie an Ihre festen Aufträge? Zahlen Sie Buße und gehen Sie. Sie haben Geld genug, um wie ein König reisen zu können, wenn es Ihnen beliebt.«

»Sie haben die gräßlichsten Begriffe von Vergnügen, Torv. Ich sehe mich schon an Bord eines Hotels von sechstausend Tonnen, Salon erster Klasse, und wie ich den dritten Ingenieur frage, was die Maschinen so herumdrehen macht und ob es im Heizraum nicht recht warm sei! Ho! ho! Ich würde zu Schiffe gehen als ein Bummler, wenn ich mich je zur See begeben sollte, was ich aber nicht zu thun beabsichtige. Ich werde einen Kompromiß machen und zum Anfange nur einen kleinen Ausflug unternehmen.«

»Das ist jedenfalls etwas. Wohin wollen Sie gehen?« fragte Torpenhow. »Es würde wirklich ganz vortrefflich für Sie sein, alter Sohn.« Nilghai bemerkte, wie Dick mit den Augen blinzelte und unterdrückte, was er sagen wollte.

»Ich werde zuerst in Rathreys Stall gehen, dort ein Pferd mieten und sehr vorsichtig bis Richmond Hill reiten. Dann werde ich wieder ebenso zurückkehren, im Falle es zufällig mit Schaum bedeckt sein und Rathrey ärgerlich werden sollte. Ich werde das schon morgen thun, der frischen Luft und der Bewegung wegen.«

»Pah!« Dick hatte kaum Zeit, seinen Arm auszustrecken, um sich vor dem Kissen zu schützen, das Torpenhow zornig ihm nach dem Kopfe warf.

»Luft und Bewegung in der That!« sagte Nilghai, sich schwerfällig auf Dick setzend. »Wir wollen ihm etwas von beidem geben. Nehmen Sie den Blasebalg, Torp.«

Bei diesem Punkte geriet die Konferenz in Unordnung, weil Dick den Mund nicht öffnen wollte, bis Nilghai ihm die Nase zuhielt; auch verursachte es einige Schwierigkeiten, die Spitze des Blasebalgs ihm zwischen die Zähne zu bringen; als es endlich gelungen, versuchte er schwach, gegen die Gewalt des Einblasens zu pusten, so daß seine Wangen mit einer starken Explosion sich aufbliesen. Da die Feinde vor Lachen nicht mehr konnten, schlug er sie mit einem Sofakissen über den Kopf, so daß die Nähte aufgingen und die Federn umherflogen, während Binkie, der sich zu Gunsten Torpenhows einmischte, in den halbleeren Ueberzug eingepackt wurde und sich wieder herauskratzen mußte, was ihm nach einiger Zeit auch gelang, indem er rasch auf dem Fußboden hin und her lief. Als er sich endlich befreit hatte, sah er mit Genugthuung, wie die drei Säulen seiner Welt sich die Federn aus ihren Haaren machten.

»Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande,« sagte Dick kläglich, seine Kniee abstaubend.

»Es geschah alles nur zu Ihrem Besten,« sagte Nilghai. »Nichts geht über Luft und Bewegung.«

»Alles zu Ihrem Besten,« fügte Torpenhow hinzu, ohne die mindeste Beziehung zu der soeben ausgeführten Balgerei. »Es wird Ihnen die Dinge in ihrem wirklichen Werte erscheinen lassen und verhindern, daß Sie in diesem Treibhause von einer Stadt schlapp werden. In der That würde das der Fall sein, alter Freund; ich würde es gewiß nicht sagen, wenn ich es nicht dächte. Leider machen Sie aus allem einen Spaß.«

»Bei Gott! ich thue es nicht,« sagte Dick rasch und ernst. »Sie kennen mich nicht, wenn Sie das von mir glauben.«

»Ich glaube es nicht,« bemerkte Nilghai.

»Wie können Männer gleich uns, die wissen, was Leben und Tod bedeuten, es wagen, einen Scherz aus allem zu machen? Ich weiß, wir beanspruchen das, um uns selbst vor dem Zusammenbrechen zu bewahren oder zu dem entgegengesetzten Extrem überzugehen. Kann ich etwa nicht sehen, alter Herr, wie besorgt Sie immer meinetwegen sind und versuchen, mir guten Rat zu geben, damit ich meine Arbeiten besser mache? Glauben Sie, daß ich selbst nicht darüber nachdenke. Aber Sie können mir nicht helfen – Sie können mir nicht helfen – selbst Sie nicht. Ich muß selbst auf meine eigene Weise mir durchhelfen.«

»Hört, hört!« rief Nilghai.

»Was ist das Einzige in der Nilghaisage, das ich nie in das Nungabungabuch gezeichnet habe?« bemerkte Dick zu Torpenhow, der über diese plötzliche Abschweifung etwas erstaunt war.

In dem Buche befand sich nämlich ein weißes Blatt, das für die Skizze bestimmt war, die Dick nicht gezeichnet hatte, nämlich für die der größten Heldenthat in Nilghais Leben, wie dieser Mann, als er noch jung war und vergessen hatte, daß sein Leib und seine Gebeine der Zeitung angehörten, die ihn in ihre Dienste genommen, in der Nachhut von Bredows Brigade über das von der Sonne verbrannte und schlüpfrige Gras geritten war, an jenem Tage, als diese tapferen Soldaten sich auf Canroberts Artillerie gestürzt, sowie auf zwanzig in Front aufgestellte Bataillone, um das geschlagene vierundzwanzigste deutsche Infanterieregiment zu retten und den Ihrigen Zeit zu geben, das Schicksal von Vionville zu entscheiden, und so zu erfahren, bevor der Rest der Brigade nach Flavigny zurückgekehrt war, da Kavallerie eine unerschütterte Infanterie angreifen, zersplittern und durchbrechen kann. Wenn er jemals geneigt war, nachzudenken über ein Leben, das vielleicht besser, über ein Einkommen, das größer, und eine Seele, die bedeutend reiner hätte sein können, so würde Nilghai sich bei dem Gedanken neu belebt und gestärkt haben: »Ich ritt mit Bredows Brigade bei Vionville,« und Mut gefaßt haben zu einer geringeren Schlacht, die der nächste Tag bringen konnte.

»Ich weiß,« sagte er sehr ernst. »Ich war immer froh darüber, daß Sie das fortgelassen haben.«

»Ich ließ diese Skizze fort, weil Nilghai mich gelehrt, was die deutsche Armee damals erfahren und was der General Schmidt ihrer Kavallerie beigebracht hatte. Ich kann nicht deutsch. Wie heißt es? ›Achtet auf das Tempo, und die Richtung wird sich von selbst ergeben.‹ Ich muß meine Linie nach meinem eigenen Takte reiten, alter Freund.«

»Tempo ist Richtung! Sie haben Ihre Lektion gut gelernt,« sagte Nilghai. »Er muß allein gehen, er spricht die Wahrheit, Torp.«

»Es kann sein, daß ich mich irre. Ich muß das selbst herausfinden, ebenso wie ich mir die Sujets selbst ausdenken muß; aber ich darf nicht meinen Kopf umdrehen, um mich nach dem Nebenmanne zu richten. Es schmerzt mich viel mehr, als ihr glaubt, daß ich nicht im stande bin, fortzugehen, aber ich kann nicht, das ist alles. Ich muß meine Arbeit verrichten und mein Leben hinbringen auf meine eigene Weise, weil ich für beides verantwortlich bin. Nur denken Sie ja nicht, daß ich leichtfertig handle, Torp. Ich habe meine eigenen Zündhölzchen und Schwefel und will mir meine eigene Hölle bereiten.«

Es trat eine unbehagliche Pause ein; dann sagte Torpenhow sanft: »Was sagte der Gouverneur von Nord-Carolina zum Gouverneur von Süd-Carolina?«

»Ein ausgezeichneter Gedanke. ›Es ist eine lange Pause zwischen dem Trinken.‹ In Ihnen steckt der Stoff zu einem feinen, aufgeblasenen Fant, Dick,« sagte Nilghai.

»Ich habe mein Gemüt erleichtert, achtungswerter Binkie mit den Federn im Maul.« Dick nahm den noch immer unwilligen Hund auf und schüttelte ihn zärtlich. »Du warst in einen Sack gebunden und mit verbundenen Augen wie ein Blinder umhergelaufen, Binkie, ohne jeden Grund, und das hat Deine kleinen Gefühle verletzt. Mach Dir nichts daraus. Sic volo, sic jubeo, stat pro ratione voluntas, und niese mir nicht in mein Auge, weil ich lateinisch spreche. Gute Nacht.«

Er verließ das Zimmer.

»Das ist deutlich etwas für Sie,« bemerkte Nilghai. »Ich sagte Ihnen ja, es sei vergeblich, sich hineinzumengen. Es hat ihm durchaus nicht gefallen.«

»Er hätte über mich geflucht, wenn es nicht der Fall gewesen. Ich kann es nicht herausbekommen. Er hat das Reisefieber im Leibe und will nicht fortgehen. Ich hoffe nur, daß er nicht eines Tages fortgehen muß, wenn er es nicht nötig hat,« sagte Torpenhow.

*

In seinem eigenen Zimmer stellte Dick sich selbst eine Frage – diese Frage war, ob die ganze Welt mit allem, was darin ist, sowie das glühende Verlangen, dieselbe auszubeuten, ein Dreipennystück wert sei, das in die Themse geworfen worden war.

»Es kam vom Anblick der See; ich bin wirklich ein schlechter Kerl, noch darüber nachzudenken,« entschied er. »Schließlich wird in den Flitterwochen jene Tour stattfinden – natürlich mit einigen Einschränkungen; nur glaubte ich wirklich nicht, daß die See eine solche Gewalt über mich habe. Ich würde es nicht so arg fühlen, wenn ich mit Maisie zusammen wäre. Diese verdammten Lieder waren daran schuld. Er fängt schon wieder an.«

Doch es war nur Garricks Serenade an Julia, welche Nilghai sang; und bevor dieselbe zu Ende war, erschien Dick wieder auf der Thürschwelle, keineswegs vollständig bekleidet, aber in der richtigen Stimmung, durstig und friedlich gesinnt.

Der Schlamm war mit der steigenden und fallenden Flut beim Fort Keeling gekommen und gegangen.

Neuntes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Während des Restes der Woche arbeitete er gar nichts. Dann kam wieder der Sonntag. Er fürchtete sich stets vor diesem Tage und sehnte sich auch wieder nach demselben, aber seitdem das rothaarige Mädchen ihn skizzirt hatte, überwog die Furcht bei ihm die Sehnsucht. Er fand, daß Maisie seine Ratschläge hinsichtlich des Konturenzeichnens vollständig vernachlässigt hatte. Sie hatte wohl zwanzig Skizzen gemacht von irgend einem albernen Studienkopf. Es kostete Dick große Anstrengung, seinen Unmut zu unterdrücken.

»Wozu nützt es, Ihnen guten Rat zu geben?« sagte er spitzig.

