Drittes Kapitel.

Drittes Kapitel.

Am andern Morgen lief in ganz Cañon City das Gerücht um, daß Tarvin seinen Gegner einfach vernichtet habe, und mehr als Gerücht, wohlverbürgte Thatsache war, daß Sheriff, als er sich ziemlich kleinmütig angeschickt hatte, das Wahlprogramm des Redners vorschriftsmäßig zu bekämpfen, durch die einmütige öffentliche Meinung gezwungen worden war, den Mund zu halten. Trotzdem begrüßte er Tarvin auf dem Bahnhof, wo beide in den nämlichen Zug nach Topaz einsteigen wollten, mit anerkennenswerter Höflichkeit und machte durchaus nicht Miene, seinem Widersacher scheu auszuweichen. Wenn Tarvin Kätes Vater wirklich »in den Staub getreten« hatte, wie ganz Cañon City sich vernehmen ließ, so schien dieser seine Vernichtung nicht sonderlich schwer zu empfinden. Tarvin überlegte bei sich, daß Sheriff allerdings Grund habe, sich mit einer andern Niederlage des jüngeren Mannes zu trösten, die diesen Triumph wohl aufwog, und diese Ueberlegung zog die zweite nach sich, daß er sich einfach lächerlich gemacht habe. Er hatte die Genugthuung gehabt, dem Nebenbuhler öffentlich seine Überlegenheit beweisen zu können, und das Vergnügen genossen, seiner Partei greifbar klar zu machen, daß er immer noch eine Kraft sei, auf die man bauen könne, wenn sich auch im Kopf eines jungen Mädchens tolle Weltverbesserungsideen angesiedelt hatten. Aber förderte ihn das etwa bei Käte? Es förderte ihn nicht, es schied ihn eher von ihr, wenigstens soweit der Vater Einfluß auf die Sache hatte und soweit seine Wahlaussichten dadurch verbessert wurden. Daß er gewählt werden würde, stand ihm jetzt fest. Aber was half es ihm? Selbst die Würde eines Sprechers, die er vor ihr hatte funkeln lassen, schien ihm nach den Erfahrungen des heutigen Abends ins Gebiet der Möglichkeiten gerückt, aber die einzige Präsidentschaft, nach der Tarvins Sinn wirklich stand, war die über Kätes Herz – wenn sie ihn nicht wählte, was‘ nützten ihm alle andern Stimmen?

Er fürchtete ernstlich, daß ihm diese höchste Würde nicht so bald blühen werde, und als er sich den untersetzten, vierschrötigen Mann ansah, der gleich ihm auf dem Bahnsteig stand, kam er auf den Gedanken, diesen dafür verantwortlich zu machen. Käte würde sicher nicht nach Indien gehen, wenn sie einen andern Vater hätte, einen Mann, wie er ihrer etliche kannte! Aber solch ein schmiegsamer, schlauer, selbstsüchtiger Protz, der’s mit niemand verderben wollte – was ließ sich von so einem erwarten? Wenn hinter der Geschmeidigkeit Kraft gesteckt hätte, würde Tarvin diese Eigenschaft geschätzt statt mißachtet haben, aber er hatte seine eigenen Gedanken über einen Mann, der an einem Ort wie Topaz zufällig reich geworden war.

Was für Taruin diesen Sheriff so unleidlich machte, war das von ihm dargebotene Schauspiel eines Mannes, der ohne sein Zuthun plötzlich verblüffend reich geworden ist und nun als Glückspilz umherging, ängstlich vermeidend, irgend jemand auf die Hühneraugen zu treten. In der Politik betrieb er diese Kunst mit besonderem Eifer, außerdem war er aber jetzt Hort und Stolz des Komitees, das einen Eisenbahningenieursball arrangierte, half den »Tempelrittern« Ausflüge zu stand bringen, war Mitglied aller erdenklichen Vereine und die Zuflucht derer, die Wohlthätigkeitsbazare, Theatervorstellungen und Austerndiners zu guten Zwecken und hohen Preisen in Scene setzten. Ohne wählerisch zu sein, nahm er an Austernessen wie an jedem andern Wohlthätigkeitssport in Topaz teil, und zwar nicht allein, Frau und Tochter mußten mitgehen und ihre Wohnstube füllte sich mit Puppen im Täuflingsputz, protestantischen Stickereien, katholischen Sofakissen und künstlerischen Spritzarbeiten – es entstand eine wahre Sammlung.

Allein diese Allerweltsliebenswürdigkeit machte den Mann durchaus nicht so beliebt, als er es verdient hätte. Die dunklen Ehrenmänner nahmen sein Geld und hielten an ihrer Meinung über den Mann fest; Tarvin, sein Gegner, hatte den Leuten gezeigt, wie er über derartige Politik dachte, indem er sich offen weigerte, auch nur eine einzige Eintrittskarte zu nehmen. Dieser thörichte, erbärmliche Drang, es allen Leuten recht zu machen, war, wie Tarvin richtig erkannte, auch der Grund von Sheriffs schlaffem Verhalten der töchterlichen Narrheit gegenüber. Weil Käte eben durchaus gehen wolle, fand es der Vater schließlich bequemer, sie gehen zu lassen. Er versicherte, den Plan anfangs heftig bekämpft zu haben, und das glaubte ihm Tarvin auch, denn er wußte ja, daß der Vater an seinem Kind hing. Nicht Mangel an gutem Willen machte er ihm zum Vorwurf, aber Mangel an der Fähigkeit, seinen Willen durchzusetzen. Schließlich mußte er sich freilich sagen, daß die eigentlich Schuldige wie in allen Stücken so auch in diesem Käte selbst war, denn ihr Starrsinn war allen Vorstellungen unzugänglich.

Als der Topazer Zug angekommen war, stiegen Sheriff und Tarvin in denselben Wagen. Tarvin hatte gerade nicht das Bedürfnis, sich während der Fahrt mit Kätes Vater zu unterhalten, aber es sollte auch nicht aussehen, als ob er ein Gespräch scheute. Im Wagen bot ihm Sheriff eine Cigarre an, und als dann Dave Lewis, der Schaffner, hereinkam, begrüßte ihn Tarvin als alten Freund und forderte ihn auf, sich ein wenig zu ihnen zu setzen, wenn seine Dienstpflichten erledigt wären. Tarvin mochte den Mann wohl leiden, wie er tausend andre Zufallsbekannte leiden mochte, die ihm irgendwo in den Weg gekommen waren und bei denen er sich großer Beliebtheit erfreute: die Aufforderung entsprang übrigens wenn auch nicht ganz, so doch teilweise dem Wunsch, ein Alleinsein mit Sheriff zu vermeiden. Redselig teilte ihnen der Mann mit, daß er den Präsidenten der C. C. C. im Zug habe, der mit seiner Gesellschaft in einem eigenen Salonwagen fahre.

»Was der Tausend!« rief Tarvin und bat dann seinen Freund, ihn auf der Stelle dem Präsidenten vorzustellen, der ihm gerade recht käme.

Lachend sagte der Schaffner, daß er doch kein Bahnvorstand sei und so etwas nicht wagen dürfe. Als er aber nach vollendeter Runde wieder in den Wagen kam, erzählte er, der Präsident habe ihn gefragt, ob er ihm nicht einen rechtschaffenen Mann in Topaz empfehlen könne, der ein Herz für öffentliche Angelegenheiten habe und mit dem sich die Frage, ob die drei C, nach Topaz kommen sollen, vernünftig erörtern ließe. Darauf hatte ihm der Schaffner gesagt, daß sich gleich zwei für diesen Zweck geeignete Herren im Zug befänden, und nun lasse der Präsident ihnen sagen, es würde ihm sehr angenehm sein, wenn sie sich in seinen Wagen bemühen und ihm ihre Aufmerksamkeit schenken mochten.

Seit einem ganzen Jahr hatte der Verwaltungsrat der Central-Colorado-California-Eisenbahnlinie Beratungen gepflogen, ob die Bahn über Topaz geführt werden solle oder nicht, und die Mitglieder hatten sich in der leidenschaftslosen, unparteiischen Weise geäußert, die Verwaltungsräten eigen ist, solange sie Zuspruch und Aufmunterungen von allen Seiten erwarten. Die Handelskammer von Topaz hatte den Wink begriffen und es an der gewünschten Ermutigung nicht fehlen lassen. Diese hatte die Gestalt einer städtischen Anleihe und von Landschenkungen angenommen, und schließlich hatte man sich durch Ankauf von Aktien zu einem in die Höhe getriebenen Preis an dem Unternehmen selbst beteiligt. Das war aller Ehren wert, selbst für eine Handelskammer, aber von städtischem Hochmut und Ehrgeiz gespornt, hatte Rustler sie übertrumpft. Rustler lag fünfzehn Meilen von Topaz entfernt, höher in den Bergen, folglich auch näher bei den Bergwerken, und Topaz bekam seine Nebenbuhlerschaft auch in andern Angelegenheiten als der dieser Eisenbahnlinie zu fühlen.

Nie beiden Städte waren ungefähr zu gleicher Zeit entstanden und erblüht, dann hatte die Lebenskraft Rustler verlassen und sich in Topaz niedergelassen. Das hatte Rustler eine gehörige Anzahl von Bürgern gekostet, die an den gedeihlicheren Ort übersiedelten: Manche davon hatten ganz einfach ihr Haus auf den Rücken genommen wie die Schnecken, das heißt es auf einen Güterwagen geladen und als Frachtgut nach Topaz geschickt, was den Zurückbleibenden einen großen Schrecken einjagte. Neuerdings aber rührte sich in Topaz das unbehagliche Gefühl, daß ihm etliches aus den Fängen glitt. Ein oder zwei Häuser waren schon nach Rustler zurückgewandert, Rustler nahm einen neuen Aufschwung, und wenn die Eisenbahn dort hingeführt wurde, so war Topaz verloren, riß es dagegen die Bahnlinie an sich, so war ihm der Sieg gewiß. Die beiden Städte haßten einander, wie man nur im Westen haßt – bösartig, leidenschaftlich, mit wolllüstigem Ingrimm. Wenn ein Erdbeben die eine oder die andre Stadt verschlungen hätte, die übriggebliebene wäre an mangelndem Lebensinteresse hingesiecht. – Hätte Topaz Rustler oder Rustler Topaz totschlagen können, durch größeren Unternehmungsgeist, Umsatz und Umtrieb oder auch durch Schmähungen in der Presse, man würde in der überlebenden Stadt Triumphzüge und Siegestänze gehalten haben. Aber die Zerstörung durch andre Mittel als die vom Himmel eingesetzten des lautern und unlautern Wettbewerbs würde dem überlebenden Teil herben Kummer verursacht haben.

Das heiligste Gut des westlichen Mannes ist der Stolz auf seine Stadt, und der köstlichste Duft dieser Blume ist der Haß gegen die Nachbarstadt. Stadthochmut kann nicht bestehen ohne Stadtneid, und es traf sich deshalb glücklich, daß Topaz und Rustler gerade in der richtigen Haßweite von einander lagen, denn der lebendige Glaube des Menschen an den besonderen Fleck in der endlosen westlichen Wildnis, wo er zufällig sein Zelt aufgeschlagen hat, enthält die Zukunft und das sichere Gedeihen des Westens.

Tarvin hegte dieses Gefühl wie eine Religion. Es war ihm außer Käte das Höchste auf der Welt, ja mitunter stand es ihm sogar höher als Käte. Dieses Gefühl ersetzte ihm, was andern Ideale und Streben sind. Er wollte Erfolge erringen, er wollte eine Rolle spielen, aber sein persönlicher Ehrgeiz fiel mit seinem Ehrgeiz für die Stadt zusammen. Wenn seine Stadt darnieder lag, konnte auch ihm nichts gelingen, wenn sie blühte, mußte auch ihm alles glücken. Sein Ehrgeiz für Topaz, sein Stolz auf Topaz, das war ein leidenschaftlicher, ganz persönlicher Patriotismus. Topaz war für ihn das Vaterland, und weil es so nah und greifbar vor ihm stand, weil er’s mit Augen sehen und mit Händen fassen konnte, besonders aber auch, weil er Stücke davon kaufen und verkaufen konnte, war es viel deutlicher sein Vaterland, als die Vereinigten Staaten von Amerika, die seiner nur in Kriegszeiten bedurften.

Er war bei der Geburt von Topaz zugegen gewesen, er hatte die Stadt gekannt, als er sie schier noch mit den Armen hätte umfassen können, er hatte sie werden und wachsen sehen, hatte sie gehätschelt und aufgepäppelt; mit den Pfählen, die man bei der Abmessung eingetrieben hatte, war auch sein Herz eingerammt worden, er wußte also auch besser als Lucas, was ihr taugte. Ihr taugten die drei C.

Der Schaffner führte Sheriff und Tarvin in den Salonwagen und stellte dem Präsidenten die Herren vor, und der Präsident machte diese mit seiner Frau bekannt, einer blonden jungen Dame, die sich deutlich bewußt war, hübsch zu sein und die Neuvermählte sehr zur Schau trug. Rasch von Erkenntnis, wie Tarvin war, ließ er sich sofort neben der Dame nieder. Der Salonwagen enthielt diesseits und jenseits von der Abteilung, worein sie geführt worden waren, noch andre Gemächer. Das ganze rollende Haus war ein Wunder von Bequemlichkeit und Raumausnutzung, die Ausschmückung von vornehmstem Geschmack. Der Salon schimmerte von Plüsch in gebrochenen unbenennbaren Farbtönen, blankem gedrehtem Nickelgeräte und Spiegelglas, und die in neuerem Stil ausgesucht einfache Täfelung dämpfte den Glanz ab, wie sie ihm zugleich als Folie diente.

Der Präsident der noch ungeborenen Central-Colorado-Californialinie machte für Sheriff in einem der beweglichen Stühle aus Rohrgeflecht Raum, indem er einen ganzen Pack illustrierter Zeitungen beiseite warf, und sah sich dann unter buschigen Augenbrauen hervor mit runden, dunklen Aeugchen seinen Mann näher an. Seine eigene behäbige Gestalt füllte einen andern von den etwas zerbrechlichen Stühlen zum Ueberfließen aus. Er hatte die gefleckten Wangen und das schlaffe Doppelkinn eines Fünfzigers, der besser lebt, als ihm bekömmlich ist, und lauschte mit undurchdringlich verschlossenem Gesichtsausdruck den lebhaften Auseinandersetzungen, die Sheriff sofort vom Stapel ließ.

Tarvin hatte unterdessen Frau Mutrie in ein Gespräch gezogen, worin das Vorhandensein von Eisenbahnen gar nicht berührt wurde. Zufällig hatte er einiges über die Heirat des Präsidenten der C. C. C. gehört und er fand die Neuvermählte sehr geneigt, seine höchst schmeichelhafte Lesart der Geschichte anzuhören. Er überschüttete sie mit Artigkeiten und ließ sich des langen und breiten von ihrer Hochzeitsreise erzählen. Die heutige Fahrt gehörte eigentlich noch dazu, dann ging’s nach Denver in die Häuslichkeit. Sie war sehr gespannt, ob es ihr dort gefallen könne, und Tarvin beteuerte, daß ihr die Stadt zusagen werde. Er verbürgte sich für sie, er malte sie in leuchtenden Farben auf Goldgrund und schlang Blumenranken darum, er machte sie zu einem Ideal und bevölkerte sie mit Paradiesesmenschen. Dann rühmte er die Läden und Theater: er behauptete, New Jork könne sich daneben verkriechen, aber vorher müsse sie das Theater in Topaz sehen. Er hoffe sehnlich, die Herrschaften würden sich ein paar Tage in Topaz aufhalten.

Topaz selbst pries er nicht so grell, als er Denver gepriesen hatte. Er begnügte sich, der jungen Frau seinen einzigartigen, besonderen Reiz anzudeuten, und als er sie dahin gebracht hatte, sich Topaz als die hübscheste, vornehmste, gedeihlichste Stadt des Westens vorzustellen, ließ er den Gegenstand fallen. Im übrigen drehte sich das Gespräch um persönlichere Dinge, und Tarvin streckte nach allen Richtungen Fühlhörner aus, zuerst um etwaige übereinstimmende Anschauungen, dann um ihre Schwächen zu entdecken. Er wollte wissen, woran die Frau zu packen war, denn das war das Mittel, den Mann zu packen, soviel hatte er schon beim Eintreten vom Blatt gelesen. Ihre Geschichte kannte er, ihren Vater hatte er sogar persönlich gekannt. Tarvin war einmal in dem Gasthof abgestiegen, den dieser in Omaha geführt hatte. Er erkundigte sich nach dem alten Haus, nach den Besitzern, die seither mehrmals gewechselt hatten. Wer führte das Haus jetzt? Hoffentlich hatte er ihres Vaters Oberkellner beibehalten! Und der Koch? Der Mund wässerte ihm heute noch nach der leckern Küche! Sie lachte herzhaft und wurde zuthunlich. In diesem Gasthof hatte sie ja ihre Kindheit verlebt, in den langen Gängen und auf den Vorplätzen gespielt, auf dem Klavier im Damenzimmer herumgetrommelt, in der Anrichte Zuckerzeug genascht. Ja freilich, den Koch kannte sie auch, ganz persönlich, der hatte ihr manchmal noch Pudding ins Bett geschickt – ja wohl, der war heute noch im Hause!

Tarvins offene, freundliche Art, seine Bereitwilligkeit sich belustigen zu lassen, und die noch größere, zur Belustigung der andern beizutragen, übten allerorten, die Macht, Menschen anzuziehen. Seine herzliche, mannhafte Art, seine zuversichtliche Fröhlichkeit, die das Leben stark und vielseitig und glückbringend anfaßte, strömten Wärme aus. Er begegnete jedem Menschen mit gleichmäßigem Wohlwollen, er fühlte sich jedem verwandt, nahm jeden als Bruder auf, wenn man ihn nur gewähren ließ.

So war er denn auch mit Frau Mutrie bald auf ganz vertrautem Fuß und sie bat ihn, mit ihr an das große Fenster am Ende des Wagens zu gehen und ihr die Aussicht auf die Schluchten des Berglands von Arkansas zu erklären. Sie kauerten sich am Fußboden nieder, um den vollen Anblick der über ihren Häuptern hängenden massigen Felspartieen zu genießen, und blickten auf das Chaos von Felsblöcken hinaus, das sich aufgethan hatte, um sie durchzulassen, und sich unmittelbar hinter ihnen wieder zusammenschloß. Fühllos und nüchtern rasselte der Zug durch die in Trümmer gestürzte Schönheit dieser bisher unberührten Welt, wunderbar erschien es, wie er sein Gleichgewicht erhielt auf dem für das Auge kaum messerbreiten Raum, den man für ihn, auf einer Seite dem Fluß, auf der andern den Bergen abgewonnen hatte. Frau Mutries Gleichgewicht kam dafür öfter ins Wanken, wenn der Zug um die zahllosen Kurven schwenkte, so daß Tarvin sie mehrmals vor dem Fallen bewahren mußte, bis er schließlich ihren Arm durch den seinigen zog und sie nun gemeinsam die Bewegungen des Zuges mitmachten, er den Halt durch weit gespreizte Beine sichernd. So blickten sie unverwandt nach den Gigantentürmen und Mauern hinauf, die über ihren Häuptern zu schweben, im Wirbel zu tanzen schienen.

Frau Mutrie stieß häufig laute Rufe des Erstaunens und Entzückens aus, die anfangs die gewohnheitsmäßige Antwort der Frauennatur auf große Natureindrücke waren, die aber bald zu einem scheuen, schreckensvollen Murmeln wurden. Ihre Oberflächlichkeit fühlte sich von diesem gewaltigen Anblick gehemmt und erdrückt, wie die Gegenwart des Todes sie wohl auch zum Schweigen gebracht haben würde; gewohnheitsmäßig, aber ohne rechten Mut ließ sie die kleinen Frauenkünste Tarvin gegenüber trotzdem weiter spielen, als aber der Zug aus dem Felsgekluft in die Ebene hinaustrat, atmete sie erleichtert auf und zog den Reisebegleiter, den sie offenbar als ihr Eigentum ansah, ungestüm wieder in den Salon zurück. Sheriffs Redestrom war noch nicht erschöpft; er zählte dem Präsidenten die Vorzüge von Topaz in endloser Reihe auf, dieser hörte ihm aber zerstreut zu und starrte gelangweilt durchs Fenster. Als die junge Frau zurückkam, ihren Mann zärtlich auf die Schulter klopfte und ihm ein paar Worte ins Ohr flüsterte, nahm sich der beleibte Herr ungefähr aus wie ein in Verlegenheit geratender Menschenfresser. Tarvin mußte seinen alten Platz neben ihr einnehmen und erhielt Befehl, sie sehr gut zu unterhalten, worauf er bereitwillig einging, indem er ihr eine sehr erfolgreiche Expedition schilderte, die er einmal in das Felsengebiet gemacht hatte. Was er dabei suchte, Silber, hatte er zwar nicht gefunden, aber wenigstens einige ganz ungewöhnlich große Amethyste.

»Was Sie sagen! Nein, Sie Glückspilz, davon müssen Sie mir noch viel erzählen! Amethyste? Wirkliche, lebendige? Ich hatte keine Ahnung, daß in Colorado Amethyste gefunden würden!«

In ihren Augen funkelte ein merkwürdiger Glanz, es war geradezu leidenschaftliche Begehrlichkeit. Tarvin fing den Blick auf – war das Ihr schwacher Punkt? Nun, wenn dem so war – von Edelsteinen wußte er genug, zu erzählen, sie waren ja eine von den »natürlichen Hilfsquellen« seiner geliebten Stadt! Wenn das sie fesselte, davon konnte er vom Morgen- bis zum Abendläuten reden! Ob man damit die drei C. würde nach Topaz locken können? Es flog ihm durch den Kopf, daß man sich in Form eines Hochzeitsgeschenks niedlich machen könnte; vor seinen Augen flimmerte ein von der Handelskammer überreichtes Diadem von Diamanten, aber er verwarf den tollen Einfall so rasch, als er ihm aufgestiegen war. Nein, nein, öffentliche Ehrengaben thaten’s nicht, hier war nur geheime Diplomatie am Platz, und man mußte sehr vorsichtig, sehr zartfühlend sein, ganz ruhig und freundschaftlich vorgehen, mit leisem Finger da und dort anpochen, um dann plötzlich mit raschem Griff zuzufassen, kurz, ein Fall für Nikolas Tarvin, den einzigen Mann auf Erden, der das leisten konnte! Er sah sich im Geist seinen Mitbürgern die C. C. C. zuführen, unerwartet, glanzvoll, wie ein königlicher Geber, und sah sie durch desselben Nikolas Tarvins alleinige Kraft ausgeführt, er sah sich als den Gründer kommender Größe seiner geliebten Stadt. Er sah Rustler verödet und verlassen, sah den Eigentümer eines gewissen Grundstücks von dreiundzwanzig Morgen als Millionär vor sich!

Seine Phantasie verweilte ein wenig bei dem betreffenden Grundstück: leicht war das Geld nicht verdient worden, womit er’s gekauft hatte, und am letzten Ende ist Geschäft immer Geschäft. Einen Teil davon konnte man als Bauplatz für ein Maschinenhaus an die C. C. C. verkaufen, wenn diese wirklich kam, das übrige als Bauplätze für Wohnhäuser. Das war keine unangenehme Vorstellung, über es war nicht die Hauptsache, sein höchster Traum war Topaz. Wenn es wahr ist, daß die Vorsehung ihre Hilfe immer dann schickt, wenn sie am nötigsten ist, und dahin, wo sie am meisten gewürdigt wird, hier konnte der Satz einmal bestätigt werden!

Jetzt fiel ihm erst auf, was für ungewöhnliche Ringe Frau Mutrie trug. Es waren ihrer nicht besonders viele, aber die Steine erlesen schön. Er wagte es, den ungeheuren Solitär an ihrer linken Hand zu bewundern, worauf sie den Ring abstreifte, daß er ihn genauer sehen könne. Dieser Diamant habe eine Geschichte, sagte sie. Ihr Vater hatte ihn einem Schauspieler abgekauft, einem Tragöden, der in Denver, Topeka, Kansas und St. Io vor leeren Häusern gespielt und in Omaha vollends schlechte Geschäfte gemacht hatte. Der Wert des Steines hatte hingereicht, um die Heimreise nach New York für die ganze Truppe zu bestreiten, und das war offenbar die einzige wirkliche Gutthat, die der Stein seinen Besitzern je erwiesen hatte. Der Tragöde hatte ihn nämlich einem Spieler abgewonnen, der einen andern im Streit darum niedergestochen hatte; der Mann, der für diesen Stein sein Leben hatte lassen müssen, hatte ihn sehr billig von einem durchgebrannten Commis eines Juwelenhändlers gekauft.

»Der Vollständigkeit halber sollte er schon aus den Minen, etwa aus Kimberley, herausgeschmuggelt worden und durch einen I. D. B. unter die Leute gekommen sein; finden Sie nicht, Herr Tarvin?«

Sie stellte ihre Fragen mit hochgezogenen Brauen und einem Zustimmung heischenden Lächeln: eine Forderung, die von Tarvins Seite immer rasch erfüllt wurde. Wenn sie Behauptungen aufgestellt hätte, die Galilei und Newton Lügen gestraft hätten, Tarvin würde ihr jetzt vollständig Recht gegeben haben. Er saß beobachtend und abwartend neben ihr, alle Willenskraft angespannt, wie der Jäger auf Anstand.

»Ich sehe oft lang in den Stein hinein,« plauderte Frau Mutrie weiter, »und suche, ob sich die Verbrechen, die er mit angesehen hat, nicht drin spiegeln! Ich finde sie prachtvoll gruselig, besonders den Mord – ist das nicht auch Ihr Geschmack, Herr Tarvin? Aber das Liebste ist mir doch der Stein an und für sich – er ist wirklich wunderschön, nicht wahr? Mein Papa sagt, es sei der schönste, der ihm je vor Augen gekommen sei, und in einem Gasthof bekommt man gute Diamanten zu sehen!«

Dabei liebäugelte sie zärtlich mit dem klaren Wasser des Steins.

»Es gibt doch nichts Herrlicheres als schöne Steine!« tief sie aus Herzensgrund mit leuchtenden Augen – zum erstenmal war der Klang ihrer Stimme ganz unbefangen und natürlich. »Einen tadellosen Stein könnte ich fortwährend ansehen, aus der Fassung dagegen mache ich mir nicht viel, es handelt sich mir nur um den Stein. Papa wußte wohl, wie ich edle Steine liebe, und lag immer auf der Lauer, von seinen Gästen welche zu erhandeln. Handlungsreisende haben nämlich eine große Vorliebe für Schmuck, aber in der Regel wissen sie einen guten Stein nicht von einem schlechten zu unterscheiden; dadurch kam Papa manchmal zu einem sehr guten Geschäft,« setzte sie, die Lippen nachdenklich kräuselnd, hinzu. »Er nahm immer nur wirklich Gutes und vertauschte es gegebenenfalls gegen noch Besseres. Zwei oder drei Steine gab er gern gegen einen ganz klaren, wenn sie nur die geringsten Flecken hatten – er wußte ja, daß ich mir nur aus den tadellosen etwas mache. Die liebe ich aber auch! Die sind einem mehr als viele Bekannte! Man hat sie immer bei sich und sie sind immer gleich schön!«

»Ich wüßte von einem Halsband, das Ihnen gefallen würde, wenn Sie Freude an derlei Sachen haben,« bemerkte Tarvin ruhig.

»Wahrhaftig?« rief sie freudestrahlend. »O, wo ist es?«

»Weit, weit von hier.«

»Ach, bei Tiffany! Sie wollen mich reizen,« rief sie wieder, in den gekünstelten Ton verfallend.

»Nein, viel weiter fort.«

»Wo denn?«

»In Indien.«

Einen Augenblick starrte sie ihn prüfend an.

»Bitte, beschreiben Sie mir’s!« sagte sie dann mit wahrer Inbrunst. Wieder waren Haltung und Ton ganz verändert, es gab wirklich etwas, was ihr heiliger Ernst war! »Ist es wirklich so schön?«

»Das Schönste auf der Welt.«

»Und woraus besteht es? Spannen Sie mich doch nicht auf die Folter!«

»Es besteht aus Diamanten, Perlen, Rubinen, Opalen, Türkisen, Amethysten, Saphiren, ein Seil voll! Die Rubinen sind so groß wie Ihre Faust und die Diamanten ungefähr wie Hühnereier. Es wäre ein Lösungsgeld für einen König!«

Die junge Frau schnappte förmlich nach Luft.

»Oh!« seufzte sie nach einer langen Pause und dann wieder: »Oh!« ein verwundertes, sehnsüchtiges schmachtendes Oh! »Und wo ist es?« fragte sie dann jählings.

»Am Hals eines Götzenbilds in der Provinz Radschputana. Möchten Sie es haben?« fragte Tarvin.

Sie lachte hell auf. »O ja,« rief sie.

»Dann werd‘ ich’s Ihnen verschaffen,« erklärte er einfach.

»O Sie…« schmollte sie.

»Ich werde es Ihnen verschaffen,« wiederholte Tarvin.

Sie warf das hübsche blonde Köpfchen zurück und lachte zu den gemalten Putten an der Decke des Wagens hinauf. Sie warf immer den Kopf zurück, wenn sie lachte; ihr weißes Hälschen nahm sich so hübsch aus dabei.

  1. I. D. B. steht für Illicit diamond buying, ein Vergehen gegen das strenge und streng gehandhabte Gesetz, das Minenarbeitern jeden Handel mit Diamanten untersagt. Anm. d. Uebers.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Stillsitzen ist das erste, was der junge Jockey lernen muß. Tarvin lernte es und es war eine bittere Lehre. Um seiner Stadt, um seiner Liebe willen, vor allem um des Lebens der Geliebten willen hätte er fort sollen. Die Stadt erwartete ihn, das Pferd stand gesattelt vor der Thüre, aber die Geliebte kam nicht, er mußte stillsitzen.

Der glühende Hauch des Wüstenwinds wehte ihn durch die offene Verandathüre so schonungslos an, wie Sitabhais Haß. Wenn er hinaussah, war nichts zu erblicken, als die im grellen Sonnenlicht schlafende Stadt und die kreisenden Weihen in den Lüften. Wenn aber der Abend kam, wo ein kühner Reiter vielleicht die Eisenbahnlinie hätte erreichen können, lösten sich geheimnisvolle Gestalten von den Wällen und pflanzten sich in Schußweite vom Dâk Bungalow auf. In allen Windrichtungen bezogen sie ihre Posten und ein Berittener pendelte die ganze Nacht zwischen ihnen hin und her. Es war so still, daß Tarvin den gleichmäßigen Hufschlag dieses Wachtdiensts deutlich vernahm, ein Geräusch, das nicht viel Ermutigendes hatte. Und doch – ohne Käte, ohne Käte, so wiederholte er sich ohne Unterlaß, wäre er längst außer dem Bereich von Rossen und Kugeln gewesen. Unendlich lang dehnten sich die Stunden, wie er so saß und die Schatten wachsen und schwinden und schwinden und wachsen sah, und schien es ihm, wie es ihm schon so oft geschienen hatte, daß haarscharf in diesem Augenblick Topaz sein Glück verscherze.

Schon achtundvierzig dieser kostbaren Stunden hatte er auf diese Weise vergeuden müssen, und ihn bedünkte es fast, als ob er den Rest des Lebens mit dieser unfruchtbaren Beschäftigung auszufüllen hätte.

Und mittlerweile war Käte jeder erdenklichen Gefahr preisgegeben! Sitabhai nahm ja unbedingt an, daß er ihr für das kleine, schmächtige Mädchen das Halsband abgejagt habe, sie hatte es ja ausgesprochen. Es war auch für Käte erbeutet, in gewissem Sinn wenigstens, aber wie konnte er der Feindin zutrauen, daß sie das Maß von Kätes Anteil, an der Sache richtig schätze? Die Orientalen haben überhaupt wenig Sinn für Maßverhältnisse und schlagen gegen das Zunächstliegende los. Und Käte? Wie in aller Welt sollte er ihr die Sachlage verständlich machen? Er hatte ihr gesagt, daß sie in Gefahr sei und er auch, und sie wollte der Gefahr, die sie betraf, die Stirne bieten. Diesen Mut, diese Aufopferungsfähigkeit liebte er ja an ihr, aber zähneknirschend mußte er sich gestehen, daß auch ein gutes Teil Eigensinn dabei sei.

In dem ganzen Knäuel von Schrecknissen und Wirrsalen war wenigstens ein Moment kaustischer Komik. Was würde der König zu Sitabhai sagen, wenn er entdeckte, daß sie das »Staatsglück« verloren hatte? In welcher Weise würde sie den Verlust verheimlichen und vor allem, welch königlicher Zornesraserei würde sie verfallen? Tarvin schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Für mich ist die Sache ja schlimm genug,« brummte er, »so schlimm, als sie überhaupt sein kann, aber dem wackeren Juggut mag’s auch nicht sonderlich wohl sein in seiner Haut. Ja, so viel Zeit habe ich schon noch übrig, daß mir der fette Bursche leid thut. O wackerer Juggut, wenn du etwas sicherer gezielt hättest das erste Mal draußen vor der Stadtmauer!«

Er stand auf und sah auf die sonnbeschienene Straße hinaus. Welcher von den Wegelagerern, die sich da herumtrieben, wohl ein Abgesandter des Palasts sein mochte? Einer lag scheinbar schlafend im Schatten seines Kamels; doch als Tarvin wie zufällig ein paar Schritte vor die Veranda machte, wälzte sich der Schläfer sofort auf die andre Seite des Tiers. Weiter schlendernd, bemerkte Tarvin, daß auf dem Rücken des Kamels etwas wie Silber im Sonnenschein funkelte. Den Revolver in der Hand, ging er geradeaus auf das glitzernde Ding zu. Als er vor dem Kamel stand, war dessen Rücken leer, der Mann schlief den Schlaf des Gerechten, aber zwischen den Falten des Mantels blinkte die Mündung einer neuen, überaus blanken Flinte.

»Sieht aus, als ob Sitabhai die Miliz einberufen und aus ihrem Privatarsenal nagelneu ausgerüstet hätte! Jugguts Flinte war auch neu,« überlegte Tarvin, vor dem Schläfer stehend, »dieser da versteht aber sicher etwas mehr von Schießgewehren. Heda, Mann!«

Er beugte sich über den Schützen und stieß ihn mit dem Revolver an.

»Thut mir leid, Ihren Schlaf zu stören, aber ich muß mir die Flinte da ausbitten. Bestellen Sie der Dame, sie solle sich nicht weiter bemühen, es lohnt nicht!«

Der Mann, der die stumme Sprache der Pistole, wenn auch sonst nichts, verstand, gab sichtlich verdrossen die Flinte ab und zog, zornig auf sein Kamel lospeitschend, seines Wegs.

»Wieviele von dieser Armee ich wohl noch zu entwaffnen bekomme?« fragte sich Tarvin, als er, die erbeutete Flinte über die Schulter hängend, zurückging. »Ob sie wohl – nein, nein, daß sie sich an Käte wagt, will ich nicht glauben! Sie kennt mich doch hinreichend, um zu wissen, daß ich sie mitsamt ihrem alten Palast ins Jenseits befördern würde! Wenn sie auch nur halbwegs die Person ist, die sie sich zu sein brüstet, wird sie vorher mit mir abrechnen, eh‘ sie weiter geht!«

Allein es war ganz vergebens, daß Tarvin sich in diesen tröstlichen Glauben hineinreden wollte, Sitabhai hatte ihm gezeigt, welcher Art ihre Barmherzigkeit war, und Käte mochte sie mittlerweile schon an sich erfahren haben. Jetzt zu ihr zu gehen, ohne unterwegs mindestens zum Krüppel geschossen zu werden, war ein Ding der Unmöglichkeit, Tarvin beschloß aber doch, es zu thun. Hastig suchte er sein Pferd auf, das noch vor drei Minuten im Sonnenschein hinter dem Rasthaus nach den Fliegen geschnappt und geschlagen hatte, fand aber Fibby von einem Strick erwürgt in Todeszuckungen am Boden liegend.

Den Diener hörte er auf der andern Seite eifrig hantieren, und als der Mensch auf seinen Ruf herbeikam, warf er sich heulend neben dem Pferd zu Boden.

»Ein Feind hat’s gethan! Ein Feind hat’s gethan!« schrie der Bursche, sich windend und krümmend. »Mein schönes braunes Roß, das nie nichts Böses gethan hat als Bocken, wenn es der Hafer stach! Wo soll ich wieder einen Dienst finden, wenn ich mein anvertrautes Tier so sterben lasse?«

»Wenn ich’s nur wüßte! Wenn ich’s nur wüßte!« brummte Tarvin, durch diesen rätselhaften Zwischenfall wirklich der Verzweiflung nahe. »Der Kerl hätte seine Kugel im Kopf, wenn ich nur meiner Sache etwas sicherer wäre! Steh‘ auf, du Halunke! Fibby, alter Freund, ich vergebe dir all deine Sünden, und da – leb‘ wohl!«

Ein blaues Rauchwölkchen verhüllte Fibbys Kopf für einen Augenblick, dann fiel er schwer aufschlagend zur Seite und das wackere Roß hatte ausgelitten. Sein Wärter erfüllte die Luft mit Geheul und Wehklagen, bis Tarvin ihm einen Fußtritt gab und ihm befahl, sich zu packen. Es war auffallend, wie plötzlich sich sein Schmerz beruhigte, und als er in die Lehmhütte ging, um seine Siebensachen zusammenzuschnüren, schmunzelte er vergnüglich und holte aus einem Loch unter seiner Bettstelle etwas Silberglänzendes hervor.

Der seines Rosses beraubte Mann sah sich hilfesuchend nach allen Himmelsrichtungen um, gerade wie Sitabhai damals am Teich. Da bog eine Zigeunerbande mit magern Büffeln und kläffenden Hunden um einen Vorsprung der Stadtmauer und ließ sich wie ein Flug Schmutzvögel vor dem Stadtthor nieder. An und für sich waren Zigeunerbanden hierzulande nichts Auffälliges, aber die Polizei wachte sonst streng über die Ausführung der Bestimmung, daß sie nur eine Viertelmeile vor der Stadt lagern durften.

»Aha, wohl arme Verwandte der Dame!« brummte Tarvin vor sich hin. »Den Eingang zur Stadt verrammeln sie ja ganz niedlich, und wenn ich jetzt durchbrechen wollte zum Missionshaus, hätten sie mich! Es gibt entschieden angenehmere Spielgefährten, als morgenländische Königinnen, sie scheinen sich nicht viel um die Regeln zu kümmern.«

In diesem Augenblick wirbelte eine große Staubwolke mitten durchs Zigeunerlager und das Gefolge des Maharadscha Kunmar trieb das Volk nach rechts und links auseinander, um Raum für seinen Victoriawagen zu schaffen. Tarvin fragte sich noch, was das zu bedeuten haben möge, als der Wagen schon samt Gefolge vors Rasthaus gerasselt kam. Ein einzelner Soldat, der etwa zweihundert Schritte zurück war, erhob seine Stimme, um eine ehrfürchtige Meldung zu machen. Das Gefolge antwortete mit Lachen und zwei helle Kinderstimmen kreischten vor Vergnügen.

Ein Kind, das Tarvin noch nie gesehen hatte, stand aufrecht auf dem Rücksitz der Kutsche und übergoß den atemlosen Soldaten mit einem wahren Strom hindostanischer Schimpfwörter, worauf das Gefolge wieder lachte.

»Tarvin Sahib! Tarvin Sahib!« zirpte das Stimmchen des Maharadscha Kunwar. »Sieh uns doch nur an!«

Einen Augenblick dachte Tarvin an eine neue Tücke, aber der Maharadscha war doch ein zu vertrauter und erprobter Bundesgenosse, und so trat er an den Wagen.

