Siebzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

In der Wüste sind die Nächte im Sommer noch heißer als die Tage, denn wenn die Sonne verschwunden ist, strahlen Mauern, Marmor, Sand und Erde die aufgespeicherte Hitze aus, und tiefhängendes Gewölk, das immer Regen verspricht und nie bringt, wehrt ihr jeglichen Ausweg.

Tarvin lag auf der Veranda des Rasthauses, rauchte eine Cigarre und fragte sich, ob sein Einschreiten die Lage des Maharadscha Kunwar wohl verbessert oder verschlimmert haben werde. Er konnte ganz ungestört seinen Gedanken nachhängen, denn auch die letzten Geschäftsreisenden waren, bis zum letzten Moment murrend, nach Kalkutta oder Bombay zurückgekehrt, und der Dâk Bungalow stand jetzt zu seiner alleinigen Verfügung. Seinen Herrschersitz überblickend, dachte Tarvin, Rauchringe blasend, über die verzweifelte und keine Aussicht auf Besserung gewährende Lage nach. Im Grund waren die Dinge jetzt gerade auf dem Punkt angelangt, wo sie ihm am besten gefielen. War der Karren einmal so gründlich verfahren, so brauchte man einen Nikolas Tarvin, um ihn wieder flott zu machen! Käte war halsstarrig, das Naulahka entschlüpfte ihm, der Maharadscha war drauf und dran, ihn aus dem Land zu jagen. Sitabhai hatte mit angehört, daß er sie eines Mordversuchs bezichtigte, sein Leben konnte also in jedem Augenblick ein geheimnisvolles Ende nehmen, wobei ihm nicht einmal der Trost blieb, daß Heckler und die andern Jungen von Topaz ihn rächen würden. Kam es nicht dazu, so sah es doch ganz danach aus, als ob er dieses Leben ohne Käte werde weiterleben müssen, Topaz nicht mit einer neuen Aera würde beschenken können – mit andern Worten, daß es gar nicht der Mühe wert sein würde, überhaupt zu leben.

Das Mondlicht, das die hochgelegene Stadt jenseits des Sandmeers beschien, warf phantastische Schatten auf Tempelkuppeln und Wachtthürme. Ein Nahrung suchender Hund beschnüffelte Tarvins Stuhl, zog sich dann zurück und heulte ihn aus einiger Entfernung an. Es war merkwürdig melancholisch, dieses Hundegeheul. Tarvin rauchte weiter, bis der Mond unterging und die undurchdringliche Finsternis indischer Nächte angebrochen war. Kaum hatte sie ihn ganz eingehüllt, als er sich bewußt ward, daß etwas noch undurchdringlicher Schwarzes zwischen ihm und dem Horizont auftauchte.

»Sind Sie es, Tarvin Sahib?« fragte eine Stimme in gebrochenem Englisch.

Tarvin sprang auf, ohne eine Antwort zu geben. Er fing an, plötzliche Erscheinungen mit einem gewissen Mißtrauen zu betrachten, und seine Hand zuckte nach dem Revolver. In einem Land, das nach dem Muster einer »Feeerie« eingerichtet war, konnte seiner Meinung nach so ziemlich alles passieren!

»Nein, fürchten Sie nichts,« fuhr die Stimme fort. »Ich bin’s – Juggut Singh.«

Tarvin saugte nachdenklich an seiner Cigarre.

»Singh heißt in Gokral Sitarun jeder dritte Mensch – was für ein Singh?«

»Juggut Singh vom Haushalt der Maharadscha,«

»Hm… will der König mich sprechen?«

Die Gestalt trat lautlos näher.

»Nein, Sahib, die Königin.«

»Welche?« fragte Tarvin abermals.

Jetzt war die Gestalt auf der Veranda selbst dicht an seiner Seite.

»Es gibt nur eine, die den Mut hat, den Palast zu verlassen,« raunte sie ihm zu, »die Zigeunerin!«

Tarvin schnalzte leise mit den Fingern und mit der Zunge; diese Sache ließ sich ja ganz nach seinem Geschmack an!

»Angenehme Empfangsstunden beliebt die Dame,« bemerkte er in triumphierendem Ton. »Das ist nicht der Ort, darüber zu reden, Sahib. Ich soll sagen: ›Komm zu mir, falls du Dunkelheit nicht fürchtest.‹«

»Wahrhaftig? Nun, sehen Sie, Juggut Singh, über den Punkt müssen wir uns doch ein wenig aussprechen. Ich freue mich wirklich, Frau Sitabhais Bekanntschaft zu machen; aber wo steckt sie denn? Wohin soll ich gehen?«

»Ich sollte sagen: ›Komm zu mir‹ … Fürchten Sie sich?«

Dies letztere sagte Juggut Singh aus eigenem Antrieb.

»Ich kann mich auch fürchten, wenn’s drauf ankommt, aber jetzt ist davon nicht die Rede,« sagte Tarvin, dicken Rauch aus seiner Cigarre blasend.

»Es sind Pferde da, rasche Pferde. Die Königin will’s, folgen Sie mir.«

Tarvin rauchte ruhig weiter – Eile hatte er offenbar nicht. Dann erhob er sich aus dem Schaukelstuhl, als ob er jeden Muskel einzeln in Bewegung setzten müßte. Jetzt zog er den Revolver aus der Tasche, untersuchte dicht unter Juggut Singhs wachsamen Augen die einzelnen Kammern und steckte ihn, dem Begleiter zunickend, wieder in die Tasche.

»So, jetzt kann’s losgehen,« sagte er.

Sie gingen um die Veranda herum, an die Rückseite des Hauses, wo zwei Pferde angepflockt standen, die Köpfe mit leinenen Tüchern umhüllt, um sie am Wiehern zu verhindern. Der Mann bestieg das eine, Tarvin das andere, nicht ohne sich vorher überzeugt zu haben, daß der Sattelgurt dieses Mal richtig geschnallt war. Schweigend ritten sie im Schritt davon, von der Straße zur Stadt bald in einen Feldweg einbiegend, der in der Richtung der Hügel führte.

»So,« sagte Juggut Singh, nachdem sie eine Viertelmeile entfernt und in tiefster Einsamkeit unter dem Sternenhimmel waren, »jetzt können wir zureiten!« Aus den Steigbügeln schlüpfend, legte er sich platt vor auf den Hals des Pferds und begann das Tier rasend anzutreiben. Nur unmittelbare Todesfurcht konnte den verzärtelten Palast-Eunuchen zu einem solchen Tempo bewegen; Tarvin beobachtete, wie die feiste Gestalt auf dem Sattel hin und her rollte, kicherte ein wenig und folgte.

»Als Cowboy würden Sie sich nicht sehr auszeichnen, Juggut,« bemerkte er. »Was meinen Sie?«

»Vorwärts!« rief Juggut Singh keuchend. »Auf die Kluft zwischen den zwei Anhöhen zu halten … nur schnell!«

Der trockene Sand stäubte hoch auf unter den Pferdehufen, die heiße Luft pfiff um die Ohren von Mann und Roß, als sie die leichte Steigung nach dem Hügel drei Meilen von der Stadt hinauf jagten. In früheren Jahren, vor der Einführung des Telegraphen in Indien, hatten sich die Opiumhändler der Wüste von niederen Wachtürmen auf den Hügeln aus durch Feuerzeichen über Sinken oder Steigen der Preise verständigt, und eine dieser in den Ruhestand versetzten Meldestationen war das Ziel, dem Juggut Singh zustrebte. Die Pferde fielen in Schritt, sobald die Steigung fühlbarer wurde und die Umrisse des kumpfigen Turmes sich deutlich vom nächtlichen Himmel ablösten. Ein paar Minuten später traten die Pferde statt auf Sand auf festen Marmorboden, und Tarvin sah jetzt, daß sie längs eines bis zum Rand gefüllten großen Sammelbeckens hin ritten.

Ein paar Lichter, die in östlicher Richtung zwinkerten, zeigten ihm, wo Rhatore lag und versetzten Tarvin ganz in die Nacht zurück, wo er von der hinteren Plattform eines Pullman-Wagens aus Topaz lebewohl gesagt hatte. Nachtvögel ließen aus dem Röhricht am gegenüberliegenden Rand des Weihers ihre Stimmen erschallen, und ein großer Fisch schnappte im Wasser nach dem Spiegelbild eines Sterns.

»Der Wachturm ist am andern Ende der Umfassungsmauer,« belehrte ihn Juggut Singh, »und dort ist die Zigeunerin.«

»Wird dieser Name nie in Vergessenheit kommen?« fragte eine Stimme von unvergleichlich schmeichelndem Wohllaut aus der Dunkelheit heraus. »Es ist gut, daß ich sanftmütig bin, sonst würden dich die Fische kennen lernen, Juggut Singh.«

Tarvin riß sein Pferd ungestüm zurück, denn fast unter seinem Zaum stand eine Gestalt, vom Kopf bis zu den Füßen in einen Nebel von hellgelber Seidengaze gehüllt. Sie war seitwärts hinter dem roten Grabstein hervorgetreten, der die Ruhestätte eines einst gefeierten radschputischen Edeln, des Erbauers dieses Sammelbeckens, bezeichnete. Man glaubte im ganzen Land, daß sein Geist nächtlicher Weile hoch zu Roß sein Bauwesen bewache, und das war einer von den Gründen, weshalb der »Dungar Talao« von Sonnenuntergang an gemieden wurde.

»Steigen Sie ab, Tarvin Sahib,« sagte die süße Stimme mit spöttischer Betonung. »Ich bin wenigstens kein grauer Affe. Juggut Singh, du hütest die Pferde unter dem Wachturm!«

»Und schlafen Sie dabei nicht ein, Juggut,« fügte Tarvin hinzu. »Wir könnten Ihrer bedürfen.«

Er sprang vom Pferde und stand vor Sitabhais verschleierter Gestalt.

»Ich wußte, daß Sie kommen würden, Sahib,« sagte sie nach einer Weile, ihm eine Hand hinstreckend, die noch kleiner war als die Kätes. »Ich wußte, daß Sie keine Angst haben.«

Sie hielt seine Hand bei diesen Worten mit leisem zärtlichem Druck fest, und Tarvin griff nun fester zu, vergrub die schlanken Finger ganz in seiner mächtigen Tatze und schüttelte sie, daß der Königin unwillkürlich ein leiser Wehruf entfuhr.

»Bei Indur, der Mann kann zufassen,« murmelte sie vor sich hin, während er laut und herzhaft versicherte, daß er sehr erfreut sei, endlich ihre Bekanntschaft zu machen. »Ich freue mich auch, Sie zu sehen,« erwiderte sie.

Die Stimme war wirklich berückend – wie nur das verschleierte Gesicht aussehen mochte, fragte sich Tarvin.

Gelassen ließ die Königin sich auf der Steinplatte des Grabmals nieder und winkte ihm, sich an ihre Seite zu setzen.

»Weiße Männer lieben offene Rede,« begann sie, langsam die Worte suchend und in einigem Kampf mit der Aussprache des Englischen. »Sagen Sie mir, Tarvin Sahib, wieviel Sie wirklich wissen?«

Sie zog bei diesen Worten den Schleier weg und wandte ihm ihr Gesicht zu. Bei Gott – schön war sie. Diese Wahrnehmung drängte sich unmerklich zwischen Tarvins vorgefaßte Meinungen.

»Sie werden doch nicht verlangen, daß ich mich selbst aufgebe, Königin?«

»Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen, aber ich weiß, daß Sie anders sprechen als andre weiße Männer,« versetzte sie in ihren süßesten Tönen.

»Nun, mit andern Worten, Sie werden doch nicht erwarten, daß ich Ihnen die Wahrheit sage?«

»Nein, sonst würden Sie mir sagen, weshalb Sie hier sind. Aber warum machen Sie mir so viel Mühe?«

»Thue ich das, Königin?«

Sitabhai lachte, wobei sie den Kopf zurückwarf und die Hände im Nacken verschränkte. Talvin beobachtete sie neugierig beim Licht der Sterne. Mit allen Sinnen war er hell wach und auf seiner Hut; von Zeit zu Zeit spähte er scharf aus nach allen Seiten, aber nichts war wahrzunehmen als der schwache Glanz des Wassers, das leise gegen die Marmorstufen plätscherte, nur Eulenrufe unterbrachen die tiefe Stille.

»O Tarvin Sahib!« sagte sie. »Als ob Sie’s nicht wüßten! Aber nach dem ersten Mal that mir’s leid.«

»Bitte, wann war denn das erste Mal?« »Als der Sattel sich drehte, natürlich. Als dann der Balken vom Gerüst fiel, glaubte ich wenigstens Ihr Pferd getroffen zu haben – war es nicht verletzt?«

»Nein,« sagte Tarvin, den diese unverblümte Offenheit denn doch verblüffte.

»Das wußten Sie ja doch,« bemerkte sie beinah vorwurfsvoll.

Tarvin schüttelte den Kopf.

»Nein, meine verehrte Königin, nein,« gestand er langsam und nachdrücklich, »zu meiner Schande sei’s gesagt, ich vermutete Sitabhai nicht dahinter. Jetzt dämmert mir so manches … der kleine Scherz am Damm war wohl auch Ihre Erfindung, und die Notbrücke mit den Löchern und die Büffelkarren, die an der Böschung herunter rutschten? Und das alles habe ich der Nachlässigkeit dieses Volks in die Schuhe geschoben! Da soll doch …«

Er stieß einen Pfiff aus, der sofort in dem heiseren Gekrächz einer Weihe Antwort fand.

Aufspringend griff Sitabhai in ihr Gewand.

»Ein Signal!« entfuhr es ihr, aber gleich darauf ließ sie sich wieder beruhigt neben Tarvin nieder. »Nein, Sie haben ja niemand mitbringen können und Sie fürchteten sich auch nicht, allein zu gehen, das weiß ich ja.«

»Fällt mir gar nicht ein, daß ich den Versuch machte, Sie umzubringen, meine Schönste, thäte mir leid um Ihre erfinderische systematische Teufelei, die ich höchlich bewundere! Also Ihnen danke ich all die netten Abenteuer! Das mit dem Triebsand war besonders hübsch. Führen Sie das öfter aus?«

»Ach, Sie meinen beim Damm?« fragte die Königin leichthin. »Nein, ich gab damals nur den Befehl, daß die Leute ihr Möglichstes thun sollen, aber viel Scharfsinn haben sie eben nicht – was kann man auch von Kulis erwarten! Ich war sehr ärgerlich, als mir gemeldet wurde, wie sie’s angestellt hatten.« »Den Boten haben Sie wohl umgebracht?«

»Nein, weshalb denn?«

»Wenn man einmal nach dem Warum fragt, möchte ich wohl wissen, weshalb Sie so darauf erpicht sind, mich umzubringen,« fragte Tarvin trocken.

»Weil ich nicht will, daß weiße Männer sich hier aufhalten, und von Ihnen wußte ich gleich, daß Sie bleiben wollen. Ueberdies hat der Maharadscha einen Affen an Ihnen gefressen und einen weißen Mann hatte ich noch nie getötet. Zudem gefallen Sie mir!«

»Oho!« rief Tarvin.

»Bei Malang Shah, es ist so, und Sie haben es nie gemerkt.«

Sie schwur bei ihrem eigenen Gott, dem Gott der fahrenden Leute.

»Verschwören Sie lieber nichts,« versetzte Tarvin.

»Und meinen Lieblingsaffen haben Sie mir erschossen,« fuhr sie fort. »Er hat jeden Morgen so hübsch vor mir gesalaamt, genau wie Luchman Rao, der Staatsminister. Tarvin Sahib, ich habe viele Engländer gekannt. Ich habe auf dem losen Seil getanzt vor den Kasinozelten der Offiziere, wenn die Regimenter auf dem Marsch begriffen waren, und meine kleine Bettelbüchse dem großen bärtigen Obersten hingehalten, als ich ihm noch nicht bis ans Knie reichte. Und als ich älter geworden war, glaubte ich das Herz der Männer zu kennen durch und durch, aber bei Malang Shah, Tarvin Sahib, einen Mann wie Sie hatte ich nie gesehen! O sagen Sie nicht,« setzte sie beinahe flehend hinzu, »Sie hätten’s nicht gewußt! In meiner Sprache gibt’s ein Liebeslied, das heißt: ›Von Mond zu Mond nicht schlief ich deinetwegen‹, und das paßt genau auf mich. Manchmal ist mir’s, als ob ich doch nicht so ernstlich gewünscht hätte, Sie sterben zu sehen, aber besser wär’s ja freilich, viel besser, Sie wären tot. Ich und ich allein herrsche in diesem Staat. Und nun, nachdem Sie dem König gesagt haben …« »Das haben Sie mit angehört, ja?«

Sie nickte flüchtig.

»Nachdem Sie das gesagt haben, sehe ich eigentlich keine andre Möglichkeit mehr, außer Sie gingen fort.«

»Ich gehe nicht.«

»Das ist gut,« sagte die Königin auflachend. »Da werde ich also Ihren Anblick nicht entbehren, soll Sie Tag für Tag im Hof stehen sehen! Heute dachte ich, die Sonne müßte Sie töten, als Sie so lang auf den Maharadscha warteten! Sie sind mir auch noch Dank schuldig, Tarvin Sahib, denn ich habe den Maharadscha hinausgeschickt zu Ihnen. Anstatt dessen spielten Sie mir einen schlimmen Streich!«

»Meine liebe junge Dame,« sagte Tarvin mit großem Ernst, »wenn Sie Ihre boshaften kleinen Krallen einziehen wollten, würde kein Mensch Ihnen etwas zu leide thun. Aber des Maharadscha Kunwar wegen kann ich Ihnen nicht weichen. Ich bin hier, um den Knaben am Leben zu erhalten. Bleiben Sie aus dem Gras, und ich geb’s auf.«

»Das verstehe ich wiederum nicht,« versetzte Sitabhai betroffen. »Was kann Ihnen, dem Fremden, das Leben eines kleinen Kindes bedeuten?«

»Was es mir bedeutet? Was es allen anständigen Menschen bedeuten würde, das Leben eines schuldlosen Kindes. Braucht’s da besondere Gründe? Ist Ihnen denn gar nichts heilig?«

»Ich habe auch einen Sohn, und mein Kind ist kräftig,« sagte die Königin mit Nachdruck. »Tarvin Sahib der Knabe war kränklich von Geburt an. Wie soll er über Männer herrschen? Mein Sohn wird ein echter Radschpute werden und in künftigen Zeiten … doch was kümmert das einen Fremden, einen weißen Mann! Lassen Sie den Kleinen heimgehen zu seinen Göttern, Tarvin Sahib!«

»Nicht, wenn ich’s hindern kann!« entgegnete Tarvin bestimmt. »Wenn er nicht stirbt,« sprudelte die Königin weiter, »kann er neunzig Jahre lang elend dahinsiechen. Ich kenne die entartete, unreine Rasse, aus der er stammt. Ja, an den Thoren des Palastes habe ich gesungen, als wir beide Kinder waren, seine Mutter und ich – ich stand im Staub der Landstraße, sie saß in ihrer Hochzeitssänfte. Heute liegt sie im Staub. Tarvin Sahib,« – die Stimme schmolz in süßem Flehen – »mein Schoß wird keinen zweiten Sohn tragen, aber von meinem Platz hinterm Vorhang könnte ich wenigstens diesen Staat modeln, wie es viele Königinnen vor mir gethan haben. Ich bin keine Palastpflanze. Die da drinnen« – sie deutete verächtlich auf die zwinkernden Lichter der Stadt – »haben nie ein Kornfeld wogen gesehen, nie den Wind pfeifen gehört, sind nie im Sattel gesessen, sie haben nie auf offener Straße Aug‘ im Auge mit einem Mann gesprochen. Mich nennen sie die Zigeunerin, und wenn es mir einfällt, die Hand zum Bart des Maharadscha zu erheben, so verkriechen sie sich schaudernd in ihre Schleier wie fette Schnecken in ihr Haus. Ihre Barden singen von zwölfhundertjähriger Vergangenheit ihrer Vorfahren. Ja, ihr Adel ist alt! Aber bei Indur und Allah und bei dem Gott Ihrer Missionare, an Sitabhai sollen sich ihre Kinder und Kindeskinder und die englische Regierung zweimal zwölfhundert Jahre erinnern! Ahi, Tarvin Sahib, Sie wissen nicht, wie klug mein kleiner Sohn ist! Ich lasse ihn nicht zu den Missionaren gehen. Alles, was er später brauchen wird, und es gehört viel dazu, einen Staat wie diesen zu regieren, soll er von mir lernen, denn ich habe die Welt gesehen und das Leben und bin wissend geworden. Und bis Sie kamen, ging alles so glatt, so glatt, so schlankweg aufs Ziel zu. Der andre Knabe wäre gestorben – jawohl, dann wäre uns nichts mehr im Wege gestanden. Und keine Menschenseele im ganzen Palast, weder Mann noch Weib, würde je gewagt haben, dem König ins Ohr zu flüstern, was Sie laut im Licht der Sonne durch den Hof schreien! Nun wird der Argwohn nicht mehr einschlummern in des Königs Sinn und – ich weiß, ich weiß nicht …« sie beugte sich vor, um ihm recht in die Augen zu sehen, »Tarvin Sahib, wenn ich in dieser Nacht die Wahrheit geredet habe, so sagen Sie mir wenigstens, wie viel Sie wissen!«

Tarvin beharrte bei finsterem Schweigen; bittend legte sie ihm eine Hand aufs Knie.

»Und niemand würde Verdacht geschöpft haben! Als die Damen des Vizekönigs voriges Jahr hier waren, gab ich aus meinem eigenen Schatz fünfundzwanzigtausend Rupien für das Kinderspital, und die Dame Sahib küßte mich auf beide Wangen, und ich sprach englisch mit ihr und zeigte ihr, wie ich meine Zeit zubringe – mit Stricken! Ich, die ich Männerherzen zu bestricken und zu zerpflücken vermag!«

Dieses Mal pfiff Tarvin nicht; er lächelte nur und murmelte etwas Beifälliges. Der großartige, meisterliche Zug in ihrer Schlechtigkeit und die kühle Gelassenheit, womit sie ihr Uebelthun betrieb, verliehen ihr eine gewisse Vornehmheit. Vielleicht aber war es ihre vollendete Schönheit, die ihm noch mehr Achtung einflößte; für Frauenschönheit ist der Westamerikaner vor allem zugänglich. Sitabhai imponierte ihm. Es war richtig, ihre Anschläge gegen ihn waren ja mißlungen, aber daß sie ausgeführt worden waren, ohne daß er’s gemerkt hatte, erfüllte ihn beinahe mit Verehrung.

»Jetzt werden Sie zu begreifen anfangen, daß hier etwas mehr auf dem Spiel steht als ein kränkliches Kind,« fuhr die Königin fort. »Wollen Sie wirklich dem Oberst Nolan die Geschichte zutragen, Tarvin Sahib?«

»Wenn Sie nicht gesonnen sind, Ihre Hand vom Maharadscha Kunwar zu lassen, allerdings,« erwiderte Tarvin, der seinen persönlichen Gefühlen in geschäftlichen Dingen nie Raum gab.

»Klug ist es nicht,« erklärte die Königin. »Der Oberst wird dem König viel Unlust und Scherereien bereiten, der König wird im Palast großen Wirrwarr anrichten und bis auf einige wenige werden alle meine Dienerinnen gegen mich zeugen, so daß der Verdacht vielleicht sehr stark werden wird. Sie denken dann vielleicht, Sie hätten mich ja gewarnt, aber, Tarvin Sahib, ewig können Sie doch nicht hier bleiben, meinen Tod können Sie nicht abwarten, und sobald Sie Rhatore den Rücken kehren …« sie schnalzte zur Ergänzung ihres Satzes mit den Fingern.

»Diese Möglichkeit soll Ihnen genommen werden,« versetzte Tarvin unerschüttert. »Lassen Sie das nur meine Sorge sein. Wofür halten Sie mich denn?«

Die Königin nagte in innerer Unschlüssigkeit am Rücken ihres Zeigefingers. Was dieser Mann, der heil und ganz aus allen ihren Anschlägen hervorgegangen war, noch ausrichten würde oder nicht, war nicht abzusehen. Hätte sie es mit einem aus ihrem Volke zu thun gehabt, sie würde Drohung gegen Drohung ausgespielt haben, aber diese vollständig kraftbewußte Gestalt, die in leichter, unbefangener Haltung neben ihr saß und doch jede ihrer Bewegungen beobachtete, immer sprungbereit auf der Lauer lag, einzig und allein sich selbst vertrauend, war eine unberechenbare Gewalt, die sie verblüffte und um ihre Sicherheit brachte.

Ein bescheidenes Hüsteln ließ sich hören, und Juggut Singh kam herbeigewatschelt, um unter demütigen Verbeugungen der Königin einige Worte ins Ohr zu flüstern. Sie lachte spöttisch und schickte ihn auf seinen Posten zurück.

»Er sagt, die Nacht gehe auf die Neige und es koste mein und sein Leben, wenn wir beim Morgengrauen außerhalb des Palastes wären.«

»Dann will ich Sie nicht aufhalten,« sagte Tarvin, indem er aufstand. »Ich glaube, daß wir einander verstanden haben,« – er beugte sich hinunter, um ihr in die Augen zu sehen, – »Hände weg! heißt die Losung.« »Ich soll also nicht mehr thun dürfen, was mir gefällt? Sie wollen morgen zum Oberst gehen?«

»Je nachdem,« sagte Tarvin kurz.

Als er jetzt wieder auf sie niedersah, schob er die Hand in seine Brusttasche.

»Setzen Sie sich noch einen Augenblick, Tarvin Sahib,« sagte sie, einladend mit der Handfläche auf die Steinplatte klopfend.

Tarvin gehorchte.

»Wenn ich keine Balken mehr stürzen lasse und die grauen Affen an der Kette halte …«

»Und den Triebsand im Flußbett wegschaffe,« ergänzte Tarvin mit grimmigem Lächeln. »Ich verstehe! Mein lieber kleiner Feuerteufel, das können Sie nach Belieben halten! Ich möchte Sie Ihrer kleinen Freuden gewiß nicht berauben!«

»Das war dumm von mir – ich hätte ja wissen müssen, daß keine Gefahr Sie schreckt,« sagte sie, bedächtig zu ihm hinüber schielend, »und mich schreckt kein Mann außer Ihnen, Tarvin Sahib. Wenn Sie ein König wären und ich die Königin, wir beide würden Hindostan in unsern Händen halten.«

Bei diesen Worten umfaßte sie seine geschlossene Faust, und eingedenk des Griffes in ihr Gewand, den sie bei seinem Pfiff gethan hatte, legte Tarvin die andre Hand über die ihrigen und hielt sie fest.

»Gibt es gar keinen Preis, Tarvin Sahib, wofür ich mir die Freiheit erkaufen könnte? Was ist’s, wonach Sie trachten? Um den Maharadscha Kunwar am Leben zu erhalten, sind Sie doch nicht nach Indien gekommen!«

»Woher wissen Sie, ob dem nicht so ist?«

»Sie sind sehr klug,« sagte sie mit silbernem Lachen, »aber man muß nicht noch klüger scheinen wollen, als man ist! Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie gekommen sind?«

»Nun, warum? Sprechen Sie.« »Sie sind hierher gekommen, wie Sie in den Tempel des Isvara gingen, um etwas zu suchen, was Sie nie finden werden, außer« – sie lehnte sich an seine Schulter – »Sitabhai hilft Ihnen. War es sehr kalt im Kuhmaul, Tarvin Sahib?«

Tarvin steifte seinen Nacken und seine Stirn furchte sich, aber weiter verriet er sich nicht.

»Damals hatte ich Angst, die Schlangen könnten Sie gebissen haben …«

»Wahrhaftig?«

»Ja, gewiß,« sagte sie sanft. »Und neulich war ich in Sorge, Sie könnten nicht rasch genug zurücktreten von dem Wippstein im Tempel.«

»Wahrhaftig?«

»Jawohl. Ach, ich wußte genau, wonach Ihr Sinn stand, ich wußte es, noch eh‘ Sie dem König Ihre Bitte vorgetragen hatten – damals, als die Leibwache gegen Sie anritt.«

»Wirklich nett! Sie stehen in Ihren Mußestunden wohl einem Privatauskunftsbureau vor?«

Sie lachte.

»Im Palast singt man jetzt Lieder von Ihrer Tapferkeit, aber die kühnste Ihrer Thaten ist, daß Sie mit dem Maharadscha vom Naulahka gesprochen! Er hat mir genau erzählt, was Sie gesagt haben, aber daß Sie, daß ein ›Feringhi‹ nach seinem Besitz lüstern sein könnte, das hat auch er sich nicht träumen lassen! Und ich, ich war gut – ich hab’s ihm nicht gesagt. Tarvin Sahib,« fuhr sie fort, indem sie ihre Hände aus seinem Griff befreite und ihm die eine zärtlich auf die Schulter legte, »Sie und ich, wir gehören zusammen, wir sind Eines Geistes Kinder! Leichter ist es, diesen Staat zu regieren, nein, leichter wäre es noch, von diesem Staat aus ganz Hindostan zu erobern und die weißen Hunde, die Engländer, hinauszutreiben, als das, was Sie zu vollbringen träumen. Aber ein starkes Herz macht alles möglich, alles leicht. Begehren Sie für sich selbst nach dem Naulahka, Tarvin Sahib, oder für einen andern, gerade wie ich Gokral Sitarun besitzen will für meinen Sohn? Kleinlich sind wir beide nicht. Ist es für einen andern, Tarvin Sahib?«

»Sagen Sie mir,« fragte Tarvin achtungsvoll, indem er ihre Hand von seiner Schulter löste und wieder fest umspannt hielt, »gibt es viele wie Sie in Indien?«

»Nur eine. Ich bin wie Sie einzig und – einsam.«

Ihr Kinn neigte sich gegen seine Schulter und die dunkeln Augen blickten von unten zu ihm auf, geheimnisvoll wie die Wasserfläche, an deren Rand sie saßen. Die brennenden Lippen und die beweglichen, zuckenden Nüstern waren so dicht in seiner Nähe, daß ihr duftender Atem seine Wangen streifte.

»Wollen Sie auch Staaten beherrschen wie ich, Tarvin Sahib? Nein, Ihr Dichten und Trachten gilt einem Weib. Ihre Regierung denkt für Sie, und Sie thun, was Ihnen befohlen wird. Ich habe den Kanal, den die Regierung durch meinen Orangengarten führen wollte, einen andern Weg gehen heißen, wie ich den König meinen Willen beugen und den Knaben töten und Gokral Sitarun beherrschen werde durch meinen Sohn! Aber Sie, Tarvin Sahib, Sie begehren nichts als ein Weib! Ist es nicht so? Ach, und sie ist zu klein und zu schmächtig, um die Last des Staatsglücks zu tragen. Sie wird ja bleicher und bleicher von Tag zu Tag.«

Sie fühlte, wie Tarvin zusammenzuckte, aber er sagte nichts. Aus dem Dickicht von Schilf und Buschwerk, das am jenseitigen Ufer des Teiches stand, ertönte ein heiseres, bellendes Husten, das von den Höhen widerhallte und den ganzen Umkreis mit Schrecken erfüllte, wie Wasser eine Schale füllt. Tarvin sprang auf: er hörte ihn zum erstenmal, den zornigen Klagelaut des Tigers, der ums Morgengrauen nach fruchtloser nächtlicher Jagd sein Lager aufsucht. »Das hat nichts zu bedeuten,« sagte die Königin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Es ist nur der Tiger, der beim Dungar Talao haust. Ich habe ihrer viele heulen hören, als ich noch eine Zigeunerin war, und wenn er auch hierher käme – Sie würden ihn niederschießen wie meinen Affen, nicht wahr?«

Sie drängte sich an ihn und zog ihn zu sich hernieder; unwillkürlich legte er den Arm um ihre Gestalt.

Der Schatten des Tieres glitt über eine offene Stelle im Röhricht, lautlos wie Distelwolle durch die Sommerluft gleitet, und Tarvins Hand schloß sich enger um den blühenden Leib – seine Hand ruhte plötzlich auf einem gebuckelten Gürtel, der sich durch all die Hüllen von Seidengaze kalt anfühlte.

»So klein und so schmächtig – wie sollte sie es tragen?« fuhr die Königin leise fort.

Sie machte eine leise Wendung in seinem Arm, und Tarvins Hand faßte ein zweites, ein drittes Glied der breiten Kette, alle wie das erste mit hohen Buckeln, und nun drückte sich sein Ellbogen gegen eine große viereckige Schnalle. Mit entfärbten Lippen, aber seine Bewegung meisternd, zog er Sitabhai noch näher an sich.

»Aber wir beide,« fuhr sie ganz leise fort, traumverloren zu ihm aufblickend, »wir könnten dieses Königreich zum Kampf aufhetzen wie die Wasserbüffel im Frühling. Möchten Sie mein Minister sein, Tarvin Sahib, und Staatsgeschäfte mit mir beraten durch den Vorhang?«

»Ich zweifle, ob ich Ihnen vertrauen könnte,« sagte Tarvin schroff.

»Und ich zweifle, ob ich mir trauen könnte,« versetzte die Königin. »Es könnte sein, daß ich zur Dienerin würde, ich, die ich allezeit Herrscherin war! Ich war nahe daran, mein Herz unter die Hufe Ihres Rosses zu werfen, nicht einmal, sondern oft …«

Sie schlang Ihre Arme um seinen Hals und verschränkte die Hände in seinem Nacken; sein Gesicht zu sich herunterziehend, blickte sie ihm tief in die Augen.

»Ist es so wenig,« girrte sie, »wenn ich Sie zu meinem König mache? In den alten Zeiten, ehe wir das indische Kaiserreich hatten, kamen Engländer herüber, Männer ohne Rang und Titel, sie wußten sich ins Herz einer Begum zu stehlen und führten ihre Soldaten ins Feld … sie waren Könige, nur nicht dem Namen nach. Wer weiß, ob die alten Zeiten nicht wiederkehren … dann könnten wir miteinander unsre Heere führen.«

»Das läßt sich hören! Halten Sie mir jedenfalls den Posten offen, vielleicht bewerbe ich mich darum, wenn ich daheim etliches erledigt habe.«

»Sie wollen fort? Sie wollen uns bald verlassen?«

»Sobald ich in Händen habe, was ich haben will, meine Liebe,« erwiderte er, sie fester an sich drückend.

Sie biß sich auf die Lippen, sagte aber sanft: »Ich hätte mir’s denken können! Auch ich gebe nie auf, wonach mich einmal verlangt hat. Nun, was ist es denn?«

Ihr Kopf sank vollends auf seine Schulter, um die Mundwinkel zuckte es schmerzlich. Herunter blickend, entdeckte er den rubinenen Griff eines Dolchs zwischen den Falten des hängenden Gewandes.

Mit einer raschen Bewegung löste er sich aus den umschlingenden Armen und sprang auf. Sie sah hinreißend aus, wie sie in dem dämmernden Licht die Arme stehend nach ihm ausstreckte, aber Tarvin hatte jetzt andre Dinge zu bedenken. Wie er sie jetzt ansah, mußte sie die Blicke senken.

»Ich will, was Sie um den Leib tragen – darum bitte ich.«

»Der weiße Mann denkt nur an Geldeswert, das hätte ich wissen können,« rief sie verächtlich, löste eine silberne Kette von ihrem Gewand und warf sie ihm hin, daß sie klirrend auf die Marmorplatte schlug. Tarvin würdigte das Ding keines Blicks.

»Sie kennen mich besser,« sagte er ruhig. »Kommen Sie, halten Sie die Hände auf – die Komödie ist zu Ende.«

»Ich verstehe nicht … soll ich Ihnen etwa ein paar Rupien geben?« höhnte sie. »Sputen Sie sich mit Ihren Wünschen, Juggut Singh bringt die Pferde.«

»Das soll schnell geschehen sein. Ich will das Naulahka haben.«

»Das Naulahka?«

»Jawohl. Ich habe wackelige Brücken und ungegürtete Pferde und schlecht gebaute Gerüste und trügerischen Flugsand satt. Ich will das Halsband haben.«

»Und Sie überlassen mir den Prinzen?«

»Nein, weder den Prinzen, noch das Halsband.«

»Und werden Sie morgen früh zum Oberst gehen?«

»Der Morgen ist schon da. Entscheiden Sie sich rasch.«

»Werden Sie zum Oberst gehen?« wiederholte sie, dicht vor ihn hintretend. »Gewiß, falls Sie mir das Halsband nicht geben.«

»Und wenn ich’s Ihnen gebe?«

»So gehe ich nicht hin. Soll der Handel gelten?«

Genau dasselbe hatte Tarvin zu Frau Mutrie gesagt.

Die Königin sah verzweifelt zu dem Morgenstern empor, der am östlichen Himmel zu verblassen begann. Wenn der Tag sie außerhalb des Palastes fand, konnte selbst des Königs Wille sie nicht vor dem Tod bewahren.

Und dieser Mann sprach, als ob er ihr Leben in Händen hielte, und dem war auch so, sie wußte es wohl. Wenn er Beweise hatte, würde er sie ohne Bedenken dem Maharadscha vorlegen, und wenn der Maharadscha zu begreifen, zu zweifeln anfing – Sitabhai war’s, als ob sie den kalten Stahl schon an ihrem schlanken Hals fühle. Dann würde sie sicher nicht als Begründerin einer Dynastie gefeiert werden, eine Namenlose mehr, die im Palast verschwand, das war ihr Schicksal. Des Königs Begriffsvermögen war ja barmherzigerweise zu umnebelt gewesen, um Tarvins Verdächtigungen in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, aber jetzt war sie wehrlos allem preisgegeben, was dieser rücksichtslos entschlossene Fremde gegen sie unternehmen wollte. Mindestens konnte er den ungreifbaren Argwohn eines indischen Hofstaates gegen sie entfesseln, konnte durch Oberst Nolans Vermittlung den Maharadscha Kunwar vollständig ihrer Macht entziehen, und schlimmstenfalls – sie mochte den Gedanken nicht weiter verfolgen.

In ihrem innersten Herzen fluchte sie der erbärmlichen Neigung, die sie für den Mann empfand und die sie gehindert hatte, ihn zu töten vorhin, als ihre Arme ihn umfangen hielten. Ihn zu töten, war ihr fester Entschluß gewesen, als sie herkam, dann hatte es sie gereizt sich mit ihm zu messen, und schließlich hatte sie mit dem berückenden Gefühl, sich von einem stärkeren Willen beherrscht zu fühlen, zu lange ihr Spiel getrieben. Aber noch war es ja Zeit …

»Und wenn ich Ihnen das Naulahka nicht gebe?«

»So wissen Sie wohl am besten, was die Folge sein wird.«

Ihr Blick schweifte über die weite Ebene und sie merkte, daß die Sterne nur noch schwache Leuchtkraft hatten. Die tiefschwarze Wasserfläche wurde heller, sie schimmerte jetzt grau und im Röhricht erwachten die wilden Vögel. Die Morgendämmerung war ihr auf den Fersen, erbarmungslos gleich diesem Mann. Juggut Singh führte die Pferde vor; mit verzweifelten Gebärden drängte er zum Aufbruch. Der Himmel war gegen sie und auf Erden keine Hilfe.

Sie legte die Hände auf den Rücken. Tarvin hörte ein scharfes Knacken, und wie eine Feuerschlange lag das Halsband zu ihren Füßen.

Ohne ihm oder dem Schmuck den Blick zuzukehren, schritt sie auf die Pferde zu. Tarvin bückte sich rasch und riß den Schatz an sich. Während er das Halsband in seine Brusttasche zwängte, faßte er mit der andern Hand nach dem Zügel des Pferdes, das Juggut Singh losgelassen hatte.

Wieder überzeugte er sich, ob der Sattelgurt in Ordnung sei. Sitabhai, die hinter ihr Pferd getreten war, zögerte aufzusteigen.

»Leben Sie wohl, Tarvin Sahib! Vergessen Sie die Zigeunerin nicht,« sagte sie, den einen Arm über den Hals des Pferdes ausstreckend. »Hehi!«

Tarvin sah einen Lichtblitz aufzucken und im nächsten Augenblick den rubinfunkelnden Dolchgriff in die Satteldecke fahren, nur einen Zoll über seiner rechten Schulter. Mit einem Schmerzenslaut rannte sein Pferd auf den Hengst der Königin zu.

»Töte ihn, Juggut Singh!« rief sie, auf Tarvin deutend, dem feisten Eunuchen zu, der sich eben schwerfällig in den Sattel hob. »Töte ihn!«

Tarvins Hand umfaßte ihr zartes Handgelenk wie eine eiserne Klammer.

»Nur sachte, Teuerste! Sachte!«

Sie sah ihn betroffen an.

»Ich will Sie aufs Pferd heben,« sagte Tarvin.

Er umschlang sie mit beiden Armen und schwang sie in den Sattel.

»Jetzt noch einen Kuß,« sagte er, zu ihr aufblickend.

Sie beugte sich herunter.

»Nein, nicht Sie,« sagte er, ihre beiden Hände gefangen nehmend und sie herzhaft auf den Mund küssend.

Dann versetzte er dem Pferde einen schallenden Schlag auf die Flanken, daß das Tier den Abhang hinunterstolperte und über die Ebene jagte.

Nachdem Tarvin der Wolke von Staub und fliegenden Steinen, worin Sitabhai und ihr Begleiter verschwanden, eine Weile nachgesehen hatte, that er einen tiefen Atemzug der Erleichterung und wandte sich dem Teich zu. Auf der Steinplatte des Grabmals zog er das Naulahka hervor, breitete es zärtlich auf seinen Händen aus und weidete seine Augen daran.

Die Steine funkelten im Morgenrot und machten die wechselnden Farben der Hügel zu schanden. Wie sie am Hals des kleinen Prinzen den Fackelschein überstrahlt hatten, so nahmen sie jetzt den Wettkampf auf mit der roten Glut, die plötzlich hinter dem Röhricht aufschoß, und bezwangen auch diese. Das zarte, frische Grün der Binsen, das tiefe starke Blau des ruhenden Wassers, den Perlmutterschimmer der blitzschnell dahinschießenden Fische und auch die ersten blendenden Sonnenstrahlen, die über den Spiegel des Wassers hinschossen und leise Kreise zogen, als ob ein Flug Rebhühner ihn mit den Flügeln gestreift hätte – das Halsband überstrahlte alles. Nur der schwarze Diamant fühlte sie nicht mit, die Freudigkeit des werdenden Tages, er ruhte unter den funkensprühenden Genossen finster und rotherzig wie die bange Nacht, der Tarvin ihn entrissen hatte.

Tarvin ließ die Steine einen nach dem andern durch die Hand gleiten. Es waren ihrer fünfundvierzig, einer wie der andre tadellos, von reinstem Wasser. Damit von ihrer Schönheit nichts verloren gehe, waren sie nur in fadendünne Goldreifchen gefaßt und bewegten sich frei auf dem mattgoldenen Band, das sie aneinander reihte. Jeder einzelne davon hätte eines Königs Lösegeld bilden können, wog den guten Namen einer Königin auf.

Das war eine gute Viertelstunde für Tarvin, der Brennpunkt seines Lebens. Die Zukunft von Topaz war gesichert.

Die Wildenten strichen hin und her auf dem Teich, die Kraniche riefen einander zu und stolzierten durch das Röhricht, das über ihren scharlachroten Köpfen zusammenschlug. Aus irgend einem Tempel, der in einer Ritze des zerklüfteten Hügellandes stecken mochte, erklang das Morgenlied, das der Priester bei seinem Frühopfer anstimmt, und von der Stadt trug ein leichter Wind die Klänge des Trommelwirbels herüber, womit den Bewohnern angezeigt wurde, daß die Thore offen stehen und der Tag erschienen ist.

Tarvin blickte auf von seinem Schatz. Vor seinen Füßen lag Sitabhais funkelnder Dolch; er griff nach der zierlichen Waffe und warf sie in den Teich.

»Und nun geht’s an Käte,« sagte er sich.

Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Der Palast schien noch friedlich zu schlummern auf seinem roten Felsenthron, als Tarvin jetzt zur Stadt zurückritt. Aus einem der Stadtthore, die rechtwinkelig zu seinem Pfad lagen, kam ein Kamelreiter heraus, und Tarvin betrachtete mit Interesse, wie rasch die langen Beine dieses Tieres ausgreifen können. So vertraut ihm auch der Anblick der straußhalsigen Lasttiere allmählich geworden war, einigermaßen riefen sie ihm immer noch die Erinnerung an seine Knabenzeit und den Zirkus wach. Der Reiter kam näher und kreuzte vor ihm die Straße. Dann hörte Tarvin in der Stille des Morgens einen ihm wohlbekannten Laut, das Knacken eines Flintenschusses, und zwar, wie er deutlich erkannte, das eines Repetiergewehrs. Instinktiv glitt er aus dem Sattel und stand schon jenseits seines Pferdes, als ein Schuß fiel und ein Wölkchen blauen Rauches über dem Kamel aufstieg und unbeweglich in der Luft hängen blieb.