»Ah, aber das wird ein Bild geben, ein wirkliches Bild; ich weiß, daß Kami mir erlauben wird, es in den Salon zu schicken. Meinen Sie nicht?«

»Ich glaube es kaum. Sie werden aber keine Zeit mehr haben für den Salon.«

Maisie zögerte ein wenig, sie fühlte sich selbst etwas unbehaglich. »Wir gehen deshalb einen Monat früher hinüber nach Frankreich. Ich will das Sujet hier fertig skizziren und bei Kami ausarbeiten.«

Dicks Herz stand still; auch war es nahe daran, daß seine Königin, die nichts Unrechtes thun konnte, ihm verleidet wurde. »Gerade nun ich dachte, ich wäre ein gutes Stück bei ihr vorwärts gekommen, geht sie fort, um Schmetterlingen nachzujagen. Es ist zum Verrücktwerden.«

Es war nicht möglich, sie zu überreden, da das rothaarige Mädchen sich im Atelier befand. Dick konnte nur wie ein unausgesprochener Vorwurf aussehen.

»Es thut mir sehr leid,« sagte er endlich, »und ich bin überzeugt, daß Sie einen Irrtum begehen. Doch was ist denn das Sujet Ihres neuen Bildes?«

»Ich entnahm es einem Buche.«

»Das ist schlimm, um anzufangen. Bücher sind nicht die Orte, aus denen man Stoffe zu Bildern nimmt. Und –«

»Dieses ist es,« sagte das rothaarige Mädchen hinter ihm. »Ich las es Maisie neulich vor, aus ›Die Stadt der schrecklichen Nacht‹. Kennen Sie das Buch?«

»Ein wenig. Ich bedaure, daß ich etwas gesagt habe. Es sind wirklich Bilder darin. Was hat ihre Phantasie gefesselt?«

»Die Beschreibung der Melancholie.

Die ruhende Schwinge, wie sie Adler schlagen.
Jedoch zu machtlos, um den Stolz zu tragen
Der erdgebor’nen königlichen Kraft.

»Und hier weiter (Maisie, bitte, mache den Thee!)

Die Stirn wehmütiger Gedanken voll,
Das Schlüsselbund, der Hausfrau Kleiderschnitt,
        Gezähnelt, weit gebauscht, doch steif das Ganze
        Wie eine Bombe und von lichtem Glanze,
Ein Schuh, der alle Schwachheit niedertritt.“

Das junge Mädchen machte nicht den geringsten Versuch, den Spott, die Verachtung ihrer trägen Stimme zu verbergen.

Dick zuckte zusammen.

»Aber das ist ja bereits gemalt worden von einem obskuren Künstler Namens Dürer,« sagte er.

»Wie lautet das Gedicht weiter?«

Vor drei Jahrhunderten und sechzig Jahren
Mit seines Denkens hehrer Zauberwelt.

»Sie könnten ebenso gut versuchen den ›Hamlet‹ noch einmal zu schreiben. Es ist nichts als Zeitverschwendung.«

»Nein, das ist es nicht,« sagte Maisie, die Theetassen klirrend niedersetzend, um sich zu beruhigen. »Ich beabsichtige wirklich, es zu thun. Können Sie nicht einsehen, was für ein schönes Bild das geben wird?«

»Wie, zum Teufel, kann jemand eine Arbeit ausführen, wenn er nicht die erforderliche Übung dazu hat? Jeder Narr kann einen Gedanken, ein Sujet bekommen. Es erfordert Übung, die Sache durchzuführen – Übung und Überzeugung, nicht ein Nachjagen hinter der ersten besten Idee.«

»Sie verstehen mich nicht,« entgegnete Maisie »Ich denke, daß ich es fertig bringen kann.« Wieder ertönte die Stimme des Mädchens hinter ihm:

Ob oft enttäuscht, wirkt rastlos sie und schafft,
        Schafft um so mehr, je mehr der Trieb ihr schwand.
Gestärkt durch ungezähmte Willenskraft,
        Sinnt stets das Hirn und bildet stets die Hand,
Und all ihr Leid muß sich in Arbeit wandeln –

»Ich bilde mir ein, Maisie denkt daran, sich selbst in dem Bilde zu verkörpern.«

»Auf einem Thron von zurückgewiesenen Bildern sitzend?«

»Nein, das werde ich nicht. Der Gedanke an und für sich hat mich gefesselt. – Natürlich, Sie machen sich nichts aus Phantasieköpfen, Dick. Ich glaube kaum, daß Sie welche malen können, Sie lieben Blut und Knochen.«

»Das ist eine direkte Herausforderung. Wenn Sie eine Melancholie malen können, die weiter nichts ist als ein kummervoller weiblicher Kopf, so kann ich eine bessere malen, und ich will es sogar thun. Was wissen Sie von der Melancholie?«

Dick war fest überzeugt, daß er gerade dreiviertel von allem Kummer auf der Welt zu kosten bekam.

»Sie war ein Weib,« antwortete Maisie, »das viel zu erdulden hatte, bis sie es nicht mehr ertragen konnte; dann fing sie an, über all das zu lachen, worauf ich sie malte und in den Salon schickte.«

Das rothaarige Mädchen stand auf und verließ lachend das Zimmer.

Dick sah Maisie demütig und hoffnungslos an. »Denken Sie nicht mehr an das Bild,« sagte er. »Wollen Sie wirklich einen Monat vor der bestimmten Zeit zu Kami zurückkehren?«

»Ich muß, wenn ich das Bild fertig machen will.«

»Und das ist alles, was Sie wollen?«

»Natürlich. Seien Sie nicht so einfältig, Dick.«

»Sie besitzen nicht die Fähigkeit dazu. Sie haben nur die Idee – die Idee und das bißchen wohlfeilen Impuls. Wie Sie beständig zehn Jahre lang bei Ihrer Arbeit haben ausharren können, ist in der That ein Rätsel für mich. Sie wollen also wirklich gehen, einen Monat früher, als Sie es nötig haben?«

»Ich muß meine Arbeit ausführen.«

»Ihre Arbeit, pah! Nein, das wollte ich nicht sagen. Es ist alles gut so, Teuerste. Natürlich müssen Sie Ihr Werk ausführen, und ich denke, ich sage Ihnen Lebewohl für diese Woche.«

»Wollen Sie nicht einmal zum Thee bleiben?«

»Nein, ich danke Ihnen. Erlauben Sie, daß ich gehe? Es gibt ja nichts weiter, wobei Sie besonders meines Beistandes bedürften, und vom Konturenzeichnen ist ja nicht mehr die Rede.«

»Ich wünsche, Sie blieben noch, damit wir über mein Bild sprechen könnten. Wenn nur ein einziges Bild Erfolg hat, so zieht es die Aufmerksamkeit auf alle übrigen. Ich weiß, einige meiner Arbeiten sind gut, wenn die Leute sie nur sehen würden. Sie hatten gar nicht nötig, ihretwegen so streng und grob zu sein.«

»Es thut mir leid. Wir wollen an einem der nächsten Sonntage über die Melancholie sprechen. Es sind deren noch vier, bevor Sie gehen. Leben Sie wohl, Maisie.«

Maisie stand nachdenklich am Fenster des Ateliers, bis das rothaarige Mädchen wieder eintrat, ein wenig bleich um die Mundwinkel.

»Dick ist fortgegangen,« sagte Maisie, »gerade, nun ich ihn nötig hatte, um über das Bild mit ihm zu sprechen. Ist es nicht egoistisch von ihm?«

Ihre Gefährtin öffnete die Lippen, als ob sie etwas sagen wollte, doch schloß sie dieselben wieder und fuhr mit dem Vorlesen »der Stadt der schrecklichen Nacht« fort.

Dick befand sich im Park und ging immer um einen Baum herum, den er an manchen früheren Sonntagen zu seinem Vertrauten erwählt hatte. Er fluchte ganz laut, und als er fand, daß die englische Sprache seiner Wut nicht genügte, suchte er Trost im Arabischen, das expreß zum Gebrauch der Betrübten bestimmt zu sein scheint. Er war durchaus nicht erfreut über den Lohn für seinen geduldigen Dienst, noch weniger über sich selbst, und es dauerte lange, bevor er zu dem Satze gelangte, daß die Königin nichts Unrechtes thun könne.

»Es ist ein verlorenes Spiel,« sagte er. »Ich bin nichts mehr wert, sobald eine Laune von ihr in Frage steht. Doch verdoppelten wir in Port Saïd gewöhnlich den Einsatz und spielten weiter, wenn ein Spiel verloren war. Sie malt eine Melancholie! Sie hat nicht die Fähigkeit dazu, weder die nötige Einsicht noch die Übung, sie hat nur den Wunsch! Sie ist beladen mit dem Fluche von Rubens. Sie will nicht Konturen zeichnen, weil das wirkliche Arbeit bedeutet; dennoch ist sie stärker als ich. Ich werde ihr begreiflich machen, daß ich sie in ihrer eigenen Melancholie schlagen kann. Doch auch dann würde sie sich nicht in acht nehmen. Sie sagt, ich könnte nur Blut und Knochen malen; ich glaube kaum, daß sie Blut in ihren Adern hat. Trotzdem liebe ich sie und muß fortfahren, sie zu lieben, und wenn ich ihre große Eitelkeit demütigen kann, so werde ich es thun. Ich will eine Melancholie malen, die wirklich etwas wie eine Melancholie sein soll – ›die Melancholie, die allen Verstand übertrifft.‹ Ich will es sogleich thun, hol sie der – Gott segne sie!«

Er wurde gewahr, daß die Idee zu dem Bilde sich nicht recht festsetzen konnte und er sein Gemüt nicht auf eine Stunde von dem Gedanken an Maisies Abreise loszureißen vermochte.

Er interessirte sich nur sehr wenig für ihre ersten Studien zu der Melancholie, als er dieselben in der folgenden Woche besah. Die Sonntage flogen rasch vorüber und die Zeit kam, zu der alle Kirchenglocken in London Maisie nicht zu ihm zurückrufen konnten. Ein- oder zweimal sagte er zu Binkie etwas über »hermaphroditische Erbärmlichkeiten«, aber der kleine Hund erhielt so viele vertrauliche Mitteilungen von Torpenhow und Dick, daß er seine tulpenförmigen Ohren gar nicht mit Zuhören belästigte. Es wurde Dick gestattet, die beiden Mädchen abreisen zu sehen. Sie fuhren mit dem Nachtboot von Dover ab und hofften, im August zurückzukehren.

Es war jetzt Februar und Dick fühlte, daß er es kaum aushalten würde. Maisie war so beschäftigt, das kleine Haus jenseits des Parkes auszuräumen und ihre Bilder einzupacken, daß sie keine Zeit zum Denken hatte. Dick begleitete sie nach Dover und verschwendete dort einen Tag mit dem aufregenden Gedanken über eine wundervolle Möglichkeit. Würde Maisie ihm zum Abschied wohl einen kleinen Kuß erlauben? Er überlegte, ob er sie mit Gewalt kapern sollte, wie er im südlichen Sudan Frauen hatte kapern und fortführen sehen; doch Maisie würde sich niemals fortführen lassen. Sie würde ihre grauen Augen auf ihn richten und sagen: »Dick, wie egoistisch sind Sie!« Dann würde ihm der Mut versagen. Es würde besser sein, sie um den Kuß zu bitten.

Maisie sah mehr als sonst zum Küssen aus, als sie aus dem Nachtzuge auf den windigen Quai hinaustrat. Das rothaarige Mädchen sah nicht so reizend aus; ihre grünen Augen waren eingesunken und ihre Lippen trocken. Dick sah die Koffer bereits an Bord und trat an Maisies Seite in das Dunkel unter der Kommandobrücke. Die Postbeutel polterten in den Vorderraum, während das rothaarige Mädchen dieselben beobachtete.