»Prinz,« sagte er, ihm die Hand gebend, »Sie sollen nicht in der Sonne ausfahren!«

»Ach, ich bin ja wieder ganz gesund,« entgegnete der junge Mann hastig, obwohl ihn sein Aussehen Lügen strafte. »Ich habe den Befehl gegeben, und da sind wir. Fräulein Käte gibt mir Befehle, aber sie hat mich in den Palast gebracht, und dort befehle ich! Das ist Umr Singh, mein Bruder, der kleine Prinz – aber nur ich werde König!«

Der kleine Junge schlug die Augen auf und sah Tarvin voll an. Diese Augen und die niedere breite Stirne waren ganz von der Mutter, und die Lippen schlössen sich so fest über den Perlzähnchen, wie sich Sitabhais Lippen bei ihrem Streit am Dungar Talao zusammengepreßt hatten.

»Er ist von der andern Seite des Palasts,« plauderte der Maharadscha Kunwar auf englisch weiter, »von der Seite, wo ich nicht hingehen soll. Aber als ich im Palast war, ging ich doch hinüber, und da, denken Sie sich nur, Tarvin Sahib, hat er gerade eine Ziege umgebracht! Sieh! Er hat noch ganz blutige Hände!«

Auf ein Wort in der Mundart öffnete Umr Singh die geballten Fäustchen und hielt Tarvin zwei kleine Handflächen hin, die schwarz waren von erstarrtem Blut. Ein Staunen lief durch die zuschauenden Reiter; der Anführer drehte sich ein wenig im Sattel, nickte Tarvin zu und flüsterte: »Sitabhai!« Tarvin verstand ihn und begriff, daß ihm die Vorsehung aus heiterem Himmel ihren Beistand gesandt hatte. Sofort war sein Plan gefaßt.

»Aber wie kommt Ihr denn hierher, Ihr kleinen Bälger?« fragte er.

»Ach, in dem ganzen Palast sind ja nur Frauen, und ich bin ein Radschpute und ein Mann,« erklärte ihm der Prinz. »Der da kann gar nicht englisch sprechen, kein Wort, aber wenn wir zusammen spielten, habe ich ihm immer viel von Ihnen erzählt, Tarvin Sahib, und wie Sie mich aus dem Sattel gehoben und auf Ihr Pferd gesetzt haben, und da wollte er durchaus mitkommen und alles sehen, was Sie mir gezeigt haben, und da gab ich ganz heimlich den Befehl, und dann sind wir durch ein kleines Thor miteinander herausgeschlüpft – so kamen wir her! Salaam Baba!« sagte er gönnerhaft zu dem Kleinen, der langsam und würdevoll die Hand an die Stirne drückte, ohne den forschenden festen Blick von Tarvin abzuwenden.

Dann flüsterte er seinem Bruder etwas zu, worüber dieser lachte.

»Er sagt,« verdolmetschte der Prinz, »Sie seien nicht so groß, als er gedacht hätte! Seine Mutter habe ihm gesagt, Sie seien stärker als alle Männer, aber er meint, manche von meinen Soldaten seien größer!«

»Und was soll ich denn jetzt für euch thun?« fragte Tarvin.

»Ihm Ihr Gewehr zeigen und Rupien schießen, und ihm zeigen, wie Sie’s anstellen, daß kein Pferd Sie abwirft, und alle solche Sachen.«

»Schön, aber hier kann ich euch das nicht zeigen. Ihr müßt mit mir hinüberkommen zu Herrn Estes!«

»Das mag ich nicht … mein Affe ist tot … und ich glaube auch nicht, daß Käte eine Freude an uns hätte! Sie weint überhaupt die ganze Zeit! Gestern hat sie mich in den Palast gebracht und heute früh war ich bei ihr, aber sie wollte mich gar nicht sehen.«

Tarvin hätte das Kind küssen mögen für die gesegnete Botschaft, daß Käte überhaupt am Leben war.

»Ist sie denn nicht im Spital?« fragte Tarvin mit erstickter Stimme.

»Gibt kein Spital mehr. Keine Frauen mehr darin. Sind alle fortgelaufen.«

»Fortgelaufen! Sagen Sie das noch einmal, Prinz. Ja warum denn?«

»Teufel!« erklärte der Maharadscha kurz. »Was weiß ich davon? Weibergeschwätz! Sie müssen meinem kleinen Bruder zeigen, wie Sie reiten, Tarvin Sahib!«.

Wieder flüsterte Umr Singh seinem Bruder etwas zu und streckte dabei das eine Beinchen schon zum Wagen heraus.

»Er sagt, er wolle vor Ihnen im Sattel sitzen, wie ich damals,« übersetzte der Prinz. »Gurdit Singh, steig ab!«

Ein Soldat schwang sich vom Pferd und führte es Tarvin vor. Lächelnd über die Willfährigkeit, womit man ihm in die Hände arbeitete, stieg Tarvin auf, hob mit sicherem Griff den Kleinen aus dem Wagen und setzte ihn behutsam vor sich in den Sattel.

»Sitabhai würde diesen Anblick wohl etwas ungemütlich finden,« brummte er vor sich hin, indem er den Arm um die schmale Kindergestalt schlang. »Die Jugguts werden mir wohl vom Leib bleiben, solang ich diesen Schild vor die Brust halte.«

Während das Gefolge eine Gasse bildete, um Tarvin an die Spitze des Zugs zu lassen, wandte sich ein herumstrolchender Priester, der die kleine Scene aus einiger Entfernung aufmerksam beobachtet hatte, der Stadt zu und fing mit voller Kraft seiner Lungen zu rufen an. Unsichtbare Stimmen nahmen den Ruf auf und trugen ihn weiter, bis er von der Stadtmauer weiter hallte und dann verklang.

Umr Singh lachte, als das Pferd zu traben begann, und drängte Tarvin, schneller zu reiten. Dagegen erhob aber der Maharadscha Kunwar Einsprache, er wollte in seinem Wagen nichts von dem Schauspiel verlieren. Als sie sich jetzt dem Zigeunerlager näherten, warfen sich die Leute mit dem Ruf: »Jai! Jungle da badschah jai!« in den Sand. Die Gesichter der Soldaten wurden finster.

»Das heißt, Sieg dem König der Wüste!« rief der Maharadscha Kunwar. »Und jetzt habe ich gar kein Geld bei mir – haben Sie keins, Tarvin Sahib?« In seines Herzens Freude, sich sicher auf dem Weg zu Käte zu wissen, würde Tarvin all sein Hab und Gut, beinahe das Naulahka, hergegeben haben! Er warf eine Handvoll Silber- und Kupfermünzen unter das fahrende Volk, und der Zuruf ertönte abermals, nur mischte sich diesmal mildes Lachen darein und die Zigeuner riefen einander höhnische Worte zu, bei deren Klang das Gesichtchen des Maharadscha Kunwar purpurn erglühte. Er hörte einen Augenblick aufmerksam hin, dann rief er zornig: »Bei Indur! Sie meinen ihn! Reißt ihre Zelte nieder!«

Auf einen Wink seiner Hand sprengten die Soldaten jauchzend in das Lager hinein, rissen die Feuer auseinander, zerstreuten die Asche, hieben mit flachen Schwertern auf die Esel ein, daß sie davon rannten, und brachten die schlechten braunen Zelttücher an der Lanzenspitze zurück. Tarvin sah mit Befriedigung, wie sich die Zigeuner zerstreuten, wohl wissend, daß sie ihn aufgehalten hätten, sobald er allein gewesen wäre.

Umr Singh biß sich auf die Lippen, wandte sich aber dann lächelnd zum Maharadscha Kunwar und zog als Zeichen seiner Lehenstreue den kleinen Säbel aus dem Gürtel.

»Es ist gerecht, mein Bruder,« sagte er auf Hindostanisch. »Aber,« – dabei erhob er die Stimme ein wenig – »zu weit treiben würde ich die Zigeuner nicht. Sie kommen doch immer wieder,«

»Jawohl,« rief eine Stimme aus dem Zuschauerkreis, der sich rasch um das zerstörte Lager gebildet hatte, bedeutungsvoll, »Zigeuner kommen immer wieder, mein König!«

»Wie die Hunde,« rief der Maharadscha zähneknirschend. »Und wie die Hunde jagt man sie mit Fußtritten. – Weiterfahren !«

Eine ungeheure Staubwolke wälzte sich aufs Missionshaus zu, Tarvin in voller Sicherheit mitten drin.

Er wies die Prinzen an, auf der Veranda zu spielen, bis er wieder herauskäme, und stürmte ins Haus. In einer dunkeln Ecke des dämmerigen Wohnzimmers fand er Käte mit einer Näharbeit in der Hand. Die Augen, die jetzt zu ihm aufblickten, hatten viele Thränen vergossen.

»Nick!« wollte sie rufen, aber die Stimme versagte ihr fast. »Nick!«

Er war zögernd auf der Schwelle stehen geblieben. Sie warf die Arbeit weg und flog empor.

»Du bist da! Du bist’s! Du lebst!«

»Ueberzeuge dich davon,« sagte Tarvin lächelnd, indem er ihr die Arme entgegenbreitete.

»O … ich hatte solche Angst …«

»Komm!«

Zweifelnd that sie einen Schritt vorwärts, da umfaßte er sie rasch und bettete ihr Haupt an seiner Brust. Eine Weile ließ sie ihn gewähren, dann blickte sie auf.

»So war’s nicht gemeint,« wandte sie ein.

»Gib dir keine Mühe, etwas so Verständiges verbessern zu wollen!« sagte Tarvin hastig.

»Sie hat den Versuch gemacht, mich zu vergiften, und als ich so lange nichts von dir hörte, da dachte ich – die entsetzlichsten Dinge habe ich mir vorgestellt!«

»Armes Kind! Und dein Spital ist des Teufels? Das war eine harte Zeit! Jetzt kommt’s aber anders! Wir müssen fort, so rasch du dich fertig machen kannst! Für den Augenblick habe ich ihr die Klauen beschnitten! Ich halte ein Pfand von ihr, das sie nicht aufs Spiel setzt, aber ich bin nicht in der Lage, es lange festzuhalten. Darum müssen wir fort.«

»Wir?« wiederholte Käte leise.

»Willst du etwa allein reisen?«

»Nein,« sagte sie lächelnd, indem sie sich aus seinem Arm löste, »du mußt ja fort.«

»Und du?«

»Ich bin nicht wert, daß man sich um mich sorgt. Ich bin gescheitert in allen Stücken, alles, was ich aufgebaut habe, ist zusammengestürzt. Mir ist’s zu Mute, als ob ich ausgebrannt wäre, Nick, ganz ausgebrannt.«

»Ganz schön! Da setzen wir ein neues Werk ein und betreiben dich nach einem andern System! Paßt mir ganz gut! Du sollst nicht mehr daran erinnert werden, daß du je in Rhatore warft.«

»Es war ein Irrtum, Nick.«

»Was?«

»Alles! Mein Plan, meine Reise. Es ist keine Arbeit für ein Mädchen, oder vielleicht bin ich nicht das Mädchen dafür. Ich gebe sie auf, Nick – bring mich nach Hause!«

Tarvin stieß einen höchst unziemlichen Jubelschrei aus und schloß Käte wiederum in die Arme. Mit hastigen Worten setzte er ihr auseinander, daß sie sofort getraut werden und, wenn irgend möglich, noch heute nacht abreisen müßten. Käte erhob keine Einsprache, weil ihr um sein Leben bangte, aber sie murmelte etwas von Vorbereitungen, Tarvin erklärte aber, sie müsse sich eben nach vollbrachter That »vorbereiten«. In Bombay würde man ja alles kaufen können, haufenweise!

Vom Wirbelsturm seiner Ungeduld und Thatkraft mit fortgerissen, gab sie ihre Bedenken auf, plötzlich aber rief sie erschreckend: »Und was wird aus dem Damm, Nick? Den kannst du doch nicht verlassen.«

»Mumpiz!« rief Tarvin aus Herzensgrund. »Du bildest dir doch nicht etwa ein, es sei auch nur ein Körnchen Gold in dem Fluß?«

Rasch löste sie sich aus seinen Armen und starrte ihm erschrocken und vorwurfsvoll ins Gesicht.

»Du willst doch nicht sagen, daß … daß du das von Anfang an gewußt hättest?«

Tarvin nahm rasch die Maske vor, aber nicht so schnell, daß sie nicht ein Geständnis in seinem Blick gelesen hätte.

»Du hast es gewußt,« sagte sie in eisigem Ton.

Schnellen Blicks überschaute Tarvin die neue Gefahr, die aus heiterem Himmel über ihn hereinbrach: mit einer plötzlichen Veränderung seiner Taktik erwiderte er ihren anklagenden Blick durch ein sonniges Lächeln.

»Ja, ich hab’s gewußt. Die Arbeit war ein Blendwerk, ein Vorwand.«

»Ein Blendwerk? Um was zu verdecken?«

»Dich!«

»Was soll das heißen?« fragte sie mit einem Ausdruck, der ihm einen Schauder über den Rücken jagte.

»Die indische Regierung gestattet keinem Fremden längeren Aufenthalt im Lande, wenn er nicht einen bestimmten Zweck dafür angeben kann. Daß ich meinem Schatz nachgereist sei, konnte ich dem Oberst Nolan doch nicht wohl angeben, oder?«

»Ich … ich weiß nicht … aber du hättest doch vermeiden können, dieses … dieses Blendwerk mit dem Geld des Maharadscha auszuführen! Ein ehrlicher Mann würde das nicht gethan haben.«

»Da muß ich denn doch bitten!« rief Nikolas Tarvin.

»Wie konntest du dem König weis machen, dein Werk habe einen ernsten Zweck, ihn belügen, dir Tausende von Arbeitskräften geben lassen, sein Geld verschwenden! O Nick! Nick!«

Im Innersten betroffen starrte er sie fast verzagend an.

»Aber Käte!« rief er. »Weißt du denn gar nicht, daß du von dem besten Witz redest, den Indien seit der Welterschaffung zu genießen bekam?«

Das war ja recht gut gesagt, aber lange nicht gut genug, das wurde Tarvin klar, als Käte mit einem verdächtigen Klang in der Stimme zur Antwort gab: »Du machst die Sache nur schlimmer!«

»Sinn für Humor war nie deine starke Seite, das wissen wir ja, Käte,« bemerkte er, sich neben sie setzend und ihre Hand ergreifend. »Ich meine aber, dieses Mal müßte er dir doch aufgehen! Findest du denn gar nichts Ergötzliches daran, wenn ein Mann ein halbes Königreich umgräbt, einzig um in der Nähe eines kleinen Mädchens sein zu können, eines ganz besonderen, herzigen Mädchens freilich, das aber im Vergleich zum Ametthal doch sehr winzig ist – belustigt dich das kein bißchen?«

»Ist das alles, was du zu deiner Verteidigung vorzubringen hast?« fragte sie.

Tarvin wurde blaß. Er kannte diesen abschließenden, endgültigen Ton, er hatte ihn oft gehört, wenn von Niedrigem die Rede war, und er kannte diesen Blick voll Verachtung, womit sie sittliche Verkommenheit von sich zu weisen pflegte. Er las darin sein Verdammungsurteil und ihn schauderte. In dem Augenblick, den er jetzt schweigend vorübergehen ließ, erkannte er, daß er hier einer Gefahr gegenüberstand, die ernster war, als alles, was ihm Sitabhai anhaben konnte. Er nahm sich darum stramm zusammen und sagte ruhig und unbefangen: »Du traust mir doch wohl zu, daß ich dem Maharadscha seine Ausgaben bei Heller und Pfennig zurückerstatten werde?«

Käte war verblüfft. So genau sie Tarvin kannte, an diese schwindelerregenden Wendungen war sie noch nicht gewöhnt. Seine vogelartige Geschicklichkeit, anscheinend geradeaus zu stürmen, plötzlich einen Kreis zu beschreiben und wieder am Ausgangspunkt zu stehen und dabei alles wie aus einem Impuls entsprungen erscheinen zu lassen, würde sie wohl noch oft in Verwirrung stürzen! Aber sie glaubte ja unverbrüchlich an seinen Willen zum Guten, sobald er klar sah, was gut war, und ihr Glaube an seine Kraft und Ueberlegenheit verhinderte sie, zu erkennen, daß sie es war, die ihm in diesem Fall den Weg gezeigt hatte. Sie wußte nicht und hätte sich vermutlich gar nicht vorstellen können, wie wenig seine Erkenntnis des Richtigen mit irgend einem Moralsystem zu schaffen hatte und wie ausschließlich sein Rechtsgefühl auf das ihrige angewiesen war. Andre Frauen liebten Putz und Schmuck, Käte zog Sittlichkeit vor, und da ihr Geschmack einmal so war, wollte er sie ihr verschaffen, und wenn er sie stehlen müßte!

»Du hast doch nicht im Ernst gezweifelt, daß ich den Spaß nicht aus meiner Tasche bezahlen werde?« fuhr er mit einem großen Aufwand von Tapferkeit fort, im innersten Herzen aber scholl eine Stimme: »Sie haßt es! Sie verdammt es! Warum hab‘ ich das nicht bedacht?«

Laut setzte er hinzu: »Ich habe meinen Spaß daran gehabt, und jetzt habe ich dich! Beides ist für den Preis billig, und darum werde ich ihn ohne Murren zahlen. Das könntest du doch wissen, Käte.«

Aber seinem Lächeln antwortete kein Lächeln von ihr. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah das Mädchen in heimlicher Angst von der Seite an. Aller Humor der Welt stand ihm nicht gut dafür, was sie zunächst sagen würde, aber sie sagte gar nichts, und so mußte er weiter reden, obwohl ihm die Angst fast die Kehle zuschnürte.

»Das würde mir doch nicht ähnlich sehen, den alten Radscha betrügen zu wollen? Ein Mann, dem eine einzige Mine zweitausend Dollars im Monat einträgt, braucht doch nicht in die Wüste zu gehen, um einen arglosen indischen Fürsten um ein paar tausend Rupien zu prellen?« Er trug diese vom Augenblick eingegebene Auffassung seiner Handlungsweise mit einer Ueberzeugung vor, als ob er seit undenklichen Zeiten damit vertraut wäre; die helle Verzweiflung gab ihm Kraft dazu.

»Was für eine Mine?« fragte Käte trocken.

»Die ›Zögernde Ader‹ natürlich! Du hast doch davon gehört?«

»Ja, aber ich wußte nicht …«

»Daß sie so viel einträgt? Nun gut, es ist aber so. Willst du die Erzprobe sehen?«

»Nein, nein … aber dann, … Nick … dann bist du ja …«

»Ein reicher Mann? So lang das Blei vorhält allerdings, wenn auch in bescheidenem Maßstab. Zu reich für kleinliche Diebsgelüste jedenfalls.«

Er witzelte um sein Leben! Der herzbrechende Ernst seiner Lustigkeit durchbohrte ihm ordentlich den Kopf, die Anspannung war zu groß. In der wahnsinnigen Angst dieser Sekunden sah und fühlte er doppelt klar und stark. Als er das Wort »Diebsgelüste« hinwarf, that sein Herz einen wilden Schlag, dann schien es still zu stehen. Eine furchtbare, unumstößliche, leuchtend klare Gewißheit drängte sich ihm auf: er wußte, daß er verloren war.

Wenn sie das schon haßte, was würde sie erst zu dem andern sagen? Als ein Erfolg, Triumph, Sieg war es ihm erschienen, aber ihr? Es wurde ihm schwarz vor den Augen.

Käte oder das Naulahka. Vor diese Wahl war er gestellt. Das Naulahka oder Käte.

»Schreib’s nicht nur deinem Geld zu, Nick,« erwiderte sie. »Du würdest ebenso ehrlich und ehrenhaft handeln, wenn du keins hättest.«

Und sie legte in stummer Abbitte für ihren Zweifel ihre Hand auf seinen Arm.

»Ich kenne dich ja, Nick! Du liebst es, den schlechteren Beweggrund an Stelle des besseren zu setzen, dich selbst anzuschwärzen. Wer ist denn ehrlicher als du? O Nick! Ich wußte es wohl, daß du nicht anders als wahr sein kannst. Sonst müßte ja die ganze Welt schlecht sein.«

Er schloß sie in die Arme.

»Meinst du, kleines Mädchen?« fragte er, auf sie niederblickend. »Dann müssen wir sorgen, daß die Welt gut bleiben kann, koste es, was es wolle!«

Mit einem schweren Seufzer beugte er seinen Kopf und küßte er Kätes Lippen.

»Hast du vielleicht ein Kistchen?« fragte er nach einer Weile. »Irgend ein Kistchen?« fragte Käte verwundert.

»Von Rechts wegen sollte es der schönste Schrein der Welt, ein Kunstwerk sein, aber ich denke mir, so ein Traubenkistchen thut’s zur Not auch. Man schickt nicht jeden Tag einer Königin Geschenke!«

Käte reichte ihm ein längliches, schmales Holzkistchen, wie man sie zur Verpackung der langen grünen Kabultrauben verwendet. Der Boden war mit Watte belegt.

»Das Hab‘ ich neulich von einem Hausierer gekauft,« bemerkte sie. »Ist es groß genug?«

Tarvin nahm’s und wandte sich stumm ab. Es klang, als ob er eine Handvoll Kieselsteine in die Kiste würfe, und er seufzte tief dabei. Was er hier einpackte, war Topaz. Da erklang aus dem anstoßenden Zimmer die Stimme des Maharadscha Kunwar.

»Tarvin Sahib – Käte, das Obst haben wir aufgegessen, jetzt möchten wir etwas andres thun.«

»Nur einen Augenblick, kleiner Mann,« rief Tarvin hinaus.

Käte den Rücken zukehrend, strich er mit liebkosender Hand noch einmal, zum letztenmal, über die blitzenden Steine, die er auf die Watte gebettet hatte, von jedem einzelnen zärtlich Abschied nehmend. Der große grüne Smaragd funkelte ihn an, ordentlich zornig und vorwurfsvoll, wie es Tarvin vorkam. Ein Nebel legte sich vor seine Augen – der Diamant war gar zu blendend. Hastig schloß er den Deckel und legte das Kistchen mit seltsamem Ernst in Kätes Hand; sie mußte es halten, während er es schweigend zuschnürte. Nach einer Weile erklärte er ihr mit einer Stimme, die gar nicht wie die seinige klang, sie müsse es Sitabhai persönlich übergeben mit seinem Gruß.

»Nein, nein,« setzte er als Antwort auf ihren erschrocken fragenden Blick hinzu, »sie wird dir kein Leid thun – jetzt wagt sie’s nicht. Ihr Kind ist bei uns, und natürlich bleibe ich in deiner Nähe, soweit es angeht. Gott sei gelobt, das ist die letzte Reise, die du in dem verdammten Land machen wirst, die vorletzte heißt das. Der Hochdruck, worunter wir in Rhatore stehen, geht über meine Kräfte – wenn du mich liebst, so tummle dich!«

Käte machte sich eilends zum Ausgehen fertig, während Tarvin den beiden Prinzen seinen Revolver zeigte und ihnen versprach »ein ander Mal« so viel Rupien, als sie wollten, aus der Luft zu schießen. Das vor dem Haus herumlungernde Gefolge wurde plötzlich durch einen reitenden Boten aufgestöbert, der mit verhängten Zügeln durch ihre Reihen sprengend schon von weitem rief: »Ein Brief für Tarvin Sahib!«

Tarvin trat auf die Veranda, nahm ein zerknittertes Briefblatt aus der ausgestreckten Hand des Mannes und las die mühsam und sorgfältig hingemalten Worte: »Lieber Herr Tarvin! Geben Sie mir den Knaben und behalten Sie das andre. Ihre Freundin.«

Tarvin steckte das Blatt lächelnd in die Westentasche.

»Keine Antwort nötig,« beschied er den Boten, zu sich aber sagte er: »Du bist eine aufmerksame Frau, Sitabhai, ich fürchte, ein wenig zu aufmerksam, und deinen Sohn haben wir für die nächste halbe Stunde sehr nötig. Bist du fertig, Käte?«

Die Prinzen erhoben ein Wehgeschrei, als man ihnen ankündigte, daß Tarvin sofort zum Palast reite und daß sie ihn begleiten müßten, falls sie weitere Kurzweil wünschten.

»Dann gehen wir in die große Durbarhalle,« beschwichtigte der Maharadscha Kunwar schließlich den trostlosen kleinen Bruder, »und lassen alle Musikwerke zugleich spielen!«

»Ich will aber den Mann schießen sehen,« erklärte Umr Singh eigensinnig. »Ich will sehen, wie er etwas tot schießt, und nach Hause will ich nicht!«

»Du sollst auf meinem Pferd reiten,« tröstete ihn Tarvin, nachdem ihm des Kindes Verlangen verdolmetscht worden war, »und wir werden den ganzen Weg Galopp reiten. Wie rasch kann denn der Wagen fahren, Prinz?«

»Sehr, sehr schnell, wenn Käte keine Angst hat!«

Käte stieg ein, und der Zug setzte sich in Bewegung. Tarvin galoppierte an der Spitze, und Umr Singh patschte mit den Händchen auf den Sattelknauf.

»Wir müssen bei Sitabhai vorfahren,« bestimmte Tarvin. »Du fürchtest dich doch nicht, neben mir durch den Thorbogen zu gehen?«

»Ich vertraue dir, Nick,« sagte Käte einfach, indem sie aus dem Wagen stieg.

»Dann geh‘ in den Frauenpalast, gib das Kästchen in Sitabhais eigene Hand und sage ihr, ich schicke es zurück. Du wirst merken, daß sie meinen Namen kennt.«

Die Huftritte des Pferdes hallten unter dem Thorbogen, Käte schritt neben Roß und Reiter her, und Tarvin hielt den kleinen Prinzen so, daß er gesehen werden mußte. Der Hof war leer, aber als sie in das helle Sonnenlicht beim Brunnen in der Mitte kamen, entstand wieder ein Flüstern und Rascheln und Raunen hinter den grünen Läden, wie wenn der Wind im Röhricht rauscht.

»Einen Augenblick, Liebste,« sagte Tarvin, »wenn du diese Sonne ertragen kannst.«

Eine Thüre ging, und ein Eunuche machte Käte ein Zeichen, einzutreten. Sie gehorchte und die Thüre fiel hinter ihr zu. Tarvins Herz pochte angstvoll, und unbewußt preßte er den Knaben so fest an sich, daß Umr Singh aufschrie.

Das Geflüster hinter den Läden nahm zu, und Tarvin war’s, als ob er jemand schluchzen höre. Dann folgte ein leises perlendes Lachen, und die Spannung um Tarvins Mund ließ ein wenig nach. Umr Singh begann ungebärdig zu werden, er wollte absteigen.

»Noch nicht, noch nicht, junger Mann! Du mußt warten bis – Gott sei gelobt!« Die Thüre hatte sich wieder geöffnet, Kätes schmale Gestalt stand hell in dem dunklen Rahmen. Hinter ihr kam der Eunuch, furchtsam zu Tarvin herkriechend. Dieser lächelte huldvoll und warf ihm den sehr erstaunten kleinen Prinzen in die Arme. Umr Singh mochte boxen und stoßen, wie er wollte, er wurde davongetragen, und man hörte von drinnen sein Wutgebrüll, dem nicht zu mißdeutende Schmerzenslaute folgten. Tarvin lächelte.

»Aha, man haut junge Prinzen in Radschputana, das spricht für beginnenden Fortschritt! Was hat sie gesagt, Käte?«

»Ich soll dir bestellen, daß sie wisse, es geschehe nicht aus Furcht. »Sagen Sie Tarvin Sahib, ich wisse, Furcht sei es nicht«, das waren ihre Worte.«

»Wo ist Umr Singh?« fragte der Maharadscha Kunwar, der in seinem Wagen geblieben war.

»Bei seiner Mutter, und mit unsrer Unterhaltung wird es jetzt leider nicht viel werden, kleiner Mann! Ich habe vierzigtausend Geschäfte zu erledigen und nicht die entsprechenden Minuten dafür! Sagen Sie mir, wo der König ist.«

»Ich weiß es nicht. Im Palast gab’s Zank und Thränen. Frauen weinen ja immer, und da wird mein Vater böse. Ich will bei Herrn Estes bleiben, und Käte soll mit mir spielen!«

»Ja, laß ihn bei mir,« fiel Käte rasch ein. »Nick, meinst du denn überhaupt, ich dürfe ihn verlassen?«

»Das ist auch eine von den Angelegenheiten, die ich zu erledigen habe,« versetzte Tarvin. »Vor allem muß ich jetzt den Maharadscha auftreiben, und wenn ich Rhatore auf den Kopf stellen müßte. – Was bedeutet das, kleiner Mann?«

Ein Soldat hatte dem Prinzen etwas ins Ohr geflüstert.

»Der Mann sagt, mein Vater sei hier, er sei schon seit zwei Tagen hier. Ich habe ihn auch gar nicht zu sehen bekommen.«

»Gut. Fahr‘ du nach Hause, Käte, ich warte hier.«

Er ritt wieder durch den Thorbogen und pflanzte sich im Hof auf. Wieder erhob sich das Geraschel hinter dem Gitterwerk, und ein Thürhüter fragte nach Tarvins Begehren.

»Ich muß den Maharadscha sprechen.«

»Warten Sie.«

Und Tarvin wartete volle fünf Minuten, eine Frist, die er zu gesammeltem Nachdenken wohl brauchen konnte.

Dann trat der Maharadscha wirklich heraus; Leutseligkeit und Huld strahlten aus jedem einzelnen Haar des frischgeölten Schnurrbarts.

Aus geheimnisvollen Gründen hatte ihm Sitabhai die Wonne ihres Anblicks zwei volle Tage entzogen gehabt und sich in ihre Gemächer verschlossen, wo sie vor Wut raste. Nun hatte sich die Wolke des Unmuts verzogen, und die Zigeunerin ließ ihn wieder vor. Darum war das Herz des Maharadscha voll Freude, und weise, wie der Gatte so vieler Frauen sein muß, unterließ er allzu gründliche Fragen nach der Ursache dieser Wandlungen.

»Ach, Tarvin Sahib!« begrüßte er den Freund. »Ich habe Sie ja lange nicht gesehen! Was macht der Damm? Irgend etwas Neues vorgefallen?«

»Maharadscha Sahib, darüber wollte ich eben sprechen! Vorgefallen ist nichts, und ich glaube, wir werden auch kein Gold finden.«

»Das ist ja schlimm,« sagte der König leichthin.

»Aber zu sehen ist mancherlei, wenn Sie hinauszukommen geruhen. Jetzt, da ich überzeugt bin, daß wir kein Gold finden, möchte ich Ihnen keine unnützen Ausgaben mehr bereiten, aber weshalb wir mit dem Pulver knausern sollten, das schon hinausgeschafft worden ist, sehe ich auch nicht ein. Es werden ungefähr fünfhundert Pfund draußen sein.«

»Ich verstehe nicht recht…« sagte der Maharadscha, der ganz andre Dinge im Kopf hatte.

»Möchten Sie die großartigste Explosion mitansehen, die sich denken läßt, möchten Sie die Erde beben und die Felsen fliegen sehen?«

Des Maharadscha Augen leuchteten auf.

»Wird man’s vom Palast aus sehen können?« fragte er. »Vom obersten Dach?«

»Gewiß, aber die beste Ansicht wird doch die vom Flußthal aus sein. Um fünf Uhr will ich den Amet in sein altes Bett lassen, jetzt ist’s drei Uhr. Werden Sie hinauskommen, Maharadscha Sahib?«

»Ich werde kommen. Das muß ja ein großartiges ›Tamasha‹ werden! Fünfhundert Pfund Pulver! Die werden die Erde entzwei reißen!«

»Das will ich meinen! Und hernach, Maharadscha Sahib, mache ich Hochzeit und dann werde ich abreisen. Wollen Sie der Trauung beiwohnen?«

Der Maharadscha beschattete seine Augen mit der Hand und schielte unterm Turban zu Tarvin hinauf.

»Bei Gott, Tarvin Sahib, Sie sind ein rascher Mann! Sie werden also die Doktordame heiraten und dann fortgehen? Gut, gut, ich komme zur Trauung, und Pertab Singh wird mitkommen.«

Die zwei nächsten Stunden in Nikolas Tarvins Leben werden nie einen Chronisten finden, der sie erschöpfend beschriebe. Ein wilder Trieb, Berge zu versetzen und die Pole der Erde aus den Angeln zu reihen, beherrschte den Mann: unter sich fühlte er ein feuriges Roß, in sich das Bewußtsein, Naulahka, das Staatsglück, eingebüßt und Käte errungen zu haben. Wie ein Meteor platzte er unter die Kulis am Damm, und sie begriffen, daß große Dinge im Werk waren. Der Vorarbeiter erhob seine Stimme zu weithin schallenden Rufen, er hatte begriffen, daß die Losung des Tags Zerstörung hieß, das Einzige, was der Morgenländer wirklich erfaßt.

Das Pulver wurde mit viel Geschrei unter gellenden Zurufen aus dem Schuppen geschafft, die Büffelkarren von der Böschung des Damms geschoben, die Krahnbalken heruntergelassen, wobei die Rasen- und Binsenwälle der Kulis mitgerissen wurden. Dann wurden die Pulverfässer unter Tarvins zur Eile antreibendem Befehl auf der Höhe des Damms in die Erde gegraben, die umwickelten Zünder darüber geschichtet und über das Ganze frischer Sand geschaufelt.

Die Sache wurde etwas überstürzt betrieben, aber wenigstens war der ganze Pulvervorrat an einer Stelle angehäuft, und es wäre nicht Tarvins Schuld, wenn Knall und Rauch hinter den Erwartungen des Maharadscha zurückblieben!

Kurz vor fünf Uhr rückte er mit seiner Leibwache an, Tarvin steckte einen vielfach verlängerten Zünder in Brand und hieß alle Mann davonlaufen. Langsam fraß sich das Feuer in den Damm ein, dann spaltete dieser sich mit dumpfem Getöse, eine weiße Flamme zuckte aus seinem Herzen auf, und die Massen der emporgeworfenen Erde verdunkelten den Rauch.

Die Ruine fiel einen Augenblick in sich zusammen, bis die Wasser des Amet vorwärts stürzten in die breite Lücke, die sie mit zischenden Wirbeln erfüllten, um dann gelassen das alte Bett auszufüllen.

Ein Regen aller möglichen von den Ufern herabrutschenden Dinge spaltete die Wellen und hemmte das Wasser, daß es kleine Wirbel und Fälle bildete, nach kurzer Zeit aber waren der Pulverdampf und die geschwärzten Flanken des Damms, die mit jeder Minute mehr in das aufsaugende Wasser herunterrieselten, die einzigen Ueberbleibsel des großen Werks. »Und nun, Maharadscha Sahib, wie viel bin ich Ihnen schuldig?« fragte Tarvin, nachdem er sich mit Befriedigung überzeugt hatte, daß auch von den waghalsigeren Kulis keiner umgekommen war.

»Es war sehr schön! Ich habe nie etwas Derartiges gesehen!« erklärte der Maharadscha. »Schade, daß man dieses Schauspiel nicht wiederholen kann.«

»Und wieviel bin ich Ihnen schuldig?« wiederholte Tarvin.

»Dafür? Ach, das waren ja meine Leute! Sie haben ein wenig Hirse gegessen, viele kommen auch aus den Gefängnissen. Das Pulver, das ist aus dem Arsenal. Was brauchen wir da von Bezahlung zu reden? Bin ich ein Krämer, daß ich Ihnen sagen könnte, was es kostet? Es war ein schönes Tamasha. Bei Gott, jetzt ist der Damm ganz weg!«

»Ich möchte die Sache aber doch ins Reine bringen …«

»Tarvin Sahib, wenn Sie noch ein Jahr hier bleiben oder auch zwei, dann würde man’s vielleicht ausrechnen können, und wenn Sie’s dann bezahlen, würden die Zahlmeister der Gefängnisse das Geld in ihre Taschen stecken, und ich wäre um kein Haar reicher. Es waren meine Leute, die Hirse war billig, und das große Tamasha haben sie auch gesehen – das genügt. Von Bezahlung spreche ich überhaupt nicht gern. Kehren wir jetzt in die Stadt zurück! Bei Gott, Tarvin Sahib, Sie sind ein rascher Mann! Nun wird niemand mehr Pachisi mit mir spielen und niemand wird mich zum Lachen bringen. Der Maharadscha Kunwar wird Sie auch sehr vermissen, aber ein Weib zu nehmen ist gut für den Mann, sehr gut. Weshalb gehen Sie denn fort, Tarvin Sahib? Hat’s die Regierung befohlen?«

»Ja, die amerikanische. Man braucht mich, um den Staat regieren zu helfen.«

»Es ist aber kein Telegramm für Sie gekommen,« sagte der König unbefangen. »Doch Sie wissen ja alles!« Tarvin lachte, warf sein Pferd herum und ritt der Stadt zu, den Maharadscha innerlich beschäftigt, aber unerschüttert zurücklassend. Der König hatte sich allmählich gewöhnt, Tarvin und seine Handlungen als eine Naturerscheinung hinzunehmen, die niemand in der Gewalt hat.

Als der Amerikaner dem Missionshaus gegenüber gewohnheitsmäßig die Zügel anzog und einen Augenblick nach der Stadt hinaufsah, überfiel ihn jener Eindruck von plötzlicher Fremdheit täglich gesehener Dinge, der sich leicht einstellt, wenn uns eine große Veränderung bevorsteht, mit solcher Gewalt, daß er schauderte.

»Es war ein böser Traum,« brummte er vor sich hin, »ein böser, banger Traum, und das Schlimmste ist, daß sie mir in Topaz nicht die Hälfte glauben werden von dem, was ich wirklich erlebt habe!«

Sein Blick überflog die sonnverbrannte Landschaft, an die sich nun schon so manche Erinnerungen knüpften.

»Tarvin, mein Junge, du hast mit einem Königreich gespielt, und dabei ist ungefähr herausgekommen, was herauskommt, wenn der Affe mit der Kreissäge hantieren will! Du warst auf dem Holzweg, als du diesen Staat für ein ausgedientes Loch im Boden hieltest, ganz auf dem Holzweg, und wenn du sechs Monate hier herumgejagt bist nach einer Sache, die du nicht die Schneid hattest festzuhalten, so hast du wenigstens das gelernt … Topaz! Mein armes altes Topaz!«

Wieder faßte er den lohfarbigen Horizont ins Auge und lachte. Die kleine Stadt im Schatten des »Großen Häuptlings«, die zehntausend Meilen weit weg war und sich nicht träumen ließ, was für mächtige Hebel ihretwegen in Bewegung gesetzt worden waren, würde dieses Lachen bitter übel genommen haben, denn Tarvin, noch ganz im Bannkreis von Ereignissen, die Rhatore bis in die Eingeweide erschüttert hatten, dachte fast mit Herablassung an das Kind seines Strebens. Er schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und lenkte sein Pferd aufs Telegraphenamt zu.

»Wie in aller Heiligen und Teufel Namen soll ich diese Geschichte mit der Mutrie ins Lot bringen? Selbst eine Nachahmung des Naulahka in Glas würde dieser Frau das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. …«

Das Pferd trottete stetig weiter, und Tarvin verabschiedete die peinliche Sorge mit einer großartigen Handbewegung.

»Wenn ich’s überwinden konnte, kann sie’s auch! Aber per Draht will ich sie darauf vorbereiten.«

Der taubengraue Telegraphist und Generalpostmeister von Gokral Sitarun erinnert sich bis auf den heutigen Tag, wie der Engländer, der kein Engländer war, und daher doppelt unverständlich, zum letztenmal die enge Stiege heraufgeklettert kam, sich in den zerbrochenen Stuhl warf und um unbedingtes Schweigen bat. Nach einer guten Viertelstunde schweren Nachdenkens, wobei er sich den Schnurrbart fast ausriß und jene tiefen Seufzer ausstieß, die bei den Engländern Brauch sind, wenn sie etwas Unbekömmliches gegessen haben, sprang er auf, schob den hohen Beamten beiseite, rief das nächste Amt an und tippte eigenhändig seine Botschaft mit hochmütiger, hochtrabender Fingerbewegung. Lang, fast zärtlich verweilte er bei dem letzten Tasterdruck, hielt sein Ohr an den Apparat, als ob der ihm Antwort geben könnte, und wandte sich dann mit einem Lächeln von erhabener Milde dem Taubengrauen zu.