»Hätte mir’s denken können, daß Sitabhai früh an die Arbeit geht,« brummte er über den Widerrist des Pferdes, wegspähend. »Für meinen Revolver ist die Entfernung leider zu groß … ja, worauf wartet denn der Narr?«

Jetzt ward ihm klar, daß der Mann mit echt indischer Ungeschicklichkeit den Knopf festgeklemmt haben mußte, denn er schlug die Flinte wütend vor sich auf den Sattel. Hastig schwang sich Tarvin wieder aufs Pferd und sprengte hinzu, den Revolver in der Faust, um auf das bleiche Gesicht Juggut Singhs anzulegen.

»Sie sind’s? Aber, Juggut Singh, hübsch ist das gerade nicht von Ihnen!«

»Es wurde mir befohlen,« versetzte der vor Angst schlotternde Mörder. »Ich bin wirklich ganz unschuldig und ich … ich verstehe mich gar nicht auf solche Dinge.«

»Das ist zum Lachen – ich will’s Ihnen zeigen!«

Und Tarvin nahm ihm die Flinte aus den zitternden Händen.

»Die Patronenhülse ist verbogen, so kann man nicht gut schießen, man braucht sie aber nur ein wenig auszuklopfen – sehen Sie – so! Das sollten Sie wirklich lernen, Juggut.«

Damit warf er die leere Hülse über seine Schulter.

»Und was werden Sie nun mit mir machen, Sahib?« rief der Eunuche kläglich. »Sie würde mich umgebracht haben, wenn ich nicht gegangen wäre!«

»Glauben Sie nur das nicht, Juggut! Sie ist eine Teufelin in der Theorie, aber in der Praxis hält die Kraft nicht vor. So, jetzt reiten Sie gefälligst voran.«

So setzten sich denn beide in der Richtung nach der Stadt in Bewegung, Juggut Singh aber drehte sich häufig im Sattel, um furchtsame Blicke nach rückwärts zu werfen. Tarvin nickte ihm, die erbeutete Flinte auf seiner Hüfte wiegend, beruhigend zu. Richtig gebraucht, war es übrigens eine vortreffliche Flinte, hatte Tarvin gefunden.

Am Eingang von Sitabhais Palastflügel stieg der Eunuche ab und schlurkte, ein wahres Bild der Angst und Beschämung, über den Hof. Tarvin ritt ihm klappernd nach, und als er eben durch eine von den Thüren verschwinden wollte, rief er ihn zurück.

»Sie haben ja Ihr Gewehr vergessen, Juggut; zu fürchten, brauchen Sie sich nicht davor.«

Trotzdem streckte Juggut nur zögernd die Hand danach aus.

»Geschadet hat ja der kleine Scherz niemand. Melden Sie sich bei der Dame als glücklich zurückgekehrt und bestellen Sie ihr meinen Dank für die Aufmerksamkeit!«

Nicht der leiseste Ton drang zwischen den grünen Gitterstäben hervor, als Tarvin aus dem Hof ritt. Der Thorbogen spie weder Balken noch Steine aus und die Affen lagen ruhig an der Kette. Auf ihren nächsten Schachzug mußte sich Sitabhai offenbar erst besinnen.

Tarvin war sich vollständig im klaren, was er zunächst zu thun hatte – wenn je, so war jetzt eine Fanfare angezeigt.

So ritt er denn spornstreichs zur Moschee hinaus, riß seinen taubengrauen Freund aus süßem Schlummer und übergab ihm folgende Botschaft zur Beförderung:

»Frau Mutrie, Denver.
»Halsband Ihr Eigentum. Hals bereit halten. Schienen legen nach Topaz.

Tarvin.«

Im Rasthaus wechselte er nur sein Pferd und dann ging’s zu Käte. Er knöpfte seinen Rock fest zu, betastete von Zeit zu Zeit zärtlich die Tasche, die das Naulahka barg, und stieg, nachdem er Fibby im Hof angebunden hatte, die Stufen zur Veranda hinauf. Frau Estes war die erste, die ihm entgegentrat und ihm die gehobene Stimmung, seine Zufriedenheit mit sich und der Welt, von den Augen ablas.

»Sie haben Angenehmes erlebt oder gehört,« rief sie. »Bitte, kommen Sie herein!«

»Das Angenehmste oder Zweitangenehmste, was zu erleben war,« versetzte er lächelnd, indem er ihr ins Familienzimmer folgte. »Ich würde es Ihnen für mein Leben gern erzählen, Frau Estes, ich ersticke fast daran, wenn ich’s niemand erzähle, aber für Leute, die in der Gegend wohnen, ist die Geschichte nicht zuträglich. Meinem Geschmack nach würde ich am liebsten den Ausrufer dingen und ein paar Musikanten dazu, um das Ereignis bekannt zu machen, und wir würden ein Freudenfeuer anzünden und so eine Art 4. Juli feiern, wobei ich die Unabhängigkeit von den Eingeborenen mit Begeisterung erklären wollte, aber es geht leider Gottes nicht. Etwas andres aber kann ich Ihnen sagen. Sie vermuten wohl, weshalb ich so oft hier bin, Frau Estes, das heißt abgesehen davon, daß Sie so gütig gegen mich sind, daß ich Sie und Ihren Mann sehr gern habe und mich riesig freue, mit Ihnen plaudern zu können? Aber den andern Grund, den haben Sie wohl erraten?«

»Ich glaube fast,« erwiderte Frau Estes lächelnd.

»Nun, das freut mich! Freut mich rechtschaffen, muß ich sagen! Dann darf ich wohl auch hoffen, daß Sie auf meiner Seite sind.«

»Wenn Sie meinen, daß ich Ihnen alles Glück wünsche, gewiß! Aber Sie werden begreifen, daß ich für Fräulein Sheriff eine gewisse Verantwortlichkeit fühle … ich bin manchmal mit mir zu Rat gegangen, ob ich nicht an ihre Mutter schreiben soll und ihr mitteilen …«

»Ach! Ihre Mutter weiß alles, die ist voll davon, und ich darf wohl sagen, es wäre ihr höchster Wunsch. Dort liegt die Schwierigkeit nicht, aber anderswo, Frau Estes!«

»Ja, ja, ich verstehe Sie. Ein eigentümliches Mädchen, ebenso stark als weich. Ich habe sie fest ins Herz geschlossen und bewundre ihren hohen Mut, und doch war‘ mir’s lieber, sie hätte ihn nicht und würde aufgeben, was sie damit erkämpft. Als Frau wäre sie ganz gewiß besser an ihrem Platz,« setzte die Missionarin überlegend hinzu.

»Wie verständig Sie sind!« sagte Tarvin mit einem bewundernden Blick. »Wie verständnisvoll! Ganz dasselbe habe ich ihr wohl hundertmal gesagt! Und sind Sie ferner nicht auch der Ansicht, Frau Estes, es wäre am besten, sie würde vom Fleck weg heiraten, ohne allen Zeitverlust?«

Frau Estes sah ihn forschend an; dieser Tarvin war ihr manchmal etwas unverständlich und verblüffend.

»Ich meine, wenn Sie klug sind , so stellen Sie den Zeitpunkt dem Lauf der Ereignisse anheim,« entgegnete sie nach einer Weile. »Wir haben ihr Werk hier beobachtet mit der sehnlichen Hoffnung, daß ihr gelingen möchte, was noch keinem gelungen ist, aber mein innerstes Gefühl sagt mir, daß es nicht der Fall sein wird. Sie hat zu viel gegen sich. Tausendjährige Ueberlieferung, Lebensgewohnheiten, Erziehung, alles steht ihr entgegen, und früher oder später wird die Niederlage kommen. Darein muß sie sich ergeben, trotz ihrer Entschlossenheit und Tapferkeit. In der letzten Zeit habe ich manchmal denken müssen, der Kampf könnte ihr nahe bevorstehen; im Spital herrscht große Unzufriedenheit, Mein Mann hat manches gehört, was uns sehr beunruhigt.«

»Beunruhigt! Das will ich meinen! Das ist ja gerade das Schlimme an der Geschichte … nicht nur, daß sie mich warten und mitunter verzweifeln läßt, Frau Estes, sondern daß sie mittlerweile in die unerdenklichsten Gefahren rennt! Aber jetzt habe ich keine Zeit mehr abzuwarten, daß sie das einsieht, ich muß ihr beibringen, daß es jetzt die allein richtige Zeit wäre, Nikolas Tarvins Frau zu werden. Ich muß fort von Rathore, das ist der langen Rede kurzer Sinn, Frau Estes! Fragen Sie nicht warum, es muß sein. Und ich muß Käte unbedingt mitnehmen – wenn sie Ihnen lieb ist, so helfen Sie mir!«

Frau Estes gab die beste Antwort, die sie geben konnte, sie sagte, sie wolle hinaufgehen und Käte seinen Besuch melden. Diese Meldung schien viel Zeit zu kosten, aber Tarvin wartete nicht nur geduldig, sondern mit zuversichtlichem Lächeln. Er zweifelte jetzt gar nicht mehr, daß Käte sich herumbringen lassen werde; in der Trunkenheit des einen Erfolgs wäre es ihm unmöglich gewesen, am andern zu zweifeln. Trug er nicht das Naulahka in der Brusttasche? Käte gehörte dazu, sie war unlöslich damit verknüpft. Immerhin war er ganz gewillt, die Hilfe, die sich ihm bot, anzunehmen, und er dachte mit Vergnügen, daß Frau Estes dabei sei, ihr kräftig und lang zuzureden.

Plötzlich entdeckte er auf einem Tischchen eine neue Nummer des Topazer Tageblatts, und als er sie durchlas, stieß er abermals auf ein gutes Omen! Er hatte sich nicht getauscht in seinem Vertrauen auf die »Zögernde Ader,« die Leute, die in seinem Auftrag die Mine bearbeiteten, hatten jetzt wirklich eine ergiebige Ader gefunden und man förderte in der Woche für fünfhundert Dollar Erz zu Tage! Er steckte das Blatt in die Tasche und überwand mannhaft die Lust, Freudensprünge zu machen – vielleicht war es doch ratsam, mit dieser Leibesübung zu warten, bis er Käte gesprochen hatte! Den kleinen Freudenpfiff, den er sich zum Trost gestatten wollte, mußte er auch unterlassen, denn jetzt kam diese Käte zur Thür herein, und die mußte er doch mit einem Lächeln begrüßen. Sie hatte ja jetzt überhaupt keine Wahl mehr, und sein Lächeln war allerdings geeignet, ihr das klar zu machen.

Der erste Blick in ihr Gesicht belehrte ihn jedoch, daß ihr die Sache noch lange nicht so fadengerade vorkam. Das konnte er damit entschuldigen, daß sie ja den Ursprung seiner inneren Gewißheit noch gar nicht kannte. Er hielt sich sogar damit auf, das graue mit schwarzem Samt besetzte Hauskleid zu beachten, das sie heute trug, nachdem er sie all die Zeit her nur in Weiß gesehen hatte.

»Freut mich, daß du für eine Weile das Weiß aufgegeben hast,« bemerkte er, ihr die Hand schüttelnd. »Ich nehm’s für ein Zeichen, daß du in den gemütlichen Zuständen dieses gesegneten Lands überhaupt ein Haar gefunden hast, und in der Stimmung wünsche ich dich zu finden. Ich möchte, daß du die Geschichte aufgäbest.«

Er hielt dabei ihre schmale, abgearbeitete Hand in der braunen Tatze fest, die aus seinem weißen Aermel hervorkam, und sah ihr gespannt in die Augen.

»Was für eine Geschichte?«

»Indien – die ganze Geschichte. Ich möchte, daß du mit mir heimkämst,« sagte er sanft.

Jetzt blickte sie zu ihm auf, und er sah um ihre Mundwinkel Spuren des Kampfes, den sie mit Frau Estes ausgefochten haben mochte.

»Du willst abreisen? Ich bin sehr froh darüber … du verstehst doch warum?«

Die letzten Worte hatte sie mit der deutlichen Absicht einer Freundlichkeit hinzugesetzt.

Tarvin nahm lachend Platz.

»Ja, ich kenne dich: Abreisen werde ich allerdings, aber nicht allein, du gehörst auch dazu,« versicherte er, ihr zulächelnd.

Sie schüttelte schweigend den Kopf.

»Nein, Käte, sag‘ das nicht! Du darfst es nicht sagen … Dieses Mal wird es Ernst.«

»War es das nicht immer?« fragte sie, sich ebenfalls setzend. »Für mich war es immer bitterer Ernst, nicht thun zu können, was du von mir haben willst, meine ich. Es nicht zu thun, das heißt etwas andres thun zu müssen, was für mich die ernsthafteste Sache von der Welt. Seither hat sich nichts verändert, Nick, weder um mich noch in mir. Wenn das geschehen wäre, hätt‘ ich dir’s gleich gesagt. Was soll denn jetzt anders geworden sein für uns beide?«

»Mancherlei. Zum Beispiel, daß ich Rhatore notwendig verlassen muß, und daß ich dich zurücklasse, wirst du mir hoffentlich nicht zutrauen.«

Käte hatte viel zu sehen an ihren eigenen Händen, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Erst nach einer Weile blickte sie auf und sah ihm fest in die Augen.

»Nick,« begann sie, »ich möchte dir gern erklären, wie ich die ganze Frage ansehe, was ich darüber denke. Findest du meine Anschauungen unrichtig, so kannst du mir’s ja sagen.«

»Selbstverständlich sind sie durch und durch verkehrt!« rief er, sich nichtsdestoweniger gespannt vorbeugend.

»Nun, laß mich’s doch versuchen! – Du willst mich zur Frau haben?«

»Ja, das will ich,« versetzte Tarvin feierlich. »Gib mir Gelegenheit, das vor einem Pfarrer zu wiederholen!«

»Ich bin dir dankbar dafür, Nick. Es ist ein Geschenk, das größte und höchste, das ein Mann geben kann, und ich danke es dir. Aber was verstehst du eigentlich unter Heiraten – darf ich dich das fragen, Nick? Du möchtest, daß ich dein Leben abrunde, daß du mich neben andern Dingen, wonach du trachtest, auch hättest. Ist dem nicht so? Sag‘ mir’s ehrlich, Nick, habe ich recht oder nicht?«

»Nein, du hast nicht recht!« brüllte Tarvin.

»Aber es ist so! Die Ehe ist immer so und von Rechts wegen. Heiraten heißt, in einem andern Menschen aufgehen, nicht mehr sein eigenes, sondern eines andern Leben leben. Das ist gut, das ist das richtige Frauenleben. Ich habe gar nichts dagegen, es stößt mich nicht ab, ich glaube, daß andre ihr Glück darin finden, nur mich kann ich nicht hineindenken. Eine Frau, die heiratet, gibt ihr Selbst auf, schenkt sich her in jeder glücklichen Ehe. Ich kann aber mein ganzes Selbst gar nicht hergeben, denn ich hab’s nicht mehr, es gehört etwas anderm. Und einen Teil von mir kann ich dir nicht anbieten; wohl wäre er so groß, wie der Teil, den der Mann der Frau von sich gibt, aber der Mann kann sich damit nicht begnügen, er muß alles fordern.«

»Das heißt also, du müssest deine Arbeit aufgeben oder mich, und letzteres wird dir leichter?« »Das habe ich nicht gesagt, Nick, aber war’s denn so unbegreiflich, wenn ich’s sagte? Sei doch ehrlich Nick! Stell dir doch vor, daß ich von dir verlangte, du solltest alles aufgeben, was deines Lebens Zweck und Inhalt ist. Wenn ich fordern wollte, daß du deine Arbeit aufgibst? Und was würde ich dir dagegen bieten? Die Ehe! Nein, nein! Die Ehe ist etwas sehr Schönes, aber welcher Mann würde diesen Preis dafür bezahlen?«

»Ja, mein liebes Kind, aber die Frau? Die bezahlt diesen Preis doch gern!«

»Die glückliche, die zum Glück geborene Frau, ja, aber nicht jeder ist es gegeben, in der Ehe das Einzige zu sehen. Sogar für Frauen gibt es mehr als einen Lebenszweck.«

»Nun höre aber einmal, Käte, ein Mann ist doch kein Waisenhaus und kein Heim für Obdachlose! Du nimmst den Mann wirklich gar zu ernsthaft. Du stellst dir die Ehe offenbar vor wie eine Wohlthätigkeitsanstalt, der man seine ganze Zeit und Kraft widmen muß. Im Anfang allerdings sieht es ungefähr so aus und man stellt sich so an, als ob man nichts mehr daneben treiben könnte, in der Praxis aber braucht man nur ein paar Gesellschaften mitzumachen, einer halbjährlichen Generalversammlung beizuwohnen, ein oder zwei Gartenfeste anzuordnen, um die Geschichte im Gang zu erhalten. Wenn du heiratest, verpflichtest du dich zu nicht viel weiter, als mit einem Mann zu frühstücken und des Abends, wenn er heimkommt, in keinem allzu häßlichen Kleid am Kamin zu sitzen oder doch nicht zu weit davon. Das ist doch keine so fürchterliche Zumutung, oder doch, Käte? Versuch’s einmal mit mir und du wirst sehen, wie leicht ich dir die Sache mache! Von der andern Hingebung weiß ich ja auch, und ich begreife vollkommen, daß dir das Leben unerträglich wäre, wenn du außer deinem Mann nicht noch eine Menge Leute glücklich machen könntest. Ich anerkenne diese Thatsache, ich lege sie unserm Vertrag zu Grund, ja ich sage, gerade so will ich’s haben. Du hast nun einmal das Talent, die Menschheit zu beglücken, und ich verlange nur, daß du bei mir anfängst. Ist das geschehen – und du sollst sehen, wie leicht es bei mir geht – so freue ich mich nur, wenn du das Geschäft draußen fortsetzen und die ganze Welt in einen Blumengarten verwandeln wirst. Und das wirst du thun, oder besser noch, Käte, wir wollen’s zusammen fertig bringen. Man hat noch gar keine Idee davon, wie gut zwei Leute sein können, wenn sie ein Kompaniegeschäft in Wohlthätigkeit betreiben. Das ist nur noch nicht probiert worden – versuch‘ du’s mit mir. O Käte, ich liebe dich, ich brauche dich, und wenn du mich nur gewähren lassen willst, so schaffe ich dir ein Leben, wie du es brauchst!«

»Ich weiß es wohl, Nick, du würdest sehr gut gegen mich sein, du würdest alles für mich thun, was ein Mann thun kann. Aber nicht der Mann macht die Ehe glücklich oder auch nur möglich, das thut die Frau und muß es thun. Entweder würde ich daheim meine Pflicht erfüllen und die andre vernachlässigen, dann wäre ich todunglücklich, oder ich würde dich vernachlässigen und noch viel unglücklicher sein. Welchen Weg wir auch einschlagen, Glück wäre für mich auf keinem zu finden.«

Tarvins Hand griff nach dem Naulahla in seiner Tasche. Er mußte seinen Schatz befühlen –, es war, als ob Kraft davon ausströmte, die Kraft, ein rasches Wort zu unterdrücken, das vollends alles verdorben hatte.

»Käte, hör‘ mich an,« fuhr er mit großer Ruhe fort. »Wir haben keine Zeit mehr, uns künftige Gefahren und Möglichkeiten auszumalen, denn wir müssen einer thatsächlichen Gefahr ins Auge sehen. Du bist hier nicht sicher. Ich kann dich hier nicht allein lassen, und ich muß fort. Darum bitte ich dich, sofort meine Frau zu werden.«

»Aber ich fürchte mich gar nicht. Wer sollte mir etwas anhaben?«

»Sitabhai,« versetzte er ingrimmig. »Uebrigens brauchst du das gar nicht zu wissen; wenn ich dir sage, daß du nicht sicher bist, muß es dir genügen. Mein Wort darauf, daß ich’s weiß.«

»Und du?«

»Ach, ich! Darauf kommt’s ja nicht an!«

»Die Wahrheit, Nick! Ich fordre sie.«

»Nun, ich Hab‘ dir ja immer gesagt, daß mir kein Klima paßt, wie das von Topaz.«

»Das heißt also, du bist in Gefahr, in Lebensgefahr vielleicht?«

»Nun, mir das Leben zu retten, strengt Sitabhai ihren klugen Kopf sicherlich nicht an,« sagte er lächelnd.

»Dann mußt du auf der Stelle fort von hier, nicht eine Stunde darfst du säumen. O Nick, du mußt fort!«

»Das sag‘ ich ja auch. Rhatore kann ich sehr leicht entbehren, aber dich nicht, du mußt also mitkommen.«

»Willst du damit sagen, daß du ohne mich nicht gehen, dich lieber der Gefahr aussetzen willst?« fragte sie angstvoll.

»Nein. Wenn ich das sagen wollte, wär’s eine Drohung. Ich sage nur, daß ich auf dich warte.«

Seine Augen lachten ihr zu.

»Nick, ist die Gefahr aus dem entstanden, was ich dich thun hieß?« fragte sie plötzlich.

»Das brauchst du nicht zu wissen…«

»Dann ist es so und auf mich fällt die Schuld.«

»Was für eine Schuld? Daß ich mit dem König gesprochen habe? Mein liebes Kind, das will nicht mehr bedeuten, als der Eröffnungsumzug bei diesem Zirkusspiel. Setz‘ dir nur nichts in den Kopf von Schuld und Verantwortlichkeit! Das Einzige, wofür du verantwortlich bist, ist, daß wir jetzt fortkommen, miteinander durchbrennen, ausreißen, verschwinden. Dein Leben ist hier keine Stunde mehr sicher, dessen bin ich gewiß – das meinige keine Minute.«

»Und in diese Lage bringst du mich,« sagte Käte vorwurfsvoll. »Ich bringe dich nicht in die Lage, aber ich zeige dir den einzigen Ausweg, der einfach genug ist!«

»Und der heißt Nikolas Tarvin!«

»Nun ja, ich sage ja, daß er einfach ist. Ich behaupte, ja gar nicht, er sei glänzend. Viele könnten dir mehr bieten, es gibt Tausende von Männern, die besser sind als ich, aber keinen, der dich mehr lieben könnte. O Käte, Käte!« rief er aufspringend. »Vertrau‘ dich meiner Liebe an, und ich trotze einer Welt, dich glücklich zu machen!«

»Nein, nein … du mußt gehen.«

Er schüttelte traurig den Kopf.

»Ich kann dich nicht verlassen! Das fordere du von einem andern! Meinst du, ein Mann, der dich liebt, könnte es über sich bringen, dich in dieser trostlosen Wildnis allen Gefahren preisgegeben zu wissen und zu gehen? Traust du das irgend einem zu? Käte, mein Lieb, komm mit mir! Du quälst mich, du treibst mich in den Tod, indem du mich zwingst, dich auch nur einen einzigen Augenblick ohne Aufsicht zu lassen – ich sage dir, du bist in äußerster Lebensgefahr. Nun du das weißt, wirst du doch wohl nicht bleiben wollen. Dein Leben diesen Geschöpfen zu opfern, hast du doch nicht im Sinn!«

»Und warum nicht?« rief Käte aufspringend, die alte Begeisterung im Blick. »Gewiß! War es recht, für sie zu leben, so ist es auch recht, für sie zu sterben. Ich glaube nicht, daß mein Tod ihnen not thut, aber wenn dem so ist, bin ich bereit.«

Tarvin starrte sie an. Er war bestürzt, ratlos, hilflos.

»Du kommst also nicht mit?«

»Ich kann nicht. Lebe wohl, Nick. Das ist das Ende …«

»Wenigstens für heute,« sagte er, ihr die Hand gebend. »Guten Nachmittag!«

Sie sah mit beklommenem Herzen zu, wie er den Hut aufstülpte und sich zum Gehen anschickte.

»Aber du gehst doch?« rief sie plötzlich erschrocken.

»Gehen? Nein! Nein! Ich bleibe und wenn ich mir eine Armee zusammentrommeln, mich zum König erklären und den Dâk Bungalow als Regierungssitz verteidigen müßte! Gehen!!«

Sie streckte flehend die Hand aus, um ihn festzuhalten, aber Tarvin war schon fort.

Käte ging zu ihrem Kranken. Der Maharadscha Kunwar wohnte noch im Missionshaus, hatte sich aber zur Erheiterung seiner Genesungszeit Spielzeug und Lieblingstiere vom Palast kommen lassen dürfen. Schweigend setzte sich Käte an sein Bett und weinte lange Zeit leise in sich hinein.

»Was hast du denn, Fräulein Käte?« fragte der Prinz, nachdem er ihr seltsames Gebaren eine Weile verwundert beobachtet hatte. »Mir geht’s ja jetzt ganz gut, da braucht niemand zu weinen! Wenn ich wieder im Palast bin, werde ich meinem Vater, dem Könige, sagen, was du für mich gethan hast, und dann wird er dir ein Dorf schenken. Wir Radschputen vergessen nie, was man uns Gutes thut.«

»O Lalji, ich weine nicht um dich,« sagte Käte, sich die Augen trocknend.

»Dann wird dir mein Vater zwei Dörfer geben. Wenn ich gesund werde, darf niemand weinen, denn ich bin ein Königssohn. Wo ist denn Moti? Er soll an meinem Bett sitzen.«

Käte stand gehorsam auf, um des Maharadscha Kunwar Liebling zu holen. Moti war ein kleiner grauer Affe, der ein goldenes Halsband trug, sich frei in Garten und Haus herumtrieb und des Abends alle erdenkliche List aufwendete, um sich eine Schlafstätte in des Prinzen Bett zu erobern. Er beantwortete Kätes Ruf von einem Baume aus, wo er sich mit den wilden Papageien geneckt hatte und folgte ihr, in der Affensprache murmelnd, ins Krankenzimmer.

»Da komm her, kleiner Hanuman,« sagte der Prinz, eine Hand aufhebend, und der Affe war mit einem Satz auf dem Bett.

»Ich habe von einem Könige gehört, Moti,« plauderte der Prinz, mit dem, goldenen Halsband des Tieres spielend, »der dreimalhunderttausend Rupien ausgab für eine Affenhochzeit. Möchtest du auch eine Frau haben, Moti? Ach nein, das goldene Halsband ist ganz genug für dich. Wir wollen unsre Rupien sparen, bis wir gesund sind, und dann wollen wir Fräulein Käte und Tarvin Sahib verheiraten und ihnen ein Fest geben, und du sollst auf ihrer Hochzeit tanzen.«

Der Knabe sprach in der Mundart, aber Käte verstand jetzt manches davon und die Verbindung ihres Namens mit dem Tarvins machten ihr den Sinn nur zu klar.

»Sprich nicht davon, Lalji, bitte, nicht!«

»Warum denn nicht, Käte? Sogar ich bin ja verheiratet.«

»Ja, das ist etwas andres. Käte mag einmal nichts davon hören, Lalji.«

»Wie du willst,« versetzte der Prinz, ein Pfännchen ziehend. »Jetzt bin ich ja nur ein kleines Kind, aber wenn ich gesund bin, will ich wieder ein König sein, und niemand kann meine Geschenke zurückweisen. Horch! Das sind meines Vaters Trompeten! Er kommt, er besucht mich!«

Man hörte aus ziemlicher Entfernung ein Hornsignal, dann Hufschlag, und bald darauf rasselte die Staatskarosse des Maharadscha samt einem Haufen Berittener in den Hof des Missionshauses. Käte sah ihren Pflegling aufmerksam an, besorgt, daß ihm die Unruhe schaden könnte, aber die Augen des kleinen Mannes leuchteten freudig, seine Nasenflügel bebten, und während die schmale Kinderhand sich fest um den Griff des unentbehrlichen Säbels schloß, flüsterte er glückselig: »Das ist schön! Mein Vater bringt alle seine Reiter mit!«

Eh‘ Käte aufstehen konnte, führte Herr Estes schon den Maharadscha ins Krankenzimmer, das vor dem Umfang und Glanz seiner Persönlichkeit ganz zusammenzuschrumpfen schien. Er hatte eine Parade über seine Truppen abgenommen und war daher in voller Uniform, als oberster Kriegsherr, was keine Kleinigkeit war. Die Augen des Maharadscha Kunwar ruhten mit wahrem Entzücken auf der erhabenen Gestalt des königlichen Vaters, die er von den glänzenden Reiterstiefeln mit den goldenen Sporen aufwärts zu den weißledernen Reithosen, dem goldstrotzenden Waffenrock mit den Diamanten des Steins von Indien bis zum safrangelben Turban mit der nickenden Smaragdagraffe andächtig studierte. Der König zog die Stulphandschuhe aus und schüttelte Kätes Hand herzhaft; nach einer richtigen Orgie pflegte Seine Hoheit immer bemerkenswert civilisiert zu sein.

»Und dem Kleinen geht’s gut?« fragte er heiter. »Ein kleiner Fieberanfall, wie ich höre – ich selbst hatte in letzter Zeit auch etwas Fieber.«

»Ich fürchte, daß die Krankheit des Prinzen etwas mehr zu bedeuten hatte, Maharadscha Sahib,« bemerkte Käte.

»Siehst du, mein Kleiner,« sagte der König auf hindostanisch, indem er sich zärtlich über ihn beugte, »das kommt davon, wenn man zu viel ißt!«

»Nein, Vater, zu viel gegessen habe ich nicht, ich bin aber jetzt ganz wohl.«

Käte stand am Kopfende des Bettes und strich mit leiser Hand über das Haar des Knaben.

»Wie viele Truppen nahmen an der Parade teil?«

»Beide Geschwader, mein General,« versetzte der Vater mit stolz leuchtendem Blick. »Du bist ein echter Radschpute, mein Sohn!«

»Und meine Leibwache – wo stand die?«

»Bei Pertab Singhs Corps. Sie führte den Angriff beim Schlußtableau.«

»Beim heiligen Roß,« rief der Maharadscha Kunwar, »sie soll ihn später im Ernst führen! Nicht wahr, Vater? Du auf dem rechten, ich auf dem linken Flügel!«

»Gewiß, mein Sohn, aber um ein Feldherr zu werden, muß ein Prinz viel lernen und darf nicht krank sein.«

»Ich weiß es wohl,« sagte der Knabe mit tiefem Ernst. »Mein Vater, ich habe in diesen Nächten viel darüber nachgedacht – bin ich immer noch ein kleines Kind?«

Er sah bittend zu Käte auf und flüsterte ihr zu: »Ich möchte mit meinem Vater sprechen. Niemand soll uns stören.«

Käte verließ, dem Knaben noch freundlich zunickend, das Zimmer, und der Maharadscha setzte sich an seines Sohnes Bett.

»Nein, ich bin kein Kind mehr,« begann der Prinz. »In fünf Jahren werde ich ein Mann sein und viele Männer werden mir gehorchen. Wie aber soll ich wissen was Recht oder Unrecht ist, daß ich’s ihnen befehle?«

»Darum muß ein Prinz eben viel lernen,« versetzte der Maharadscha so im allgemeinen.

»Ja, daran habe ich eben gedacht, als ich hier so im Dunkeln lag, Vater, und mir ist, als ob ich nicht all diese Dinge im Palast und nicht von Frauen lernen könnte. Vater, laß mich fortgehen, daß ich lerne, wie man ein Prinz ist!«

»Ja wohin wolltest du denn gehen? Mein Königreich ist doch deine Heimat, Söhnchen.«

»Ich weiß, ich weiß, und ich will auch wieder heimkommen, aber laß mich nicht zum Gespött der andern Prinzen werden. Bei meinem Hochzeitsfest hat mich der Ravut von Bunnaul ausgelacht, weil ich nicht so viele Schulbücher habe wie er, und er ist doch nur der Sohn eines in Adelstand erhobenen Herrn, hat keine Ahnen. Aber er ist in ganz Radschputana herumgekommen bis Delhi und Agra und, denke dir, sogar nach Abu, und er ist in der oberen Klasse der Prinzenschule in Adschmir. Vater, alle Königssöhne gehen in diese Schule, und dort spielen sie nicht mit den Frauen, sie reiten mit Männern! Und die Luft und das Wasser sind sehr gut in Adschmir. Ach, laß mich auch hin, Vater!«

Auf des Maharadscha Zügen zeigte sich ernste Bekümmernis, denn der Knabe war ihm sehr ans Herz gewachsen.

»Aber es könnte dir irgend etwas zustoßen, bedenke doch, Lalji.«

»Ich hab’s bedacht. Was sollte mir zustoßen dort, wo ich unter der Obhut der Engländer stehe? Der Ravut von Bunnaul hat mir gesagt, daß ich meine eigenen Zimmer haben würde, meine eigene Dienerschaft, meine eigenen Pferde, gerade wie die andern Prinzen, und daß ich dort sehr angesehen sein würde, hat er auch gesagt.«

»Gewiß, gewiß,« stimmte der Vater bei, um den Kleinen nicht aufzuregen. »Wir sind ja Kinder der Sonne, du und ich, mein Prinz.«

»Deshalb kommt es mir auch zu, so gelehrt, so stark und tapfer zu werden als die Besten meines Geschlechts. Vater, es ist mir entleidet, in den Frauengemächern zu spielen, die Geschichten meiner Mutter und die Lieder der Tänzerinnen anzuhören, und die wollen mich auch immerzu küssen! Laß mich nach Adschmir, laß mich in die Prinzenschule gehen. Und in einem Jahr, schon in einem Jahr, sagt der Ravut von Bunnaul, werde ich genug gelernt haben, um meine Leibwache zu führen, wie ein König sie führen soll! Versprichst du mir’s, Vater?«

»Wenn du wieder ganz gesund bist, wollen wir weiter darüber reden,« sagte der König, »Ich will es mit dir besprechen nicht wie ein Vater mit dem Kind, sondern wie ein Mann mit dem andern.«

Des Prinzen Augen strahlten vor Vergnügen.

»Das ist gut! Wie ein Mann mit dem andern. …«

Der Maharadscha nahm ihn liebkosend in die Arme und erzählte ihm kleine Neuigkeiten aus dem Palast, was eben einen Jungen interessieren konnte.

»Gibst du mir jetzt Urlaub zu gehen, mein General?« fragte er dann lachend.

»O mein Vater!«

Der Prinz vergrub sein Köpfchen in dem mächtigen Bart des Vaters und schlang die Arme um seinen Hals. Sachte und freundlich machte sich der Maharadscha los und ebenso sachte ging er auf die Veranda hinaus, und noch ehe Käte zurückgekommen war, verschwand der Wagen mitsamt den Reitern unter Trompetengeschmetter in einer Wolke von Staub. Eben waren sie außer Sicht gekommen, als ein Bote erschien, der ein aus Gras geflochtenes Körbchen mit Apfelsinen, Bananen und Granatäpfeln, smaragdgrün, gold und kupferfarbig, mit den Worten: »Ein Geschenk der Königin«, vor Käte niedersetzte.

Der Prinz hörte die Worte im Zimmer und rief seelenvergnügt: »Käte, das schickt dir meine Mutter! Sind es große Früchte! Gib mir einen Granatapfel,« bat er, als Käte den Korb hereinbrachte. »Ich habe dieses Jahr noch gar keinen gegessen.«

Käte setzte den Korb auf den Tisch, aber schon war dem Prinzen etwas andres in den Sinn gekommen. Er wollte jetzt einen Scherbett von Granatäpfeln haben und gab Käte genau an, wie sie Zucker und Milch mit dem Saft und den roten Fruchtkernen anrühren müsse. Sie verließ das Zimmer, um ein Glas und Milch zu holen, und Moti, der sich unterm Bett verkrochen gehabt, weil er bei einem Versuch, sich des Prinzen Smaragden anzueignen, einen Tritt bekommen hatte, kam hervor und benutzte die Zeit, eine schöne Banane zu stibitzen. Da ihm wohl bekannt war, daß sein Herr und Gebieter das Bett nicht verlassen konnte, kehrte er sich nicht an seinen abwehrenden Ruf, sondern setzte sich ganz gemütlich hin, streifte mit den kleinen, schwarzen Fingern geschickt die grüne Haut ab, grinste den Knaben an und ließ sich’s schmecken.

»Du bist ein Strick, Moti,« sagte der Prinz lachend. »Käte meint, du seiest gar kein Gott, sondern nur ein graues Aeffchen, und ich glaub’s auch. Wenn sie zurückkommt, kriegst du Schläge, Hanuman.«

Moti hatte schon die halbe Banane verspeist, als Käte wieder eintrat, er machte aber gar nicht Miene, ihr zu entwischen. Sie stieß den kleinen Räuber, der ihr gerade im Weg saß, leicht an, und er fiel sofort um. »Was hat denn dein Moti, Lalji?« fragte sie, das Aeffchen verwundert ansehend.

»Eine Banane hat er gestohlen und jetzt stellt er sich tot. Gib ihm nur einen Klaps!«

Käte beugte sich über den regungslosen kleinen Körper; aber da gab’s nichts zu züchtigen. Er war tot.

Mit blassem Gesicht richtete sich Käte wieder auf und beroch vorsichtig den Obstkorb. Richtig, ein feiner, süßlicher, schwer lastender Duft stieg von den leuchtenden Früchten auf; er wirkte in dieser Nähe betäubend. Den Korb rasch niedersetzend, griff sie mit der Hand an die Stirne; ihr war schwindlig geworden.

»Nun,« sagte der Prinz, der seinen toten Liebling nicht sehen konnte, »bekomme ich jetzt meinen Scherbett?«

»Ich fürchte, Lalji, die Früchte sind nicht ganz gut,« erwiderte Käte, sich gewaltsam zusammennehmend.

Noch ganz benommen von Schreck und Schwindel warf sie die halbe Banane, die der tote Moti zärtlich an sein böses, kleines Herz gedrückt hatte, durchs offene Fenster in den Garten hinaus. Sofort stürzte sich ein Papagei auf den Leckerbissen und nahm ihn mit auf seinen Zweig. Es war geschehen, ehe Käte, die halb bewußtlos war, den Vogel verscheuchen konnte, und im nächsten Augenblick fiel ein Klumpen grüner Federn schwer herab. Der Papagei war auch tot.

»Nein, Lalji, die Früchte sind nicht gut,« wiederholte Käte mechanisch mit weitoffenen, erschrockenen Augen und bleichem Gesicht.

Ihre Gedanken eilten zu Tarvin! Ach, die Warnungen und flehentlichen Bitten, die sie von sich gewiesen hatte! Er hatte gesagt, ihr Leben sei keine Stunde mehr sicher, und wie recht er gehabt hatte! Die unheimliche, leise schleichende Gefahr, die sie bedrohte, hätte stärkere Nerven als die Kätes zu erschüttern vermocht. Von welcher Seite, in welcher Form würde der nächste Angriff erfolgen? Aus welchem Schlupfwinkel der Mord hervorkriechen? Die Luft selbst konnte ja vergiftet sein, sie wagte kaum mehr zu atmen.

Die Frechheit der Ausführung erschreckte sie so sehr wie die Absicht der That. Wenn das am offenen Tag, unterm Deckmantel der Freundschaft, fast gleichzeitig mit einem Besuch des Königs geschehen konnte, was würde die Zigeunerin demnächst wagen? Sie war mit dem Maharadscha Kunwar unter einem Dach; wenn Tarvins Vermutung begründet war, daß Sitabhai auch ihr nach dem Leben trachte, so mochte sie gehofft haben, zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen. Wenn sich Käte vorstellte, wie leicht sie selbst dem Prinzen eine der vergifteten Früchte hätte geben können, so überlief es sie eiskalt.

Der Knabe drehte sich im Bett um und betrachtete Käte.

»Bist du nicht wohl?« fragte er ernsthaft. »Dann mach dir nur, bitte, keine Mühe mit dem Scherbett; reiche mir nur Moti her zum Spielen.«

»O, Lalji! Lalji!« rief Käte außer sich.

Schwankenden Schrittes ging sie auf sein Bett zu, warf sich über ihn und umschlang den Knaben bitterlich weinend, als ob sie ihn mit ihrem Leib vor bösen Mächten schützen wollte.

»Jetzt weinst du heute zum zweitenmal,« sagte der Prinz, die zuckenden Schultern neugierig beobachtend. »Das werde ich dem Tarvin Sahib sagen!«

Das Wort traf Käte ins Herz und rief ein bitteres, hoffnungsloses Sehnen in ihr wach. Ach, nur einen Augenblick die sichere, rettende Kraft fühlen, die sie von sich gewiesen hatte! Wo er jetzt sein mochte, fragte sie sich mit leidenschaftlicher Selbstanklage, was dem Mann wohl widerfahren sein mochte, den sie abgehalten hatte, dieses Land zu fliehen, wo Tod und Verderben ringsum lauerten?

Tarvin saß zur Zeit in seinem Zimmer im Dâk Bungalow. Er hatte beide Thüren weit offen stehen, daß der heiße Wüstenwind über ihn hinstrich, denn er wollte wenigstens alles sehen, was sich nähern würde. Vor ihm auf dem Tisch lag der Revolver, in seiner Brusttasche war das Naulahka, er verzehrte sich in ungeduldiger Sehnsucht, fortzukommen von diesem Ort, und fluchte dem eroberten Schatz, der nicht die Kraft hatte, Käte nach sich zu ziehen.

Neunzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Nachdem sie die verräterischen Früchte unter sichern Verschluß gebracht und den Prinzen über den geheimnisvollen Tod seines Moti getröstet hatte, fand Käte am Abend und während der langen Nacht reichlich Muße, mit ihrem Herzen und Gewissen zu Rat zu gehen. Als sie am andern Morgen mit geröteten Augenlidern und schwerem, von keinem Schlaf erfrischtem Kopf aufstand, war ihr wenigstens das eine klar – so lang sie am Leben war, blieb es ihre Aufgabe, unter den indischen Frauen und für diese weiter zu arbeiten, und für das Weh in ihrem Herzen durfte sie kein andres Heilmittel suchen, als eben die Arbeit. Mittlerweile blieb der Mann, der sie liebte, in Gokral Sitarun, harrte aus in stündlicher Todesgefahr, um in Rufweite zu sein, wenn sie ihn brauchte, und rufen durfte sie ihn doch nicht, denn das hieße schwach werden, fahnenflüchtig.

Sie machte sich auf den Weg nach ihrem Spital. Die Angst um Tarvins Leben schnürte ihr die Kehle zu, saß ihr im Nacken wie ein Gespenst; sie mußte arbeiten, um ihren Gedanken zu entrinnen.

Wie gewöhnlich hockte die Frau aus der Wüste mit verschleiertem Gesicht, die Hände ums Knie verschränkt, auf den Stufen vor der Hausthüre, um sie zu erwarten. Heute stand aber auch Dhunpat Raj müßig dort, obwohl er um diese Stunde in den Krankensaal gehört hätte, und Käte sah, daß der Hof voll war von Fremden, wohl Besuchen für die Kranken, die doch nach der von ihr eingeführten Ordnung nur einmal in der Woche und nicht an diesem Tag zugelassen waren. Ueberreizt und erschöpft, wie sie von den Erlebnissen des gestrigen Tages war, fühlte sich Käte von diesem Anblick noch peinlicher berührt, als es sonst wohl der Fall gewesen wäre.

»Was soll das heißen, Dhunpat Raj?« fragte sie in zorniger Erregung.

»Aufruhr aus religiösem Fanatismus,« gab Dhunpat Raj achselzuckend zum Bescheid. »Hat nichts zu sagen, habe öfter erlebt. Nur nicht hineingehen!«

Käte schob ihn ohne ein Wort beiseite und war im Begriff einzutreten, als einer von ihren Kranken, ein Mann im letzten Stadium des Typhus, von einem halben Dutzend Leute herausgetragen wurde. Die lärmenden Krankenträger warfen ihr drohende Worte zu, und im Nu stand die Frau aus der Wüste an ihrer Seite. In der hoch erhobenen braunen Hand funkelte ein langes Messer mit breiter Klinge.

»Seid still, ihr Hunde!« herrschte sie die Leute in ihrer Mundart an. »Wagt es nicht, die Hand an diese Peri zu legen, die alles für euch thut!«

»Ja wohl, sie bringt unsre Leute um,« schrie einer von den Dörflern.

»Das mag sein,« rief das Weib mit einem flüchtigen Lächeln, »aber ich weiß, wen ich umbringe, wenn ihr sie nicht ungestreift vorüber laßt. Seid ihr Radschputen oder wilde Tiere, Maulwürfe, Fischjäger, daß ihr wie das Vieh einem verlogenen Pfaffen nachlauft, der eure Strohköpfe verwirrt? Sie soll eure Leute umbringen? Wie lang könnt denn ihr den Mann da am Leben erhalten mit euren Hexensprüchen und Sudelbrühen?« fragte sie, nach der abgezehrten Gestalt auf der Tragbahre deutend. »Hinaus mit euch! Ist dieses Spital euer Dorf, wo ihr Schmutzfinken treiben könnt, was ihr wollt? Habt ihr auch nur einen Heller bezahlt an dem Dach über euren Köpfen oder an den Arzneien in euren Bäuchen? Macht, daß ihr fortkommt, ehe ich euch ins Gesicht speie!«

Und mit einer Herrschergebärde wies sie das Gesindel fort.