»Sie werden heute nacht eine rauhe Überfahrt haben,« sagte Dick. »Es weht draußen ziemlich heftig. Ich setze voraus, daß ich hinüberkommen und Sie sehen darf, wenn ich brav bin?« »Nein, Sie dürfen nicht. Ich muß fleißig sein. Doch, wenn ich Ihrer bedarf, werde ich Ihnen schreiben. Von Vitry-sur-Marne werde ich Ihnen einen Brief schicken, da ich Sie wegen einer Menge Dinge um Rat fragen muß. O, Dick, Sie sind so gut gegen mich gewesen, so sehr gut!«

»Ich danke Ihnen für diese Worte, Teuerste. Es hat keine Zwistigkeiten, keinen Streit gegeben, nicht wahr?«

»Ich kann keine Lüge aussprechen. Es hat keine gegeben in diesem Sinne. Aber denken Sie nicht, daß ich undankbar bin.«

»Verdammt sei die Dankbarkeit,« sagte Dick heiser, zu dem Radkasten gewendet.

»Was hat es für einen Zweck, uns zu quälen? Sie wissen, daß ich Ihr Leben ruiniren würde, wie Sie das meinige, wie die Dinge jetzt liegen. Erinnern Sie sich an das, was Sie sagten, als Sie an jenem Tage so ärgerlich im Parke waren? ›Einer von uns muß gebrochen werden.‹ Können Sie warten, bis dieser Tag kommt?«

»Nein, Liebe. Ich will Sie ungebrochen haben – ganz für mich allein.«

Maisie schüttelte den Kopf. »Mein armer Dick, was soll ich dazu sagen?«

»Sagen Sie gar nichts. Wollen Sie mir einen Kuß geben? Nur einen einzigen Kuß, Maisie! Ich will schwören, daß ich nicht mehr nehmen werde. Sie könnten es wohl thun; ich kann dann sicher sein, daß Sie dankbar sind.« Maisie hielt ihre Wange hin und Dick nahm sich seinen Lohn in der Dunkelheit. Es war nur ein einziger Kuß, aber ein sehr langer, da keine Zeit für die Dauer desselben festgesetzt worden. Maisie wand sich ärgerlich frei, während Dick beschämt und vom Kopf bis zu den Füßen zitternd dastand.

»Leben Sie wohl, mein Liebling. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Es thut mir leid. Halten Sie sich gesund und machen Sie gute Arbeit – besonders bei der Melancholie. Auch ich will eine malen. Erinnern Sie Kami an mich und seien Sie vorsichtig beim Trinken; das Trinkwasser auf dem Lande ist überall schlecht, aber es ist abscheulich in Frankreich. Schreiben Sie mir, wenn Sie irgend etwas bedürfen, und nochmals, leben Sie wohl! Sagen Sie auch Adieu dem Mädchen mit dem roten Haar und – kann ich nicht noch einen Kuß bekommen? Nein? Sie haben ganz recht. Adieu!«

Ein Ruf sagte ihm, daß es nicht passend sei, auf der Ladebrücke für Postpakete zu bleiben; er erreichte den Quai, als der Dampfer sich zu bewegen begann und folgte demselben mit seinem Herzen.

»Und nichts – nichts auf der weiten Welt hält uns von einander getrennt als ihr Eigensinn. Diese Nachtboote nach Calais sind viel zu klein. Ich werde Torpenhow veranlassen, daß er in den Zeitungen etwas darüber schreibt. Das Boot fängt jetzt schon an zu stampfen.«

Maisie stand, wo Dick sie verlassen hatte, bis sie einen leisen, keuchenden Atem neben sich hörte. Die Augen des rothaarigen Mädchens leuchteten in einer kalten Flamme.

»Er küßte Sie,« sagte sie. »Wie konnten Sie ihm das erlauben, wenn er nichts für Sie ist? Wie durften Sie einen Kuß von ihm annehmen? O, Maisie, lassen Sie uns in die Damenkajüte gehen. Ich bin krank – sterbenskrank.«

»Wir sind noch nicht in offenem Wasser. Gehen Sie hinunter, Teure, ich will hier bleiben. Ich liebe nicht den Geruch der Maschinen. Armer Dick! Er verdiente einen – nur einen. Aber ich dachte nicht, daß er mich so erschrecken würde.«

Dick kehrte am folgenden Tage nach London zurück, gerade zur Lunchzeit, wie er aus Dover telegraphirt hatte. Zu seiner Enttäuschung fand er in seinem Atelier nur leere Schüsseln vor. Er erhob seine Stimme wie der Bär im Märchen, worauf Torpenhow mit schuldiger Miene eintrat.

»Pst!« sagte er. »Machen Sie keinen solchen Lärm; ich nahm Ihr Frühstück. Kommen Sie in mein Zimmer, so werde ich Ihnen den Grund davon zeigen.«

Dick blieb ganz erstaunt auf der Schwelle stehen, denn auf Torpenhows Sofa lag ein schlafendes und schwer atmendes Mädchen. Der kleine, wohlfeile Matrosenhut, der blau und weiß gestreifte Anzug, der mehr für den Juni als für den Februar sich eignete, an den Rändern mit Schmutz bespritzt, das mit imitirtem Astrachan besetzte Jaquet, dessen Nähte an den Schultern aufgetrennt waren, der wohlfeile Regenschirm und vor allem der elende Zustand der mit Ziegenleder besetzten Stiefel erklärten die Sache.

»O, alter Herr, das ist zu schlecht! Sie dürfen diese Art Mädchen nicht herbringen. Dieselben stehlen Sachen aus den Zimmern.«

»Es sieht schlecht aus, das gebe ich zu, aber ich kam nach dem Frühstück zu Hause, als sie in die Halle stolperte. Ich glaubte erst, sie sei betrunken, doch sie wurde ohnmächtig. Unmöglich konnte ich sie liegen lassen, deshalb brachte ich sie hier herauf und gab ihr das für Sie bestimmte Frühstück. Sie war aus Mangel an Nahrung ohnmächtig geworden. Sobald sie gegessen, fiel sie in einen festen Schlaf.«

»Ich weiß etwas von diesem Elende zu erzählen. Sie hat von Wurst gelebt, vermute ich. Torp, Sie hätten sie einem Polizisten übergeben sollen, weil sie sich herausgenommen hat, in einem anständigen Hause ohnmächtig zu werden. Armes kleines Weibchen! Sehen Sie sich das Gesicht an! Es liegt keine Spur von Immoralität in demselben, nur Thorheit, Schwäche, Albernheit, Leichtsinn. Es ist ein typischer Kopf. Sehen Sie, wie die Knochen durch das Fleisch im Gesicht und auf den Backen schimmern?«

»Was das für ein kaltblütiger Barbar ist! Schlagen Sie nicht ein Weib, wenn es heruntergekommen ist. Können wir nicht etwas für sie thun? Sie ist einfach vor Hunger zusammengebrochen und fiel beinahe in meine Arme; als sie dann das Frühstück vor sich hatte, aß sie wie ein wildes Tier. Es war schrecklich.« »Ich kann ihr Geld geben, das sie wahrscheinlich in Getränk verschleudern wird. Schläft sie vielleicht für immer?«

Das Mädchen öffnete die Augen und starrte, zwischen Schrecken und Frechheit, die beiden Männer an.

»Fühlen Sie sich besser?« fragte Torpenhow.

»Ja, ich danke Ihnen, Es gibt nicht viele Gentlemen, die so gütig find, wie Sie es waren. Ich danke Ihnen.«

»Wann haben Sie Ihren Dienst verlassen?« fragte Dick, der die aufgesprungenen und mit Schrammen bedeckten Hände betrachtet hatte.

»Woher wußten Sie, daß ich in Dienst gewesen bin? Ich war Mädchen für alles. Es gefiel mir durchaus nicht.«

»Und wie gefällt es Ihnen, Ihre eigene Herrin zu sein?«

»Sehe ich so aus, als ob es mir gefiele?«

»Ich vermute es nicht. Einen Augenblick! Bitte, seien Sie so gut und wenden Sie Ihr Gesicht dem Fenster zu.«

Das Mädchen gehorchte, während Dick scharf das Gesicht derselben betrachtete – so scharf, daß es versuchte, sich hinter Torpenhow zu verbergen.

»Die Augen haben es,« sagte Dick auf und ab gehend. »Es sind prächtige Augen für meinen Zweck. In jedem Kopfe sind überhaupt die Augen die Hauptsache. Dieses Mädchen ist mir vom Himmel gesandt, um zu ersetzen, was mir fortgenommen. Nun die wöchentliche Aufregung von meinen Schultern genommen ist, kann ich ernstlich ans Werk gehen. Augenscheinlich vom Himmel gesandt. Ja. Bitte, richten Sie Ihr Kinn ein wenig auf.«

»Artig, alter Herr, artig! Sie können jemand um den Verstand bringen vor Angst,« sagte Torpenhow, der sah, wie das Mädchen zitterte.

»Leiden Sie nicht, daß er mich schlägt. O, bitte, leiden Sie es nicht! Ich bin heute schon grausam geschlagen worden, weil ich mit einem Manne sprach, Geben Sie nicht zu, daß er mich so ansieht! Er ist ein Bösewicht, dieser Mann da. O, es kommt mir so vor, als ob ich gar nichts anhätte, wenn er mich so ansieht!«

Die überspannten Nerven in ihrem schwachen Körper gaben nach; das Mädchen weinte wie ein kleines Kind und fing an zu schreien.

»Sie sind hier ganz sicher,« sagte Dick sanft. »Mein Freund kann einen Polizisten holen lassen und Sie können durch jene Thür dort fortlaufen. Kein Mensch will Ihnen etwas zu Leide thun.«

Das Mädchen schluchzte konvulsivisch einige Minuten lang, dann versuchte es zu lachen.

»Gar nichts wird Ihnen geschehen. Nun hören Sie mir ruhig zu. Ich bin, was man einen Künstler von Profession nennt. Sie wissen, was Künstler thun?«

»Sie zeichnen Dinge mit roter und schwarzer Tinte für die Etiketten der Flaschen mit Brauselimonade in den Läden.«

»So ungefähr. Ich habe mich noch nicht bis zu Etiketten für Flaschen mit Brauselimonade aufgeschwungen, die werden von Akademikern gemalt; ich möchte gern Ihren Kopf zeichnen.«

»Weshalb?«

»Weil er hübsch ist. Deshalb werden Sie dreimal wöchentlich in das Zimmer über dem Flur kommen, um elf Uhr morgens; ich werde Ihnen drei Pfund Sterling die Woche dafür geben, daß Sie nur still sitzen und gezeichnet werden. Hier ist ein Pfund auf Abschlag.«

»Für nichts? O, potztausend!« Das Mädchen drehte den Sovereign in der Hand hin und her und weinte vor Freude. »Fürchtet denn keiner von den beiden Gentlemen, daß ich Sie beschwindeln werde?«

»Nein, das thun nur garstige Mädchen. Versuchen Sie es nur und merken Sie sich diese Wohnung. Beiläufig, wie heißen Sie?«

»Ich bin Bessie – Bessie – es hat keinen Zweck, Ihnen den andern Namen zu sagen. Bessie Broke – Steinbruch, wenn es Ihnen beliebt. Wie heißen Sie? Aber – niemand gibt seinen wirklichen Namen an.«

Dick fragte Torpenhow mit den Augen.