»Finis, Babu. Behalten Sie das wohl im Gedächtnis,« sagte er, und das Feldgeschrei seines Staats:

»Nicht Titel, Staat, nicht Geld,
Nur Thatkraft braucht der Held«

vor sich hin pfeifend, ging er ab.

Der Büffelkarren bewegte sich schwankend und krachend in der ersten Purpurglut der hereinbrechenden Nacht auf der Straße nach Rawut, und die niederen Vorberge der Aravullis standen wie vielfarbiges Gewölk gegen die türkisblaue Horizontlinie. Dahinter ragte zornesrot glühend der Fels von Rhatore in die Wüstenfläche hinein, deren eintöniges Gelb von den Schatten weidender Kamele gesprenkelt war. Die Weihen und Wildenten suchten ihre Lagerstätten im Röhricht auf, und graue Affen hockten familienweise am Rand der Straße, jeder den Arm um des andern Hals geschlungen. Hinter einem mit Buschwerk gefleckten Felsblock kam der Abendstern herauf; sein Spiegelbild erschien hell und ungestört auf dem Grund eines halb ausgetrockneten Sammelbeckens, das von rostgelb gewordenem Marmor und silberschimmerndem Federgras umsäumt war. Zwischen dem Stern und dem Erdboden wirbelten riesengroße fuchsköpfige Fledermäuse, und die Nachtschwalbe machte Jagd auf die gefiederten Motten. Die Büffel waren aus ihren Wasserlöchern hervorgekommen, und das Vieh legte sich zur Nachtruhe. Aus zerstreuten Höhlen erklang Gesang, und an den Hügelabhängen zwinkerten die Lichter friedlicher Heimstätten. Die Zugstiere grunzten, als der Treiber ihre Schwänze zusammenband, und das hohe Gras am Wegrain schlug wie leise Brandung gegen die sich langsam drehenden Radspeichen.

Der erste Hauch dieser Nacht, womit die kühle Jahreszeit anbrach, veranlaßte Käte, sich fester in ihre Decken zu wickeln. Tarvin saß am hinteren Ende des Karrens, die Beine frei baumeln lassend, den Blick unverwandt auf Rhatore geheftet, das jeden Augenblick durch eine Biegung der Straße für alle Zeiten aus seinem Gesichtskreis verschwinden konnte. Für Käte war das volle Bewußtsein ihrer Niederlage noch nicht angebrochen: was ein allzu wohl geschultes Gewissen ihr zu sagen hatte, stand ihr noch bevor. In dieser Stunde, wo sie mollig ausgestreckt auf einem Berg weicher Kissen ruhte, war ihr nichts bewußt als das wohlige Sicherheitsgefühl einer Frau, der ein Mann die Sorgen des täglichen Lebens abgenommen hat, wiewohl sie ihr Interesse an diesem noch nicht verloren hatte.

Sie war noch vollständig erschöpft von dem leidenschaftlichen, nicht enden wollenden Abschied, den die Frauen im Palast von ihr genommen hatten, von dem Wirbelsturm einer Hochzeitsfeier, bei der Nick, die dem Bräutigam zukommende stumme Rolle rundweg ablehnend, den ganzen Kreis in übersprudelnder Lebhaftigkeit mit sich fortgerissen hatte. Das hungrig fieberhafte Heimweh, das sie vor einer Stunde noch in Frau Estes‘ nassen Augen hatte glühen sehen, verfolgte sie unablässig, und sie hätte gern ihr eigenes Untertauchen im Uebel der Welt für einen bangen Traum gehalten, wenn nur …

»Nick,« sagte sie leise.

»Was ist’s, Frauchen?«

»O nichts – ich dachte nur. Nick, was hast du wegen des Maharadscha Kumuar gethan?«

»Der ist versorgt! Ueber den brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen. Nachdem ich dem Oberst Nolan ein paar kleine Geschichten erzählt hatte, kam er sofort auf den Gedanken, unsern jungen Freund bis zu seinem Abgang nach Adschmir als Gast bei sich aufzunehmen. Damit bist du wohl einverstanden?«

»Die arme Mutter! Wenn ich nur gekonnt hätte …«

»Du konntest eben nicht, kleine Frau. Da, Käte, sieh schnell her! Der letzte Blick auf Rhatore!«

Die wie mit schwarzem Samt bekleidete Schulter eines Hügels drängte sich jetzt vor die Reihe farbiger Lampen, die die hängenden Gärten der Palastdächer bezeichnete. Tarvin sprang ab und verbeugte sich ehrfürchtig nach morgenländischem Brauch.

Eins der Lichter nach dem andern verschwand hinter dem Bergrücken, gerade wie die Steine des Naulahka in das Traubenkistchen geglitten waren, bis nur noch der rote Fackelschein von einem Fenster eines Wachturms sichtbar war – so tiefrot und so fern wie der schwarze Diamant des Halsbands. Nun erlosch auch dieser Schimmer, und die linde Dunkelheit stieg von der Erde empor, die beiden Wanderer, Mann und Weib, in die Falten ihres Mantels hüllend.

»Bei Licht betrachtet,« sagte Tarvin sich an die aufsteigenden Sterne wendend, »war das entschieden ein Abgang durch die Hinterthüre.«

Ende.

Viertes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Der Präsident stieg im Bahnhotel von Topaz ab und blieb den nächsten Tag da. Sheriff und Tarvin nahmen ihn ganz in Beschlag, zeigten ihm die Stadt und wiesen ihm ihre sogenannten natürlichen Hilfsquellen nach. Die Herren waren zur Stadt hinausgeritten, und jetzt veranlaßte Tarvin den Präsidenten zu einem Halt, um ihm angesichts der weiten Ebene und der schneebedeckten Berggipfel auseinanderzusetzen, wie zweckmäßig, ja notwendig es sei, Topaz als Knotenpunkt der neuen Linie zu wählen, die Verwaltung, die Reparaturwerkstätten, den Hauptbahnhof hier anzulegen.

Tarvin wußte im Grund seines Herzens ganz genau, daß der Präsident gegen den Plan war, die Linie über Topaz zu führen. Aber er zog vor, das Gegenteil vorauszusetzen. Es war tatsächlich viel leichter, ihm darzulegen, daß Topaz ein Knotenpunkt und der Verwaltungsplatz werden müsse, als zu beweisen, daß die Linie überhaupt über Topaz zu führen sei. Kam diese Bahn nach Topaz, so ergab sich der Knotenpunkt von selbst, die Frage war nur, ob sie kam.

Lage und Verhältnisse von Topaz kannte Tarvin in- und auswendig, sie waren ihm so geläufig, wie das Einmaleins. Man ist nicht umsonst Vorstand der Handelskammer und Aufsichtsrat einer Bodenverbesserungsgesellschaft, die mit einem Barbestand von zweitausend Pfund eine Million Aktien ausgibt. Alle soliden Geschäftsleute von Topaz waren an diesem Unternehmen beteiligt; sie hatten das ganze Flachland zwischen Stadt und Bergen angekauft und auf dem Papier in Straßen, Villenviertel und öffentliche Anlagen eingeteilt. Im Bureau der Gesellschaft in der Connecticutstraße, einem eichengetäfelten Raum mit Mosaikfußboden, persischen Teppichen und seidenen Vorhängen, konnte man den Uebersichtsplan einsehen. Dort waren auch alle Bauplätze im Umkreis von zwei Meilen zu erfahren und zu erstehen, dort hatte ja auch Tarvin eigene Grundstücke zu verkaufen. Beim Verkauf von Bauplätzen hatte er gelernt, alle erdenklichen guten Seiten hervorzuheben; er wußte aus praktischer Erfahrung genau, was man einem Menschen zu glauben zumuten kann oder nicht.

Was er zum Beispiel auch wußte, war, daß Rustler nicht nur jetzt schon reichere Minen in seiner Umgebung hatte als Topaz, sondern an ein Hinterland mit noch gar nicht ausgebeuteten, beispiellos ergiebigen Erzlagern stieß, und er wußte auch, daß der Präsident davon unterrichtet war. Noch weitere Thatsachen waren ihm vertraut. Zum Beispiel, daß die Minen in der Umgegend von Topaz sich zwar leidlich rentierten, aber keinen besonderen Mineralreichtum aufzuweisen hatten und daß die Lage der Stadt in einem weiten, gut bewässerten Thal der Viehzucht wohl günstig war, aber nicht in höherem Grad, als man es anderwärts auch traf oder herstellen konnte. In andern Worten, die »natürlichen Hilfsquellen« von Topaz begründeten die Notwendigkeit, einen großen Eisenbahnknotenpunkt daraus zu machen, keineswegs so unumstößlich, als Nikolas Tarvins beredter Mund. Er führte aber ja jetzt kein Selbstgespräch. Sein Glaubenssatz war, daß Topaz geschaffen sei, eine Eisenbahnstadt zu werden, und daß es seine Bestimmung nur erfüllen könne, wenn man es dazu mache. Mit irgend einem System der Logik lieh sich dieser Satz zwar nicht beweisen, und doch beruhte er auf vollkommen logischem Denken. Und zwar folgendermaßen: Topaz war keine Thatsache, Topaz war eine Hoffnung. Gut! Was mußte im Westen geschehen, um solche Hoffnungen in Erfüllungen zu verwandeln? Man mußte andre daran glauben machen! Ohne die drei C. war Topaz wertlos – welchen Wert hatte es aber für die drei C.? Offenbar nur den, den sie ihm verleihen würden!

Tarvin hatte also dem Präsidenten nur die eine Bürgschaft zu bieten, daß sich Topaz der erwiesenen Gunst würdig zeigen werde, und das war ungefähr nur soviel, als jede Stadt von sich sagen würde und sagen konnte. Der Präsident mußte sich ein Urteil bilden, welche von den beiden Städten, Rustler oder Topaz, Aussicht biete, mit ihren höhern Zwecken zu wachsen, und Tarvin war der Mann, ihm zu beweisen, daß darüber gar kein Zweifel zulässig sei. Was am letzten Ende den Ausschlag geben müsse, sei die Eigenart der Bewohner, und die Leute von Rustler seien, wie er sagte, lebendig Begrabene. Alle Welt wußte es – keine Industrie, kein Handel, keine Thatkraft, kein Geld. Und dagegen Topaz! Wenn der Präsident ja nur durch die Straßen ging, mußte es ihm in die Augen springen, weß Geistes Kinder die Einwohner von Topaz waren! Die waren hell im Kopf, die betrieben ihre Geschäfte, die glaubten an ihre Stadt und waren bereit, ihr Eigentum darin anzulegen. Der Präsident durfte nur sagen, was er von ihnen erwarte. Und dann rückte er mit dem Plan heraus, daß er einen der großen Eisenhüttenbesitzer in Denver veranlassen werde, in Topaz ein Zweiggeschäft, einen Hochofen, anzulegen, ja, es war schon mehr als ein Plan, es war ein Vertrag, den er in der Tasche hatte, aber die Bedingung war, daß die C. C. C. nach Topaz komme. Ein derartiges Geschäft mit Rustler abzuschließen, wäre der Gesellschaft gar nicht in den Sinn gekommen, weil man in Denver sehr genau wußte, daß in Rustler die Zuschläge fehlten. Auf Kosten von Topaz waren die Sachverständigen herumgereist und hatten sich von der Richtigkeit der Angabe überzeugt, daß Rustler die entsprechenden Zuschläge zur Schmelzung seiner Erze erst in einer Entfernung von fünfzehn Meilen, nämlich eben in Topaz, finden könne.

Des weiteren führte Tarvin an, daß Topaz für seine Erzeugnisse Abfluß nach dem Golf von Mexiko brauche, und daß die C. C. C. diesen Abfluß herzustellen habe. Der Präsident mochte derartige triftige Gründe schon öfter zu hören bekommen haben, denn die himmelschreiende Vermessenheit dieser Behauptung störte seinen Gleichmut nicht. Ein Eisenbahnpräsident, der die Vorzüge wetteifernder Städte abzuwägen hat, mußte es natürlich unter seiner Würde finden, nach den Erzeugnissen zu fragen, wofür Topaz nach Erleichterung schrie, hätte er aber danach gefragt, so würde ihm Tarvin ohne Erröten die Antwort gegeben haben, Rustlers Erzeugnisse. Er deutete das sogar in Form eines gewissen Zugeständnisses an, denn er setzte sofort hinzu, wenn die Bahn auf den Erzreichtum hinter Rustler rechne, so brauche man ja nur eine Zweiglinie nach Rustler hinauf zu bauen, was eine Kleinigkeit sei, und das Erz zum Schmelzen nach Topaz zu befördern. Als Mittelpunkt der Minen hatte ja Rustler einen gewissen Wert, es falle ihm nicht ein, das zu bestreiten, aber eine Sekundärbahn sei ebensogut im stande, die Erze herunterzubefördern wie die Hauptlinie, und genüge völlig den Ansprüchen, die eine Stadt wie Rustler auf Beachtung erheben könne, und ermögliche dann den Knotenpunkt an die naturgemäß richtige Stelle zu verlegen.

Woher er denn die Dampfkraft nehmen wolle, fragte Tarvin den Präsidenten kühnlich, wenn er Rustler zur Hauptstation mache und dort Lokomotiven wechseln müsse? Es war eine Paßhöhe zu erreichen, der Ort lag schon in den Bergen; ein Praktiker des Eisenbahnbaus wie der Präsident müsse ja missen, daß seine Lokomotiven von Rustler aus keinen Anlauf nehmen konnten. Schon innerhalb der Stadt begann die starke Steigung, die nötig war, um hinauszukommen, von einem Knotenpunkt mit Rangiergeleisen konnte daher gar nicht die Rede sein. Und wenn die Maschinen das Glück hätten, nicht stecken zu bleiben auf der Steigung, wie hoch würden sich wohl jährlich die Betriebskosten steigern, wenn täglich schwere Güterzüge vom ungünstigsten Gelände aus den Berg hinauf befördert werden mußten? Die C. C. C. brauchte als Abschluß der Strecke und letzte Haltestelle, ehe sie an die Überschreitung des Passes ging, einen von der Natur dafür hergerichteten Platz wie Topaz, mitten in der Ebene, wo sie noch fünf Meilen glatte Fahrt hatte, ehe das Klettern losging.

Auf diesem Punkt verweilte Tarvin mit der Energie und Sicherheit, die nur der Untergrund unumstößlicher Thatsachen verleihen. Das war sein zuverlässigstes Beweismittel, und als der Präsident jetzt schweigend die Zügel aufnahm und nach der Stadt zurücklenkte, fühlte Tarvin wohl, daß ihm dieser Grund eingeleuchtet hatte. Ein weiterer Blick in Mutries Gesicht sagte ihm aber, daß er in der Hauptsache doch fehlgeschossen habe. Diese Gewißheit wäre herzbrechend gewesen, wenn Tarvin die Niederlage nicht so bestimmt vorausgesehen hätte. Die Aussicht auf Erfolg lag auf andrem Gebiet, aber er hatte sich vorgenommen, dieses nicht eher zu betreten, als bis alle andern Mittel versucht waren.

Wie zärtlich Tarvins Augen nicht auf seiner Stadt ruhten, als jetzt die beiden Pferde auf die unregelmäßig über die breite Thalsohle zerstreuten Häusergruppen zutrabten! Sie konnte auf ihn zählen, er würde ihr durchhelfen!

Das Topaz seiner Liebe und das Topaz der nüchternen Wirklichkeit waren unglaublich zart und innig untereinander verwoben und verschmolzen, aber kein fremder Beobachter, wäre er auch noch so wohlgesinnt gewesen, hätte den Beziehungen zwischen dem wirklichen Topaz und dem Topaz Nikolas Tarvins wie aller andern guten Bürger auf den Grund gehen dürfen. Bei Tarvin besonders war es nicht festzustellen, wo wirklicher ernster Glaube und Wille zum Glauben anfingen und aufhörten. Er wußte nur, daß er an Topaz glaubte, und der beste Grund für diesen Glauben war, daß Topaz ihn gar so nötig hatte. Die Hilfsbedürftigkeit seiner Stadt war ein Grund mehr, sie zu lieben.

Der ans Regelrechte gewohnte Kulturmensch des Ostens würde wohl überhaupt kein »Städtebild« wahrgenommen haben, sondern einen Haufen rohgezimmerter, verwahrloster, weltentlegener Holzbauten, die man aufs Geratewohl über eine ebene Fläche hingestreut hatte. Das bestätigt wieder einmal die öfter gemachte Wahrnehmung, daß jeder nur sehen kann, was er sehen gelernt hat! Tarvin sah die Sache anders und hätte dem Ostländer wenig Dank gewußt, der seine Zuflucht zur Bewunderung der Landschaft genommen und die schneegekrönten Berge gerühmt hätte, die das Thal in der Runde umrahmten. Mochte der Bewohner des Ostens auf seiner Meinung beharren, daß Topaz die verfehlte Staffage in einem herrlichen Landschaftsbild sei, für Tarvin war diese Landschaft nichts als ein zufälliger und im Notfall entbehrlicher Rahmen für Topaz; einer seine vielen Vorzüge höchstens, eine ihrer Besonderheiten, wie das Klima, der Breitegrad und die Handelskammer.

Im Heimwärtsreiten nannte er dem Präsidenten die Namen der Berggipfel; er zeigte ihm, wo der große Bewässerungskanal seinen Zufluß von den Bergen aufnahm, wie er im Schatten der niedersten Hügelreihe blieb, bis er in die Ebene von Topaz heraustrat, er nannte ihm die Zahl der Kranken, die das Spital jährlich verpflegte, und machte den hohen Krankenstand bescheiden als weiteren Beleg für das Blühen und Gedeihen der Stadt geltend. In den Straßen machte er ihn dann auf das Opernhaus, das Postamt, das Schul- und Gerichtsgebäude aufmerksam, ohne dabei mehr Eitelkeit zu entfalten, als eine Mutter, die ihren Erstgeborenen vorführt.

Wenn er dem Präsidenten nicht die geringste Sehenswürdigkeit erließ, so geschah es nicht nur, um die Verdienste von Topaz geltend zu machen, sondern nicht minder, um seinen eigenen Gedanken zu entfliehen. Durch all die Zuversicht und Beredsamkeit hindurch machte sich in seinem Innern eine ganz andre Stimme vernehmlich, und das klare Bewußtsein, daß sein Werben hier vorläufig vergeblich war, erneuerte die Bitterkeit einer andern vergeblichen Werbung. Er hatte Käte seit seiner Rückkehr von der Wahlversammlung gesprochen und wußte nun, daß höchstens ein Wunder sie abhalten konnte, in drei Tagen nach New York abzureisen. In Groll und Verzweiflung, sowie Entrüstung über den Mann, der das zuließ, hatte er endlich mit Sheriff gesprochen und den Vater bei allem, was ihm heilig war, angefleht, das Unheil zu verhüten. Es gibt aber lappige Stoffe, die auch durch Steifleinwand keinen Halt bekommen, und so gern sich Sheriff seinem Gegner verpflichtet hatte, eine Kraftübertragung ließ sich nicht ausführen, so viel Tarvin auch abzugeben hatte. Die Unterredung mit Käte und der vergebliche Versuch bei ihrem Vater hatten ihm ein erbärmliches Gefühl von Hilf- und Machtlosigkeit hinterlassen, nur ein großer Erfolg auf anderm Gebiet hätte ihm den frischen Mut zurückgeben können. Er lechzte denn auch danach, und es hatte ihm wohlgethan, den Präsidenten in Angriff nehmen zu können, obwohl er im voraus gewußt hatte, daß er in diesem Fall nichts ausrichten werde.

So lang er für Topaz kämpfte, konnte er Käte vergessen, aber als er sich jetzt von Mutrie verabschiedete, fiel ihm das Leid um sie von neuem schwer aufs Herz. Sie hatte ihm versprochen, heute nachmittag an einem Ausflug nach den Heißen Quellen teilzunehmen, sonst hätte er wohl Topaz Topaz sein lassen und sich nicht mehr um den Präsidenten gekümmert. So schwebte ihm dieser Ausflug wie ein letzter tröstlicher Hoffnungsschimmer vor, er wollte all seine Kraft einsetzen, Käte umzustimmen, er konnte nicht glauben, daß seinem Willen Unbezwingliches gegenübertrete, konnte nicht glauben, daß sie gehen würde!

Der Ausflug war geplant worden, um dem Präsidenten und seiner Frau zu zeigen, daß ein Zukunfts-Topaz, wenn alle Stränge rissen einen vorzüglichen Winterkurort abgeben würde, und Frau Mutrie hatte die Aufforderung mit Vergnügen angenommen und den Gatten dafür bestimmt. Im Gedanken, daß er um jeden Preis ungestört mit Käte sprechen müsse, hatte Tarvin außer Sheriff noch drei andre Herren eingeladen, den Postmeister Maxim, Heckler, den Verleger der Topazer Zeitung, beide mit ihm im Vorstand der Handelskammer, und einen liebenswürdigen jungen Engländer Namens Carmathan. So hoffte er, ohne Schaden für Topaz ein halbes Stündchen für Käte zu gewinnen, ja er sagte sich, es sei vielleicht recht gut, wenn dem Präsidenten andre Gesichtspunkte eröffnet würden, und Heckler war ganz der Mann dazu.

Der junge Carmathan, der vor zwei Jahren nach Topaz gekommen, war, wie man in England sagt, ein jüngerer Sohn, der sich irgendwo ansiedeln wollte und sich die Viehzucht als Beruf erkoren hatte. Was er dazu mitgebracht hatte, waren ein Paar Wasserstiefel, eine Reitpeitsche und zweitausend Dollars in bar gewesen. Das Geld hatte er schleunigst verloren, dafür hatte er gelernt, daß man zum Viehtreiben keine Reitpeitschen braucht, und diese Lehre wie andre nützliche Kenntnisse verwendete er zur Zeit im Beruf eines Cowboys auf einer benachbarten Ranche. Er verdiente dabei dreißig Dollars im Monat und nahm sein Geschick mit der weisen Gelassenheit hin, die den eingeborenen wie den eingewanderten Bürger des Westens kennzeichnet. Käte schätzte an ihm den Stolz, der ihn abhielt, sich auf bequemere Weise Geld zu verschaffen, nämlich sich’s von zu Hause schicken zu lassen, und hatte sein frisches, zuversichtliches Wesen gern. Die erste halbe Stunde Weges ritt er denn auch an ihrer Seite, während Tarvin Herrn und Frau Mutrie auf die zackigen Felsen aufmerksam machte, denen sie rasch näher kamen. Er zeigte ihnen die Minengänge, die in großer Höhe ins Gestein eindrangen, und erklärte die geologische Bildung des Gebirgszugs mit der rein praktischen Sachkenntnis des Mannes, der Minen gekauft und verkauft hat. Die Straße zog sich längs der Topaz jetzt schon berührenden Eisenbahnlinie hin und überschritt diese mehrmals, wie Tarvin bemerkte, genau in dem Winkel, den die C. C. C. zu nehmen haben werde. Einmal rasselte ein Güterzug an ihnen vorüber, der sich schnaubend und pustend die Höhe hinanwand. Eine enge Klause bildete den ersten Einlaß in das Bergland: danach öffneten sich die Klippen wieder weiter, um sich zwanzig Meilen tiefer in einen gewaltigen Canon Über dem Abgrund fast zusammenzuschließen. Die in geschwungener Linie zu Häupten der Gesellschaft aufragenden Felsgipfel bildeten bald knorrige Kuppen, bald waren sie tief eingeschnitten, um dann wieder schlank und spitzig himmelan zu streben. Meist war es kahles Gestein, dessen dunkelrote, braune, ockerfarbig und violette Töne bald hart nebeneinander standen, bald durch lichtere Farben verschmolzen waren.

Tarvin blieb jetzt zurück und brachte sein Pferd an Kätes Seite, worauf Carmathan, mit dem er auf freundschaftlichem Fuße stand, ihm sofort das Feld räumte und sich dem vorderen Trupp zugesellte. Kätes sprechende Augen flehten zwar deutlich, ihr wie sich selbst die Qual des endlos erneuten Streits zu ersparen, aber Tarvins Gesicht verriet finstere Entschlossenheit. Auch eines Engels Stimme würde ihn nicht von seinem Vorhaben abgebracht haben.

»Ich weiß es wohl, Käte, daß ich dir lästig bin, aber ich muß über die Sache sprechen, ich muß dich retten.«

»O bitte, Nick, mach keinen weiteren Versuch mehr,« bat sie sanft. »Bitte, bitte, thu’s nicht! Du willst mich retten, und doch ist’s mein Heil, daß ich gehe! Ich will, ich muß! Wenn ich drüber nachdenke, ist mir’s oft, als ob ich eigens dafür in die Welt gesetzt worden wäre. Jeder Mensch hat doch eine Bestimmung darin zu erfüllen, meinst du nicht, Nick, und wenn’s eine noch so bescheidene, unscheinbare, niedrige wäre? Ich muß diese erfüllen – mach mir’s nicht schwer, sondern leicht, Nick!«

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich das thue! Schwer will ich dir’s machen, Zentnergewichte will ich dir anhängen! Deswegen bin ich auf der Welt! Alle andern geben dir ja nach, Vater und Mutter lassen dich machen, was du willst, dein kleiner Nickel von Willen setzt alles durch! Sie haben ja aber keine richtige Vorstellung davon, worauf du dein liebes Köpfchen gesetzt hast, und wenn du dir’s einrennst, kann ich’s nicht wieder ganz machen. Deshalb muß ich handeln, solang es Zeit ist, muß es auf mich nehmen, daß du mich abscheulich findest!«

Käte lachte.

»Ja, Nick, du bist abscheulich, aber es mißfällt mir nicht an dir! Ich glaube, es thut mir wohl, daß dir so viel daran liegt, und wenn ich einem Menschen zuliebe da bleiben könnte, so wär’s deinetwegen. Das glaubst du mir doch?«

»Ich glaube dir alles und danke dir obendrein für das gute Wort, aber was hab‘ ich davon? Daß du meinetwegen am ehesten bliebest, nützt mir nicht viel, wenn du trotzdem gehst!«

»Ich weiß es wohl, Nick, ich weiß es. Aber Indien braucht mich noch nötiger als du, das heißt nicht mich, aber was ich leisten kann, was Frauen wie ich leisten können. Der Ruf nach Hilfe ist nun einmal an mein Ohr gedrungen und in mein Herz, und solang ich ihn höre, kann ich nicht froh werden, außer wenn ich ihm folge. Ich könnte ja deine Frau sein, Nick, es würde mir nicht schwer fallen, aber mit dem Hilfeschrei im Ohr wär’s eine stete Qual.«

»Das ist hart gegen mich,« sagte Nick, wehmütig zu den überhängenden Felsen hinaufschielend.

»Nein, nein, mit dir hat es gar nichts zu schaffen!«

»Das ist’s ja gerade,« stieß er zwischen zusammengepreßten Lippen heraus.

Sie mußte unwillkürlich lächeln, als sie ihn ansah.

»Wenn dir’s wohlthut, das zu wissen, Nick, einen andern als dich werde ich nie heiraten,« sagte sie mit plötzlicher Rührung.

»Aber mich wirst du eben nicht heiraten?«

»Nein,« sagte sie schlicht und fest.

Eine Weile dachte er in tiefer Bitterkeit über diese Antwort nach. Die Pferde gingen im Schritt, die Zügel lagen lose auf ihren Hälsen.

»Du mußt nicht unglücklich sein über mich, Liebe,« begann Tarvin. »Es ist auch nicht allein Selbstsucht! Wohl möchte ich dich um meinetwillen zurückhalten, dich behalten, dich haben – immer, immer an meiner Seite. Mein Herz verlangt nach dir, ich brauche dich, aber nicht deshalb setze ich alles dran, dich festzuhalten, sondern weil mir davor graut, daß du dich schutzlos, freundlos, als ein Mädchen, all diesen Gefahren und Greueln aussetzen willst. Wenn ich mir das vorstelle, finde ich keinen Schlaf mehr; ich darf mir’s gar nicht vorstellen! Die Sache ist ungeheuerlich, furchtbar, widersinnig – du darfst es nicht thun!«

»Ich darf nicht an mich denken,« versetzte sie mit zitternder Stimme, »ich muß an sie denken.«

»Aber ich muß an dich denken, und du sollst mich nicht irreführen, nicht täuschen, nicht verlocken an irgend etwas andres zu denken. Du siehst die Sache ganz einseitig an – sag mir doch, ob alles Elend der Welt gerade dir aufgebürdet worden ist? Liebes Kind« – er sprach leise, innig flehend – »es gibt allerorten Elend und Schmerz. Kannst du allem abhelfen? Wer wir auch sein mögen, was wir beginnen mögen, uns allen tönt lebenslang der Notschrei von Millionen im Ohr, wir können ihm nicht entrinnen. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen für die Vermessenheit, einen kleinen Augenblick glücklich sein zu wollen!«

»Ich weiß es, ich weiß es, ich will mich ja auch nicht bewahren davor, ich will ja meine Ohren nicht verschließen…«

»Nein, aber du bildest dir ein, der Not ein Ende machen zu können, und du kannst es nicht. Das ist, wie wenn du das Meer ausschöpfen wolltest, es ist unmöglich. Mit dem Versuch aber wirst du dein Leben zu Grunde richten, und wenn du mir sagen kannst, wie man ein zu Grund gerichtetes Leben wieder von vorne anfangen kann, so soll mir’s lieb sein – ich weiß es nicht. O Käte, ich. will ja nichts für mich verlangen, das heißt vielmehr, ich verlange alles, aber bedenke, eh du deine Arme um die Erde schlingst und den Versuch machst, sie in deinen kleinen weißen Händen aufzuheben, daß du außer deinem eigenen auch andrer Leben zu Grund richtest. Großer Gott, Käte, du brauchst doch wahrhaftig nicht nach Indien zu gehen, um Unglücklichen zu helfen und Leiden zu lindern, du könntest ja einmal bei mir den Anfang machen.

Sie schüttelte wehmütig den Kopf.

»Ich muß da beginnen, wo ich meine Pflicht sehe, Nick! Ich sage ja nicht, daß ich die ungeheure Summe menschlichen Elends wesentlich herabmindern werde, ich sage auch nicht, daß alle thun sollen wie ich: für andre wäre es vielleicht nicht das Richtige, aber für mich ist es das. Ich weiß es, und das ist alles, was wir überhaupt wissen können. Die Gewißheit haben, daß unser Leben dazu gedient hat, die Menschen ein wenig, ach nur ein ganz klein wenig besser zu machen,« rief sie mit verklärtem Blick, »zu wissen, daß man Leid und Not, die ja freilich deshalb nicht aus der Welt verschwinden, ein wenig gelindert hat, das muß herrlich sein! Du empfindest das doch auch. Nick,« setzte sie, ihm leise die Hand auf den Arm legend, hinzu.

Tarvin preßte die Lippen aufeinander.

»Freilich, freilich, fühl‘ ich’s!« gab er ingrimmig zu.

»Aber du hast noch ein andres Gefühl – ich ja auch …« »O, dann laß dieses andre wachsen, gib ihm Gehör, laß es erstarken und vertraue dich mir an. Ich will dir eine Zukunft schaffen, einen Wirkungskreis, wo deine Güte vielen ein Segen werden soll. Glaubst du denn, ich möchte dich anders haben, als du bist, zweifelst du daran, daß ich gerade deine Güte liebe? Segne doch mich damit!«

»Ich kann nicht! Ich kann nicht!« rief sie in schwerem innerem Kampf.

»Du kannst gar nicht anders – am letzten Ende mußt du ja zu mir kommen! Glaubst du, daß ich weiterleben könnte, wenn ich das nicht voraussähe? Aber ich möchte dir ersparen, was dazwischen liegt, ich möchte nicht, daß du mir von der Not in die Arme getrieben würdest, mein kleines Mädchen! Ich will, daß du aus freien Stücken kommst, jetzt kommst.«

Statt aller Antwort senkte sie das Gesicht tief auf den Aermel ihres Reitkleids und begann bitterlich zu weinen. Ricks Finger umschlossen die kleine Hand, die sich krampfhaft am Sattelknopf festhielt.

»Du kannst nicht, Liebe?«

Sie schüttelte heftig den Kopf. Tarvin biß die Zähne zusammen.

»Nun denn, wie du willst – finden wir uns drein!«

Er nahm ihre Hand, die den Halt am Sattel aufgab, sanft in die seinige und sprach so mild und beschwichtigend zu ihr, wie eine Mutter zu ihrem verzagten Kind. Es war vorüber – nicht seine Liebe, nicht sein unerschütterlicher Entschluß, sie doch noch sein eigen zu nennen, aber der Kampf um diese indische Reise. Tarvin streckte die Waffen, sie konnte gehen, wenn sie wollte, es würden dann eben zwei übers Meer reisen.

Als sie die heißen Quellen erreicht hatten, ergriff Tarvin sofort die ihm freudig gebotene Gelegenheit, Frau Mutrie in Beschlag zu nehmen, während Sheriff dem Präsidenten den qualmenden Wasserstrudel und das Bad zeigte und ihm die Lage des geplanten Riesenhotels erklärte. Käte schloß sich den beiden Herren an, da sie keine Lust hatte, ihre verweinten Augen Frau Mutries neugierigen Blicken preiszugeben.

Tarvin hatte die junge Flau am Fluß entlang geführt, der seitwärts von den Quellen in sein Felsengrab hinabstürzte, jetzt blieb er im Schatten einiger Baumwollsträucher plötzlich stehen.

»Möchten Sie jenes Halsband wirklich haben, gnädige Frau?« fragte er sie ganz unvermittelt.

Sie lachte abermals, gurrend wie ein Turteltäubchen, noch nicht erregt genug, um ihre kleinen Schauspielerkünste zu vergessen.

»Ob ich’s haben möchte?« fragte sie zurück. »Versteht sich! Und, bitte, den Mond hätte ich auch gern!«

Tarvin legte ihr Schweigen gebietend die Hand auf den Arm.

»Sie sollen das Halsband haben,« erklärte er bestimmt.

Jetzt verging ihr das Lachen, sie sah betroffen in sein ernstes Gesicht.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Es würde Ihnen große Freude machen? Sie legen wirklich Wert darauf? Was würden Sie thun, um es zu erlangen?«

»Auf meinen Knieen würde ich bis nach Omaha rutschen, bis nach Indien, wenn es möglich wäre,« erwiderte sie mit gleichem Ernst.

»Dann ist die Sache entschieden,« versetzte Tarvin herzhaft. »Jetzt hören Sie mich an! Ich will, daß die C. C. C. nach Topaz kommt, Sie wollen das indische Halsband haben – wollen wir einen Vertrag abschließen?«

»Aber Sie können ja niemals …«

»Das braucht Sie nicht anzufechten – ich werde meiner Verpflichtung nachkommen, können Sie die Ihrige erfüllen?«

»Sie meinen …«

»Ja, ich meine,« sagte er mit starker Betonung. »Können Sie mir eine bestimmte Zusage geben?«

Mit zusammengebissenen Zähnen, die Hände gegen einander gepreßt, daß sich die Fingernägel ins Fleisch eingruben, stand dieser Mann vor ihr. Mit gewaltsamer Selbstbeherrschung wartete er ihre Antwort ab.

Sie legte den blonden Kopf auf die Seite und schielte aus den Augenwinkeln zu ihm auf, herausfordernd, zögernd, aber ihre Zuständigkeit eingestehend.

»Ich glaube, daß mein Wort viel gilt bei Jim,« sagte sie endlich mit einem verträumten Lächeln.

»Also, der Vertrag ist geschlossen?«

»Ja,« erwiderte sie.

»Geben Sie mir den Handschlag.«

Sie reichten sich die Hände und standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber, jedes bemüht, in des andern Seele zu lesen.

»Sie werden es mir wirklich verschaffen?«

»Ja.«

»Sie werden Ihr Wort einlösen?«

»Ja.«

Er drückte ihre Hand, daß sie einen leisen Schmerzensschrei ausstieß.

»O! Sie thun mir weh!«

»Abgemacht,« sagte er mit heiserer Stimme, indem er ihre Hand fallen ließ. »Der Handel gilt. Morgen reise ich nach Indien ab.«

  1. Zuschläge sind erdige oder metallische Bestandteile, die das auszubringende Erz oder dessen Verunreinigungen aufnehmen. Anm. d. Uebers.
  2. Kuhjunge. Berittene Hirten, die das Vieh in den Prairieen zusammenhalten und als kühne Reiter berühmt sind. Anm. d. Uebers.
  3. Bezeichnung der Gehöfte großer Viehzüchter in Mexiko und Westamerika, spanisch. Anm. d. Uebers.
  4. Bezeichnung der dem Felsengebirg eigenen langen Schluchten. Anm. d. Uebers.

Fünftes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Tarvin stand auf dem Bahnsteig der Station Rawut und sah der Staubwolke nach, worin der Postzug von Bombay sich entfernte. Als sie sich verzogen hatte und die heiße Luft wieder ungehemmt auf der weißen Steinbeschotterung tanzte, wandte er sich mit zwinkernden Augen Indien zu.

Vierzehntausend Meilen weit zu reisen war, wie er jetzt erfahren hatte, eine überaus einfache Sache. Eine bestimmte Zeit hindurch hatte er auf dem Schiff still gelegen, dann hatte er sich der Länge nach in Hemdärmeln auf der mit Leder bezogenen Bank eines Eisenbahnwagens ausgestreckt und war auf diese Weise von Kalkutta nach Rawut befördert worden. Die Reise war ihm nur dadurch lang geworden, daß er Kätes Anblick entbehrt und vollauf Muße gehabt hatte, an sie zu denken. Aber war er etwa deshalb hierher gekommen – dieser gelben Trostlosigkeit einer Einöde im Radschputana zuliebe oder der Aussicht auf den gekrümmten Schienenstrang halber? Da war Topaz ja wohnlicher gewesen, als es erst die Kirche, das Wirtshaus, die Schule und drei Wohnhäuser gehabt hatte; diese indische Einsamkeit erfüllte ihn mit Schauder. Er sah ja, daß man gar nicht daran dachte, etwas zu schaffen, daß nichts werden sollte, es war Einsamkeit ohne Trost, denn sie war unabänderlich, abgeschlossen, fertig. Die starre Festigkeit des steinernen Bahnhofgebäudes, das dauerhafte Gemäuer, worauf der Bahnsteig ruhte, die mathematische Genauigkeit der Orts- und Höhenangabe, das alles hatte keine Zukunft. Keine neue Linie würde je nach Rawut geführt werden. Rawut hatte auch keinen Ehrgeiz; es gehörte der Regierung. Da war weit und breit kein Grün zu erblicken, keine gekrümmte Linie, nichts was Werden und Erzeugen versprochen hätte. Sogar die rötlichen Schlingpflanzen am Stationsgebäude siechten dahin, weil niemand es der Mühe wert fand, sie zu pflegen.

Ein gesunder Alltagszorn heilte Tarvin von dem mehr positiven Uebel des Heimwehs. Ein einziger Mensch, ein feister brauner Herr, in leichten weißen Baumwollstoff gekleidet, mit einer schwarzen Sammetmütze auf dem Kopf, trat aus dem Gebäude, aber dieser Stationsmeister und ständige Bewohner von Rawut schien den Fremden zur Landschaft zu rechnen, er sah gar nicht nach ihm hin. In Tarvin stiegen Verständnis und Sympathie für die südliche Partei im Befreiungskrieg seiner Heimat auf.

»Wann geht der nächste Zug nach Rhatore?« fragte er den Würdenträger.

»Es geht kein Zug,« versetzte der Mann, zwischen jedem Wort eine Pause machend. Er leierte die Worte mit der mechanischen Unpersönlichkeit eines Phonographen herunter, ohne das mindeste Gefühl der Verantwortlichkeit.