»Besser nicht hineingehen,« flüsterte Dhunpat Naj Käte ins Ohr. »Heiliger Mann aus Umgegend drinnen, bringt sie in Aufregung. Fühlen mich selbst auch sehr unbehaglich.«

»Aber was hat es denn zu bedeuten?« fragte Käte abermals, denn sie sah jetzt, daß der ganze Bau in der Gewalt einer hin und her wogenden Volksmenge war, daß Betten, Kochgeschirr, Lampen und Weißzeug zusammengerafft und eingepackt wurden.

Mit gedämpfter Stimme riefen die Leute einander Befehle zu, schleppten die Kranken aus den oberen Sälen die Treppen herunter, wie Ameisen ihre Eier fortschleppen, wenn ihr Bau zerstört wird. Je sechs bis acht Mann trugen einen Kranken; einige davon hielten Ringelblumensträuße in der Hand und standen auf jeder Treppenstufe still, um ein Gebet zu murmeln, andre warfen furchtsame, forschende Blicke in die Apotheke, wieder andre holten Wasser vom Brunnen und gossen es rings um die Betten aus.

Im Mittelpunkt des Hofes saß splitternackt, wie der unheilbar Geisteskranke bei Kätes Ankunft, ein mit Asche beschmierter, langhaariger, eingeborener Wanderprediger mit langen Klauen an Händen und Füßen, der seinen Dornstecken, der scharf zugespitzt war, wie eine Lanze überm Kopf schwang und mit einem lauten, eintönigen Gesang Männer und Weiber zur Eile antrieb.

Als Käte ihm mit blitzenden Augen, blaß vor Zorn gegenübertrat, wandelte sich der Gesang in ein Wutgeheul.

Rasch mischte sie sich unter die Frauen, unter ihre Frauen, von denen sie dachte, sie hätten sie lieben gelernt. Aber jetzt waren die Verwandten um sie her, und ein breitschultriger, halbnackter Mann aus einem entlegenen Dorf im Innersten der Wüste brüllte Käte mit lauter Stimme an und stieß sie zurück. Er hatte nicht die Absicht, Käte zu verletzen, aber im selben Augenblick zog ihm die Frau aus der Wüste mit ihrem Messer einen breiten Hieb über die Stirne, daß er aufheulend zurückwich.

»Laß mich zu ihnen sprechen,« sagte Käte, und ihre Anhängerin brachte mit hocherhobenen Armen die Menge zum Schweigen. Nur der heilige Mann setzte seinen Gesang fort, bis Käte hoch aufgerichtet und zornbebend auf ihn zutrat und ihn in der Mundart anherrschte: »Schweig, oder ich werde Mittel finden, dir den Mund zu verschließen!«

Der Mann verstummte wirklich, und Käte trat jetzt ruhiger unter die Frauen.

»O, ihr Frauen, was habe ich euch gethan?« rief sie, in der Aufregung die Sprache des Volkes besser beherrschend als sonst. »Wenn ihr über etwas zu klagen habt, wer wird euch Recht schaffen, wenn nicht ich? Ihr wißt doch, daß mein Ohr euch offen steht bei Tag und bei Nacht! Hört mich an, meine Schwestern! Seid ihr denn von Sinnen, daß ihr halb geheilt, krank, sterbend davongehen wollt? Ihr könnt ja gehen, ihr seid frei, aber um eurer selbst, um eurer Kinder willen, geht nicht, ehe ich euch mit Gottes Hilfe gesund gemacht habe! Jetzt herrscht in der Wüste die große Hitze, und manche von euch sind weit, weit von hier daheim …«

»Da hat sie recht! Das ist wahr,« sagte eine Stimme aus dem Haufen. »Ja, ich spreche die Wahrheit und ich habe immer ehrlich gehandelt an euch, darum ist’s jetzt an euch, mir auch die Wahrheit zu sagen. Ich will wissen, was euch in die Flucht treibt, ihr sollt nicht davonlaufen, wie Mäuse. Meine Schwestern, ihr seid krank und schwach und eure Freunde wissen nicht, was euch heilsam ist, ich aber weiß es. …«

»Arre! Was sollen wir aber beginnen?« rief eine schwache Stimme. »Unsre Schuld ist’s nicht. Mir wär’s schon recht, man ließe mich im Frieden sterben, aber der Priester sagt ja. …«

Jetzt brach der Lärm und das Geschrei von neuem los.

»Auf den Pflastern stehen Zaubersprüche. …«

»Weshalb sollen wir uns gegen unsern Willen zu Christen machen lassen. …«

»Die weise Frau, die man fortgejagt hat, sagt. …«

»Was bedeuten die roten Striche auf den Pflastern?«

»Warum sollen wir Teufelsstempel auf dem Leib tragen? Sie brennen uns wie höllisches Feuer!«

»Gestern kam der Priester, der heilige Mann dort und sagte uns, daß ihm fern im Hügelland offenbart worden sei, der Pflasterteufel wolle uns unsrem Glauben abtrünnig und zu Christen machen. …«

»Und wir werden seinen Stempel auf unsern Leibern tragen, wenn wir das Spital verlassen. …«

»Und die Kinder, die wir im Schoß tragen, werden Schwänze haben wie die Kamele und Ohren wie die Maulesel, und das sagt die kluge Frau, und der Priester sagt es auch. …«

»Nun hört aber auf mit eurem Geschwätze!« rief Käte, das Stimmengewirr übertönend. »Was für Pflaster sollen denn das sein? Schämt ihr euch nicht, wie dumme Kinder vom Teufel zu reden, weil ein Senfpflaster brennt? Sind nicht viele Kinder hier zur Welt gekommen, seit ich da bin, und waren sie nicht alle gesund und hübsch? Das wißt ihr doch! Von der unwürdigen Person laßt ihr euch etwas weismachen, die ich wegjagen mußte, weil sie euch mißhandelt hat. …«

»Aber der Priester sagt …«

»Was frage ich nach dem Priester! Hat er euch gepflegt? Hat er bei euch gewacht in der Nacht? Hat er an eurem Bett gesessen, eure Kissen geschüttelt und eure Hände gehalten, wenn ihr in Schmerzen lagt? Hat er eure Kinder gewiegt und gebettet, statt selbst zu ruhen?« »Es ist ein heiliger Mann. Er hat Wunder gethan. Dem Zorn der Götter wagen wir nicht zu trotzen. …«

Ein Weib, das kühner war als die andern, zog eins der kürzlich von Kalkutta bezogenen Senfpapiere heraus, das auf der Rückseite den roten Fabrikstempel trug, und hielt das Blättchen Käte vors Gesicht.

»So, da sieh her! Was soll die Teufelsklaue?« schrie die Frau, aber Kätes Getreue hatte sie schon an den Schultern gepackt und drückte sie auf die Kniee nieder.

»Ob du schweigst, du Weib ohne Nase!« rief sie in wildem Zorn. »Die Peri ist nicht Teig von deinem Teig, deine Hand würde sie beflecken. Denke an den Misthaufen vor deiner Thür und halte dein Maul!«

Käte griff lächelnd nach dem Pflaster.

»Und wer sagt, daß diese Buchstaben Teufelswerk seien?« fragte sie.

»Der heilige Mann sagt’s, und der weiß alles.«

»Das wenigstens könntet ihr besser wissen,« sagte Käte, deren Entrüstung sich mehr und mehr in Mitleid wandelte. »Ihr kennt das Pflaster doch aus eigenem Gebrauch. Hat es dir denn je geschadet, Pithira? Hast du mir nicht oft und viel gedankt für die Erleichterung, die dir der Teufelsspuk brachte? Warum hat’s dich denn nicht verzehrt, wenn es Höllenfeuer war?«

»Gebrannt hat’s genug,« versetzte die Anklägerin mit trotzigem Lachen.

Auch Käte lachte, aber harmlos heiter.

»Ja, das ist ganz wahr! Leider kann ich’s nicht hindern, daß Senf brennt, und kann auch nicht alle Arzneien wohlschmeckend machen. Ihr wißt aber, daß sie euch helfen, und was verstehen denn eure Freunde, diese Dörfler und Kameltreiber und Ziegenhirten von meinen englischen Arzneien? Sind sie so weise, ist dieser Priester so allwissend, daß er fünfzig Meilen von hier weiß, was ich euch eingebe? Hört nicht auf sie, o, schenkt ihnen keinen Glauben! Sagt ihnen, daß ihr bei mir bleiben wollt, weil ich euch gesund mache. Mehr kann ich nicht für euch thun, deshalb bin ich hergekommen. In einem fernen Land, zehntausend Meilen weit von hier, hat man mir von eurem Elend berichtet und Mitleid mit euch zerriß mir das Herz. Wäre ich so weit hergekommen, um euch Uebles zu thun? Kehrt ruhig in eure Betten zurück, meine Schwestern, und sagt diesen Leuten, daß sie euch in Frieden lassen sollen.«

Ein Gemurmel entstand, in dem sich Zustimmung und Widerspruch bekämpften. Für einen Augenblick schwankte das Zünglein an der Wage unentschieden hin und her.

Dann erhob der Mann, der den Messerhieb bekommen hatte, seine Stimme und schrie: »Was nützt das Gerede? Wir nehmen unsre Weiber und Schwestern mit! Wir wollen keine Söhne, die dem Teufel gleichen! – Leihe uns deine Stimme, o Vater!« wandte er sich an den Priester.

Der heilige Mann richtete sich auf und verwischte jede Wirkung von Kätes Worten durch einen Strom von Schmähungen, Anrufungen der Götter und Drohungen mit ewiger Verdammnis. Zu zweien oder dreien schlüpften die Weiber an Käte vorüber, ihre Kranken wurden halb geführt, halb mit Gewalt weggeschleppt.

Käte rief jede einzelne beim Namen an, bat sie, zu bleiben, redete ihr mit Vernunftgründen zu, aber ohne allen Erfolg. Manche hatten Thränen in den Augen, aber ihre Antwort lautete übereinstimmend, daß es ihnen ja leid thäte, daß sie aber nur schwache Frauen seien und den Zorn ihrer Männer fürchteten.

Von Minute zu Minute leerten sich die Krankensäle mehr und mehr, während der Priester laut sang und mitten im Hof wie ein Wahnsinniger zu tanzen anfing. Der Strom buntfarbiger Gewänder wälzte sich die Stufen hinab in die Straße hinein; Käte sah ihre sorgfältig behüteten kranken Frauen in der blendenden, erbarmungslosen Sonnenglut verschwinden, nur das Weib aus der Wüste blieb an ihrer Seite.

Mit starren Augen verfolgte sie das unerhörte Schauspiel – ihr Spital war leer.

Zwanzigstes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

»Hat Fräulein Sahib Befehle für mich?« fragte Dhunpat Raj mit orientalischer Gelassenheit, als sich Käte jetzt an die breite Schulter ihrer Getreuen lehnte, um nicht umzusinken.

Sie schüttelte den Kopf, ohne die Lippen zu bewegen.

»Ja, es ist recht betrüblich,« bemerkte Dhunpat Raj mit der Ruhe eines gänzlich unbeteiligten Zuschauers, »aber religiöser Fanatismus und Aberglauben seien stark im Land. Einmal – zweimal dasselbe gesehen. Manchmal wegen Pulver, und dann sagten sie, die mit Maßen bezeichneten Gläser seien heilige Gefäße und Zinksalbe sei Kuhfett. Aber ganzes Spital zugleich leer haben nie gesehen. Glaube nicht, daß wiederkommen, aber meine Anstellung, Staatsanstellung,« setzte er mit befriedigtem Lächeln hinzu, »werde Gehalt beziehen, wie vorher.«

Käte starrte ihn betroffen an.

»Sie meinen, es werden gar keine Kranken mehr kommen?« fragte sie stammelnd.

»O doch – in Zeit – einer oder zwei. Vielleicht Männer, wenn vom Tiger gebissen, oder mit Augenentzündung, aber Frauen – nein. Ihre Männer werden’s nicht mehr erlauben – fragen Sie nur die!«

Käte, richtete einen hilflos stehenden, Trost suchenden Blick auf ihre getreue Freundin. Die bückte sich zu Boden, griff ein wenig Sand auf, ließ ihn zwischen ihren Fingern durchrieseln, rieb die Handflächen aneinander ab und schüttelte den Kopf. Käte verfolgte dieses Gebärdenspiel in verzweifelter Spannung.

»Sie sehen – alles vorüber, nichts zu hoffen,« sagte Dhunpat Raj nicht ohne Teilnahme, hinter der aber doch eine gewisse schmunzelnde Genugthuung lauerte über eine Niederlage, die ja kluge Leute, wie er, längst vorausgesagt hatten. »Und was will Euer Gnaden jetzt vornehmen? Soll ich Apotheke schließen, oder soll Drogistenrechnung nachgesehen werden?«

Käte winkte ihm, zu gehen.

»Nein! nein! Nicht jetzt! Ich muß mich fassen, muß Zeit haben, dann werde ich Ihnen Bescheid senden. Komm, du Liebe!«

Damit faßte sie die Frau aus der Wüste an der Hand und verließ mit ihr das Hospital. Draußen nahm die stämmige Radschputin Käte wie ein Kind auf den Arm und hob sie aufs Pferd.

»Und wohin geht dein Weg jetzt?« fragte Käte die entschlossen neben dem Pferd Herschreitende.

»Ich war zuerst hier,« versetzte die Geduldige, Getreue, »es ziemt sich darum, daß ich zuletzt gehe. Wo du hingehst, gehe ich auch – nachher mag geschehen, was da will.«

Käte beugte sich aus dem Sattel und nahm die braune Hand der Tochter der Wüste mit dankbarem Druck in die ihrige.

Als sie am Missionshaus anlangten, mußte Käte all ihre Kraft aufraffen, um nicht zusammenzubrechen. Es war ihr unsäglich bitter, ihre gänzliche Niederlage den Menschen einzugestehen, die am meisten von ihren Hoffnungen und Erwartungen gehört hatten, deren unausgesprochenen Zweifeln gegenüber sie immer freudig betont hatte, was sie den armen indischen Frauen jetzt schon sei, was sie ihnen zu werden hoffe. An Tarvin durfte sie überhaupt nicht denken, dazu fehlte ihr die Kraft.

Glücklicherweise schien Frau Ostes nicht zu Hause zu sein. Dafür wartete ein Bote, um im Namen der Königin Mutter Käte samt dem Maharadscha Kunwar nach dem Palast zu bescheiden. Das braune Weib wollte Käte von diesem Besuch abhalten, aber Käte kehrte sich nicht an ihre Warnung.

»Nein, nein, nein! Ich muß hin – irgend etwas muß ich thun,« rief sie beinah heftig, »so lang mich noch jemand haben will. Ich muß Arbeit haben, sonst verzweifle ich. Geh‘ du nur voraus und erwarte mich vor dem Palast.«

Die Frau fügte sich schweigend und trottete auf der staubigen Landstraße den Weg zurück, während Käte zu ihrem Pflegling eilte.

»Lalji,« sagte sie, sich über ihn beugend, »meinst du, es würde dich nicht zu sehr anstrengen, wenn wir dich in einen Wagen heben und zu deiner Mutter bringen?«

»Ich möchte lieber meinen Vater besuchen,« versetzte der Prinz, der heute zur Belohnung für gestrige Fortschritte in der Genesung auf dem Sofa liegen durfte. »Mit meinem Vater habe ich sehr Wichtiges zu besprechen.«

»Aber deine Mutter hat dich so lang nicht gesehen, Lalji!« »Gut, dann will ich gehen.«

»Dann bestelle ich gleich den Wagen.«

»Nein, bitte, ich will meinen eigenen haben. Wer ist denn da draußen?«

»Sohn des Himmels, ich bin’s,« versetzte die tiefe Stimme eines Soldaten.

»Achcha! Reite schnell hinauf und sage ihnen, mein Wagen und Gefolge sollen kommen. Wenn sie in zehn Minuten nicht da sind, werde ich Sirop Singhs Gehalt beschneiden und ihm vor all meinen Leuten das Gesicht anschwärzen lassen. Ich fahre heute zum erstenmal aus!«

»Möge Gottes Güte zehntausend Jahre mit dir sein, Sohn des Himmels!« rief der Mann von draußen herein, während er sich in den Sattel schwang, um seinen Auftrag auszuführen.

Als der Prinz angekleidet war, rasselte auch schon der Wagen vor die Thüre, den eine sorgliche Hand im Palast mit weichen Kissen ganz ausgestopft hatte. Käte mußte den Knaben mehr tragen als stützen, obwohl er auf der Veranda durchaus frei stehen wollte, um den militärischen Gruß seiner Leibwache geziemend zu erwidern.

»Ahi! Ich bin noch recht schwach,« gestand er unterwegs mit einem verlegenen Auflachen. »Mir kommt’s vor, als ob ich in Rhatore überhaupt nicht mehr frisch werden könnte.«

Käte schlang den Arm um ihn und stützte ihn zärtlich.

»Käte,« begann er jetzt, »willst du mir helfen, meinen Vater um etwas bitten, willst du ihm auch sagen, daß es gut für mich sei?«

Käte, deren Gedanken bei ihrer großen Bitternis verweilten, tätschelte ihn liebreich auf die Schulter und hob den thränenfeuchten Blick zu dem roten Steinkoloß des Palastes.

»Wie kann ich dir das versprechen, Lalji?« fragte sie, in das erwartungsvoll zu ihr aufgerichtete Kindergesicht blickend.

»Es ist ja etwas sehr, sehr Verständiges!«

»Wahrhaftig, Lalji?«

»Ja, und ich habe mir’s ganz allein ausgedacht. Ich bin ja ein Radscha Kunwar und möchte in die Radscha Kunwar-Schule gehen, wo man Prinzen lehrt, Könige zu werden. Das gibt’s nur in Adschmir, und da will ich hin und mit den andern Prinzen von Radschputana lernen und fechten und reiten, daß ich ein ganzer Mann werde. In die Radscha Kunwar-Schule in Adschmir will ich, daß ich alles lerne über die ganze Welt. Das ist doch verständig, Käte? Seit ich krank war, kommt mir die Welt so sehr, sehr groß vor – Käte, wie groß ist denn die Welt, die du gesehen hast über dem schwarzen Wasser? Und wo ist denn Tarvin Sahib? Mit dem würde ich auch gern sprechen. Ist Tarvin Sahib böse mit mir oder mit dir, Käte?«

So plauderte der Prinz und bedrängte Käte mit Hunderten von Fragen, bis der Wagen vor dem Seitenthor hielt, das zu dem von der Königin-Mutter bewohnten Palast führte. Kätes dunkle Freundin stand davor und streckte ihr die Arme entgegen.

»Laß mich den Prinzen hineintragen,« bat sie, »ich weiß, daß es notthut. Nein, Sohn des Himmels, du brauchst dich nicht davor zu scheuen, ich bin von gutem Blut.«

»Frauen von gutem Blut gehen verschleiert und sprechen nicht auf der Straße,« wandte der Prinz zweifelnd ein.

»Das gilt für deinesgleichen, nicht für unsereins,« entgegnete die Frau lachend. »Wer sein tägliches Brot verdienen muß, kann nicht verschleiert gehen; aber meine Väter haben viele hundert Jahre vor mir im Land gelebt, gerade wie die deinen, Sohn des Himmels, und die weiße Frau kann dich nicht so leicht tragen als ich.«

Sie faßte ihn in die Arme und schloß ihn an ihre Brust, als ob er ein Wickelkind gewesen wäre, und der Knabe fühlte sich sicher und wohl in diesen starken Armen. Er winkte mit der abgezehrten, kleinen Hand, woraus der schwere Thorflügel sich kreischend in den Angeln drehte, und sie miteinander hineingingen – Weib, Kind und Mädchen.

In diesem Teil des Palastes war nicht viel von Pracht und Ausschmückung zu sehen. Die bunten Fliesen an den Wänden waren vielfach zerbröckelt und abgefallen, die Fensterläden hätten eines neuen Anstrichs bedurft und zeigten zerbrochene Stäbe, im Vorhof lag Kehricht und Staub. Eine Königin, die beim Herrscher in Ungnade gefallen ist, büßt auch manche andre Vorteile ein.

Eine Thüre that sich auf, und eine Stimme rief die Eintretenden an. Sie gerieten in einen dunkeln Gang und dann auf eine lange Reitschnecke, die mit leuchtend weißem Stuck so glatt wie Marmor belegt war und zu den Gemächern der Königin führte. Die Mutter des Prinzen hielt sich mit Vorliebe in einem langen, niederen Zimmer auf, das gegen Nordosten lag, wo sie ihr Gesicht an das Marmormaßwerk der Fensterfüllung pressen und mit der Seele die Heimat suchen konnte, die Kuluhügel, achthundert Meilen von hier, jenseits der Sandwüste. In diesen Raum drang kein Laut von dem geschwätzigen Treiben und Lachen und Singen im Palast; nur der Fußtritt weniger getreuer Dienerinnen unterbrach die tiefe Stille.

Mit dem Gebaren eines gefangenen Panthers durchschritt das braune Weib, den Prinzen noch fester an sich drückend, den Irrgarten leerer Zimmer, kleiner Seitentreppen, bedachter Höfe. Für Käte und den Maharadscha Kunwar hatte der dunkle, winkelige, geheimnisvolle, totenstille Bau nichts Befremdliches mehr, der Knabe war darin aufgewachsen, und Käte hatte sich damit abgefunden als mit einem Teil der Mühsale und Schrecken, die sie aus freien Stücken aufgesucht hatte.

Endlich war die Reise beendigt: Käte hob einen schweren Thürvorhang, der Prinz rief nach der Mutter, und die Königin fuhr mit einem leidenschaftlichen Aufschrei von ihrem Fenstersitz aus weißen Kissen auf.

»Wie… wie steht’s mit dem Prinzen?«

Der Prinz zappelte, auf den Boden gelassen zu werden, und die Königin warf sich schluchzend über ihn, den kleinen Mann vom Kopf bis zu den Füßen mit Küssen bedeckend, tausend Kosenamen flüsternd. Des Kindes Zurückhaltung schmolz vor dieser Begrüßung. Er hatte sich vorgenommen gehabt, der Mutter den echten Radschputen zu zeigen, das heißt einen Mann, dem jede öffentliche Gefühlsäußerung in tiefster Seele zuwider ist, aber jetzt lachte und weinte er in ihren Armen. Die Frau aus der Wüste fuhr sich mit der Hand über die Augen und Käte wandte den Blick ab und sah zum Fenster hinaus.

»Wie soll ich Ihnen danken?!« rief die Königin endlich. »O mein Sohn, mein Liebling, Kind meines Herzens, die Götter und sie haben dich wieder gesund gemacht. Wer ist die Frau?« fragte sie rasch, zum erstenmal die hohe Gestalt erblickend, die in ihrem roten Gewand still am Thürvorhang stand.

»Sie hat mich hergetragen aus dem Wagen,« erklärte der Prinz. »Sie sagte, sie sei eine Radschputin von gutem Blut.«

»Vom Stamm der Khohan, eine Radschputin und Mutter von Radschputen,« versetzte die Frau einfach. »Die weiße Fee hat ein Wunder gethan an meinem Mann. Er war krank im Kopf und kannte mich nicht mehr. Freilich mußte er sterben, aber ehe sein Atem entfloh, hat er mich erkannt und beim Namen gerufen.«

»Und sie hat dich getragen!« rief die Königin, den Prinzen schaudernd näher an sich ziehend, denn wie jede Inderin, sah sie in der Berührung, ja dem Blick einer Witwe ein böses Omen.

Die Frau sank der Königin zu Füßen.

»Vergib mir! Vergib mir!« rief sie. »Drei Kinder habe ich geboren, alle haben mir die Götter genommen und meinen Mann zuletzt. Es that so wohl – o so wohl – wieder ein Kind im Arm zu halten! O du kannst ja vergeben,« setzte sie kläglich hinzu, »du bist reich in deinem Sohn und ich bin nur eine Witwe!«

»Bin ich nicht auch eine Witwe?« murmelte die Königin leise vor sich hin, »Sie spricht wahr, ich sollte vergeben – erhebe dich!« Aber die Frau blieb am Boden liegen, der Königin nackte Füße umklammernd.

»Erhebe dich, Schwester!« flüsterte die Königin.

»Wir von den Feldern, wir wissen nicht zu reden mit den Vornehmen. Verzeiht mir die Königin, wenn meine Worte rauh sind?«

»Gewiß verzeihe ich das! Deine Sprache klingt weicher als die der Hügelleute von Kulu, aber fremde Wörter sind darin.«

»Ich komme aus der Wüste, treibe Kamele, melke die Ziegen, wie sollte ich die Sprache des Hofs reden können? Laß die weiße Fee sprechen für mich.«

Käte hatte zerstreut zugehört. Jetzt, da ihr keine Pflicht mehr oblag, kam das Entsetzen über die Schmach, die man ihr angethan hatte, kam die Angst um Tarvin mit neuer Gewalt über sie. Sie sah die Frauen wieder vor sich, wie sie an ihr vorbei gezogen waren, eine nach der andern, sah ihr zerstörtes Werk vor sich und sich aller Hoffnung beraubt, es wieder aufzurichten, und sie sah Tarvin in Todesgefahr, grausam gemordet – durch ihre Schuld!

»Was willst du?« fragte sie teilnahmlos, als die Frau sie am Rocksaum zerrte, setzte aber dann, zur Königin gewendet, hinzu: »Das ist die einzige von all den Frauen, denen ich Liebe erzeigt habe, die heute an meiner Seite blieb, Königin.«

»Ja, es wurde im Palast davon gesprochen,« versetzte die Königin, den Arm um des Prinzen Schultern gelegt, »daß Ihrem Spital Unheil widerfahren sein soll, Sahiba?«

»Ich habe keinen Spital mehr,« sagte Käte bitter.

»Und du hast mir doch versprochen, mich einmal hinzuführen,« bemerkte der Knabe.

»Die Frauen waren Närrinnen,« berichtete das braune Weib von seinem Platz am Boden aus. »Ein toller Priester hat ihnen Lügen aufgebunden, er hat ihnen gesagt, die Arzneien seien verhext …«

»Bewahre uns vor bösen Geistern und Teufelsspuk,« murmelte die Königin.

»Verhext – Arzneien, die sie mit ihrer eigenen Hand mischt und berührt! Und da sind die Närrinnen davongelaufen, Sahiba, und haben geschrieen, ihre Kinder könnten mißgestaltete Affen werden und ihre Hühnerseelchen in die Hölle kommen! Aho! Sie werden’s ja inne werden, morgen schon, nicht erst in acht Tagen, wohin ihre Seelen kommen, denn sterben werden sie alle miteinander, die dummen Gänse, nun ihnen niemand mehr hilft!«

Käte schauderte; sie wußte ja am besten, wie wahr die Frau sprach.

»Aber diese Arzneien,« hob die Königin an. »Man kann doch nicht wissen, ob nicht ein Zauber darin steckt!«

Sie sah Käte an und lachte verlegen.

»Dekho! Sieh diese doch nur an,« sagte das braune Weib mit ruhiger Ueberlegenheit. »Sie ist ein Mädchen und sonst nichts: was vermöchte sie an den Thoren des Lebens auszurichten?«

»Sie hat meinen Sohn gesund gemacht, darum ist sie mir eine Schwester,« erklärte die Königin.

»Sie hat meinen Mann sprechen gemacht vor der Todesstunde, deshalb diene ich ihr mit Leib und Seele, gerade wie dir auch, Sahiba,« sagte das Weib.

Der Prinz blickte fragend in seiner Mutter Gesicht.

»Sie nennt dich ›du‹,« bemerkte er, als ob die Frau ihn nicht hören könnte. »Das ziemt sich nicht! Eine Königin und eine Dörflerin ›du und du‹!«

»Wir sind beide Frauen, kleiner Mann – bleibe ruhig in meinem Arm! O, wie wohl es thut, dich wieder zu halten, du ärmliches Kerlchen!«

»Der Sohn des Himmels sieht aus wie dürrer Mais,« sagte das braune Weib rasch.

»Nein, wie ein ausgemergelter Affe,« fiel die Königin ein, ihre Lippen in des Kindes Haar drückend.

Beide Frauen sprachen laut und nachdrücklich – die Herabsetzung des beliebtesten Guts sollte die Götter täuschen, daß sie nicht neidisch würden auf menschliches Glück.

»Aho – mein kleiner Affe ist tot,« warf der Prinz plötzlich dazwischen. »Ich muß einen andern haben. Laßt mich in den Palast gehen und mir einen neuen Affen aussuchen!«

»Er soll sich nicht im Palast herumtreiben,« rief die Königin erregt, mit einem hilfeflehenden Blick auf Käte, denn sie selbst hatte es nie fertig gebracht, des Knaben Willen zu durchkreuzen. »Du bist noch viel zu schwach, Lalji, – o, Fräulein Sahib, er soll nicht aus dem Zimmer gehen!«

»Es ist mein Befehl,« erklärte der Prinz, ohne die Mutter anzusehen. »Ich will!«

»Bleibe bei uns, Liebling,« sagte Käte geistesabwesend, denn sie überlegte gerade, ob ihr Spital nicht doch in ein paar Monaten wieder zusammengeflickt werden könnte und ob sie die Tarvin drohende Gefahr nicht am Ende überschätzt habe.

»Ich gehe!« wiederholte der Prinz, sich aus den Armen der Mutter lösend, »Ich habe genug von diesem Gethue.«

»Gibt mir die Königin Erlaubnis?« fragte das braune Weib flüsternd.

Die Königin nickte, und der Prinz fühlte sich plötzlich von zwei Armen gefesselt, gegen deren Kraft es keinen Widerstand gab.

»Laß mich gehen, du – du Witwe!« zischte der kleine Mann wütend.

»Es ziemt sich nicht, daß ein Radschpute die Mutter von Radschputen mißachtet, mein König,« lautete die gelassene Antwort. »Wenn der junge Stier der Kuh nicht gehorcht, lehrt ihn das Joch Gehorsam. Der Sohn des Himmels ist noch schwach, in all diesen Gängen, auf den vielen Treppen würde er straucheln und fallen, darum bleibt er hier. Wenn der Zorn verraucht ist, wird er noch schwächer sein, als vorher, jetzt schon …«, die großen leuchtenden Augen bohrten sich förmlich in die des Kinds …, »jetzt schon,« fuhr die gleichmäßige Stimme fort, »weicht der Zorn. Nur noch einen Augenblick, Sohn des Himmels, und du bist kein Prinz mehr, nur ein kleines, kleines Kind, gerade wie die Kinder, die ich geboren habe, ach, und wie ich keines mehr gebären werde.«

Bei den letzten Worten hatte sich das Köpfchen des Knaben auf ihre Schulter gesenkt. Die Heftigkeit hatte sich ausgetobt und ihn, wie die Frau vorausgesehen, müde und schläfrig gemacht.

»O Schmach! O Schmach!« murmelte er schlaftrunken. »Ja, ich will gar nicht mehr fort … laßt mich nur schlafen, schlafen!«

Das braune Weib tätschelte ihn auf den Rücken, bis die Königin hungrige Arme nach ihrem Eigentum ausstreckte und es wieder an sich riß. Sie bettete das Kind auf ein Kissen an ihrer Seite, breitete den Saum ihres langen Musselinkleides über ihn und sah ihr Kleinod zärtlich an. Das braune Weib kauerte sich auf dem Boden zusammen. Käte saß auch auf einem Kissen und lauschte dem Ticken einer billigen amerikanischen Wanduhr, die irgendwo in einer Nische hing. Durch viele Wände gedämpft klang der Gesang einer Frauenstimme herein. Der Mittagswind rauschte in den durchbrochenen Fensterschirmen, und vom Hof, der wohl hundert Fuß tiefer liegen mochte, drang das Scharren und Stampfen der Pferde der Leibwache herauf, die mit den Schwänzen fuchtelten und in den Zaum bissen. Käte lauschte all diesen Geräuschen in abermals wachsender Angst um Tarvin. Die Königin beugte sich immer tiefer über den schlafenden Sohn; Mutterglück feuchtete ihre Augen.

»Jetzt ist er fest eingeschlafen,« sagte sie endlich. »Was war doch das mit seinem Affen, Fräulein Sahib?«

»Er ist gestorben,« versetzte Käte, sich gewaltsam zur Lüge zwingend. »Wahrscheinlich hat er im Garten faules Obst gegessen.«

»Im Garten?« fragte die Königin hastig.

»Ja, im Garten.«

Das braune Weib sah die beiden Frauen forschend an; sie wußte nicht, was sie aus Frage und Antwort machen sollte, und streichelte der Königin die Füße.

»Affen sterben leicht,« bemerkte sie. »In Banswarra habe ich einmal eine Art Pest unter dem Affenvolk erlebt.«

»Wie starb er denn?« fragte die Königin.

»Das… das weiß ich nicht genau,« stotterte Käte.

Und nun herrschte wieder ein langes Schweigen in dem schwülen Raum.

»Fräulein Käte,« begann die Königin dann flüsternd, »was denken Sie über meinen Sohn? Ist er gesund oder nicht?«

»Kräftig ist er nicht, aber mit der Zeit kann er es werden, doch wäre es gut, wenn er eine Weile von hier fort käme.«

Die Königin nickte ergebungsvoll.

»Daran habe ich auch schon oft gedacht, wenn ich so allein saß, und dann war mir’s, als ob mir das Herz aus der Brust gerissen würde. Ja, es wäre gut, wenn er fort käme von hier, nur daß ich so gar nichts weiß von der Welt, wohin er gehen soll,« sagte die arme Mutter, ihre Hände in hilfloser Verzweiflung nach dem Sonnenschein ausstreckend. »Weiß ich denn, ob er dort sicher sein wird? Weiß ich’s denn hier? Seit Sie zu uns gekommen sind, hat mein Herz ein wenig Trost gefunden, aber weiß ich denn, wann Sie wieder gehen?«

»Auch wenn ich da bin, kann ich das Kind nicht vor jedem Uebel behüten,« sagte Käte, die Hände vors Gesicht schlagend. »Darum schicken Sie ihn fort, fort aus diesem Palast, so schnell als möglich. In Gottes Namen lassen Sie ihn ziehen.«

»Such hai! Such hai! Es ist die Wahrheit, die Wahrheit.«

Die Königin wandte sich zu dem Weib, das zu ihren Füßen saß.

»Drei hast du geboren?« fragte sie.

»Drei – ein viertes hat nie geatmet, und lauter Söhne waren’s,« sagte das Weib der Wüste.

»Und die Götter haben sie von dir genommen.«

»An Blattern starb der eine, am Fieber zwei.«

»Bist du gewiß, daß die Götter es gethan?«

»Ich war bei ihnen bis zum letzten Atemzug.«

»Dein Mann – der war also ganz dein eigen?«

»Wir waren nur zu zweien, er und ich. In unsern Dörfern sind die Männer arm, da haben sie genug an einem Weib.«

»O ihr seid reich in euren Dörfern! Höre mich an – wenn ein Kebsweib deinen dreien nach dem Leben getrachtet hätte …«

»Würde ich sie erschlagen haben, was sonst?«

Das Weib rief’s mit bebenden Nüstern und ihre Hand griff rasch in die Falten des Gewandes.

»Und wenn du an Stelle der drei nur einen einzigen gehabt hättest, die Wonne deiner Augen, und gewußt hättest, daß dein Schoß keinen zweiten tragen wird, und das Kebsweib hätte diesem einzigen auf Schleichwegen nach dem Leben getrachtet? Was dann?«

»Ich würde sie erschlagen haben, aber leicht hätte ich ihr das Sterben nicht gemacht. An ihres Mannes Seite, in seinen Armen würde ich sie erschlagen haben, und wenn sie gestorben wäre, eh‘ meine Rache satt war, wäre ich ihr nachgeschlichen in die Hölle.«

»Du kannst in die Sonne hinaustreten und durch die Straßen gehen, und kein Mann sieht sich nach dir um,« versetzte die Königin mit Bitterkeit. »Deine Hände sind frei, dein Antlitz ist unverhüllt. Wenn du aber eine Sklavin wärest unter Sklaven, eine Fremde unter fremdem Volk und« – sie flüsterte es kaum vernehmlich – »der Gunst deines Herrn beraubt?«

Das Weib küßte den zarten Fuß, den ihre Hände umklammert hielten.

»Dann würde ich mich nicht verzehren in Sorge, dann würde ich nur daran denken, wie aus meinem Sohn ein König werden kann, und würde ihn fortschicken, dahin, wo des Kebsweibes Macht nicht reicht!«

»Ist es so leicht, sich die Hand abzuhauen?« fragte die Königin schluchzend.

»Besser die Hand als das Herz, Sahiba! Wer vermöchte ein Kind zu behüten an einem Ort wie dieser?«

»Sie ist von weit her gekommen,« entgegnete die Königin, auf Käte deutend, »und sie hat ihn mir schon einmal vom Tod errettet.«

»Ihre Mittel sind gut und ihre Hand ist geschickt, aber – du weißt es ja – sie ist nur ein Mädchen, das weder Besitz noch Verlust kennt. Es mag ja sein, daß ich ein Kind des Unglücks bin und daß mein Blick Unheil bringt – mein Mann freilich sprach anders im letzten Herbst – aber es mag ja sein. Und doch kenne ich den Schmerz in der Brust und den Jammer um das Neugeborene, wie du ihn kennst.«

»Wie ich ihn kenne!«

»Mein Haus ist leer und ich bin eine Witwe und kinderlos und nie mehr wird ein Mann mich zur Ehe begehren.«

»Wie ich – wie ich…« »Nein, dir ist der Kleine geblieben, mag dich auch sonst alles verlassen haben, und der Kleine muß sorglich behütet werden. Wenn sich Neid und Eifersucht rühren gegen den Knaben, so ist’s nicht wohl gethan, ihn in diesem Mistbeet zu lassen. Laß ihn fort!«

»Aber wohin? Weiß es das Fräulein Sahib? Uns die wir hinterm Vorhang sitzen, ist die Welt ja dunkel.« »Ich weiß, daß der Prinz aus freiem eigenem Antrieb in eine Fürstenschule nach Adschmir gehen möchte, wie er mir selbst gesagt hat,« erwiderte Käte, die, das Kinn in die Hand gestützt, der ganzen Unterredung gefolgt war. »Es handelt sich ja nur um ein Jahr oder zwei.«

Die Königin lachte ein wenig unter ihren Thränen.

»Nur ein Jahr oder zwei, Fräulein Käte! Weiß du nicht, wie lang eine einzige Nacht ist ohne den Knaben?«

»Aber er kann zurückkommen, wenn du ihn rufst, aber kein Rufen bringt die Meinigen zurück. Nur ein Jahr oder zwei. Sahiba, auch denen, die nicht hinterm Vorhang sitzen, ist die Welt dunkel!« sagte das braune Weib leise zur Königin. »Es ist nicht ihre Schuld – wie sollte sie wissen?«

Käte fühlte sich wider Willen verletzt von dieser Art, sie beharrlich als vom Gespräch auszuschließen. Sie, mit dem schweren eigenen Leid im Herzen, sie, die sich andrer Leiden zum Lebensberuf erkoren hatte, sie sollte an diesem gemeinsamen Frauenleid keinen Anteil haben?

»Was soll ich nicht wissen?« fragte sie in diesem Gefühl beinah ungestüm: »Kenne ich etwa den Schmerz nicht? Ist er nicht mein Leben?«

»Noch nicht,« versetzte die Königin sanft. »Weder Leid noch Lust. Fräulein Käte, du bist sehr klug und weißt vieles, ich dagegen bin eine Frau, die nur die vier Wände ihres Palastes kennt, und doch bin ich wissender als du, denn ich weiß, was du nicht wissen kannst, obwohl du mir meinen Sohn zurückgegeben hast und dieser Frau die Sprache ihres Mannes! Womit soll ich dir’s lohnen?«

»Mit der Wahrheit,« flüsterte das braune Weib. »Sag‘ ihr: »Wir sind alle drei Frauen, Sahiba – das abgefallene Laub, der blühende Baum und die verschlossene Knospe.«

Die Königin faßte Kätes Hände und zog das Mädchen sanft zu sich heran, bis ihr Kopf auf dem Knie der Königin ruhte. Erschöpft von den Aufregungen des Morgens, müde an Leib und Seele, ließ sich Käte die Ruhestätte gern gefallen. Weiche, linde Frauenhände strichen ihr das dunkle Haar aus der Stirn, und Augen, die viel geweint hatten, senkten sich tief in die ihrigen, indes der Arm des braunen Weibes sich um ihre Hüften schmiegte.

»Höre mich an, meine Schwester,« begann die Königin mit unendlicher Zärtlichkeit. »In unsern Bergen daheim bei meinen Leuten erzählt man von einer Ratte, die ein Stück Safran gefunden und damit eines Apothekers Laden aufgeschlossen habe. So ist es mit dem Schmerz, den du kennst und heilst, Geliebteste. Du bist mir doch nicht böse? Nein, es darf dich nicht kränken! Vergiß, daß du eine Weiße bist und wir Inderinnen sind, bedenke nur, daß wir Schwestern sind. Kleine Schwester, für uns Frauen alle gilt eine Wahrheit – die kein Kind geboren hat, ist keine Wissende, die Welt ist ihr verborgen. Ich bete zitternd zu dem und jenem Gott, von dem du sagst, er sei schwarzer Stein, ich schaudre vor dem Nachtwind, weil ich glaube, die bösen Geister reiten um diese Stunde an meinem Fenster vorüber, und ich sitze hier im Dunkeln und stricke wollene Sachen, die niemand trägt und bereite Süßigkeiten, die ungekostet von meines Herrn Tisch zurückkommen. Und du, die viele tausend Meilen weit her gekommen, du bist sehr klug und hast mich tausend Dinge gelehrt, wovon ich nichts wußte, und bei alledem bist du doch das Kind und ich bin die Mutter. Was ich weiß, kannst du nicht wissen, kannst den Quell meiner Glückseligkeit nicht ergründen und nicht das Meer meines Leids, bis du selbst gleiches Weh gekostet haben wirst. Ich habe dir von meinem Kind erzählt – alles, ja mehr als alles? Kleine Schwester, weniger als die Wurzeln meiner Liebe zu ihm habe ich dir gezeigt, weil ich wußte, daß du mich nicht verstehen könntest! Ich hätte dir mein Leid geklagt, all mein Leid und mehr denn alles, meinst du, als ich mein Gesicht an deine Brust lehnte? Wie hätte ich dir alles klagen können? Du bist ein Mädchen und das Herz in deinem Busen, das am meinigen schlug, verriet mir schon durch seinen Schlag, daß es mich nicht verstand. Und siehe, dieses Weib, das von draußen herein kommt, weiß mehr von mir als du! Und in einer Schule, so hast du mir erzählt, haben sie dich gelehrt, wie man Kranke heilt, und es gibt keine Krankheit, von der du nicht wüßtest? Kleine Schwester, was soll die vom Leben verstehen, die nie Leben gab? Hast du je ein Kind saugen gefühlt an deiner Brust? Was brauchst du denn zu erröten? Hast du’s gefühlt? Nein, ich weiß es! Als ich deine Sprache zum erstenmal vernahm, als ich dich nur gehen sah im Hof von meinem Fenster aus, wußte ich, daß du es nie gefühlt hast. Und die andern, meine Schwestern in der Welt, wissen’s auch, nur daß sie nicht zu dir sprechen wie ich. Wenn das Leben wächst in ihrem Schoß und sie wach liegen in der Nacht, hören sie die ganze Erde sich rühren nach dem Takt ihres Herzschlags. Aber warum sollen sie dir das sagen? Heute ist dein Werk im Spital unter dir zusammengebrochen – ist’s nicht so? Und die Frauen sind fortgegangen, eine nach der andern? Und was hast du ihnen gesagt?«

An Kätes Stelle antwortete das braune Weib: »Sie sagte: Bleibt bei mir, ich will euch gesund machen.«

»Und mit welchem Eid hat sie’s ihnen gelobt?«

»Mit keinem Eid,« versetzte die Frau. »Sie stand nur unterm Thor und rief sie an.«

»Und worauf soll sich ein Mädchen berufen, um schlotternde Weiber zurückzuhalten? Auf die Mühsal, die sie auf sich genommen hat? Die verstehen jene nicht, aber von den Schmerzen, die ein Weib mit dem andern geteilt hat, weiß jede. Kein Kind hat in deinen Armen geruht, der Mutterblick leuchtet nicht aus deinen Augen, mit welchem Zauber willst du denn Weibern gebieten? Sie sagten, deine Arzneien seien verhext und die Frucht ihres Leibes werde mißgestaltet – was weißt denn du von der Quelle des Lebens und Todes, um sie anders zu belehren? In den Büchern deiner Schule, ich weiß es wohl, steht geschrieben, daß solche Dinge nicht sein können, aber wir Frauen lesen keine Bücher, nicht aus Büchern lernen wir das Leben begreifen. Wie sollte eine, die es nur aus Büchern kennt, unsern Willen lenken? Es müßte denn sein, daß die Götter ihr beistehen und die Götter sind fern. Du hast dein Leben dran gesetzt, den Frauen zu helfen, kleine Schwester – wann wirst du selbst Weib werden?«

Die Stimme verstummte. Kätes Haupt war im Schoß der Königin vergraben; sie hob es nicht.