»Mein Name ist Heldar, mein Freund heißt Torpenhow. Sie müssen aber ganz bestimmt herkommen. Wo wohnen Sie?«

»Südlich vom Wasser – ein Zimmer – fünf Schilling und sechs Pence die Woche. Machen Sie auch keinen Scherz mit mir wegen der drei Pfund?«

»Sie werden es ja später sehen. Und, Bessie, wenn Sie das nächstemal kommen, so brauchen Sie keine Schminke aufzulegen, denken Sie daran. Es ist schädlich für die Haut; auch habe ich alle Farben, die Sie nur wünschen können.«

Bessie entfernte sich, indem sie ihre Wangen mit einem zerrissenen Taschentuche abrieb. Die beiden Männer sahen einander an.

»Sie sind ein Mann,« sagte Torpenhow.

»Ich fürchte, daß ich ein Thor gewesen bin. Es ist nicht unsere Sache, die Erde zu durchstreifen, um Bessie Brokes zu bessern. Ein Weib, welcher Art dasselbe auch sei, hat keinen Anspruch auf diesen Flur.«

»Vielleicht kommt sie nicht wieder.«

»Sie wird schon kommen, wenn sie glaubt, hier etwas zu essen und Wärme zu finden. Ich weiß, daß sie wiederkommt, leider. Aber denken Sie daran, alter Freund, sie ist kein Weib, sondern mein Modell; und seien Sie vorsichtig.«

»Welche Idee! Sie ist eine liederliche kleine Vogelscheuche – eine Straßendirne und weiter nichts.«

»So glauben Sie. Warten Sie, bis sie etwas herausgefüttert ist und sich nicht mehr fürchtet. Dieser schöne Typus erholt sich außerordentlich rasch. In einer oder zwei Wochen erkennen Sie sie nicht wieder, wenn diese gemeine Furcht aus ihren Augen verschwunden sein wird. Sie wird nur zu glücklich sein und für meine Zwecke auch lächeln.«

»Gewiß nehmen Sie dieselbe doch nur aus Mitleid? – Um mir eine Freude zu machen?«

»Ich habe nicht die Gewohnheit, mit glühenden Kohlen zu spielen, um irgend jemand eine Freude zu machen. Sie ist mir vom Himmel gesandt worden, wie ich vorhin bemerkte, um mir bei meiner Melancholie zu helfen.«

»Niemals bis heute hörte ich ein Wort über diese Dame.«

»Was hat es für einen Vorteil, einen Freund zu besitzen, wenn man seine Ideen ihm in Worten kundgeben muß? Sie müssen wissen, worüber ich nachsinne. Sie haben mich neulich grunzen hören?«

»Ja wohl; aber grunzen bedeutet in Ihrer Sprache alles mögliche vom schlechten Tabak bis zu bösen Kunden. Auch glaube ich nicht, daß ich seit einiger Zeit besonders hoch in Ihrem Vertrauen stehe.«

»Es war ein hohes und seelenvolles Grunzen. Sie müssen doch begriffen haben, daß es die Melancholie bedeutete!« Dick wanderte mit Torpenhow schweigsam im Zimmer auf und ab. Darauf gab er ihm einen Rippenstoß. »Sehen Sie es jetzt noch nicht? Bessies gemeine Leichtfertigkeit, sowie der Schrecken in ihren Augen, zusammengenommen mit einigen Details von Kummer, den ich in letzter Zeit erfahren habe. Aehnlich wie Orange und Schwarz – zwei Hauptfarben jedes. Aber ich kann Ihnen mit leerem Magen nicht das alles erklären.«

»Es klingt verrückt genug. Sie thäten besser, bei Ihren Soldaten zu bleiben, Dick, anstatt über Köpfe, Augen und Erfahrungen zu grübeln.«

»Glauben Sie?« Dick fing an, auf den Hacken zu tanzen und dabei zu singen:

Sie sind stolz wie ein Truthahn, wenn das Geld im Beutel klingt:
Ihr solltet’s hören, wie das jauchzt und lacht!
Sie spassen und sie tollen, so lang die Füchse rollen –
Au! Doch seht sie, ist alles durchgebracht!

Darauf setzte er sich hin, um Maisie sein Herz auszuschütten in einem vier Bogen langen Briefe voll Ratschläge und Ermutigung und schwor einen feierlichen Eid, sich mit ungeteiltem Herzen an die Arbeit zu machen, sobald Bessie wieder erscheinen würde.

Das Mädchen verrichtete sein Amt ungeschminkt und ungeschmückt, abwechselnd erschreckt und übermütig. Als sie gesehen, daß man von ihr nur erwartete, still zu sitzen, wurde Bessie bald ruhiger und machte mit Freimut und nicht ohne Witz, einige Bemerkungen über die Ausstattung des Ateliers. Sie liebte Wärme und Behaglichkeit und Befreiung von Furcht vor körperlichem Schmerz. Dick machte zwei oder drei Studien von ihrem Kopfe in Kreide, doch die wirkliche Idee der Melancholie wollte ihm noch nicht klar werden.

»In welcher Unordnung halten Sie Ihre Sachen!« sagte Bessie einige Tage später, als sie sich bereits vollständig heimisch fühlte. »Ich vermute, Ihre Kleider befinden sich gerade in demselben Zustande. Gentlemen denken niemals daran, wozu Knöpfe und Zwirn da sind.«

»Ich kaufe die Sachen, um sie zu tragen, und trage dieselben so lange, bis sie entzwei gehen. Ich weiß nicht, wie Torpenhow es macht.«

Bessie stellt? eine genaue Untersuchung im Zimmer des letzteren an und zog einen ganzen Ballen zerrissener Socken aus den Winkeln hervor. »Einige davon will ich jetzt ausbessern,« sagte sie, »und die übrigen mit nach Hause nehmen. Wissen Sie, ich sitze den ganzen langen Tag zu Hause und thue nichts, gerade wie eine Lady, und bekümmere mich nicht mehr um die übrigen Mädchen im Hause, als ob sie alle Fliegen wären. Ich spreche nie ein Wort mit ihnen, außer den allernotwendigsten, und ducke sie sehr bald nieder, wenn sie mit mir reden, das kann ich Sie versichern. Nein; es war sehr nett die letzten Tage über. Ich schließe meine Thür ab, während sie mir durch das Schlüsselloch alle möglichen Schimpfworte zurufen und ich wie eine Lady im Zimmer sitze, Socken ausbessernd. Mr. Torpenhow zerreißt seine Socken an beiden Enden zugleich.«

»Drei Sovereigns wöchentlich von mir und der Genuß meiner Gesellschaft. Keine Socken mehr stopfen. Nichts mit Torp, als hin und wieder ein Kopfnicken auf dem Flur und seine sämtlichen Socken ausgebessert. Bessie ist ganz und gar ein Weib,« dachte Dick und blickte zwischen seinen halbgeschlossenen Augen auf dieselbe. Nahrung und Ruhe hatten das Mädchen vollständig verändert, wie Dick es vorhergesagt.

»Weshalb sehen Sie mich so an?« fragte sie rasch. »Thun Sie es nicht. Sie sehen immer ganz böse uns, wenn Sie mich so anblicken. Sie halten nicht viel von mir, nicht wahr?«

»Das hängt davon ab, wie Sie sich betragen.«

Bessie betrug sich wundervoll. Am Schlusse der Sitzung war es indes schwierig, sie aufzufordern, wieder fortzugehen. Sie zog das Atelier und einen Sessel am Ofen vor und benützte einige Socken in ihrem Schoße als Vorwand, länger dort zu bleiben. Dann würde Torpenhow hereinkommen und Bessie veranlassen, einige seltsame und wunderbare Geschichten aus ihrer Vergangenheit zu erzählen und noch seltsamere über ihre gegenwärtigen verbesserten Umstände. Sie würde ihnen dann Thee machen, als ob sie das Recht dazu hätte. Bei solchen Gelegenheiten bemerkte Dick einigemale, wie Torpenhows Augen auf der hübschen kleinen Gestalt ruhten, und da Bessies Umherflattern im Zimmer Dick mit glühender Sehnsucht nach Maisie erfüllte, so begriff er bald, wohin Torpenhows Gedanken strebten. Bessie nahm sich auch mit großer Sorgfalt Torpenhows Wäsche an. Sie sprach nur sehr wenig mit ihm, doch plauderten sie zuweilen mit einander auf dem Flur.

»Ich war ein großer Thor,« sagte sich Dick. »Ich weiß, was roter Feuerschein bedeutet, wenn ein Mann durch eine fremde Stadt wandert; unser Leben ist ein einsames, egoistisches im besten Falle. Ich wundere mich, daß Maisie das nicht mitunter fühlt. Aber ich kann Bessie nicht fortschicken. Das ist das Schlimmste, wenn man eine Sache anfängt, daß man nie weiß, wo sie aufhört.«

Nach einer bis zum Einbruch der Dämmerung verlängerten Sitzung wurde Dick eines Abends aus einem Schläfchen durch eine schluchzende Stimme in Torpenhows Zimmer aufgescheucht. Er sprang sofort auf. »Was soll ich jetzt thun? Es sieht närrisch aus, wenn ich hineingehe. – O, gesegnet seiest Du, Binkie!« Der kleine Dachshund stieß Torpenhows Thür mit seiner Nase auf und kam heraus, um von Dicks Lehnstuhl Besitz zu ergreifen. Die Thür öffnete sich unbeachtet ganz weit, so daß Dick über den Flur sehen konnte, wie Bessie im Halbdunkel eine Bitte an Torpenhow richtete. Sie kniete neben ihm, während ihre Hände über seinen Knieen gefaltet waren.

»Ich weiß – ich weiß,« sagte sie traurig. »Es ist nicht recht von mir, dieses zu thun, aber ich kann es nicht ändern; Sie waren so gütig – so sehr gütig, und nahmen dann nie wieder Notiz von mir. Ich habe alle Ihre Sachen so sorgfältig ausgebessert – ja, das habe ich gethan. O, bitte, es ist ja gar nicht, als ob ich Sie auffordern wollte, mich zu heiraten; daran würde ich nie denken. Aber könnten Sie mich nicht zu sich nehmen und mit mir leben, bis die rechte Miß kommt? Ich bin nur die unrechte Miß, ich weiß es, aber ich würde für Sie meine Hände bis auf die Knochen abarbeiten. Ich bin ja auch nicht häßlich von Ansehen. Sagen Sie, daß Sie es thun wollen.«

Dick erkannte kaum Torpenhows Stimme, als derselbe antwortete:

»Sehen Sie, Bessie, es hat keinen Zweck. Ich bin verpflichtet, in jeder Minute abzureisen, sowie ein Krieg ausbricht – in jeder Minute, Teure.«

»Was macht das aus? Dann, bis Sie fortgehen, bis Sie gehen. Es ist ja nicht so viel, um was ich bitte, und – Sie wissen nicht, wie gut ich kochen kann.« Sie hatte einen Arm um seinen Nacken gelegt und zog seinen Kopf zu sich herab.

»Nun denn – bis ich fortgehe.«

»Torp,« rief Dick über den Flur; er konnte kaum seine Stimme am Beben verhindern. »Kommen Sie doch einen Augenblick her, alter Herr, Ich bin m Verlegenheit. – Der Himmel gebe, daß er auf mich hört.«

Etwas wie ein Fluch kam über Bessies Lippen. Sie fürchtete sich vor Dick und eilte in panischem Schrecken die Treppen hinunter; doch schien es ein Jahrhundert zu dauern, bevor Torpenhow in das Atelier trat. Er ging zum Kamin, begrub seinen Kopf in den Armen und stöhnte wie ein verwundeter Stier.