»Kein Zug? Wo ist denn der Fahrplan oder das Kursbuch?«

»Es geht überhaupt kein Zug.«

»Ja, was zum Teufel machen Sie dann hier?«

»Mein Herr, ich bin der Stationsmeister, und es ist nicht gestattet, Angestellten dieser Eisenbahngesellschaft unhöflich zu begegnen.«

»Wahrhaftig! Wer diese Vorschrift gab, hat gemußt, warum er’s that! Ich sage Ihnen aber, Sie Stationsmeister dieses gottverlassenen Eisenbahn- und Weltendes, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, so sagen Sie mir, wie ich nach Rhatore kommen kann und zwar – flink! Wird’s bald?«

Die Antwort war – Schweigen.

»Hören Sie nicht? Was fang‘ ich an?« brüllte der Amerikaner.

»Das weiß ich doch nicht,« antwortete der Asiate.

Tarvin betrachtete sich den braunen Mann in Weiß von den Lackschuhen an, aus denen durchbrochene Strümpfe und vorspringende Waden aufstiegen bis zu dem sammetenen Käppchen auf seinem Haupt. Der gleichmütige Blick des Orientalen, den dieser den violetten Hügeln hinter dem Stationsgebäude abgelernt haben mußte, brachte Tarvin auf den treulosen, niedrigen, seiner ganz unwürdigen Gedanken, ob Topaz und ob Käte eigentlich solcher Opfer wert seien!

»Fahrkarte, bitte,« sagte jetzt der Babu.

Die Dämmerung brach herein. Dieser menschliche Mechanismus war aufgestellt um Fahrkarten abzunehmen und würde sie abnehmen, einerlei, ob Menschen liebten, kämpften, verzweifelten oder tot neben ihm zu Boden fielen!

»Ich sage dir, du lackstiefeliger Lump, du achatäugiger Alabasterpfeiler …«

Tarvin verstummte; Wut und Verzweiflung beraubten ihn der Sprache. Die Wüste verschlang Worte der Liebe und des Hasses, ohne Unterschied, und der Babu drehte sich mit vernichtender Ruhe um, ging ins Stationsgebäude und schloß die Thüre hinter sich ab.

Mit hochgezogenen Brauen stellte sich Tarvin vor die Thür, ließ einen gewinnenden Pfiff ertönen und klimperte dazu mit dem Silbergeld in seiner Tasche. Das Fenster am Fahrkartenschalter wurde ein klein wenig aufgezogen und ein Teil des unbeweglichen Gesichts ließ sich sehen.

»Um jetzt in amtlicher Eigenschaft zu sprechen, Euer Gnaden kann nach Rhatore nur via Land mit Büffelkarren fahren.«

»So besorgen Sie mir den Büffelkarren!«

»Sagen Euer Gnaden Provision gut für Besorgung?«

»Gewiß!«

Der Ton mehr als das Wort schien dem Gehirn unter der Sammetkappe das Verständnis zu vermitteln. Das Fenster fiel zu und nicht alsbald, aber doch nach einiger Zeit, wurde ein langgezogener heulender Ruf hörbar, dem Geheul eines verdrossenen Beschwörers ähnlich, der einen verzüglichen Geist ruft.

»O Moti! Mo–o–oti! O–o!«

»Hätten wir dich, Moti!« brummte Tarvin in sich hinein, indem er, seine Handtasche schwingend, über die niedrige Steinbrüstung setzte, sich durch das Drehkreuz für Fahrkartenkontrolle zwängte und die Provinz Radschputana betrat. Die Aussicht auf Weiterbeförderung hatte ihn im Nu wieder guten Mutes gemacht.

Zwischen ihm und der violett leuchtenden Hügelkette lagen etwa fünfzehn Meilen unbebauten steinigen Grundes mit erratischen Felsblöcken gefleckt und mit kränkelnden Bäumen gesprenkelt. Alles dem Staub und der Dürre preisgegeben, farblos wie die sonngebleichten Locken eines Prairiekindes. In weiter Ferne schimmerte der Silberspiegel eines Salzsees und eine bläuliche, formlose Masse dichter, beisammen stehender Bäume. Finster, verödet, herzbeklemmend war der Anblick dieser öden, düstern, von einer erbarmungslosen Sonne gerösteten Landschaft, die Tarvin überraschend an seine heimischen Prairieen erinnerte und doch wieder durch ihre Verschiedenheit Heimweh erweckte.

Dem Anschein nach aus einer Erdspalte, thatsächlich wie Tarvin sich später überzeugte, aus einer Bodensenkung zwischen zwei Erdwellen, in der sich ein Dorf eingenistet hatte, stieg jetzt eine ungeheure Staubwolke auf, als deren Kern sich ein Büffelkarren entpuppte. Das anfangs leise knirschen der Wagenräder wurde immer stärker, ja, es wuchs zu einem pfeifenden Kreischen an, das Tarvin vertraut anmutete; wenn auf der Straße nach Topaz herunter schweren Lastwagen plötzlich der Radschuh angelegt wurde, klang es ähnlich. Hier handelte es sich freilich nicht um einen Lastwagen, aber um Räder, die aus rohen Baumklötzen, meist aus viereckigen, zusammengefügt waren. Vier abgeschälte, unbehauene Pfähle verbanden die Ecken eines stachen Kastens, die Seitenwände bestanden aus zusammengeknüpften Stricken von Kokosfaser. Zwei Büffel, etwas größer als die von Neufundland, kleiner als die von Alderney, zogen dies Gefährt, das kaum eine halbe Pferdekraft in Anspruch genommen hätte.

Das Fuhrwerk landete am Stationsgebäude, die Büffel besahen sich den Fahrgast einen Augenblick, dann legten sie sich flach auf den Boden. Tarvin setzte sich auf seine Reisetasche, stützte seinen schwindelnden Kopf in beide Hände und lachte aus vollem Halse.

»Nur los!« befahl er dem Nabu. »Machen Sie den Handel ab! Ich habe keine Eile.«

Und nun erfolgte ein solches Gezeter und ein solcher Tumult, daß eine Rauferei in einer kalifornischen Spielhölle ein Kinderspiel dagegen war. Würde und Gelassenheit des Herrn Stationsmeisters waren verflogen wie Spreu im Winde. Er deklamierte, fuchtelte mit den Armen herum, schimpfte und fluchte, daß es eine Art hatte, und der Wagenlenker, der bis auf ein blaues Lendentuch splitternackt war, entfaltete sich als ebenbürtiger Gegner. Beide wiesen fortwährend auf Tarvin; es machte den Eindruck, als ob sie seine Herkunft, seine Vorfahren erforschten und erörterten, vermutlich schätzten sie aber nur sein Körpergewicht ein und zankten sich darüber. Glaubte man schon, sie seien im Begriff, zu einer freundschaftlichen Uebereinkunft zu gelangen, so ging der Streit von neuem los; sie fingen wieder ganz von vorne an und taxierten abermals Fahrgast und Fahrtdauer.

Die erste Viertelstunde fühlte sich Tarvin höchlichst belustigt, spendete beiden Parteien Beifall und hetzte sie gegeneinander. Dann ermahnte er sie, zum Abschluß zu gelangen, und als er kein Gehör fand, wurde ihm die Hitze plötzlich unleidlich und er donnerte beide an.

Der Büffeltreiber hielt einen Augenblick erschöpft inne, und diese Pause benützte der Babu, um auf Tarvin loszufahren, ihn am Arm zu packen und ihm förmlich in die Ohren zu brüllen: »Alles abgemacht, Euer Gnaden! Alles abmache ich! Dieser Mann höchst gebildeter Mann! Sie mir das Geld geben, ich alles besorge!«

Blitzschnell hatte sich aber der Büffeltreiber seines andern Arms bemächtigt und flehte Tarvin in fremdartigen Lauten an, doch ja seinem Gegner kein Gehör zu schenken. Als Tarvin unwillkürlich zurückwich, folgten ihm beide, jeder mit der freien Hand dramatisch die Worte ergänzend, wobei der Stationsmeister immer schlechteres Englisch sprach und der Fuhrmann die Scheu vor dem weißen Mann ganz vergaß. Jetzt schüttelte Tarvin beide ab, schleuderte seine Reisetasche in den Büffelkarren, sprang selbst hinein und rief das einzige indische Wort, das ihm zu Gebot stand. Zum Glück war es das Wort, das in Indien alles in Bewegung setzt – »Challoh«, was man mit vorwärts marsch übersetzen kann.

Kampf und Streit und Verzweiflung hinter sich lassend, rollte Nikolas Taruin aus Topaz, Staat Colorado, in die Wüste von Radschputana hinein.

  1. Sahib – Herr wird nur der Europäer, Babu der eingeborene Kaufmann, kleine Beamte etc. angeredet. Anm. d. Uebers.

Sechstes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Vier Tage können einem unter Umständen zur Ewigkeit werden. Die Umstände, unter denen das geschehen kann, hatte Tarvin vollzählig in dem Büffelkarren vorgefunden, aus dem er sechsundneunzig Stunden, nachdem die Büffel sich aus dem Staub von Ramut herausgewälzt hatten, hervorkroch. Diese sechsundneunzig Stunden dehnten sich hinter ihm wie ein gespenstischer Zug staubverhüllter, kreischender Unholde. Der Büffelkarren legte in der Stunde zwei und eine halbe englische Meile zurück. In der Zeit, während der er ein ziegelrotes, von hohen Saummauern umgürtetes Flußbett entlang kroch, konnte man in Topaz – o glückseliges Topaz! – ein Vermögen gewinnen oder verlieren! Während der Mahlzeiten am Wegrand, wo der Treiber über einer Wasserpfeife, nicht viel handlicher als eine alte Rohrflinte, stundenlang trödelte, hätten in Amerika Städte entstehen und wieder in Trümmer zerfallen können gleich Theben! Während dieser und andrer Wartezeiten – die Reise schien ihm hauptsächlich aus Wartezeiten zu bestehen – hatte Tarvin immer das Gefühl, von jedem einzelnen Bürger der Vereinigten Staaten überholt zu werden, und erlitt namenlose Qual durch das Bewußtsein, diese verlorene Zeit im ganzen Leben nicht wieder einbringen zu können!

Schlanke Rohre mit scharlachroten Köpfen ragten wie Fahnenstangen aus dem hohen Gras der sumpfigen Niederungen zwischen den Hügeln hervor. Die Schnepfen und Wachteln fanden es kaum der Mühe wert, den Büffelnasen auszuweichen, und als Tarvin einmal um die Morgendämmerung auf einem glitzernden Felsen lag, sah er zwei junge Panther wie Kätzchen miteinander spielen.

Ein paar Meilen von Rawut entfernt, hatte der Treiber vom Boden des Karrens ein breites Schwert geholt, das er sich um den Hals hing und mitunter statt einer Gerte für die Büffel, benützte. Tarvin sah also, daß hier wie in seiner Heimat jedermann bewaffnet war, aber die drei Fuß plumpen Stahls erschienen ihm als ein sehr armseliger Ersatz des leichten, handlichen Revolvers.

Einmal stand Tarvin in seinem Karren auf und ließ einen fröhlichen Hurraruf ertönen, weil er das weiße Dach eines Prairieschoners zu erblicken glaubte, es war aber nur eine riesige Ladung Baumwolle, die von sechzehn Büffeln geschleppt wurde und auf den vielen Erdwellen auf und ab schwankte. Die ganze Reise über sengte die indische Sonne sein Haupt, daß er’s nicht mehr begriff, wie er früher den immerwährenden Sonnenschein Colorados als Vorzug hatte rühmen mögen. In der Morgenfrühe funkelte der Tau von den Felsblöcken, als ob man Diamanten darüber ausgegossen hatte, um Mittag entsandte der Sand in den Flußläufen Lichtblitze, daß man zu erblinden fürchtete. Gegen Abend stellte sich ein kalter, trockener Wind ein, und die Hügelketten, die den Horizont begrenzten, leuchteten in unerhört mannigfaltiger Farbenpracht. Jetzt begriff Tarvin, warum man vom Wunderland des Ostens spricht, denn die Höhen schienen aus lauter Rubinen und Amethysten zu bestehen, dazwischen schimmerte es milchweiß wie Opal. Auf dem Rücken ausgestreckt lag Tarvin in seinem Büffelkarren und starrte in die Abendbeleuchtung hinein, mitunter von dem Zweifel beschlichen, ob das Halsband des Radscha sich mit diesem Glanz werde messen können.

»Die Wolken wissen, was mich herführt,« sagte er sich. »Ich nehm’s als gutes Omen.«

Der Plan, den er sich vorgezeichnet hatte, war ebenso klar als einfach. Er wollte das Halsband kaufen und bezahlen mittels einer Verpfändung von Topaz. Die Stadt mußte das Geld aufbringen, natürlich nicht offiziell für diesen Zweck Topaz war ihm gut dafür, und wenn der Maharadscha Miene machte, den Preis unsinnig zu steigern, so bildete man einfach ein Syndikat.

Während der Karren dahinschwankte, daß Tarvin den Kopf bald rechts bald links anstieß, dachte er unaufhörlich, wo Käte jetzt wohl sein möge. Unter günstigen Umständen konnte sie schon in Bombay eingetroffen sein: soviel wußte er durch genaue Berechnung ihrer Route. Aber ein Mädchen allein konnte doch unmöglich so schnell von einer Hemisphäre zur andern kommen, wie ein Mann, den keine Fessel band und den die Liebe zu ihr und zu Topaz anspornte! Vielleicht ruhte sie sich jetzt ein Weilchen bei der Zenana-Mission in Bombay aus. Den Gedanken, daß sie unterwegs krank geworden sein könnte, wies er mit aller Macht von sich. Sie ruhte jetzt aus, ließ sich Befehle und Vorschriften erteilen, machte sich ein wenig mit den Wundern des seltsamen Landes vertraut, an denen er achtlos vorübergejagt war, aber in ein paar Tagen spätestens mußte sie in Rhatore eintreffen, in dem nämlichen Rhatore, wohin ihn die Büffel schleppten!

Er lachte in sich hinein und schnalzte mit den Lippen, wenn er sich ihre Begegnung ausmalte, und es vertrieb ihm die Zeit, sich auszudenken, wo ihre Gedanken ihn Wohl suchen mochten!

Kaum vierundzwanzig Stunden nach seiner Unterredung mit Frau Mutrie hatte er Topaz verlassen. Er war mit dem Zug, der die Paßhöhe hinter Topaz hinaufklettert, nach San Francisco gefahren, ohne daß jemand von seinem Vorhaben gewußt, ohne daß er von jemand Abschied genommen hätte. Vielleicht daß Käte die Innigkeit des Gutenachtgrußes aufgefallen war, womit er sie bei der Rückkehr von den Heißen Quellen an ihres Vaters Thüre verlassen hatte, aber sie hatte keine Bemerkung darüber gemacht, und er hatte sich mit Selbstüberwindung losgerissen, um sein Geheimnis nicht zu verraten. Am andern Morgen hatte er in aller Stille einige Bauplätze verkauft, recht ungünstig zwar, aber er brauchte eben Geld für die Reise. Dieses Geschäft sah ihm gleich, daß es trotz des schlechten Preises nichts Auffälliges an sich hatte, und als er schließlich von seinem Eisenbahnwagen aus die Lichter des Thals tief unter sich blinken sah, durfte er sich sagen, daß die Stadt, zu deren Heil und Segen er nach Indien ging, nicht die leiseste Ahnung von seinem wohlthätigen Plan habe! Um aber auch noch fernerhin für die Erhaltung ihrer Ahnungslosigkeit zu sorgen, erzählte er dem Schaffner, mit dem er wie üblich eine Zigarre rauchte, im tiefsten Vertrauen von einer kleinen Minenspekulation in Alaska, die seine persönliche Anwesenheit erfordere. Er durfte sicher sein, daß diese Mitteilung morgen in Topaz von Mund zu Mund gehen würde.

Der Schaffner hatte ihn für einen Augenblick in Verlegenheit gebracht durch die Frage, was dann mittlerweile aus seiner Wahl werden solle, aber er hatte ihm, schnell gefaßt, zur Antwort gegeben, was das betreffe, sei alles abgemacht, und ihm dann wieder einige Geheimnisse über die Art und Weise dieser Abmachung anvertraut, so daß er sicher gehen durfte, seine Mitbürger würden Bescheid bekommen.

Immerhin zerbrach er sich unterwegs manchmal den Kopf darüber, wie seine Erzählungen wirken mochten und ob Frau Mutrie Wort halten und ihm das Ergebnis der Wahl nach Rhatore telegraphieren würde. Es war etwas wunderlich, daß er durch eine Frau erfahren mußte, ob er Mitglied des Gesetzgebenden Körpers von Colorado sei oder nicht, aber sie war der einzige Mensch auf Erden, der seine Adresse kannte, und da der ehrenvolle Auftrag ihr zu gefallen schien, wie die »reizende Verschwörung« – so nannte sie die getroffene Vereinigung – überhaupt, hatte ihn Tarvin mit Freuden in ihre Hand gelegt.

Als er längst zu der Ueberzeugung gelangt war, nie wieder im Leben das Gesicht eines weißen Mannes sehen, nie wieder im Leben eine verständliche Sprache hören zu dürfen, rollte der Wagen durch einen Engpaß zwischen zwei Hügeln und hielt vor einem Gebäude, das in auffallendem Gegensatz zu dem Bahnhof in Rawut stand. Es war ein doppelter Würfel aus rotem Sandstein und – dafür hätte es Tarvin in die Arme schließen mögen! – wimmelte von weißen Männern! Sie waren so wenig bekleidet, als irgend anging, lagen in Rohrstühlen auf der Veranda herum und jeder hatte einen abgeschabten Lederkoffer neben sich stehen.

Tarvin stieg nicht, er wälzte sich aus seinem Karren heraus, denn die langen Beine waren ihm gehörig steif geworden. Dann reckte er seine Gestalt, daß die Muskeln knackten, und mochte so ziemlich den Eindruck eines Gipsmodells machen, denn er war so vollständig überkrustet von Staub und Sand, als ob er aus einem Cyklon oder einem Wüstensturm käme. Der Staub füllte jede Falte und Vertiefung an seiner ganzen Person und sein schwarzes amerikanisches Jackett mit den vier Knöpfen war vollständig sandfarben. Zwischen dem Saum seiner Beinkleider und den Schuhen war kein Unterschied, kein Uebergang wahrnehmbar: wenn er einen Schritt machte, rieselten Sand und Staub an ihm herunter und sein inbrünstiges: »Gott sei Dank!« wurde von einem Staubhusten erstickt. Sich die brennenden Augen reibend, betrat er die Veranda des Dak Bungalows. »Guten Abend, meine Herren!« rief er den Insassen zu. »Gibt es hier etwas zu trinken?«

Niemand erhob sich, aber einer von den Herren klatschte in die Hände und ein andrer, ganz in dünne, safrangelbe Seide gekleidet, die um ihn herumhing wie eine vertrocknete gelbe Bohnenhülse, nickte ihm mit ebenso farblosem Gesicht zu und fragte nachlässig: »Für wen? Worin?«

»Ach so, die Sorte gibt’s hier auch!« dachte Tarvin, der in der kurzen Frage das Volapük der Handlungsreisenden erkannt hatte.

Er ging die lange Reihe entlang und drückte in seiner Herzensfreude und Dankbarkeit jedem einzelnen die Hand, dann erst fiel ihm ein, Vergleiche zwischen Amerika und Indien anzustellen. Konnten diese trägen, schweigsamen Lotusfresser wirklich zu derselben Berufsklasse gehören, mit der er seit manchem Jahr im Wirtshaus und Rauchwagen Anekdoten und Witze und politische Meinungen ausgetauscht hatte? Nein, das mußten des Geistes beraubte niedrige Zerrbilder der rührigen, fröhlichen, zudringlichen und verwegenen Menschensorte sein, die er daheim als Handlungsreisende kennen gelernt hatte, oder aber – ein Zerren in seinem Rücken brachte ihm diesen mildernden Umstand in den Sinn – sie waren samt und sonders »via Land« im Büffelkarren gereist und dabei so tief gesunken.

Er tauchte seine Nase in das fußhohe Glas mit Sodawasser und Whisky und ließ sie darin, bis kein Tropfen mehr herauszulocken war, dann erst warf er sich in einen leeren Stuhl und sah sich die Gesellschaft ein zweites Mal an.

»Hat nicht einer von den Herren gefragt, für wen ich hier sei? Ich muß annehmen, für mich selbst, denn ich reise zum Vergnügen …«

Tarvin fand nicht die Zeit, die Abgeschmacktheit seiner Behauptung still zu genießen, denn die fünf Herren brachen in ein schallendes Gelächter aus, wie man zu lachen pflegt, wenn man lange Zeit jeden Anlaß zur Heiterkeit schmerzlich entbehrt hat.

»Zum Vergnügen! Gott steh ihm bei! Vergnügen!« riefen sie durcheinander. »Da sind Sie an den unrechten Ort geraten!«

»Trifft sich gut, daß Sie nur zum Vergnügen reisen, denn hier ist kein Geschäft zu machen, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen!« hieß es weiter.

»Ebenso gut könnten Sie einen Stein zur Ader lassen wollen! Ich bin seit vierzehn Tagen hier …«

»Alle Achtung! Wozu denn?« fragte Tarvin.

»Ach! Wir alle sind schon über acht Tage hier,« brummte ein vierter.

»Ja, was treiben Sie denn hier? Was führen Sie denn im Schild?«

»Sie sind wohl Amerikaner?«

»Ja, aus Topaz, Colorado.« Diese Mitteilung machte indes nicht den geringsten Eindruck auf die Herren; Colorado wirkte hier nicht. »Wo hapert’s denn hier?«

»Je nun, gestern hat der König zwei Weiber genommen – Sie können die Gongs in der Stadt immer noch schlagen hören. Er macht den Versuch, ein neues Reiterregiment auszurüsten für die indische Regierung und hat sich mit dem politischen Agenten überworfen. Seit drei Tagen belagere ich Oberst Nolans Thüre, aber er behauptet, ohne Genehmigung der Oberregierung nichts thun zu können. Ich habe alles aufgeboten, um den König abzufangen, wenn er auf die Saujagd geht, an den Minister schreibe ich fortwährend, wenn ich nicht gerade auf einem Kamel um die Stadt reite, und hier ist ein ganzer Pack Briefe von der Firma, die sich wundert, daß ich nichts einkassiere!«

Nach Verlauf von zehn Minuten begriff Tarvin endlich, daß diese verwelkten Vertreter eines halben Dutzends Firmen in Kalkutta und Bombay den Platz regelmäßig im Frühjahr belagerten, um von einem König, der tonnenweise bestellt und grammweise bezahlt, Geld einzuziehen. Er hatte Gewehre, eingerichtete Reisetaschen, Spiegel, Kaminschmuck, Häkelarbeiten, bunte Glaskugeln für den Christbaum, Sattelzeug, Kutschierwagen, Breaks und Landauer, chirurgische Instrumente, Porzellanfiguren, dutzend-, hundert-, tausendweise bestellt, je nach Laune. Interessierten ihn seine Einkäufe nicht mehr, so legte er auch keinen Wert darauf, sie zu bezahlen, und da seine abgenützte Phantasie selten länger als zwanzig Minuten an einem Gegenstand Gefallen fand, geschah es zuweilen, daß sein Interesse schon mit dem Einkauf erschöpft war und daß die kostbaren Kisten aus Kalkutta gar nicht geöffnet wurden. Der vom indischen Kaiserreich angeordnete Friede verbot ihm, die Waffen zu ergreifen gegen andre Fürsten seines Volks, was doch seit Jahrtausenden seiner Vorfahren und seine höchste Lust gewesen war, der Kampf mit seinen Gläubigern war das Einzige, was einigermaßen seine kriegerischen Gelüste befriedigte. Auf der einen Seite stand der Vertreter Englands, der höchsten Obrigkeit, der ihm gute Sitten, Regierungskunst und Sparsamkeit beibringen wollte, auf der andern Seite, nämlich vor den Thoren des Palastes, stand immer ein Handlungsreisender, schwankend zwischen Verachtung für einen säumigen Schuldner und der dem Engländer angeborenen Ehrfurcht vor einem König. Zwischen diesen beiden Mächten hindurch ging seine Majestät seinem Vergnügen nach, das teils in Saujagd, Wettrennen, Einexerzieren seiner Truppen, in Bestellung weiterer unnötiger Gegenstände, sowie in geschickter Beherrschung seiner Weiber bestand, die von den Rechnungen jedes einzelnen Reisenden bedeutend mehr wußten, als sein Minister. Im Hintergrund aber stand die anglo-indische Regierung, die verständlich erklärte, daß sie keinerlei Gewähr leiste für Bezahlung der königlichen Schulden, und dem Maharadscha von Zeit zu Zeit auf einem blauen Sammetkissen einen juwelenstrotzenden kaiserlichen Orden schickte, um ihm die Einsprache in seine Angelegenheiten zu versüßen.

»Nun, ich hoffe, Sie legen den König dafür tüchtig herein?« sagte Tarvin.

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, wenn bei mir daheim ein Kunde Geschichten macht, den einen Tag verspricht, den Herrn im Gasthof zu treffen, und nicht kommt, und den andern Tag wieder eine Zusammenkunft verabredet, sie aber nicht einhält und nicht zahlt, da sagt sich der Reisende: ›Ja, mein Sohn, wenn es dir Spaß macht, mich warten zu lassen, so macht es dir gewiß auch Spaß, meine Hotelrechnung zu bezahlen, und ich werde mir nichts abgehen lassen‹ und vom zweiten Tag an kreidet er ihm auch seine Verluste im Spiel an, denn irgendwie muß er sich doch die Zeit vertreiben!«

»Das ist ja höchst interessant! Aber in welcher Form bucht er diese Posten?«

»Die werden natürlich bei der nächsten Lieferung der Firma auf die Ware geschlagen. Die Preise sind dann einfach gestiegen.«

»O, die steigen bei uns auch, die Schwierigkeit ist nur, das Geld zu kriegen!«

»Ich kann mir nur gar nicht erklären, woher die Herren die Zeit nehmen, hier so herumzulungern,« bemerkte Tarvin, dem noch manches unklar war in diesem Land. »Da, wo ich herkomme, macht der Mann seine Tour in scharf abgemessener Zeit, und wird er irgendwo einen Tag aufgehalten, so muß er dafür seinen Kunden in der nächsten Stadt telegraphisch an die Bahn bestellen und seine Geschäfte mit ihm in der Haltezeit abmachen. Du liebe Zeit, bis einer von den Büffelkarren hier zu Lande eine Meile fährt, würde er die Welt verkauft haben! Und was das Geld betrifft, ja warum in aller Welt setzen Sie denn nicht die Gerichte in Bewegung? Ich würde in Ihrem Fall Beschlag legen auf das ganze Land, auf den Palast, auf des alten Sünders Krone sogar! Ich würde Zahlungsbefehle gegen ihn erwirken, ich würde im Notfall persönlich den Gerichtsvollzieher machen und sie persönlich vollstrecken. Wenn nichts anderes mehr übrig bliebe, würde ich den alten Burschen sogar einsperren und an seiner Stelle Radschputana regieren, aber zu meinem Geld würde ich kommen!«

Ein mitleidiges Lächeln stand auf allen Gesichtern.

»Das verstehen Sie einfach nicht,« erklärten mehrere zugleich, und nun begann eine wortreiche, vielstimmige Erklärung.

Die lässige Trägheit war ganz von den Herren gewichen, sie redeten sich alle zumal in den größten Eifer hinein, und Tarvin begriff nach einiger Zeit, daß er trotz des faulen Herumliegens tüchtige Geschäftsleute vor sich hatte. Sich am Thore des Großen hinzustrecken wie ein Bettler, war einfach hier zu Lande Geschäftsbrauch und auch eine Arbeit. Es kostete allerdings Zeit, aber man erreichte doch sein Ziel, besonders, schaltete der Gelbseidene ein, wenn man es fertig brachte, bis zum Minister durchzudringen und durch diesen des Königs Frauen für die Sache zu gewinnen.

Tarvin lächelte vor sich hin – er dachte an Frau Mutrie!

Der Gelbseidene führte jetzt das Wort und Tarvin erfuhr, daß die jetzige Königin eine Mörderin sei, die ihren ersten Mann mit Gift umgebracht habe. In einem eisernen Käfig die Hinrichtung erwartend, habe der König sie sich zum erstenmal zeigen lassen und habe sie gefragt, so erzähle man sich, ob sie ihn auch vergiften würde, wenn er sie heiraten wollte. Ganz gewiß, habe sie erwidert, wenn er sie auch so behandelte, wie ihr erster Mann. Und daraufhin habe der König sie geheiratet, teils weil ihn das Weib gereizt, teils weil ihn diese vermessene Antwort so sehr ergötzt habe. Diese Zigeunerin, von deren Ursprung niemand etwas wußte, habe binnen Jahresfrist König und Staat unter ihre Füße gebeugt gehabt, Füße, von denen die andren Weiber hohnvoll sagten, daß sie hart und rauh seien vom Wandern auf dem Pfad der Schande. Sie habe dem König einen Sohn geboren, der ihr ganzer Stolz sei, und nach dessen Geburt sie sich mit brennendem Ehrgeiz in die Staatsgeschäfte gemischt habe. Die oberste Regierung wisse trotz der weiten Ferne, daß sie eine Macht sei, mit der man zu rechnen habe, und zwar eine böse Macht. Der weißblonde, milde Statthalter, Oberst Nolan, der kaum einen Büchsenschuß vor dem Stadtthor in dem rosa Haus wohne, habe viel von ihr auszustehen. Ihr letzter Sieg sei besonders demütigend für ihn gewesen: sie habe plötzlich entdeckt, daß ein in den Felsen gehauener Kanal, der geplant war, um im Sommer die Stadt mit Wasser zu versehen, durch einen Orangengarten unter ihren Fenstern führen würde, und habe den Maharadscha so weit gebracht, Einsprache dagegen zu erheben. Jetzt müsse wirklich eine andre Trace für den Kanal gewählt werden, die ein bedeutender Umweg sei, den vierten Teil vom Jahreseinkommen des Agenten verschlinge und wogegen dieser mit Vorstellungen, Bitten, ja beinahe Thronen angekämpft habe.

Sitabhai, die Zigeunerin, habe die Unterredung zwischen dem Radscha und dem Statthalter hinter seidenen Vorhängen mit angehört und mitangesehen und sich halb zu Tod gelacht!

Tarvin sog diese Erzählungen mit gierigem Ohr ein. Sie kamen ihm ja sehr gelegen, waren Wasser auf seine Mühle, selbst wenn sein Plan, blindlings aufs Ziel loszugehen, dadurch über den Haufen geworfen wurde. Eine neue Welt that sich vor ihm auf, für die er keinen Maßstab und Standpunkt hatte und worin er bewußt und willig auf die Eingebung des Augenblicks bauen mußte, denn mit seinen Berechnungen war es nichts. Es war unmöglich gewesen, viel von dieser Welt zu erfahren, ehe er den Fuß darein gesetzt hatte, und er sah ein, daß er von den »faulen Gesellen« hier viel lernen konnte. Ihm war überhaupt, als ob er wieder beim ABC anzufangen hatte. Was mochte dem seltsamen Wesen, das sie hier König nannten, wohl angenehm sein, was ihn reizen und locken? Vor allem, was ihm Furcht einflößen?

Die Gedanken jagten sich in Tarvins Kopf, aber er sagte nur: »Kein Wunder, daß der König bankerott ist, wenn er einen solchen Hofstaat zu füttern hat!«

»Er ist einer der reichsten Fürsten in Indien,« entgegnete der Gelbseidene. »Er weiß selbst nicht, wie reich er ist!«

»Warum bezahlt er dann nicht seine Schulden, statt die Herren hier herumwinseln zu lassen?«

»Weil er eben ein Inder ist! Für ein Hochzeitsfest gibt er Hunderttausende aus, aber eine Rechnung von zweihundert Rupien bleibt vier Jahre unbezahlt!«

»Die Gewohnheit sollten Sie ihm eben austreiben; lassen Sie doch seine Juwelen pfänden,« schlug der hartnäckige Amerikaner vor.

»Sie kennen sich nicht aus in Indien, kennen indische Fürsten nicht! Eher würden sie ihr Leben lassen als die Kronjuwelen, die sind heilig, die sind ein Teil der Königswürde!«

»Was gab‘ ich drum, das »Staatsglück« nur ein einziges Mal sehen zu dürfen,« rief eine Stimme aus dem Hintergrund, von der Tarvin später erfuhr, daß sie dem Vertreter eines großen Juwelenhauses in Kalkutta angehörte.

»Was ist denn das?« fragte Tarvin so leichthin, als es ihm gelingen wollte, indem er sich sein Glas abermals füllen ließ.

»Haben Sie nie vom Naulahka gehört?« Der Gelbseidene enthob Tarvin der Notwendigkeit zu antworten.

»Pah,« bemerkte er, »all diese Gerüchte vom Naulahka sind von den Priestern erfunden und ausgesprengt.«

»Das glaube ich denn doch nicht,« versetzte der Juwelenmann überlegen. »Das letzte Mal, als ich hier war, hat mir der König selbst erzählt, er habe das Naulahka einmal einem englischen Vizekönig gezeigt, der sei aber auch der einzige Ausländer, der es je zu Gesicht bekommen habe. Der König versicherte dabei, jetzt wisse er selbst nicht, wo es sei.«

»Ammenmärchen! Glauben Sie etwa an geschnittene Smaragden von zwei Kubikzoll?« fragte der andre den Fremdling.

»Die bilden nur das Mittelstück,« bemerkte der Juwelier, »und ich würde eine Wette riskieren, daß es ein talgichter Smaragd ist. Das macht mich gar nicht stutzig, aber ein Rätsel ist mir, daß diese Burschen, die gar keinen Sinn haben für reine Steine, sich die Mühe gegeben haben sollen, ein halbes Dutzend, geschweige denn fünfzig Steine vom reinsten Wasser zusammenzubringen. Es heißt, das Halsband sei um die Zeit, wo Wilhelm der Eroberer nach England kam, angefangen worden.«

»Nun, da brauchten sie sich jedenfalls nicht zu übereilen,« bemerkte Tarvin. »Wenn man mir acht Jahrhunderte Zeit läßt, bringe ich am Ende auch einen Schmuck zu stande!«

Damit legte er sich abgewendeten Gesichts in seinen Stuhl zurück; sein Herz klopfte stürmisch. Er hatte bei Minenspekulationen, Länder- und Viehhandel auch Augenblicke erlebt, wo ein Zucken der Wimper, ein halbes Wort, ein Vermögen aufs Spiel gesetzt hätte, aber acht Jahrhunderte hatten sich bis jetzt noch nie gegen ihn verschworen gehabt!

Die Herren sahen wieder mit mitleidiger Ueberlegenheit zu dem Neuling hinüber.

»Fünf unbedingt tadellose Exemplare der neun kostbarsten Edelsteine,« fuhr der Juwelier fort. »Rubin, Smaragd, Saphir, Diamant, Katzenauge, Türkis, Amethyst und …«

»Topas?« fragte Tarvin rasch mit Besitzermiene.

»Nein, schwarzer, nachtschwarzer Diamant.«

»Woher wissen Sie denn alles so genau?« fragte Tarvin eifrig. »Woher haben Sie diese Kenntnis?«

»Die ist wie alle Kenntnis in Indien auf der Straße aufzulesen, aber die Richtigkeit nachzuweisen hat seine Schwierigkeiten. Kein Mensch hat ja überhaupt eine Ahnung, wo sich dieses Halsband, das Naulahka, was Staatsglück bedeutet, aufbewahrt wird.«

»Vermutlich im Grundstein irgend eines Tempels in der Stadt,« sagte der Gelbseidene aufs Geratewohl.

»Wo ist denn die Stadt?« entfuhr es Tarvin trotz aller Vorsicht mit verdächtigem Eifer – er sah sich im Geiste schon den Boden durchwühlen, die ganze Stadt umgraben.

Man wies in die Sonnenglut hinaus, durch die er bei angestrengtem Hinsehen einen dreifach mit Mauern umgürteten Felsen schimmern sah. Bis an den Fuß des Felsens erstreckte sich der gelbe Sand der Wüste, der richtigen Wüste, die weder Baum noch Strauch trägt, in der nur der milde Esel lebt und, wie manche behaupten, tief im Innern das wilde Kamel.

Tarvin starrte lange durch den blendenden Dunst der sengend heißen Luft, aber er konnte nicht das geringste Anzeichen von Leben und Bewegung in dieser Stadt wahrnehmen. Es war jetzt kurz nach Mittag und die Unterthanen Seiner Majestät schliefen. Dieser ungeschlachte finstere Brocken Einsamkeit war also Rhatore, das Ziel seiner Reise, das Jericho, das zu erobern er von Topaz ausgezogen war! »Wenn einer in einem Büffelkarren von New York herkommen wollte, um vor einer unsrer Ranchen sein Liedchen zu pfeifen, was für einen Narren ich den nennen würde!« überlegte Tarvin bei sich.

Er stand auf und reckte die staubbelasteten Gliedmaßen.

»Um welche Zeit wird’s denn kühl genug, daß man sich die Stadt besehen kann?« fragte er.

»Was in aller Welt wollen Sie denn mit der Stadt thun – sie besehen? Da seien Sie nur ein wenig vorsichtig! Sie könnten leicht in Schwierigkeiten geraten mit dem Statthalter,« warnte sein gelbseidener Ratgeber freundschaftlich. Tarvin konnte nicht begreifen, inwiefern ein Spaziergang durch die lebloseste Stadt, die ihm je vorgekommen war, gefährlich oder gar verboten sein sollte, aber er äußerte sich nicht darüber, denn er merkte mehr und mehr, daß in diesem Land alles anders war als anderwärts – bis auf den Einfluß der Weiber! Er wollte diese Stadt aber gründlich vornehmen, und zwar ehe ihre monumentale Ruhe – es war immer noch kein‘ Lebenszeichen wahrzunehmen – ihn anstecken und verschlingen oder ihn in einen faullenzenden Kalkutta-Geschäftsmann verwandeln würde!

Jawohl, er mußte handeln, ehe sein Geist benommen und eingeschläfert würde. Vorläufig erkundigte er sich nach dem Telegraphenamt, obwohl es ihm trotz der Drähte fast verwunderlich vorkam, daß Rhatore eine derartige Einrichtung besitzen sollte.

»Uebrigens muß ich Sie darauf aufmerksam machen,« rief ihm einer von den Herren nach, »daß jedes Telegramm, das Sie von hier abschicken, vorher am ganzen Hofe die Runde macht und dem Maharadscha gezeigt wird!«

Tarvin dankte für diesen Wink, der in seinem Fall besonders beachtenswert war, dann watete er durch den tiefen Sand auf eine entweihte Moschee an der Straße zur Stadt zu, die sich’s gefallen lassen mußte, das Telegraphenamt zu beherbergen.

Ein eingeborener Soldat lag in tiefem Schlaf quer über der Schwelle zum Eingang ausgestreckt, sein Pferd hatte er an den in den Boden gerammten langen Lanzenschaft von Bambus gebunden. Sonst kein Zeichen des Lebens; nur ein paar Tauben gurrten schläfrig unter dem dunkeln Thorbogen.

Tarvin sah sich fragend nach dem blauweißen Schild der Western Union um, oder nach etwas, was in diesem wunderlichen Land dessen Stelle vertreten mochte. Er bemerkte, daß die Telegraphendrähte in einem Loch der Kuppel verschwanden, und sah jetzt, daß sich unter dem spitzbogigen Portal zwei oder drei niedere Holzthüren befanden. Aufs Geratewohl eine davon aufstoßend, trat er auf etwas Warmes, Haariges, das brummend aufsprang, und Tarvin hatte gerade noch Zeit, beiseite zu treten, sonst würde ihn ein Büffelkalb überrannt haben. Gelassen versuchte er’s mit der zweiten Thüre und entdeckte nun eine Treppe mit ungeheuer breiten, niederen Stufen, die er sehr unbequem zu steigen fand. Er hoffte dabei immerzu, das Ticken der Apparate zu vernehmen, aber das Gebäude war still wie das Grab, das es ursprünglich gewesen war. Er öffnete wieder eine Thüre und stolperte in ein Zimmer, dessen gewölbte Decke im Schmuck von Tausenden kleiner Stückchen Spiegelglas und sehr bunter Bemalung prangte. Der Uebergang von dem pechfinstern Treppenhaus in diesen sonnendurchfluteten, von Farben und Glas funkelnden Raum mit seinem schneeweißen Fußboden, war so jäh, daß er die Augen zudrücken mußte. Ein Telegraphenamt aber mußte es sein, denn Tarvin hatte auf den ersten Blick einen altmodischen Apparat auf einem geringen tannenen Tischchen wahrgenommen. Das Sonnenlicht fiel grell herein durch das Loch, das man in die Kuppel geschlagen hatte, um die Drähte hereinzuführen, und das nie wieder geschlossen worden war.