»Uy!« sagte das braune Weib. »Das Zeichen des Frauenstandes ist von meinem Haupt genommen, die Glasspangen an meinem Arm sind zerbrochen und mein Anblick bedeutet Unheil dem Manne, der auf die Reise auszieht. Solang ich lebe, muß ich einsam bleiben, allein mein Brot verdienen und an die Toten denken. Aber wenn ich auch wüßte, daß ich alles Leid noch einmal erfahren sollte, in einem statt in zehn Jahren, doch würde ich den Göttern danken, daß sie mir Liebe geschenkt haben und ein Kind. Will das Fräulein Sahib diese Worte als Zahlung nehmen für alles, was sie an meinem Mann gethan hat? ›Ein wandernder Priester, ein kinderloses Weib und ein Stein im Wasser, die gehören zusammen,‹ sagt ein Wort unsres Volkes. Was will das Fräulein Sahib jetzt beginnen? Die Königin hat Wahrheit gesprochen. Die Götter und deine Weisheit, die weit hinaus geht über die Mädchenweisheit, haben dir bis hierher geholfen. Des bin ich Zeuge, die ich um dich war und dein Thun gesehen habe. Aber die Götter haben dir zu wissen gethan, daß ihre Hilfe zu Ende sei – was bleibt dir dann? Ist dies ein Leben für eine wie du? Ist es nicht, wie die Königin sagt? Sie, die hier allein sitzt und nichts sieht von der Welt, hat gesehen, was ich sah und wußte, als ich dich Tag für Tag bei den Kranken sah – kleine Schwester, ist es nicht so?«

Käte hob langsam den Kopf und stand auf. »Nimm das Kind, und laß uns gehen,« sagte sie mit heiserer Stimme.

Die barmherzige Dunkelheit im Zimmer verbarg den andern ihr Antlitz.

»Nein,« entschied die Königin. »Die Frau soll ihn zurückbringen. Geh‘ du allein.«

Und Käte ging.

Erstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Nikolas Tarvin saß im Mondschein auf der geländerlosen Brücke, die oberhalb von Topaz über den Bewässerungsgraben führt, und ließ seine Füße über dem dunklen Wasser baumeln. Neben ihm saß ein schmächtiges braunes Mädchen mit traurigen Augen, das schweigend in den Mond starrte. Ihrer dunklen Haut sah man an, daß dieses Mädchen weder Sonne noch Regen noch Wind scheute, und ihre Augen waren jener eingewurzelten Schwermut voll, die sich gerne ansiedelt in Augen, die hohe Berge und endlose Ebenen, Sorge und Leben geschaut haben. Solche Augen beschatten die Frauen des Westens mit der Hand, wenn sie um Sonnenuntergang unter der Thüre ihrer Hütte über die gras- und baumlose Heide oder welliges Hügelland hinausspähen nach dem heimkommenden Mann. Wo das Leben hart ist, ist’s immer am härtesten für die Frau.

Käte Sheriff war aufgewachsen, das Gesicht nach Westen gekehrt: seit sie auf den Füßen stehen konnte, hatten ihre heißen Augen auf der Wildnis gehaftet. Mit der Eisenbahn war sie in diese Wildnis eingedrungen und vorwärts geschritten, aber bis zur Zeit, wo sie in die Schule geschickt wurde, hatte sie nie an einem Ort gelebt, an dem die Eisenbahn vorübergefahren wäre. Sie hatte mit den Ihrigen oft lang genug am Ende einer Teilstrecke gewohnt, um das erste nebelige Frührot der Civilisation aufdämmern zu sehen, in der Regel durch elektrisches Licht verkörpert, aber in den neuen und immer neueren Gegenden, wohin der Vater von Jahr zu Jahr als Eisenbahningenieur vorrückte, gab es nicht einmal Bogenlampen. Es gab nur ein Wirtschaftszelt und eine Bauhütte, in der sie wohnten und worin die Mutter manchmal allen Arbeitern, die unter ihres Mannes Befehl standen, Kost und Wohnung geben mußte. Diese Verhältnisse und Einflüsse waren aber nicht die alleinigen Urheber der Eigenart des dreiundzwanzigjährigen Mädchens, das neben Tarvin saß und ihm eben sanft und milde auseinandergesetzt hatte, daß sie ihm wohl von Herzen gut sei, aber anderwärts eine Pflicht habe.

Diese Pflicht war, ihrer Auffassung nach, ihr Leben daran zu setzen, um die Lage der Frauen in Indien zu verbessern. Gegen Ende ihres zweiten in Saint Louis verbrachten Schuljahrs, wo sie die losen Fäden der Bildung, die ihr die Einsamkeit und die sie sich selbst in der Einsamkeit gegeben hatte, zusammenknüpfen wollte, war diese Aufgabe wie eine Eingebung, ein höheres Geheiß an sie herangetreten.

An einem Aprilnachmittag, der durchsonnt und durchglüht war vom ersten Frühlingshauch, hatte Käte ihre »Sendung« erhalten. Das sprossende Grün, die ersten Blüten und der helle Sonnenschein hatten sie stark in Versuchung geführt, dem angekündigten Vortrag einer Hindufrau über Indien fern zu bleiben, und nur weil es unentrinnbare Schülerpflicht war, hatte sie sich schließlich in den Saal begeben, um Pundita Ramabais Bericht über die traurige Lage ihrer Schwestern in der Heimat zu lauschen. Es war eine herzbrechende Schilderung gewesen, und nachdem die Mädchen ihr in fremdartigen Tönen erbetenes Scherflein zur Linderung der Not gespendet hatten, gingen sie, je nach dem Maß ihrer Naturen bewegt und erschüttert, hinaus und unterhielten sich zuerst im Flüsterton über das Gehörte, bis ein helles Kichern die Spannung löste und wieder das sonstige Geplapper durch den Flur schallte.

Käte hatte sich mit dem starren, nach innen gekehrten Blick, den brennenden Wangen und dem beflügelten Gang eines Menschen, auf den sich der heilige Geist herabgesenkt hat, aus dem Saal geflüchtet. Sie ging rasch in den Garten, um allein zu sein, und schritt die mit Frühlingsblumen eingefaßten Wege entlang. Sie fühlte sich unsäglich erhoben, reich, sicher, glücklich; sie hatte sich selbst entdeckt. Die Blumen wußten es, die zartblätterigen Zweige über ihrem Haupt verstanden sie, der leuchtende Abendhimmel hatte Kunde von dem, was in ihr vorging. Ihr war stolz und freudig zu Mut, sie hätte tanzen mögen und noch viel lieber weinen. In ihren Schläfen schlugen die Pulse heftig, das warme junge Blut brauste in ihren Adern, und von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um mit tiefen Atemzügen die erfrischte Luft einzusaugen. Das war die Stunde, wo sie sich ihrer Pflicht gelobte.

Von dieser Stunde sollte ihr ganzes Leben zehren: sie weihte es dem Dienst, der ihr an diesem Tag gewiesen worden war wie den Propheten ihre Aufgaben, weihte diesem Dienst alle Kraft ihres Geistes und Herzens. Der Engel des Herrn hatte ihr ein Geheiß gebracht, und sie gehorchte freudig.

Zwei Jahre hatte sie gebraucht, sich tüchtig zu machen für ihren Beruf; nun war sie nach Topaz zurückgekehrt, eine gründlich geschulte, leistungsfähige Krankenpflegerin, die nach ihrer Arbeit in Indien lechzte, und mußte erleben, daß dieser Tarvin sie in Topaz festhalten und heiraten wollte.

»Nenn’s, wie du magst,« sprach Tarvin auf sie ein, während sie in den Mond starrte, »du kannst es Pflicht taufen, du kannst vom Beruf der Frau reden oder du kannst behaupten, du müssest denen, die in Finsternis sitzen, Licht bringen, wie sich der aufdringliche Missionar heute abend in der Kirche ausdrückte. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß du allerlei schöne Redensarten machen kannst; den Dingen ein Mäntelchen umhängen lernt man ja im Osten, aber was mich betrifft, ich nenn’s ganz einfach Herzlosigkeit.«

»O sag das nicht, Nick! Es ist ein Geheiß.«

»Dir wird geheißen, daheim zu bleiben, und falls dir das nicht bestellt worden ist, habe ich den Auftrag, es dir zu sagen,« erklärte Tarvin. Er warf dabei Kiesel ins Wasser und schaute mit finster zusammengezogenen Brauen in die schwarzgurgelnde Flut.

»Lieber Nick, wie kannst du nach dem, was wir heute abend beide hörten, eine die frei ist, noch drängen, sich wegzuschleichen, daheim zu bleiben?«

»Heiliger Dampf! Heutzutage sollte man Missionar werden, um euch Mädchen zu predigen, daß ihr die alte Weltmaschine nicht im Stich lassen dürft! Ihr taugt nichts unter der neuen Ordnung der Dinge. Ihr bildet euch ein, Fahnenflucht sei der Weg zur Ehre!«

»Fahnenflucht!« rief Käte, ihn mit großen Augen anstarrend.

»Nun, willst du’s etwa anders benamsen? So und nicht anders würde es das kleine Mädchen genannt haben, das ich auf Sektion Zehn der Nord Pacific-Linie kannte! O, liebe Käte, versetze dich einmal in die alten Zeiten zurück, besinne dich auf dich selbst, besinne dich darauf, was wir einander waren, vielleicht merkst du dann, daß die Sache zweierlei Gesichter hat. Du hast ja auch Vater und Mutter, nicht? Du wirst wohl nicht behaupten, daß es rechtschaffen sei, Vater und Mutter im Stich zu lassen! Und neben dir auf dieser Brücke sitzt ein Mensch, der dich liebt mit allem, was in ihm und an ihm ist, dich liebt, du kleines Ding, dauerhaft liebt. Früher hast du ihn doch auch ein wenig leiden mögen, nicht?« Sachte legte er den Arm um sie bei diesen Worten und eine Weile lang ließ sie ihn gewähren.

»Bedeutet dir denn das alles gar nichts, Käte? Meinst du nicht, du habest hier auch einen Beruf, Käte?«

Er zwang sie, ihm ihr Gesicht zuzuwenden, und blickte ihr wehmütig in die Augen. Sie waren braun und das Mondlicht vertiefte ihren stillen, reinen Glanz.

»Glaubst du denn, ein Anrecht auf mich zu haben?« fragte sie bang.

»Ich glaube alles, was nötig ist, um dich festzuhalten! Aber nein, eigentliches Anrecht hab‘ ich nicht, wenigstens keins, das du nicht nach deinem Willen aufheben könntest. Aber wir alle haben Anrecht aneinander, hol’s der Teufel, die Verhältnisse sind unsre Herren! Und wenn du nicht hier bleibst, so ist’s ein Rechtsbruch, das meine ich.«

»Du kannst doch nichts ernsthaft auffassen. Nick,« sagte sie, seinen Arm wegschiebend.

Tarvin konnte zwar zwischen seinen Worten und dieser Behauptung keinen Zusammenhang entdecken, aber er sagte gutmütig: »O doch, aber dir zuliebe kann ich auch das Ernsthafteste spaßhaft nehmen.«

»Da siehst du’s ja! Dir ist nichts ernst!«

»Eins ist mir voller Ernst,« flüsterte er ihr ins Ohr.

»Wirklich?« meinte sie, das Gesicht abwendend.

»Daß ich ohne dich nicht leben kann,« fuhr er zu ihr gebeugt noch leiser fort, »und auch nicht will, Käte.«

Käte preßte die Lippen aufeinander. Sie konnte auch »wollen«. So saßen sie in Streit und Widerstreit auf der Brücke beisammen, bis in einer Hütte jenseits des Wassergrabens die Küchenuhr elf Uhr schlug. Das Wasser kam von den Bergen herab, die über ihren Häuptern hingen, die Stadt war eine halbe Stunde weit entfernt. Als Käte jetzt aufstand und entschieden erklärte, daß sie heim müsse, schlugen Stille und Einsamkeit förmlich über Tarvin zusammen. Er fühlte, daß sie nach Indien zu gehen entschlossen war, und sein Wille zerbröckelte für den Augenblick rettungslos am harten Gestein des ihrigen. Er fragte sich, wo denn die Kraft sei, womit er sein Brot erwarb, die Willensstärke, die ihn mit seinen achtundzwanzig Jahren zu einem einflußreichen Mann gemacht hatte, vorderhand nur in Topaz allerdings, die ihn aber bald in die gesetzgebende Körperschaft seines Staates und noch viel weiter tragen mußte, wenn nicht zu sein aufhörte, was war – – Er schüttelte sich ordentlich vor Selbstverachtung und er mußte sich sagen, daß es ja nur ein Mädchen sei, wenn er sie auch liebe, ehe er die Voranschreitende einholen und sagen konnte: »Du bist wohl schon unterwegs nach Indien?«

Sie gab keine Antwort und ging ruhig weiter.

»Du wirst dein Leben nicht wegwerfen an dieses indische Hirngespinst,« fuhr er fort. »Ich werd’s nicht zugeben! Dein Vater auch nicht! Deine Mutter wird heulen und wehklagen und ich werde sie aufstacheln, dir Widerstand zu leisten. Wenn du es nicht einsiehst, daß wir dich brauchen, wir wissen es sehr genau. Du hast auch gar keinen Begriff von dem, was du auf dich nehmen willst! Das Land ist nicht einmal gut genug für Ratten, es ist ein Morast, ja das ist’s, ein ungeheurer Morast, sittlich, landwirtschaftlich, gesundheitlich Morast. Das ist kein Ort für den weißen Mann, geschweige denn die Frau – kein Klima, keine Regierung, keine Abzugskanäle, nur Cholera, Hitze und Kampf, bis man drauf geht. Du kannst’s im Sonntagsblatt genau lesen, wie das ist, und du wirst gütigst bleiben, wo du bist, mein Fräulein!«

Sie blieb mitten auf der Straße, die nach Topaz führte, einen Augenblick stehen und sah in sein vom Mond beschienenes Gesicht. Er griff nach ihrer Hand und wartete in atemloser Angst auf ihre Antwort, er, der Herr und Gebieter.

»Du bist ein guter Mensch, Nick,« sagte sie, die Blicke senkend, »aber am 31. reise ich ab nach Kalkutta.«

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Um am 31. in New York an Bord zu gehen, mußte sie am 27. von Topaz abreisen. Jetzt war der 15. und Tarvin nützte die übrigbleibende Frist. Jeden Abend kam er in ihr väterliches Haus und sie tauschten ihre Gründe und Gegengründe.

Mit der sanftmütigsten Willfährigkeit, sich überzeugen zu lassen, lauschte Käte seinen Worten, aber eine bedrohliche Entschlossenheit lag um ihren Mund und ein wehmütiges Verlangen, gut gegen ihn zu sein, wenn es irgend anging, kämpfte in ihrem Blick mit einer noch wehmütigeren Hilflosigkeit.

»Ich bin berufen!« rief sie. »Ich bin berufen, ich kann mich dem Geheiß nicht entziehen. Ich muß der Stimme lauschen, ich muß gehen.«

Und wenn sie ihm mit Schmerzen schilderte, wie der Hilfeschrei ihrer Schwestern aus dem dunklen, dumpfen Elend heraus, das so deutlich vor ihr stand, ihr Herz ergriffen hatte, wie die zwecklose Qual und alle Greuel des Lebens, das jene führten, Tag und Nacht an ihr Herz pochten, nach ihr schrieen, dann konnte Tarvin den Hilferuf dieser tiefempfundenen Not, der sie ihm aus den Armen riß, seine Achtung nicht versagen. Zwar konnte er sich nicht enthalten, Käte mit allen Worten und Tönen, die ihm zu Gebote standen, anzuflehen, daß sie ihm nicht Gehör schenke, aber fremd oder unverständlich war die Gewalt dieses Notschreis seinem eigenen großmütigen Herzen keineswegs. Er machte nur eindringlich geltend, daß gerade nach Käte Sheriff auch andre schrieen, und daß sich dafür andre finden würden, jenem Notschrei zu gehorchen. Er war ja auch in Not, er brauchte sie ja auch und sie ihn, wenn sie sich nur die Zeit nehmen wollte, ihr eigenes Herz anzuhören. Sie brauchten einander dringend, jedes that dem andern not und diese Not war die oberste. Die Frauen in Indien konnten sich ja auch noch länger gedulden, später, wenn die C. C. C. durch Topaz laufen und Tarvin sein Schäflein geschoren haben würde, konnten sie miteinander hinübergehen und jenen Hilfe bringen. Einstweilen wollten sie glücklich sein, sich lieben!

Tarvin war erfinderisch: seine Liebe war tief und echt, er wußte ganz genau, was er wollte, und er fand die Ueberredungskunst, dem Mädchen beinahe beizubringen, es sei im Grunde dasselbe, was sie wolle, nur in andrer Einkleidung. Käte hatte oft genug Mühe, ihren Entschluß in den Pausen zwischen seinen Besuchen wieder aufzurichten, zu kräftigen. Sie konnte ihm nicht viel entgegenhalten, sie hatte nicht seine Mitteilungsgabe, sein Ausdrucksvermögen. Ihre Natur war eine von jenen lautlosen, tiefen, die nur fühlen und handeln können.

Sie hatte auch den stillen, kühlen Mut und die Fähigkeit, klaglos zu leiden, die solchen Naturen eigen sind, sonst hätte sie schon oft erschrecken und erliegen müssen an den Schwierigkeiten, die der Ausführung des Entschlusses, den sie vor zwei Jahren im Schulgarten an einem linden Frühlingsabend gefaßt hatte, entgegenstanden. Sie hatte ihrer viele kennen gelernt. Die erste war der Widerstand der Eltern gewesen. Ihr Wunsch, Medizin zu studieren, war ihr rundweg versagt worden. Sie wäre gern Arzt und Pflegerin zugleich geworden, denn sie glaubte sich in Indien in diesen beiden Berufsarten nützlich machen zu können. Da ihr der Weg zu einer verschlossen wurde, beschied sie sich damit, in eine New Yorker Ausbildungsanstalt für Krankenpflege einzutreten. Die Eltern stimmten notgedrungen zu: sie waren bestürzt über die Entdeckung, daß sie den sanft entschlossenen Widerstand ihres Kindes nicht mehr brechen konnten, nachdem sie dieses Kind sein Leben lang in allen Stücken hatten gewähren lassen.

Als sie der Mutter ihre Gedanken und Pläne anvertraut hatte, fühlte diese nahezu ein Bedauern, daß man Käte nicht so wild hatte aufwachsen lassen können, als einst zu erwarten gewesen war. Ja es that ihr sogar leid, daß ihr Mann jetzt eine andre Thätigkeit gefunden hatte, als den ihr früher so verhaßten Eisenbahnbau. Die Bahn ging jetzt tatsächlich an ihrem Wohnort vorüber! Als Käte von der Schule heimkam, lag Topaz schon hundert Meilen von dem jetzigen westlichen Endpunkte der Bahn zurück und ihre Eltern waren noch dort. Dieses Mal hatte das Schnauben der Lokomotiven sie überholt. Ihr Vater hatte Felder gekauft, die rasch zu Bauplätzen für die junge Stadt wurden, und war jetzt zu wohlhabend, um noch leicht beweglich zu sein. So hatte er seinen Beruf als Ingenieur aufgegeben, und widmete sich stark der Politik.

Sheriffs Gefühl für seine Tochter war nicht tiefer als der Mann im allgemeinen, aber es bestand in einer gerade bei seichten Naturen nicht ungewöhnlichen anschmiegenden Zärtlichkeit, und dabei übte er gegen sie eine gewohnheitsmäßige Nachsicht, wie sie dem einzigen Kind häufig zu teil wird. Er pflegte zu sagen, daß ihm alles was sie thue, »ziemlich recht« sei, und damit ließ er in der Regel den Dingen ihren Lauf. Jetzt war er stark von dem Gedanken erfüllt, wie sein Reichtum ihr zu gute kommen werde, und Käte brachte es nicht übers Herz, ihn darüber aufzuklären, wie sie ihn zu genießen gedachte. Ihrer Mutter vertraute sie den Plan in seinem vollen Umfang an, dem Vater sagte sie nur, daß sie sich gründlich in der Krankenpflege ausbilden wolle. Die Mutter grämte sich insgeheim darüber, grämte sich mit der bitteren, philosophischen, beinahe heiteren Hoffnungslosigkeit der Frauen, die das Leben gelehrt hat, das Schlimmste für das Wahrscheinlichste zu halten. Es that Käte bitter weh, ihrer Mutter eine solche Enttäuschung bereiten zu müssen, und es schnitt ihr ins Herz, daß sie nicht thun konnte, was Vater und Mutter von ihr erwartet hatten. Nicht daß sie bestimmte Erwartungen ausgesprochen hätten, aber für selbstverständlich hatten sie es gehalten, daß Käte von der Schule heimkommen und ein Leben führen würde gerade wie andre Haustöchter auch. Sie sah ein, wie berechtigt und verständig diese Voraussetzung war, und sie weinte nicht minder um die Eltern, weil sie für ihre Person felsenfest, wenn auch in aller Demut glaubte, daß es eben anders bestimmt sei.

Das war ihre erste Anfechtung gewesen, und von Tag zu Tag steigerte sich der Gegensatz jener heiligen Weihestunde im Garten und der nüchternen Werktäglichkeit, die nötig war, den Entschluß zur Ausführung zu bringen. Das war qualvoll und konnte einem das Herz recht schwer machen, aber Käte ging vorwärts auf ihrer Bahn, nicht immer mit voller Kraft, nicht jederzeit tapfer und mutig, oft genug auch mit geringer Weisheit, aber sie ging voran.

Das Leben im Schwesternhaus war wieder eine grausame Enttäuschung gewesen. Sie hatte sich den einzuschlagenden Pfad freilich unbequem und dornenvoll gedacht, aber nach den ersten vier Wochen hätte sie bitter auflachen mögen, wenn sie ihre Träume von Aufopferung mit der Wirklichkeit verglich. In ihren Träumen hatte sie nur die Erhabenheit des Berufs gesehen, in der Wirklichkeit war davon blutwenig zu spüren. Sie hatte gewähnt, schon in der Lehrzeit Hilfe und Heilung spenden zu können, Elend und Leiden durch herzlichen Zuspruch zu lindern, in Wirklichkeit bestand ihr Tagewerk darin, Milchflaschen für kleine Kinder zu spülen.

Auch die nächsten Arbeiten, wozu sie von dieser Stufe aufrückte, standen in keiner Beziehung zu der segensreichen Thätigkeit einer Pflegerin, und wenn sie sich unter den anderen jungen Mädchen umsah, wie sie wohl ihre Ideale aufrecht hielten in einer so meilenweit vom Beruf entlegenen Thätigkeit, mußte sie sich sagen, daß diese meist um so leichter durchkamen, als sie gar keine Ideale hatten. Als sie dann vorrückte, als ihr endlich die Kinder selbst anvertraut wurden und nicht nur ihre Milchflaschen, als sie später zur wirklichen Krankenpflege zugelassen wurde, bekam sie es zu fühlen, wie vereinsamt sie gerade durch ihr hohes Ziel war. Die andern waren hier, um ein Geschäft zu erlernen, mit wenigen Ausnahmen würde ihnen Schneidern oder Putzmachen ganz dasselbe bedeutet haben. Sie wollten einfach das Nötige erlernen, um zwanzig Dollars in der Woche zu verdienen, und das Gefühl dieser niedrigen Auffassung in ihrer Umgebung demütigte Käte mehr, als die niedrige Arbeit, die sie zur Vorbereitung für ihren hohen Beruf leisten mußte. Das Geschwätz eines jungen Mädchens aus Arkansas, das sich auf einen Tisch setzte, mit den Beinen baumelte und Vorträge hielt, wie man mit den jungen Assistenzärzten in der Klinik liebäugeln könne, raubte ihr mitunter allen Mut. Zu all dem gesellte sich dann schlechtes Essen, spärlicher Schlaf, ungenügende Erholungs- und grausam lange Arbeitsstunden, kurz, der ganze Kraftaufwand, der nötig war, auch nur körperlich stand zu halten.

Außer der Arbeit, die sie mit den andern teilte, nahm sie auch noch regelmäßig Unterricht im Hindostanischen. Wie oft gedachte sie dankbar der Kindheit in frischer Luft und freier Bewegung, die ihre Kraft gestählt, ihren Körper widerstandsfähig gemacht hatten! Wäre es anders gewesen, sie hätte manchmal zusammenbrechen müssen, und nicht zusammenzubrechen wurde zur Pflicht, sobald sie anfangen durfte, wirklich Leiden zu lindern. Das versöhnte sie auch schließlich mit den niedrigen, stumpfsinnigen Bedingungen, unter denen sich diese ganze Vorbereitung für ihr Werk vollzog.

Das Widerliche, das die Pflegerin mitansehen muß, stieß sie nicht ab, im Gegenteil lernte sie den Dienst lieben, sobald sie recht in Zug gekommen war, und als sie nach Ablauf des ersten Lehrjahres eine Abteilung in einem Frauenspital unter Leitung einer Oberschwester ganz übernehmen durfte, fühlte sie sich ihrem Ziel näher gerückt, sah es wieder in greifbarer Deutlichkeit vor sich und glühte von einem Interesse, das ihr selbst die chirurgischen Operationen lieb machte, weil sie Hilfe bringen und weil sie ihr gestatteten, hilfreich zu sein.

Von nun an war sie mit voller Seele und mit Erfolg bei ihrer Arbeit. Sie wollte ja viel lernen, Erfahrungen sammeln, sachkundig und durchaus tauglich werden. Wenn die Zeit da war, wo hilflose, von der Welt abgesperrte indische Frauen nirgends Trost und nirgends Belehrung finden würden als bei ihr, sollte diese Stütze zuverlässig, ihre Urteilskraft ausgebildet sein. Manche Prüfungen hatte sie noch zu bestehen, aber sie fühlte sich gehoben von der Gewißheit, daß ihre Kranken sie gern hatten, daß ihr Kommen und Gehen ihnen Licht und Schatten bedeutete. Die Hingebung an ihre Aufgabe sicherte den Erfolg. Bald ruhte die ganze Verantwortlichkeit auf ihr und in dem langen, kahlen Krankensaal, wo sie mit dem Tod umging und lebte, wo sie mit leisen Schritten wandelnd, unaussprechlichen Schmerz linderte, den Schrei der Todesangst kennen lernte, und das Aufatmen der Erleichterung, wo kein Laut der Außenwelt an ihr Ohr drang, da durchforschte sie in nächtlicher Stille die Tiefen des eigenen Gemüts und erhielt von einer inneren Stimme die Bestätigung ihres Berufenseins. Jetzt weihte sie sich zum zweitenmal dem erkorenen Dienst und zwar mit einer Freudigkeit, die weit über die der ersten, dämmernden Erkenntnis hinausging.

Für den Augenblick aber war sie daheim in Topaz und jeden Abend von halb acht Uhr an hing Tarvins Hut am Kleiderrechen im Flur! Nach elf Uhr stülpte er diesen Hut mit trübseliger Miene wieder auf und in der Zwischenzeit hatte er Tag für Tag flehend, überredend, befehlend, demütig und entrüstet ihren Entschluß bekämpft. Die Entrüstung galt ihrem Plan, mitunter dehnte sie sich aber auch unwillkürlich auf Käte selbst aus. Diese war im stande, ihren Plan und sich selbst zu verteidigen, ohne je heftig zu werden: da diese Selbstbeherrschung aber nicht nach Nicks Sinn war, wurde die Erörterung manchmal jählings und lange vor elf Uhr abgebrochen. Am Abend darauf kam er aber dann doch wieder, saß lammfromm wie ein bußfertiger Sünder vor ihr und bat sie, die Ellbogen auf die Kniee, den Kopf schwermütig in die Hand gestützt, beinahe demütig, doch Vernunft anzunehmen. Diese Stimmung hielt indessen nie lange vor, und Abende dieser Art endeten in der Regel damit, daß er durch gewaltsame Bearbeitung der Armlehnen seines Stuhles mit überzeugter Faust die Vernunft in ihr armes Gehirn einzuhämmern versuchte.

Tarvin konnte niemand gern haben ohne den Drang, ihm seine Anschauungen, seinen Glauben beizubringen, dieser Drang entsprang aber einem guten Herzen und war Käte nicht unangenehm. Ja es war ihr so vieles angenehm an ihm, daß sie manchmal, wenn sie sich Aug in Auge gegenübersaßen, ihre Gedanken zurückschweifen ließ zu den Träumen ihrer Schulmädchenzeit, die ihr oft genug die Möglichkeit einer Zukunft an seiner Seite vorgegaukelt hatten, aber diese Gedanken wurden immer mit heftigem Zügelruck zurückgerissen. Sie hatte ja jetzt ganz andres zu bedenken, aber das stand fest, zwischen ihr und Tarvin war eine Beziehung vorhanden und mußte bestehen bleiben, die ihr bei keinem andern Mann denkbar gewesen wäre. In derselben Bauhütte am Abschluß der Teilstrecke mitten in der Prairie hatten sie gewohnt, und Tag für Tag waren sie beide zum selben einsamen, einförmigen Leben erwacht. Die Sonne brachte ihnen den grauen Morgen in die düstere, endlose graue Ebene, und wenn sie abends sank, ließ sie die beiden allein zurück mitten in dem furchtbaren Schweigen des unendlichen Raumes. In dem schmutzigen Bach, nahe bei der Bauhütte, brachen sie im Winter miteinander Eis aus und Tarvin trug Kätes Bütte neben der seinigen heim. Es lebte ja noch ein Dutzend junger Leute unter ihrem Dach, aber Tarvin war vor allen gütig. Die andern waren auch voll Diensteifer und thaten alles, was sie haben wollte, aber Tarvin brauchte kein Geheiß, ja er besorgte manches für sie, während sie schlief. Arbeit gab es ja genug. Die Mutter hatte eine Familie von fünfundzwanzig Köpfen zu versorgen, zwanzig davon Pensionäre, die in der oder jener Art unter Sheriffs unmittelbarer Leitung arbeiteten. Die eigentlichen Taglöhner wohnten in großen Baracken, mitunter auch in flüchtig aufgebauten Hütten oder Zelten. Die Sheriffs allein hatten ein Haus, das heißt ein richtiges Dach mit vorspringenden Wasserspeiern über dem Kopf, Fenster, die man öffnen und schließen konnte und eine Altane, die ringsum lief. Damit war aber auch das Maß der ihnen zu Gebot stehenden Bequemlichkeiten voll; Mutter und Tochter hatten alle Hausarbeit zu verrichten mit Hilfe von zwei Schwedinnen, die zwar stählerne Muskeln, aber höchst unklare Begriffe von Kochkunst hatten.

Tarvin half Käte in allen Stücken und sie lernte sich ganz auf ihn verlassen; daß sie sich helfen ließ, dafür liebte er sie. Gemeinsame Arbeit, gegenseitige Abhängigkeit, Abgeschlossenheit von der Welt band sie aneinander, und als Käte in die Schule abging, bestand ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen. Die Tragweite eines solchen Einverständnisses hängt von der Auffassung des Mädchens ab, von ihrer Willigkeit, es anzuerkennen. Als Käte zum erstenmal in den Ferien nach Hause kam, verleugnete ihr Betragen dieses Einverständnis nicht, aber es diente ihm auch nicht zur Bestätigung, und Tarvin, so zäh und zugreifend er in andern Dingen war, mochte seine Rechte nicht geltend machen. Es war kein Rechtsanspruch, den er einem Gerichtshof hätte beweisen können!

Solange er des Glaubens war, Käte immer in erreichbarer Nähe zu haben, solange er sich ihre künftigen Jahre wie die Jugendzeit aller Mädchen vorstellte, war diese Langmut ja ganz am Platz. Als sie ihm aber sagte, daß sie nach Indien gehen wolle, bekam die Sache ein andres Gesicht. Er dachte nicht an Rücksichten der Schicklichkeit oder gelassenes Zuwarten, nicht an die Notwendigkeit einer geduldigen Werbung, als er mit ihr im Mondschein auf der Brücke saß und an all den Abenden, die darauf folgten; sein Verlangen nach ihr, die Notwendigkeit, sie festzuhalten, erfüllten und bedrückten sein Herz.

Aber es sah ganz danach aus, als ob sie gehen würde, fortgehen trotz allem, was er dagegen sagte, trotz seiner großen Liebe. An diese Liebe zu glauben, hatte er sie wenigstens gelehrt, wenn man das einen Trost nennen will. Ja, sie hatte diese Liebe so deutlich erkannt, daß ihr das Herz weh that um ihn, und das war ein Trost.

Mittlerweile kam sie ihm in jeder Hinsicht teuer zu stehen, diese Liebe, und Käte hatte ihn lieb genug, um sich darüber zu beunruhigen. Wenn sie ihm aber vorhielt, er dürfe nicht so viel Zeit und Gedanken an sie verschwenden, so entgegnete er, sie solle sich seinetwegen ihren kleinen Kopf nicht zerbrechen, er sehe mehr in ihr als in Geld und Gut und Politik und wisse ganz genau, was er zu thun habe.

»Aber du bedenkst nicht, in welch heikle Lage du mich bringst,« versetzte sie. »Ich möchte nicht für deine Niederlage verantwortlich gemacht werden – deine Partei könnte ja sagen, ich hätte dich absichtlich abgehalten!«

Tarvin machte eine unbesonnene, wegwerfende Bemerkung über seine Partei, worauf Käte entgegnete, daß diese ihr um so wichtiger sein müsse, je weniger er sich darum kümmere. Sie wolle nicht, daß nach der Wahl gesagt werden könne, er habe um ihretwillen den Wahlkampf vernachlässigt und nur diesem Umstand habe ihr Vater seinen Sieg zu verdanken.

»Natürlich wünsche ich ja, daß mein Vater gewählt wird,« setzte sie freimütig hinzu, »und ich kann deinen Sieg nicht wünschen, weil es seine Niederlage wäre! Aber ich will dir nicht im Wege stehen, ihn zu erringen.«

»Deines Vaters Wahl braucht dir keine Sorgen zu machen, Kleine!« rief Tarvin übermütig. »Deshalb brauchst du wahrhaftig nicht wach zu liegen, sondern kannst dich aufs Ohr legen und schlafen, bis die drei C. durch Topaz rasseln. Ich selbst und kein andrer werde diesen Herbst in Denver erscheinen und du thätest besser, dich aufs Mitgehen einzurichten! Hm … wie denkst du dir’s, die Frau des Sprechers zu sein und auf dem Kapitol zu wohnen? Würde dir das passen?«

Käte hatte ihn lieb genug, um seinen gewohnten Glauben, daß der Unterschied, ob er etwas Gewolltes erreiche oder nicht, lediglich darin bestehe, ob er es ernstlich erreichen wolle oder nicht, wenigstens halbwegs zu teilen.

»Nick!« rief sie halb spöttisch und doch halb überzeugt. »Sprecher wirst du nicht!«

»Wenn ich dächte, das könnte dich locken, würde ich mich anheischig machen, sogar Präsident zu werden! Gib mir ein Wort der Hoffnung, und du sollst sehen, was ich vollbringe!«

»Nein! Nein!« sagte sie, den Kopf schüttelnd. »Meine Präsidenten sind alle Radschas, und die sind fern, fern von hier.«

»Sag einmal, Indien ist ja halb so groß wie Amerika, in welchen Staat gehst du eigentlich?«

»In welchen …«

»Nun, sagen wir Distrikt, Bezirk, Grafschaft, Stadt! Du wirst doch eine Adresse haben?«

»Rhatore, Provinz Gokral Sitarun, Radschputana, Indien.«

»Lang genug ist sie,« sagte er mit einem schmerzlichen Seufzer.

Diese Adresse war von einer unheimlichen Bestimmtheit; sie gab ihm mehr als alle Worte den Eindruck, daß Käte wirklich gehen werde. Er sah sie fast hoffnungslos aus seinem Leben weggleiten, fort in ein Land am andern Ende der Welt, ein Land, das seinen Namen aus »Tausend und eine Nacht« zu beziehen schien und vermutlich auch seine Bewohner.

»Larifari, Käte! Du wirst doch nicht in einem solchen heidnischen Märchenland wohnen wollen! Ich bitte dich, was hat denn dies Land mit Topaz, mit daheim zu schaffen? Du sollst und darfst es nicht thun, sag‘ ich dir! Laß die Leute doch für sich selbst sorgen. Mögen sie einander pflegen! Oder überlaß es mir! Ich will hinübergehen, etliche ihrer verdammten Juwelen in bares Geld verwandeln und ein ganzes Armeecorps von Pflegerinnen aufstellen! Du sollst den Plan dazu machen, alles vorschreiben, und dann komme ich wieder, um dich zu heiraten, und ich nehme dich hinüber, daß du mein Werk siehst! Die Geschichte soll in Schwung kommen! Sag doch nicht, die Leute dort seien arm. Mit jenem Halsband allein könnte man eine Stadt von Spitälern bauen! Wenn dein Missionar nicht stark aufgeschnitten hat neulich in seiner Predigt, würde sein Wert ja hinreichen, die amerikanische Staatsschuld zu tilgen! Diamanten, sagte er, so groß wie Hühnereier, Perlschnüre wie Schiffstaue, Saphire vom Umfang einer Männerfaust und Smaragden, daß einem der Atem ausgeht – und das alles hängen sie einem Götzenbild um den Hals oder verscharren’s in ihren Tempeln und heulen dann über Armut, daß brave weiße Mädchen hinüberkommen und sie pflegen sollen! Ich nenne das eine Frechheit!«

»Als ob ihnen mit Geld geholfen wäre! Nein, Nick, darum handelt sich’s nicht! Im Geld liegt kein Erbarmen, kein Mitgefühl, keine Liebe, die einzige wirkliche Hilfe ist, sich selbst hinzugeben.«

»Schön und gut! Dann gib dich auch mir! Ich werde mitgehen,« erklärte Nick, seinen Humor wieder findend.

Sie lachte, wurde aber plötzlich sehr ernst.

»Nein, Nick, du sollst nicht nach Indien kommen, thu das nicht! Folge mir nicht! Du darfst nicht.«

»Hm, ich will’s nicht verschwören! Wenn ich eine Stelle als Radscha bekäme, die wird schon etwas abwerfen …«

»Ach, Nick! Einen Amerikaner machen sie gewiß nicht zum Radscha!«

Seltsam, daß Männer, denen das Leben ein Spaß ist, Frauen suchen, denen es ein Gebet bedeutet.

»Aber einen Radscha stürzen lassen sie ihn am Ende doch,« bemerkte er, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, »und das wäre vielleicht der fettere Bissen. Radscha sein gilt für ein etwas unsicheres Geschäft, soviel ich weiß.«

»Wieso?«

»Nun, die Unfallversicherungen verlangen doppelte Prämien, und meine Gesellschaft nimmt überhaupt keinen Radscha auf. Einen Vezier, das ginge allenfalls noch,« setzte er überlegend hinzu. »Die Sorte stammt ja auch aus Tausend und eine Nacht, nicht wahr?«

»Du sollst überhaupt nicht nach Indien kommen,« erklärte Käte feierlich. »Es geht nicht! Du mußt wegbleiben, merke dir das.«

Taivin stand plötzlich auf.

»Gute Nacht! Gute Nacht!« rief er.

Er schüttelte sich mit einer Gebärde der Ungeduld und winkte das Mädchen von sich ab, als ob er nicht nur für heute gehen, sondern sich überhaupt von ihr lossagen wolle. Sie folgte ihm trotzdem in den Flur. Mürrisch nahm er seinen Hut vom gewohnten Haken, und ließ sich heute nicht von ihr in den Ueberrock helfen.

Kein Mann bringt es fertig, gleichzeitig mit Erfolg um ein Weib und um Wähler zu werben. Vielleicht begünstigte Sheriff deshalb die Aufmerksamkeiten, die sein Gegner bei der Wahl in dieser Zeit seiner Tochter erwies. Tarvin hatte sich ja immer mit Käte beschäftigt, aber so andauernd, ausschließlich, und eifrig wie jetzt doch nicht. Sheriff bereiste seinen Wahlkreis und hielt viele Reden; darum war er wenig zu Hause, aber wenn er, meist überraschend in Topaz auftauchte, entlockte ihm des Gegners Liebeswerben ein heimliches Lächeln. Immerhin unterschätzte er Tarvins Vielseitigkeit, wenn er sich deshalb auf einen leichten Sieg in der Versammlung zu Cañon City gefaßt machte, wo die beiden Gegner sich persönlich gegenübertreten sollten. Das unbehagliche Gefühl, seine Schuldigkeit gegen die Partei nicht recht erfüllt zu haben, steigerte Tarvins Ehrgeiz. Daraus entstand eine gewisse Gereiztheit, und Kätes Ermahnungen und Prophezeiungen wirkten wie Pfeffer auf eine offene Wunde.

Die Wahlversammlung in Cañon City war auf den Tag nach der eben geschilderten Unterredung zwischen den wunderlichen Liebesleuten anberaumt, und Tarvin betrat das aus wackeligen Frachtkisten gezimmerte Podium in der Rollschuhbahn von Cañon City an jenem Abend mit dem verbissenen, jugendstarken Entschluß, den Leuten zu zeigen, daß man doch mit ihm zu rechnen habe – wenn er auch verliebt sei!

Sheriff war der erste Redner, und Tarvin saß, ein langes, nervös zuckendes Bein übers Knie geschlagen, als Zuhörer im Hintergrund der Galerie. Die ungleichmäßig beleuchtete Zuhörermasse, die unter ihm saß, bekam einen nervösen, knochigen Mann in nachlässiger Haltung mit klugen, herausfordernden und doch wohlwollenden Augen und einem herrischen Kinn, zu sehen. Er hatte eine starke, vorspringende Nase, die gefurchte Stirn und die ziemlich kahlen Schläfen, die sich bei den Männern des Westens früh einstellen. Der beobachtende, scharfe Blick, der unruhig über die Versammlung schweifte, einschätzend, mit was für Leuten er es eigentlich zu thun habe, verriet jenes hohe Selbstbewußtsein, das, ob begründet oder nicht, jenseits des Mississippi immer die beste Empfehlung für den Mann ist. Er trug eine kurze, sackartige Juppe, die im Westen auch für feierliche Gelegenheiten genügend befunden wird, aber das Flanellhemd hatte er in Topaz gelassen und dafür das weiße Linnen höherer Kultur angelegt.

Sheriffs Rede regte in Tarvin hauptsächlich den Gedanken an, wie sonderbar es doch sei, daß ein Mann es übers Herz bringe, der Masse ganz falsche Anschauungen über Silberwährung und Tarife zu predigen, während seine Tochter so unheimlich edle Thaten ausbrüte. Bei ihm waren die Anschauungen, die Gedanken über Silberwährung und Tarife so ganz mit Käte verwachsen, daß er seine Entgegnung um ein Haar mit der Frage eröffnet hätte, woher ein Mann, der in der eigenen Familie nicht Herr sei, den Mut nehmen könne, einer denkenden Wählerschaft seine Nationalökonomie aufzudrängen? Wenn er der Mann sei, dem Staat Gesetze zu geben, weshalb halte er dann seine eigene Tochter nicht ab, ihr Leben zu vergeuden? Wozu denn überhaupt Väter in der Welt seien, hätte er fragen mögen, allein er verschluckte diese »sachlichen« Bemerkungen und stürzte sich wie ein kühner Schwimmer in eine Flut von Zahlen, Thatsachen und Gründen.

Tarvin hatte gerade die Gaben, womit der Wahlredner sich ins Herz einer Wählerschaft einschleicht; er wußte Beschuldigungen, Anklagen zu erheben, wußte zu verteidigen, aufs eindringlichste zu verdächtigen, er fuchtelte mit den langen, sehnigen Armen herum, rief die Gottheit, die Statistik und die Republik zu Zeugen an, und wenn sie in seinen Kram taugte, verschmähte er auch die Anekdote nicht.