»Was für ein Recht, zum Teufel, haben Sie, dazwischen zu treten?« sagte er schließlich.

»Wer tritt dazwischen und weshalb? Ihr eigener Verstand sagte Ihnen schon vor längerer Zeit, daß Sie nicht ein solcher Thor sein könnten. Es war eine scharfe Versuchung, Sankt Antonius, aber jetzt sind Sie wieder ganz in Ordnung.«

»Ich mochte nicht sehen, wie sie sich in diesen Zimmern bewegte, als ob dieselben ihr gehörten. Das brachte mich so in Aufregung; es erfüllt einen einsamen Mann mit einer Art von Sehnsucht, nicht wahr?« sagte Torpenhow etwas kläglich.

»Jetzt sprechen Sie vernünftig. Ja, es ist der Fall; da Sie aber nicht in der Lage sind, über die Nachteile einer doppelten Haushaltung nachzudenken, wissen Sie, was Sie nun thun sollten?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie müssen eine Zeit lang fortgehen und eine amüsante Tour machen, um die richtige Stimmung wieder zu erlangen. Sie gehen nach Brighton oder Scarborough und Prawle Point, um die Schiffe abfahren und ankommen zu sehen, und zwar werden Sie sofort abreisen. Ist es nicht das Beste? Ich werde für Binkie sorgen, aber Sie gehen ohne Zögern fort. Man widersteht nie dem Teufel; er hält die Bank. Fliehen Sie vor ihm. Packen Sie Ihre Sachen und gehen Sie fort.«

»Ich glaube, Sie haben recht. Wohin soll ich gehen?«

»Und Sie nennen sich einen Spezialkorrespondenten! Packen Sie nur erst und nachher fragen Sie.« Eine Stunde später war Torpenhow in ein Kabriolet spedirt und in die Nacht hinausgeschickt worden.

»Während des Fahrens wird Ihnen gewiß irgend ein Ort einfallen, wohin Sie gehen können,« sagte Dick. »Fahren Sie nach Euston, um anzufangen, und, o ja – betrinken Sie sich heute nacht.«

Er kehrte in sein Atelier zurück und zündete noch einige Kerzen an, da ihm das Gemach sehr dunkel vorkam.

»O, du Jesabel! Du leichtfertige, kleine Jesabel! Wirst du mich morgen nicht hassen? – Binkie, komm her.«

Binkie drehte sich auf dem Rücken auf der Decke vor dem Kamin, wahrend Dick ihn nachdenklich mit dem Fuße hin und her wandte.

»Ich sagte, sie wäre nicht unmoralisch. Ich hatte unrecht. Sie sagte, sie könne kochen, das zeigte vorbedachte Sünde. O, Binkie, wenn Du ein Mann wärest, würdest Du ins Verderben geraten; wärest Du aber ein Weib und sagtest, Du könntest kochen, so würdest Du nach einem noch viel schlimmeren Orte gehen.«

Dreizehntes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

»Maisie, gehen Sie zu Bett.«

»Es ist so heiß, ich kann nicht schlafen. Quälen Sie mich nicht.«

Maisie lehnte sich mit den Ellenbogen aufs Fensterbrett und blickte auf den im Mondlicht liegenden geraden, von Pappeln eingefaßten Weg. Der Sommer hatte Vitry-sur-Marne völlig ausgedörrt; das Gras auf den Wiesen war verbrannt, die Kreide an den Ufern des Flusses war zu Ziegeln gebrannt, die Blumen an den Seiten des Weges waren seit langer Zeit verdorrt und die Rosen im Garten hingen vertrocknet an ihren Stielen. Die Hitze in dem niedrigen kleinen Schlafzimmer unter der Dachrinne war fast unerträglich. Das Mondlicht an den Wänden von Kamis Atelier über der Straße schien die Nacht noch heißer zu machen, während der Schatten des großen Glockengriffes an der geschlossenen Thüre einen Strich von schwarzer Tinte bildete, der Maisies Auge beleidigte.

»Abscheuliches Ding! Es müßte alles weiß sein,« murmelte sie. »Auch ist die Thür nicht in der Mitte der Wand. Ich habe das früher gar nicht bemerkt.«

Es war Maisie in dieser Stunde nichts recht zu machen. Erstens hatte die Hitze der letzten Wochen sie sehr ermattet; dann war ihre Arbeit, und besonders die Studie eines weiblichen Kopfes, der die Melancholie darstellen sollte, nicht zur richtigen Zeit fertig geworden und unbefriedigend ausgefallen; drittens hatte Kami vor zwei Tagen vieles daran auszusetzen gehabt, und viertens hatte Dick, ihr Eigentum, seit länger als sechs Wochen nicht mehr an sie geschrieben. Sie war ärgerlich über die Hitze, über Kami, über ihre Arbeit, am meisten jedoch über Dick.

Sie hatte demselben dreimal geschrieben – jedesmal eine neue Bearbeitung ihrer Melancholie vorschlagend – und Dick gar keine Notiz von diesen Mitteilungen genommen. Sie war entschlossen, nicht mehr an ihn zu schreiben. Wenn sie im Herbst nach England zurückkehrte – denn ihr Stolz duldete keine frühere Rückkehr – würde sie mit ihm reden. Die Konferenzen an den Sonntagnachmittagen fehlten ihr mehr, als sie zugeben wollte. Alles, was Kami sagte, war: » Continuez, mademoiselle, continuez toujours!« und er hatte diesen langweiligen Rat während des ganzen heißen Sommers wiederholt, gerade wie eine Grille – eine alte graue Grille in einem schwarzen Alpakarocke, weißen Beinkleidern und einem mächtig großen Filzhute. Aber Dick war gebieterisch in ihrem kleinen Atelier in London auf und nieder geschritten und hatte zehnmal schlimmere Dinge als » continuez« gesagt, ehe er ihr den Pinsel aus der Hand nahm und ihr zeigte, worin sie geirrt. Sein letzter Brief enthielt, wie sich Maisie erinnerte, einige triviale Ratschläge, daß sie nicht in der Sonne Skizzen machen und kein Wasser in den Bauernhäusern am Wege trinken solle; und er hatte das nicht einmal, sondern dreimal gesagt – als ob er nicht wüßte, daß Maisie sich selbst in acht nehmen könne!

Aber womit war er beschäftigt, daß er keine Zeit hatte, an sie zu schreiben? Ein Murmeln von Stimmen auf der Straße veranlaßte sie, sich zum Fenster herauszulehnen. Ein Kavallerist von der kleinen Garnison der Stadt plauderte mit Kamis Köchin; der Mondschein glitzerte aus seiner Säbelscheide, die er in der Hand hielt, um ein störendes Klappern zu verhindern. Die Mütze der Köchin warf einen tiefen Schatten auf ihr Gesicht, das sich dicht bei dem des Soldaten befand. Dieser legte seinen Arm um ihre Taille, worauf das Geräusch eines Kusses erfolgte.

»Pfui!« sagte Maisie zurücktretend.

»Was gibt’s?« fragte das rothaarige Mädchen, das sich unruhig auf seinem Bette umherwarf.

»Nur einen Soldaten, der die Köchin küßt,« erwiderte Maisie. »Sie sind jetzt fortgegangen.« Sie lehnte sich wieder zum Fenster heraus und nahm einen Shawl über ihr Nachtkleid zum Schutze gegen die Kälte, denn es wehte eine leichte Nachtbrise. Wäre es möglich, daß Dick seine Gedanken von ihrer und seiner eigenen Arbeit abgewendet hätte, um so tief zu sinken wie Susanne und der Soldat? Das konnte er nicht! Dick konnte es nicht; »weil,« dachte Maisie, »er mir gehört, mir. Er sagte es ja selbst. Es ist wahr, ich bekümmere mich nicht um das, was er thut; es wird nur seiner Arbeit schaden und der meinigen dazu, wenn er es thut.«

Es war durchaus kein Grund vorhanden, weshalb Dick sich nicht belustigen sollte, wenn es ihm beliebte, ausgenommen, daß er durch die Vorsehung, die Maisie war, berufen worden war, Maisie bei ihrer Arbeit beizustehen. Ihre Arbeit bestand darin, Bilder zu malen, die zuweilen an englische Provinzialausstellungen geschickt wurden, wie die Notizen in den Katalogen bewiesen, und die der Salon unabänderlich zurückwies, wenn sie Kami so lange gequält hatte, bis er ihr gestattete, dieselben einzusenden. Ihre Arbeit für die Zukunft würde, wie es schien, darin bestehen, Bilder genau in ähnlicher Weise zu malen, die genau auf dieselbe Weise zurückgewiesen würden.

Das rothaarige Mädchen wälzte sich voll Verzweiflung aus seinem Bette und stöhnte: »Es ist zu heiß zum Schlafen.«

Genau auf dieselbe Weise. Sie würde dann ihre Jahre zwischen ihrem kleinen Atelier in England und Kamis großem Atelier in Vitry-sur-Marne zubringen. Nein, sie wollte zu einem andern Meister gehen, der sie zwingen würde, Erfolg zu haben, auf den sie ein Recht hatte, wenn geduldige Arbeit und verzweifelte Ausdauer jemand ein Recht zu etwas geben. Dick hatte gesagt, daß er zehn Jahre gearbeitet habe, um seine Kunst zu verstehen. Sie hatte ebenfalls zehn Jahre lang gearbeitet und zehn Jahre bedeuteten nichts. Dick hatte gesagt, zehn Jahre wären nichts – aber doch nur in Bezug auf sie selbst. Er hatte auch gesagt – dieser selbe Mann, der keine Zeit zum Schreiben finden konnte, daß er zehn Jahre auf sie warten wolle, und daß sie früher oder später zu ihm zurückkehren müsse. Er hatte dieses in einem albernen Brief über Sonnenstich und Diphtheritis gesagt und dann aufgehört zu schreiben. Er lief im Mondschein die Straßen auf und ab und küßte Köchinnen. Sie möchte ihm am liebsten jetzt gleich Vorwürfe machen – natürlich nicht in ihrem Nachtgewande, sondern gehörig gekleidet – streng und von oben herab. Aber wenn er andere Mädchen küßte, würde er sich gewiß nichts daraus machen, ob sie ihm Vorlesungen hielte oder nicht; er würde sie auslachen.

Maisie stützte ihr Kinn auf die Hand und entschied, daß gar kein Zweifel an der Schlechtigkeit Dicks bestehe. Um sich selbst zu rechtfertigen, begann sie, ganz unweiblich, den Beweis festzustellen. Es war da ein Knabe, der gesagt, daß er sie liebe; derselbe küßte sie auf die Wange bei einem gelben Seemohn, der mit dem Kopfe dazu genickt. Dann kam ein Zwischenraum; andere Männer hatten ihr gesagt, daß sie sie liebten – gerade, wenn sie am eifrigsten mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen. Darauf kehrte der Knabe zurück und hatte ihr gleich bei der zweiten Begegnung gesagt, daß er sie liebe. Dann hatte er – Aber es gab ja gar kein Ende mit all den Dingen, die er gethan. Er hatte ihr seine Zeit und sein Talent gewidmet, mit ihr über Kunst, Haushaltung, Technik, Theetassen, den Mißbrauch von Mixpickles als einem Reizmittel gesprochen und ihr den besten Pinsel aus Zobelhaaren geschenkt, den sie noch täglich benutzte; er hatte ihr guten Rat erteilt, von dem sie Gebrauch gemacht, und hin und wieder einen Blick ihr zugeworfen. Solch einen Blick! Den eines geprügelten Hundes, der auf ein Wort wartet, um zu den Füßen seiner Herrin zu kriechen. Für all das hatte sie ihm gar nichts gegeben, ausgenommen – hier wischte sie sich den Mund mit dem Aermel ihres Nachtkleides ab – die Erlaubnis, sie einmal zu küssen, noch dazu auf den Mund. Schmachvoll! War das nicht genug, mehr als genug? Und wenn es nicht der Fall, hatte er nicht die Schuld gelöscht dadurch, daß er nicht geschrieben und wahrscheinlich andere Mädchen geküßt?