Tarvin stand mitten in dem breiten Sonnenstreifen und sah sich um. Er nahm den weichen amerikanischen Filzhut vom Kopf, der für dieses Klima entschieden wenig geeignet war, und wischte sich die feuchte Stirne. Wie er so dastand, hoch aufgerichtet, geschmeidig, kraftvoll in jeder Bewegung, würde sich ein etwa im Hintergrund dieses geheimnisvollen Gebäudes lauernder Bösewicht wohl zweimal besonnen haben, mit diesem Mann anzubinden – ein bequemer Gegner war der sicher nicht! Er zerrte an dem langen blonden Schnurrbart, der von den Mundwinkeln herabfiel und von häufigem Fingerspiel eine bestimmte Kurve angenommen hatte, und brummte sehr anschauliche Bemerkungen in einer Sprache, die das Echo dieser Wände noch nie wiederholt hatte. Wie sollte er von diesem Abgrund der Vergessenheit aus je mit den Vereinigten Staaten von Amerika in Verbindung treten können? Selbst sein eigenes »Hol’s der Teufel!«, das ihm von der Wölbung der Kuppe zurückschallte, klang saft- und kraftlos, unheimatlich!

Eine in ein weißes Leintuch gehüllte Gestalt lag auf dem Fußboden.

»Das stimmt!« rief Tarvin, jetzt erst den weißen Fleck entdeckend. »Ein Toter eignet sich außerordentlich für diese Amtsstube! Heda, Mann – aufgestanden!«

Das Leintuch kam in Bewegung, ein Grunzen drang darunter hervor und dann enthüllte sich ein sehr verschlafener Eingeborener, der von Kopf bis zu Fuß in taubengraue Seide gekleidet war.

»Ho!« rief er betroffen.

»Jawohl,« versetzte Tarvin ungetrübten Sinns. »Sie wollen mich sprechen?«

»O nein, aber telegraphieren will ich, falls in dieser Gruft elektrischer Strom vorhanden ist.«

»Mein Herr,« versicherte der Eingeborene freundlich, »da haben Sie an die richtige Thüre geklopft. Ich bin Telegraphenbeamter und Generalpostmeister dieses Staats.«

Damit setzte er sich auf den wackeligen Stuhl, zog die Tischschublade auf und begann eifrig darin zu kramen.

»Was suchen Sie denn, mein Sohn?« fragte Tarvin. »Etwa den Anschluß an Kalkutta?«

»Meiste Herrn bringen Formulare mit,« versetzte der Taubengraue so vorwurfsvoll, als seine Höflichkeit gestattete, »doch hier ist Formular. Hab‘ Sie Bleistift?«

»Ich will keine zu großen Anforderungen an die Behörde stellen – wollen Sie sich nicht wieder hinlegen und weiterschlafen? Ich kann meine Botschaft selbst tippen – was für ein Signal haben Sie mit Kalkutta?«

»O, mein Herr, Sie nicht verstehen diesen Apparat!«

»Nicht verstehen? Sie sollten mich die Drähte melken sehen an einem Wahltag!«

»Diesen Apparat bedarfen sehr sach-ver-ständige Behandlung. Sie schreib‘, ich telegraphiere, so gehört sich’s – ist Arbeitsteilung, ha ha!«

Tarvin that, wie ihm geheißen wurde, und schrieb die Worte: »Bin am Werk, hoffe Gleiches von C. C. C. Tarvin.«

Die Adresse lautete an die Präsidentin Mutrie in Denver.

»Nun legen Sie los, Mann!« gebot Tarvin, indem er dem mild lächelnden Jüngling das Blatt reichte.

»Ganz gut, ohne Sorge, bin hier dafür,« versetzte der Eingeborene, der zu begreifen schien, daß dieser seltsame Kunde Eile hatte.

»Wird das je an seinen Bestimmungsort kommen?« sagte Tarvin, dem Taubengrauen kameradschaftlich zunickend, als ob er ihn aufmuntern wollte, ihn doch einzuweihen, falls die ganze Geschichte ein Mumpiz oder ein Betrug sei.

»O ja, morgen. Denver ist in Vereinigte Staaten Nordamerika,« versetzte der Beamte, mit kindlichem Stolz auf seine Weisheit zu Tarvin aufblickend.

»Eure Hand, Bruderherz!« rief Tarvin, ihm eine behaarte Faust hinstreckend. »Seid Ihr ein gelehrtes Haus!«

Er blieb wohl eine halbe Stunde, freundete sich auf Grund der gemeinsamen Wissenschaft mit dem Taubengrauen an, sah ihm zu, wie er seinen Apparat bearbeitete, und hatte ein seltsames Gefühl, als dieser wirklich spielte und er sich nun plötzlich mit der fernen Heimat verbunden fühlte. Mitten in ihrer lebhaften Unterhaltung tauchte die Hand des Taubengrauen wieder in die Schublade, um alsbald ein mit Staub überzogenes Telegramm hervorzuziehen, das er Tarvin hinstreckte.

»Sie kenn‘ einen Engländer in Rhatore, heißt Turgiv?« fragte er.

Tarvin starrte einen Augenblick auf die Adresse und riß dann den Umschlag auf – es war das erwartete! Frau Mutrie beglückwünschte ihn zu seiner Wahl, er hatte mit einer Mehrheit von 1518 Stimmen über Sheriff gesiegt!

Der neue Gesetzgeber im Staate Colorado erhob ein Freudengeheul, führte auf dem weißen Fußboden der indischen Moschee einen indianischen Kriegstanz aus, zog den verblüfften Generalpostmeister hinter seinem alten Waschtischchen hervor und wirbelte ihn, in einem tollen Walzer herum. Dann machte er dem Mund und Nase aufsperrenden Eingeborenen einen tiefen Salaam, stürmte die Treppe hinunter und machte, sein Telegramm hochschwingend, im Staub der Landstraße wahre Bockssprünge.

Ins Rasthaus zurückgekehrt, ließ er sich ein Bad bereiten, um sich ernstlich mit dem Wüstensand auseinanderzusetzen, während die Geschäftsreisenden auf der Veranda eifrig seine Person besprachen. Als er sich wohlig in der thönernen Riesenschüssel dehnte und sich von einem braunhäutigen Wasserträger den Inhalt eines Ziegenschlauchs über den Kopf gießen ließ, hörte er eine Stimme draußen sagen: »Wahrscheinlich geht er auf Goldkäufe aus, oder plant er Oelbohrungen und will nur nicht mit der Sprache heraus.«

Nikolas Tarvin zwinkerte mit seinem nassen linken Auge.

  1. Prairieschoner werden die mit weißer Plane überspannten Leitenwagen genannt, worin die früheren Ansiedler teils reisten, teils wohnten. Anm. d. Uebers.
  2. Radscha, im Sanskrit râyan, ist der Titel eingeborener indischer Fürsten, Maharadscha ist ein Großfürst, dem andere Radscha unterstehen. Anm. d. Uebers.
  3. Bungalow ist das einstöckige rings von einer Veranda umgebene indische Haus; Dak Bungalow ein Rasthaus, wo der Reisende Aufnahme findet ohne eigentliche Wirtschaft, ungefähr wie in unsern Alpenvereinshäusern. Anm. d. Uebers.
  4. Eine große Telegraphengesellschaft. Anm. d. Uebers.

Siebentes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Ein Rasthaus fürs allgemeine Beste in der Wüste leidet nicht am Ueberfluß von Möbeln und Teppichen. Ein Tisch, zwei Sessel, eine Bettstelle, ein Kleiderrechen, und unter Glas und Rahmen der Tarif, genügen als »Zimmereinrichtung«. Bettstücke und Wäsche führen die Reisenden mit sich. Tarvin studierte diesen Tarif mit großer Aufmerksamkeit, ehe ihm die Augen zufielen, und erfuhr dadurch, daß ein indischer »Dak Bungalow« nur sehr entfernte Aehnlichkeit mit einem Gasthaus hat, und daß er stets der Gefahr ausgesetzt war, sein ungemütliches Zimmer verlassen zu müssen, wenn neue Reisende es in Anspruch nehmen sollten – nur vierundzwanzig Stunden dauerte der Rechtsanspruch darauf.

Ehe er zu Bett ging, ließ er sich Feder und Tinte geben und schrieb auf einem Briefbogen seiner »Land- und Boden-Verbesserungsgesellschaft« an Frau Mutrie. Am Kopf des Bögchens war eine Landkarte von Colorado aufgedruckt, die Topaz zuversichtlich als Mittelpunkt des ganzen westlichen Eisenbahnnetzes zeigte, und seitwärts davon prangte der selbstverliehene Titel: »N. Tarvin, Versicherungs- und Liegenschaftsagent«. Der Ton seines Briefes war aber noch zuversichtlicher als der Schmuck dieses Briefblatts.

In dieser Nacht träumte er, daß der Maharadscha ihm das Naulahka gegen Bauplätze in Topaz abtrete. Als der Handel schon dem Abschluß nahe war, wurde seine Majestät indessen störrisch und verlangte, Tarvin solle seine Lieblingsmine, die »Zögernde Ader« auch noch drangeben, um den Wert des Naulahka aufzuwiegen. Tarvin wollte auf diese Bedingungen nicht eingehen, da sagte aber der Radscha ganz schneidig: »Wie du willst, mein Sohn, dann kommt eben die C. C. C, nicht nach Topaz!« und Tarvin gab nach, hing Frau Mutrie das Naulahka um den Hals und hörte im selben Augenblick den Präsidenten des Parlaments von Colorado feierlich verkündigen, daß er Topaz, nachdem es Knotenpunkt der drei C. geworden sei, für die politische Hauptstadt des Westens erkläre. Mit einemmal merkte Tarvin, daß dieser Präsident kein andrer war als er selbst, was ihm einige Zweifel an der Richtigkeit seiner Erklärung einflößte, und mit einem bitteren Geschmack im Munde wachte er auf, um den Morgen über Rhatore dämmern zu sehen und den Forderungen der Wirklichkeit zu begegnen.

Diese traten zuerst an ihn heran in Gestalt eines graubärtigen, eingeborenen Soldaten in hohen Reiterstiefeln, der auf einem Kamel vor der Veranda hielt und ihm ein fettig glänzendes, braunes Büchlein mit der üblichen Aufschrift: »Bitte, schreiben Sie: Einsicht genommen«, von seinem hohen Sitz herab reichte.

Tarvin sah sich dieses neue Ereignis in der schon wieder erhitzten Landschaft mit Interesse, aber ohne jedes äußere Zeichen der Ueberraschung an – ein Geheimnis hatte ihm der Osten schon anvertraut, man durfte sich über nichts wundern! Er nahm das kleine Buch in Empfang und las auf der Seite, die ihm ein brauner Daumen bezeichnete: »Gottesdienst jeden Sonntag morgens 7 Uhr 30 im Wohnzimmer des Missionshauses. Fremde, die sich hier aufhalten, sind herzlich dazu eingeladen« (unterzeichnet) »L. R. Estes, presbyterisch-amerikanische Mission.«

»Hm! ? Uhr 30 – die Leute stehen hier zeitig auf, werden wohl wissen warum,« brummte Tarvin vor sich hin. »Wann speisen sie dann wohl hier zu Lande?«

Das waren seine inneren Erwägungen, den Kamelreiter aber fragte er: »Was habe ich damit zu thun?«

Der Mann nahm ihm das Büchlein wieder ab und blickte ihn gleichgültig an. Auch das Kamel gönnte ihm eine kurze Besichtigung, dann setzten sich beide schweigend in Bewegung – was er zu thun hatte, ging doch sie nichts an!

Tarvin rief den entschwindenden Gestalten noch einen ziemlich verworrenen Auftrag nach, aber weder Reiter noch Kamel nahm Notiz davon. Das war offenbar kein Land, wo man rasch ans Ziel kam, und Tarvin sehnte sich jetzt schon ungeduldig nach dem Augenblick, wo er das Halsband in der Tasche und Käte am Arm würde heimwärts segeln können.

Jedenfalls war es praktisch, dem Missionar einen Besuch zu machen. Er war ein Amerikaner und konnte ihm wahrscheinlich die zuverlässigste Auskunft über das Naulahka geben – vielleicht auch über Käte, wie Tarvin etwas vermessen zu hoffen wagte.

Das Missionshaus, das unmittelbar vor dem Stadtthor lag, war ein einstöckiger roter Sandsteinbau, alles Pflanzenschmucks so bar und genau so öde wie der Bahnhof in Rawut. Aber er entdeckte alsbald, daß innen um so mehr Leben war und daß warme Herzen, die ihn freundlich willkommen hießen, hinter den roten Mauern schlugen. Frau Estes war eine jener echt mütterlichen gütigen Frauen mit dem angeborenen Häuslichkeitssinn, der einem eine Höhle zur Heimat machen würde. Sie hatte ein rundes, glattes Gesicht, eine zarte Haut und klare, glückliche Augen. Das noch nicht mit Grau gemischte braune Haar trug sie glatt aus der Stirn gestrichen; sie mochte etwa vierzig Jahre alt sein. Die ganze Persönlichkeit hatte etwas Gesetztes und Gefestigtes.

Der Besucher hatte bald erfahren, daß die Estes aus Bangor in Maine stammten, und da sein Vater auch im Staat Maine auf einer Farm in der Nähe von Portland geboren war, fühlte man sich einigermaßen verwandt. Nach zehn Minuten war er schon zum Frühstück eingeladen, denn Tarvins Gabe, mit andern zu fühlen, war unwiderstehlich. Er war nun einmal der Mann, dem Männer im beliebigen Rauchzimmer eines beliebigen Gasthofs ihre Herzensgeheimnisse anvertrauen, den sie in ihr innerstes Leben blicken lassen, er war ein Schrein, wo man Geschichten von Schuld und Sünde und Elend niederlegt; wenn’s möglich war, leistete er Hilfe, Teilnahme und Verständnis hatte er immer. Noch ehe das Frühstück kam, hatten ihm die Estes ein vollständiges Bild ihrer Lage in Rhatore gegeben, hatten ihm ihre Schwierigkeiten mit dem Maharadscha und des Maharadscha Weibern, die hoffnungslose Unfruchtbarkeit ihrer Arbeit offen geschildert. Dann sprachen sie von ihren Kindern, die wie alle indischen Kinder vom Elternhaus verbannt waren. Freilich waren sie ja in Bangor bei einer Tante und gingen dort in die Schule.

»Fünf Jahre haben wir sie nicht mehr gesehen,« sagte Frau Estes, als man sich zum Frühstück setzte. »Fred war sechs, Laura acht, als wir sie hergeben mußten – jetzt sind sie elf und dreizehn Jahre alt! Nicht zu denken! Wir hoffen ja, daß sie uns nicht vergessen haben werden, aber wie sollen wir ihnen gegenwärtig bleiben? Es sind doch nur Kinder!«

Und dann erzählte sie ihm etliche haarsträubende Geschichten vom Wiedersehen zwischen indischen Eltern und in Amerika aufgewachsenen Kindern. Das Frühstück rief ein leidenschaftliches Heimweh in Tarvin wach. Nach zwei Monaten auf See, zwei Tagen Eisenbahnfahrt zwischen Kalkutta und Rawut mit hastig verschlungenen Bahnhoferfrischungen und einer Nacht im Dâk Bungalow war eine Familienmahlzeit und die Ueppigkeit eines amerikanischen Frühstückstisch wirklich ein Fest für ihn. Man begann zwar mit einer Wassermelone, die keine Erinnerungen in ihm wecken konnte, denn Wassermelonen sind in Topaz eine beinah unbekannte Leckerei und erscheinen jedenfalls nicht schon im April am Schaufenster des Spezereihändlers. Die Hafergrütze aber versetzte ihn ganz in die Heimat, und als die Kalbsschnitzel und gerösteten Kartoffeln, der Kaffee und die braunen Maiskuchen mit dem verführerischen goldgelben Innern darauf folgten, war er fast zu Thränen gerührt. Frau Estes, die sich an seiner Freude erbaute, erklärte, daß ein Töpfchen mit Ahornzuckersirup, das ihr von Bangor geschickt worden sei, auch auf den Tisch kommen müsse, und schickte den weiß gekleideten, lautlos auftretenden Diener mit dem roten Turban danach, sobald er die Waffeln gebracht hatte. So saßen sie seelenvergnügt beisammen und sangen das Lob der amerikanischen Heimat, während der indische Punkah über ihren Köpfen rauschte.

Selbstverständlich hatte Tarvin eine Landkarte von Colorado in der Tasche, und als das Gespräch über die Vereinigten Staaten sich mehr und mehr vertiefte und westwärts zog, breitete er sie auf dem Frühstückstisch zwischen Waffeln und Schnitzeln aus, um den neuen Freunden die Lage von Topaz klar zu machen. Er machte dem Missionar begreiflich, was eine Eisenbahnlinie von Norden und Süden aus dem »Platz« machen würde, und mußte dann natürlich auch zärtlich beschreiben, was für eine wunderbare Stadt sein Topaz heute schon war, mußte alle Gebäude aufzählen, die im letzten Jahre aus der Erde gewachsen waren, und genau schildern, wie man sich nach dem großen Brand aufgerafft und gleich am andern Morgen neu zu bauen angefangen hatte. Das Feuer hatte die Versicherungssumme von baren hunderttausend Dollars in die Stadt gebracht. In unbewußter Abwehr gegen die Ungeheuerlichkeit der leeren Landschaft vor den Fenstern übertrieb er noch mehr als sonst – dieser ungeheure Osten durfte weder ihn, noch Topaz verschlingen!

»Wir erwarten eine junge Dame, und ich glaube, sie kommt aus ihrem Staat,« bemerkte Frau Estes, der bisher alle Städte des Westens gleich wesenlose Begriffe gewesen waren. »Hieß der Ort nicht Topaz, Lucien? Ich meine, das stand in dem Brief …«

Sie stand auf und kramte in ihrem Nähkörbchen, um sich Gewißheit zu holen.

»Jawohl, Topaz … ein Fräulein Sheriff. Sie wird uns von der Zenana-Mission zugeschickt – Sie kennen die junge Dame vielleicht?«

Tarvin steckte den Kopf in seine Landkarte, die er dann umständlich zusammenfaltete.

»Ja, ich kenne sie,« sagte er dann kurz. »Wann wird sie denn erwartet?«

»Sie kann jetzt täglich eintreffen,« erwiderte Frau Estes.

»Kommt mir traurig vor, ein junges Mädchen da herüber zu schicken,« bemerkte Tarvin, »so weit weg von den Ihrigen und allen Freunden … obwohl Sie ja gewiß freundlich gegen sie sein werden,« setzte er mit einem raschen Blick in Frau Estes‘ Augen hinzu.

»Wir werden uns alle Mühe geben, ihr das Heimweh fern zu halten,« versetzte die Missionarsfrau in ihrem mütterlichen Ton, »Wir brauchen ja nur an unsre eigenen Kinder zu denken – an Laura und Fred in Bangor.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen!« rief Tarvin mit Wärme – er nahm offenbar großen Anteil an der Zenana-Mission! »Darf ich mir die Frage erlauben, was für Geschäfte Sie hierher führen?« fragte der Missionar, indem er seiner Frau die leere Kaffeetasse zum Füllen hinhielt.

Estes drückte sich ein wenig förmlich und steif aus und die Stimme drang dumpf aus der dichten Wildnis eines ungewöhnlich langen und dichten eisengrauen Barts hervor. Er hatte ein etwas bärbeißiges aber wohlwollendes Gesicht, eine stramme und dabei herzliche Art und einen guten treuherzigen Blick, dem Tarvin gern begegnete. Sein Urteil war klar und bestimmt und schien namentlich über die verschiedenen Rassen der Eingeborenen ganz fest zu stehen.

»Nun, ich beabsichtige zu schürfen,« erwiderte Tarvin in gleichmütigem Ton, dabei durchs Fenster starrend, als ob er jeden Augenblick Käte mitten in der Wüste auftauchen zu sehen erwarte.

»Aha! Wohl Gold?«

»Hm – nun ja, Gold so gut wie andres.«

Estes führte seinen Gast auf die Veranda hinaus, um eine Zigarre mit ihm zu rauchen, die Frau kam mit ihrer Näharbeit nach und setzte sich zu ihnen. Nun lenkte Tarvin das Gespräch auf das Naulahka und fragte geradezu, was und wo es sei. Aber es stellte sich heraus, daß der Missionar, obwohl er ein Amerikaner war, durchaus nicht mehr davon wußte, als die faulen Geschäftsreisenden in dem Rasthaus. Er wußte von seinem Vorhandensein, kannte aber außer dem Maharadscha niemand, der es je gesehen hätte. Tarvin mußte recht viel Gleichgültiges anhören, um immer wieder auf diesen Punkt zu gelangen, und da der Missionar hartnäckig an der Vorstellung festhielt, daß er Gold suchen wolle, fand er es schließlich rätlich, darauf einzugehen.

»Sie denken natürlich an das Auswaschen des Erzes?« warf Estes hin.

»Versteht sich,« pflichtete Tarvin bei.

»Im Ametfluß werden Sie schwerlich viel finden! Dort haben die Eingeborenen seit Jahrhunderten krampfhaft Gold gewaschen, und nun findet sich höchstens noch, was der Triebsand vom Quarzgestein der Gungrahügel heranführt. Aber Sie werden Ihr Unternehmen wohl in großem Stil betreiben wollen?« setzte der Missionar mit einem forschenden Blick hinzu.

»Selbstverständlich, in ganz großem Maßstab.«

Estes setzte voraus, daß Tarvin die Schwierigkeiten wohl erwogen haben werde. Er müsse die Bewilligung des Oberst Nolan und durch diesen die der englischen Regierung erlangen, wenn er irgend dran denke, etwas Ernstliches ausrichten zu wollen. Des Obersten Erlaubnis müsse überhaupt schon eingeholt werden, um in Rhatore bleiben zu dürfen.

»Sie meinen, ich müsse es der Regierung lohnend erscheinen lassen, daß sie mich gewähren läßt?«

»Ja, das meine ich.«

»Gut, das soll geschehen.«

Frau Estes warf einen raschen Blick zu ihrem Mann hinüber. Nach Frauenart machte sie sich ihre Gedanken.

Siebzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

In der Wüste sind die Nächte im Sommer noch heißer als die Tage, denn wenn die Sonne verschwunden ist, strahlen Mauern, Marmor, Sand und Erde die aufgespeicherte Hitze aus, und tiefhängendes Gewölk, das immer Regen verspricht und nie bringt, wehrt ihr jeglichen Ausweg.

Tarvin lag auf der Veranda des Rasthauses, rauchte eine Cigarre und fragte sich, ob sein Einschreiten die Lage des Maharadscha Kunwar wohl verbessert oder verschlimmert haben werde. Er konnte ganz ungestört seinen Gedanken nachhängen, denn auch die letzten Geschäftsreisenden waren, bis zum letzten Moment murrend, nach Kalkutta oder Bombay zurückgekehrt, und der Dâk Bungalow stand jetzt zu seiner alleinigen Verfügung. Seinen Herrschersitz überblickend, dachte Tarvin, Rauchringe blasend, über die verzweifelte und keine Aussicht auf Besserung gewährende Lage nach. Im Grund waren die Dinge jetzt gerade auf dem Punkt angelangt, wo sie ihm am besten gefielen. War der Karren einmal so gründlich verfahren, so brauchte man einen Nikolas Tarvin, um ihn wieder flott zu machen! Käte war halsstarrig, das Naulahka entschlüpfte ihm, der Maharadscha war drauf und dran, ihn aus dem Land zu jagen. Sitabhai hatte mit angehört, daß er sie eines Mordversuchs bezichtigte, sein Leben konnte also in jedem Augenblick ein geheimnisvolles Ende nehmen, wobei ihm nicht einmal der Trost blieb, daß Heckler und die andern Jungen von Topaz ihn rächen würden. Kam es nicht dazu, so sah es doch ganz danach aus, als ob er dieses Leben ohne Käte werde weiterleben müssen, Topaz nicht mit einer neuen Aera würde beschenken können – mit andern Worten, daß es gar nicht der Mühe wert sein würde, überhaupt zu leben.

Das Mondlicht, das die hochgelegene Stadt jenseits des Sandmeers beschien, warf phantastische Schatten auf Tempelkuppeln und Wachtthürme. Ein Nahrung suchender Hund beschnüffelte Tarvins Stuhl, zog sich dann zurück und heulte ihn aus einiger Entfernung an. Es war merkwürdig melancholisch, dieses Hundegeheul. Tarvin rauchte weiter, bis der Mond unterging und die undurchdringliche Finsternis indischer Nächte angebrochen war. Kaum hatte sie ihn ganz eingehüllt, als er sich bewußt ward, daß etwas noch undurchdringlicher Schwarzes zwischen ihm und dem Horizont auftauchte.

»Sind Sie es, Tarvin Sahib?« fragte eine Stimme in gebrochenem Englisch.

Tarvin sprang auf, ohne eine Antwort zu geben. Er fing an, plötzliche Erscheinungen mit einem gewissen Mißtrauen zu betrachten, und seine Hand zuckte nach dem Revolver. In einem Land, das nach dem Muster einer »Feeerie« eingerichtet war, konnte seiner Meinung nach so ziemlich alles passieren!

»Nein, fürchten Sie nichts,« fuhr die Stimme fort. »Ich bin’s – Juggut Singh.«

Tarvin saugte nachdenklich an seiner Cigarre.

»Singh heißt in Gokral Sitarun jeder dritte Mensch – was für ein Singh?«

»Juggut Singh vom Haushalt der Maharadscha,«

»Hm… will der König mich sprechen?«

Die Gestalt trat lautlos näher.

»Nein, Sahib, die Königin.«

»Welche?« fragte Tarvin abermals.

Jetzt war die Gestalt auf der Veranda selbst dicht an seiner Seite.

»Es gibt nur eine, die den Mut hat, den Palast zu verlassen,« raunte sie ihm zu, »die Zigeunerin!«

Tarvin schnalzte leise mit den Fingern und mit der Zunge; diese Sache ließ sich ja ganz nach seinem Geschmack an!

»Angenehme Empfangsstunden beliebt die Dame,« bemerkte er in triumphierendem Ton. »Das ist nicht der Ort, darüber zu reden, Sahib. Ich soll sagen: ›Komm zu mir, falls du Dunkelheit nicht fürchtest.‹«

»Wahrhaftig? Nun, sehen Sie, Juggut Singh, über den Punkt müssen wir uns doch ein wenig aussprechen. Ich freue mich wirklich, Frau Sitabhais Bekanntschaft zu machen; aber wo steckt sie denn? Wohin soll ich gehen?«

»Ich sollte sagen: ›Komm zu mir‹ … Fürchten Sie sich?«

Dies letztere sagte Juggut Singh aus eigenem Antrieb.

»Ich kann mich auch fürchten, wenn’s drauf ankommt, aber jetzt ist davon nicht die Rede,« sagte Tarvin, dicken Rauch aus seiner Cigarre blasend.

»Es sind Pferde da, rasche Pferde. Die Königin will’s, folgen Sie mir.«

Tarvin rauchte ruhig weiter – Eile hatte er offenbar nicht. Dann erhob er sich aus dem Schaukelstuhl, als ob er jeden Muskel einzeln in Bewegung setzten müßte. Jetzt zog er den Revolver aus der Tasche, untersuchte dicht unter Juggut Singhs wachsamen Augen die einzelnen Kammern und steckte ihn, dem Begleiter zunickend, wieder in die Tasche.

»So, jetzt kann’s losgehen,« sagte er.

Sie gingen um die Veranda herum, an die Rückseite des Hauses, wo zwei Pferde angepflockt standen, die Köpfe mit leinenen Tüchern umhüllt, um sie am Wiehern zu verhindern. Der Mann bestieg das eine, Tarvin das andere, nicht ohne sich vorher überzeugt zu haben, daß der Sattelgurt dieses Mal richtig geschnallt war. Schweigend ritten sie im Schritt davon, von der Straße zur Stadt bald in einen Feldweg einbiegend, der in der Richtung der Hügel führte.

»So,« sagte Juggut Singh, nachdem sie eine Viertelmeile entfernt und in tiefster Einsamkeit unter dem Sternenhimmel waren, »jetzt können wir zureiten!« Aus den Steigbügeln schlüpfend, legte er sich platt vor auf den Hals des Pferds und begann das Tier rasend anzutreiben. Nur unmittelbare Todesfurcht konnte den verzärtelten Palast-Eunuchen zu einem solchen Tempo bewegen; Tarvin beobachtete, wie die feiste Gestalt auf dem Sattel hin und her rollte, kicherte ein wenig und folgte.

»Als Cowboy würden Sie sich nicht sehr auszeichnen, Juggut,« bemerkte er. »Was meinen Sie?«

»Vorwärts!« rief Juggut Singh keuchend. »Auf die Kluft zwischen den zwei Anhöhen zu halten … nur schnell!«

Der trockene Sand stäubte hoch auf unter den Pferdehufen, die heiße Luft pfiff um die Ohren von Mann und Roß, als sie die leichte Steigung nach dem Hügel drei Meilen von der Stadt hinauf jagten. In früheren Jahren, vor der Einführung des Telegraphen in Indien, hatten sich die Opiumhändler der Wüste von niederen Wachtürmen auf den Hügeln aus durch Feuerzeichen über Sinken oder Steigen der Preise verständigt, und eine dieser in den Ruhestand versetzten Meldestationen war das Ziel, dem Juggut Singh zustrebte. Die Pferde fielen in Schritt, sobald die Steigung fühlbarer wurde und die Umrisse des kumpfigen Turmes sich deutlich vom nächtlichen Himmel ablösten. Ein paar Minuten später traten die Pferde statt auf Sand auf festen Marmorboden, und Tarvin sah jetzt, daß sie längs eines bis zum Rand gefüllten großen Sammelbeckens hin ritten.

Ein paar Lichter, die in östlicher Richtung zwinkerten, zeigten ihm, wo Rhatore lag und versetzten Tarvin ganz in die Nacht zurück, wo er von der hinteren Plattform eines Pullman-Wagens aus Topaz lebewohl gesagt hatte. Nachtvögel ließen aus dem Röhricht am gegenüberliegenden Rand des Weihers ihre Stimmen erschallen, und ein großer Fisch schnappte im Wasser nach dem Spiegelbild eines Sterns.

»Der Wachturm ist am andern Ende der Umfassungsmauer,« belehrte ihn Juggut Singh, »und dort ist die Zigeunerin.«

»Wird dieser Name nie in Vergessenheit kommen?« fragte eine Stimme von unvergleichlich schmeichelndem Wohllaut aus der Dunkelheit heraus. »Es ist gut, daß ich sanftmütig bin, sonst würden dich die Fische kennen lernen, Juggut Singh.«

Tarvin riß sein Pferd ungestüm zurück, denn fast unter seinem Zaum stand eine Gestalt, vom Kopf bis zu den Füßen in einen Nebel von hellgelber Seidengaze gehüllt. Sie war seitwärts hinter dem roten Grabstein hervorgetreten, der die Ruhestätte eines einst gefeierten radschputischen Edeln, des Erbauers dieses Sammelbeckens, bezeichnete. Man glaubte im ganzen Land, daß sein Geist nächtlicher Weile hoch zu Roß sein Bauwesen bewache, und das war einer von den Gründen, weshalb der »Dungar Talao« von Sonnenuntergang an gemieden wurde.

»Steigen Sie ab, Tarvin Sahib,« sagte die süße Stimme mit spöttischer Betonung. »Ich bin wenigstens kein grauer Affe. Juggut Singh, du hütest die Pferde unter dem Wachturm!«

»Und schlafen Sie dabei nicht ein, Juggut,« fügte Tarvin hinzu. »Wir könnten Ihrer bedürfen.«

Er sprang vom Pferde und stand vor Sitabhais verschleierter Gestalt.

»Ich wußte, daß Sie kommen würden, Sahib,« sagte sie nach einer Weile, ihm eine Hand hinstreckend, die noch kleiner war als die Kätes. »Ich wußte, daß Sie keine Angst haben.«

Sie hielt seine Hand bei diesen Worten mit leisem zärtlichem Druck fest, und Tarvin griff nun fester zu, vergrub die schlanken Finger ganz in seiner mächtigen Tatze und schüttelte sie, daß der Königin unwillkürlich ein leiser Wehruf entfuhr.

»Bei Indur, der Mann kann zufassen,« murmelte sie vor sich hin, während er laut und herzhaft versicherte, daß er sehr erfreut sei, endlich ihre Bekanntschaft zu machen. »Ich freue mich auch, Sie zu sehen,« erwiderte sie.

Die Stimme war wirklich berückend – wie nur das verschleierte Gesicht aussehen mochte, fragte sich Tarvin.

Gelassen ließ die Königin sich auf der Steinplatte des Grabmals nieder und winkte ihm, sich an ihre Seite zu setzen.

»Weiße Männer lieben offene Rede,« begann sie, langsam die Worte suchend und in einigem Kampf mit der Aussprache des Englischen. »Sagen Sie mir, Tarvin Sahib, wieviel Sie wirklich wissen?«

Sie zog bei diesen Worten den Schleier weg und wandte ihm ihr Gesicht zu. Bei Gott – schön war sie. Diese Wahrnehmung drängte sich unmerklich zwischen Tarvins vorgefaßte Meinungen.

»Sie werden doch nicht verlangen, daß ich mich selbst aufgebe, Königin?«

»Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen, aber ich weiß, daß Sie anders sprechen als andre weiße Männer,« versetzte sie in ihren süßesten Tönen.

»Nun, mit andern Worten, Sie werden doch nicht erwarten, daß ich Ihnen die Wahrheit sage?«

»Nein, sonst würden Sie mir sagen, weshalb Sie hier sind. Aber warum machen Sie mir so viel Mühe?«

»Thue ich das, Königin?«

Sitabhai lachte, wobei sie den Kopf zurückwarf und die Hände im Nacken verschränkte. Talvin beobachtete sie neugierig beim Licht der Sterne. Mit allen Sinnen war er hell wach und auf seiner Hut; von Zeit zu Zeit spähte er scharf aus nach allen Seiten, aber nichts war wahrzunehmen als der schwache Glanz des Wassers, das leise gegen die Marmorstufen plätscherte, nur Eulenrufe unterbrachen die tiefe Stille.

»O Tarvin Sahib!« sagte sie. »Als ob Sie’s nicht wüßten! Aber nach dem ersten Mal that mir’s leid.«

»Bitte, wann war denn das erste Mal?« »Als der Sattel sich drehte, natürlich. Als dann der Balken vom Gerüst fiel, glaubte ich wenigstens Ihr Pferd getroffen zu haben – war es nicht verletzt?«

»Nein,« sagte Tarvin, den diese unverblümte Offenheit denn doch verblüffte.

»Das wußten Sie ja doch,« bemerkte sie beinah vorwurfsvoll.

Tarvin schüttelte den Kopf.

»Nein, meine verehrte Königin, nein,« gestand er langsam und nachdrücklich, »zu meiner Schande sei’s gesagt, ich vermutete Sitabhai nicht dahinter. Jetzt dämmert mir so manches … der kleine Scherz am Damm war wohl auch Ihre Erfindung, und die Notbrücke mit den Löchern und die Büffelkarren, die an der Böschung herunter rutschten? Und das alles habe ich der Nachlässigkeit dieses Volks in die Schuhe geschoben! Da soll doch …«

Er stieß einen Pfiff aus, der sofort in dem heiseren Gekrächz einer Weihe Antwort fand.

Aufspringend griff Sitabhai in ihr Gewand.

»Ein Signal!« entfuhr es ihr, aber gleich darauf ließ sie sich wieder beruhigt neben Tarvin nieder. »Nein, Sie haben ja niemand mitbringen können und Sie fürchteten sich auch nicht, allein zu gehen, das weiß ich ja.«

»Fällt mir gar nicht ein, daß ich den Versuch machte, Sie umzubringen, meine Schönste, thäte mir leid um Ihre erfinderische systematische Teufelei, die ich höchlich bewundere! Also Ihnen danke ich all die netten Abenteuer! Das mit dem Triebsand war besonders hübsch. Führen Sie das öfter aus?«

»Ach, Sie meinen beim Damm?« fragte die Königin leichthin. »Nein, ich gab damals nur den Befehl, daß die Leute ihr Möglichstes thun sollen, aber viel Scharfsinn haben sie eben nicht – was kann man auch von Kulis erwarten! Ich war sehr ärgerlich, als mir gemeldet wurde, wie sie’s angestellt hatten.« »Den Boten haben Sie wohl umgebracht?«

»Nein, weshalb denn?«

»Wenn man einmal nach dem Warum fragt, möchte ich wohl wissen, weshalb Sie so darauf erpicht sind, mich umzubringen,« fragte Tarvin trocken.

»Weil ich nicht will, daß weiße Männer sich hier aufhalten, und von Ihnen wußte ich gleich, daß Sie bleiben wollen. Ueberdies hat der Maharadscha einen Affen an Ihnen gefressen und einen weißen Mann hatte ich noch nie getötet. Zudem gefallen Sie mir!«

»Oho!« rief Tarvin.

»Bei Malang Shah, es ist so, und Sie haben es nie gemerkt.«

Sie schwur bei ihrem eigenen Gott, dem Gott der fahrenden Leute.

»Verschwören Sie lieber nichts,« versetzte Tarvin.

»Und meinen Lieblingsaffen haben Sie mir erschossen,« fuhr sie fort. »Er hat jeden Morgen so hübsch vor mir gesalaamt, genau wie Luchman Rao, der Staatsminister. Tarvin Sahib, ich habe viele Engländer gekannt. Ich habe auf dem losen Seil getanzt vor den Kasinozelten der Offiziere, wenn die Regimenter auf dem Marsch begriffen waren, und meine kleine Bettelbüchse dem großen bärtigen Obersten hingehalten, als ich ihm noch nicht bis ans Knie reichte. Und als ich älter geworden war, glaubte ich das Herz der Männer zu kennen durch und durch, aber bei Malang Shah, Tarvin Sahib, einen Mann wie Sie hatte ich nie gesehen! O sagen Sie nicht,« setzte sie beinahe flehend hinzu, »Sie hätten’s nicht gewußt! In meiner Sprache gibt’s ein Liebeslied, das heißt: ›Von Mond zu Mond nicht schlief ich deinetwegen‹, und das paßt genau auf mich. Manchmal ist mir’s, als ob ich doch nicht so ernstlich gewünscht hätte, Sie sterben zu sehen, aber besser wär’s ja freilich, viel besser, Sie wären tot. Ich und ich allein herrsche in diesem Staat. Und nun, nachdem Sie dem König gesagt haben …« »Das haben Sie mit angehört, ja?«

Sie nickte flüchtig.