»Das erinnert mich,« konnte er in dem leichten Gesprächston hinwerfen, womit der Volksredner gern sein Pathos abtönt und erhöht, »an einen Mann, den ich in Wisconsin kennen gelernt habe …«

Die Geschichte sah dem »Mann ins Wisconsin« gar nicht ähnlich, Tarvin war auch in seinem Leben nie in Wisconsin gewesen und kannte den Mann nicht, aber die Anekdote war zündend, das Publikum gröhlte vor Lachen – sogar Sheriff hielt es für passend, ein Lächeln zu »markieren« – und Tarvin hatte seinen Zweck erreicht. Es wurden auch mißbilligende Stimmen laut und die Debatte war zuweilen nicht mehr auf die Rednerbühne beschränkt, aber das tiefe beifällige Gemurmel, das häufig dem Beifallsrufen oder dem Gelächter nachhinkte, wirkte anfeuernd wie Peitschenknallen auf Tarvin und das bräunliche Getränk, das ihm der Pförtner der Rollschuhbahn nach einer am Nachmittage gepflogenen Beratung gebraut und auf den Tisch gestellt hatte, that auch seine Schuldigkeit. Die wohlberechnete Mischung in seinem Glas, der leidenschaftliche Vorsatz in seinem Herzen, das Murmeln und Zischen und Jauchzen der Zuhörer, alles wirkte zusammen, um Tarvin allmählich in einen Taumel der Ueberzeugtheit zu versetzen, der ihm selbst merkwürdig war. Als er endlich fühlte, daß er sein Publikum vollständig in der Gewalt hatte, da verfuhr er mit ihm wie ein gewandter Jongleur. Er packte die Zuhörer, hielt sie hoch in der Luft, streichelte und hätschelte sie, stürzte sie in Abgründe und ließ sie wieder emporschnellen, um ihnen seine Macht zu zeigen, schloß sie zärtlich an sein Herz und erzählte ihnen Märchen. Und mit dieser Wählerschaft im Arm und am Herzen, zerstampfte er den zu Boden geworfenen Leib der Gegenpartei und sang ihr Grabgesänge.

Es war eine große Stunde. Das sprach ein jeder aus, als Tarvin geschlossen hatte: alles erhob sich, man stieg auf die Bänke und rief es ihm zu, daß der ganze Bau erbebte. Die Männer warfen ihre Mützen in die Höhe, umschlangen einander, machten wilde Sprünge und wollten ihn auf ihren Schultern als Triumphator in der Halle herumtragen.

Aber Tarvin entzog sich dieser Huldigung: ihm war auf einmal die Kehle wie zugeschnürt, und blindlings die Menge durchbrechend, die ihn auf dem Podium umringte, flüchtete er in das Ankleidezimmer neben dem Saal. Er warf die Thüre hinter sich ins Schloß, verriegelte sie sogar und sank, sich die Stirne trocknend, auf einen Stuhl.

»Und der Mann, der das vermag,« brummte er vor sich hin, »ist nicht im stande, ein fadendünnes kleines Ding zu überreden, daß sie ihn heiratet.«

  1. Die C. C. C. oder »die drei C.« bedeutet die Central – Colorado-California-Eisenbahnlinie. Die Gewohnheit derartige Bezeichnungen nur mit den Anfangsbuchstaben zu geben, ist für Amerikaner wie Engländer bezeichnend. Anm. d. Uebers.
  2. Politische Hauptstadt von Colorado, das wie jeder amerikanische Staat sein eigenes Repräsentantenhaus hat. Amerika hat keine Rechtseinheit. Die einzelnen Bundesstaaten haben ihre »Legislatur«, und um eine Wahl in diese Legislatur handelt es sich. Anm. d. Uebers.
  3. 2. Präsident der amerikanischen Repräsentantenkammer. Anm. d. Uebers.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Tarvin traf den Maharadscha, der seine morgendliche Dosis Opium noch nicht zu sich genommen hatte, im Zustand tiefster Niedergeschlagenheit. Ganz von seinem Vorhaben erfüllt, blickte der Mann aus Topaz den indischen Machthaber lauernd an und des Maharadscha erstes Wort gab ihm denn auch Gelegenheit zu der beabsichtigten Erklärung.

»Wozu sind Sie hierher gekommen?« fragte der Radscha.

»Nach Rhatore?« fragte Tarvin dagegen mit einem Lächeln, das die Unendlichkeit des Horizonts umfaßte.

»Jawohl, nach Rhatore,« brummte der mißgestimmte Herrscher. »Der Minister Sahib sagt, Sie gehörten zu keiner Regierung und seien nur gekommen, um über uns zu schreiben und Lügen zu sagen. Warum sind Sie gekommen?«

»Ich bin gekommen, um Ihren Fluß abzugraben. Es ist Gold darin,« versetzte Tarvin ruhig.

»Dann gehen Sie zur Regierung und reden mit der,« sagte der Maharadscha verdrießlich und abweisend. »Soviel ich weiß, ist’s Ihr Fluß,« sagte Tarvin mit ungetrübter Heiterkeit.

»Mein Fluß! Mein ist im ganzen Staat nichts! Tag und Nacht liegen die Kaufleute vor meiner Thür und wollen Geld haben. Der Vertreter Sahib läßt mich keine Abgaben erheben, wie meine Väter es thaten, Armee habe ich auch keine.«

»Das stimmt,« brummte Tarvin in sich hinein, »Mit der will ich eines schönen Morgens durchbrennen.«

»Und wenn ich eine hätte,« fuhr der Maharadscha fort, »so hätte ich niemand, gegen den ich kämpfen könnte. Ich bin ein alter Wolf, dem alle Zähne ausgezogen sind – gehen Sie!« Dieses Gespräch fand in dem Marmorhof statt unmittelbar vor dem von Sitabhai bewohnten Flügel des Palasts. Der Maharadscha saß in einem zerbrochenen hölzernen Lehnstuhl, während das Stallpersonal eine ganze Reihe gesattelter und gezäumter Pferde vorführte in der Hoffnung, daß eins für den Morgenritt des Maharadscha gewählt würde. Die verbrauchte, stickige Luft des Palasts strich mit dem Morgenwind über die Marmorfliesen; erfrischend und heilsam war der Geruch nicht.

Tarvin, der nicht vom Pferd gestiegen war, legte sein rechtes Bein über den Widerrist des Ponys und wartete gelassen. Er kannte die Wirkung des Opiums auf den Maharadscha, und dort kam schon ein Diener mit einer kleinen Metallschale, die den aus Wasser und Opium gemischten Trank enthielt. Der Maharadscha schluckte gesichterschneidend das Gebräu, leckte die letzten braunen Tropfen vom Schnurrbart ab, sank in seinen Stuhl zurück und starrte mit leeren Augen in die Weite. Nach ein paar Minuten sprang er auf: ein stattlicher, fröhlicher Mann!

»Sind Sie da, Tarvin Sahib? Sie müssen da sein, sonst fühlte ich mich nicht so aufgelegt zum Lachen! Reiten Sie diesen Morgen?«

»Ich stehe zu Diensten.«

»Dann lassen wir den jungen Foxhallhengst herausführen, der wirft Sie unfehlbar ab!«

»Schön,« sagte Tarvin gleichmütig.

»Ich selbst werde meine persische Stute reiten. Brechen wir auf, ehe der Vertreter Sahib kommt,« entschied der Maharadscha.

Die Stallknechte eilten davon, um den Befehl auszuführen, da vernahm man von außen her ein Hornsignal und Räderknirschen.

Der Maharadscha Kunwar kam die Stufen herauf und trippelte auf den Vater zu, der ihn zärtlich in die Arme nahm und auf sein Knie setzte. »Was führt dich her, Lalji?« fragte der Fürst.

»Lalji«, der Liebling, war des Knaben Kosename im ganzen Palast.

»Ich wollte mit meiner Leibwache exerzieren, aber Väterchen, ich bekomme für meine Soldaten nur schlechtes Sattelzeug aus dem Staatsarsenal! Jeysinghs Sattel ist mit Bindfaden gestickt, und Jeysingh ist doch gerade mein bester Soldat! Er erzählt mir auch so schöne Geschichten,« setzte der Maharadscha Kunwar hinzu, der mit dem Vater hindostanisch sprach, seinem englischen Freund aber herzlich zunickte.

»Haha! Du machst’s wie alle!« rief der Maharadscha, »Immer wollt ihr etwas haben vom Staat! Was möchtest du denn eigentlich?«

Das Kind legte die winzigen Hände bittend zusammen und griff dann zutraulich in den ungeheuren Bart des Vaters, den dieser nach Radschputensitte über die Ohren gebürstet trug.

»Nur zehn neue Sättelchen,« bat der Knabe. »Sie sind ja da, ich habe sie in der Sattelkammer hängen sehen, aber der Stallmeister sagte, ich müsse erst den König fragen.«

Des Maharadscha Antlitz verdüsterte sich und er stieß einen für seine Anschauungen furchtbaren Fluch aus.

»Den König! Der König ist ein Sklave, ein Knecht,« grollte er, »der Knecht der Geschäftsträger Sahibs und dieses weibischen englischen Raj, aber bei Indur! des Königs Sohn wenigstens soll ein Königssohn sein! Was für ein Recht hatte Saroop Singh, dir etwas vorzuenthalten, was du begehrst, Prinz?«

»Ich sagte ihm auch,« versetzte der Maharadscha Kunmar, »das werde meinem Vater gar nicht gefallen. Aber weiter sagte ich nichts, denn ich war nicht sehr wohl, und du weißt ja« – das kleine Gesicht senkte sich, daß man nur noch den Turban sah –, »ich bin noch ein Kind. Kann ich die Sättel haben?« Tarvin, der von dem Gespräch zwar kein Wort verstand, saß gemütlich auf seinem Pony und verständigte sich durch freundliche Blicke mit seinem großen und seinem kleinen Freund. In der Todesstille der Morgenfrühe war er hergekommen; der Hof hatte förmlich wiedergehallt vom Girren einer Taube auf dem hundertfünfzig Fuß hohen Turm, so still war es gewesen. Jetzt aber war das Leben im Palast erwacht, und auf allen vier Seiten rauschte und raschelte es hinter den grünen Fensterläden. Er unterschied sogar gedämpfte Atemzüge, das Knistern seidener Gewänder, das leise Knarren der Holzlatten an den Läden, die vorsichtig auseinandergeschoben wurden, um einen Durchblick zu gewinnen. Schwere Dünste von Moschus und Jasmin stiegen ihm in die Nase und erfüllten ihn mit Besorgnis, denn sie bewiesen ihm, daß Sitabhai mit ihren Frauen alles beobachtete und belauschte. Aber weder der Maharadscha, noch sein Sohn kümmerten sich im mindesten darum. Der Prinz war ganz erfüllt von dem englischen Unterricht, den ihm Frau Estes gab, und der König nahm fast ebenso großes Interesse daran als der Knabe. Damit auch Tarvin an der Unterhaltung teilnehmen könne, sprach das Kind jetzt englisch, sprach aber ganz langsam und deutlich, daß ihn der Vater leichter verstehe.

»Ich kann dir auch ein neues Gedicht sagen,« plauderte Lalji, »das ich erst gestern gelernt habe.«

»Kommt etwas von ihren Göttern darin vor?« fragte der Maharadscha argwöhnisch. »Bedenke immer, daß du ein Radschpute bist!«

»O nein, o nein! Davon steht gar nichts drin! Es ist nur englisch und ich hab’s so schnell gelernt.«

»So sag mir’s her, kleine Weisheit! Du wirst ein Schriftgelehrter werden und in einem langen schwarzen Talar auf die englische Universität gehen.«

»Unsre Flagge hat fünf Farben,« versetzte der Maharadscha Kunwar, wieder in die heimische Mundart verfallend, »wenn ich für sie gekämpft habe, will ich erst ein Engländer werden!«

»Ach mein Kind, man führt keine Krieger mehr ins Feld bei uns – jetzt sag nur deinen Vers!«

Das geheimnisvolle Raunen von Hunderten unsichtbarer Augen- und Ohrenzeugen wuchs immer mehr an. Tarvin mußte sich vorbeugen, um den Knaben zu verstehen, der von des Vaters Knie herabgeglitten war, die Hände hinter dem Rücken verschränkte und ohne jeden Ausdruck in einem Atem die Worte herleierte:

»Tiger, Tiger, glühend bunt
In dem Wald zur Nacht,
Welch unsterblich Wesen schuf
Deiner Farben Pracht?
Gab es dir die Furchtbarkeit
Mit des Herzens Schlag,
Oder warst du mild und sanft
An der Schöpfung Tag?

»Es ist noch länger, aber das fällt mir nicht ein,« schloß er, »nur zuletzt heißt’s, das weiß ich noch:

›Der so furchtbar dich gemacht,
Schuf er auch das Lamm?‹

Ich hab’s sehr schnell gelernt.«

Und nun klatschte der Maharadscha Kunwar sich selbst mit den kleinen Händchen Beifall, in den Tarvin einstimmte.

»Verstanden hab‘ ich’s nicht,« gestand der Vater auf hindostanisch, »aber es ist sehr nützlich, gut englisch zu lernen. Dein Freund hier spricht englisch, wie ich’s nie hörte.«

»Ja,« stimmte der Prinz bei, »und er spricht auch mit dem Gesicht und den Händen, alles lebt, daß ich lachen muß, eh‘ ich noch weiß warum. Aber der Oberst Nolan Sahib spricht wie ein Büffel, mit geschlossenem Mund, und ich merke nie, ob er verdrießlich ist oder vergnügt. Sage mir, Vater, was thut Tarvin Sahib hier?«

»Jetzt reiten wir zusammen aus,« erwiderte der König. »Wenn ich heim komme, gebe ich dir vielleicht Antwort auf deine Frage. Was sagen die Männer, die um dich sind, über ihn?«

»Sie sagen, er sei ein Mann von reinem Herzen, und, Vater, er ist immer gut gegen mich.«

»Hat er mit dir über mich gesprochen?«

»Nie so, daß ich’s verstehen konnte, aber er ist gewiß ein guter Mann – sieh, jetzt lacht er!«

Tarvin, der bei Nennung seines Namens die Ohren gespitzt hatte, setzte sich jetzt im Sattel zurecht und faßte die Zügel, um dem König anzudeuten, daß es Zeit zum Aufbruch sei.

Jetzt führten die Stallknechte ein lang gestrecktes, stumpfschwänziges englisches Vollblut und eine mausfarbige Stute mit trockenen Gliedern vor. Der Maharadscha erhob sich.

»Geh‘ zu Saroop Singh, Prinz, und laß dir die Sättel geben,« sagte er zu dem Knaben.

»Was treibst du denn heute, kleiner Mann?« fragte Tarvin.

»Erst werde ich mir neue Ausrüstung besorgen, und dann will ich im Hof mit dem Sohn des Ministers spielen.«

Wie das Zischen einer verborgenen Schlange tönte es hinter den verhüllten Fenstern; offenbar war dort jemand, der des Kindes Antwort verstanden hatte.

»Siehst du Fräulein Käte heute?«

»Nein, heute nicht. Ich gehe nicht zu Frau Estes zur Stunde, ich habe Feiertag.«

Der König trat nahe an Tarvin heran und fragte ihn leise: »Muß er die Doktordame wirklich jeden Tag sehen? All meine Leute belügen mich in der Hoffnung, meine Gunst zu gewinnen, sogar der Oberst Nolan sagt mir, er halte das Kind für sehr kräftig. Sagen Sie mir die Wahrheit – es ist mein erstgeborener Sohn.«

»Nein, kräftig ist er nicht,« versetzte Tarvin ruhig, »und es wäre vielleicht gut, wenn Fräulein Sheriff ihn diesen Morgen zu sehen bekäme. Jedenfalls thun Sie besser, zu ängstlich zu sein, als zu unbesorgt.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen,« sagte der Maharadscha, »aber geh‘ du nur ins Missionshaus, mein Sohn.«

»Ich will aber lieber hier spielen,« entgegnete der Prinz widerspenstig.

»Du weißt gar nicht, was Fräulein Sheriff für Spiele für dich hat,« sagte Tarvin überredend.

»Was hat sie denn?« fragte Lalji rasch.

»Du hast eine eigene Kutsche und zehn Begleiter, fahr hin, dann wirst du’s sehen.«

Tarvin zog einen Briefumschlag aus der Brusttasche, dessen amerikanische Zwei-Centmarke er mit einer gewissen Zärtlichkeit ansah. Darauf schrieb er in Eile die Worte: »Behalte den kleinen Burschen heute um Dich. Es liegt irgend eine Teufelei in der Luft. Ersinne irgend etwas, womit Du ihn beschäftigst, spiele mit ihm und halte ihn fern vom Palast. Deinen Brief erhalten. Ganz einverstanden.«

Er rief den Knaben zu sich und übergab ihm den Zettel.

»Bring‘ diese Botschaft dem Fräulein und sag‘ ihr, ich schicke dich. Du wirst es pünktlich besorgen, hörst du, kleiner Mann?«

»Mein Sohn ist keine Ordonnanz,« bemerkte der König von oben herab.

»Ihr Sohn ist nicht gesund,« erwiderte Tarvin leise, »wenn ich auch der Erste bin, der Ihnen die Wahrheit zu sagen wagt. – Sachte, sachte, das Tier hat ein weiches Maul!« Diese Mahnung galt den Stallknechten, die den jungen Foxhallhengst kaum halten konnten.

»Der wirft Sie sicher ab,« rief der Maharadscha Kunwar in hellem Entzücken. »Der hat noch jeden Reiter abgeworfen!«

In diesem Augenblick klappte ein Fensterladen dreimal in der Stille des Hofes.

Einer von den Reitknechten trat vorsichtig an die rechte Seite des Pferdes, Tarvin setzte den Fuß in den Steigbügel, um aufzuspringen, aber der Sattel drehte sich vollständig unter ihm. Gleichzeitig gab man den Kopf des Pferdes frei, und Tarvin hatte gerade noch Zeit, den Fuß aus dem Steigbügel zu ziehen, als das Pferd einen gewaltigen Satz machte.

»Man kann’s geschickter angreifen, wenn man jemand umbringen will,« sagte Tarvin laut und kaltblütig. »Führen Sie ihn mir her.«

Als der Hengst vor ihm stand, gurtete er ihn eigenhändig, wie das Tier noch nie gegurtet worden war, seit es ein Gebiß trug, dann schwang er sich in den Sattel, während der König schon durch den Thorbogen sprengte. Der Gaul stieg ein paarmal, stemmte dann die Vorderbeine bocksteif gegen den Boden und schlug nach hinten aus. Tarvin, der sich gleich nach Cowboyart zurecht gesetzt hatte, sagte vollkommen ruhig zu dem Knaben, der jeder Bewegung mit Spannung folgte: »Mach‘ dich auf den Weg, Maharadscha! Vertrödle deine Zeit nicht hier, ich will sehen, daß du zu Fräulein Käte gehst!«

Das Kind gehorchte, wenn es ihm auch sauer geschah, sich von dem Anblick des bäumenden Pferds loszureißen. Jetzt wandte der Hengst alle Kunstkniffe an, seinen Reiter loszuwerden, er weigerte sich rundweg, den Hof zu verlassen, obwohl ihm Tarvin erst hinter dem Sattel und dann zwischen den entrüstet gestellten Ohren faßliche Befehle erteilte. An Stallknechte gewöhnt, die beim ersten Anzeichen von Widerstand aus dem Sattel glitten, wurde der Hengst über ein solches Benehmen rasend. Jählings rannte er durch den Thorbogen, drehte sich auf der Hinterhand vollständig herum und jagte der Stute des Maharadscha nach. Sobald man auf freiem Feld und Sandboden war, hielt er die Gelegenheit für günstig, seine Schnellkraft zu entfalten, aber auch Tarvin ersah seinen Vorteil. Der Maharadscha, der in seiner Jugend für den schneidigsten Reiter gegolten hatte in einem Volksstamm, der vielleicht im Reiten der erste der Welt ist, drehte sich im Sattel und verfolgte den Kampf zwischen Mann und Roß mit höchster Spannung.

»Sie reiten wie ein Radschpute,« rief er dem vorüberfliegenden Tarwin zu. »Lassen Sie ihn in geradem Lauf rennen, bis er genug hat.«

»Nicht eh‘ er weiß, wer Herr und Meister ist,« rief Tarvin zurück, indem er den Gaul herumwarf, daß ihm die Knochen krachten.

»Shabasch! Shabasch! Bravo! Bravo!« rief der Maharadscha, als der Hengst der Faust des Reiters gehorchte. »Tarvin Sahib, sie sollen meine regulären Reiter kommandieren!«

»Lieber zehn Millionen irreguläre Teufel!« rief Tarvin höchst unverbindlich. »Zurück, du Luder! Zurück!«

Unter dem Druck des Zaums legte sich der Kopf des Pferds tief auf die mit Schaumflocken bedeckte Brust, aber eh‘ es ganz nachgab, bohrte es wieder die Vorderbeine in den Sand und bockte gerade so heimtückisch, wie eines von Tarvins eigenen Steppenpferden daheim im Westen.

»Beine strecken und Brust heraus,« murmelte Tarvin vergnügt vor sich hin, während der Gaul munter weiterbockte. Jetzt war der Reiter in seinem Element und fühlte sich ganz nach Topaz versetzt.

»Maro! Maro!« rief der König. »Jetzt hauen, aber scharf!« »Ach nein, den Spaß kann man ihm schon gönnen,« bemerkte Tarvin heiter. »Ich hab’s ganz gern.«

Als der Hengst müde wurde, mußte er richtig zehn Schritte rückwärts machen.

»So, jetzt kann’s weiter gehen,« sagte Tarvin, an des Maharadscha Seite in Trab fallend. »Ihr Fluß ist voll Gold,« bemerkte er nach kurzem Schweigen, als ob er ein eben abgebrochenes Gespräch fortsetzte.

»Als ich noch jung war, pflegten wir hier im Frühling den Eber mit dem Schwert zu jagen. Damals waren noch keine Engländer hier. Da drüben bei den Felsblöcken habe ich mir einmal das Schlüsselbein gebrochen.«

»Voll Gold, Maharadscha Sahib. Wie meinen Sie, daß man’s heben könnte?«

Tarvin kannte des Königs Neigung, Gespräche abzulenken, war aber nicht gesonnen, nachzugeben.

»Was verstehe ich davon!« warf der König hin. »Fragen Sie den Vertreter Sahib!«

»Aber, Maharadscha Sahib, wer beherrscht diesen Staat, Sie oder der Oberst?«

»Sie wissen es. Sie haben genug gesehen,« erwiderte der König und setzte, nach Norden und nach Süden deutend, hinzu: »Hier eine Eisenbahnlinie, dort eine Eisenbahnlinie, ich bin wie eine Ziege zwischen zwei Wölfen.«

»Aber das Land zwischen den beiden Linien ist jedenfalls Ihr Eigentum, womit Sie schalten können nach Belieben.«

Sie waren jetzt zwei oder drei Meilen vom Weichbild der Stadt entfernt und ritten längs dem Ametfluß dahin; die Pferde versanken bis über die Fesseln in dem weichen Sand. Der König blickte über die schlangenartigen Windungen des trägen, schimmernden Wassers nach den weißen mit Buchen bewachsenen Erdwellen der Wüste und der aus weiter Ferne herüberschimmernden Linie von Granithügeln, wo der Amet entsprang. Es war kein Anblick, der eines Herrschers Herz erfreuen konnte.

»Ja, ich bin der Herr dieses Landes,« sagte er, »aber der vierte Teil meiner Einkünfte bleibt in den Taschen derer, die sie einziehen, ein Viertel verweigern mir die schwarzgesichtigen Kamelzüchter des Sandmeers, und ich darf nicht gegen sie zu Feld ziehen, ein Viertel erhalte ich vielleicht, aber die Leute, die mir das letzte schuldig wären, wissen nicht, wohin sie es schicken sollen – jawohl, das nennt man einen reichen König!«

»Unter allen Umständen müßte der Fluß Ihr Einkommen verdreifachen.«

Der Maharadscha sah Tarvin aufmerksam an.

»Und was würde die englische Regierung dazu sagen?« fragte er.

»Ich weiß nicht recht, was die englische Regierung damit zu schaffen hätte! Sie können Orangengärten anlegen, wo es Ihnen beliebt, und Kanäle in weitem Bogen herumführen,« – in Seiner Majestät eingesunkenen Augen leuchtete ein Verständnis auf – »den Fluß auszubeuten, wäre eine viel einfachere Sache. Sie haben es doch schon mit Goldwaschen versucht, nicht?«

»Es wurde etwas Gold aus dem Fluß gewaschen, doch nur einen Sommer hindurch. Meine Gefängnisse waren damals so überfüllt, daß ein Aufruhr der Sträflinge zu fürchten war. Zu sehen war aber nichts außer diesen schwarzen Hunden, die im Sand wühlten. Das war in dem Jahr, wo ich mit einem Schimmelpony den Punahbecher gewann.«

Tarvin schlug schallend auf den Schenkel – was fruchtete es, mit diesem schlaffen Mann über Geschäfte zu reden, der alles, was ihm das Opium an Seele übrig gelassen hatte, für eine Kurzweil hingab. Er wußte aber auch diese Neigung zu benützen.

»Ja, viel zu sehen ist allerdings nicht beim Goldwaschen,« bemerkte er. »Man müßte oben an der Gungrastraße einen kleinen Damm machen, das wäre interessanter.«

»In der Nähe der Hügel?«

»Ja.«

»Niemand hat je den Amet eingedämmt,« sagte der König. »Er steigt aus dem Grund und versinkt in den Grund und zur Regenzeit ist er so breit wie der Indus.«

»Wir wollen aber vor der Regenzeit das ganze Flußbett bloßlegen – auf einer Strecke von zwanzig Meilen,« sagte Tarvin, scharf beobachtend, welchen Eindruck dieser Gedanke auf den König mache.

»Kein Mann hat je dem Amet ein neues Bett gegraben,« war die teilnahmlose Antwort.

»Weil kein Mann es je versuchte. Geben Sie mir die nötigen Arbeitskräfte, und ich lenke den Amet, wohin ich will.«

»Und wohin kommt das Wasser?« fragte der König.

»Es soll einen andern Weg gehen, gerade wie der Kanal einen andern Weg gehen mußte, um den Orangengarten nicht zu berühren.«

»Ach! Damals sprach der Oberst noch mit mir, als ob ich ein Kind wäre!«

»Sie wissen auch, daß er ein Recht dazu hatte, Maharadscha Sahib,« sagte Tarvin kaltblütig.

Diese Vermessenheit war so groß, daß der König einen Augenblick wie erstarrt war. Er wußte ja, daß die Geheimnisse seines häuslichen Lebens Gemeingut aller Klatschmäuler der Stadt waren; denn dreihundert Weibern den Mund zu schließen, geht über Fürstenmacht; aber daß man ihm selbst gegenüber so unverhohlen darauf anspielte, wie dieser verwegene Fremdling, der ein Engländer war und doch keiner, darauf war er nicht vorbereitet.

»In diesem Fall wird der Oberst nichts gegen Ihre Absicht einwenden,« fuhr Tarvin fort, »und überdies kommt sie Ihrem Volk zu gute.« »Das auch sein Volk ist,« bemerkte der König.

Die Wirkung des Opiums ließ allmählich nach, und des Königs Haupt sank schlaff auf die Brust herab.

»Dann werde ich morgen mit der Arbeit beginnen,« erklärte Tarvin. »Dabei gibt’s viel zu sehen! Ich muß die geeignetste Stelle aussuchen für den Damm – ich nehme an, daß Sie mir ein paar Hundert Sträflinge zur Verfügung stellen können.«

»Sind Sie deshalb hierher gekommen,« fragte der König, »um meinen Fluß abzulenken und meinen ganzen Staat auf den Kopf zu stellen?«

»Weil Ihnen das Lachen gut bekommt, Maharadscha Sahid, deshalb bin ich hier. Sie wissen’s ja so gut wie ich. Ich will jede Nacht Pachisi mit Ihnen spielen, bis Ihnen die Augen zufallen, und dann hab‘ ich noch ein Talent, das in diesem Erdteil selten vorkommt – ich kann die Wahrheit reden.«

»Haben Sie mir die Wahrheit gesagt über den Maharadscha Kunwar? Ist er wirklich krank?«

»Krank nicht, aber schwächlich. Dem kann indes Fräulein Sheriff vollständig abhelfen, verlassen Sie sich darauf!«

»Ist das die reine Wahrheit? Bedenken Sie, daß er nach mir den Thron besteigen soll!«

»Wenn ich Fräulein Sheriff recht kenne, wird er ihn auch besteigen. Nur keine unnötigen Sorgen, Maharadscha Sahib!«

»Sie und Fräulein Sheriff sind sehr gut Freund miteinander? Sie kommen aus dem nämlichen Land?«

»Ja, aus derselben Stadt.«

»Erzählen Sie mir von dieser Stadt.«

Tarvin, der sich darum nie vergebens bitten ließ, fing arglos zu erzählen an. Er erzählte des langen und breiten mit der Wahrscheinlichkeit, die er seinen Berichten zu verleihen wußte, und die Liebe zu Topaz und die Bewunderung seiner Stadt riß ihn derart hin, daß er nicht mehr bedachte, wie wenig der König den mit westamerikanischer Mundfertigkeit hervorgesprudelten Worten folgen konnte. Mitten in seiner Rhapsodie unterbrach ihn aber der Maharadscha mit der Frage: »Warum sind Sie aber nicht dort geblieben, wenn die Stadt so herrlich ist?«

»Weil ich Sie sehen wollte,« versetzte Tarvin, rasch gefaßt. »Weil ich drüben von Ihnen gehört habe, Maharadscha Sahib.«

»So ist es doch wahr, was meine Dichter singen, daß mein Ruhm ertönt an allen vier Enden der Welt? Ich will Bussant Naos Mund mit Gold füllen, wenn dem so ist.«

»Darauf können Sie Ihr Leben wetten, Maharadscha Sahib. Ist es Ihnen aber lieber, wenn ich wieder gehe? Sie brauchen nur ein Wort zu sprechen!«

Tarvin that, als ob er sein Pferd herumwerfen wollte. Der Maharadscha versank für eine Weile in tiefes Nachdenken, dann begann er zu sprechen, langsam und besonders deutlich, daß Tarvin jedes Wort wohl erfassen möge.

»Ich hasse alle Engländer,« sagte er. »Ihre Art ist nicht meine Art; sie machen uns nichts als Scherereien, wenn hier und da ein Mann totgeschlagen wird. Auch Tarvin Sahibs Art ist nicht meine Art, aber er macht mir viel weniger Scherereien und er ist der Freund der Doktordame.«

»Auch der Freund des Maharadscha Kunwar, dächte ich,« sagte Tarvin.

»Sind Sie ihm ein wahrer Freund?« fragte der Fürst, ihm scharf in die Augen sehend.

»Und ob! Den Mann möchte ich sehen, der es wagen wollte, Hand an den Kleinen zu legen! Er würde verschwinden, Herr, weggefegt werden von der Erde, nicht mehr sein! Ganz Gokral Sitarun würde ich mit ihm auftrocknen!« »Ich sah, wie Sie eine Rupie im Fluge treffen, bitte, lassen Sie mich das noch einmal sehen.«

Ohne einen Augenblick an die Nerven des jungen Hengstes zu denken, nahm Tarvin seinen Revolver, warf eine Münze in die Luft und feuerte. Das Geldstück, dieses Mal ein frisches, fiel, genau in der Mitte durchschossen, zur Erde; das Pferd aber machte tolle Sätze, und auch die Stute des Maharadscha tänzelte aufgeregt. Zu gleicher Zeit ertönte von hinten her dröhnender Hufschlag. Das Gefolge, das bisher seinen vorgeschriebenen Abstand von einer Viertelmeile ehrfürchtig innegehalten hatte, jagte mit eingelegten Lanzen in Carriere heran. Der König lachte verächtlich.

»Sie denken, Sie hätten auf mich geschossen,« sagte er, »und wenn ich nicht Einhalt gebiete, so sind Sie ein toter Mann. Was soll ich thun?«

Tarvin streckte den Unterkiefer vor, wie es in gewissen Stimmungen sein Brauch war, warf das Pferd herum und sah, die waffenlosen Hände auf dem Sattelknopf gefaltet, den Reitern entgegen, ohne den König einer Antwort zu würdigen. Der Trupp stob in unregelmäßigem Haufen heran, jeder Reiter mit eingelegter Lanze vorne über den Sattelknopf geduckt, der Anführer der Truppe ein langes, breites Radschputenschwert schwingend. Tarvin fühlte mehr, als er sah, wie die schlanken, vergifteten Lanzenspitzen auf die Brust des Hengstes zusammenliefen. Der König ritt etliche fünfzig Schritt seitwärts und beobachtete, wie er ganz allein in der flachen Ebene dem Angriff entgegensah. In dem kurzen Augenblick, wo ihn wirklich der Tod angrinste, überlegte Tarvin, daß ihm doch so ziemlich jeder andre Kunde lieber wäre als ein indischer Maharadscha.

Plötzlich rief der König ein Wort, und die Lanzenköpfe senkten sich, als ob sie abgehauen worden wären. Der Trupp teilte sich und wirbelte zu beiden Seiten an Tarvin vorüber, wobei sich jeder Mühe gab, wenigstens des weißen Mannes Stiefel kräftig zu streifen. Dieser starrte vor sich hin, ohne den Kopf zu drehen; der König, der herangeritten war, brummte beifällig vor sich hin.

»Würden Sie das für den Maharadscha Kunwar auch gethan haben?« fragte er, sein Pferd wendend, so daß er wieder an Tarvins Seite war.

»Nein,« sagte dieser gelassen. »Da hätte ich lang vorher zu schießen angefangen.«

»Was? Fünfzig Mann würden Sie der Reihe nach erschossen haben?«

»Nein, aber den Anführer.«

Der König schüttelte sich vor Lachen und hielt eine Hand in die Höhe. Auf dieses Zeichen ritt der Hauptmann der Leibwache heran.

»Oho, Pertab Singh-Ji, er sagt, er würde dich erschossen haben,« teilte ihm der König mit und setzte, zu Tarvin gewendet, lächelnd hinzu: »Er ist nämlich mein Vetter.«

Der wohlbeleibte Radschpute verzog den Mund grinsend von einem Ohr zum andern, entgegnete aber zu Tarvins höchster Ueberraschung in tadellosem Englisch: »Bei ungeschulten Truppen wäre es das Richtige, die würden mit dem Fall des Führers ausreißen, wir sind aber nach englischem Muster gedrillt, wie ich auch meinen Rang und Auftrag unmittelbar von der Königin erhalten habe. In der deutschen Armee ist der Dienst…«

Tarvin riß förmlich Mund und Nase auf.

»Doch, Sie sind ja nicht Fachmann in militärischen Dingen,« unterbrach sich Pertab Singh-Ji mit verbindlichem Lächeln. »Ich will nur bemerken, daß ich Ihren Schuß hörte und wohl sah, um was es sich handelte. Wir haben aber den Befehl, sofort einzuschreiten, wenn in der Nähe Seiner Hoheit ein Schuß abgegeben wird; darum bitte ich, den Ansturm zu entschuldigen.«

Mit soldatischem Gruß zog er sich zu seinen Leuten zurück. Die Sonne brannte jetzt schon sehr unangenehm, und der König und Tarvin ritten in gemäßigter Gangart heimwärts.

»Wieviele Sträflinge können Sie mir zur Verfügung stellen?« fragte Tarvin nach einer Weile.

»So viele Sie haben wollen, die Gefängnisse sind gepfropft voll,« versetzte der König, mit Begeisterung darauf eingehend. »Bei Gott, Sahib, einen Mann wie Sie habe ich nie gesehen, ich würde Ihnen geben, was Sie haben wollen.«

Tarvin nahm den Hut ab und trocknete sich unter Lachen die feuchte Stirne.

»Ich nehme Sie beim Wort, und was ich fordere, soll Sie nicht einmal etwas kosten!«

Der Maharadscha brummte zweifelhaft vor sich hin. Die Leute verlangten in der Regel gerade das von ihm, was er nicht hergeben mochte.

»Diese Rede klingt mir fremd, Tarvin Sahib!« bemerkte er.

»Und ist doch richtig. Ich wünsche nichts, als das Naulahka sehen zu dürfen. Alle Staatsdiamanten und goldenen Karossen habe ich gesehen, nur das Naulahka nicht.«

Der Maharadscha trabte etliche hundert Schritte schweigend einher.

»Weiß man auch davon in dem Lande, wo Sie herkommen?« fragte er dann.

»Selbstverständlich! Jeder Amerikaner weiß, daß es das Großartigste in ganz Indien ist. Das steht in allen Reisehandbüchern,« log Tarvin unverfroren.

»Steht in den Büchern auch, wo es ist? Die Englischen sind ja so weise!«

Der Maharadscha blickte gerade vor sich hin und lächelte leise.

»Nein, das steht nicht darin, aber es heißt, der Maharadscha von Gokral Sitarun wisse es, und ich möchte es sehen!«

»Sie müssen wissen, Tarvin Sahib,« sagte der Fürst wie aus tiefen Gedanken heraus, »daß unsre Naulahka nicht ein, sondern das Staatskleinod ist, ein Heiligtum – Staatsglück bedeutet ja sein Name. Selbst ich habe es nicht in Verwahrung und kann nicht befehlen, daß es Ihnen gezeigt wird.«

Das war eine bittere Enttäuschung für Tarvin!

»Aber wenn ich Ihnen sage, wo es ist,« fuhr der König fort, »so können Sie auf Ihre eigene Gefahr hingehen, die Regierung hat da nichts drein zu reden. Ich habe gesehen, daß Sie keine Gefahr scheuen, und ich habe einen dankbaren Sinn. Vielleicht, daß die Priester es Ihnen zeigen, vielleicht auch nicht. Möglich, daß Sie die Priester überhaupt nicht antreffen – ach, ich vergaß ja! In dem Tempel, woran ich dachte, ist es gar nicht. Nein, nein, es muß im Gye-Mukh sein – das heißt Kuhmaul. Aber dort sind keine Priester und niemand geht hin. Jawohl, jawohl, im Kuhmaul ist’s; ich dachte erst, es wäre in der Stadt,« setzte der Maharadscha hinzu. Es klang, als ob von einem verlorenen Hufeisen oder einem verlegten Turban die Rede wäre.

»Versteht sich, im Kuhmaul,« wiederholte Tarvin, gerade wie wenn er durch seine Reisehandbücher auch über das »Kuhmaul« ganz genau unterrichtet wäre.

Mit erneuter Lebendigkeit fuhr der König fort: »Bei Gott, nur ein sehr tapferer Mann wird zum Gye-Mukh gehen, nur ein so tapferer wie Sie, Tarvin Sahib« – er sah seinen Gefährten mit schlauem Blinzeln von der Seite an –. »Pertab Singh-Ji zum Beispiel, der ginge nicht, nicht um die Welt, nicht mit der ganzen Truppe, der Sie heute standgehalten haben.«

»Warten Sie mit Ihren Lobeserhebungen, bis ich sie verdient habe, Maharadscha Sahib,« sagte Tarvin. »Warten Sie, bis der Fluß abgeleitet ist.«

Dann versank er in Schweigen; diese letzten Mitteilungen lagen ihm ein wenig schwer im Magen.

»Nein, Ihre Stadt, die wird ungefähr sein wie diese?« bemerkte der Maharadscha, nach dem vor ihnen aufsteigenden Rhatore deutend.

Tarvin hatte bis auf einen gewissen Grad seine anfängliche Verachtung für Rhatore und Gokral Sitarun überwunden. Es lag in seiner Natur, den Ort, wo er lebte, und die Menschen, mit denen er lebte, gütig zu beurteilen, und diese Anlage machte sich auch in Indien geltend.

»Topaz wird in kurzem größeren Umfang haben als Rhatore,« erwiderte er.

»Und wenn Sie dort sind, was ist dann Ihre Würde?« fragte der Maharadscha.

Ohne zu antworten, zog Tarvin Frau Mutries Telegramm aus der Tasche und reichte es dem König. Wo es seine Wahl galt, war ihm auch die Teilnahme eines opiumsaugenden Radschputen nicht gleichgültig.

»Was bedeutet das?« fragte der König so verständnislos, daß Tarvin verzweifelt mit den Händen herumfuchtelte.

Er erklärte nun seine Beziehungen zum Staatswesen, wobei die Legislatur von Colorado zu einem amerikanischen Parlament anwuchs. Wenn der König ihm durchaus seinen vollen Titel geben wolle, bekenne er sich zum »Ehrenwerten« Nikolas Tarvin.

»Das ist so etwas wie die Mitglieder des Provinzialrats, die von Zeit zu Zeit hierher kommen?« meinte der Maharadscha, an die grauköpfigen Herren denkend, die in bestimmten Zeiträumen bei ihm erschienen, mit einer Machtvollkommenheit ausgerüstet, die der des Vizekönigs nur wenig nachgab.

»Aber Sie werden doch dem ›gesetzgebenden Körper‹ keine Briefe schreiben über meine Regierungsweise?« fragte er argwöhnisch, denn ihm fielen überaus neugierige Abgesandte des britischen Parlaments ein, die wie Mehlsäcke zu Pferd saßen und ihm ohne Unterlaß Regierungsweisheit predigten, wenn er viel lieber zu Bett gegangen wäre. »Und vor allem sind Sie doch,« setzte er langsam hinzu, als man sich jetzt dem Palast näherte, »ein wahrer Freund des Maharadscha Kunwar? Und Ihre Freundin, die Doktordame, wird ihn gesund machen?«

»Zu dem Zweck sind wir ja alle beide hier!« versicherte Tarvin, einer plötzlichen Eingebung gehorchend.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Als er sich vom König verabschiedet hatte, wäre Tarvin am liebsten auf seinem Foxhallhengst im Galopp davon geritten, um das Naulahka zu suchen. Mechanisch wandte er sich seiner Wohnstätte zu und zog, in Gedanken verloren, die Zügel scharf an, eine Ungehörigkeit, die ihm der Hengst rasch zum Bewußtsein brachte. Das rief ihn in die Wirklichkeit zurück und lehrte ihn, sein Pferd und sein eigenes Ungestüm zu gleicher Zeit zügeln.

Tarvin war schon so vertraut geworden mit indischen Benennungen, daß ihn der Ortsname »Kuhmaul« weiter nicht anfocht, aber daß ein Staatskleinod im Kuhmaul sein sollte, fand er etwas verwunderlich, und darüber wollte er sich bei Estes einige Aufklärung verschaffen.

»Diese Heiden,« sagte er sich, »sind ja ganz die Leute, es in einer Salzlecke zu verstecken oder in die Erde zu vergraben! Jawohl, ein Loch in der Erde, das ist so ungefähr ihr Stil! Diamanten bewahren sie in alten Blechbüchsen auf, die sie mit Schuhriemen zuschnüren, das Naulahka hängt möglicherweise an einem Baum.«

Während er jetzt auf das Missionshaus zutrabte, sah er sich seine Umgebung mit ganz neuem, erhöhtem Interesse an, denn jede Ritze zwischen den Erdwellen, jedes Haus in der winkeligen Stadt konnte ja den heiß begehrten Schatz enthalten!

Estes, der schon viele Seltenheiten genossen hatte und Radschputana kannte wie der Gefangene die Wände seiner Zelle, hatte auf Tarvins Frage eine wahre Flut von Belehrungen bereit. In ganz Indien gab es »Mäuler«, von dem »Brennenden Maul« im Norden an, wo eine Ausströmung von Erdgasen von Millionen gläubiger Seelen als Verkörperung der Gottheit angebetet wurde, bis zum »Teufelsmaul« unter einigen vergessenen buddhistischen Tempelruinen in der südlichsten Ecke von Madras. Ein »Kuhmaul« befand sich auch etliche hundert Meilen von hier in einem Tempelhof von Benares und hatte großen Zulauf der Gläubigen, aber soweit Radschputana in Betracht kam, konnte es sich nur eines Kuhmauls rühmen, und das befand sich in einer toten Stadt.

Und nun erging sich der Missionar weitläufig in einer Geschichte von Kriegen und Raubthaten, die mehrere Jahrhunderte umfaßte und als Mittelpunkt eine felsumgürtete Stadt in der Wildnis hatte, die einst Stolz und Ruhm der Könige von Mewar gewesen war. Tarvin hörte zu mit einer Geduld, so groß wie seine Ermüdung – die Geschichte der Vergangenheit war dem Mann, der seine Stadt in der Gegenwart errichtete, gar nicht wichtig –, während Estes sich über die Vorzeit verbreitete, die freiwillige Selbstvernichtung von Tausenden von radschputanischen Frauen schilderte, die sich in den unterirdischen Palästen mit eigenen Händen den Holzstoß geschichtet hatten, um nicht in die Gewalt der mohammedanischen Eroberer zu fallen, die wohl ihre Männer und Väter und Brüder hatten töten können, aber um den billigen Ruhm dieser Eroberung doch betrogen sein sollten. Estes fand viel Geschmack an der Archäologie, und es war ihm ein Genuß, seine Kenntnisse vor einem Landsmann zu entfalten.