»Maisie, Sie werden sich erkälten. Kommen Sie und legen Sie sich hin,« sagte die müde Stimme ihrer Gefährtin. »Ich kann nicht einschlafen, so lange Sie im Fenster liegen.«

Maisie zuckte mit den Schultern und antwortete nicht. Sie dachte über die Niedrigkeit von Dick und über andere Schlechtigkeiten nach, mit denen derselbe nichts zu schaffen hatte. Der hartherzige Mondschein würde sie doch nicht schlafen lassen. Derselbe lag wie kaltes Silber auf dem Oberlichte des Ateliers über der Straße; sie starrte unausgesetzt darauf hin. bis ihre Gedanken sich zu verwirren begannen. Der Schatten des großen Glockengriffs wurde bald kürzer, bald länger und verschwand, als der Mond hinter der Weide untertauchte, während ein Hase über den Weg nach seinem Lager hinkte. Darauf strich der Abendwind über das hohe Gras und brachte Kühlung mit sich; an den ausgetrockneten Flüssen brüllte das Vieh. Maisies Kopf sank auf das Fensterbrett; der Knoten ihres schwarzen Haares bedeckte ihre Arme.

»Maisie, wachen Sie auf; Sie werden sich erkälten.«

»Ja, Liebe; ja, Liebe.« Sie stolperte wie ein müdes Kind nach ihrem Bette und murmelte, als sie ihr Gesicht in den Kissen begrub: »Ich denke – ich denke … Aber er hätte doch schreiben müssen.«

Der Tag brachte die gewöhnliche Arbeit des Ateliers, den Geruch von Farbe und Terpentin, sowie die monotone Weisheit Kamis, der ein schwerfälliger, bleierner Künstler, aber ein goldener Lehrer war, wenn ihm der Schüler nur sympathisch erschien. Mit Maisie war das an jenem Tage nicht der Fall, so daß sie ungeduldig das Ende ihrer Arbeit erwartete. Sie wußte, wenn es kam, denn Kami würde seinen schwarzen Alpakarock hinten in einem Bündel zusammenraffen und mit mattblauen Augen, die weder Schüler noch Leinwand sahen, in die Vergangenheit zurückblicken, um die Geschichte eines gewissen Binat in Erinnerung zu bringen. »Sie alle haben es nicht so schlecht gemacht wie der,« würde er sagen. »Aber

Sie müssen daran denken, daß es nicht genügt, Methode zu haben, Kunst und Talent, oder dasjenige, was man Strich nennt, zu besitzen, sondern Sie müssen auch die Überzeugung haben, die die Arbeit an die Wand nagelt. Von den vielen Schülern, die ich gehabt,« – hier begannen die Schüler Heftzwicken loszumachen oder ihre Farben zusammenzupacken – »war Binat der beste. Alles, was Studium, Arbeit und Wissen geben können, besaß er, als er zu mir kam; nachdem er mich verlassen, konnte er alles leisten, was mit Farbe, Form und Kenntnis zu leisten ist, nur die Überzeugung fehlte ihm. Deshalb höre ich heute nichts mehr von Binat – dem besten meiner Schüler – und das ist schon lange her; deshalb werden Sie auch froh sein, heute nichts mehr von mir zu hören. Continuez, mesdemoiselles, und, vor allen Dingen, mit Überzeugung.«

Er ging in den Garten, um zu rauchen und über den verlorenen Binat zu trauern, als die Schüler und Schülerinnen sich in ihre verschiedenen Wohnungen zerstreuten oder im Atelier noch trödelten, um Pläne zu machen, wo sie die Kühle des Nachmittags genießen wollten.

Maisie blickte auf ihre unglückselige Melancholie, unterdrückte den Wunsch, derselben eine Grimasse zu machen, und eilte dann über die Straße, um einen Brief an Dick zu schreiben, als sie einen großen Mann auf einem weißen Militärpferde bemerkte. Wie Torpenhow es fertig gebracht hatte, im Laufe von vierundzwanzig Stunden seinen Weg zu den Herzen der in Vitry-sur-Marne liegenden Kavallerieoffiziere zu finden, mit ihnen über die Gewißheit einer glorreichen Revanche für Frankreich zu sprechen, den Colonel zu Thränen reinster Leutseligkeit zu rühren und das beste Pferd der Schwadron zu einem Ritte nach Kamis Atelier zu entlehnen, ist ein Rätsel, das nur Spezialkorrespondenten lösen können.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er. »Es scheint eine alberne Frage zu sein, aber ich kenne sie in der That nicht bei einem andern Namen: befindet sich hier eine junge Dame, die Maisie heißt?«

»Ich bin Maisie,« lautete die Antwort aus den Tiefen eines großen Sommerhutes.

»Ich muß mich selbst vorstellen,« sagte er, während das Pferd in dem blendend weißen Staube sich bäumte. »Mein Name ist Torpenhow. Dick Heldar ist mein bester Freund, und – und – Thatsache ist, daß er blind geworden ist.«

»Blind!« rief Maisie einfältig aus. »Er kann nicht blind sein!«

»Er ist seit beinahe zwei Monaten stockblind.« Maisie richtete ihr Gesicht auf, das ganz weiß geworden. »Nein, nein! Nicht blind! Ich will ihn nicht blind haben!«

»Würde Ihnen daran liegen, ihn selbst zu sehen?« fragte Torpenhow.

»Jetzt – sogleich?«

»O nein! Der Pariser Zug geht hier erst um acht Uhr abends durch. Es wird hinreichend Zeit sein.«

»Schickte Mr. Heldar Sie zu mir?«

»O nein, gewiß nicht! Dick würde etwas derartiges nicht thun. Er sitzt in seinem Atelier und dreht einige Briefe hin und her, die er nicht lesen kann, weil er blind ist.«

Ein erstickter Ton ließ sich unter dem Sonnenhute vernehmen, Maisie neigte ihren Kopf und ging in die Cottage, wo das rothaarige Mädchen auf dem Sofa lag und über Kopfweh klagte.

»Dick ist blind!« sagte Maisie, schnell atmend, als sie sich gegen eine Stuhllehne stützte. »Mein Dick ist blind!«

»Was?« rief das Mädchen aus, vom Sofa aufspringend.

»Ein Mann ist von England herüber gekommen, um es mir mitzuteilen. Er hat seit sechs Wochen nicht an mich geschrieben.«

»Werden Sie zu ihm gehen?«

»Ich muß wohl daran denken.«

»Denken! Ich würde nach London zurückkehren und ihn sehen, ich würde seine Augen küssen und wieder küssen, bis sie wieder gut würden! Wenn Sie nicht gehen, werde ich gehen. O, was rede ich doch so? Sie böse kleine Blödsinnige! Gehen Sie sofort zu ihm, gehen Sie!«

Torpenhows Genick bekam Blasen in der Sonne, dennoch bewahrte er ein Lächeln unendlicher Geduld, als Maisie mit unbedecktem Kopfe im Sonnenschein erschien.

»Ich komme,« sagte sie mit niedergeschlagenen Augen.

»Dann bitte ich, daß Sie diesen Abend um sieben Uhr an der Station in Vitry sind.« Das war ein Befehl von jemand, der gewöhnt war, daß man ihm gehorchte. Maisie erwiderte nichts, aber sie war dankbar dafür, daß es keine Möglichkeit gab, mit diesem großen Manne zu disputiren, der alles für bewilligt annahm und das unruhige Pferd mit einer Hand regierte. Sie kehrte zu dem rothaarigen Mädchen zurück, das bitterlich weinte, und mit Thränen, Küssen, Menthol, Einpacken und einer Unterredung mit Kami ging der schwüle Nachmittag vorüber. Die Gedanken konnten später kommen. Ihre augenblickliche Pflicht war, zu Dick zu gehen – Dick, der diesen wunderlichen Freund besaß, im Dunkeln saß und mit ihren uneröffneten Briefen spielte.

»Aber was werden Sie machen?« fragte sie ihre Gefährtin.

»Ich? O, ich werde hier bleiben und Ihre Melancholie vollenden,« sagte sie, traurig lächelnd.

»Schreiben Sie mir später.«

An jenem Abend lief ein Gerücht durch Vitry-sur-Marne von einem verrückten Engländer, der zweifellos am Sonnenstich litt, sämtliche Offiziere der Garnison unter den Tisch getrunken, ein Pferd aus den Stallen entliehen hatte und dann nach englischer Sitte mit einem von diesen mehr als verrückten englischen Mädchen, die unter der Leitung dieses guten Monsieur Kami Bilder zeichneten, davongelaufen war.

»Sie sind wirklich drollig,« sagte Susanne zu ihrem Soldaten im Mondschein hinter der Wand des Ateliers, »Sie ging immer mit diesen großen Augen umher, die nichts sahen, und doch küßte sie mich auf beide Wangen, als ob sie meine Schwester wäre, und schenkte mir – sieh – zehn Franken!«

Der Soldat erhob eine Kontribution von beiden Gaben, denn er war stolz darauf, ein guter Soldat zu sein.

Torpenhow sprach nur sehr wenig mit Maisie wahrend der Reise nach Calais, doch sorgte er aufmerksam für alle ihre Bedürfnisse, verschaffte ihr ein Coupé für sich und ließ sie allein. Er war überrascht, daß die ganze Angelegenheit so leicht ausgeführt worden war.

»Das beste wird sein, sie allein über die Sache nachdenken Zu lassen. Nach Dick zu urteilen, muß sie ihn ganz gehörig unter ihrem Befehl gehalten haben. Es wundert mich, daß sie jetzt so willig gehorcht.«

Maisie sprach kein Wort. Sie saß in dem leeren Coupé oft mit geschlossenen Augen, um sich das Gefühl der Blindheit zu vergegenwärtigen. Es war ein Befehl, daß sie rasch nach London zurückkehren sollte, und schließlich fing sie an, sich über die Situation zu freuen. Das war besser, als sich um das Gepäck und eine rothaarige Freundin zu bekümmern, die niemals das geringste Interesse für ihre Umgebung hatte. Aber es lag ein Gefühl in der Luft, als ob sie, Maisie, bei allen Leuten in Ungnade gefallen sei. Sie rechtfertigte ihr Benehmen sich selbst gegenüber mit vielem Erfolge, bis Torpenhow auf dem Dampfboote zu ihr kam und ohne jede Vorrede die Geschichte von Dicks Blindheit zu erzählen begann, nur einige Einzelheiten fortlassend, aber länger bei dem Elende des Delirirens verweilend. Er hielt inne, bevor er zu Ende war, als ob er das Interesse an dem Gegenstände verloren hätte, und ging nach vorn, um zu rauchen. Maisie war wütend über ihn und sich selbst.