»Nachdem Sie das gesagt haben, sehe ich eigentlich keine andre Möglichkeit mehr, außer Sie gingen fort.«

»Ich gehe nicht.«

»Das ist gut,« sagte die Königin auflachend. »Da werde ich also Ihren Anblick nicht entbehren, soll Sie Tag für Tag im Hof stehen sehen! Heute dachte ich, die Sonne müßte Sie töten, als Sie so lang auf den Maharadscha warteten! Sie sind mir auch noch Dank schuldig, Tarvin Sahib, denn ich habe den Maharadscha hinausgeschickt zu Ihnen. Anstatt dessen spielten Sie mir einen schlimmen Streich!«

»Meine liebe junge Dame,« sagte Tarvin mit großem Ernst, »wenn Sie Ihre boshaften kleinen Krallen einziehen wollten, würde kein Mensch Ihnen etwas zu leide thun. Aber des Maharadscha Kunwar wegen kann ich Ihnen nicht weichen. Ich bin hier, um den Knaben am Leben zu erhalten. Bleiben Sie aus dem Gras, und ich geb’s auf.«

»Das verstehe ich wiederum nicht,« versetzte Sitabhai betroffen. »Was kann Ihnen, dem Fremden, das Leben eines kleinen Kindes bedeuten?«

»Was es mir bedeutet? Was es allen anständigen Menschen bedeuten würde, das Leben eines schuldlosen Kindes. Braucht’s da besondere Gründe? Ist Ihnen denn gar nichts heilig?«

»Ich habe auch einen Sohn, und mein Kind ist kräftig,« sagte die Königin mit Nachdruck. »Tarvin Sahib der Knabe war kränklich von Geburt an. Wie soll er über Männer herrschen? Mein Sohn wird ein echter Radschpute werden und in künftigen Zeiten … doch was kümmert das einen Fremden, einen weißen Mann! Lassen Sie den Kleinen heimgehen zu seinen Göttern, Tarvin Sahib!«

»Nicht, wenn ich’s hindern kann!« entgegnete Tarvin bestimmt. »Wenn er nicht stirbt,« sprudelte die Königin weiter, »kann er neunzig Jahre lang elend dahinsiechen. Ich kenne die entartete, unreine Rasse, aus der er stammt. Ja, an den Thoren des Palastes habe ich gesungen, als wir beide Kinder waren, seine Mutter und ich – ich stand im Staub der Landstraße, sie saß in ihrer Hochzeitssänfte. Heute liegt sie im Staub. Tarvin Sahib,« – die Stimme schmolz in süßem Flehen – »mein Schoß wird keinen zweiten Sohn tragen, aber von meinem Platz hinterm Vorhang könnte ich wenigstens diesen Staat modeln, wie es viele Königinnen vor mir gethan haben. Ich bin keine Palastpflanze. Die da drinnen« – sie deutete verächtlich auf die zwinkernden Lichter der Stadt – »haben nie ein Kornfeld wogen gesehen, nie den Wind pfeifen gehört, sind nie im Sattel gesessen, sie haben nie auf offener Straße Aug‘ im Auge mit einem Mann gesprochen. Mich nennen sie die Zigeunerin, und wenn es mir einfällt, die Hand zum Bart des Maharadscha zu erheben, so verkriechen sie sich schaudernd in ihre Schleier wie fette Schnecken in ihr Haus. Ihre Barden singen von zwölfhundertjähriger Vergangenheit ihrer Vorfahren. Ja, ihr Adel ist alt! Aber bei Indur und Allah und bei dem Gott Ihrer Missionare, an Sitabhai sollen sich ihre Kinder und Kindeskinder und die englische Regierung zweimal zwölfhundert Jahre erinnern! Ahi, Tarvin Sahib, Sie wissen nicht, wie klug mein kleiner Sohn ist! Ich lasse ihn nicht zu den Missionaren gehen. Alles, was er später brauchen wird, und es gehört viel dazu, einen Staat wie diesen zu regieren, soll er von mir lernen, denn ich habe die Welt gesehen und das Leben und bin wissend geworden. Und bis Sie kamen, ging alles so glatt, so glatt, so schlankweg aufs Ziel zu. Der andre Knabe wäre gestorben – jawohl, dann wäre uns nichts mehr im Wege gestanden. Und keine Menschenseele im ganzen Palast, weder Mann noch Weib, würde je gewagt haben, dem König ins Ohr zu flüstern, was Sie laut im Licht der Sonne durch den Hof schreien! Nun wird der Argwohn nicht mehr einschlummern in des Königs Sinn und – ich weiß, ich weiß nicht …« sie beugte sich vor, um ihm recht in die Augen zu sehen, »Tarvin Sahib, wenn ich in dieser Nacht die Wahrheit geredet habe, so sagen Sie mir wenigstens, wie viel Sie wissen!«

Tarvin beharrte bei finsterem Schweigen; bittend legte sie ihm eine Hand aufs Knie.

»Und niemand würde Verdacht geschöpft haben! Als die Damen des Vizekönigs voriges Jahr hier waren, gab ich aus meinem eigenen Schatz fünfundzwanzigtausend Rupien für das Kinderspital, und die Dame Sahib küßte mich auf beide Wangen, und ich sprach englisch mit ihr und zeigte ihr, wie ich meine Zeit zubringe – mit Stricken! Ich, die ich Männerherzen zu bestricken und zu zerpflücken vermag!«

Dieses Mal pfiff Tarvin nicht; er lächelte nur und murmelte etwas Beifälliges. Der großartige, meisterliche Zug in ihrer Schlechtigkeit und die kühle Gelassenheit, womit sie ihr Uebelthun betrieb, verliehen ihr eine gewisse Vornehmheit. Vielleicht aber war es ihre vollendete Schönheit, die ihm noch mehr Achtung einflößte; für Frauenschönheit ist der Westamerikaner vor allem zugänglich. Sitabhai imponierte ihm. Es war richtig, ihre Anschläge gegen ihn waren ja mißlungen, aber daß sie ausgeführt worden waren, ohne daß er’s gemerkt hatte, erfüllte ihn beinahe mit Verehrung.

»Jetzt werden Sie zu begreifen anfangen, daß hier etwas mehr auf dem Spiel steht als ein kränkliches Kind,« fuhr die Königin fort. »Wollen Sie wirklich dem Oberst Nolan die Geschichte zutragen, Tarvin Sahib?«

»Wenn Sie nicht gesonnen sind, Ihre Hand vom Maharadscha Kunwar zu lassen, allerdings,« erwiderte Tarvin, der seinen persönlichen Gefühlen in geschäftlichen Dingen nie Raum gab.

»Klug ist es nicht,« erklärte die Königin. »Der Oberst wird dem König viel Unlust und Scherereien bereiten, der König wird im Palast großen Wirrwarr anrichten und bis auf einige wenige werden alle meine Dienerinnen gegen mich zeugen, so daß der Verdacht vielleicht sehr stark werden wird. Sie denken dann vielleicht, Sie hätten mich ja gewarnt, aber, Tarvin Sahib, ewig können Sie doch nicht hier bleiben, meinen Tod können Sie nicht abwarten, und sobald Sie Rhatore den Rücken kehren …« sie schnalzte zur Ergänzung ihres Satzes mit den Fingern.

»Diese Möglichkeit soll Ihnen genommen werden,« versetzte Tarvin unerschüttert. »Lassen Sie das nur meine Sorge sein. Wofür halten Sie mich denn?«

Die Königin nagte in innerer Unschlüssigkeit am Rücken ihres Zeigefingers. Was dieser Mann, der heil und ganz aus allen ihren Anschlägen hervorgegangen war, noch ausrichten würde oder nicht, war nicht abzusehen. Hätte sie es mit einem aus ihrem Volke zu thun gehabt, sie würde Drohung gegen Drohung ausgespielt haben, aber diese vollständig kraftbewußte Gestalt, die in leichter, unbefangener Haltung neben ihr saß und doch jede ihrer Bewegungen beobachtete, immer sprungbereit auf der Lauer lag, einzig und allein sich selbst vertrauend, war eine unberechenbare Gewalt, die sie verblüffte und um ihre Sicherheit brachte.

Ein bescheidenes Hüsteln ließ sich hören, und Juggut Singh kam herbeigewatschelt, um unter demütigen Verbeugungen der Königin einige Worte ins Ohr zu flüstern. Sie lachte spöttisch und schickte ihn auf seinen Posten zurück.

»Er sagt, die Nacht gehe auf die Neige und es koste mein und sein Leben, wenn wir beim Morgengrauen außerhalb des Palastes wären.«

»Dann will ich Sie nicht aufhalten,« sagte Tarvin, indem er aufstand. »Ich glaube, daß wir einander verstanden haben,« – er beugte sich hinunter, um ihr in die Augen zu sehen, – »Hände weg! heißt die Losung.« »Ich soll also nicht mehr thun dürfen, was mir gefällt? Sie wollen morgen zum Oberst gehen?«

»Je nachdem,« sagte Tarvin kurz.

Als er jetzt wieder auf sie niedersah, schob er die Hand in seine Brusttasche.

»Setzen Sie sich noch einen Augenblick, Tarvin Sahib,« sagte sie, einladend mit der Handfläche auf die Steinplatte klopfend.

Tarvin gehorchte.

»Wenn ich keine Balken mehr stürzen lasse und die grauen Affen an der Kette halte …«

»Und den Triebsand im Flußbett wegschaffe,« ergänzte Tarvin mit grimmigem Lächeln. »Ich verstehe! Mein lieber kleiner Feuerteufel, das können Sie nach Belieben halten! Ich möchte Sie Ihrer kleinen Freuden gewiß nicht berauben!«

»Das war dumm von mir – ich hätte ja wissen müssen, daß keine Gefahr Sie schreckt,« sagte sie, bedächtig zu ihm hinüber schielend, »und mich schreckt kein Mann außer Ihnen, Tarvin Sahib. Wenn Sie ein König wären und ich die Königin, wir beide würden Hindostan in unsern Händen halten.«

Bei diesen Worten umfaßte sie seine geschlossene Faust, und eingedenk des Griffes in ihr Gewand, den sie bei seinem Pfiff gethan hatte, legte Tarvin die andre Hand über die ihrigen und hielt sie fest.

»Gibt es gar keinen Preis, Tarvin Sahib, wofür ich mir die Freiheit erkaufen könnte? Was ist’s, wonach Sie trachten? Um den Maharadscha Kunwar am Leben zu erhalten, sind Sie doch nicht nach Indien gekommen!«

»Woher wissen Sie, ob dem nicht so ist?«

»Sie sind sehr klug,« sagte sie mit silbernem Lachen, »aber man muß nicht noch klüger scheinen wollen, als man ist! Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie gekommen sind?«

»Nun, warum? Sprechen Sie.« »Sie sind hierher gekommen, wie Sie in den Tempel des Isvara gingen, um etwas zu suchen, was Sie nie finden werden, außer« – sie lehnte sich an seine Schulter – »Sitabhai hilft Ihnen. War es sehr kalt im Kuhmaul, Tarvin Sahib?«

Tarvin steifte seinen Nacken und seine Stirn furchte sich, aber weiter verriet er sich nicht.

»Damals hatte ich Angst, die Schlangen könnten Sie gebissen haben …«

»Wahrhaftig?«

»Ja, gewiß,« sagte sie sanft. »Und neulich war ich in Sorge, Sie könnten nicht rasch genug zurücktreten von dem Wippstein im Tempel.«

»Wahrhaftig?«

»Jawohl. Ach, ich wußte genau, wonach Ihr Sinn stand, ich wußte es, noch eh‘ Sie dem König Ihre Bitte vorgetragen hatten – damals, als die Leibwache gegen Sie anritt.«

»Wirklich nett! Sie stehen in Ihren Mußestunden wohl einem Privatauskunftsbureau vor?«

Sie lachte.

»Im Palast singt man jetzt Lieder von Ihrer Tapferkeit, aber die kühnste Ihrer Thaten ist, daß Sie mit dem Maharadscha vom Naulahka gesprochen! Er hat mir genau erzählt, was Sie gesagt haben, aber daß Sie, daß ein ›Feringhi‹ nach seinem Besitz lüstern sein könnte, das hat auch er sich nicht träumen lassen! Und ich, ich war gut – ich hab’s ihm nicht gesagt. Tarvin Sahib,« fuhr sie fort, indem sie ihre Hände aus seinem Griff befreite und ihm die eine zärtlich auf die Schulter legte, »Sie und ich, wir gehören zusammen, wir sind Eines Geistes Kinder! Leichter ist es, diesen Staat zu regieren, nein, leichter wäre es noch, von diesem Staat aus ganz Hindostan zu erobern und die weißen Hunde, die Engländer, hinauszutreiben, als das, was Sie zu vollbringen träumen. Aber ein starkes Herz macht alles möglich, alles leicht. Begehren Sie für sich selbst nach dem Naulahka, Tarvin Sahib, oder für einen andern, gerade wie ich Gokral Sitarun besitzen will für meinen Sohn? Kleinlich sind wir beide nicht. Ist es für einen andern, Tarvin Sahib?«

»Sagen Sie mir,« fragte Tarvin achtungsvoll, indem er ihre Hand von seiner Schulter löste und wieder fest umspannt hielt, »gibt es viele wie Sie in Indien?«

»Nur eine. Ich bin wie Sie einzig und – einsam.«

Ihr Kinn neigte sich gegen seine Schulter und die dunkeln Augen blickten von unten zu ihm auf, geheimnisvoll wie die Wasserfläche, an deren Rand sie saßen. Die brennenden Lippen und die beweglichen, zuckenden Nüstern waren so dicht in seiner Nähe, daß ihr duftender Atem seine Wangen streifte.

»Wollen Sie auch Staaten beherrschen wie ich, Tarvin Sahib? Nein, Ihr Dichten und Trachten gilt einem Weib. Ihre Regierung denkt für Sie, und Sie thun, was Ihnen befohlen wird. Ich habe den Kanal, den die Regierung durch meinen Orangengarten führen wollte, einen andern Weg gehen heißen, wie ich den König meinen Willen beugen und den Knaben töten und Gokral Sitarun beherrschen werde durch meinen Sohn! Aber Sie, Tarvin Sahib, Sie begehren nichts als ein Weib! Ist es nicht so? Ach, und sie ist zu klein und zu schmächtig, um die Last des Staatsglücks zu tragen. Sie wird ja bleicher und bleicher von Tag zu Tag.«

Sie fühlte, wie Tarvin zusammenzuckte, aber er sagte nichts. Aus dem Dickicht von Schilf und Buschwerk, das am jenseitigen Ufer des Teiches stand, ertönte ein heiseres, bellendes Husten, das von den Höhen widerhallte und den ganzen Umkreis mit Schrecken erfüllte, wie Wasser eine Schale füllt. Tarvin sprang auf: er hörte ihn zum erstenmal, den zornigen Klagelaut des Tigers, der ums Morgengrauen nach fruchtloser nächtlicher Jagd sein Lager aufsucht. »Das hat nichts zu bedeuten,« sagte die Königin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Es ist nur der Tiger, der beim Dungar Talao haust. Ich habe ihrer viele heulen hören, als ich noch eine Zigeunerin war, und wenn er auch hierher käme – Sie würden ihn niederschießen wie meinen Affen, nicht wahr?«

Sie drängte sich an ihn und zog ihn zu sich hernieder; unwillkürlich legte er den Arm um ihre Gestalt.

Der Schatten des Tieres glitt über eine offene Stelle im Röhricht, lautlos wie Distelwolle durch die Sommerluft gleitet, und Tarvins Hand schloß sich enger um den blühenden Leib – seine Hand ruhte plötzlich auf einem gebuckelten Gürtel, der sich durch all die Hüllen von Seidengaze kalt anfühlte.

»So klein und so schmächtig – wie sollte sie es tragen?« fuhr die Königin leise fort.

Sie machte eine leise Wendung in seinem Arm, und Tarvins Hand faßte ein zweites, ein drittes Glied der breiten Kette, alle wie das erste mit hohen Buckeln, und nun drückte sich sein Ellbogen gegen eine große viereckige Schnalle. Mit entfärbten Lippen, aber seine Bewegung meisternd, zog er Sitabhai noch näher an sich.

»Aber wir beide,« fuhr sie ganz leise fort, traumverloren zu ihm aufblickend, »wir könnten dieses Königreich zum Kampf aufhetzen wie die Wasserbüffel im Frühling. Möchten Sie mein Minister sein, Tarvin Sahib, und Staatsgeschäfte mit mir beraten durch den Vorhang?«

»Ich zweifle, ob ich Ihnen vertrauen könnte,« sagte Tarvin schroff.

»Und ich zweifle, ob ich mir trauen könnte,« versetzte die Königin. »Es könnte sein, daß ich zur Dienerin würde, ich, die ich allezeit Herrscherin war! Ich war nahe daran, mein Herz unter die Hufe Ihres Rosses zu werfen, nicht einmal, sondern oft …«

Sie schlang Ihre Arme um seinen Hals und verschränkte die Hände in seinem Nacken; sein Gesicht zu sich herunterziehend, blickte sie ihm tief in die Augen.

»Ist es so wenig,« girrte sie, »wenn ich Sie zu meinem König mache? In den alten Zeiten, ehe wir das indische Kaiserreich hatten, kamen Engländer herüber, Männer ohne Rang und Titel, sie wußten sich ins Herz einer Begum zu stehlen und führten ihre Soldaten ins Feld … sie waren Könige, nur nicht dem Namen nach. Wer weiß, ob die alten Zeiten nicht wiederkehren … dann könnten wir miteinander unsre Heere führen.«

»Das läßt sich hören! Halten Sie mir jedenfalls den Posten offen, vielleicht bewerbe ich mich darum, wenn ich daheim etliches erledigt habe.«

»Sie wollen fort? Sie wollen uns bald verlassen?«

»Sobald ich in Händen habe, was ich haben will, meine Liebe,« erwiderte er, sie fester an sich drückend.

Sie biß sich auf die Lippen, sagte aber sanft: »Ich hätte mir’s denken können! Auch ich gebe nie auf, wonach mich einmal verlangt hat. Nun, was ist es denn?«

Ihr Kopf sank vollends auf seine Schulter, um die Mundwinkel zuckte es schmerzlich. Herunter blickend, entdeckte er den rubinenen Griff eines Dolchs zwischen den Falten des hängenden Gewandes.

Mit einer raschen Bewegung löste er sich aus den umschlingenden Armen und sprang auf. Sie sah hinreißend aus, wie sie in dem dämmernden Licht die Arme stehend nach ihm ausstreckte, aber Tarvin hatte jetzt andre Dinge zu bedenken. Wie er sie jetzt ansah, mußte sie die Blicke senken.

»Ich will, was Sie um den Leib tragen – darum bitte ich.«

»Der weiße Mann denkt nur an Geldeswert, das hätte ich wissen können,« rief sie verächtlich, löste eine silberne Kette von ihrem Gewand und warf sie ihm hin, daß sie klirrend auf die Marmorplatte schlug. Tarvin würdigte das Ding keines Blicks.

»Sie kennen mich besser,« sagte er ruhig. »Kommen Sie, halten Sie die Hände auf – die Komödie ist zu Ende.«

»Ich verstehe nicht … soll ich Ihnen etwa ein paar Rupien geben?« höhnte sie. »Sputen Sie sich mit Ihren Wünschen, Juggut Singh bringt die Pferde.«

»Das soll schnell geschehen sein. Ich will das Naulahka haben.«

»Das Naulahka?«

»Jawohl. Ich habe wackelige Brücken und ungegürtete Pferde und schlecht gebaute Gerüste und trügerischen Flugsand satt. Ich will das Halsband haben.«

»Und Sie überlassen mir den Prinzen?«

»Nein, weder den Prinzen, noch das Halsband.«

»Und werden Sie morgen früh zum Oberst gehen?«

»Der Morgen ist schon da. Entscheiden Sie sich rasch.«

»Werden Sie zum Oberst gehen?« wiederholte sie, dicht vor ihn hintretend. »Gewiß, falls Sie mir das Halsband nicht geben.«

»Und wenn ich’s Ihnen gebe?«

»So gehe ich nicht hin. Soll der Handel gelten?«

Genau dasselbe hatte Tarvin zu Frau Mutrie gesagt.

Die Königin sah verzweifelt zu dem Morgenstern empor, der am östlichen Himmel zu verblassen begann. Wenn der Tag sie außerhalb des Palastes fand, konnte selbst des Königs Wille sie nicht vor dem Tod bewahren.

Und dieser Mann sprach, als ob er ihr Leben in Händen hielte, und dem war auch so, sie wußte es wohl. Wenn er Beweise hatte, würde er sie ohne Bedenken dem Maharadscha vorlegen, und wenn der Maharadscha zu begreifen, zu zweifeln anfing – Sitabhai war’s, als ob sie den kalten Stahl schon an ihrem schlanken Hals fühle. Dann würde sie sicher nicht als Begründerin einer Dynastie gefeiert werden, eine Namenlose mehr, die im Palast verschwand, das war ihr Schicksal. Des Königs Begriffsvermögen war ja barmherzigerweise zu umnebelt gewesen, um Tarvins Verdächtigungen in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, aber jetzt war sie wehrlos allem preisgegeben, was dieser rücksichtslos entschlossene Fremde gegen sie unternehmen wollte. Mindestens konnte er den ungreifbaren Argwohn eines indischen Hofstaates gegen sie entfesseln, konnte durch Oberst Nolans Vermittlung den Maharadscha Kunwar vollständig ihrer Macht entziehen, und schlimmstenfalls – sie mochte den Gedanken nicht weiter verfolgen.

In ihrem innersten Herzen fluchte sie der erbärmlichen Neigung, die sie für den Mann empfand und die sie gehindert hatte, ihn zu töten vorhin, als ihre Arme ihn umfangen hielten. Ihn zu töten, war ihr fester Entschluß gewesen, als sie herkam, dann hatte es sie gereizt sich mit ihm zu messen, und schließlich hatte sie mit dem berückenden Gefühl, sich von einem stärkeren Willen beherrscht zu fühlen, zu lange ihr Spiel getrieben. Aber noch war es ja Zeit …

»Und wenn ich Ihnen das Naulahka nicht gebe?«

»So wissen Sie wohl am besten, was die Folge sein wird.«

Ihr Blick schweifte über die weite Ebene und sie merkte, daß die Sterne nur noch schwache Leuchtkraft hatten. Die tiefschwarze Wasserfläche wurde heller, sie schimmerte jetzt grau und im Röhricht erwachten die wilden Vögel. Die Morgendämmerung war ihr auf den Fersen, erbarmungslos gleich diesem Mann. Juggut Singh führte die Pferde vor; mit verzweifelten Gebärden drängte er zum Aufbruch. Der Himmel war gegen sie und auf Erden keine Hilfe.

Sie legte die Hände auf den Rücken. Tarvin hörte ein scharfes Knacken, und wie eine Feuerschlange lag das Halsband zu ihren Füßen.

Ohne ihm oder dem Schmuck den Blick zuzukehren, schritt sie auf die Pferde zu. Tarvin bückte sich rasch und riß den Schatz an sich. Während er das Halsband in seine Brusttasche zwängte, faßte er mit der andern Hand nach dem Zügel des Pferdes, das Juggut Singh losgelassen hatte.

Wieder überzeugte er sich, ob der Sattelgurt in Ordnung sei. Sitabhai, die hinter ihr Pferd getreten war, zögerte aufzusteigen.

»Leben Sie wohl, Tarvin Sahib! Vergessen Sie die Zigeunerin nicht,« sagte sie, den einen Arm über den Hals des Pferdes ausstreckend. »Hehi!«

Tarvin sah einen Lichtblitz aufzucken und im nächsten Augenblick den rubinfunkelnden Dolchgriff in die Satteldecke fahren, nur einen Zoll über seiner rechten Schulter. Mit einem Schmerzenslaut rannte sein Pferd auf den Hengst der Königin zu.

»Töte ihn, Juggut Singh!« rief sie, auf Tarvin deutend, dem feisten Eunuchen zu, der sich eben schwerfällig in den Sattel hob. »Töte ihn!«

Tarvins Hand umfaßte ihr zartes Handgelenk wie eine eiserne Klammer.

»Nur sachte, Teuerste! Sachte!«

Sie sah ihn betroffen an.

»Ich will Sie aufs Pferd heben,« sagte Tarvin.

Er umschlang sie mit beiden Armen und schwang sie in den Sattel.

»Jetzt noch einen Kuß,« sagte er, zu ihr aufblickend.

Sie beugte sich herunter.

»Nein, nicht Sie,« sagte er, ihre beiden Hände gefangen nehmend und sie herzhaft auf den Mund küssend.

Dann versetzte er dem Pferde einen schallenden Schlag auf die Flanken, daß das Tier den Abhang hinunterstolperte und über die Ebene jagte.

Nachdem Tarvin der Wolke von Staub und fliegenden Steinen, worin Sitabhai und ihr Begleiter verschwanden, eine Weile nachgesehen hatte, that er einen tiefen Atemzug der Erleichterung und wandte sich dem Teich zu. Auf der Steinplatte des Grabmals zog er das Naulahka hervor, breitete es zärtlich auf seinen Händen aus und weidete seine Augen daran.

Die Steine funkelten im Morgenrot und machten die wechselnden Farben der Hügel zu schanden. Wie sie am Hals des kleinen Prinzen den Fackelschein überstrahlt hatten, so nahmen sie jetzt den Wettkampf auf mit der roten Glut, die plötzlich hinter dem Röhricht aufschoß, und bezwangen auch diese. Das zarte, frische Grün der Binsen, das tiefe starke Blau des ruhenden Wassers, den Perlmutterschimmer der blitzschnell dahinschießenden Fische und auch die ersten blendenden Sonnenstrahlen, die über den Spiegel des Wassers hinschossen und leise Kreise zogen, als ob ein Flug Rebhühner ihn mit den Flügeln gestreift hätte – das Halsband überstrahlte alles. Nur der schwarze Diamant fühlte sie nicht mit, die Freudigkeit des werdenden Tages, er ruhte unter den funkensprühenden Genossen finster und rotherzig wie die bange Nacht, der Tarvin ihn entrissen hatte.

Tarvin ließ die Steine einen nach dem andern durch die Hand gleiten. Es waren ihrer fünfundvierzig, einer wie der andre tadellos, von reinstem Wasser. Damit von ihrer Schönheit nichts verloren gehe, waren sie nur in fadendünne Goldreifchen gefaßt und bewegten sich frei auf dem mattgoldenen Band, das sie aneinander reihte. Jeder einzelne davon hätte eines Königs Lösegeld bilden können, wog den guten Namen einer Königin auf.

Das war eine gute Viertelstunde für Tarvin, der Brennpunkt seines Lebens. Die Zukunft von Topaz war gesichert.

Die Wildenten strichen hin und her auf dem Teich, die Kraniche riefen einander zu und stolzierten durch das Röhricht, das über ihren scharlachroten Köpfen zusammenschlug. Aus irgend einem Tempel, der in einer Ritze des zerklüfteten Hügellandes stecken mochte, erklang das Morgenlied, das der Priester bei seinem Frühopfer anstimmt, und von der Stadt trug ein leichter Wind die Klänge des Trommelwirbels herüber, womit den Bewohnern angezeigt wurde, daß die Thore offen stehen und der Tag erschienen ist.

Tarvin blickte auf von seinem Schatz. Vor seinen Füßen lag Sitabhais funkelnder Dolch; er griff nach der zierlichen Waffe und warf sie in den Teich.

»Und nun geht’s an Käte,« sagte er sich.

Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Der Palast schien noch friedlich zu schlummern auf seinem roten Felsenthron, als Tarvin jetzt zur Stadt zurückritt. Aus einem der Stadtthore, die rechtwinkelig zu seinem Pfad lagen, kam ein Kamelreiter heraus, und Tarvin betrachtete mit Interesse, wie rasch die langen Beine dieses Tieres ausgreifen können. So vertraut ihm auch der Anblick der straußhalsigen Lasttiere allmählich geworden war, einigermaßen riefen sie ihm immer noch die Erinnerung an seine Knabenzeit und den Zirkus wach. Der Reiter kam näher und kreuzte vor ihm die Straße. Dann hörte Tarvin in der Stille des Morgens einen ihm wohlbekannten Laut, das Knacken eines Flintenschusses, und zwar, wie er deutlich erkannte, das eines Repetiergewehrs. Instinktiv glitt er aus dem Sattel und stand schon jenseits seines Pferdes, als ein Schuß fiel und ein Wölkchen blauen Rauches über dem Kamel aufstieg und unbeweglich in der Luft hängen blieb.

»Hätte mir’s denken können, daß Sitabhai früh an die Arbeit geht,« brummte er über den Widerrist des Pferdes, wegspähend. »Für meinen Revolver ist die Entfernung leider zu groß … ja, worauf wartet denn der Narr?«

Jetzt ward ihm klar, daß der Mann mit echt indischer Ungeschicklichkeit den Knopf festgeklemmt haben mußte, denn er schlug die Flinte wütend vor sich auf den Sattel. Hastig schwang sich Tarvin wieder aufs Pferd und sprengte hinzu, den Revolver in der Faust, um auf das bleiche Gesicht Juggut Singhs anzulegen.

»Sie sind’s? Aber, Juggut Singh, hübsch ist das gerade nicht von Ihnen!«

»Es wurde mir befohlen,« versetzte der vor Angst schlotternde Mörder. »Ich bin wirklich ganz unschuldig und ich … ich verstehe mich gar nicht auf solche Dinge.«

»Das ist zum Lachen – ich will’s Ihnen zeigen!«

Und Tarvin nahm ihm die Flinte aus den zitternden Händen.

»Die Patronenhülse ist verbogen, so kann man nicht gut schießen, man braucht sie aber nur ein wenig auszuklopfen – sehen Sie – so! Das sollten Sie wirklich lernen, Juggut.«

Damit warf er die leere Hülse über seine Schulter.

»Und was werden Sie nun mit mir machen, Sahib?« rief der Eunuche kläglich. »Sie würde mich umgebracht haben, wenn ich nicht gegangen wäre!«

»Glauben Sie nur das nicht, Juggut! Sie ist eine Teufelin in der Theorie, aber in der Praxis hält die Kraft nicht vor. So, jetzt reiten Sie gefälligst voran.«

So setzten sich denn beide in der Richtung nach der Stadt in Bewegung, Juggut Singh aber drehte sich häufig im Sattel, um furchtsame Blicke nach rückwärts zu werfen. Tarvin nickte ihm, die erbeutete Flinte auf seiner Hüfte wiegend, beruhigend zu. Richtig gebraucht, war es übrigens eine vortreffliche Flinte, hatte Tarvin gefunden.

Am Eingang von Sitabhais Palastflügel stieg der Eunuche ab und schlurkte, ein wahres Bild der Angst und Beschämung, über den Hof. Tarvin ritt ihm klappernd nach, und als er eben durch eine von den Thüren verschwinden wollte, rief er ihn zurück.

»Sie haben ja Ihr Gewehr vergessen, Juggut; zu fürchten, brauchen Sie sich nicht davor.«

Trotzdem streckte Juggut nur zögernd die Hand danach aus.

»Geschadet hat ja der kleine Scherz niemand. Melden Sie sich bei der Dame als glücklich zurückgekehrt und bestellen Sie ihr meinen Dank für die Aufmerksamkeit!«

Nicht der leiseste Ton drang zwischen den grünen Gitterstäben hervor, als Tarvin aus dem Hof ritt. Der Thorbogen spie weder Balken noch Steine aus und die Affen lagen ruhig an der Kette. Auf ihren nächsten Schachzug mußte sich Sitabhai offenbar erst besinnen.

Tarvin war sich vollständig im klaren, was er zunächst zu thun hatte – wenn je, so war jetzt eine Fanfare angezeigt.

So ritt er denn spornstreichs zur Moschee hinaus, riß seinen taubengrauen Freund aus süßem Schlummer und übergab ihm folgende Botschaft zur Beförderung:

»Frau Mutrie, Denver.
»Halsband Ihr Eigentum. Hals bereit halten. Schienen legen nach Topaz.

Tarvin.«

Im Rasthaus wechselte er nur sein Pferd und dann ging’s zu Käte. Er knöpfte seinen Rock fest zu, betastete von Zeit zu Zeit zärtlich die Tasche, die das Naulahka barg, und stieg, nachdem er Fibby im Hof angebunden hatte, die Stufen zur Veranda hinauf. Frau Estes war die erste, die ihm entgegentrat und ihm die gehobene Stimmung, seine Zufriedenheit mit sich und der Welt, von den Augen ablas.

»Sie haben Angenehmes erlebt oder gehört,« rief sie. »Bitte, kommen Sie herein!«

»Das Angenehmste oder Zweitangenehmste, was zu erleben war,« versetzte er lächelnd, indem er ihr ins Familienzimmer folgte. »Ich würde es Ihnen für mein Leben gern erzählen, Frau Estes, ich ersticke fast daran, wenn ich’s niemand erzähle, aber für Leute, die in der Gegend wohnen, ist die Geschichte nicht zuträglich. Meinem Geschmack nach würde ich am liebsten den Ausrufer dingen und ein paar Musikanten dazu, um das Ereignis bekannt zu machen, und wir würden ein Freudenfeuer anzünden und so eine Art 4. Juli feiern, wobei ich die Unabhängigkeit von den Eingeborenen mit Begeisterung erklären wollte, aber es geht leider Gottes nicht. Etwas andres aber kann ich Ihnen sagen. Sie vermuten wohl, weshalb ich so oft hier bin, Frau Estes, das heißt abgesehen davon, daß Sie so gütig gegen mich sind, daß ich Sie und Ihren Mann sehr gern habe und mich riesig freue, mit Ihnen plaudern zu können? Aber den andern Grund, den haben Sie wohl erraten?«

»Ich glaube fast,« erwiderte Frau Estes lächelnd.

»Nun, das freut mich! Freut mich rechtschaffen, muß ich sagen! Dann darf ich wohl auch hoffen, daß Sie auf meiner Seite sind.«

»Wenn Sie meinen, daß ich Ihnen alles Glück wünsche, gewiß! Aber Sie werden begreifen, daß ich für Fräulein Sheriff eine gewisse Verantwortlichkeit fühle … ich bin manchmal mit mir zu Rat gegangen, ob ich nicht an ihre Mutter schreiben soll und ihr mitteilen …«

»Ach! Ihre Mutter weiß alles, die ist voll davon, und ich darf wohl sagen, es wäre ihr höchster Wunsch. Dort liegt die Schwierigkeit nicht, aber anderswo, Frau Estes!«

»Ja, ja, ich verstehe Sie. Ein eigentümliches Mädchen, ebenso stark als weich. Ich habe sie fest ins Herz geschlossen und bewundre ihren hohen Mut, und doch war‘ mir’s lieber, sie hätte ihn nicht und würde aufgeben, was sie damit erkämpft. Als Frau wäre sie ganz gewiß besser an ihrem Platz,« setzte die Missionarin überlegend hinzu.

»Wie verständig Sie sind!« sagte Tarvin mit einem bewundernden Blick. »Wie verständnisvoll! Ganz dasselbe habe ich ihr wohl hundertmal gesagt! Und sind Sie ferner nicht auch der Ansicht, Frau Estes, es wäre am besten, sie würde vom Fleck weg heiraten, ohne allen Zeitverlust?«

Frau Estes sah ihn forschend an; dieser Tarvin war ihr manchmal etwas unverständlich und verblüffend.

»Ich meine, wenn Sie klug sind , so stellen Sie den Zeitpunkt dem Lauf der Ereignisse anheim,« entgegnete sie nach einer Weile. »Wir haben ihr Werk hier beobachtet mit der sehnlichen Hoffnung, daß ihr gelingen möchte, was noch keinem gelungen ist, aber mein innerstes Gefühl sagt mir, daß es nicht der Fall sein wird. Sie hat zu viel gegen sich. Tausendjährige Ueberlieferung, Lebensgewohnheiten, Erziehung, alles steht ihr entgegen, und früher oder später wird die Niederlage kommen. Darein muß sie sich ergeben, trotz ihrer Entschlossenheit und Tapferkeit. In der letzten Zeit habe ich manchmal denken müssen, der Kampf könnte ihr nahe bevorstehen; im Spital herrscht große Unzufriedenheit, Mein Mann hat manches gehört, was uns sehr beunruhigt.«

»Beunruhigt! Das will ich meinen! Das ist ja gerade das Schlimme an der Geschichte … nicht nur, daß sie mich warten und mitunter verzweifeln läßt, Frau Estes, sondern daß sie mittlerweile in die unerdenklichsten Gefahren rennt! Aber jetzt habe ich keine Zeit mehr abzuwarten, daß sie das einsieht, ich muß ihr beibringen, daß es jetzt die allein richtige Zeit wäre, Nikolas Tarvins Frau zu werden. Ich muß fort von Rathore, das ist der langen Rede kurzer Sinn, Frau Estes! Fragen Sie nicht warum, es muß sein. Und ich muß Käte unbedingt mitnehmen – wenn sie Ihnen lieb ist, so helfen Sie mir!«

Frau Estes gab die beste Antwort, die sie geben konnte, sie sagte, sie wolle hinaufgehen und Käte seinen Besuch melden. Diese Meldung schien viel Zeit zu kosten, aber Tarvin wartete nicht nur geduldig, sondern mit zuversichtlichem Lächeln. Er zweifelte jetzt gar nicht mehr, daß Käte sich herumbringen lassen werde; in der Trunkenheit des einen Erfolgs wäre es ihm unmöglich gewesen, am andern zu zweifeln. Trug er nicht das Naulahka in der Brusttasche? Käte gehörte dazu, sie war unlöslich damit verknüpft. Immerhin war er ganz gewillt, die Hilfe, die sich ihm bot, anzunehmen, und er dachte mit Vergnügen, daß Frau Estes dabei sei, ihr kräftig und lang zuzureden.

Plötzlich entdeckte er auf einem Tischchen eine neue Nummer des Topazer Tageblatts, und als er sie durchlas, stieß er abermals auf ein gutes Omen! Er hatte sich nicht getauscht in seinem Vertrauen auf die »Zögernde Ader,« die Leute, die in seinem Auftrag die Mine bearbeiteten, hatten jetzt wirklich eine ergiebige Ader gefunden und man förderte in der Woche für fünfhundert Dollar Erz zu Tage! Er steckte das Blatt in die Tasche und überwand mannhaft die Lust, Freudensprünge zu machen – vielleicht war es doch ratsam, mit dieser Leibesübung zu warten, bis er Käte gesprochen hatte! Den kleinen Freudenpfiff, den er sich zum Trost gestatten wollte, mußte er auch unterlassen, denn jetzt kam diese Käte zur Thür herein, und die mußte er doch mit einem Lächeln begrüßen. Sie hatte ja jetzt überhaupt keine Wahl mehr, und sein Lächeln war allerdings geeignet, ihr das klar zu machen.

Der erste Blick in ihr Gesicht belehrte ihn jedoch, daß ihr die Sache noch lange nicht so fadengerade vorkam. Das konnte er damit entschuldigen, daß sie ja den Ursprung seiner inneren Gewißheit noch gar nicht kannte. Er hielt sich sogar damit auf, das graue mit schwarzem Samt besetzte Hauskleid zu beachten, das sie heute trug, nachdem er sie all die Zeit her nur in Weiß gesehen hatte.

»Freut mich, daß du für eine Weile das Weiß aufgegeben hast,« bemerkte er, ihr die Hand schüttelnd. »Ich nehm’s für ein Zeichen, daß du in den gemütlichen Zuständen dieses gesegneten Lands überhaupt ein Haar gefunden hast, und in der Stimmung wünsche ich dich zu finden. Ich möchte, daß du die Geschichte aufgäbest.«

Er hielt dabei ihre schmale, abgearbeitete Hand in der braunen Tatze fest, die aus seinem weißen Aermel hervorkam, und sah ihr gespannt in die Augen.

»Was für eine Geschichte?«

»Indien – die ganze Geschichte. Ich möchte, daß du mit mir heimkämst,« sagte er sanft.

Jetzt blickte sie zu ihm auf, und er sah um ihre Mundwinkel Spuren des Kampfes, den sie mit Frau Estes ausgefochten haben mochte.

»Du willst abreisen? Ich bin sehr froh darüber … du verstehst doch warum?«

Die letzten Worte hatte sie mit der deutlichen Absicht einer Freundlichkeit hinzugesetzt.

Tarvin nahm lachend Platz.

»Ja, ich kenne dich: Abreisen werde ich allerdings, aber nicht allein, du gehörst auch dazu,« versicherte er, ihr zulächelnd.

Sie schüttelte schweigend den Kopf.