Seine Angaben über die Reise nach Gye-Mukh lauteten, Tarvin müsse die sechsundneunzig Meilen nach Rawut wieder im Büffelkarren zurücklegen, dort treffe er einen Zug, der ihn siebenundsechzig Meilen westwärts zu einem Knotenpunkt befördere, wo er dann umsteigen und mit einer andern Linie hundertundzwanzig Meilen nach Süden fahren müsse. Dann sei er nur noch anderthalb Wegstunden von jener Stadt entfernt und möge sich ihren wunderbaren neunstöckigen Turm des Ruhmes wie die cyklopische Stadtmauer und die verlassenen Paläste wohl anschauen. Zwei Tage würden Hin- und Herreise mindestens kosten.

Als man so weit war, verlangte Tarvin eine Karte, die ihm auf den ersten Blick deutlich machte, daß Estes ihm zumutete, drei Seiten eines ungeheuren Quadrats zu umkreisen, wahrend eine spinnenfüßige Linie geradeaus von Rhatore nach Gunnaur lief.

»Das käme mir kürzer vor,« sagte Tarvin, den Strich verfolgend.

»Ist aber nur ein Feldweg, und von der Beschaffenheit indischer Straßen haben Sie ja einen Begriff. Siebenundfünfzig Meilen auf einer derartigen Straße in diesem Sonnenbrand, das könnte einem das Leben kosten!«

Tarvin lächelte; er kannte die Angst vor der Sonne noch nicht, der Sonne, die Jahr um Jahr seinem Gefährten etwas von der Lebenskraft geraubt hatte.

»Ich werde doch wohl hinreiten. Um halb Indien herumzufahren, nach einem Ziel, das mir gerade gegenüber liegt, hieße mir zuviel Zeit verschwenden, wenn es auch hierzulande Brauch sein mag.«

Er fragte weiter, wie denn das Kuhmaul eigentlich beschaffen sein möge, und Estes gab ihm archäologische, philologische und architekturgeschichtliche Erklärungen, aus denen für Tarvin wenigstens hervorging, daß es ein Loch sein müsse, ein sehr altes, ganz hervorragend altes Loch von besonderer Heiligkeit, schließlich aber eben doch nichts als ein Loch im Boden.

Tarvin beschloß, sofort dahin aufzubrechen, der Damm mochte warten, bis er zurückkam. Es war ohnehin zweifelhaft, ob des Königs Anwandlung von Begeisterung so weit reichen würde, daß er morgen seine Gefängnisse aufschließen ließe. Dann überlegte sich Tarvin, ob er den Maharadscha von seinem Vorhaben in Kenntnis setzen, oder erst das Naulahka besichtigen und hernach die Unterhandlungen anknüpfen solle. Da letzteres mehr in Geist und Brauch des Landes lag, entschied er sich dafür. Mit Estes‘ Karte in der Tasche, kehrte er ins Rasthaus zurück, um seinen Leibstall zu besichtigen. Wie jeder Westamerikaner rechnete Tarvin ein Pferd zur Notdurft des Lebens, und so hatte er sich gleich nach seiner Ankunft instinktmäßig eines angeschafft. Es war ihm dabei wohlthuend gewesen, alle Kniffe und Pfiffe der Roßhändler, mit denen er’s je im Leben zu thun gehabt hatte, bei dem mageren, schwärzlichen Kabuli getreulich wiederzufinden, der ihm an einem unbeschäftigten Abend vor der Veranda des Rasthauses einen bockenden, ungebärdigen Gaul vorführte, und noch wohlthuender war es ihm gewesen, sich mit dem Kerl herumzubalgen, wie er sich daheim mit solchem Gelichter herumzubalgen pflegte. Das Ergebnis dieses in gebrochenem Englisch und äußerst nachdrücklichem Amerikanisch geführten Wortkampfes war der Ankauf eines unschönen, mausfarbigen Kathiavarhengstes von zweifelhaftem Ruf gewesen, der wegen Bosheit aus dem Dienst seiner Majestät entlassen worden war und sich mit der Hoffnung trug, auf seinen Lorbeeren ruhen zu dürfen, nachdem er das Leben mehr als eines Reitersmanns der irregulären Deolee-Kavallerie auf dem Kerbholz hatte. In Stunden, wo Tarvin um jeden Preis irgend etwas leisten, vornehmen mußte, hatte er ihm diesen Irrtum gründlich benommen, und wenn auch nicht gerade dankbar für Belehrung, so fand sich der Kathiavar doch mit Höflichkeit darein. Er führte bei seinem jetzigen Gebieter den Namen Fibby Winks, womit sein wenig kavaliermäßiges Betragen gekennzeichnet und eine Aehnlichkeit konstatiert werden sollte, die Tarvin zwischen dem schmalen, langen Pferdekopf und jenem Amerikaner fand, der ihm ein Recht streitig zu machen wagte.

Tarvin traf den Gaul in der Nachmittagssonne hinter dem Rasthaus schlafend und nahm ihm die Stalldecke ab.

»Wir wollen einen kleinen Spaziergang machen, Fibby,« kündigte er ihm an.

Der Kathiavar schnappte und wieherte unwirsch.

»Ja wohl, du warst von jeher ein Faulpelz, Fibby.«

Fibby wurde von dem aufgeregten eingeborenen Diener gesattelt und Tarvin holte indes aus seinem Zimmer eine Wolldecke, die er so zusammenrollte, als enthielte sie allerhand Lebensmittel. Fibby sollte sich seine Mahlzeiten selbst suchen. Dann machte er sich auf den Weg, so leichtherzig, als ob sich’s um einen Spazierritt um die Stadtmauer gehandelt hätte. Es war jetzt gegen drei Uhr nachmittags. Tarvin war entschlossen, daß Fibby mit Hilfe der Sporen den ganzen unergründlichen Vorrat von Bosheit und Halsstarrigkeit daransetzen müsse, die siebenundfünfzig englischen Meilen in zehn Stunden zu bewältigen, falls der Weg annehmbar war. Fand es sich, daß er sehr schlecht war, so würde er ihm zwölf Stunden Zeit vergönnen. Auf dem Heimweg waren dann jedenfalls die Sporen entbehrlich. Heute nacht war Mondschein und Tarvin wußte schon genug von Feldwegen in Gokral Sitarun und Bergpfaden anderwärts, um sicher zu sein, daß ihm Straßenkreuzungen kein Kopfzerbrechen kosten würden.

Nachdem Fibby beigebracht worden war, daß man nicht von ihm verlangte, in drei Richtungen zumal, sondern nur in einer auszuschreiten, kaute er sich behaglich auf dem Gebiß ab, senkte den Kopf und begann kunstgerecht zu traben; da zog aber Tarvin die Zügel an und hielt ihm eine schöne Rede: »Du mußt nämlich wissen, Söhnchen, wir reiten nicht zum Vergnügen – vor Sonnenuntergang wirst du das vollständig begriffen haben. Nun hat dich irgend eine Kommißseele gelehrt, deine kostbare Zeit mit englischem Trab zu vergeuden. Wir werden uns im Verlauf unsres Unternehmens noch über verschiedene Punkte auseinandersetzen müssen, dieses aber muß jetzt schon klar werden; wir wollen nicht mit einem Frevel beginnen. Sei also so gut, Fibby, und laß das Traben und schreite aus wie ein braves, mannhaftes Roß von Natur geht.«

Dieser Vortrag genügte noch nicht vollständig, vielmehr hatte Tarvin noch einige Ergänzungen nötig, bis Fibby wirklich in den leichten Laufschritt verfiel, den Eingeborene des Ostens wie des Westens reiten und der weder Pferd noch Mann ermüdet. Nun dämmerte dem Tier wohl auch eine Ahnung, daß man eine lange Reise vorhabe, denn er ließ den Schwanz hängen und legte sich ordentlich ins Zeug.

Anfangs mußte er in eine Wolke sandigen Staubs schreiten, zwischen Baumwollfrachtwagen und ländlichen Karren, die sich rasselnd und knarrend nach der Bahnlinie von Gunnaur bewegten. Als die Sonne zu sinken begann, tanzte sein großer Schatten wie ein Gespenst über vulkanische Felsbrocken, die mit niederem Buschwerk oder da und dort mit einer Aloe bewachsen waren.

Die Fuhrleute spannten jetzt am Straßenrand ihre Zugtiere aus und schickten sich an, bei trüb glostenden Feuern ihre Abendmahlzeit zu bereiten und zu verzehren. Fibby spitzte die Ohren und schielte wehmütig nach den Lagerfeuern, hielt aber wacker aus in der wachsenden Dunkelheit und Tarvin roch den scharfen Saft des Kameldorns, den seine Hufe zerstampften. Hinter ihnen stieg der Mond in voller Herrlichkeit auf, und seinen lauernden Schatten folgend, überholte Fibby bald einen nackten Mann, der über der Schulter einen Stecken mit bimmelnden Glöckchen trug, und schweratmend und schweißtriefend vor einem andern zu fliehen schien, der ihn mit entblößtem Schwert verfolgte. Die beiden waren der Landpostbote und die ihm zum Schutz beigegebene Wache auf dem Weg nach Gunnaur. Das Gebimmel der Glöckchen verklang in der Ferne, und Fibby ging jetzt langsamer zwischen endlosen Reihen von Dorngesträuch hin, das verzweifelt die Arme zu den Sternen emporstreckte und Riesenschatten quer über die Straße warf. Ein Nachttier brach seitwärts aus dem Dickicht und Fibby schnaubte in Todesangst. Dann raschelte ein Stachelschwein gerade vor seinen Füßen über den Weg und verpestete die stille Luft eine ganze Strecke weit mit seinem Gestank. Ein Stück weiter tauchte ein Lichtschein auf; ein Büffelkarren war zusammengebrochen und die Treiber schliefen friedlich, um erst bei Tageslicht den Schaden zu untersuchen. Hier blieb Fibby einfach stehen und sein Herr weckte die Schläfer etwas unsanft, machte sie aber durch eine Rupie, die solchen Leuten ein Vermögen bedeutet, höchst willig, dem Pferd Futter und Wasser zu reichen. Tarvin lockerte ihm die Gurten und behandelte ihn so artig als möglich, und als Fibby sich neu gekräftigt wieder auf den Weg machte, war er zum zweitenmal voll guten Willens. Das Blut seiner Ahnherrn, ihre Abenteuerlust und Kühnheit schien sich in ihm zu rühren! Stammte er doch von einem Geschlecht, das gewöhnt war, seinen Herrn an einem Tag dreißig Seemeilen weit zu tragen, um, während eine Stadt eingeäschert wurde, angepflockt an eine Lanze, kurze Rast zu halten, und ehe die Asche der niedergebrannten Häuser verkühlt war, wieder zu stehen, von wannen man gekommen war. So hob nun Fibby mutvoll den Schweif, wieherte und setzte sich in Bewegung.

Die Straße führte nun meilenlang abwärts, kreuzte verschiedene ausgetrocknete Wasserläufe, einmal auch einen breiten seichten Fluß, wo Fibby einen ausgiebigen Trunk that und sich gern in einem Melonenbeet gewälzt haben würde, wenn ihn die scharfen Sporen nicht gleich wieder den jenseitigen Abhang hinaufgetrieben hätten. Das Land wurde von Viertelstunde zu Viertelstunde fruchtbarer, die Erdwellen breiter; im Licht des sinkenden Monds schimmerten die opiumtragenden Mohnfelder silberweiß, in dunkeln Wassern ragte das Zuckerrohr.

Aber Mohn und Zuckerrohr verschwanden jählings, als Fibby jetzt eine lange steile Böschung hinunterklettern mußte, mit weitgeöffneten Nüstern den Morgenwind witternd. Er wußte wohl, daß der Tag ihm Ruhe bringen würde. Tarvin folgte mit spähendem Blick der weißen Straßenlinie, die im sammetigen Dunkel niedrigen Buschwerks verschwand. Er überblickte von hier eine weite, von sanftgeschwungenen Hügellinien umrandete Ebene, die von seinem erhöhten Standpunkt aus so glatt erschien wie der Meeresspiegel. Und gleich der See trug sie auf ihrer Brust ein Schiff, einen gigantischen Monitor, der mit scharfgeschwungenem Bug in gerader Richtung von Norden nach Süden strebte. Es war ein Schiff, wie es noch kein Menschenauge erblickt hat, wohl zwei Meilen lang mit drei- bis vierhundert Fuß freien Raums auf Deck, einsam, schweigend, ohne Masten und Lichter, herrenlos auf der Erde treibend.

»Wir sind nah am Ziel, Fib, mein Junge,« sagte Tarvin, die Zügel anziehend und das gespenstische Ungeheuer im Sternenschein ermessend. »Wir wollen ihm so nah kommen, als wir können, und dann das Tageslicht abwarten, eh wir an Bord gehen.«

Das Pferd kletterte den mit scharfen Steinen und schlafenden Ziegen übersäten Abhang hinunter. Dann machte die Straße eine scharfe Biegung nach links und lief nun parallel mit der Längsseite des Schiffs, Tarvin aber trieb das Pferd rechts ab in einen kürzeren Fußpfad, wo das arme Tier kläglich zwischen Büschen und Wurzeln und einem ganzen Netzwerk bis zu sechs Fuß tiefer, vom Regen eingerissener Wasserrinnsale hinstolperte.

Endlich stöhnte Fibby in heller Verzweiflung laut auf, und jetzt erbarmte sich Tarvin seiner, stieg ab, band ihn an einen Baumstamm und ermahnte ihn, bis zur Frühstückszeit über seine Sünden nachzudenken. Er selbst war vom Sattel herab in ein ausgetrocknetes, stauberfülltes Wasserloch geraten, zehn Schritte weiter und das Buschwerk schlug über ihm zusammen, peitschte seine Stirn, hakte seine Dornen in seine Kleider ein und streckte seinen Knieen Luftwurzeln entgegen, die es fast unmöglich machten, den immer steiler werdenden Pfad zu erklimmen.

Schließlich arbeitete sich Tarvin auf Händen und Knieen rutschend weiter, von Kopf bis zu Fuß mit Staub und Erde und Laub überzogen, kaum mehr zu unterscheiden von den Wildschweinen, die da und dort wie schieferfarbige Schatten durch das Dickicht schlüpften, nach nächtlichem Raubzug ihre Ruhestätten aufzusuchen. Viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich durch ihr Grunzen stören zu lassen, stemmte und schwang er sich in die Höhe, die Wurzeln schüttelnd, als ob er das Naulahka aus den Tiefen der Erde zu Tag fördern wollte, und bei jedem Ruck und Tritt gotteslästerlich fluchend. Als er endlich einen Augenblick stille hielt, um sich den Schweiß von der Stirne zu wischen, entdeckte er mehr durch Betastung als mit dem Auge, daß er dicht am Fuß einer Mauer in die Kniee gesunken war, die bolzgerade bis zu den Sternen aufzusteigen schien. Aus dem Dickicht unter ihm erklang Fibbys klägliches Wiehern.

»Dir thut nichts weh, mein Sohn,« sagte Tarvin, nach Luft schnappend und das dürre Gras ausspeiend, das ihm zwischen die Zähne geraten war, »du kannst von Glück sagen, daß du nicht an meiner Stelle bist und daß dir niemand zumutet, heute nacht das Fliegen zu erlernen!«

Dabei schielte er mutlos an der glatten Mauerfläche empor und gab einem Eulenruf einen leisen Pfiff zur Antwort. Jetzt versuchte er, längs der Mauer weiterzukommen, die eine Hand gegen die roh behauenen Steine gestemmt, mit der andern seine Augen vor dem Buschwerk wahrend. Zwischen zwei Cyklopensteinen hatte einst ein Feigenkern Raum und dann jahrhundertelang ungestörte Muße gefunden, sich zu einem knorrigen, trotzigen Baum zu entwickeln, der sich zwischen die Fugen drängte und das Mauerwerk da und dort sprengte. Tarvin überlegte eine Weile, ob er auf den Ansatz des untersten Astes steigen solle, ging noch ein paar Schritte weiter, um sich die Sache von beiden Seiten anzusehen, und stand nun plötzlich vor einer Lücke in der Mauer, die in ihrer ganzen Dicke von wohl zwanzig Fuß so breit gespalten war, daß ein ganzes Regiment hätte durchziehen können.

»Das sieht ihnen ähnlich! So sind sie!« brummte Tarvin vor sich hin. »Das hätte ich mir ja denken können! Eine sechzig Fuß hohe Mauer aufrichten und ein achtzig Fuß breites Loch darin anbringen! Das Halsband hängt wahrscheinlich an einem Busch oder ein Kind spielt damit und – ich kann’s nicht erreichen!«

Er stolperte über den Schutt in der Öffnung hinüber und stand dann mitten unter geborstenen Pfeilern, Steinplatten, herabgestürzten Tragsteinen und eingesunkenen Grabmälern. Fast unter seinen Reitstiefeln hörte er ein leises, langgedehntes Zischen – keinem vom Weibe Geborenen braucht die Stimme der Schlange erst vorgestellt zu werden, er kennt sie beim ersten Mal.

Er machte einen Satz und stand dann still. Fibbys Wiehern drang nur noch ganz schwach an sein Ohr. Der Morgenwind strich durch die Kluft in der Mauer und Tarvin trocknete sich erleichterten Herzens die Stirn. Weiter vordringen wollte er erst, wenn es Tag wurde, jetzt war es an der Zeit, sich zu stärken. Daß es dabei angebracht war, sich nicht vom Fleck zu rühren, hatte ihn die zischende Stimme gelehrt.

So zog er denn seine Feldflasche und seinen Mundvorrat aus der Rocktasche und aß mit wahrem Heißhunger, ohne dabei die gespannte Umschau zu versäumen. Das nächtliche Dunkel lüftete sich schon ein wenig und er unterschied den Umriß eines großen Gebäudes, von dem ihn nur ein paar Schritte trennten. Seitwärts davon tauchten andre Schatten auf, blaß und geisterhaft wie Traumgesichter, Schatten von Tempeln und abermals Tempeln und Häusern. Der Wind, der zwischen ihnen durchfuhr, trug das sausende Geräusch von seinem Hauch gepeitschter Hecken mit sich.

Die Schatten wurden größer und greifbarer, und Tarvin sah jetzt, daß er mit dem Gesicht gegen ein umgestürztes Grabmal stand. Jetzt mußte er die Augen eindrücken, denn ohne alle vorbereitenden Anzeichen war jählings in seinem Rücken die Morgenröte aufgeschossen und hatte die Stadt der Toten aus dem Dunkel der Nacht gehoben. Weiträumige zackenkupplige Paläste enthüllten, blutrot übergossen, ihre unheimliche Leere und starrten in den Tag hinein, der ihre innersten Räume durchdrang.

Singend, pfeifend strich der Wind durch die öden Straßen, und da er niemand fand, der ihm Antwort gegeben hätte, ging er wieder, eine Wolke von Schutt und Staub vor sich her jagend, die er plötzlich zu einem kleinen Cyklontrichter zusammendrehte und seufzend hinwarf.

Zierliches, marmornes Netzwerk, das aus einer Fensterfüllung herabgestürzt war, lag auf dem dürren Gras und eine Eidechse kroch darüber hin, um sich zu sonnen. Schon war die glühende Morgenröte verflogen, erbarmungslos klares Licht lag auf allem, ein Weih kreiste am wolkenlosen blauen Himmel; der kaum geborene Tag hätte schon so alt sein können wie die tote Stadt. Es war Tarvin, als ob der Tag und er selbst stillstünden, um auf den Flügeln ziellos hingewirbelten Staubs die Jahrhunderte an sich vorüberlauschen zu hören.

Als er jetzt die erste Straße betrat, spazierte ein Pfau aus dem leeren Thorbogen eines hoffärtigen roten Hauses und schlug im Glanz der Sonne ein prachtvolles Rad. Tarvin blieb stehen und nahm vollkommen ernsthaft vor dem königlichen Vogel den Hut ab, das einzige lebende Wesen grüßend, das sich im Farbenschmuck seines Gefieders leuchtend von der Steinwelt abhob.

Das Schweigen des Orts und die vermessene Nacktheit der leeren Gebäude legten sich ihm wie ein schwerer Druck auf die Seele. Lange Zeit war Tarvin nicht einmal im stand, vor sich hinzupfeifen, sondern wanderte planlos zwischen den Mauern umher, besah sich die ungeheuren, natürlich ausgetrockneten Wassersammler, die hohlen Schilderhäuser, womit die Verschanzung wie mit Nägeln besetzt war, die von der Zeit morsch gewordenen Bogen, die jeden Straßeneingang überspannten, und vor allem den neunstöckigen Turm des Ruhmes mit seinem halbeingestürzten Dach, das in einer Höhe von hundertfünfzig Fuß in die Luft ragte, um dem umliegenden Land zu sagen, daß die königliche Stadt nicht tot sei, sondern sich eines Tags wieder bevölkern werde mit Menschen.

Nach mühsamem Aufstieg in dem Turm, dessen Außenwände eine völlige Kruste von Hochreliefdarstellungen menschlicher und tierischer Gestalten trugen, sah Tarvin herab auf das weite schlafende Gelände, worin die Totenstadt lag. Er sah die Straße, die er zur Nachtzeit geritten war, und konnte sie dreißig Meilen weit verfolgen, wie sie bald in einer Einsenkung verschwand, bald wieder auftauchte, er überblickte die weißen Mohnfelder und das braungrüne Buschwerk und sah, wie die endlose Ebene im Norden vom funkelnden Schienenstrang der Bahnlinie durchschnitten wurde. Wie zur See vom höchsten Mastkorb hielt er Umschau aus seiner luftigen Höhe, denn sobald er wieder unten war in der Stadt, beraubte ihn das himmelhoch ragende Bollwerk jedes Ausblicks. An der Nordseite, wo die Eisenbahnlinie der Stadt am nächsten kam, liefen steingepflasterte Laufgräben an der Böschung hinunter, die sich von dieser Höhe genau ausnahmen wie die herabgelassenen Fallreepstreppen an einem Schiff, und durch die von der Zeit und wuchernden Bäumen gerissenen Lücken in der Mauer sah man den fernen bläulichen Horizont der Ebene hereinschimmern, gerade als ob es die tiefblaue See wäre. Eingedenk, daß Fibby im Gesträuch auf sein Frühstück wartete, beeilte er sich, die zerbröckelnden Stufen wieder hinabzusteigen, und eingedenk des Wesentlichen, was ihm Estes über die Lage des Kuhmauls gesagt hatte, schlug er ein Seitensträßchen ein, wobei er vielen Eichhörnchen und Affen in die Quere kam, die im kühlen Dunkel der leeren Thorbogen ihre Wohnung aufgeschlagen hatten. Das letzte der Häuser endete in einem von Mimosen und Binsen überwucherten Schutthaufen, durch den schmale Fußspuren liefen.

Tarvin nahm Notiz von diesem Haus, als der ersten thatsächlichen Ruine, die er zu Gesicht bekam. Was er den Tempeln und Palästen hauptsächlich zur Last legte, war, daß sie eben keine Ruinen waren, sondern nur leer, tot, ausgefegt, von den Teufeln der Einsamkeit schwelgerisch in Besitz genommen. Mit der Zeit, in ein paar Tausend Jahren vielleicht, würde die Stadt in Staub und Moder zerfallen, dieses Haus wenigstens war mit gutem Beispiel vorangegangen.

Die Fußspur, der er folgte, führte ihn auf einen vorspringenden massiven Felsblock, der wie ein Wasserfall überhing. Kaum hatte indes Tarvin einen einzigen Schritt darauf gemacht, als er auf der Nase lag, denn das Gestein hatte tiefe Rinnen glätter als Eis, die von Millionen nackter Füße eingetreten und blank poliert worden waren; wie lange diese Füße dazu gebraucht hatten, würde kein Mensch nachrechnen können. Als er sich wieder aufrichtete, hörte er ein boshaftes Kichern und Glucksen, das halb unterdrückt mit einem Stickhusten endete, dann ganz verstummte und von neuem wieder anhob. Tarvin schwor sich im stillen, den Spötter ausfindig zu machen und zu bestrafen, sobald er sein Halsband gefunden haben würde, und gab dann etwas besser acht auf sein Gleichgewicht. An dem Punkt, wohin er jetzt gelangt war, schien es ihm, als ob das Kuhmaul ein ausgedienter Steinbruch wäre, dem die Schlingpflanzen aus dem Hals wuchsen.

Der Blick auf alles tiefer Liegende war durch das dichte Laubwerk von Bäumen versperrt, die sich aufwärts reckten und ihre Köpfe zusammenstreckten wie eine Leichenwache über einem Toten. Früher hatten in den Fels gehauene Stufen den beinahe senkrechten Abhang hinunter geführt, sie waren aber von den nackten Füßen längst zu bloßen glasigen Runzeln abgeschliffen worden, und der vom Wind hergetragene Staub hatte in den Vertiefungen eine dünne Erdschichte angesetzt. Tarvin spähte längere Zeit ärgerlich hinunter, denn das Hohngelächter drang wieder aus der Tiefe herauf, dann stieg er, die Stiefelabsätze tief in die Mulden bohrend, Schritt für Schritt hinab und suchte von Zeit zu Zeit an einem Grasbüschel Halt. Ehe er sich’s versah, war er der Sonne entrückt und stand bis über die Schultern in hohem, hartem Gras. Die Fußspur führte immer noch weiter, die Senkung dauerte an und er griff beim Weiterschreiten mit beiden Händen in die starken Grashalme. Jetzt fühlte er eine Feuchtigkeit an seinen Ellbogen und sah, daß der Fels, wo dieser aus der Erde ragte, von Nässe zerfressen und mit Moos überzogen war. Die Luft wurde feucht und kühl und beim nächsten Schritt, den er mehr hinabrutschte als ging, sah er, auf einem breiteren Steinvorsprung aufatmend, was ihm das Geäst der Bäume bisher verhüllt hatte. Die Stämme wuchsen aus der Umfassungsmauer eines viereckigen Teichs empor, dessen Wasser so still stand, daß es längst den Höhepunkt der Fäulnis überschritten hatte und phosphorisch leuchtend im fast nächtlichen Schatten des üppigen Laubwerkes lag. Durch die Sommerhitze war der Spiegel gesunken, und so zog sich eine Bank getrockneten Schlamms rundum. Das Kapitäl eines umgesunkenen Pilasters, in das ungeheuerliche und unzüchtige Götzenbilder gehauen waren, ragte aus der Pfütze empor wie der Kopf einer aufs Land zusteuernden Schildkröte. Hoch über Tarvins Haupt, da wo noch Sonnenstrahlen durchs Gezweig drangen, schwirrte es von Vögeln; kleine Zweigchen und Beeren fielen zuweilen herab in das tote Gewässer und ihr Aufklatschen hallte wider von den Rändern des Teichs, der von keinem Sonnenschein wußte.

Das Kichern und Glucksen, das Tarvin so geärgert hatte, ertönte jetzt aufs neue, dieses Mal in seinem Rücken. Sich scharf umwendend, entdeckte er, daß es von einem dünnen Wasserstrahl herrührte, der stoßweise aus dem Maul eines roh in Stein gehauenen Kuhhauptes hervorsprudelte und über eine Steinrinne in den regungslosen blauen Teich rieselte. Unmittelbar dahinter stieg die steile Felswand auf, an der er herabgeglitten war. Das war also das Kuhmaul.

Der Teich lag am Boden eines hohen Schachts, und der einzige Weg, der aus Licht und Sonnenglut in dieses düstere nasse Gewölbe führte, war der, den Tarvin gekommen war.

»Recht freundlich vom König, das muß ich sagen,« brummte er, vorsichtig auf dem Gesimse weitergehend, das fast ebenso schlüpfrig war wie sein Felsenabstieg. »Was in aller Welt soll dabei herauskommen?«

Er kehrte wieder um, denn das Gesimse war nur an einer Seite des Teichs erhalten, während die andern drei von lehmigen Schmutzanhäufungen eingefaßt waren, die zu betreten nicht ratsam schien und die ihm doch die einzige Möglichkeit boten, seine Erforschung weiter zu treiben. Jetzt kicherte und gluckste das Kuhmaul wieder, weil sich ein neuer Wasserstrudel durch seine unförmlichen Kinnladen drängte.

»So vertrockne doch!« brummte Tarvin ungeduldig, indes er sich ziemlich ratlos in dem Halbdunkel umsah.

Er warf zuerst einen Felsbrocken auf den Schmutzwall, betastete ihn dann vorsichtig mit der Zehenspitze und beschloß, da er ziemlich verläßlich zu sein schien, den Umgang zu wagen. Da an der rechten Seite des Teichs mehr Bäume standen als an der linken, wählte er diese und hielt sich für den Fall eines Fehltritts vorsichtig an den Zweigen fest.

Ursprünglich war die Felseneinfassung des Teichs vollkommen wagrecht gewesen, aber Zeit, Feuchtigkeit und die eroberungslustigen Baumwurzeln hatten die Steine an tausend Stellen gesprengt und gespalten, so daß der Fuß nur hie und da zweifelhaften Halt fand.

Entschlossen, ringsum zu wandern, arbeitete sich Tarvin an der rechten Seite des Teichs weiter. Die Dämmerung vertiefte sich noch, als er jetzt unmittelbar unter dem größten der Feigenbäume war, der tausend Arme über das Wasser hinbreitete und mit schlangenhaft gewundenen Wurzeln vom Durchmesser eines männlichen Körpers am überhängenden Felsen hinaufkletterte. Hier ruhte Tarvin eine Weile, in einer Wölbung des Geästes sitzend, um sich noch klarer zu verdeutlichen, wie der Ort beschaffen war. Die Sonne schoß den schlüpfrigen Pfad herunter, den er gekommen war und der ihm nun gerade gegenüber lag, und sie warf einen breiten Lichtfleck auf das verwitterte buntschimmernde Marmorgesims des jenseitigen Teichrands und auf die stumpfe Schnauze des Kuhmauls. Da wo Tarvin saß, herrschte volle Finsternis und ein fast unerträglicher Moschusgeruch. Das faulig schillernde Wasser war kein einladender Anblick, und so sah er lieber in die Höhe nach den Bäumen und dem überhängenden Gestein in seinem Rücken und entdeckte auch die smaragdenen Flügel eines Papageis, der sich auf einem der oberen Zweige schaukelte. Nie im Leben hatte Tarvin den gesegneten Sonnenschein so vermißt und herbeigesehnt. Er fror und hatte ein Gefühl eindringender Feuchtigkeit am ganzen Körper, auch merkte er deutlich, daß ein kalter Luftzug gegen sein Gesicht wehte, sobald er es dem Felsen und den Schlangenwurzeln zukehrte.

Mehr sein Raumgefühl als thatsächliche Wahrnehmung sagte ihm, daß hinter den Wurzeln, worauf er saß, ein Zugang, ein unterirdischer Durchgang sein müsse, und mehr die angeborene amerikanische Neugierde, als eigentliche Abenteuerlust trieb ihn, sich in die Dunkelheit zu stürzen, die sich vor ihm aufthat und hinter ihm zusammenschlug. Er fühlte, daß er behauene Steine mit einer dünnen trockenen Erdschicht unter den Füßen hatte, und als er die Arme ausbreitete, konnte er zu beiden Seiten Mauerwerk fühlen. Er steckte ein Streichholz an und verwünschte seine Unbekanntschaft mit Kuhmäulern, die ihn das Mitbringen einer Laterne hatte versäumen lassen. Das erste Streichholz flammte flackernd auf, um in dem starken Luftzug sofort zu erlöschen, und eh‘ noch das Hölzchen verglüht war, hörte er vor sich ein Geräusch, wie es etwa die zurückweichende Welle auf kiesigem Strand hervorbringt. Sehr ermutigend klang der Ton nicht, aber Tarvin arbeitete sich, nachdem er sich mit rascher Kopfwendung überzeugt hatte, daß das Tageslicht noch in gerader Linie hinter ihm glimmte, doch ein paar Schritte weiter und strich ein zweites Zündholz an, das er dieses Mal mit der Hand vor dem Luftzug schützte. Beim nächsten Schritt überlief ihn ein Schauder, sein Stiefelabsatz hatte einen Totenschädel zermalmt.

Das flackernde Lichtchen zeigte ihm, daß er den Durchgang selbst schon hinter sich hatte und jetzt in einem pechschwarzen Raum von unerkennbarem Umfang stand. Er glaubte einen Pfeiler, nein ganze Reihen von Pfeilern zu unterscheiden, die in dem unstäten Lichtschein wie Betrunkene schwankten: sicher war er dessen nicht, um so sicherer aber, daß der Boden unter ihm vollständig bedeckt war mit Totengebeinen. Jetzt wurde er sich auch bewußt, daß ein Paar smaragdgrüner Augen ihn unverwandt anstarrten und daß tiefe schnaubende Atemzüge durch den Raum tönten, die nicht von ihm herrührten. Er warf das Zündholz weg, die Augen zogen sich zurück, ein fürchterliches Rascheln und Krachen ertönte in der Finsternis, ein Geheul erklang, das von Mensch oder Tier herrühren konnte, und Tarvin sprang nach links, schwang sich atemlos keuchend über die Baumwurzeln und floh in wildem Lauf um den Teich herum, bis er wieder auf dem festen Gesims stand, wo er, das Kuhmaul im Rücken, Halt machte und seinen Revolver hervorzog.

In diesem Augenblick der Erwartung, was aus dem unterirdischen Gang hervorkommen werde, lernte Tarvin kennen, was rein physische Todesangst heißt. Dann bemerkte er plötzlich, ohne recht hinzusehen, daß ein Teil des Schlammwalls zur Linken, den er nur deshalb nicht betreten hatte, weil weniger Zweige darüber hinragten, sich in Bewegung setzte. Es war ein sehr beträchtlicher Teil, wohl die Hälfte der ganzen Länge und dieser Teil ruderte langsam über das Wasser, ein langer Streifen von Schleim und Schlamm. Aus dem Loch hinter den Wurzeln des Feigenbaumes kam nichts heraus, aber hart an dem Gesims, worauf Tarvin stand, fast unter seinen Schuhsohlen, fing der Schlammwall zu grunzen an und äugte zwischen hornigen mit grünlichem Schleim verklebten Augenlidern zu ihm hinauf.

Der Amerikaner des Westens ist mit vielen seltsamen Erscheinungen vertraut, aber der Alligator gehört nicht in den Kreis seiner üblichen Lebenserfahrungen. Zum zweitenmal an diesem Tag legte Tarvin einen schwierigen Weg zurück, ohne recht inne zu werden, was er that. Ehe er sich’s versah, saß er im sengenden Sonnenlicht oberhalb des schlüpfrigen steilen Pfades, der in die Tiefe führte. Seine beiden Hände waren voll von heilsamem hartem Dschungelgras und reinlicher trockener Erde, er sah die tote Stadt vor sich und um sich und fühlte sich geborgen.

Das Kuhmaul kicherte und gluckste unsichtbar, wie es gegluckst hatte, als der Teich angelegt worden war, und das mag geschehen sein, als die Zeit überhaupt entstand. Ein verkrüppelter alter Mann, fast vollständig nackt, kam mit einem jungen Zicklein, das er am Strick zog, durch das hohe Gras geschritten und rief von Zeit zu Zeit: »Ao, Bhai! Ao! Komm, Bruder! Komm!« Tarvin war erst starr vor Staunen, überhaupt ein menschliches Wesen zu erblicken, und noch mehr, dieses Wesen mir nichts dir nichts zu den Greueln der Finsternis hinabsteigen zu sehen. Er wußte eben nicht, daß dem heiligen Krokodil beim Kuhmaul allmorgendlich sein Frühstück gebracht wurde, wie es ihm gebracht worden war in den Tagen, wo Gunnaur von Menschen gewimmelt und seine schönen Königinnen noch nichts geahnt hatten von Tod und Verödung.

Schluß des ersten Bandes.

Die Sklaven der Lampe.

Die Sklaven der Lampe.

IX.

II. Infant, derselbe, der dem Schriftsteller Eustachius Cleaver die Geschichte von der Gefangennahme Boh Na Ghees erzählte, erbte eine stattliche Baronie mit unermeßlichen Einkünften, quittierte den Dienst und wurde Landmann, während seine Mutter bei ihm Wache hielt, daß er auch das richtige Mädchen zur Frau nähme. Seiner neuen Stellung fremd, stellte er den Freiwilligen des Bezirks einen richtigen großen Schießplatz für ihre Magazinflinten zur Verfügung, und die umwohnenden Familien, die in weltfremder Abgeschiedenheit mitten von Wäldern voll Fasanen hausten, sahen ihn für verrückt an. Der Lärm vom Schießen erschreckte ihr Federvieh, und der Infant galt als ausgestoßen aus der vornehmen und anständigen Gesellschaft, für so lange, bis eine Tochter des Landes ihn wieder auf richtige Gedanken gebracht hätte. Er nahm seine Rache, indem er sein Haus mit auserlesenen Scharen alter Schulkameraden füllte, die auf Urlaub in der Heimat waren – Wölfe im Schafspelz, die sich die radfahrenden Töchter der umwohnenden Familien nur von weitem ansehen durften. Aus Infants Einladungen konnte ich ersehen, wenn ein Truppenschiff eingelaufen war. Manchmal führte er alte Freunde gleicher Anciennität andern vor, jungen, errötenden Riesen, die ich als kleine Füchse ganz unten in Unterquinta verlassen hatte; und diesen erklärten Infant und die andern alle Pflichten eines Mannes in der Armee.

»Ich habe den Dienst schießen lassen,« sagte der Infant, »aber das ist kein Grund, warum meine unermeßlichen Vorräte an Erfahrung der Nachwelt verloren gehen sollten.« Er war gerade dreißig Jahre, und im selben Jahre rief mich ein gebieterisches Telegramm auf sein Baronschloß: »Famose Gesellschaft bekommen. Komm‘ her!«

Es war wirklich eine ungewöhnlich famose Gesellschaft, ganz besonders für mich ausgesucht. Da war ein bartloser, zusammengebrochener Kapitän der Eingeboreneninfanterie, der hinter einer unbezähmbar roten Nase vor Fieber zitterte – und Kapitän Dickson genannt wurde. Da war ein zweiter Kapitän, ebenfalls von der Eingeboreneninfanterie, der einen schönen Schnurrbart hatte; sein Gesicht war weiß wie Glas, und seine Hände zart, aber er antwortete vergnügt, wenn man ihn »Tertius« anrief. Da war ein enorm dicker und wohlkonservierter Mann, der augenscheinlich seit Jahren nicht im Felde gelegen hatte, glatt rasiert, mit sanfter Stimme und schmiegsam wie eine Katze, aber immer noch Abanazar, trotzdem er eine Zierde des Verwaltungsdienstes Indiens geworden war. Und da war auch noch ein magerer Irländer, dem die Sonne des Telegraphendepartements das Gesicht blauschwarz gegerbt hatte. Glücklicherweise schlossen die friesverschlagenen Türen im Junggesellenflügel dicht, denn wir zogen uns gemeinschaftlich auf dem Korridor oder in eines andern Zimmer an, schwatzend, rufend, schreiend und zuweilen paarweise zu Dick Viers eigen erfundenen Gesängen walzend.

Wir hatten sechzehn Jahre mannigfacher Arbeit voreinander auszukramen, und da wir einander in dem raschen Szenenwechsel Indiens von Zeit zu Zeit getroffen hatten – bei einem Diner oder im Lager hier oder beim Wettrennen dort, auf einer Post- oder Eisenbahnstation irgendwo im Lande – hatten wir nie ganz die Fühlung verloren. Der Infant saß auf dem Sims und trank hungrig und neidisch alles in sich hinein. Er erfreute sich an seinem Besitztum, aber sein Herz bangte nach den alten Tagen.

Es war ein vergnügtes Babel, in dem persönliche und Provinz- und Reichsangelegenheiten, allerlei von alten Aufruflisten und neuen Plänen behandelt wurde, bis der Lärm eines Birma-Gongs alles das kurz abschnitt. Dann gingen wir nicht weniger als eine Viertelmeile Treppen hinunter zu Infants Mutter, die uns alle in unserer Schulzeit gekannt hatte und uns begrüßte, als ob diese erst seit einer Woche vorüber wäre. Aber es war doch schon fünfzehn Jahre her, seit sie mir einmal mit Tränen des Lachens eine graue Prinzeßschürze für Liebhaberzwecke geborgt hatte.

Ein Diner aus Tausendundeiner Nacht wurde in einer achtzig Fuß langen Halle aufgetragen, voll von Ahnenbildern und Töpfen mit blühenden Rosen, und, was am meisten Eindruck machte, mit Dampfheizung versehen. Wenn es zu Ende und die kleine Mutter fortgegangen war (»Ihr Jungen wollt plaudern, und deshalb will ich euch jetzt Gutenacht sagen«), versammelten wir uns um ein Feuer von Apfelbaumholz, das unter einem zehn Fuß hohen Sims in einem gewaltigen Kamin mit poliertem Stahlrost brannte. Der Infant traktierte uns dann mit merkwürdigen Likören und jener Sorte Zigaretten, die es am geeignetsten erscheinen läßt, die eigene Pfeife hervorzuholen.

»O Gott!« grunzte Dick Vier von einem Sofa, wo man ihn in eine Decke gewickelt hingepackt hatte. »Das erstemal, daß mir warm ist, seit ich zu Hause bin.«

Wir waren alle dicht ans Feuer gerückt, bis auf den Infanten, der lange genug zu Hause gewesen war, sich Bewegung zu machen, wenn ihn fror. Das ist eine scheußliche Sache, aber sehr beliebt bei den Engländern auf der heimatlichen Insel.

»Wenn du ein Wort von kalten Wannen oder erfrischenden Spaziergängen sprichst,« brachte M’Turk schleppend hervor, »schlage ich dich tot, Infant. Ich hab‘ auch noch eine kranke Leber, wißt ihr noch, wie wir es für einen Hochgenuß hielten, Sonntag morgens im Sommer, wenn das Thermometer 57 Grad zeigte, aus den Betten zu steigen und bei den Klippen zu baden? Hu!«

»Was ich nicht verstehen kann,« meinte Tertius, »ist, wie wir Jungen es fertigbrachten, in die Baderäume hinunterzugehn, uns ganz rot zu kochen und dann, alle Poren offen, in einen frischen Schneesturm oder bittern Frost hinauszukommen. Und doch ist, soviel ich mich erinnere, keiner von uns gestorben.«

»Da wir gerade von Bädern sprechen,« sagte M’Turk mit einem kurzen Lachen, »besinnst du dich noch auf unser Bad in Nummer fünf, Käfer, den Abend, als Karnickelei nach King mit Steinen warf? Was würd‘ ich nicht drum geben, wenn ich jetzt unsern alten Latte sehen könnte! Er ist der einzige aus den beiden Arbeitszimmern, der nicht hier ist.«

»Latte ist der große Mann seines Jahrhunderts«, sagte Dick Vier.

»Woher weißt du das?« fragte ich.

»Woher ich das weiß?« entgegnete Dick Vier höhnisch, »wenn du einmal mit Latte zusammen in ’ner Klemme gewesen bist, würdest du nicht fragen.«

»Ich habe ihn seit dem Lager bei Pindi im Jahre 87 nicht mehr geseh’n«, sagte ich. »Er fing damals an, stark zu werden – gegen sieben Fuß groß und vier Fuß breit.«

»Der findet sich überall durch. Höllisch schlau!« bemerkte Tertius, drehte seinen Schnurrbart und starrte ins Feuer.

»War verflucht nahe daran, vor ein Kriegsgericht gestellt und verabschiedet zu werden – 84 in Aegypten«, warf der Infant aus freien Stücken ein. »Ich ging mit ihm in demselben Truppenschiff fort – ebenso unerfahren wie er. Bloß ich zeigte es, und Latte nicht.«

»Was gab es denn?« fragte M’Turk und bog sich abwesend vor, um meine Binde zurechtzuschieben.

»Oh, nichts. Sein Oberst hatte ihn damit beauftragt, mit zwanzig Tommys Kamele zu baden oder irgend so etwas, außen vor Suakin, und Latte bekam fünf Meilen weiter im Innern mit Krausköpfen zu tun. Er brachte einen meisterhaften Rückzug zustande und streckte noch acht von den Kerls in den Sand. Er wußte recht wohl, daß er nicht so weit hinausgehen durfte; deshalb ergriff er die Initiative und beklagte sich in einem Brief an seinen Obersten, der vor Wut schäumte, über die geringe Unterstützung, die ihm für seine Operationen zuteil wurde. Gott, ein fetter Brigadier schimpfte auf den andern. Dann kam er zum Generalstab.«

»Das ist – ganz und gar – Latte«, bemerkte Abanazar von seinem Armstuhl.

»Du hast auch mit ihm zu tun gehabt?« fragte ich.

»O ja«, antwortete er in seinen sanftesten Tönen. »Ich kam auch zum Schluß drin vor in dem – in dem Epos. Wißt ihr nichts davon?«

Wir wußten nichts davon – der Infant, M’Turk und ich, und wir baten sehr höflich um nähere Angaben.