In größter Eile wurde sie von Dover nach London befördert, beinahe, ohne daß ihr Zeit zum Frühstücken gelassen wurde, und dann höflichst gebeten, in einem Hausflur vor einigen Stufen zu warten, während Torpenhow hinaufging, um Erkundigungen einzuziehen. Wieder ließ das Bewußtsein, daß sie wie ein unartiges kleines Mädchen behandelt würde, ihre bleichen Wangen erröten. Alles war Dicks Schuld, daß er so albern gewesen, zu erblinden. Torpenhow führte sie dann zu einer verschlossenen Thüre, die er leise öffnete. Dick saß am Fenster mit auf die Brust herabgesunkenem Kinn; in seinen Händen befanden sich drei Briefumschläge, die er hin und her drehte. Der große Mann, der ihr so Befehle erteilt, stand nicht mehr an ihrer Seite, und die Thüre des Ateliers fiel hinter ihr ins Schloß.

Dick steckte die Briefe in seine Tasche, als er das Geräusch hörte. »Hallo, Torp! Sind Sie das? Ich bin so allein gewesen.«

Seine Stimme hatte die den Blinden eigentümliche Klanglosigkeit. Maisie drückte sich in eine Ecke des Zimmers. Ihr Herz pochte heftig, so daß sie eine Hand auf die Brust legte, um es ruhig zu halten. Dick starrte direkt auf sie hin; sie sah zum erstenmale, daß er blind sei. Ihre Augen in einem Eisenbahnwaggon schließen und sie wieder öffnen, wenn es ihr beliebte, war kindische Spielerei; dieser Mann war blind, obgleich seine Augen weit offen standen.

»Torp, sind Sie es? Man sagte mir, Sie würden kommen.« Dick sah verwirrt und etwas ärgerlich über dieses Stillschweigen aus.

»Nein, ich bin es nur,« lautete die Antwort in einem nur mit Mühe hervorgebrachten Flüstern. Maisie konnte kaum ihre Lippen bewegen.

»Hm!« sagte Dick gelassen, ohne sich zu rühren. »Das ist ein neues Phänomen. Ich gewöhne mich allmälich an die Dunkelheit, aber ich weigere mich, Stimmen zu hören.«

War er wahnsinnig, ebenso wie blind, daß er mit sich selbst sprach? Maisies Herz pochte noch ungestümer, und sie schnappte nach Luft. Dick stand auf und begann sich durch das Zimmer zu tasten, jeden Tisch und jeden Stuhl im Vorübergehen berührend. Einmal blieb er mit dem Fuße in einer rauhen Decke hängen und fluchte, während er niederkniete, um zu fühlen, was ihn am Weitergehen hinderte. Maisie erinnerte sich daran, wie er im Parke gegangen, als ob die ganze Erde ihm gehöre, wie er in ihrem Atelier vor zwei Monaten auf und ab geschritten und auf der Laufplanke des Kanaldampfers gelaufen war. Das Herzklopfen machte sie krank, während Dick näher kam, durch das Geräusch ihres Atemholens geleitet. Sie streckte unwillkürlich eine Hand aus, um ihn abzuwehren oder an sich zu ziehen, sie wußte selbst nicht, was von beiden. Die Hand berührte seine Brust; er prallte zurück, als ob er von einer Kugel getroffen worden wäre.

»Es ist Maisie!« schrie er aufschluchzend. »Was thun Sie hier?«

»Ich kam – ich kam – um Sie zu sehen.«

Dicks Lippen preßten sich zusammen.

»Wollen Sie sich denn nicht setzen? Sie sehen, ich habe Unglück mit meinen Augen gehabt und –«

»Ich weiß, ich weiß. Weshalb teilten Sie es mir nicht mit?«

»Ich konnte nicht schreiben.«

»Sie hätten es Mr. Torpenhow sagen sollen.«

»Was hat derselbe mit meinen Angelegenheiten zu schaffen?«

»Er brachte mich von Vitry-sur-Marne hierher. Er glaubte, ich wollte Sie sehen.«

»Wie, was ist vorgefallen? Kann ich irgend etwas für Sie thun? Nein, ich kann es nicht. Ich vergaß.«

»O, Dick, ich bin so betrübt! Ich bin gekommen, es Ihnen zu sagen und – Lassen Sie mich Sie wieder zu Ihrem Stuhle führen.«

»Thun Sie es nicht! Ich bin kein Kind. Sie thun das nur aus Mitleid. Ich beabsichtigte niemals, Ihnen etwas davon mitzuteilen. Ich bin jetzt zu nichts gut; es ist mit mir vorbei. Lassen Sie mich allein!«

Er griff sich zurück nach seinem Stuhle; seine Brust arbeitete, als er sich niedersetzte.

Maisie betrachtete ihn; die Furcht verschwand aus ihrem Herzen, um bitterer Scham Platz zu machen. Er hatte eine Wahrheit ausgesprochen, die das Mädchen während der eiligen Fahrt nach London vor sich selbst verborgen gehalten, denn es war in der That vorbei mit ihm – nicht gebieterisch erschien er mehr, sondern eher ein wenig abschreckend, kein Künstler mehr, der bedeutender war als sie, noch ein Mann, zu dem man aufblickte – nur ein Blinder, der in einem Stuhle saß und auf dem Punkte zu stehen schien, in Weinen auszubrechen. Sie war unendlich und aufrichtig betrübt seinetwegen – trauriger, als sie jemals in ihrem Leben wegen jemand gewesen – aber nicht betrübt genug, um ihre Worte zu verleugnen. Sie stand daher still und fühlte sich beschämt, sowie etwas getroffen, weil sie aufrichtig beabsichtigt hatte, daß ihre Reise siegreich endigen sollte, und jetzt fühlte sie nur Mitleid, nichts von Liebe.

»Nun?« fragte Dick, sein Gesicht abwendend. »Ich beabsichtigte niemals, Sie noch mit irgend etwas zu belästigen. Um was handelt es sich?«

Er war sich bewußt, daß Maisie nach Atem rang, aber er war ebenso unvorbereitet wie sie selbst auf den Sturm von Erregung, der folgte. Leute, die nicht leicht weinen können, vergießen unaufhaltsam Thränen, wenn die Quellen der großen Tiefe aufgeschlossen werden. Sie war in einen Stuhl gesunken und schluchzte, während sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckte.

»Ich kann nicht – ich kann nicht!« rief sie verzweiflungsvoll aus. »Wirklich, ich kann nicht. Es ist nicht meine Schuld. Ich bin so betrübt, O, Dickie, ich bin so sehr betrübt.«

Dicks Schultern richteten sich auf, denn die Worte trafen ihn wie ein Peitschenschlag. Das Schluchzen dauerte fort. Es ist nicht gut, zu bemerken, daß man in der Stunde der Prüfung unterlegen oder zurückgewichen ist vor der Möglichkeit, Opfer bringen zu müssen.

»Ich verachte mich selbst – wirklich, ich thue es. Aber ich kann nicht. O, Dickie, Sie werden mich nicht bitten – nicht wahr?« jammerte Maisie. Sie blickte eine Minute auf, während Dicks Augen zufällig den ihrigen begegneten. Das unrasirte Gesicht war ganz weiß und entschlossen; die Lippen versuchten ein Lächeln hervorzubringen. Aber es waren diese toten Augen, vor denen Maisie sich fürchtete. Ihr Dick war blind geworden und an seiner Stelle jemand geblieben, den sie kaum wieder erkennen konnte, bis er sprach.

»Wer bittet Sie denn, irgend etwas zu thun, Maisie? Ich sagte Ihnen ja, wie es sein würde. Weshalb quälen Sie sich so? Aus Mitleid für mich, weinen Sie nicht so; es ist wirklich nicht der Mühe wert.«

»Sie wissen nicht, wie sehr ich mich selbst hasse. O, Dick, helfen Sie mir – helfen Sie mir!« Ihr leidenschaftliches Weinen fing an, Dick zu beunruhigen. Er stolperte zu ihr hin und legte seinen Arm um sie, wahrend sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte.

»Still, mein Liebling, still! Weinen Sie nicht, Sie haben ganz recht und sich gar nichts vorzuwerfen – niemals hatten Sie das. Sie sind nur etwas aufgeregt von der Reise und haben vielleicht gar kein Frühstück bekommen. Wie thöricht von Torp, Sie herüber zu holen!«

»Ich verlangte, herzukommen, wirklich,« sagte sie.

»Ganz schön; Sie sind nun gekommen und haben mich gesehen, und ich bin Ihnen unendlich dankbar dafür. Wenn Sie sich etwas erholt haben, so müssen Sie fortgehen und etwas zu sich nehmen. Hatten Sie eine gute Ueberfahrt?«

Maisie unterdrückte ihr Weinen etwas und war zum erstenmale in ihrem Leben froh, daß sie jemand hatte, an den sie sich anlehnen konnte. Dick klopfte sie zärtlich, aber ungeschickt auf die Schulter, denn er war nicht ganz sicher, wo sich ihre Schulter befand.

Sie wand sich schließlich aus seinen Armen los und wartete zitternd und sehr unglücklich. Er hatte sich nach dem Fenster zurückgefühlt, um die Breite des Zimmers zwischen sich und Maisie zu legen und den Aufruhr in seinem Herzen etwas zu beruhigen.

»Befinden Sie sich jetzt besser?« fragte er.

»Ja, aber – hassen Sie mich nicht?«

»Ich Sie hassen? Mein Gott! Ich?«

»Gibt es gar nichts, was ich sonst für Sie thun könnte? Ich will hier in England deswegen bleiben, wenn Sie es wünschen. Vielleicht könnte ich zuweilen herkommen und Sie sehen?«

»O nein, Teuerste. Es wäre gütiger, mich nicht mehr wiederzusehen, ich bitte Sie darum. Ich möchte nicht gerne rauh erscheinen, aber – meinen Sie nicht, daß es vielleicht besser wäre, Sie gingen jetzt?«

Er war sich bewußt, daß er es nicht wie ein Mann ertragen könnte, wenn er sich noch langer bezwingen müßte.

»Ich kann Ihnen in keiner Weise nützlich sein und will deshalb gehen, Dick. O, ich bin so elend, so schlecht!«

»Unsinn. Sie brauchen sich deswegen nicht zu ängstigen; ich würde es Ihnen sonst sagen. Warten Sie einen Augenblick, Liebling, ich möchte Ihnen erst etwas geben. Ich hatte es für Sie bestimmt, noch bevor dieses Unglück anfing. Es ist meine Melancholie; sie war eine Schönheit, als ich sie zuletzt erblickte. Sie können dieselbe von mir annehmen und verkaufen, sollten Sie jemals arm werden. Sie ist stets einige hundert Pfund wert.« Er suchte unter den Bildern. »Sie ist schwarz eingerahmt; ist dieses ein schwarzer Rahmen, den ich in der Hand habe? Da ist es. Was halten Sie davon?«

Er drehte Maisie ein verschrammtes, formloses Gemisch von Farben zu und strengte die Augen an, als ob er ihre Bewunderung und Ueberraschung erfassen wollte. Ein Ding, nur dieses einzige Ding konnte sie für ihn thun.