»Nein, Käte, sag‘ das nicht! Du darfst es nicht sagen … Dieses Mal wird es Ernst.«

»War es das nicht immer?« fragte sie, sich ebenfalls setzend. »Für mich war es immer bitterer Ernst, nicht thun zu können, was du von mir haben willst, meine ich. Es nicht zu thun, das heißt etwas andres thun zu müssen, was für mich die ernsthafteste Sache von der Welt. Seither hat sich nichts verändert, Nick, weder um mich noch in mir. Wenn das geschehen wäre, hätt‘ ich dir’s gleich gesagt. Was soll denn jetzt anders geworden sein für uns beide?«

»Mancherlei. Zum Beispiel, daß ich Rhatore notwendig verlassen muß, und daß ich dich zurücklasse, wirst du mir hoffentlich nicht zutrauen.«

Käte hatte viel zu sehen an ihren eigenen Händen, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Erst nach einer Weile blickte sie auf und sah ihm fest in die Augen.

»Nick,« begann sie, »ich möchte dir gern erklären, wie ich die ganze Frage ansehe, was ich darüber denke. Findest du meine Anschauungen unrichtig, so kannst du mir’s ja sagen.«

»Selbstverständlich sind sie durch und durch verkehrt!« rief er, sich nichtsdestoweniger gespannt vorbeugend.

»Nun, laß mich’s doch versuchen! – Du willst mich zur Frau haben?«

»Ja, das will ich,« versetzte Tarvin feierlich. »Gib mir Gelegenheit, das vor einem Pfarrer zu wiederholen!«

»Ich bin dir dankbar dafür, Nick. Es ist ein Geschenk, das größte und höchste, das ein Mann geben kann, und ich danke es dir. Aber was verstehst du eigentlich unter Heiraten – darf ich dich das fragen, Nick? Du möchtest, daß ich dein Leben abrunde, daß du mich neben andern Dingen, wonach du trachtest, auch hättest. Ist dem nicht so? Sag‘ mir’s ehrlich, Nick, habe ich recht oder nicht?«

»Nein, du hast nicht recht!« brüllte Tarvin.

»Aber es ist so! Die Ehe ist immer so und von Rechts wegen. Heiraten heißt, in einem andern Menschen aufgehen, nicht mehr sein eigenes, sondern eines andern Leben leben. Das ist gut, das ist das richtige Frauenleben. Ich habe gar nichts dagegen, es stößt mich nicht ab, ich glaube, daß andre ihr Glück darin finden, nur mich kann ich nicht hineindenken. Eine Frau, die heiratet, gibt ihr Selbst auf, schenkt sich her in jeder glücklichen Ehe. Ich kann aber mein ganzes Selbst gar nicht hergeben, denn ich hab’s nicht mehr, es gehört etwas anderm. Und einen Teil von mir kann ich dir nicht anbieten; wohl wäre er so groß, wie der Teil, den der Mann der Frau von sich gibt, aber der Mann kann sich damit nicht begnügen, er muß alles fordern.«

»Das heißt also, du müssest deine Arbeit aufgeben oder mich, und letzteres wird dir leichter?« »Das habe ich nicht gesagt, Nick, aber war’s denn so unbegreiflich, wenn ich’s sagte? Sei doch ehrlich Nick! Stell dir doch vor, daß ich von dir verlangte, du solltest alles aufgeben, was deines Lebens Zweck und Inhalt ist. Wenn ich fordern wollte, daß du deine Arbeit aufgibst? Und was würde ich dir dagegen bieten? Die Ehe! Nein, nein! Die Ehe ist etwas sehr Schönes, aber welcher Mann würde diesen Preis dafür bezahlen?«

»Ja, mein liebes Kind, aber die Frau? Die bezahlt diesen Preis doch gern!«

»Die glückliche, die zum Glück geborene Frau, ja, aber nicht jeder ist es gegeben, in der Ehe das Einzige zu sehen. Sogar für Frauen gibt es mehr als einen Lebenszweck.«

»Nun höre aber einmal, Käte, ein Mann ist doch kein Waisenhaus und kein Heim für Obdachlose! Du nimmst den Mann wirklich gar zu ernsthaft. Du stellst dir die Ehe offenbar vor wie eine Wohlthätigkeitsanstalt, der man seine ganze Zeit und Kraft widmen muß. Im Anfang allerdings sieht es ungefähr so aus und man stellt sich so an, als ob man nichts mehr daneben treiben könnte, in der Praxis aber braucht man nur ein paar Gesellschaften mitzumachen, einer halbjährlichen Generalversammlung beizuwohnen, ein oder zwei Gartenfeste anzuordnen, um die Geschichte im Gang zu erhalten. Wenn du heiratest, verpflichtest du dich zu nicht viel weiter, als mit einem Mann zu frühstücken und des Abends, wenn er heimkommt, in keinem allzu häßlichen Kleid am Kamin zu sitzen oder doch nicht zu weit davon. Das ist doch keine so fürchterliche Zumutung, oder doch, Käte? Versuch’s einmal mit mir und du wirst sehen, wie leicht ich dir die Sache mache! Von der andern Hingebung weiß ich ja auch, und ich begreife vollkommen, daß dir das Leben unerträglich wäre, wenn du außer deinem Mann nicht noch eine Menge Leute glücklich machen könntest. Ich anerkenne diese Thatsache, ich lege sie unserm Vertrag zu Grund, ja ich sage, gerade so will ich’s haben. Du hast nun einmal das Talent, die Menschheit zu beglücken, und ich verlange nur, daß du bei mir anfängst. Ist das geschehen – und du sollst sehen, wie leicht es bei mir geht – so freue ich mich nur, wenn du das Geschäft draußen fortsetzen und die ganze Welt in einen Blumengarten verwandeln wirst. Und das wirst du thun, oder besser noch, Käte, wir wollen’s zusammen fertig bringen. Man hat noch gar keine Idee davon, wie gut zwei Leute sein können, wenn sie ein Kompaniegeschäft in Wohlthätigkeit betreiben. Das ist nur noch nicht probiert worden – versuch‘ du’s mit mir. O Käte, ich liebe dich, ich brauche dich, und wenn du mich nur gewähren lassen willst, so schaffe ich dir ein Leben, wie du es brauchst!«

»Ich weiß es wohl, Nick, du würdest sehr gut gegen mich sein, du würdest alles für mich thun, was ein Mann thun kann. Aber nicht der Mann macht die Ehe glücklich oder auch nur möglich, das thut die Frau und muß es thun. Entweder würde ich daheim meine Pflicht erfüllen und die andre vernachlässigen, dann wäre ich todunglücklich, oder ich würde dich vernachlässigen und noch viel unglücklicher sein. Welchen Weg wir auch einschlagen, Glück wäre für mich auf keinem zu finden.«

Tarvins Hand griff nach dem Naulahla in seiner Tasche. Er mußte seinen Schatz befühlen –, es war, als ob Kraft davon ausströmte, die Kraft, ein rasches Wort zu unterdrücken, das vollends alles verdorben hatte.

»Käte, hör‘ mich an,« fuhr er mit großer Ruhe fort. »Wir haben keine Zeit mehr, uns künftige Gefahren und Möglichkeiten auszumalen, denn wir müssen einer thatsächlichen Gefahr ins Auge sehen. Du bist hier nicht sicher. Ich kann dich hier nicht allein lassen, und ich muß fort. Darum bitte ich dich, sofort meine Frau zu werden.«

»Aber ich fürchte mich gar nicht. Wer sollte mir etwas anhaben?«

»Sitabhai,« versetzte er ingrimmig. »Uebrigens brauchst du das gar nicht zu wissen; wenn ich dir sage, daß du nicht sicher bist, muß es dir genügen. Mein Wort darauf, daß ich’s weiß.«

»Und du?«

»Ach, ich! Darauf kommt’s ja nicht an!«

»Die Wahrheit, Nick! Ich fordre sie.«

»Nun, ich Hab‘ dir ja immer gesagt, daß mir kein Klima paßt, wie das von Topaz.«

»Das heißt also, du bist in Gefahr, in Lebensgefahr vielleicht?«

»Nun, mir das Leben zu retten, strengt Sitabhai ihren klugen Kopf sicherlich nicht an,« sagte er lächelnd.

»Dann mußt du auf der Stelle fort von hier, nicht eine Stunde darfst du säumen. O Nick, du mußt fort!«

»Das sag‘ ich ja auch. Rhatore kann ich sehr leicht entbehren, aber dich nicht, du mußt also mitkommen.«

»Willst du damit sagen, daß du ohne mich nicht gehen, dich lieber der Gefahr aussetzen willst?« fragte sie angstvoll.

»Nein. Wenn ich das sagen wollte, wär’s eine Drohung. Ich sage nur, daß ich auf dich warte.«

Seine Augen lachten ihr zu.

»Nick, ist die Gefahr aus dem entstanden, was ich dich thun hieß?« fragte sie plötzlich.

»Das brauchst du nicht zu wissen…«

»Dann ist es so und auf mich fällt die Schuld.«

»Was für eine Schuld? Daß ich mit dem König gesprochen habe? Mein liebes Kind, das will nicht mehr bedeuten, als der Eröffnungsumzug bei diesem Zirkusspiel. Setz‘ dir nur nichts in den Kopf von Schuld und Verantwortlichkeit! Das Einzige, wofür du verantwortlich bist, ist, daß wir jetzt fortkommen, miteinander durchbrennen, ausreißen, verschwinden. Dein Leben ist hier keine Stunde mehr sicher, dessen bin ich gewiß – das meinige keine Minute.«

»Und in diese Lage bringst du mich,« sagte Käte vorwurfsvoll. »Ich bringe dich nicht in die Lage, aber ich zeige dir den einzigen Ausweg, der einfach genug ist!«

»Und der heißt Nikolas Tarvin!«

»Nun ja, ich sage ja, daß er einfach ist. Ich behaupte, ja gar nicht, er sei glänzend. Viele könnten dir mehr bieten, es gibt Tausende von Männern, die besser sind als ich, aber keinen, der dich mehr lieben könnte. O Käte, Käte!« rief er aufspringend. »Vertrau‘ dich meiner Liebe an, und ich trotze einer Welt, dich glücklich zu machen!«

»Nein, nein … du mußt gehen.«

Er schüttelte traurig den Kopf.

»Ich kann dich nicht verlassen! Das fordere du von einem andern! Meinst du, ein Mann, der dich liebt, könnte es über sich bringen, dich in dieser trostlosen Wildnis allen Gefahren preisgegeben zu wissen und zu gehen? Traust du das irgend einem zu? Käte, mein Lieb, komm mit mir! Du quälst mich, du treibst mich in den Tod, indem du mich zwingst, dich auch nur einen einzigen Augenblick ohne Aufsicht zu lassen – ich sage dir, du bist in äußerster Lebensgefahr. Nun du das weißt, wirst du doch wohl nicht bleiben wollen. Dein Leben diesen Geschöpfen zu opfern, hast du doch nicht im Sinn!«

»Und warum nicht?« rief Käte aufspringend, die alte Begeisterung im Blick. »Gewiß! War es recht, für sie zu leben, so ist es auch recht, für sie zu sterben. Ich glaube nicht, daß mein Tod ihnen not thut, aber wenn dem so ist, bin ich bereit.«

Tarvin starrte sie an. Er war bestürzt, ratlos, hilflos.

»Du kommst also nicht mit?«

»Ich kann nicht. Lebe wohl, Nick. Das ist das Ende …«

»Wenigstens für heute,« sagte er, ihr die Hand gebend. »Guten Nachmittag!«

Sie sah mit beklommenem Herzen zu, wie er den Hut aufstülpte und sich zum Gehen anschickte.

»Aber du gehst doch?« rief sie plötzlich erschrocken.

»Gehen? Nein! Nein! Ich bleibe und wenn ich mir eine Armee zusammentrommeln, mich zum König erklären und den Dâk Bungalow als Regierungssitz verteidigen müßte! Gehen!!«

Sie streckte flehend die Hand aus, um ihn festzuhalten, aber Tarvin war schon fort.

Käte ging zu ihrem Kranken. Der Maharadscha Kunwar wohnte noch im Missionshaus, hatte sich aber zur Erheiterung seiner Genesungszeit Spielzeug und Lieblingstiere vom Palast kommen lassen dürfen. Schweigend setzte sich Käte an sein Bett und weinte lange Zeit leise in sich hinein.

»Was hast du denn, Fräulein Käte?« fragte der Prinz, nachdem er ihr seltsames Gebaren eine Weile verwundert beobachtet hatte. »Mir geht’s ja jetzt ganz gut, da braucht niemand zu weinen! Wenn ich wieder im Palast bin, werde ich meinem Vater, dem Könige, sagen, was du für mich gethan hast, und dann wird er dir ein Dorf schenken. Wir Radschputen vergessen nie, was man uns Gutes thut.«

»O Lalji, ich weine nicht um dich,« sagte Käte, sich die Augen trocknend.

»Dann wird dir mein Vater zwei Dörfer geben. Wenn ich gesund werde, darf niemand weinen, denn ich bin ein Königssohn. Wo ist denn Moti? Er soll an meinem Bett sitzen.«

Käte stand gehorsam auf, um des Maharadscha Kunwar Liebling zu holen. Moti war ein kleiner grauer Affe, der ein goldenes Halsband trug, sich frei in Garten und Haus herumtrieb und des Abends alle erdenkliche List aufwendete, um sich eine Schlafstätte in des Prinzen Bett zu erobern. Er beantwortete Kätes Ruf von einem Baume aus, wo er sich mit den wilden Papageien geneckt hatte und folgte ihr, in der Affensprache murmelnd, ins Krankenzimmer.

»Da komm her, kleiner Hanuman,« sagte der Prinz, eine Hand aufhebend, und der Affe war mit einem Satz auf dem Bett.

»Ich habe von einem Könige gehört, Moti,« plauderte der Prinz, mit dem, goldenen Halsband des Tieres spielend, »der dreimalhunderttausend Rupien ausgab für eine Affenhochzeit. Möchtest du auch eine Frau haben, Moti? Ach nein, das goldene Halsband ist ganz genug für dich. Wir wollen unsre Rupien sparen, bis wir gesund sind, und dann wollen wir Fräulein Käte und Tarvin Sahib verheiraten und ihnen ein Fest geben, und du sollst auf ihrer Hochzeit tanzen.«

Der Knabe sprach in der Mundart, aber Käte verstand jetzt manches davon und die Verbindung ihres Namens mit dem Tarvins machten ihr den Sinn nur zu klar.

»Sprich nicht davon, Lalji, bitte, nicht!«

»Warum denn nicht, Käte? Sogar ich bin ja verheiratet.«

»Ja, das ist etwas andres. Käte mag einmal nichts davon hören, Lalji.«

»Wie du willst,« versetzte der Prinz, ein Pfännchen ziehend. »Jetzt bin ich ja nur ein kleines Kind, aber wenn ich gesund bin, will ich wieder ein König sein, und niemand kann meine Geschenke zurückweisen. Horch! Das sind meines Vaters Trompeten! Er kommt, er besucht mich!«

Man hörte aus ziemlicher Entfernung ein Hornsignal, dann Hufschlag, und bald darauf rasselte die Staatskarosse des Maharadscha samt einem Haufen Berittener in den Hof des Missionshauses. Käte sah ihren Pflegling aufmerksam an, besorgt, daß ihm die Unruhe schaden könnte, aber die Augen des kleinen Mannes leuchteten freudig, seine Nasenflügel bebten, und während die schmale Kinderhand sich fest um den Griff des unentbehrlichen Säbels schloß, flüsterte er glückselig: »Das ist schön! Mein Vater bringt alle seine Reiter mit!«

Eh‘ Käte aufstehen konnte, führte Herr Estes schon den Maharadscha ins Krankenzimmer, das vor dem Umfang und Glanz seiner Persönlichkeit ganz zusammenzuschrumpfen schien. Er hatte eine Parade über seine Truppen abgenommen und war daher in voller Uniform, als oberster Kriegsherr, was keine Kleinigkeit war. Die Augen des Maharadscha Kunwar ruhten mit wahrem Entzücken auf der erhabenen Gestalt des königlichen Vaters, die er von den glänzenden Reiterstiefeln mit den goldenen Sporen aufwärts zu den weißledernen Reithosen, dem goldstrotzenden Waffenrock mit den Diamanten des Steins von Indien bis zum safrangelben Turban mit der nickenden Smaragdagraffe andächtig studierte. Der König zog die Stulphandschuhe aus und schüttelte Kätes Hand herzhaft; nach einer richtigen Orgie pflegte Seine Hoheit immer bemerkenswert civilisiert zu sein.

»Und dem Kleinen geht’s gut?« fragte er heiter. »Ein kleiner Fieberanfall, wie ich höre – ich selbst hatte in letzter Zeit auch etwas Fieber.«

»Ich fürchte, daß die Krankheit des Prinzen etwas mehr zu bedeuten hatte, Maharadscha Sahib,« bemerkte Käte.

»Siehst du, mein Kleiner,« sagte der König auf hindostanisch, indem er sich zärtlich über ihn beugte, »das kommt davon, wenn man zu viel ißt!«

»Nein, Vater, zu viel gegessen habe ich nicht, ich bin aber jetzt ganz wohl.«

Käte stand am Kopfende des Bettes und strich mit leiser Hand über das Haar des Knaben.

»Wie viele Truppen nahmen an der Parade teil?«

»Beide Geschwader, mein General,« versetzte der Vater mit stolz leuchtendem Blick. »Du bist ein echter Radschpute, mein Sohn!«

»Und meine Leibwache – wo stand die?«

»Bei Pertab Singhs Corps. Sie führte den Angriff beim Schlußtableau.«

»Beim heiligen Roß,« rief der Maharadscha Kunwar, »sie soll ihn später im Ernst führen! Nicht wahr, Vater? Du auf dem rechten, ich auf dem linken Flügel!«

»Gewiß, mein Sohn, aber um ein Feldherr zu werden, muß ein Prinz viel lernen und darf nicht krank sein.«

»Ich weiß es wohl,« sagte der Knabe mit tiefem Ernst. »Mein Vater, ich habe in diesen Nächten viel darüber nachgedacht – bin ich immer noch ein kleines Kind?«

Er sah bittend zu Käte auf und flüsterte ihr zu: »Ich möchte mit meinem Vater sprechen. Niemand soll uns stören.«

Käte verließ, dem Knaben noch freundlich zunickend, das Zimmer, und der Maharadscha setzte sich an seines Sohnes Bett.

»Nein, ich bin kein Kind mehr,« begann der Prinz. »In fünf Jahren werde ich ein Mann sein und viele Männer werden mir gehorchen. Wie aber soll ich wissen was Recht oder Unrecht ist, daß ich’s ihnen befehle?«

»Darum muß ein Prinz eben viel lernen,« versetzte der Maharadscha so im allgemeinen.

»Ja, daran habe ich eben gedacht, als ich hier so im Dunkeln lag, Vater, und mir ist, als ob ich nicht all diese Dinge im Palast und nicht von Frauen lernen könnte. Vater, laß mich fortgehen, daß ich lerne, wie man ein Prinz ist!«

»Ja wohin wolltest du denn gehen? Mein Königreich ist doch deine Heimat, Söhnchen.«

»Ich weiß, ich weiß, und ich will auch wieder heimkommen, aber laß mich nicht zum Gespött der andern Prinzen werden. Bei meinem Hochzeitsfest hat mich der Ravut von Bunnaul ausgelacht, weil ich nicht so viele Schulbücher habe wie er, und er ist doch nur der Sohn eines in Adelstand erhobenen Herrn, hat keine Ahnen. Aber er ist in ganz Radschputana herumgekommen bis Delhi und Agra und, denke dir, sogar nach Abu, und er ist in der oberen Klasse der Prinzenschule in Adschmir. Vater, alle Königssöhne gehen in diese Schule, und dort spielen sie nicht mit den Frauen, sie reiten mit Männern! Und die Luft und das Wasser sind sehr gut in Adschmir. Ach, laß mich auch hin, Vater!«

Auf des Maharadscha Zügen zeigte sich ernste Bekümmernis, denn der Knabe war ihm sehr ans Herz gewachsen.

»Aber es könnte dir irgend etwas zustoßen, bedenke doch, Lalji.«

»Ich hab’s bedacht. Was sollte mir zustoßen dort, wo ich unter der Obhut der Engländer stehe? Der Ravut von Bunnaul hat mir gesagt, daß ich meine eigenen Zimmer haben würde, meine eigene Dienerschaft, meine eigenen Pferde, gerade wie die andern Prinzen, und daß ich dort sehr angesehen sein würde, hat er auch gesagt.«

»Gewiß, gewiß,« stimmte der Vater bei, um den Kleinen nicht aufzuregen. »Wir sind ja Kinder der Sonne, du und ich, mein Prinz.«

»Deshalb kommt es mir auch zu, so gelehrt, so stark und tapfer zu werden als die Besten meines Geschlechts. Vater, es ist mir entleidet, in den Frauengemächern zu spielen, die Geschichten meiner Mutter und die Lieder der Tänzerinnen anzuhören, und die wollen mich auch immerzu küssen! Laß mich nach Adschmir, laß mich in die Prinzenschule gehen. Und in einem Jahr, schon in einem Jahr, sagt der Ravut von Bunnaul, werde ich genug gelernt haben, um meine Leibwache zu führen, wie ein König sie führen soll! Versprichst du mir’s, Vater?«

»Wenn du wieder ganz gesund bist, wollen wir weiter darüber reden,« sagte der König, »Ich will es mit dir besprechen nicht wie ein Vater mit dem Kind, sondern wie ein Mann mit dem andern.«

Des Prinzen Augen strahlten vor Vergnügen.

»Das ist gut! Wie ein Mann mit dem andern. …«

Der Maharadscha nahm ihn liebkosend in die Arme und erzählte ihm kleine Neuigkeiten aus dem Palast, was eben einen Jungen interessieren konnte.

»Gibst du mir jetzt Urlaub zu gehen, mein General?« fragte er dann lachend.

»O mein Vater!«

Der Prinz vergrub sein Köpfchen in dem mächtigen Bart des Vaters und schlang die Arme um seinen Hals. Sachte und freundlich machte sich der Maharadscha los und ebenso sachte ging er auf die Veranda hinaus, und noch ehe Käte zurückgekommen war, verschwand der Wagen mitsamt den Reitern unter Trompetengeschmetter in einer Wolke von Staub. Eben waren sie außer Sicht gekommen, als ein Bote erschien, der ein aus Gras geflochtenes Körbchen mit Apfelsinen, Bananen und Granatäpfeln, smaragdgrün, gold und kupferfarbig, mit den Worten: »Ein Geschenk der Königin«, vor Käte niedersetzte.

Der Prinz hörte die Worte im Zimmer und rief seelenvergnügt: »Käte, das schickt dir meine Mutter! Sind es große Früchte! Gib mir einen Granatapfel,« bat er, als Käte den Korb hereinbrachte. »Ich habe dieses Jahr noch gar keinen gegessen.«

Käte setzte den Korb auf den Tisch, aber schon war dem Prinzen etwas andres in den Sinn gekommen. Er wollte jetzt einen Scherbett von Granatäpfeln haben und gab Käte genau an, wie sie Zucker und Milch mit dem Saft und den roten Fruchtkernen anrühren müsse. Sie verließ das Zimmer, um ein Glas und Milch zu holen, und Moti, der sich unterm Bett verkrochen gehabt, weil er bei einem Versuch, sich des Prinzen Smaragden anzueignen, einen Tritt bekommen hatte, kam hervor und benutzte die Zeit, eine schöne Banane zu stibitzen. Da ihm wohl bekannt war, daß sein Herr und Gebieter das Bett nicht verlassen konnte, kehrte er sich nicht an seinen abwehrenden Ruf, sondern setzte sich ganz gemütlich hin, streifte mit den kleinen, schwarzen Fingern geschickt die grüne Haut ab, grinste den Knaben an und ließ sich’s schmecken.

»Du bist ein Strick, Moti,« sagte der Prinz lachend. »Käte meint, du seiest gar kein Gott, sondern nur ein graues Aeffchen, und ich glaub’s auch. Wenn sie zurückkommt, kriegst du Schläge, Hanuman.«

Moti hatte schon die halbe Banane verspeist, als Käte wieder eintrat, er machte aber gar nicht Miene, ihr zu entwischen. Sie stieß den kleinen Räuber, der ihr gerade im Weg saß, leicht an, und er fiel sofort um. »Was hat denn dein Moti, Lalji?« fragte sie, das Aeffchen verwundert ansehend.

»Eine Banane hat er gestohlen und jetzt stellt er sich tot. Gib ihm nur einen Klaps!«

Käte beugte sich über den regungslosen kleinen Körper; aber da gab’s nichts zu züchtigen. Er war tot.

Mit blassem Gesicht richtete sich Käte wieder auf und beroch vorsichtig den Obstkorb. Richtig, ein feiner, süßlicher, schwer lastender Duft stieg von den leuchtenden Früchten auf; er wirkte in dieser Nähe betäubend. Den Korb rasch niedersetzend, griff sie mit der Hand an die Stirne; ihr war schwindlig geworden.

»Nun,« sagte der Prinz, der seinen toten Liebling nicht sehen konnte, »bekomme ich jetzt meinen Scherbett?«

»Ich fürchte, Lalji, die Früchte sind nicht ganz gut,« erwiderte Käte, sich gewaltsam zusammennehmend.

Noch ganz benommen von Schreck und Schwindel warf sie die halbe Banane, die der tote Moti zärtlich an sein böses, kleines Herz gedrückt hatte, durchs offene Fenster in den Garten hinaus. Sofort stürzte sich ein Papagei auf den Leckerbissen und nahm ihn mit auf seinen Zweig. Es war geschehen, ehe Käte, die halb bewußtlos war, den Vogel verscheuchen konnte, und im nächsten Augenblick fiel ein Klumpen grüner Federn schwer herab. Der Papagei war auch tot.

»Nein, Lalji, die Früchte sind nicht gut,« wiederholte Käte mechanisch mit weitoffenen, erschrockenen Augen und bleichem Gesicht.

Ihre Gedanken eilten zu Tarvin! Ach, die Warnungen und flehentlichen Bitten, die sie von sich gewiesen hatte! Er hatte gesagt, ihr Leben sei keine Stunde mehr sicher, und wie recht er gehabt hatte! Die unheimliche, leise schleichende Gefahr, die sie bedrohte, hätte stärkere Nerven als die Kätes zu erschüttern vermocht. Von welcher Seite, in welcher Form würde der nächste Angriff erfolgen? Aus welchem Schlupfwinkel der Mord hervorkriechen? Die Luft selbst konnte ja vergiftet sein, sie wagte kaum mehr zu atmen.

Die Frechheit der Ausführung erschreckte sie so sehr wie die Absicht der That. Wenn das am offenen Tag, unterm Deckmantel der Freundschaft, fast gleichzeitig mit einem Besuch des Königs geschehen konnte, was würde die Zigeunerin demnächst wagen? Sie war mit dem Maharadscha Kunwar unter einem Dach; wenn Tarvins Vermutung begründet war, daß Sitabhai auch ihr nach dem Leben trachte, so mochte sie gehofft haben, zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen. Wenn sich Käte vorstellte, wie leicht sie selbst dem Prinzen eine der vergifteten Früchte hätte geben können, so überlief es sie eiskalt.

Der Knabe drehte sich im Bett um und betrachtete Käte.

»Bist du nicht wohl?« fragte er ernsthaft. »Dann mach dir nur, bitte, keine Mühe mit dem Scherbett; reiche mir nur Moti her zum Spielen.«

»O, Lalji! Lalji!« rief Käte außer sich.

Schwankenden Schrittes ging sie auf sein Bett zu, warf sich über ihn und umschlang den Knaben bitterlich weinend, als ob sie ihn mit ihrem Leib vor bösen Mächten schützen wollte.

»Jetzt weinst du heute zum zweitenmal,« sagte der Prinz, die zuckenden Schultern neugierig beobachtend. »Das werde ich dem Tarvin Sahib sagen!«

Das Wort traf Käte ins Herz und rief ein bitteres, hoffnungsloses Sehnen in ihr wach. Ach, nur einen Augenblick die sichere, rettende Kraft fühlen, die sie von sich gewiesen hatte! Wo er jetzt sein mochte, fragte sie sich mit leidenschaftlicher Selbstanklage, was dem Mann wohl widerfahren sein mochte, den sie abgehalten hatte, dieses Land zu fliehen, wo Tod und Verderben ringsum lauerten?

Tarvin saß zur Zeit in seinem Zimmer im Dâk Bungalow. Er hatte beide Thüren weit offen stehen, daß der heiße Wüstenwind über ihn hinstrich, denn er wollte wenigstens alles sehen, was sich nähern würde. Vor ihm auf dem Tisch lag der Revolver, in seiner Brusttasche war das Naulahka, er verzehrte sich in ungeduldiger Sehnsucht, fortzukommen von diesem Ort, und fluchte dem eroberten Schatz, der nicht die Kraft hatte, Käte nach sich zu ziehen.

Neunzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Nachdem sie die verräterischen Früchte unter sichern Verschluß gebracht und den Prinzen über den geheimnisvollen Tod seines Moti getröstet hatte, fand Käte am Abend und während der langen Nacht reichlich Muße, mit ihrem Herzen und Gewissen zu Rat zu gehen. Als sie am andern Morgen mit geröteten Augenlidern und schwerem, von keinem Schlaf erfrischtem Kopf aufstand, war ihr wenigstens das eine klar – so lang sie am Leben war, blieb es ihre Aufgabe, unter den indischen Frauen und für diese weiter zu arbeiten, und für das Weh in ihrem Herzen durfte sie kein andres Heilmittel suchen, als eben die Arbeit. Mittlerweile blieb der Mann, der sie liebte, in Gokral Sitarun, harrte aus in stündlicher Todesgefahr, um in Rufweite zu sein, wenn sie ihn brauchte, und rufen durfte sie ihn doch nicht, denn das hieße schwach werden, fahnenflüchtig.

Sie machte sich auf den Weg nach ihrem Spital. Die Angst um Tarvins Leben schnürte ihr die Kehle zu, saß ihr im Nacken wie ein Gespenst; sie mußte arbeiten, um ihren Gedanken zu entrinnen.

Wie gewöhnlich hockte die Frau aus der Wüste mit verschleiertem Gesicht, die Hände ums Knie verschränkt, auf den Stufen vor der Hausthüre, um sie zu erwarten. Heute stand aber auch Dhunpat Raj müßig dort, obwohl er um diese Stunde in den Krankensaal gehört hätte, und Käte sah, daß der Hof voll war von Fremden, wohl Besuchen für die Kranken, die doch nach der von ihr eingeführten Ordnung nur einmal in der Woche und nicht an diesem Tag zugelassen waren. Ueberreizt und erschöpft, wie sie von den Erlebnissen des gestrigen Tages war, fühlte sich Käte von diesem Anblick noch peinlicher berührt, als es sonst wohl der Fall gewesen wäre.

»Was soll das heißen, Dhunpat Raj?« fragte sie in zorniger Erregung.

»Aufruhr aus religiösem Fanatismus,« gab Dhunpat Raj achselzuckend zum Bescheid. »Hat nichts zu sagen, habe öfter erlebt. Nur nicht hineingehen!«

Käte schob ihn ohne ein Wort beiseite und war im Begriff einzutreten, als einer von ihren Kranken, ein Mann im letzten Stadium des Typhus, von einem halben Dutzend Leute herausgetragen wurde. Die lärmenden Krankenträger warfen ihr drohende Worte zu, und im Nu stand die Frau aus der Wüste an ihrer Seite. In der hoch erhobenen braunen Hand funkelte ein langes Messer mit breiter Klinge.

»Seid still, ihr Hunde!« herrschte sie die Leute in ihrer Mundart an. »Wagt es nicht, die Hand an diese Peri zu legen, die alles für euch thut!«

»Ja wohl, sie bringt unsre Leute um,« schrie einer von den Dörflern.

»Das mag sein,« rief das Weib mit einem flüchtigen Lächeln, »aber ich weiß, wen ich umbringe, wenn ihr sie nicht ungestreift vorüber laßt. Seid ihr Radschputen oder wilde Tiere, Maulwürfe, Fischjäger, daß ihr wie das Vieh einem verlogenen Pfaffen nachlauft, der eure Strohköpfe verwirrt? Sie soll eure Leute umbringen? Wie lang könnt denn ihr den Mann da am Leben erhalten mit euren Hexensprüchen und Sudelbrühen?« fragte sie, nach der abgezehrten Gestalt auf der Tragbahre deutend. »Hinaus mit euch! Ist dieses Spital euer Dorf, wo ihr Schmutzfinken treiben könnt, was ihr wollt? Habt ihr auch nur einen Heller bezahlt an dem Dach über euren Köpfen oder an den Arzneien in euren Bäuchen? Macht, daß ihr fortkommt, ehe ich euch ins Gesicht speie!«

Und mit einer Herrschergebärde wies sie das Gesindel fort.

»Besser nicht hineingehen,« flüsterte Dhunpat Naj Käte ins Ohr. »Heiliger Mann aus Umgegend drinnen, bringt sie in Aufregung. Fühlen mich selbst auch sehr unbehaglich.«

»Aber was hat es denn zu bedeuten?« fragte Käte abermals, denn sie sah jetzt, daß der ganze Bau in der Gewalt einer hin und her wogenden Volksmenge war, daß Betten, Kochgeschirr, Lampen und Weißzeug zusammengerafft und eingepackt wurden.

Mit gedämpfter Stimme riefen die Leute einander Befehle zu, schleppten die Kranken aus den oberen Sälen die Treppen herunter, wie Ameisen ihre Eier fortschleppen, wenn ihr Bau zerstört wird. Je sechs bis acht Mann trugen einen Kranken; einige davon hielten Ringelblumensträuße in der Hand und standen auf jeder Treppenstufe still, um ein Gebet zu murmeln, andre warfen furchtsame, forschende Blicke in die Apotheke, wieder andre holten Wasser vom Brunnen und gossen es rings um die Betten aus.

Im Mittelpunkt des Hofes saß splitternackt, wie der unheilbar Geisteskranke bei Kätes Ankunft, ein mit Asche beschmierter, langhaariger, eingeborener Wanderprediger mit langen Klauen an Händen und Füßen, der seinen Dornstecken, der scharf zugespitzt war, wie eine Lanze überm Kopf schwang und mit einem lauten, eintönigen Gesang Männer und Weiber zur Eile antrieb.

Als Käte ihm mit blitzenden Augen, blaß vor Zorn gegenübertrat, wandelte sich der Gesang in ein Wutgeheul.

Rasch mischte sie sich unter die Frauen, unter ihre Frauen, von denen sie dachte, sie hätten sie lieben gelernt. Aber jetzt waren die Verwandten um sie her, und ein breitschultriger, halbnackter Mann aus einem entlegenen Dorf im Innersten der Wüste brüllte Käte mit lauter Stimme an und stieß sie zurück. Er hatte nicht die Absicht, Käte zu verletzen, aber im selben Augenblick zog ihm die Frau aus der Wüste mit ihrem Messer einen breiten Hieb über die Stirne, daß er aufheulend zurückwich.

»Laß mich zu ihnen sprechen,« sagte Käte, und ihre Anhängerin brachte mit hocherhobenen Armen die Menge zum Schweigen. Nur der heilige Mann setzte seinen Gesang fort, bis Käte hoch aufgerichtet und zornbebend auf ihn zutrat und ihn in der Mundart anherrschte: »Schweig, oder ich werde Mittel finden, dir den Mund zu verschließen!«

Der Mann verstummte wirklich, und Käte trat jetzt ruhiger unter die Frauen.

»O, ihr Frauen, was habe ich euch gethan?« rief sie, in der Aufregung die Sprache des Volkes besser beherrschend als sonst. »Wenn ihr über etwas zu klagen habt, wer wird euch Recht schaffen, wenn nicht ich? Ihr wißt doch, daß mein Ohr euch offen steht bei Tag und bei Nacht! Hört mich an, meine Schwestern! Seid ihr denn von Sinnen, daß ihr halb geheilt, krank, sterbend davongehen wollt? Ihr könnt ja gehen, ihr seid frei, aber um eurer selbst, um eurer Kinder willen, geht nicht, ehe ich euch mit Gottes Hilfe gesund gemacht habe! Jetzt herrscht in der Wüste die große Hitze, und manche von euch sind weit, weit von hier daheim …«

»Da hat sie recht! Das ist wahr,« sagte eine Stimme aus dem Haufen. »Ja, ich spreche die Wahrheit und ich habe immer ehrlich gehandelt an euch, darum ist’s jetzt an euch, mir auch die Wahrheit zu sagen. Ich will wissen, was euch in die Flucht treibt, ihr sollt nicht davonlaufen, wie Mäuse. Meine Schwestern, ihr seid krank und schwach und eure Freunde wissen nicht, was euch heilsam ist, ich aber weiß es. …«

»Arre! Was sollen wir aber beginnen?« rief eine schwache Stimme. »Unsre Schuld ist’s nicht. Mir wär’s schon recht, man ließe mich im Frieden sterben, aber der Priester sagt ja. …«

Jetzt brach der Lärm und das Geschrei von neuem los.

»Auf den Pflastern stehen Zaubersprüche. …«

»Weshalb sollen wir uns gegen unsern Willen zu Christen machen lassen. …«

»Die weise Frau, die man fortgejagt hat, sagt. …«

»Was bedeuten die roten Striche auf den Pflastern?«

»Warum sollen wir Teufelsstempel auf dem Leib tragen? Sie brennen uns wie höllisches Feuer!«

»Gestern kam der Priester, der heilige Mann dort und sagte uns, daß ihm fern im Hügelland offenbart worden sei, der Pflasterteufel wolle uns unsrem Glauben abtrünnig und zu Christen machen. …«

»Und wir werden seinen Stempel auf unsern Leibern tragen, wenn wir das Spital verlassen. …«

»Und die Kinder, die wir im Schoß tragen, werden Schwänze haben wie die Kamele und Ohren wie die Maulesel, und das sagt die kluge Frau, und der Priester sagt es auch. …«

»Nun hört aber auf mit eurem Geschwätze!« rief Käte, das Stimmengewirr übertönend. »Was für Pflaster sollen denn das sein? Schämt ihr euch nicht, wie dumme Kinder vom Teufel zu reden, weil ein Senfpflaster brennt? Sind nicht viele Kinder hier zur Welt gekommen, seit ich da bin, und waren sie nicht alle gesund und hübsch? Das wißt ihr doch! Von der unwürdigen Person laßt ihr euch etwas weismachen, die ich wegjagen mußte, weil sie euch mißhandelt hat. …«

»Aber der Priester sagt …«

»Was frage ich nach dem Priester! Hat er euch gepflegt? Hat er bei euch gewacht in der Nacht? Hat er an eurem Bett gesessen, eure Kissen geschüttelt und eure Hände gehalten, wenn ihr in Schmerzen lagt? Hat er eure Kinder gewiegt und gebettet, statt selbst zu ruhen?« »Es ist ein heiliger Mann. Er hat Wunder gethan. Dem Zorn der Götter wagen wir nicht zu trotzen. …«

Ein Weib, das kühner war als die andern, zog eins der kürzlich von Kalkutta bezogenen Senfpapiere heraus, das auf der Rückseite den roten Fabrikstempel trug, und hielt das Blättchen Käte vors Gesicht.

»So, da sieh her! Was soll die Teufelsklaue?« schrie die Frau, aber Kätes Getreue hatte sie schon an den Schultern gepackt und drückte sie auf die Kniee nieder.

»Ob du schweigst, du Weib ohne Nase!« rief sie in wildem Zorn. »Die Peri ist nicht Teig von deinem Teig, deine Hand würde sie beflecken. Denke an den Misthaufen vor deiner Thür und halte dein Maul!«

Käte griff lächelnd nach dem Pflaster.

»Und wer sagt, daß diese Buchstaben Teufelswerk seien?« fragte sie.