»’s war nichts Besonderes«, sagte Tertius. »vor ein paar Jahren gerieten wir oben in den Khy-Kheen-Bergen in eine schlimme Geschichte, und Latte brachte uns durch. Das ist alles.«

M’Turk schaute auf Tertius mit all der Verachtung eines Irländers für den mundfaulen Sachsen.

»Himmel!« sagte er. »Und du und solche Leute wie du regieren Irland. Tertius, schämst du dich nicht?«

»Na, ich kann kein Garn spinnen. Ich kann nur einfallen, wenn ein anderer mit der Geschichte anfängt. Frag‘ ihn!« Er deutete auf Dick Vier, dessen Nase höhnisch über der Decke glühte. »Ich wußte ja, du würdest nicht erzählen«, meinte Dick Vier. »Gebt mir einen Whisky mit Soda. Ich habe Zitronenlimonade und Chinin mit Salmiak getrunken, während ihr Kunden euch in Champagner badetet, und mein Kopf brummt wie ein Brummkreisel.«

Er strich sich seinen zerfaserten Schnurrbart zurück, trank und begann dann, während ihm die Zähne im Schädel klappten:

»Ihr wißt von der Expedition gegen die Khye-Kheens und die Malôts, als wir ihnen die Seele aus dem Leibe jagten mit einer Truppenmacht, gegen die sie überhaupt nicht zu kämpfen wagten. Na, beide Stämme – es bestand ein Bündnis gegen uns – gaben nach, ohne einen Schuß abzugeben, und eine Bande haariger Schurken, die nicht mehr Gewalt über ihre Leute hatten als ich, versprachen und gelobten alles Mögliche. Auf diese ganz schwache Unterlage hin, lieber Pussy –«

»Ich war in Simla«, warf Abanazar hastig ein.

»Ganz egal, Du wirst mit derselben Bürste gestriegelt. Kraft dieser Groschen- und Pfennigverträge erklärt ihr Esel von Politikern das Land für pazifiziert, und die Regierung, dämlich wie gewöhnlich, fing an, Wege zu bauen – wobei sie sich auf Unterstützung von den Anwohnern verließ. Besinnst du dich noch darauf, Pussy? Ein Teil von uns, die während des Feldzugs keinen rechten Einblick gehabt hatten, waren begierig, wieder nach Indien zurückzukommen. Ich selbst sorgte – summo ingenio – dafür, daß ich das Kommando einer Wegbau-Patrouille bekam. Ich brauchte nicht beim Schaufeln dabei zu sein, sondern marschierte bloß fein mit einer Wache auf und ab. soweit es ging, hatte man alle Truppen zurückgezogen; aber ich suchte mir vierzig Pathans (Afghanen) aus meinem Regiment aus, meistens Rekruten, und hielt mich dicht am Quartier auf, während die Bauabteilungen an die Arbeit gingen, wie die Pläne der Regierung sie ihnen vorschrieben.«

»Es gab damals so allerlei liederlichen Singsang im Lager«, sagte Tertius.

»Mein Adjutant« – das berichtete Dick Vier seinen Untergebenen – »war ein frommes kleines Biest. Er konnte den Singsang nicht leiden und ging fort mit Lungenentzündung. Ich durchwühlte das ganze Lager und fand schließlich Tertius, der als D.A.Q.M.G. herumschwatzte, wozu er, weiß Gott, doch wirklich nicht gemacht ist. Es waren sechs oder acht vom alten Institut im Quartier (wir waren immer in ziemlicher Stärke für den Fall von Grenzzwistigkeiten), aber ich hatte von Tertius als einem tüchtigen, brauchbaren Kerl gehört, und so sagte ich ihm, er sollte seine D.A.Q.M.G.-Hosen ausziehen und mir behilflich sein. Tertius war gleich bereit, wir brachten es mit den maßgebenden Stellen in Ordnung, und dann zogen wir aus – vierzig Pathans, Tertius und ich – und bewachten die Bauabteilungen Macnamaras – besinnt ihr euch noch auf den alten Mac, den Mineningenieur, der in Umballa so verteufelt die Fiedel spielte? – Macs Trupp war der letzte bis auf einen. Der letzte war Lattes. Er war ganz oben auf dem Wege mit ein paar von seinen geliebten Sikhs. Mac sagte, er glaube, es wäre bei ihm alles in Ordnung.«

»Latte ist ein Sikh«, warf Tertius ein. »Er nimmt seine Leute nach Amritzar zum Gebet zum Durbar Sahib, regelmäßig wie ein Uhrwerk, wenn es irgend geht.«

»Unterbrich mich nicht, Tertius. Ich war schon über vierzig Meilen von Mac fort, ehe ich ihn fand, und meine Leute erklärten höflich, aber bestimmt, daß sich ein Aufstand in der Gegend vorbereite, was für eine Sorte von Gegend, Käfer? Na, ich kann nicht mit Worten malen, Gott sei Dank, aber du würdest sie eine höllische Gegend nennen. Wenn wir nicht bis zum Halse im Schnee steckten, rutschten wir die Abhänge herab. Die gutgesinnten Anwohner, die uns beim Wegebau unterstützen sollten (vergiß das nicht, lieber Pussy), saßen hinter Felsblöcken und feuerten aus ihrem Hinterhalt auf uns. Alte, alte Geschichte! Wir liefen herum und suchten Latte. Ich hatte eine Ahnung, daß er irgendwo in guter Deckung sitzen würde, und gegen Abend fanden wir ihn und seine Abteilung, so behaglich wie Wanzen in einer Bettdecke, in einem alten steinernen Fort der Malôts, mit einem Wachtturm an einer Ecke. Es lag über dem Wege, den sie fünfzig Fuß tiefer aus dem Gestein ausgesprengt hatten, und jenseits des Weges ging es ganz steil hinunter, etwa fünf- oder sechshundert Fuß, in eine Schlucht, die gegen eine halbe Meile breit und zwei bis drei Meilen lang war. Auf der andern Seite der Schlucht befand sich Gesindel und suchte höchstwahrscheinlich unsere Schußweite zu ermitteln. Ich hämmerte an das Tor, schlüpfte hinein und stolperte beinahe über Latte, der in einem grauen, blutigen, alten Mantel mit seinen Leuten auf dem Boden hockte und aß. Ich hatte ihn drei Monate vorher auf eine halbe Minute gesehen, aber er tat, als hätten wir uns erst gestern getroffen. Er winkte ganz vergnügt mit der Hand.

»Hallo, Aladdin! Hallo, Kaiser!« sagte er. »Ihr kommt gerade zu rechter Zeit für den Spaß.«

Ich sah, daß seine Sikhs etwas mitgenommen aussahen.

»Wo ist dein Kommando? Wo ist dein Adjutant?« fragte ich.

»Hier – dies ist alles, was davon übrig ist«, sagte Latte, »wenn du was vom jungen Everett haben willst – der ist tot, und sein Leichnam liegt im Wachtturm. Sie überfielen unsere Wegbauabteilung vorige Woche und haben ihn und sieben Mann erschossen. Seit fünf Tagen werden wir hier belagert. Scheint mir, du bist in eine erstklassige Falle hineinspaziert.« Er grinste, aber weder Tertius noch ich konnten einsehen, wo da, zum Teufel, der Spaß war. Wir hatten gar keine Lebensmittel für unsere Leute, und Latte hatte nur für vier Tage Rationen für die seinigen. Das kam davon, sich auf euch Eselsköpfe von Politikern zu verlassen, lieber Pussy, die uns erzählt hatten, die Bewohner wären freundlich gesinnt.

Um es uns vollkommen behaglich zu machen, führte Latte uns nach dem Wachtturm hinauf und zeigte uns des armen Everett Körper. Er lag auf einer zusammengeschaufelten Lage Schnee und sah wie ein Mädchen von fünfzehn Jahren aus – nicht ein Haar war auf des kleinen Burschen Gesicht. Er war durch die Schläfe geschossen worden, aber die Malôts hatten ihr Zeichen an ihm hinterlassen. Latte knöpfte den Rock auf und zeigte es uns – ein merkwürdiger, sichelförmiger Schnitt auf der Brust. Weißt du noch, wie der Schnee ganz weiß auf seinen Augenbrauen lag, Tertius? Weißt du noch, wie Latte die Lampe hob und es aussah, als ob er lebte?«

»Ja«, sagte Tertius zusammenschauernd. »Besinnst du dich auch noch auf Lattes gräßliche Miene mit den aufgeblasenen Nüstern, wie er schon früher aussah, wenn er einen Fuchs anschnauzte? Das war ein reizender Abend!«

»Wir hielten einen Kriegsrat ab, dort oben bei Everetts Leiche. Latte sagte, die Malôts und die Khye-Kheens hätten sich zusammen erhoben; sie hätten ihre alten Blutfehden begraben, um sich gegen uns zu wenden. Die Runden, die wir auf der andern Seite der Schlucht gesehen hatten, waren Khye-Kheens. Es lag zwischen uns und ihnen etwa eine halbe Meile Luftlinie, und sie hatten sich unter dem Bergabhang eine Reihe von Schlupfwinkeln gemacht, um darin zu schlafen und uns auszuhungern. Die Malôts, sagte er, lagerten alle zusammen vor unserer Front, hinter dem Fort hatten sie keine gute Deckung, sonst wären sie auch dort gewesen. Latte scherte sich um die Malôts nicht halb so viel wie um die Khye-Kheens. Er sagte, die Malôts wären verräterische Schurken. Was ich nicht verstehen konnte, war, warum in aller Welt die beiden Trupps sich nicht vereinigten und einen Sturm auf uns unternahmen. Es müssen wenigstens fünfhundert von ihnen gewesen sein. Latte sagte, daß die einen den andern nicht recht trauten, denn zu Hause waren sie Erbfeinde. Und das einzige Mal, daß sie einen Sturm versucht hatten, hatte er ein paar Sprengladungen unter sie geworfen, und das hatte ihnen ein bißchen die Luft benommen.

Es war dunkel, als wir fertig waren, und Latte, immer gelassen sagte: »Jetzt hast du das Kommando. Ich setze voraus, du kümmerst dich nicht um meine Maßregeln, die ich für notwendig halte, um das Fort neu zu verproviantieren.« Ich sagte: »Selbstverständlich nicht!« und blies dann die Lampe aus. Dann kletterten Tertius und ich wieder die Stufen vom Turm herunter (wir hatten keine Lust, bei Everett zu bleiben) und gingen zu unsern Leuten zurück. Latte war verschwunden – um die Vorräte zu zählen, glaubte ich. Auf alle Fälle blieben Tertius und ich für den Fall eines Angriffs auf (sie schossen ganz hübsch auf uns, wißt ihr!) und lösten einander bis zum Morgen ab.

Der Morgen kam, aber kein Latte. Kein einziges Zeichen von ihm. Ich hielt mit dem ältesten eingeborenen Offizier Rat – einem großen, alten Burschen mit weißem Backenbart, Rutton Singh, aus Dschullundhar. Er grinste bloß und sagte, es wäre alles in Ordnung. Wie er sagte, war Latte schon zweimal vorher außerhalb des Forts gewesen, da oder dort, irgendwo. Er sagte, Latte würde unzerhauen wieder zurückkommen, und gab mir zu verstehen, daß Latte so eine Art von unverwundlichem » guru« (geistlicher Lehrer) wäre. Trotzdem setzte ich die ganze Mannschaft auf halbe Rationen und ließ sie Schießscharten ausbrechen.

Gegen Mittag wütete ein ungeheurer Schneesturm, und der Feind hörte mit Feuern auf. Wir erwiderten nur behutsam, denn wir waren schrecklich knapp an Munition. Ich glaube, wir haben kaum fünf Schüsse in der Stunde abgegeben, aber meistens trafen wir unsern Mann. Na, als ich gerade mit Rutton Singh sprach, sah ich Latte vom Wachtturm herunterkommen, ziemlich geschwollen um die Augen, sein Mantel mit blutfarbigem Eis bedeckt.

»Man kann sich auf solchen Schneesturm nicht verlassen«, sagte er. »Drückt euch schnell ‚raus und klaubt zusammen, was ihr kriegen könnt. Es ist gerade jetzt eine ziemliche Reibung zwischen den Khye-Kheens und den Malôts.«

Ich schickte Tertius mit zwanzig Pathans hinaus, und sie suchten eine Weile draußen im Schnee herum, bis sie nach ungefähr achthundert Yards Wegs an eine Art von Lager kamen, mit einem einzigen Mann als Posten und einem halben Dutzend Schafe am Feuer. Sie taten den Mann ab, holten sich die Schafe und so viel Korn, als sie tragen konnten, und kamen zurück. Kein einziger Schuß wurde auf sie abgegeben. Es schien überhaupt niemand in der Nähe zu sein, aber der Schnee fiel recht hübsch dick hernieder.

»Das ist genug«, sagte Latte, als wir unser Essen fertig hatten und er an einem Stück Hammelfleisch kaute, das auf einem Putzstab geröstet war. »Es hat gar keinen Zweck, Mannschaften aufs Spiel zu setzen. Oben am Ende der Schlucht halten die Khye-Kheens und die Malôts jetzt eine Art Palaver ab. Ich finde nicht, daß diese sogenannten Koalitionen viel Gutes haben.«

Wißt ihr, was der verrückte Kerl getan hatte? Tertius und ich holten es bruchstückweise aus ihm heraus. Unter dem Wachtturm befand sich ein Kellerraum für Getreide, und als er den Weg aussprengte, hatte Latte ein Loch durch dessen Mauer gebrochen. Da er nun eben Latte war, hatte er dies Loch für seine eigenen Zwecke offen gehalten und des armen Everett Leichnam genau über den Eingang zu der Treppe gelegt, die vom Wachtturm hinunterführte. Er hatte den Körper jedesmal, wenn er den Durchgang benutzte, von der Stelle schieben und wieder zurücklegen müssen. Die Sikhs waren natürlich dem Platz überhaupt nicht nahe gekommen. Na, er war durch dieses Loch herausgeraten und auf den Weg gelangt. Dann, in der Nacht und dem heulenden Schneesturm, war er über den Abhang und dann bis auf den Boden der Schlucht geklettert, hatte den Bach, der halb gefroren war, durchwatet, war auf der andern Seite auf einem Pfade, den er entdeckt hatte, emporgeklommen und an der rechten Flanke der Khye-Kheens herausgekommen. Er war dann – paßt nur auf! – über eine Hügelkette geklettert, an der sie lagerten, war eine halbe Meile hinter derselben hingegangen und an der linken Seite ihrer Linie herausgekommen, wo die Schlucht schmäler wurde und sich ein regelrechter Weg zwischen dem Lager der Khye-Kheens und dem der Malôts befand. Das war ungefähr um zwei Uhr morgens, und da passierte es, daß ihn jemand bemerkte – ein Khye-Kheen. Latte tat ihn ab und ließ ihn liegen – mit dem Zeichen der Malôts auf der Brust, wie es Everett hatte.

»Ich war so ökonomisch, wie ich irgend sein konnte«, sagte Latte zu uns. »wenn ich gerufen hätte, wäre ich totgeschlagen worden. Ich hab‘ so etwas erst einmal tun müssen, und das war das erstemal, daß ich jenen Weg versuchte. Er ist für Infanterie vollkommen passierbar, wißt ihr.«

»Was ist das mit dem ersten Mann?« fragte ich.

»Oh, das war in der Nacht, nachdem Everett getötet war, und ich war herausgegangen, um einen Rückzug für meine Leute zu suchen. Ein Mann entdeckte mich. Ich tat ihn ab – privatim – erwürgte ihn. Aber als ich’s mir überlegte, kam mir der Gedanke, wenn ich den Körper wiederfände (ich hatte ihn hinter ein paar Felsblöcken verborgen), könnte ich ihn mit dem Zeichen der Malôts dekorieren und für die Khye-Kheens liegen lassen, damit sie ihre Schlüsse zögen. Ich ging also in der nächsten Nacht wieder hinaus und machte es. Die Khye-Kheens sind empört über die Malôts, daß sie diese beiden Gewalttätigkeiten so feige verübt haben, nachdem sie geschworen, alle Blutfehden ruhen zu lassen. Ich lag heute früh hinter ihrem Lager und beobachtete sie. Sie gingen alle nach dem Ende der Schlucht, um die Sache zu besprechen. Sie sind ganz schrecklich aufgeregt. Kein Wunder.« – Ihr wißt, wie Latte die Worte herausfallen läßt, eins nach dem andern.«

»Mein Gott!« stieß der Infant explosiv hervor, als ihm die ganze Tiefe der Strategie dämmerte.

»Lieber Mensch!« sagte M’Turk mit entzücktem Schnurren.

»Latte war eben auf Schleichwegen«, bemerkte Tertius. »Das ist die ganze Geschichte.«

»Nein, das war’s nicht«, sagte Dick Vier. »Besinnst du dich noch darauf, wie er dabei blieb, er hätte bloß sein Glück versucht? Besinnst du dich noch darauf, wie Rutton Singh sich seine Stiefel langte und in den Schnee kroch, und wie unsere Leute schrien?«

»Keiner von unsern Pathans glaubte, daß es Glück war«, sagte Tertius. »Sie schworen, Latte hätte als Pathan geboren sein müssen, und – weißt du noch, wie es beinahe Spektakel im Fort gab, als Rutton Singh sagte, Latte wäre ein Sikh? Gott, wie wütend der alte Bursche auf meinen Pathan Jemadar (eingeborener Leutnant) war. Aber Latte hob bloß den Finger, und sie hielten den Mund.

Der alte Rutton Singh hatte sein Schwert halb herausgezogen und schwor, er würde jeden Khye-Kheen und Malôt verbrennen, den er totschlüge. Das machte den Jemadar ganz wild; er machte sich nichts daraus, gegen Glaubensgenossen zu kämpfen, aber er wollte doch keinem muselmännischen Genossen seine Chancen auf das Paradies verderben. Dann quatschte Latte abwechselnd Pushtu- und Pandschab-Dialekt. Wo, zum Teufel, hat er sein Pushtu aufgeschnappt, Käfer?«

»Laß‘ seine Sprachkenntnisse sein«, entgegnete ich. »Erzähle uns die Hauptsachen.«

»Ich schmeichle mir, daß ich, wenn’s not tut, einen verschlagenen Pathan anreden kann, aber, zum Henker, ich kann keine Wortspiele in Pushtu machen oder meine Argumente mit einer pikanten Geschichte schließen, wie er’s machte. Er konnte auf diesen beiden alten Kriegshunden wie auf einer Ziehharmonika spielen. Latte behauptete – und die beiden andern gaben ihm in seiner Beurteilung des orientalischen Charakters recht – daß die Khye-Kheens und die Malôts in der Nacht einen gemeinsamen Angriff auf uns unternehmen würden, um ihre Treue zu erproben. Sie würden aber nicht alle Kräfte dabei einsetzen, denn keiner würde dem andern trauen, wegen jener kleinen Zwischenfälle, wie Rutton Singh es nannte. Lattes Idee war, bei Dunkelwerden mit seinen Sikhs hinauszuschleichen, sie auf jenem gottlosen Ziegenpfad, den er entdeckt hatte, hinter die Position der Khye-Kheens zu führen, und dann mit ein paar ordentlichen Schüssen auf die Malôts zu feuern, wenn der Angriff in vollem Gange wäre. »Das wird ihnen die Köpfe verwirren und sie noch mehr aufregen«, meinte er. »Dann kommt ihr Burschen heraus und fegt die Stücke zusammen, und am Ende der Schlucht geben wir uns ein Rendezvous. Und dann, denk‘ ich, machen wir, daß wir nach Macs Lager zurückkommen und etwas zu essen kriegen.«

»Hattest du nicht das Kommando?« meinte der Infant.

»Ich war etwa drei Monate älter als Latte, und Tertius zwei Monate«, erwiderte Dick Vier. »Aber wir waren ja alle von demselben alten Institut. Ich möchte sagen, unsere Angelegenheiten waren so ziemlich die einzigen, wo nicht einer auf den andern eifersüchtig war.«

»Wir waren’s nicht,« fiel Tertius ein, »aber zwischen Gul Sher Khan und Rutton Singh gab es Streit. Unser Jamadar sagte – er hatte ganz recht – daß kein Sikh in der Welt schleichen könnte, den Teufel auch, und daß Koran Sahib besser täte, die Pathans mitzunehmen, die diese Art von Gebirgskletterei verständen. Rutton Singh dagegen sagte, Koran Sahib wüßte ganz gut, daß jeder Pathan ein geborener Deserteur wäre, und jeder Sikh wäre ein Gentleman, selbst wenn er auch nicht auf dem Bauche kriechen könnte. Latte fiel mit irgendeinem Weibersprichwort oder so etwas ein, das beide Männer mit einem Grinsen zusammenklappen ließ. Er sagte, die Sikhs und die Pathans könnten sich mit ihren Ansprüchen auf die Khye-Rheens und die Malôts später auseinandersetzen, aber er wollte seine Sikhs auf diese spaßhafte Kletterpartie mitnehmen, denn die Sikhs verstünden zu schießen. Das können sie auch. Gebt jedem von ihnen eine Ladung Munition, und sie sind vollkommen glücklich.«

»Und dann machte er, daß er hinauskam«, sagte Dick Vier. »Sobald es dunkel wurde und er sich ein wenig aufs Ohr gelegt hatte, gingen er und dreißig Sikhs die Treppe in den Turm hinunter, und jeder Sohn seiner Mutter salutierte vor des kleinen Everett Leiche, die aufrecht gegen die Wand gelehnt war: » Kubbadar! tumbleinga!« (gebt acht, daß ihr nicht fallt), und sie tumbleingaten über irgend etwas. Genau um 9 Uhr abends begann der vereinte Angriff, Khye-Kheens jenseits des Tales und Malôts vor unserer Front; sie schossen auf weite Entfernung und schrien einander zu, näher zu gehen und uns unsere ungläubigen Kehlen durchzuschneiden. Dann drängten sie an das Tor heran und begannen das alte Spiel, die Pathans Renegaten zu schimpfen und sie aufzufordern, auch den heiligen Krieg mitzumachen. Einer von unsern Leuten, ein junger Bursche von Dera Ismail, sprang auf die Mauer, um zurück zu schimpfen, und fiel wieder herunter, heulend wie ein Kind. Er war gerade in die Mitte der Hand getroffen worden. Hab‘ bis jetzt noch nie einen Mann geseh’n, der eine Wunde mitten in der Hand aushalten konnte, ohne bitterlich zu weinen. Es stachelt alle Nerven auf. So nahm Tertius seine Flinte und schlug den andern gegen die Köpfe, damit sie sich an ihren Schießlöchern ruhig verhielten. Die lieben Kinder wollten durchaus das Tor aufmachen und gründlich auf sie losgehn, aber das paßte uns nicht in unsern Kram.

Schließlich, kurz vor Mitternacht, hörte ich das wop, wop, wop von Lattes Martinis auf der andern Seite des Tales und ziemliches Fluchen unter den Malôts, deren Haupttrupp vor uns durch eine Senkung in der Hügelkette verborgen war, Latte bräunte sie recht heftig, und natürlich schwenkten sie halb rechts und fingen an auf ihre treulosen Verbündeten, die Khye-Kheens, zu feuern – richtiges Rottenfeuer. In weniger als zehn Minuten, nachdem Latte die Spaltung eingeleitet hatte, gab es schon den gewaltigsten Lärm auf beiden Seiten des Tales. Als wir schließlich sehen konnten, ging es im Tal drunter und drüber. Die Khye-Kheens waren aus ihren Schlupfwinkeln jenseits der Schlucht hervorgeströmt, um Rache an den Malôts zu nehmen, und Latte – ich beobachtete ihn durch mein Glas – hatte sich hinter ihnen hergemacht, sehr gut. Die Khye-Kheens mußten die Hügelkette entlanglaufen, bis dorthin, wo der Bach in der Schlucht seicht war und sie zu den Malôts hinüber konnten, die sich schrecklich freuten, die Khye-Kheens in ihrer Nachhut angegriffen zu sehen.

Dann kam mir der Gedanke, den Khye-Kheens ein wenig Trost zu bringen. So nahm ich die ganze Truppe hinaus, und wir rückten vor, à la part de charge und verprügelten das, was wir – der Deutlichkeit halber – den linken Flügel der Malôts nennen wollen, selbst dann noch hätten sie uns, wenn sie ihre Streitigkeiten hätten ruhen lassen, lebendig auffressen können, aber sie hatten die halbe Nacht aufeinander gefeuert, und sie schossen weiter. Die tollste Sache, die ihr euer Lebtag geseh’n habt, sobald unsere Leute die Malôts vornahmen, feuerten diese noch eifriger als je auf die Khye-Kheens, um zu zeigen, daß sie auf unserer Seite wären, rannten ein paar hundert Schritte das Tal hinauf und machten halt, um weiter zu feuern. Sobald Latte unser Spiel erkannte, verdoppelte er es auf seiner Seite der Schlucht, und, wahrhaftig, die Khye-Kheens machten es genau ebenso.«

»Ja, aber du hast vergessen,« fügte Tertius hinzu, »zu erzählen, wie er auf dem Horn spielte: »Hurra, Patsy, sorg‘ für’s Baby«, um uns anzufeuern.«

»Tat er das?« brüllte M’Turk. Es gab eine Unterbrechung, denn wir alle fingen an, es zu singen.

»Ein wenig«, antwortete Tertius, als wir ruhig waren. Kein einziger von der Aladdintruppe konnte die Melodie vergessen. »Ja, er spielte »Patsy«. Weiter, Dick.«

»Schließlich,« erzählte Dick Vier, »trieben wir beide Haufen einen dem andern in die Arme, auf einer kurzen, ebenen Strecke oben am Eingang des Tals, und sahen die ganze Gesellschaft abwickeln, kämpfend, stechend und fluchend in einem undurchdringlichen Schneesturm. Es war eine gehörige, haarige Bande, und wir folgten ihnen nicht.

Latte hatte einen Gefangenen gemacht – einen alten, pensionierten Sepoy, der fünfundzwanzig Jahre Dienst hinter sich hatte und seine Abdankung hervorholte – einen schrecklich amüsanten Kerl. Er hatte versucht, seine Leute früh am Tage zum Angriff auf uns zu bewegen. Er war mürrisch – wütend auf die Feigheit seiner Genossen. Rutton Singh hatte Lust, ihn aufzuspießen – Sikhs können es nicht verstehen, wie jemand gegen die Regierung kämpfen kann, nachdem er ihr ehrenvoll gedient hat – aber Latte beschützte ihn und war ganz versessen auf ihn – zu spätern Zwecken, glaube ich. Als wir zum Fort zurückkamen, begruben wir den jungen Everett – Latte wollte nichts davon hören, den Platz in die Luft zu sprengen – und machten, daß wir fortkamen, wir verloren bloß zehn Mann im ganzen.«

»Bloß zehn von siebzig! Wie habt ihr die verloren?« fragte ich.

»Oh, früh in der Nacht gab es einen Sturm auf das Fort, und ein paar Malôts kamen über das Tor. Ein oder zwei Minuten lang sah die Sache ziemlich schlimm aus, aber die Rekruten bewältigten es wundervoll. Zum guten Glück hatten wir keinen schwerverwundeten Mann zu tragen, denn wir hatten vierzig Meilen bis zu Macnamaras Lager. Wahrhaftig, wie sind wir gerannt! Auf halbem Wege klappte der alte Rutton Singh zusammen; wir legten ihn auf Lattes Mantel, der an vier Flinten gebunden wurde, und Latte, sein Gefangener und ein paar Sikhs trugen ihn. Dann schlief ich ein. Ihr wißt, das kann man beim Marschieren, wenn die Beine richtig erstarrt sind. Mac schwört, wir sind alle schnarchend in sein Lager einmarschiert und fielen hin, wo wir Halt machten. Seine Leute schleppten uns wie Erbsensäcke in die Zelte. Ich erinnere mich, wie ich aufwachte und Latte schlafend sah, seinen Kopf auf des alten Rutton Singh Brust. Er schlief vierundzwanzig Stunden. Ich schlief bloß siebzehn Stunden, aber dann befiel mich die Dysenterie.«

»Befiel dich! Quatsch! Du hattest sie schon, ehe wir zu Latte im Fort stießen«, sagte Tertius.

»Na, du brauchst auch nicht zu reden! Du übergabst Macnamara deinen Degen und verlangtest ein Kriegsgericht, so oft du ihn sahst. Das einzige, was dich beruhigte, war, dir jede halbe Stunde Arrest zu diktieren. Du warst drei Tage lang ohne Verstand.«

»Kann mich kein bißchen mehr besinnen«, entgegnete Tertius sanft. »Ich erinnere mich aber, daß meine Ordonnanz mir Milch gab.«

»Wie lief’s mit Latte ab?« fragte M’Turk, heftig an seiner Pfeife ziehend.

»Latte? War wie ein vergnügtes Zebu. Der arme alte Mac war am Ende seines Pionierwitzes und wußte nicht, was er tun sollte. Ihr wißt, ich lag mit Dysenterie nieder, Tertius raste, die Hälfte der Leute hatte Frostbeulen, und Macnamaras Befehle lauteten, das Lager abzubrechen und vor dem Winter wieder im Quartier zu sein. So nahm Latte, dem kein Haar gekrümmt war, die Hälfte seiner Vorräte, um ihm die Mühe zu sparen, sie wieder nach der Ebene zurückzunehmen, und alle Munition, die er kriegen konnte, und wanderte, consilio et auxilio Rutton Singh, wieder nach seinem Fort zurück, mit all seinen Sikhs, seinem kostbaren Gefangenen und einer liederlichen Gesellschaft von Anhängseln, die er und der Gefangene verführt hatten, Dienste zu nehmen. Er hatte sechzig ausgesuchte Leute mit – und seine eherne Unverschämtheit. Mac weinte beinahe vor Freude, als er abzog, versteht ihr, es war kein ausdrücklicher Befehl da, daß Latte wieder im Ouartier sein sollte, bevor die Pässe versperrt waren. Mac ist groß in Ausführung von Befehlen, und Latte ist auch groß darin – wenn sie ihm in seinen Kram passen.«

»Er erzählte mir, er ginge nach dem Engadin«, sagte Tertius. »Saß auf meiner Pritsche, rauchte eine Zigarette und brachte mich zum Lachen, bis ich schrie. Am nächsten Tage packte Macnamara uns alle zusammen und brachte uns nach der Ebene hinunter. Wir waren ein wanderndes Hospital.«

»Latte erzählte mir, daß Macnamara ihm rein vom Himmel gesandt war«, sagte Dick Vier. »Ich pflegte ihn in Macs Zelt zu besuchen, wenn er zuhörte, wie Mac die Fiedel spielte, und zwischen den Stücken Mac Hacken und Schaufeln und Dynamitpatronen abschwatzte. Na, das war das letzte, was wir von Latte sahen. Eine Woche oder etwas später waren die Pässe im Schnee begraben, und ich glaube nicht, daß Latte gerade dann Lust hatte, gefunden zu werden.«

»Er wurde es auch nicht«, sagte der glatte und fette Abanazar. »Er wurde es auch nicht. Ho, ho!«

Dick Vier hob seine dünne, dürre Hand, auf deren Rücken die blauen Adern schimmerten. »Warte eine Minute, Pussy; ich werde dich schon zur richtigen Zeit ‚rankommen lassen. Ich ging hinunter zu meinem Regiment, und im Frühling, fünf Monate später, wurde ich mit ein paar Kompagnien abkommandiert: offiziell, um auf einige unserer Freunde jenseits der Grenze aufzupassen, tatsächlich natürlich, um zu werben. Es war ein bißchen Unglück dabei, denn ein Esel von einem jungen Naick hatte eine frivole Blutfehde, die er von seiner Tante geerbt hatte, in jene Gegend verpflanzt, und der dortige Landadel wollte nicht in mein Korps eintreten. Natürlich hatte der Naick kurzen Urlaub genommen, um die Sache in Ordnung zu bringen; das war ja ganz in Ordnung, aber er schlich nur dem Onkel meiner guten Ordonnanz nach. Es war eine verdammt schandvolle Geschichte, denn ich wußte, Harris von den Ghuznees würde diese Gegend drei Monate später heimsuchen, und dann würde er alle die Burschen wegschnappen, auf die ich mein Auge geworfen. Alle waren wütend auf den Naick, denn sie fühlten, er hätte so anständig sein müssen, seine – seine üblen Liebesgeschichten ruhen zu lassen, bis unsere Kompagnien voll waren.

Aber das Biest hatte doch noch etwas Standesgefühl übrig behalten. In der Nacht schickte er mir jemand vom Stamm seiner Tante und ließ mir sagen, wenn ich unter sicherer Bedeckung kommen wollte, würde er mir einen Schub wunderbarer Kerle zeigen. Ich natürlich gleich über die Grenze, und etwa zehn Meilen auf der andern Seite, bei einem Flußarm, zeigte mir mein Landstreicher auf Amtsreisen etwa siebzig Leute, verschieden bewaffnet, aber stramm wie eine Kompagnie der Königin. Dann trat einer von ihnen vor und holte ein altes Horn hervor, gerade so – wie heißt er doch gleich? – Bancroft, nicht wahr? – Der Mann, der in einer Posse nach seiner Brille sucht – und spielte: »Hurra, Patsy, sorg‘ für’s Baby. Hurra, Patsy, sag‘ –« so weit konnte er nur kommen.«

Dick Vier konnte aber auch nur so weit kommen, denn wir mußten das alte Lied zweimal durchsingen, einmal und dann noch einmal, um es zu wiederholen.

»Er erklärte, wenn ich den Rest des Liedes wüßte, hätte er eine Botschaft an mich von dem Manne, dem das Lied gehörte. Darauf, meine Kinder, blies ich das alte Lied auf demselben Horn zu Ende, und dann bekam ich dies. Ich wußte, ihr würdet’s euch gern anseh’n wollen. Laßt die Finger davon weg.« Wir kämpften alle um einen Blick auf die wohlbekannte unförmliche Handschrift. »Ich werd’s laut vorlesen:

»Fort Everett, 19. Februar.

Lieber Dick oder Tertius: Der Inhaber dieses hat siebenundfünfzig Rekruten mit sich, alles pukka Teufel, aber begierig, ein neues Leben zu beginnen. Sie sind etwas obenhin poliert, und wenn sie tüchtig vorgenommen worden sind, werden sie sich gut machen. Ich möchte, daß du dreißig davon meinem Adjutanten gibst, der, obgleich ein Esel von Gottes Gnaden, in diesem Frühjahr Leute brauchen wird. Den Rest kannst du kriegen. Es wird dich interessieren, daß ich meinen Weg bis zum Ende des Landes der Malôts fertig habe. Alle Häuptlinge und Priester, die bei der Affäre im vergangenen September beteiligt waren, haben jeder einen Monat mitgearbeitet und von ihren eigenen Häusern Material zum Wegbau hergegeben. Everetts Grab ist von einem vierzig Fuß hohen Hügel bedeckt, der als Basis für künftige Triangulationen dienen könnte. Rutton Singh sendet seine besten Salaams. Ich bin dabei, mehrere Verträge abzuschließen, und habe meinem Gefangenen, der ebenfalls seine Salaams sendet – den Rang eines lokalen Khan Bahadur (eine pers. mongol. ehrende Bezeichnung, etwa tapferer Held) verliehen.

A. L. Corkran.«

»So, das war alles«, sagte Dick vier, als das Brüllen, das Schreien, das Gelächter, und, ich glaube, die Tränen nachgelassen hatten. »So schnell ich konnte, geleitete ich die Truppe über die Grenze hinüber. Sie hatten ziemliches Heimweh, aber sie wurden wieder vergnügt, als sie ein paar von meinen Burschen erkannten, die bei dem Khye-Rheen-Spektakel mitgewesen waren, und sie machten sich zu einer ganz tüchtigen Gesellschaft heraus. Es sind noch mehr als dreihundert Meilen von Fort Everett bis zu dem Platz, wo ich sie aufsammelte. Jetzt, Pussy, erzähle ihnen die Geschichte von Latte zu Ende, wie du sie erlebt hast.«

Abanazar stieß ein nervöses, erzwungenes, offizielles Lachen hervor.

»Oh, es war nichts Besonderes. Ich war im Frühjahr in Simla, als unser Latte aus seinem Schnee heraus direkt mit der Regierung zu korrespondieren begann.«

»Wie ein König«, warf Dick Vier ein.

»Jetzt bin ich dran, Dick. Er hatte eine Menge Sachen gemacht, die er nicht machen sollte, und die Regierung natürlich zu allem möglichen verpflichtet. Aber der erschwerende Umstand dabei war, daß alles so verdammt passend war, so wohl überlegt, versteht ihr? Machte alles so richtig, als ob ihm alle möglichen Informationen zugänglich wären – was natürlich nicht der Fall sein konnte.«

»Puh!« meinte Tertius. »Ich verteidige Latte jeden Tag dem Auswärtigen Amt gegenüber.«

»Er hatte so ziemlich alles gemacht, woran er überhaupt denken konnte, bloß daß er nicht Münzen mit seinem Bild und Überschrift prägte, alles unter dem Deckmantel, diesen höllischen Weg zu bauen und durch den Schnee abgesperrt zu sein. Sein Bericht war einfach wunderbar. Von Lennaert raufte sich erst die Haare, und dann keifte er: »Wer, zum Henker, ist dieser unbekannte Warren Hastings (Warren Hastings, Generalgouverneur von Indien, 1732-1818). Er muß totgeschlagen werden. Der Vizekönig wird das niemals gelten lassen. Es ist unerhört. Er muß von Seiner Exzellenz persönlich totgeschlagen werden. Befehlen Sie ihm herzukommen, und setzen Sie einen ordentlichen Rüffel hinzu.« Na, ich schickte ihm einen gehörigen offiziellen Rüffel und setzte ein nichtoffizielles Telegramm zu gleicher Zeit hinzu.«

»Du!« Dieser Ausruf des Erstaunens kam vom Infanten, denn Abanazar ähnelte nichts so sehr als einer flaumig-weichen persischen Katze.

»Ja – ich«, sagte Abanazar. »Es war nichts Besonderes, aber nach dem, was du gesagt hast, Dicky, war es beinah‘ ein Zusammentreffen, denn ich telegraphierte:

Aladdin hat nun sein Weib erstritten,
Euer Kaiser ist versöhnt mit allen;
Leb‘ wieder auf, du hast genug gelitten,
wir hoffen, euch hat’s gut gefallen.

Komisch, wie das alte Lied mir ins Gedächtnis kam. Das war ziemlich wenig verpflichtend und ermutigend. Es war nur schade, daß sein Kaiser ganz und gar nicht versöhnt war. Latte wickelte sich aus seiner Bergfestung heraus und kam mit Muße nach Simla geschlendert, um auf dem Altar geopfert zu werden.«

»Aber,« begann ich, »der Oberstkommandierende ist doch sicher der geeignete –«

»Seine Exzellenz bildete sich ein, wenn er einen einzelnen jungen Offizier anbrüllte – ebenso wie King uns anzuschnauzen pflegte – hielte er die Zügel der Regierung in den Händen, und natürlich, solange er die Einbildung hatte, unterstützte ihn von Lennaert darin. Ich weiß nicht, ob von Lennaert ihm nicht überhaupt die Idee beigebracht hat.«

»Dann haben sich die Leute seit meiner Zeit geändert«, sagte ich.

»Vielleicht. Latte wurde hinaufgeschickt, um wie ein kleiner Junge seine Schelte zu bekommen. Ich glaube sicher, daß Seiner Exzellenz das Haar zu Berge stand. Er donnerte eine Stunde lang auf Latte los. Der stand aufmerksam in der Mitte des Zimmers, und (so behauptete er) von Lennaert im Hintergrund führte eine Pantomime auf, als ob er die Haarbüschel Seiner Exzellenz niederstreichele. Latte wagte nicht aufzusehen, sonst hätte er lachen müssen.«

»Nun, und weshalb wurde Latte nicht verabschiedet?« fragte der Infant mit leuchtendem Gesicht.

»Ah, warum nicht?« meinte Abanazar. »Um ihm die Möglichkeit zu geben, sich in seiner vernichteten Karriere wieder hinaufzuarbeiten, und um seinem Vater nicht das Herz zu brechen. Latte hatte keinen Vater mehr, aber das schadete nichts. Er benahm sich wie ein Waisenknabe, und Seine Exzellenz schonte ihn gnädig. Dann kam er auf mein Bureau und saß mir zehn Minuten gegenüber, die Nüstern blähend, schließlich sagte er: »Pussy, wenn ich glaubte, daß dieser Korbaufhänger – – –«

»Ha! Daran hat er sich erinnert«, rief M’Turk.

»– – daß dieser zwei Annas-Korbaufhänger Indien regierte, ich schwöre, dann würde ich noch morgen ein naturalisierter Moskowiter werden. Ich bin eine femme incomprise. Diese Geschichte hat mir das Herz gebrochen. Ich will sechs Monate Jagdurlaub für Indien nehmen, um es zu verwinden. Meinst du, ich kann ihn bekommen, Pussy?«

»Er bekam ihn in etwa drei und einer halben Minute, und siebzehn Tage später war er in Rutton Singhs Arme zurückgekehrt – höchst in Ungnade, mit dem Befehl, sein Kommando usw. Cathcart Mac Monnie zu übergeben.«

»Paßt auf!« sagte Dick Vier. »Ein Oberst vom politischen Departement mit seinem Kommando von dreißig Sikhs auf einer Bergspitze. Paßt auf, meine Kinder!«

»Natürlich ließ Cathcart, da er, wenn auch Politiker, doch kein Narr war, Latte während der nächsten sechs Monate innerhalb fünfzehn Meilen von Fort Everett jagen, und ich hörte stets, sie beide und Rutton Singh und der Gefangene wären so dicke Freunde wie eine Diebsgesellschaft. Dann, glaube ich, schlenderte Latte wieder zu seinem Regiment zurück. Ich hab‘ ihn seitdem nicht wiedergesehen.«

»Ich aber«, sagte M’Turk, von Stolz geschwellt.

Wir alle wandten uns um wie ein Mann.

»Es war zu Anfang der heißen Jahreszeit. Ich war im Lager im Dschullundhar-Delta und stieß eines Tages in einem Sikhdorf auf Latte. Er saß auf dem einzigen Staatsstuhl und die halbe Bevölkerung kroch um ihn herum. Eine Blumengirlande hing ihm um den Hals, ein Dutzend Sikhbabys hatte er auf den Knien, und ein altes Weib klopfte ihm auf die Schulter. Er erzählte mir, er würbe Rekruten an. Wir aßen am Abend zusammen, aber er hat mir kein einziges Wort von der Geschichte mit dem Fort erzählt. Hat mir aber gesagt, wenn ich irgendwas von den Eingeborenen brauchte, täte ich gut, zu sagen, ich wäre Koran Sahibs Bhai. Das tat ich, und, die Sikhs wollten mein Geld nicht nehmen.«

»Ah, das muß eins von Rutton Singhs Dörfern gewesen sein«, sagte Dick vier. Eine Zeitlang rauchten wir schweigend.

»Hört mal«, sagte M’Turk, alle die Jahre zurückgehend, »hat euch Latte jemals erzählt, wie Karnickelei an jenem Abend dazu kam, nach King mit Steinen zu werfen?«

»Nein«, sagte Dick Vier.

Darauf erzählte M’Turk die Geschichte.

»Ich verstehe«, meinte Dick Vier und nickte. »Er hat den Trick zum zweiten Male angewandt. Es kommt doch niemand Latte gleich.«

»Da seid ihr eben im Irrtum«, sagte ich. »Indien ist voll von Lattes – Burschen von Cheltenham und Haleybury und Marlborough – von denen wir nichts wissen, wenn wirklich ein großer Spektakel losgeht, werden die Ueberraschungen kommen.«

»Wer wird überrascht sein?« fragte Dick Vier.

»Der andere Teil. Die Gentlemen, die erster Klasse zur Front reisen. Denkt euch nur, wenn Latte mit genügend Sikhs und vernünftigen Aussichten auf Leute auf die andere Seite Europas losgelassen würde. Ueberlegt es euch einmal in Ruhe.«

»Da ist was dran, aber du bist doch zu sehr Optimist, Käfer«, meinte der Infant.

»Nun, ich habe auch das Recht, es zu sein. Bin ich nicht für die ganze Geschichte verantwortlich? Ihr braucht nicht zu lachen, wer hat »Aladdin hat nun sein Weib erstritten« geschrieben, he?«

»Was hat das damit zu tun?« fragte Tertius.

»Alles«, antwortete ich.

»Beweise es«, sagte der Infant.

Und das habe ich getan.

Ende!

  1. Kipling, Many Inventions.
  2. Fahrenheit.
  3. Tommy (Atkins) ist der Spitzname der englischen Soldaten.
  4. Deputy-Assistent-Quarter-Master-General.