»Nun?«

Seine Stimme klang voller und kräftiger, weil der Mann wußte, daß er von seinem besten Werke sprach. Maisie blickte auf das Gekleckse, und eine wahnsinnige Lust zu lachen erfaßte sie; aber um Dicks willen durfte sie sich nichts merken lassen, was immer auch dieses verrückte Geschmiere bedeuten mochte, Ihre Stimme bebte von zurückgehaltenen Thränen, als sie antwortete: »O, Dick, es ist schön!«

Er hörte das schwache hysterische Schlucken und hielt es für ein Zeichen der Anerkennung. »Wollen Sie es denn nicht haben? Ich will es Ihnen nach Hause schicken, wenn Sie wollen.«

»Ich? O ja – ich danke Ihnen. Ha! ha!« Wenn sie jetzt nicht fortging, so wurde das unterdrückte Lachen, das schlimmer als Thränen war, sie ersticken. Sie wandte sich ab und lief, erstickend und geblendet, die Treppen hinunter, flüchtete sich in ein Kab und fuhr durch den Park nach ihrem Hause. Dort setzte sie sich in ihrem fast kahlen Zimmer nieder und dachte an Dick in seiner Blindheit, der bis an das Ende seines Lebens, sowohl für sich als auch für sie selbst von gar keinem Nutzen mehr war. Hinter diesem Kummer, der Scham und der Demütigung erhob sich die Furcht vor dem kalten Zorne des rothaarigen Mädchens, wenn Maisie zu demselben zurückgekehrt sein würde. Maisie hatte sich früher nie vor ihrer Gefährtin gefürchtet. Sie vergegenwärtigte sich die Verachtung ihrer selbst erst, als sie sich sagte: »Nun, er hat nichts von mir verlangt!«

Hiermit nehmen wir Abschied von Maisie.

Für Dick waren noch mehr Qualen aufbewahrt. Er konnte erst gar nicht begreifen, daß Maisie, der er befohlen hatte, zu gehen, ihn ohne ein Wort des Abschieds verlassen hatte. Er war außerordentlich ärgerlich über Torpenhow, der diese Demütigung über ihn gebracht und seinen traurigen Frieden gestört hatte. Dann kam seine dunkle Stunde; er befand sich allein mit sich selbst und seinem Verlangen nach etwas, das ihn von dieser Finsternis befreien könnte. Die Königin konnte nichts Unrechtes thun, aber indem dieselbe ihrem Rechte folgte, soweit dasselbe ihrer Arbeit diente, hatte sie ihren einzigen Unterthan mehr verwundet, als dessen Gehirn ihm klar machen konnte.

»Es ist alles, was ich hatte, und ich habe es verloren,« sagte er, sobald sein Elend ihm gestattete, klar zu denken. »Torp wird glauben, er sei so höllisch klug gewesen, daß ich nicht das Herz haben werde, ihm alles zu erzählen. Ich muß die Sache ruhig durchdenken.«

»Hallo!« rief Torpenhow aus, in das Atelier tretend, nachdem Dick zwei Stunden nachgedacht.

»Ich bin zurück. Befinden Sie sich etwas besser?«

»Torp, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Kommen Sie her!« Dick keuchte heiser, da er in der That nicht wußte, was er sagen und wie er es ruhig sagen sollte.

»Ist es denn nötig, irgend etwas zu sagen? Stehen Sie auf und gehen Sie umher.« Torpenhow war vollständig befriedigt.

Sie wanderten wie gewöhnlich auf und ab, Torpenhows Hand auf Dicks Schulter ruhend und Dick in Gedanken versunken.

»Wie in aller Welt haben Sie das alles herausgefunden?« fragte Dick schließlich.

»Sie müssen nicht im Fieber sprechen, wenn Sie Geheimnisse bewahren wollen, Dickie. Es war durchaus unpassend von meiner Seite, aber wenn Sie mich gesehen hätten, wie ich bei einer glühenden Sonnenhitze auf einem halb zugerittenen französischen Kavalleriepferde zusammengeschüttelt wurde, Sie hätten sicherlich gelacht, heute abend wird es einen Charivari in meinen Zimmern geben. Sieben andere Teufel –«

»Ich weiß – der Spektakel im südlichen Sudan. Ich überraschte sie neulich bei ihren Beratungen; es machte mich ganz unglücklich, haben Sie sich entschlossen, zu gehen? Für wen arbeiten Sie?«

»Ich habe noch keinen Vertrag abgeschlossen. Ich wollte erst sehen, wie sich die Sache mit Ihnen gestalten würde.«

»Wollten Sie denn bei mir bleiben, wenn die Dinge schlecht abgelaufen wären?« Er stellte seine Frage sehr vorsichtig.

»Fragen Sie mich nicht zu viel. Ich bin nur ein Mensch.«

»Sie haben sehr erfolgreich versucht, ein Engel zu sein.«

»O ja … Wollen Sie das Amt eines solchen heute abend übernehmen? Wir werden halb toll sein, bevor der Morgen anbricht. Alle Welt glaubt, daß der Krieg gewiß ist.«

»Ich denke nicht, daß ich es thue, alter Freund, wenn es Ihnen egal ist. Ich werde ruhig hier bleiben.«

»Und nachgrübeln? Ich tadle Sie nicht. Sie haben sich lange genug verdient gemacht wie nur je ein Mann.«

An jenem Abend gab es viel Lärm auf den Treppen. Die Korrespondenten kamen vom Theater, vom Diner und von den Konzerten zu Torpenhow, um über ihren Feldzugsplan zu sprechen, im Falle die militärischen Operationen bereits festgesetzt wären. Torpenhow, Keneu und Nilghai hatten alle diese Leute eingeladen, an der Orgie teilzunehmen; Mr. Benton, der Haushälter, erklärte, daß er noch nie während seines ganzen Lebens einen solchen tollen Haufen von Gentlemen gesehen. Sie weckten die Zimmerbewohner durch Schreien und Singen auf, und die älteren Herren waren gerade so schlimm als die jüngeren. Denn sie hatten die Zufälligkeiten des Krieges vor sich, und alle wußten, was das sagen wollte.

Dick saß in seinem Zimmer, etwas bestürzt über den zu ihm herüberschallenden Lärm; plötzlich fing er an zu lachen.

»Wenn jemand darüber nachdenkt, so ist die Situation außerordentlich komisch. Maisie hat ganz recht – armes, kleines Ding! Ich wußte früher gar nicht, daß sie so weinen könnte, aber nun ich weiß, was Torp denkt, bin ich überzeugt, er wäre thöricht genug, zu Hause zu bleiben und zu versuchen, mich zu trösten – wenn er wüßte. Außerdem ist es nicht besonders hübsch, sich sagen zu müssen, daß man wie ein zerbrochener Stuhl beiseite geworfen ist. Ich muß diese Sache allein tragen – wie gewöhnlich. Wenn es keinen Krieg gibt und Torp kommt dahinter, werde ich ihm wie ein Thor erscheinen, das ist alles. Gibt es aber Krieg, so darf ich nicht zwischen das Glück eines andern treten, Geschäft ist Geschäft, und ich muß allein sein. – Was für einen Lärm sie machen!«

Jemand hämmerte gegen die Thüre des Ateliers.

»Kommen Sie heraus, Dickie, und seien Sie lustig,« sagte Nilghai.

»Ich möchte wohl, aber ich kann nicht. Ich bin nicht aufgelegt, fröhlich zu sein.«

»Dann werde ich es den Jungens sagen, und man wird Sie wie einen Dachs herausholen.«

»Bitte, thun Sie es nicht, alter Herr. Auf mein Wort, ich möchte gerade jetzt lieber allein sein.«

»Nun gut. Können wir Ihnen irgend etwas hereinschicken? Fipp zum Beispiel. Cassavetti fängt bereits an, Lieder vom ›sonnigen Süden‹ zu singen.«

Einen Augenblick dachte Dick ernstlich über den Vorschlag nach.

»Nein, danke. Ich habe schon Kopfweh.«

»Tugendhaftes Kind! Das ist die Wirkung von Aufregungen in der Jugend. Meine Glückwünsche, Dick! Auch ich war an der Verschwörung für Ihre Wohlfahrt beteiligt.«

»Gehen Sie zum Teufel und – o, schicken Sie nur Binkie herein.«

Der kleine Hund trat mit elastischen Schritten ein, ganz aufgeregt von dem vielen Lärmen während des Abends. Er hatte geholfen, den Refrain zu singen, aber kaum befand er sich im Atelier, als er gewahr wurde, daß dies nicht der Ort sei, mit dem Schwanze zu wedeln; er setzte sich daher auf Dicks Schoß, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Dann legte er sich mit Dick ins Bett, der jede Stunde schlagen hörte und am Morgen mit einem schmerzlich klaren Kopfe aufstand, um Torpenhows formellere Glückwünsche, sowie einen besonderen Bericht über das nächtliche Gelage entgegenzunehmen.

»Sie sehen nicht besonders glücklich aus für einen kürzlich angenommenen Mann,« bemerkte Torpenhow.

»Thut nichts, das ist meine Sache, ich befinde mich ganz gut. Gehen Sie wirklich fort?«

»Ja. Mit dem alten Central Southern wie gewöhnlich. Sie telegraphirten mir, und ich nahm unter besseren Bedingungen als früher an.«

»Wann reisen Sie ab?«

»Uebermorgen, nach Brindisi.«

»Gott sei Dank,« sagte Dick aus dem Grunde seines Herzens.

»Nun, das ist gerade keine hübsche Art und Weise zu sagen, daß Sie froh sind, mich los zu werden. Doch Leuten in Ihrer Lage ist es erlaubt, selbstsüchtig zu sein.«

»Ich meinte es nicht so. Wollen Sie für mich hundert Pfund einkassiren, bevor Sie abreisen?«

»Das ist eine kleine Summe zum Haushalte», nicht wahr?«

»O, es ist nur für – die Kosten der Hochzeit.«

Torpenhow brachte das Geld, zählte es in Fünf- und Zehnpfundnoten auf und schloß es sorgfältig in den Schreibtisch ein.

»Jetzt, denke ich, werde ich etwas zu hören bekommen von seiner Schwärmerei für sein Mädchen, bis ich fortgehe. Der Himmel verleihe uns Geduld mit einem verliebten Manne,« sagte er zu sich selbst.

Dick sagte indes nicht ein Wort über Maisie oder Heirat. Er lehnte in der Thür von Torpenhows Zimmer, als dieser packte, und richtete unzählige Fragen an ihn über den bevorstehenden Feldzug, bis es Torpenhow langweilig wurde.

»Sie sind ein geheimnisvolles Tier, Dickie, und verzehren Ihren eigenen Rauch, nicht wahr?« sagte er am letzten Abend.

»Ich – ich glaube so. Wie lange denken Sie beiläufig, wird dieser Feldzug dauern?«

»Tage, Wochen oder Monate; man kann das niemals vorhersagen. Er kann auch jahrelang währen.«

»Ich wünschte wohl, ich könnte mitgehen.«

»Gütiger Himmel! Sie sind wirklich das unberechenbarste Geschöpf. Ist es Ihnen nicht zu teil geworden, daß Sie sich verheiraten werden – dank meinen Bemühungen?«

»Natürlich ja. Ich werde mich verheiraten, gewiß. Werde mich verheiraten. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür. Hatte ich es Ihnen nicht mitgeteilt?«

»Nach Ihrem Aussehen zu schließen, könnten Sie ebenso gut im Begriffe stehen, gehangen zu werden,« sagte Torpenhow.

Am nächsten Tage sagte Torpenhow ihm adieu und ließ ihn in der Einsamkeit zurück, nach der er so sehr verlangt hatte.