»Der heilige Mann sagt’s, und der weiß alles.«

»Das wenigstens könntet ihr besser wissen,« sagte Käte, deren Entrüstung sich mehr und mehr in Mitleid wandelte. »Ihr kennt das Pflaster doch aus eigenem Gebrauch. Hat es dir denn je geschadet, Pithira? Hast du mir nicht oft und viel gedankt für die Erleichterung, die dir der Teufelsspuk brachte? Warum hat’s dich denn nicht verzehrt, wenn es Höllenfeuer war?«

»Gebrannt hat’s genug,« versetzte die Anklägerin mit trotzigem Lachen.

Auch Käte lachte, aber harmlos heiter.

»Ja, das ist ganz wahr! Leider kann ich’s nicht hindern, daß Senf brennt, und kann auch nicht alle Arzneien wohlschmeckend machen. Ihr wißt aber, daß sie euch helfen, und was verstehen denn eure Freunde, diese Dörfler und Kameltreiber und Ziegenhirten von meinen englischen Arzneien? Sind sie so weise, ist dieser Priester so allwissend, daß er fünfzig Meilen von hier weiß, was ich euch eingebe? Hört nicht auf sie, o, schenkt ihnen keinen Glauben! Sagt ihnen, daß ihr bei mir bleiben wollt, weil ich euch gesund mache. Mehr kann ich nicht für euch thun, deshalb bin ich hergekommen. In einem fernen Land, zehntausend Meilen weit von hier, hat man mir von eurem Elend berichtet und Mitleid mit euch zerriß mir das Herz. Wäre ich so weit hergekommen, um euch Uebles zu thun? Kehrt ruhig in eure Betten zurück, meine Schwestern, und sagt diesen Leuten, daß sie euch in Frieden lassen sollen.«

Ein Gemurmel entstand, in dem sich Zustimmung und Widerspruch bekämpften. Für einen Augenblick schwankte das Zünglein an der Wage unentschieden hin und her.

Dann erhob der Mann, der den Messerhieb bekommen hatte, seine Stimme und schrie: »Was nützt das Gerede? Wir nehmen unsre Weiber und Schwestern mit! Wir wollen keine Söhne, die dem Teufel gleichen! – Leihe uns deine Stimme, o Vater!« wandte er sich an den Priester.

Der heilige Mann richtete sich auf und verwischte jede Wirkung von Kätes Worten durch einen Strom von Schmähungen, Anrufungen der Götter und Drohungen mit ewiger Verdammnis. Zu zweien oder dreien schlüpften die Weiber an Käte vorüber, ihre Kranken wurden halb geführt, halb mit Gewalt weggeschleppt.

Käte rief jede einzelne beim Namen an, bat sie, zu bleiben, redete ihr mit Vernunftgründen zu, aber ohne allen Erfolg. Manche hatten Thränen in den Augen, aber ihre Antwort lautete übereinstimmend, daß es ihnen ja leid thäte, daß sie aber nur schwache Frauen seien und den Zorn ihrer Männer fürchteten.

Von Minute zu Minute leerten sich die Krankensäle mehr und mehr, während der Priester laut sang und mitten im Hof wie ein Wahnsinniger zu tanzen anfing. Der Strom buntfarbiger Gewänder wälzte sich die Stufen hinab in die Straße hinein; Käte sah ihre sorgfältig behüteten kranken Frauen in der blendenden, erbarmungslosen Sonnenglut verschwinden, nur das Weib aus der Wüste blieb an ihrer Seite.

Mit starren Augen verfolgte sie das unerhörte Schauspiel – ihr Spital war leer.

Zwanzigstes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

»Hat Fräulein Sahib Befehle für mich?« fragte Dhunpat Raj mit orientalischer Gelassenheit, als sich Käte jetzt an die breite Schulter ihrer Getreuen lehnte, um nicht umzusinken.

Sie schüttelte den Kopf, ohne die Lippen zu bewegen.

»Ja, es ist recht betrüblich,« bemerkte Dhunpat Raj mit der Ruhe eines gänzlich unbeteiligten Zuschauers, »aber religiöser Fanatismus und Aberglauben seien stark im Land. Einmal – zweimal dasselbe gesehen. Manchmal wegen Pulver, und dann sagten sie, die mit Maßen bezeichneten Gläser seien heilige Gefäße und Zinksalbe sei Kuhfett. Aber ganzes Spital zugleich leer haben nie gesehen. Glaube nicht, daß wiederkommen, aber meine Anstellung, Staatsanstellung,« setzte er mit befriedigtem Lächeln hinzu, »werde Gehalt beziehen, wie vorher.«

Käte starrte ihn betroffen an.

»Sie meinen, es werden gar keine Kranken mehr kommen?« fragte sie stammelnd.

»O doch – in Zeit – einer oder zwei. Vielleicht Männer, wenn vom Tiger gebissen, oder mit Augenentzündung, aber Frauen – nein. Ihre Männer werden’s nicht mehr erlauben – fragen Sie nur die!«

Käte, richtete einen hilflos stehenden, Trost suchenden Blick auf ihre getreue Freundin. Die bückte sich zu Boden, griff ein wenig Sand auf, ließ ihn zwischen ihren Fingern durchrieseln, rieb die Handflächen aneinander ab und schüttelte den Kopf. Käte verfolgte dieses Gebärdenspiel in verzweifelter Spannung.

»Sie sehen – alles vorüber, nichts zu hoffen,« sagte Dhunpat Raj nicht ohne Teilnahme, hinter der aber doch eine gewisse schmunzelnde Genugthuung lauerte über eine Niederlage, die ja kluge Leute, wie er, längst vorausgesagt hatten. »Und was will Euer Gnaden jetzt vornehmen? Soll ich Apotheke schließen, oder soll Drogistenrechnung nachgesehen werden?«

Käte winkte ihm, zu gehen.

»Nein! nein! Nicht jetzt! Ich muß mich fassen, muß Zeit haben, dann werde ich Ihnen Bescheid senden. Komm, du Liebe!«

Damit faßte sie die Frau aus der Wüste an der Hand und verließ mit ihr das Hospital. Draußen nahm die stämmige Radschputin Käte wie ein Kind auf den Arm und hob sie aufs Pferd.

»Und wohin geht dein Weg jetzt?« fragte Käte die entschlossen neben dem Pferd Herschreitende.

»Ich war zuerst hier,« versetzte die Geduldige, Getreue, »es ziemt sich darum, daß ich zuletzt gehe. Wo du hingehst, gehe ich auch – nachher mag geschehen, was da will.«

Käte beugte sich aus dem Sattel und nahm die braune Hand der Tochter der Wüste mit dankbarem Druck in die ihrige.

Als sie am Missionshaus anlangten, mußte Käte all ihre Kraft aufraffen, um nicht zusammenzubrechen. Es war ihr unsäglich bitter, ihre gänzliche Niederlage den Menschen einzugestehen, die am meisten von ihren Hoffnungen und Erwartungen gehört hatten, deren unausgesprochenen Zweifeln gegenüber sie immer freudig betont hatte, was sie den armen indischen Frauen jetzt schon sei, was sie ihnen zu werden hoffe. An Tarvin durfte sie überhaupt nicht denken, dazu fehlte ihr die Kraft.

Glücklicherweise schien Frau Ostes nicht zu Hause zu sein. Dafür wartete ein Bote, um im Namen der Königin Mutter Käte samt dem Maharadscha Kunwar nach dem Palast zu bescheiden. Das braune Weib wollte Käte von diesem Besuch abhalten, aber Käte kehrte sich nicht an ihre Warnung.

»Nein, nein, nein! Ich muß hin – irgend etwas muß ich thun,« rief sie beinah heftig, »so lang mich noch jemand haben will. Ich muß Arbeit haben, sonst verzweifle ich. Geh‘ du nur voraus und erwarte mich vor dem Palast.«

Die Frau fügte sich schweigend und trottete auf der staubigen Landstraße den Weg zurück, während Käte zu ihrem Pflegling eilte.

»Lalji,« sagte sie, sich über ihn beugend, »meinst du, es würde dich nicht zu sehr anstrengen, wenn wir dich in einen Wagen heben und zu deiner Mutter bringen?«

»Ich möchte lieber meinen Vater besuchen,« versetzte der Prinz, der heute zur Belohnung für gestrige Fortschritte in der Genesung auf dem Sofa liegen durfte. »Mit meinem Vater habe ich sehr Wichtiges zu besprechen.«

»Aber deine Mutter hat dich so lang nicht gesehen, Lalji!« »Gut, dann will ich gehen.«

»Dann bestelle ich gleich den Wagen.«

»Nein, bitte, ich will meinen eigenen haben. Wer ist denn da draußen?«

»Sohn des Himmels, ich bin’s,« versetzte die tiefe Stimme eines Soldaten.

»Achcha! Reite schnell hinauf und sage ihnen, mein Wagen und Gefolge sollen kommen. Wenn sie in zehn Minuten nicht da sind, werde ich Sirop Singhs Gehalt beschneiden und ihm vor all meinen Leuten das Gesicht anschwärzen lassen. Ich fahre heute zum erstenmal aus!«

»Möge Gottes Güte zehntausend Jahre mit dir sein, Sohn des Himmels!« rief der Mann von draußen herein, während er sich in den Sattel schwang, um seinen Auftrag auszuführen.

Als der Prinz angekleidet war, rasselte auch schon der Wagen vor die Thüre, den eine sorgliche Hand im Palast mit weichen Kissen ganz ausgestopft hatte. Käte mußte den Knaben mehr tragen als stützen, obwohl er auf der Veranda durchaus frei stehen wollte, um den militärischen Gruß seiner Leibwache geziemend zu erwidern.

»Ahi! Ich bin noch recht schwach,« gestand er unterwegs mit einem verlegenen Auflachen. »Mir kommt’s vor, als ob ich in Rhatore überhaupt nicht mehr frisch werden könnte.«

Käte schlang den Arm um ihn und stützte ihn zärtlich.

»Käte,« begann er jetzt, »willst du mir helfen, meinen Vater um etwas bitten, willst du ihm auch sagen, daß es gut für mich sei?«

Käte, deren Gedanken bei ihrer großen Bitternis verweilten, tätschelte ihn liebreich auf die Schulter und hob den thränenfeuchten Blick zu dem roten Steinkoloß des Palastes.

»Wie kann ich dir das versprechen, Lalji?« fragte sie, in das erwartungsvoll zu ihr aufgerichtete Kindergesicht blickend.

»Es ist ja etwas sehr, sehr Verständiges!«

»Wahrhaftig, Lalji?«

»Ja, und ich habe mir’s ganz allein ausgedacht. Ich bin ja ein Radscha Kunwar und möchte in die Radscha Kunwar-Schule gehen, wo man Prinzen lehrt, Könige zu werden. Das gibt’s nur in Adschmir, und da will ich hin und mit den andern Prinzen von Radschputana lernen und fechten und reiten, daß ich ein ganzer Mann werde. In die Radscha Kunwar-Schule in Adschmir will ich, daß ich alles lerne über die ganze Welt. Das ist doch verständig, Käte? Seit ich krank war, kommt mir die Welt so sehr, sehr groß vor – Käte, wie groß ist denn die Welt, die du gesehen hast über dem schwarzen Wasser? Und wo ist denn Tarvin Sahib? Mit dem würde ich auch gern sprechen. Ist Tarvin Sahib böse mit mir oder mit dir, Käte?«

So plauderte der Prinz und bedrängte Käte mit Hunderten von Fragen, bis der Wagen vor dem Seitenthor hielt, das zu dem von der Königin-Mutter bewohnten Palast führte. Kätes dunkle Freundin stand davor und streckte ihr die Arme entgegen.

»Laß mich den Prinzen hineintragen,« bat sie, »ich weiß, daß es notthut. Nein, Sohn des Himmels, du brauchst dich nicht davor zu scheuen, ich bin von gutem Blut.«

»Frauen von gutem Blut gehen verschleiert und sprechen nicht auf der Straße,« wandte der Prinz zweifelnd ein.

»Das gilt für deinesgleichen, nicht für unsereins,« entgegnete die Frau lachend. »Wer sein tägliches Brot verdienen muß, kann nicht verschleiert gehen; aber meine Väter haben viele hundert Jahre vor mir im Land gelebt, gerade wie die deinen, Sohn des Himmels, und die weiße Frau kann dich nicht so leicht tragen als ich.«

Sie faßte ihn in die Arme und schloß ihn an ihre Brust, als ob er ein Wickelkind gewesen wäre, und der Knabe fühlte sich sicher und wohl in diesen starken Armen. Er winkte mit der abgezehrten, kleinen Hand, woraus der schwere Thorflügel sich kreischend in den Angeln drehte, und sie miteinander hineingingen – Weib, Kind und Mädchen.

In diesem Teil des Palastes war nicht viel von Pracht und Ausschmückung zu sehen. Die bunten Fliesen an den Wänden waren vielfach zerbröckelt und abgefallen, die Fensterläden hätten eines neuen Anstrichs bedurft und zeigten zerbrochene Stäbe, im Vorhof lag Kehricht und Staub. Eine Königin, die beim Herrscher in Ungnade gefallen ist, büßt auch manche andre Vorteile ein.

Eine Thüre that sich auf, und eine Stimme rief die Eintretenden an. Sie gerieten in einen dunkeln Gang und dann auf eine lange Reitschnecke, die mit leuchtend weißem Stuck so glatt wie Marmor belegt war und zu den Gemächern der Königin führte. Die Mutter des Prinzen hielt sich mit Vorliebe in einem langen, niederen Zimmer auf, das gegen Nordosten lag, wo sie ihr Gesicht an das Marmormaßwerk der Fensterfüllung pressen und mit der Seele die Heimat suchen konnte, die Kuluhügel, achthundert Meilen von hier, jenseits der Sandwüste. In diesen Raum drang kein Laut von dem geschwätzigen Treiben und Lachen und Singen im Palast; nur der Fußtritt weniger getreuer Dienerinnen unterbrach die tiefe Stille.

Mit dem Gebaren eines gefangenen Panthers durchschritt das braune Weib, den Prinzen noch fester an sich drückend, den Irrgarten leerer Zimmer, kleiner Seitentreppen, bedachter Höfe. Für Käte und den Maharadscha Kunwar hatte der dunkle, winkelige, geheimnisvolle, totenstille Bau nichts Befremdliches mehr, der Knabe war darin aufgewachsen, und Käte hatte sich damit abgefunden als mit einem Teil der Mühsale und Schrecken, die sie aus freien Stücken aufgesucht hatte.

Endlich war die Reise beendigt: Käte hob einen schweren Thürvorhang, der Prinz rief nach der Mutter, und die Königin fuhr mit einem leidenschaftlichen Aufschrei von ihrem Fenstersitz aus weißen Kissen auf.

»Wie… wie steht’s mit dem Prinzen?«

Der Prinz zappelte, auf den Boden gelassen zu werden, und die Königin warf sich schluchzend über ihn, den kleinen Mann vom Kopf bis zu den Füßen mit Küssen bedeckend, tausend Kosenamen flüsternd. Des Kindes Zurückhaltung schmolz vor dieser Begrüßung. Er hatte sich vorgenommen gehabt, der Mutter den echten Radschputen zu zeigen, das heißt einen Mann, dem jede öffentliche Gefühlsäußerung in tiefster Seele zuwider ist, aber jetzt lachte und weinte er in ihren Armen. Die Frau aus der Wüste fuhr sich mit der Hand über die Augen und Käte wandte den Blick ab und sah zum Fenster hinaus.

»Wie soll ich Ihnen danken?!« rief die Königin endlich. »O mein Sohn, mein Liebling, Kind meines Herzens, die Götter und sie haben dich wieder gesund gemacht. Wer ist die Frau?« fragte sie rasch, zum erstenmal die hohe Gestalt erblickend, die in ihrem roten Gewand still am Thürvorhang stand.

»Sie hat mich hergetragen aus dem Wagen,« erklärte der Prinz. »Sie sagte, sie sei eine Radschputin von gutem Blut.«

»Vom Stamm der Khohan, eine Radschputin und Mutter von Radschputen,« versetzte die Frau einfach. »Die weiße Fee hat ein Wunder gethan an meinem Mann. Er war krank im Kopf und kannte mich nicht mehr. Freilich mußte er sterben, aber ehe sein Atem entfloh, hat er mich erkannt und beim Namen gerufen.«

»Und sie hat dich getragen!« rief die Königin, den Prinzen schaudernd näher an sich ziehend, denn wie jede Inderin, sah sie in der Berührung, ja dem Blick einer Witwe ein böses Omen.

Die Frau sank der Königin zu Füßen.

»Vergib mir! Vergib mir!« rief sie. »Drei Kinder habe ich geboren, alle haben mir die Götter genommen und meinen Mann zuletzt. Es that so wohl – o so wohl – wieder ein Kind im Arm zu halten! O du kannst ja vergeben,« setzte sie kläglich hinzu, »du bist reich in deinem Sohn und ich bin nur eine Witwe!«

»Bin ich nicht auch eine Witwe?« murmelte die Königin leise vor sich hin, »Sie spricht wahr, ich sollte vergeben – erhebe dich!« Aber die Frau blieb am Boden liegen, der Königin nackte Füße umklammernd.

»Erhebe dich, Schwester!« flüsterte die Königin.

»Wir von den Feldern, wir wissen nicht zu reden mit den Vornehmen. Verzeiht mir die Königin, wenn meine Worte rauh sind?«

»Gewiß verzeihe ich das! Deine Sprache klingt weicher als die der Hügelleute von Kulu, aber fremde Wörter sind darin.«

»Ich komme aus der Wüste, treibe Kamele, melke die Ziegen, wie sollte ich die Sprache des Hofs reden können? Laß die weiße Fee sprechen für mich.«

Käte hatte zerstreut zugehört. Jetzt, da ihr keine Pflicht mehr oblag, kam das Entsetzen über die Schmach, die man ihr angethan hatte, kam die Angst um Tarvin mit neuer Gewalt über sie. Sie sah die Frauen wieder vor sich, wie sie an ihr vorbei gezogen waren, eine nach der andern, sah ihr zerstörtes Werk vor sich und sich aller Hoffnung beraubt, es wieder aufzurichten, und sie sah Tarvin in Todesgefahr, grausam gemordet – durch ihre Schuld!

»Was willst du?« fragte sie teilnahmlos, als die Frau sie am Rocksaum zerrte, setzte aber dann, zur Königin gewendet, hinzu: »Das ist die einzige von all den Frauen, denen ich Liebe erzeigt habe, die heute an meiner Seite blieb, Königin.«

»Ja, es wurde im Palast davon gesprochen,« versetzte die Königin, den Arm um des Prinzen Schultern gelegt, »daß Ihrem Spital Unheil widerfahren sein soll, Sahiba?«

»Ich habe keinen Spital mehr,« sagte Käte bitter.

»Und du hast mir doch versprochen, mich einmal hinzuführen,« bemerkte der Knabe.

»Die Frauen waren Närrinnen,« berichtete das braune Weib von seinem Platz am Boden aus. »Ein toller Priester hat ihnen Lügen aufgebunden, er hat ihnen gesagt, die Arzneien seien verhext …«

»Bewahre uns vor bösen Geistern und Teufelsspuk,« murmelte die Königin.

»Verhext – Arzneien, die sie mit ihrer eigenen Hand mischt und berührt! Und da sind die Närrinnen davongelaufen, Sahiba, und haben geschrieen, ihre Kinder könnten mißgestaltete Affen werden und ihre Hühnerseelchen in die Hölle kommen! Aho! Sie werden’s ja inne werden, morgen schon, nicht erst in acht Tagen, wohin ihre Seelen kommen, denn sterben werden sie alle miteinander, die dummen Gänse, nun ihnen niemand mehr hilft!«

Käte schauderte; sie wußte ja am besten, wie wahr die Frau sprach.

»Aber diese Arzneien,« hob die Königin an. »Man kann doch nicht wissen, ob nicht ein Zauber darin steckt!«

Sie sah Käte an und lachte verlegen.

»Dekho! Sieh diese doch nur an,« sagte das braune Weib mit ruhiger Ueberlegenheit. »Sie ist ein Mädchen und sonst nichts: was vermöchte sie an den Thoren des Lebens auszurichten?«

»Sie hat meinen Sohn gesund gemacht, darum ist sie mir eine Schwester,« erklärte die Königin.

»Sie hat meinen Mann sprechen gemacht vor der Todesstunde, deshalb diene ich ihr mit Leib und Seele, gerade wie dir auch, Sahiba,« sagte das Weib.

Der Prinz blickte fragend in seiner Mutter Gesicht.

»Sie nennt dich ›du‹,« bemerkte er, als ob die Frau ihn nicht hören könnte. »Das ziemt sich nicht! Eine Königin und eine Dörflerin ›du und du‹!«

»Wir sind beide Frauen, kleiner Mann – bleibe ruhig in meinem Arm! O, wie wohl es thut, dich wieder zu halten, du ärmliches Kerlchen!«

»Der Sohn des Himmels sieht aus wie dürrer Mais,« sagte das braune Weib rasch.

»Nein, wie ein ausgemergelter Affe,« fiel die Königin ein, ihre Lippen in des Kindes Haar drückend.

Beide Frauen sprachen laut und nachdrücklich – die Herabsetzung des beliebtesten Guts sollte die Götter täuschen, daß sie nicht neidisch würden auf menschliches Glück.

»Aho – mein kleiner Affe ist tot,« warf der Prinz plötzlich dazwischen. »Ich muß einen andern haben. Laßt mich in den Palast gehen und mir einen neuen Affen aussuchen!«

»Er soll sich nicht im Palast herumtreiben,« rief die Königin erregt, mit einem hilfeflehenden Blick auf Käte, denn sie selbst hatte es nie fertig gebracht, des Knaben Willen zu durchkreuzen. »Du bist noch viel zu schwach, Lalji, – o, Fräulein Sahib, er soll nicht aus dem Zimmer gehen!«

»Es ist mein Befehl,« erklärte der Prinz, ohne die Mutter anzusehen. »Ich will!«

»Bleibe bei uns, Liebling,« sagte Käte geistesabwesend, denn sie überlegte gerade, ob ihr Spital nicht doch in ein paar Monaten wieder zusammengeflickt werden könnte und ob sie die Tarvin drohende Gefahr nicht am Ende überschätzt habe.

»Ich gehe!« wiederholte der Prinz, sich aus den Armen der Mutter lösend, »Ich habe genug von diesem Gethue.«

»Gibt mir die Königin Erlaubnis?« fragte das braune Weib flüsternd.

Die Königin nickte, und der Prinz fühlte sich plötzlich von zwei Armen gefesselt, gegen deren Kraft es keinen Widerstand gab.

»Laß mich gehen, du – du Witwe!« zischte der kleine Mann wütend.

»Es ziemt sich nicht, daß ein Radschpute die Mutter von Radschputen mißachtet, mein König,« lautete die gelassene Antwort. »Wenn der junge Stier der Kuh nicht gehorcht, lehrt ihn das Joch Gehorsam. Der Sohn des Himmels ist noch schwach, in all diesen Gängen, auf den vielen Treppen würde er straucheln und fallen, darum bleibt er hier. Wenn der Zorn verraucht ist, wird er noch schwächer sein, als vorher, jetzt schon …«, die großen leuchtenden Augen bohrten sich förmlich in die des Kinds …, »jetzt schon,« fuhr die gleichmäßige Stimme fort, »weicht der Zorn. Nur noch einen Augenblick, Sohn des Himmels, und du bist kein Prinz mehr, nur ein kleines, kleines Kind, gerade wie die Kinder, die ich geboren habe, ach, und wie ich keines mehr gebären werde.«

Bei den letzten Worten hatte sich das Köpfchen des Knaben auf ihre Schulter gesenkt. Die Heftigkeit hatte sich ausgetobt und ihn, wie die Frau vorausgesehen, müde und schläfrig gemacht.

»O Schmach! O Schmach!« murmelte er schlaftrunken. »Ja, ich will gar nicht mehr fort … laßt mich nur schlafen, schlafen!«

Das braune Weib tätschelte ihn auf den Rücken, bis die Königin hungrige Arme nach ihrem Eigentum ausstreckte und es wieder an sich riß. Sie bettete das Kind auf ein Kissen an ihrer Seite, breitete den Saum ihres langen Musselinkleides über ihn und sah ihr Kleinod zärtlich an. Das braune Weib kauerte sich auf dem Boden zusammen. Käte saß auch auf einem Kissen und lauschte dem Ticken einer billigen amerikanischen Wanduhr, die irgendwo in einer Nische hing. Durch viele Wände gedämpft klang der Gesang einer Frauenstimme herein. Der Mittagswind rauschte in den durchbrochenen Fensterschirmen, und vom Hof, der wohl hundert Fuß tiefer liegen mochte, drang das Scharren und Stampfen der Pferde der Leibwache herauf, die mit den Schwänzen fuchtelten und in den Zaum bissen. Käte lauschte all diesen Geräuschen in abermals wachsender Angst um Tarvin. Die Königin beugte sich immer tiefer über den schlafenden Sohn; Mutterglück feuchtete ihre Augen.

»Jetzt ist er fest eingeschlafen,« sagte sie endlich. »Was war doch das mit seinem Affen, Fräulein Sahib?«

»Er ist gestorben,« versetzte Käte, sich gewaltsam zur Lüge zwingend. »Wahrscheinlich hat er im Garten faules Obst gegessen.«

»Im Garten?« fragte die Königin hastig.

»Ja, im Garten.«

Das braune Weib sah die beiden Frauen forschend an; sie wußte nicht, was sie aus Frage und Antwort machen sollte, und streichelte der Königin die Füße.

»Affen sterben leicht,« bemerkte sie. »In Banswarra habe ich einmal eine Art Pest unter dem Affenvolk erlebt.«

»Wie starb er denn?« fragte die Königin.

»Das… das weiß ich nicht genau,« stotterte Käte.

Und nun herrschte wieder ein langes Schweigen in dem schwülen Raum.

»Fräulein Käte,« begann die Königin dann flüsternd, »was denken Sie über meinen Sohn? Ist er gesund oder nicht?«

»Kräftig ist er nicht, aber mit der Zeit kann er es werden, doch wäre es gut, wenn er eine Weile von hier fort käme.«

Die Königin nickte ergebungsvoll.

»Daran habe ich auch schon oft gedacht, wenn ich so allein saß, und dann war mir’s, als ob mir das Herz aus der Brust gerissen würde. Ja, es wäre gut, wenn er fort käme von hier, nur daß ich so gar nichts weiß von der Welt, wohin er gehen soll,« sagte die arme Mutter, ihre Hände in hilfloser Verzweiflung nach dem Sonnenschein ausstreckend. »Weiß ich denn, ob er dort sicher sein wird? Weiß ich’s denn hier? Seit Sie zu uns gekommen sind, hat mein Herz ein wenig Trost gefunden, aber weiß ich denn, wann Sie wieder gehen?«

»Auch wenn ich da bin, kann ich das Kind nicht vor jedem Uebel behüten,« sagte Käte, die Hände vors Gesicht schlagend. »Darum schicken Sie ihn fort, fort aus diesem Palast, so schnell als möglich. In Gottes Namen lassen Sie ihn ziehen.«

»Such hai! Such hai! Es ist die Wahrheit, die Wahrheit.«

Die Königin wandte sich zu dem Weib, das zu ihren Füßen saß.

»Drei hast du geboren?« fragte sie.

»Drei – ein viertes hat nie geatmet, und lauter Söhne waren’s,« sagte das Weib der Wüste.

»Und die Götter haben sie von dir genommen.«

»An Blattern starb der eine, am Fieber zwei.«

»Bist du gewiß, daß die Götter es gethan?«

»Ich war bei ihnen bis zum letzten Atemzug.«

»Dein Mann – der war also ganz dein eigen?«

»Wir waren nur zu zweien, er und ich. In unsern Dörfern sind die Männer arm, da haben sie genug an einem Weib.«

»O ihr seid reich in euren Dörfern! Höre mich an – wenn ein Kebsweib deinen dreien nach dem Leben getrachtet hätte …«

»Würde ich sie erschlagen haben, was sonst?«

Das Weib rief’s mit bebenden Nüstern und ihre Hand griff rasch in die Falten des Gewandes.

»Und wenn du an Stelle der drei nur einen einzigen gehabt hättest, die Wonne deiner Augen, und gewußt hättest, daß dein Schoß keinen zweiten tragen wird, und das Kebsweib hätte diesem einzigen auf Schleichwegen nach dem Leben getrachtet? Was dann?«

»Ich würde sie erschlagen haben, aber leicht hätte ich ihr das Sterben nicht gemacht. An ihres Mannes Seite, in seinen Armen würde ich sie erschlagen haben, und wenn sie gestorben wäre, eh‘ meine Rache satt war, wäre ich ihr nachgeschlichen in die Hölle.«

»Du kannst in die Sonne hinaustreten und durch die Straßen gehen, und kein Mann sieht sich nach dir um,« versetzte die Königin mit Bitterkeit. »Deine Hände sind frei, dein Antlitz ist unverhüllt. Wenn du aber eine Sklavin wärest unter Sklaven, eine Fremde unter fremdem Volk und« – sie flüsterte es kaum vernehmlich – »der Gunst deines Herrn beraubt?«

Das Weib küßte den zarten Fuß, den ihre Hände umklammert hielten.

»Dann würde ich mich nicht verzehren in Sorge, dann würde ich nur daran denken, wie aus meinem Sohn ein König werden kann, und würde ihn fortschicken, dahin, wo des Kebsweibes Macht nicht reicht!«

»Ist es so leicht, sich die Hand abzuhauen?« fragte die Königin schluchzend.

»Besser die Hand als das Herz, Sahiba! Wer vermöchte ein Kind zu behüten an einem Ort wie dieser?«

»Sie ist von weit her gekommen,« entgegnete die Königin, auf Käte deutend, »und sie hat ihn mir schon einmal vom Tod errettet.«

»Ihre Mittel sind gut und ihre Hand ist geschickt, aber – du weißt es ja – sie ist nur ein Mädchen, das weder Besitz noch Verlust kennt. Es mag ja sein, daß ich ein Kind des Unglücks bin und daß mein Blick Unheil bringt – mein Mann freilich sprach anders im letzten Herbst – aber es mag ja sein. Und doch kenne ich den Schmerz in der Brust und den Jammer um das Neugeborene, wie du ihn kennst.«

»Wie ich ihn kenne!«

»Mein Haus ist leer und ich bin eine Witwe und kinderlos und nie mehr wird ein Mann mich zur Ehe begehren.«

»Wie ich – wie ich…« »Nein, dir ist der Kleine geblieben, mag dich auch sonst alles verlassen haben, und der Kleine muß sorglich behütet werden. Wenn sich Neid und Eifersucht rühren gegen den Knaben, so ist’s nicht wohl gethan, ihn in diesem Mistbeet zu lassen. Laß ihn fort!«

»Aber wohin? Weiß es das Fräulein Sahib? Uns die wir hinterm Vorhang sitzen, ist die Welt ja dunkel.« »Ich weiß, daß der Prinz aus freiem eigenem Antrieb in eine Fürstenschule nach Adschmir gehen möchte, wie er mir selbst gesagt hat,« erwiderte Käte, die, das Kinn in die Hand gestützt, der ganzen Unterredung gefolgt war. »Es handelt sich ja nur um ein Jahr oder zwei.«

Die Königin lachte ein wenig unter ihren Thränen.

»Nur ein Jahr oder zwei, Fräulein Käte! Weiß du nicht, wie lang eine einzige Nacht ist ohne den Knaben?«

»Aber er kann zurückkommen, wenn du ihn rufst, aber kein Rufen bringt die Meinigen zurück. Nur ein Jahr oder zwei. Sahiba, auch denen, die nicht hinterm Vorhang sitzen, ist die Welt dunkel!« sagte das braune Weib leise zur Königin. »Es ist nicht ihre Schuld – wie sollte sie wissen?«

Käte fühlte sich wider Willen verletzt von dieser Art, sie beharrlich als vom Gespräch auszuschließen. Sie, mit dem schweren eigenen Leid im Herzen, sie, die sich andrer Leiden zum Lebensberuf erkoren hatte, sie sollte an diesem gemeinsamen Frauenleid keinen Anteil haben?

»Was soll ich nicht wissen?« fragte sie in diesem Gefühl beinah ungestüm: »Kenne ich etwa den Schmerz nicht? Ist er nicht mein Leben?«

»Noch nicht,« versetzte die Königin sanft. »Weder Leid noch Lust. Fräulein Käte, du bist sehr klug und weißt vieles, ich dagegen bin eine Frau, die nur die vier Wände ihres Palastes kennt, und doch bin ich wissender als du, denn ich weiß, was du nicht wissen kannst, obwohl du mir meinen Sohn zurückgegeben hast und dieser Frau die Sprache ihres Mannes! Womit soll ich dir’s lohnen?«

»Mit der Wahrheit,« flüsterte das braune Weib. »Sag‘ ihr: »Wir sind alle drei Frauen, Sahiba – das abgefallene Laub, der blühende Baum und die verschlossene Knospe.«

Die Königin faßte Kätes Hände und zog das Mädchen sanft zu sich heran, bis ihr Kopf auf dem Knie der Königin ruhte. Erschöpft von den Aufregungen des Morgens, müde an Leib und Seele, ließ sich Käte die Ruhestätte gern gefallen. Weiche, linde Frauenhände strichen ihr das dunkle Haar aus der Stirn, und Augen, die viel geweint hatten, senkten sich tief in die ihrigen, indes der Arm des braunen Weibes sich um ihre Hüften schmiegte.

»Höre mich an, meine Schwester,« begann die Königin mit unendlicher Zärtlichkeit. »In unsern Bergen daheim bei meinen Leuten erzählt man von einer Ratte, die ein Stück Safran gefunden und damit eines Apothekers Laden aufgeschlossen habe. So ist es mit dem Schmerz, den du kennst und heilst, Geliebteste. Du bist mir doch nicht böse? Nein, es darf dich nicht kränken! Vergiß, daß du eine Weiße bist und wir Inderinnen sind, bedenke nur, daß wir Schwestern sind. Kleine Schwester, für uns Frauen alle gilt eine Wahrheit – die kein Kind geboren hat, ist keine Wissende, die Welt ist ihr verborgen. Ich bete zitternd zu dem und jenem Gott, von dem du sagst, er sei schwarzer Stein, ich schaudre vor dem Nachtwind, weil ich glaube, die bösen Geister reiten um diese Stunde an meinem Fenster vorüber, und ich sitze hier im Dunkeln und stricke wollene Sachen, die niemand trägt und bereite Süßigkeiten, die ungekostet von meines Herrn Tisch zurückkommen. Und du, die viele tausend Meilen weit her gekommen, du bist sehr klug und hast mich tausend Dinge gelehrt, wovon ich nichts wußte, und bei alledem bist du doch das Kind und ich bin die Mutter. Was ich weiß, kannst du nicht wissen, kannst den Quell meiner Glückseligkeit nicht ergründen und nicht das Meer meines Leids, bis du selbst gleiches Weh gekostet haben wirst. Ich habe dir von meinem Kind erzählt – alles, ja mehr als alles? Kleine Schwester, weniger als die Wurzeln meiner Liebe zu ihm habe ich dir gezeigt, weil ich wußte, daß du mich nicht verstehen könntest! Ich hätte dir mein Leid geklagt, all mein Leid und mehr denn alles, meinst du, als ich mein Gesicht an deine Brust lehnte? Wie hätte ich dir alles klagen können? Du bist ein Mädchen und das Herz in deinem Busen, das am meinigen schlug, verriet mir schon durch seinen Schlag, daß es mich nicht verstand. Und siehe, dieses Weib, das von draußen herein kommt, weiß mehr von mir als du! Und in einer Schule, so hast du mir erzählt, haben sie dich gelehrt, wie man Kranke heilt, und es gibt keine Krankheit, von der du nicht wüßtest? Kleine Schwester, was soll die vom Leben verstehen, die nie Leben gab? Hast du je ein Kind saugen gefühlt an deiner Brust? Was brauchst du denn zu erröten? Hast du’s gefühlt? Nein, ich weiß es! Als ich deine Sprache zum erstenmal vernahm, als ich dich nur gehen sah im Hof von meinem Fenster aus, wußte ich, daß du es nie gefühlt hast. Und die andern, meine Schwestern in der Welt, wissen’s auch, nur daß sie nicht zu dir sprechen wie ich. Wenn das Leben wächst in ihrem Schoß und sie wach liegen in der Nacht, hören sie die ganze Erde sich rühren nach dem Takt ihres Herzschlags. Aber warum sollen sie dir das sagen? Heute ist dein Werk im Spital unter dir zusammengebrochen – ist’s nicht so? Und die Frauen sind fortgegangen, eine nach der andern? Und was hast du ihnen gesagt?«

An Kätes Stelle antwortete das braune Weib: »Sie sagte: Bleibt bei mir, ich will euch gesund machen.«

»Und mit welchem Eid hat sie’s ihnen gelobt?«

»Mit keinem Eid,« versetzte die Frau. »Sie stand nur unterm Thor und rief sie an.«

»Und worauf soll sich ein Mädchen berufen, um schlotternde Weiber zurückzuhalten? Auf die Mühsal, die sie auf sich genommen hat? Die verstehen jene nicht, aber von den Schmerzen, die ein Weib mit dem andern geteilt hat, weiß jede. Kein Kind hat in deinen Armen geruht, der Mutterblick leuchtet nicht aus deinen Augen, mit welchem Zauber willst du denn Weibern gebieten? Sie sagten, deine Arzneien seien verhext und die Frucht ihres Leibes werde mißgestaltet – was weißt denn du von der Quelle des Lebens und Todes, um sie anders zu belehren? In den Büchern deiner Schule, ich weiß es wohl, steht geschrieben, daß solche Dinge nicht sein können, aber wir Frauen lesen keine Bücher, nicht aus Büchern lernen wir das Leben begreifen. Wie sollte eine, die es nur aus Büchern kennt, unsern Willen lenken? Es müßte denn sein, daß die Götter ihr beistehen und die Götter sind fern. Du hast dein Leben dran gesetzt, den Frauen zu helfen, kleine Schwester – wann wirst du selbst Weib werden?«

Die Stimme verstummte. Kätes Haupt war im Schoß der Königin vergraben; sie hob es nicht.

»Uy!« sagte das braune Weib. »Das Zeichen des Frauenstandes ist von meinem Haupt genommen, die Glasspangen an meinem Arm sind zerbrochen und mein Anblick bedeutet Unheil dem Manne, der auf die Reise auszieht. Solang ich lebe, muß ich einsam bleiben, allein mein Brot verdienen und an die Toten denken. Aber wenn ich auch wüßte, daß ich alles Leid noch einmal erfahren sollte, in einem statt in zehn Jahren, doch würde ich den Göttern danken, daß sie mir Liebe geschenkt haben und ein Kind. Will das Fräulein Sahib diese Worte als Zahlung nehmen für alles, was sie an meinem Mann gethan hat? ›Ein wandernder Priester, ein kinderloses Weib und ein Stein im Wasser, die gehören zusammen,‹ sagt ein Wort unsres Volkes. Was will das Fräulein Sahib jetzt beginnen? Die Königin hat Wahrheit gesprochen. Die Götter und deine Weisheit, die weit hinaus geht über die Mädchenweisheit, haben dir bis hierher geholfen. Des bin ich Zeuge, die ich um dich war und dein Thun gesehen habe. Aber die Götter haben dir zu wissen gethan, daß ihre Hilfe zu Ende sei – was bleibt dir dann? Ist dies ein Leben für eine wie du? Ist es nicht, wie die Königin sagt? Sie, die hier allein sitzt und nichts sieht von der Welt, hat gesehen, was ich sah und wußte, als ich dich Tag für Tag bei den Kranken sah – kleine Schwester, ist es nicht so?«

Käte hob langsam den Kopf und stand auf. »Nimm das Kind, und laß uns gehen,« sagte sie mit heiserer Stimme.

Die barmherzige Dunkelheit im Zimmer verbarg den andern ihr Antlitz.

»Nein,« entschied die Königin. »Die Frau soll ihn zurückbringen. Geh‘ du allein.«

Und Käte ging.