Die Flagge des Vaterlandes.

Die Flagge des Vaterlandes.

VII.

Es war Winter und die Morgen bitter kalt. Natürlich drösten Latte und Käfer – M’Turk gehörte zu jener Sorte von Leuten, die unter allen Umständen feierlich Toilette machen – bis es allerhöchste Zeit war, herauszuspringen und zum Aufruf in die gaserhellte Turnhalle zu eilen. Die Folge war, daß sie oft zu spät kamen; und da jede Unpünktlichkeit ihnen einen schwarzen Strich eintrug, und drei schwarze Striche in der Woche Strafexerzieren nach sich zogen, so folgte, daß der Sergeant nicht wenige Stunden mit ihnen beschäftigt war. Foxy nahm das Drillen der Zuspätgekommenen mit allem Pomp seines ehemaligen Soldatentums vor.

»Sie brauchen nich‘ zu denken, daß es mir Vergnügen macht« (dies war die ständige Einleitung). »Ich würd‘ viel lieber in Ruhe in meiner Wohnung meine Pfeife rauchen. Aber da haben wir ja heute auch wieder unsere alte Brigade. Wenn ich Sie bloß ständig herbekommen könnt‘, Master Corkran«, sagte er, während er das Glied ausrichtete.

»Beinah‘ sechs Wochen haben Sie mich ja gehabt, Sie alter Vielfraß. Von rechts abzählen!«

»Nicht so übereilig, bitte. Ich hab‘ hier zu kommandieren. Linksum! Langsam – marsch!« Fünfundzwanzig Faullenzer, alles alte Uebeltäter, marschierten in die Turnhalle. »Jeder holt sich leise die Hanteln und geht leise wieder auf seinen Platz zurück! Von rechts abzählen, nicht so laut! Die Ungeraden einen Schritt vor. Die Geraden bleiben stehen. Jetzt, Rumpf beugen vorwärts! Nach mir sich richten!«

Die Hanteln hoben und senkten sich, klirrten gegeneinander und wurden gleichmäßig zurückgezogen. Die Jungen waren mit der schweren Arbeit gut vertraut.

»Sehr gut. Es wird mir leid tun, wenn einer von Ihnen die Gewohnheit annimmt, pünktlich zu werden. Die Hanteln leise zurückgebracht. Wir wollen jetzt ein bißchen einfaches Exerzieren versuchen.«

»Puh! Das einfache Exerzieren kenn ich.«

»’s wär‘ auch noch schöner, wenn Sie’s nich‘ kennen täten, Master Corkran. Alle gleichzeitig – – es ist nicht so leicht, wie’s aussieht.«

»Ich wett‘ ’nen Schilling, Foxy, ich kann ebenso gut drillen wie Sie.«

»Das wollen wir nachher seh’n. Nun denken Sie sich, Sie wären nicht wegen Zuspätkommen bestraft, sondern eine halbe Kompanie auf dem Paradefeld, und ich der kommandierende Offizier. Da ist gar nichts bei zu lachen. Wenn Sie Glück haben, werden die meisten von Ihnen ihr halbes Leben lang drillen müssen. Machen Sie mir ’n bißchen Ehre. Lange genug hab‘ ich Sie vorgehabt, weiß der Himmel!«

Sie reihten sich zu vieren auf, marschierten und machten Schwenkungen und Wendungen, ganz im Bann der Subordination. Foxy hatte recht, wenn er sagte, daß er sie so lange vorgehabt hätte.

Die Tür des Turnsaals öffnete sich und ließ einen alten Herrn ein, gefolgt von M’Turk.

Der Sergeant, der gerade eine Schwenkung ausführen ließ, sah ihn nicht. »Nicht schlecht,« murmelte er, »gar nicht schlecht.«

»Der Flügelmann hat bloß auf der Stelle zu treten, Master Swayne. Na, Master Corkran, Sie sagten, Sie verständen den Drill ebenso gut wie ich. Wollen Sie so freundlich sein und das Kommando übernehmen! Wiederholen Sie meine Kommandos eins nach dem andern und bringen Sie sie wieder in die erste Stellung zurück.«

»Was bedeutet das? Was bedeutet das?« fragte der Besucher in autoritativem Ton.

»Ein – ein wenig Exerzieren, Sir«, stammelte Foxy, ohne etwas von den Ursachen zu erwähnen, die zu diesem Drill Veranlassung gegeben hatten.

»Ausgezeichnet – ausgezeichnet. Ich wünschte nur, es wären mehr dabei«, sagte der Herr aufmunternd. »Lassen Sie sich nicht stören. Sie waren gerade dabei, irgendeinem das Kommando zu übergeben, nicht wahr?« Er setzte sich und blies seinen Atem in die frostige Luft.

»Ich werd‘ ’nen schönen Dreck anrichten, – ganz sicher«, murmelte Latte verzweifelt, und sein Unbehagen wurde nicht gemildert durch die aus dem letzten Gliede flüsternd weitergegebene Mitteilung, daß der alte Herr General Collinson wäre, ein Mitglied des Aufsichtsrates des Instituts.

»Wie – wer?« fragte Foxy.

»Collinson, K. C. B. – Er kommandierte die Pompadours, meines Vaters altes Regiment«, flüsterte Swayne I.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte der Besucher. »Ich weiß, wie’s tut. Ihre erste Uebung – wie?«

»Ja, Sir.« Er schöpfte verzweifelt tief Atem. »Achtung! Richtung!« Der Schall seiner eigenen Stimme stellte sein Vertrauen wieder her.

Er ließ Kehrt machen, auflösen, zu vieren abschwenken und stellte das Glied wieder her, ohne ein einziges Mal unschlüssig zu sein. Die offizielle Strafstunde war längst vorüber, aber niemand dachte daran. Sie unterstützten Latte nach besten Kräften – Latte, der in tödlicher Furcht war, daß seine Stimme überschnappen würde.

»Er macht Ihnen Ehre, Sergeant«, lautete des Besuchers Gutachten. »Tüchtiges Exerzieren – und gutes Material dazu. Es ist aber doch merkwürdig: ich habe mit Ihrem Direktor gefrühstückt, und er hat mir nichts davon gesagt, daß das Institut ein Kadettenkorps hätte.«

»Wir haben keins, Sir. Dies ist nur eine kleine Uebung«, erklärte der Sergeant.

»Sind aber nicht alle sehr dahinter?« fragte M’Turk, der zum erstenmal den Mund auftat, mit einem Zwinkern in seinen tiefliegenden Augen.

»Warum bist du aber nicht dabei, Willy?«

»Oh, ich bin nicht pünktlich genug«, erwiderte M’Turk. »Der Sergeant nimmt nur die besten von uns.«

»Rührt euch! Abtreten!« schrie Foxy, eine Explosion in den Gliedern fürchtend. »Ich – ich hätte Ihnen sagen müssen, Sir – daß – – –«

»Sie sollen aber ein Kadettenkorps haben.« Der General verfolgte seinen eigenen Gedankengang. »Sie sollen ein Kadettenkorps haben, wenn meine Empfehlung im Aufsichtsrat dazu helfen kann. Noch niemals, soviel ich mich entsinne, bin ich so zufrieden gewesen. Diese Knaben, die Sie so anfeuern, sollten der ganzen Schule ein Beispiel sein.«

»Sie sind’s auch«, sagte M’Turk.

»Donnerwetter! Ist es schon so spät? Ich habe meinen Einspänner ja schon eine halbe Stunde warten lassen. Ja, ich muß jetzt fort. Es ist doch immer am besten, sich alles selbst anzusehen. Wo kommt man aus dem Institut heraus? Willst du mir den Weg zeigen, Willy? Wer war der Knabe, der das Kommando führte?«

»Corkran, glaube ich, heißt er.«

»Du solltest ihn doch kennen. Mit der Art Jungen müßtest du verkehren. Wirklich kein gewöhnlicher Schlag. Ein prächtiger Anblick! Fünfundzwanzig Knaben, die doch eigentlich viel lieber Kricket spielen würden« – es war mitten im Winter, aber alten Herrschaften, und besonders Leuten, die lange in den Tropen gelebt haben, passieren solche kleinen Irrtümer, und M’Turk klärte ihn nicht weiter auf – »exerzieren aus reiner Liebe zur Sache. Ein Skandal, daß so viel gutes Material brach liegt, aber ich glaube, ich werde schon was tun können.«

»Und wer ist dein Freund mit dem weißen Backenbart?« fragte Latte, als M’Turk in das Studierzimmer zurückkam.

»General Collinson. Er kommt manchmal zur Jagd zu meinem Vater herüber. Ganz anständiger Kerl. Er sagt, ich sollte recht viel mit dir verkehren, Latte.«

»Hat er was ‚rausgerückt?«

M’Turk wies einen gesegneten ganzen Souvereign vor.

»Ah!« rief Latte und annektierte das Geldstück, denn er war Schatzmeister. »Wir wollen mächtig Fressalien einkaufen. Du bist ganz nett unverschämt gewesen, Turkey, von unserer Pünktlichkeit, und daß wir so dahinter sind, zu quatschen.«

»Wußte der alte Junge nicht, daß wir wegen Zuspätkommens bestraft waren?« fragte Käfer.

»Keine Idee. Er war zum Frühstück zum Direktor gekommen. Ich fand ihn, wie er nachher auf eigene Faust überall ‚rumschnüffelte, und dachte, ich könnte ihm das famose Exerzieren zeigen. Als ich sah, daß er so zufrieden war, wollt‘ ich seinen Eifer nicht dämpfen. Hätt‘ ich was gesagt, hätt‘ er vielleicht gar nicht mit dem Moos herausgerückt.«

»War unser alter Foxy nicht auch zufrieden? Saht ihr, wie er hinter den Ohren rot wurde?« sagte Käfer. »Es war ’ne schlimme Sache für ihn. Haben wir ihm nicht wundervoll beigestanden? Wir wollen jetzt nach Keytes Laden ‚runtergehn und Kakao und Würstchen kaufen.«

Sie überholten Foxy, der eilte, das Abenteuer Keyte zu erzählen; der war seinerzeit Wachtmeister in einem Kavallerieregiment gewesen und nun, ein kriegsmüder Veteran, Postmeister und Krämer im Ort.

»Sie haben uns was zu verdanken«, sagte Latte bedeutungsvoll.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Master Corkran. Ich hab‘ manchmal amtlich recht schlimm mit Ihnen umgehn müssen, hier und da, aber das muß ich sagen, daß ich mir außeramtlich – wenn’s nicht mit Rauchen oder über die Grenzen laufen oder so was ist – keinen zuverlässigeren jungen Herrn wünschen kann, mir aus ’ner Klemme zu helfen. Wie Sie das Kommando führten, das war wunderbar, und das ist nich‘ zu viel gesagt. Wenn Sie von jetzt ab regelmäßig kommen würden – – –«

»Dann müßte er ja aber dreimal in der Woche zu spät kommen«, sagte Käfer. »Sie können doch nicht erwarten, Foxy, daß Ihnen jemand das zu Gefallen tun wird.«

»Ja, das stimmt, wenn Sie es aber doch einrichten könnten, und Sie auch, Master Käfer – es wär‘ doch sehr gut für Sie, wenn das Kadettenkorps gebildet würde. Ich denke, der General wird es empfehlen.«

Sie kramten in Keytes Laden ganz nach Belieben umher, denn der alte Mann, der sie gut kannte, war tief im Gespräch mit Foxy.

»Ich glaube, wir haben für sieben Schilling und sechs Pence genommen«, rief Latte schließlich über den Ladentisch hinüber; »zählen Sie aber lieber noch mal nach.«

»Nein, Ihr Wort gilt mir jeden Tag, Master Corkran. – Bei den Pompadours stand er, Sergeant? – Wir lagen einmal mit ihnen zusammen – bei Umballa, glaub‘ ich.«

»Ich weiß nicht, was diese Fleischbüchse hier kostet: achtzehn Pence oder einen Schilling und vier Pence?« »Einen Schilling und vier Pence, Master Corkran. Natürlich, Sergeant, wenn’s ’nen Zweck hätte, meine Zeit drauf zu verwenden, würd‘ ich’s mit Vergnügen tun; aber ich bin zu alt. Aber ich möcht‘ gern noch mal einen Drill seh’n.«

»Ach, komm doch, Latte«, rief M’Turk. »Er hört ja nicht auf dich. Leg‘ das Geld doch hin.«

»Ich muß es doch gewechselt haben, du Esel. Keyte! Gemeiner Keyte! Korporal Keyte! Wachtmeister Keyte – wollen Sie mir ’nen Souvereign wechseln?«

»Ja, selbstverständlich. Sieben Schilling und sechs Pence.« Er sah abwesend vor sich hin, reichte das Silber hinüber und verschwand in dem dunklen, Raum hinter dem Laden.

»Jetzt quatschen die beiden wieder bis zum Tee über den Aufstand«, meinte Käfer.

»Der olle Keyte war bei Sobraon mit«, sagte Latte. »Ich hab‘ ihn manchmal davon sprechen hören. Er übertrifft Foxy ganz gewaltig.«

*

Des Direktors Antlitz, unergründlich wie immer, war über einen Stoß Briefe gebeugt.

»Was meinen Sie dazu?« fragte er schließlich Ehrwürden Gillett.

»Es ist ein guter Gedanke, das läßt sich nicht abstreiten – ein guter Gedanke –« »Zugegeben. Aber?«

»Ich habe nur meine Bedenken – das ist’s. So gut, wie ich die Jungen kenne – in ihre Launen kann ich mich nicht hineindenken. Aber ich gestehe, es würde mich sehr überraschen, wenn die Sache einschlägt. Es ist nichts für unser Institut. Wir bereiten für die Armee vor.«

»Meine Sache in dieser Angelegenheit ist es, die Wünsche des Aufsichtsrates auszuführen. Sie verlangen ein Kadettenkorps von Freiwilligen – es soll gebildet werden. Ich habe aber vorgeschlagen, daß wir keine Kosten für Uniformen aufwenden müssen, bis der Drill beendet ist. General Collinson wird uns fünfzig tödliche Waffen schicken – kürzer gemachte Snidergewehre nennt er sie – alle sorgsam zugespundet.«

»Na, in einem Institut, wo geladene Salonpistolen in einer Menge in Gebrauch sind, wie bei uns, ist das auch notwendig.« Ehrwürden John lächelte.

»So sind also außer des Sergeanten Zeit keine Aufwendungen nötig.«

»Wenn er keine Erfolge hat, wird man’s Ihnen zur Last legen.«

»Natürlich. Ich werde heute nachmittag im Korridor eine Bekanntmachung anschlagen lassen, und – – –«

»Ich werde das Resultat beobachten.«

»Wollen Sie gefälligst die Hände von dem neuen Gewehrgestell lassen!«

Foxy mühte sich mit einer lärmenden Rotte in der Turnhalle ab. »Selbst einem verdammten Snidergewehr tut’s nicht gut, wenn man immerzu das Schloß schnappen läßt, Master Swayne. – Ja, die Uniformen kommen später, wenn wir erst weiter vorgeschritten sind; jetzt wollen wir uns bloß auf den Drill beschränken. Ich will jetzt die Namen von denen aufschreiben, die sich beteiligen wollen. – Stellen Sie das Gewehr hin, Master Hogan!«

»Was wirst du tun, Käfer?« fragte eine Stimme.

»Ich habe schon so viel Drill gehabt, wie ich brauche, danke schön.«

»Was! Nachdem du schon so viel gelernt hast? Mach‘ mit. Sei kein Spielverderber; in einer Woche bist du zum Korporal befördert«, schrie Latte.

»Ich trete nicht in die Armee ein.« Käfer zeigte auf seine Brille.

»Warten Sie ’nen Augenblick, Foxy«, sagte Hogan. »Wo wollen Sie uns drillen?«

»Hier – in der Turnhalle – bis Sie so weit gebracht sind, daß Sie draußen auf die Straße kommen können!« Der Sergeant warf sich in die Brust.

»Damit all die Kerle von Northam zusehen können? Paßt uns nicht, Foxybus.«

»Na, darüber wollen wir uns nicht aufhalten. Erst werden wir mal exerzieren, und dann wollen wir weiterseh’n.«

»Hallo!« rief Ansell aus Macreas Hause und drängte sich durch das Volk. »Warum wird hier so viel Spektakel um ’n lumpiges Kadettenkorps gemacht?«

»In Sandhurst wird’s Ihnen ’ne Menge Zeit ersparen«, erwiderte der Sergeant. »Sie werden viel früher aus dem Drill entlassen werden, wenn Sie mit ’ner guten Grundlage ankommen.«

»Hm! Ich mache mir auch nichts daraus, zu üben, aber ich will mich nicht vor allen Leuten mit ’nem Kindergewehr zum Affen machen. Perowne, was willst du tun? Hogan macht mit.«

»Weiß nicht, ob ich die Zeit dazu habe«, meinte Perowne. »Hab‘ jetzt furchtbar viel Extrastunden.«

»Na, dann nenn‘ das auch Extrastunde«, schlug Ansell vor. »’s wird auch nicht lange dauern, bis wir den Drill weghaben.«

»Das stimmt schon. Aber vor allen Leuten marschieren – wie ist das damit?« schlug Hogan vor und ahnte nicht, daß er drei Jahre später vor Fort Minhla in der Sonne Birmas fallen würde.

»Fürchtest wohl, die Uniform wird nicht zu deinem zarten Teint passen?« fragte M’Turk mit boshaftem Grinsen.

»Halt’s Maul, Turkey. Du trittst nicht in die Armee ein.«

»Nein, aber ich will auch ’nen Stellvertreter schicken. He! Morrel und Wake! Ihr zwei Füchse da am Gewehrgestell, Ihr sollt Freiwillige sein.«

Tief errötend – sie waren zu schüchtern gewesen, um sich vorher zu melden – kamen die Kleinen auf den Sergeanten zu.

»Aber ich will die kleinen Jungen nicht haben – wenigstens nicht zuerst«, sagte der Sergeant enttäuscht. »Ich möchte lieber ein paar von der alten Brigade – die Zuspätgekommenen – und die ein bißchen vornehmen.«

»Seien Sie nicht undankbar, Sergeant. Sie sind beinah‘ so groß wie die, die man jetzt in der Armee findet.« M’Turk las die Zeitungen und konnte als wohl informiert gelten. Aber er konnte nicht wissen, daß Wake noch vor seinem dreißigsten Jahre Bimbaschi in der ägyptischen Armee sein würde.

Hogan, Swayne, Latte, Perowne und Ansell standen in tiefster Beratung bei dem Sprungpferd, und Latte führte wie gewöhnlich das große Wort. Der Sergeant beobachtete sie voll Unbehagen, denn er wußte, daß viele ihr Vorgehen abwarteten.

»Foxy ist nicht mit meinen Rekruten zufrieden«, sagte M’Turk schmerzvollen Tons zu Käfer. »Besorg‘ du ihm ein paar.«

Durchaus nicht abgeneigt, schleppte Käfer zwei weitere Füchse heran – beide nicht über Karabinergröße.

»Hier, Foxy! Hier ist Kanonenfutter. Streitet für Haus und Herd, ihr jungen Biester – und seid ein bißchen fix damit.«

»Er ist noch immer nicht glücklich«, meinte M’Turk.

»Denn der Brauch in unserm Heere
Ist auch Brauch in unserer Flotte.«

Hier fiel Käfer ein. Sie hatten das Gedicht in einem alten Bande des Punch gefunden, und es schien zu der Situation zu passen:

»Und beides war am Unglück schuld,
Was niemand bestreiten kann.«

»Seien Sie ruhig, junge Herren! Wenn Sie nicht helfen können, dann hindern Sie wenigstens nicht.« Foxys Auge weilte noch immer auf der Ratsversammlung am Sprungpferd. Carter, White und Tyrrell, die drei Jungen von Einfluß, hatten sich schon zum Eintritt bereit erklärt. Die übrigen spielten unentschlossen mit den Gewehren.

»Noch ’nen Augenblick«, rief Latte. »Können wir die Bande da ‚rauswerfen, ehe wir anfangen?«

»Natürlich«, erklärte Foxy. »Jeder, der beitreten will, kann hierbleiben. Die, die nicht die Absicht haben, gehen hinaus und machen leise die Tür hinter sich zu.«

Ein halbes Dutzend von denen, die sich entschlossen hatten, stürzte sich auf die andern, daß diese kaum Zeit hatten, in den Korridor zu entweichen.

»Na, warum machst du nicht mit?« fragte Käfer und brachte seinen Kragen in Ordnung.

»Warum du nicht?«

»Was hat’s für einen Zweck. Wir treten ja nicht in die Armee ein. Und dann – ich kenne die Uebungen, nur die Griffe natürlich nicht. Möcht‘ gern wissen, was sie drinnen machen.«

»Sie verabreden was mit Foxy. Hast du nicht gehört, wie Latte sagte: »So wollen wir’s machen, und wenn er keine Lust hat, kann er’s bleiben lassen.« Foxy soll ihnen alles einpauken. Verstehst du nicht, du Idiot? In knapp einem Jahr gehen sie nach Sandhurst oder treten ins Geschäft ein. Sie werden ihren Drill lernen, und dann werden sie die Sache sofort liegen lassen. Denkst du, Jungen, die soviel Extrastunden haben, werden zum Spaß Freiwillige werden?«

»Na, ich weiß nichts davon. Ich dacht‘, ich könnte ein Gedicht darüber machen – sie ein bißchen vornehmen, verstehst du? – »Die Ballade von den Köterjägern« – nicht?«

»Ich glaub‘ nicht, daß das geht, denn King wird ganz gewaltig schwer über das Korps herfallen. Er ist nicht um Rat gefragt worden. Er schnüffelt jetzt um die Anschlagtafel ‚rum. Wir wollen ihn mal ködern.« Sie wanderten sorglos auf den Hausmeister zu – ein höchst bescheidenes Paar.

»Was heißt das?« sagte King und heuchelte Erstaunen. »Ich dachte, ihr wäret dabei, für euer Vaterland kämpfen zu lernen.«

»Ich glaube, Sir, die Truppe ist schon vollzählig«, sagte M’Turk.

»Es ist sehr schade«, seufzte Käfer.

»Vierzig tapfere Verteidiger haben wir denn also? Wie edel! Welche Aufopferung. Meiner Meinung nach mag es aber möglich sein, daß nur der Wunsch, ihren normalen Pflichten zu entrinnen, die Triebfeder dieses Eifers ist. Zweifellos werden ihnen besondere Privilegien zugebilligt werden, wie dem Gesangchor und dem Naturwissenschaftlichen Verein – man muß nicht »Wanzenjäger« sagen.«

»Oh, das glaube ich, Sir«, sagte M’Turk eifrig. »Der Direktor hat zwar noch nichts davon gesagt, aber er wird’s natürlich tun.«

»Oh, ganz sicher.«

»Es ist auch möglich, mein Käfer«, wandte King sich an den letzten Sprecher, »daß die Hausmeister – ein notwendiger, aber manchmal etwas außer acht gelassener Faktor in unserer bescheidenen Existenz – ein Wort in der Sache mitzureden haben. Das Leben bedeutet – wenigstens für die Jugend – nicht nur Kaffee und Kriegsmunition. Erziehung und Unterricht gehören nebenbei auch zu unsern Zielen.«

»Er ist doch immer dasselbe Schwein«, brummte M’Turk, als sie außer Hörweite waren. »Man weiß immer, wo man ihn anpacken kann. Hast du gemerkt, wie er sich gleich darüber hergemacht hat über den Direktor und besondere Privilegien?«

»Hol‘ ihn der Teufel! Er hätte auch so anständig sein und das Unternehmen unterstützen können. Ich hätte solche nette Ballade dichten können, die es ‚runtermachte, und nun muß ich riesig enthusiastisch sein. Aber das schadet nichts, wir können Latte trotzdem in unserm Zimmer vornehmen, nicht wahr?«

»Natürlich, aber sonst müssen wir ganz gewaltig für das Kadettenkorps sein. Kannst du nicht ’n famoses Epigramm machen, à la Catullus, über King, daß er dagegen ist?« – Käfer war mitten in dieser lobenswerten Beschäftigung, als Latte zurückkehrte, ganz erhitzt von seinem ersten Drill.

»Hallo, mein Mann mit dem Ladestock!« fing M’Turk an. »Wo ist dein toter Hund? – Soll das Verteidigung oder Herausforderung sein?«

»Herausforderung«, rief Latte und stürzte auch schon auf ihn zu. »Paß‘ auf, Turkey, du darfst nicht auf das Korps schimpfen. Wir haben es prächtig zustande gebracht. Foxy hat geschworen, er bringt uns nicht eher ins Freie, bis wir ihm selbst sagen, wir möchten heraus.«

»Unangenehm berührende Zurschaustellung unreifer Kinder, Idiosynkrasie erweckendes Nachäffen – Puh!«

»Nimmst du King vor, Käfer?« fragte Latte während einer Gefechtspause.

»Nicht so sehr, aber das ist sein genialer Stil.«

»Na, nun hört mal auf euren Onkel Latte – denn der ist ein großer Mann. Sintemal und alldieweilen Foxy uns jetzt abwechselnd das Korps drillen läßt – privatim et seriatim – werden wir es bald weghaben, wie man eine halbe Kompagnie kommandieren muß. Ergo und propter hoc, wenn wir erst abgegangen und eingetreten sind, werden wir desto früher mit dem Drill fertig sein, und so, meine geliebten Hörer, verbinden wir jetzt Ausbildung mit nützlichem Vergnügen.«

»Ich wußte ja, du würdest es als ’ne Art Extralektion anseh’n, du kaltblütiges Biest«, sagte M’Turk. »Hast du nicht Lust, für dein teures Vaterland zu sterben?«

»Solang‘ ich es vermeiden kann, nicht. Deshalb müßt ihr nicht über das Korps schimpfen.«

»Das haben wir schon abgemacht vor Jahren«, entgegnete Käfer voll Hohn. »King wird das Schimpfen schon besorgen.«

»Dann mußt du über King schimpfen, mein teurer Poet. Mach‘ ein hübsches leichtes Liedchen und laß‘ die Füchse es dann singen.«

»Und du bleibst bei den Freiwilligen. Stoß‘ nicht an den Tisch –«

»Er wird aber gar keine Anhaltspunkte haben«, sagte Latte mit dunkler Andeutung.

Sie kamen nicht eher dahinter, was er gemeint hatte, als bis sie sich ein paar Tage später entschlossen, das Korps beim Exerzieren zu beobachten. Sie fanden die Tür der Turnhalle verschlossen und einen Fuchs als Wachtposten davor.

»Das ist ’ne nette Unverschämtheit«, meinte M’Turk und bückte sich.

»Du darfst nicht durch das Schlüsselloch seh’n«, erklärte die Schildwache.

»Das kann mir gefallen! Wake, du kleines Biest, ich bin’s gewesen, der dich ins Korps gebracht hat.«

»Kann nichts dagegen tun. Mein Befehl lautet, niemandem zu erlauben zu seh’n.«

»Und gesetzt den Fall, wir tun’s?« fragte M’Turk. »Gesetzt den Fall, wir haben Lust, dich totzuschlagen?«

»Mein Befehl lautet, den Namen von jedem, der mich auf meinem Posten nicht in Ruhe läßt, dem Korps anzugeben, und das wird ihn dann schon vornehmen – nach dem Kriegsgericht.«

»Was Latte doch für ein Biest ist«, meinte Käfer. Sie waren keinen Augenblick im Zweifel darüber, wer das System erdacht hatte.

»Kommst dir wohl wie ein gewaltiger Centurione vor, nicht wahr?« fragte Käfer und horchte auf das Krachen und Stampfen der zu Boden gesetzten Gewehre da drinnen.

»Mein Befehl lautet, nicht zu sprechen, außer meine Befehle zu erklären – sonst bekomme ich Prügel, wenn ich’s tue.«

M’Turk sah Käfer an. Die beiden schüttelten die Köpfe und machten sich von dannen.

»Ich schwöre, Latte ist ein großer Mann«, sagte Käfer nach einer langen Pause. »Ein Trost ist nur, daß diese Geheimnistuerei King schön wild machen wird.«

Die Sache versetzte noch mehr Leute als King in Aufregung, aber die Mitglieder des Korps waren stummer als Austern. Foxy, den kein Gelübde band, trug seine Schmerzen zu Keyte hin.

»Solchen Unsinn hab‘ ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Sie schließen die Halle zu und stellen innen und außen ganz richtig ’nen Posten hin, und dann gehn sie an die Arbeit, ganz scharf dahinter, schärfer wie Mostrich.«

»Aber wozu soll das alles sein?« fragte der Ex-Wachtmeister.

»Um den Drill zu lernen. So was haben Sie noch nie geseh’n. Wenn ich sie entlassen habe, fangen sie erst recht an und üben Griffe; aber ins Freie wollen sie nicht kommen, nicht für alles in der Welt. ’s ist ’ne ganz verrückte Geschichte. Wenn Sie ’n Kadettenkorps sind, hab‘ ich gesagt, dann seien Sie auch ein Kadettenkorps, anstatt sich hinter geschlossenen Türen zu verstecken.«

»Und was sagen die maßgebenden Leute dazu?« »Das ärgert mich auch«, sagte der Sergeant voll Verdruß. »Ich geh‘ zum Direktor, und er steht mir nicht bei. Manchmal denk‘ ich, er macht sich über mich lustig. Ich hab‘ als Sergeant nie Freiwillige zu drillen gehabt – Gott sei Dank – aber mir haben die andern immer leid getan. Ich bin froh darüber.«

»Ich möchte sie gern mal seh’n«, meinte Keyte. »Aus dem, was Sie da sagen, Sergeant, kann ich nicht seh’n, worauf sie aus sind.«

»Fragen Sie mich nich‘, Wachtmeister! Fragen Sie den sommersprossigen jungen Corkran. Er ist der Generalissimus.«

Einem Kämpfer von Sobraon gegenüber kann man so leicht nicht nein sagen, noch dem einzigen Pastetenbäcker innerhalb der Institutsgrenzen etwas abschlagen. So kam also Keyte auf eine Einladung hin, auf einen Stock gestützt, altersschwach und zittrig, setzte sich in eine Ecke und sah zu.

»Sie machen sich gut. Sie machen sich ungewöhnlich gut«, brummte er während der Uebungen.

»Oh, das ist noch lange nicht das, was nachher kommt. Warten Sie nur, bis ich sie entlasse.«

Nach dem Kommando »Wegtreten« lösten die Glieder sich noch nicht auf. Perowne trat vor, stellte sich der Truppe gegenüber in Positur und kommandierte zehn Minuten lang, während er sein Gedächtnis durch kurze Blicke in ein rot gebundenes Buch mit Metallschloß auffrischte. (Das ist derselbe Perowne, der von seinen eigenen Leuten in Aequatorial-Afrika erschossen wurde.)

Ansell folgte ihm, und auf Ansell folgte Hogan. Allen drei wurde blindlings Gehorsam geleistet.

Dann stellte Latte sein Snidergewehr beiseite, holte tief Atem und beglückte die Kompagnie mit einem Schwall von Injurien.

»Halt, Master Corkran! Das gehört zu keinem Drill«, schrie Foxy.

»Schon gut, Sergeant. Sie wissen nie, was Sie zu ihren Leuten zu sagen haben. – Um Himmels willen, versucht doch einmal gerade zu stehen, ohne euch aneinander zu lehnen, ihr triefäugigen, heringsdünnen Straßenlümmel. Es macht mir kein Vergnügen, euch hier zu striegeln. Das hätte besorgt sein müssen, ehe ihr hierher kamt, ihr – ihr Besendiebe.«

»Die alte Geschichte – die alte Geschichte. Wir kennen das«, sagte Keyte und rieb sich die tränenden Augen. »Wo hat er das aber her?«

»Von seinem Vater – oder seinem Onkel. Was weiß ich! Die Hälfte von ihnen muß in Hörweite von Kasernen geboren worden sein. (Foxy hatte nicht so unrecht mit seiner Vermutung.) Seit dieser Freiwilligen-Unsinn angefangen hat, hab‘ ich mehr Geschimpfe gehört als in einem ganzen Jahr im Dienst.«

»Im hintersten Gliede ein Mann sieht aus, als ob er seinen Bauch beim Pfandleiher gelassen hätte. Ja du, Rekrut Ansell –« und Latte geißelte das Opfer drei Minuten lang en gros und en détail.

»Hallo!« Er nahm wieder seinen gewöhnlichen Ton an. »Achtung! Du bist rot geworden, Ansell, Du wackelst!«

»Kann nicht dafür, daß ich rot geworden bin«, war die Antwort. »Glaub‘ auch nicht, daß ich gewackelt habe.«

»Na, jetzt bist du an der Reihe.« Latte nahm seinen Platz im Glied wieder ein.

»O Gott, o Gott! ’s ist die reine Komödie«, kicherte der aufmerksame Keyte.

Ansell war auch mit Verwandten in der Armee gesegnet, und bedächtig, schleppend und schläfrig – sein Stil war reflektierender als der Lattes – leuchtete er in unergründliche Tiefen hinein.

»Achtung!« schrie er triumphierend. »Du kannst es auch nicht aushalten.« Latte war beträchtlich rot geworden und sein Gewehr zitterte sichtlich.

»Hab’s nicht geglaubt«, sagte er und suchte sich gewaltsam zusammenzunehmen. »Aber nach ’ner Weile kam ich ganz und gar aus der Fassung. Doll, nicht wahr?«

»Gut für das Temperament«, meinte der phlegmatische Hogan, als sie die Gewehre wieder an das Gestell lehnten.

»Haben Sie schon jemals so was geseh’n?« wandte sich Foxy hoffnungsvoll an Keyte.

»Ich versteh‘ mich nicht auf Freiwillige, aber dies ist die dollste Sache, die ich jemals sah. Ich kann mir aber schon denken, worauf sie hinauswollen. O Gott, wie oft bin ich zu meiner Zeit ‚runtergemacht und angeschnauzt worden. Sie machen sich gut, wirklich sehr gut.«

»Wenn ich sie nur ins Freie bekommen könnte, dann könnte ich alles mit ihnen vornehmen, Wachtmeister. Vielleicht wird’s anders, wenn die Uniformen kommen.«

Es war in der Tat Zeit, daß das Korps der Neugier des Instituts einige Konzessionen machte. Dreimal war der Wachtposten bereits mißhandelt worden, und dreimal schon hatte das Korps Kriegsgericht über den Uebeltäter abhalten müssen. Die ganze Schule war wütend. Was hatte, fragten sie, ein Kadettenkorps, das für niemand sichtbar war, für einen Zweck? Mister King gratulierte ihnen zu ihren unsichtbaren Verteidigern, und sie konnten seine Stiche nicht parieren. Foxy wurde mürrisch und eigensinnig. Selbst aus dem Korps äußerten einige offen ihre Zweifel an der Richtigkeit ihres Verfahrens, und die Uniformfrage tauchte am nahen Horizont auf.

Aber wie es so oft im Leben geschieht, wurde die Angelegenheit plötzlich von außerhalb in Ordnung gebracht.

Der Direktor hatte dem Aufsichtsrat pflichtgemäß mitgeteilt, daß seinem Wunsche entsprochen worden sei und, soviel er wisse, die Knaben beim Ueben wären.

Von den Bedingungen, unter denen sie den Drill ausführten, erwähnte er nichts. General Tollinson war natürlich entzückt und erzählte seinen Freunden von der Sache. Einer von diesen Freunden hatte das Glück, einen Freund zu haben, der Parlamentsmitglied war – ein eifriger, intelligenter und vor allem patriotischer Mann, ängstlich besorgt, möglichst viel Gutes in der möglichst kürzesten Zeit zustande zu bringen. Aber leider kann niemand für die Freunde seiner Freunde die Verantwortung übernehmen. Wenn Tollinsons Freund ihn bei dem General eingeführt hätte, hätte dieser seine Maßregeln ergriffen und viel Unheil verhütet. Aber der Freund sprach nur von seinem Freunde, und da in der ganzen Welt zwei Leute niemals ganz und gar derselben Meinung sind, war das Gemälde, daß er Tollinson entwarf, nicht ganz genau. Außerdem war der Mann aber auch ein M. P., ein unfehlbarer Konservativer, und der General hatte den scheuen Respekt des englischen Soldaten vor jedem Mitglied des höchsten Appellationshofes. Der Mann ging nach Westen, um in einigen gesegneten Wahlkreisen Licht zu verbreiten. Würde es nicht ein guter Gedanke sein, wenn er, mit des Generals Empfehlung bewaffnet und das treffliche, neu errichtete Kadettenkorps zum Text nehmend, ein paar Worte spräche, nur eine kleine Ansprache an die Jungen hielte – eh? Sie wissen schon, was für sie paßt. – Er würde gerade der richtige Mann dazu sein. – »Solch eine Ansprache, die die Jungen versteh’n, wissen Sie?«

»Zu meiner Zeit hielt man ihnen nicht viele Ansprachen«, meinte der General argwöhnisch.

»Ah, die Zeiten ändern sich – die Erziehung schreitet vor, usw. Die Knaben von heute sind die Männer von morgen. Ein solcher Eindruck in der Jugend wird wahrscheinlich von Dauer sein. Und gerade zu dieser Zeit, wissen Sie, wo das Land vor die Hunde geht!«

»Sie haben vollkommen recht.« Auf dem Inselreich hatte gerade Mr. Gladstone sein Regiment für fünf Jahre angetreten, und was er bisher davon gesehen hatte, gefiel dem General nicht. Er würde ganz bestimmt dem Direktor schreiben, denn es stand völlig außer Zweifel, daß die Knaben von heute die Männer von morgen waren. Das wäre, wenn er so sagen dürfte, wirklich ungemein gut gesagt.

In seiner Antwort teilte der Direktor mit, es würde ihn sehr freuen, Mister Raymond Martin, M. P., von dem er schon so viel gehört hätte, zu begrüßen, für eine Nacht aufzunehmen und ihm zu gestatten, zu den Schülern über irgendein Thema zu sprechen, von dem er glaubte, daß es sie interessieren dürfte. Wenn Mister Martin bisher noch keinem solchen besonderen Auditorium britischer Jugend gegenübergestanden hätte, so zweifelte er, der Direktor, nicht daran, daß er interessante Erfahrungen machen würde.

»Und ich glaube nicht, daß ich in diesem letzten Punkt so sehr unrecht habe«, vertraute er Ehrwürden John an. »Wissen sie vielleicht etwas von einem Raymond Martin?«

»Ich war mit jemand dieses Namens auf der Universität«, erwiderte der Kaplan. »Er war ein wenig ungehobelt, soweit ich mich erinnern kann, aber verzweifelt ernst.«

»Er will am nächsten Sonnabend zu den Schülern über Patriotismus sprechen.«

»Wenn es etwas gibt, was unsere Jungen mehr als alles andere verabscheuen, dann ist es, wenn man ihnen ihre Sonnabend-Abende nicht läßt. Neben der Kocherei und dem Schmausen hat der Patriotismus keine Aussichten.«

»Und ebensowenig die Kunst. Besinnen Sie sich noch auf unseren Shakespeareabend?« Der Direktor zwinkerte mit den Augen. »Oder auf den humoristischen Herrn mit der Laterna magica

*

»Und was, zum Teufel, ist dieser Raymond M.P.?« fragte Käfer, als er im Korridor die Ankündigung der Vortrages las. »Weshalb kommt die Bande immer am Sonnabend angezogen?«

»Ah! Romeo, Romeo, warum denn Romeo?« sprach M’Turk über seine Schulter hinweg, indem er die Künstlerin zitierte, die im vorigen Halbjahr Shakespeare rezitiert hatte. »Na, so schlecht wie du wird er hoffentlich nicht sein. Latte, bist du auch ordentlich patriotisch? Denn wenn du’s nicht bist, wird dieser Kunde dir’s schon beibringen.«

»Hoffentlich wird er nicht den ganzen Abend brauchen. Ich denke, wir müssen schon hingehn und zuhören.«

»Ich möcht‘ nicht um alles in der Welt darauf verzichten,« sagte M’Turk, »’ne Menge Jungen meinten, das Romeo-Romeo-Weib wäre schrecklich langweilig. Mir gefiel sie! Weißt du noch, als sie mitten drin den Schlucken bekam? Vielleicht wird er auch den Schlucken kriegen. Wer zuerst in der Turnhalle ist, belegt Plätze für die beiden andern.«

*

Es lag keine Befangenheit, sondern frische und fröhliche Leutseligkeit auf Mister Raymond Martin, M.P., als er vor des Direktors Haus vorgefahren kam, beobachtet von vielen Augen.

»Sieht ’n bißchen wie ’n gewöhnlicher Kerl aus«, lautete M’Turks Kommentar. »Sollt‘ mich nicht wundern, wenn er ein Radikaler ist. Er stritt sich mit dem Kutscher um’s Fahrgeld. Ich hab’s gehört.«

»Das war sein famoser Patriotismus«, erklärte Käfer.

Nach dem Tee machten sie das Wettrennen um Sitze, sicherten sich ihre besondere und unsichtbare Ecke und begannen zu kritisieren. Alle Gasflammen brannten. Auf dem kleinen Podium ganz am Ende des Raumes stand des Direktors Amtstisch, von dem aus Mister Martin sprechen wollte, und eine Reihe von Stühlen für die Lehrer.

Foxy trat jetzt herein, in offizieller Haltung, und lehnte etwas gegen den Tisch, das wie ein um einen Stab gewickeltes Stück Tuch aussah. Da noch keine Autoritätsperson zugegen war, applaudierten die Schüler und schrien: »Was ist das, Foxy? Weshalb stehlen sie dem Herrn seinen Regenschirm? – Hier gibt es nicht die Rute. Wir schlagen mit dem Stock! Nehmen Sie das Ding weg! – Von rechts abzählen!« und so weiter, bis der Eintritt des Direktors und der Lehrer allen Demonstrationen ein Ende machte.

»Ein Trost ist’s wenigstens, daß das Konferenzzimmer die Sache ebensowenig leiden kann wie wir. Seht bloß, wie King sich windet, um sich zu drücken.«

»Wo bleibt denn Raymundus Martin? Pünktlichkeit, meine geliebten Hörer, ist die – – –«

»Sei ruhig. Hier ist der edle Herzog. Donner, was für ’ne Wamme!« – Mister Martin, der jetzt im Abenddreß auftrat, hatte unleugbar eine solche Kehle – er war ein großer Mann von, gelinde gesagt, weiß und roter Gesichtsfarbe. Noch hatte Käfer keine Veranlassung gehabt, ausfallend zu werden.

»Seht bloß seinen Rücken an, während er mit dem Direktor spricht. Verdammt unhöflich, dem Publikum den Rücken zuzudrehen! Er ist ein Philister, ein Spießer, ein Jebusiter und Hethiter.« M’Turk lehnte sich zurück und schnaubte verachtungsvoll.

Mit ein paar farblosen Worten führte der Direktor den Redner ein und ließ sich dann unter Applaus nieder. Da Mister Martin das Beifallsklatschen auf sich bezog, verstärkte es sich natürlich nur noch mehr. Es dauerte einige Zeit, ehe er beginnen konnte. Er war nicht über das Institut, seine Traditionen und vererbten Anschauungen unterrichtet. Er wußte nicht, daß der letzte Zensus ergeben hatte, daß achtzig Prozent von den Jungen außer Landes geboren waren – im Feldlager, im Kantonnement oder auf hoher See; – noch, daß fünfundsiebzig Prozent Söhne von Offizieren in diesem oder jenem Truppenteil waren – Verwandte von Willoughbys, Paulets, de Castros, Maynes, Randalls – und alle daran dachten, ebenfalls den Beruf ihres Vaters zu ergreifen. Der Direktor hätte ihm dies und noch viel mehr sagen können, aber nach einem eine halbe Stunde langen Diner in seiner Gesellschaft hatte er sich dafür entschieden, überhaupt nichts zu sagen. Mister Raymond Martin schien so sehr viel zu wissen.

Er stürzte sich in seine Rede mit einem langgezogenen, beleidigenden »Na, Jungen«, das, obgleich sie sich dessen nicht bewußt waren, jeden jungen Nero in Erregung brachte. Er nähme an, sie wüßten – he? – weshalb er hergekommen wäre? Es passierte nicht oft, daß er Gelegenheit hätte, zu Knaben zu sprechen. Er glaubte, daß Jungen ganz dieselbe Sorte von Menschenkindern wären – ziemlich verdrehte Menschenkinder, meinten manche Leute – wie sie sie zu seiner Jugendzeit gewesen wären.

»Der Mann«, sagte M’Turk voll Ueberzeugung, »ist das Schwein von Gedara.«

Aber sie müßten daran denken, daß sie nicht immer Knaben bleiben würden. Sie würden zu Männern heranwachsen, denn die Knaben von heute wären die Männer von morgen, und von den Männern von morgen hinge der Glanz und Ruhm ihres glorreichen Vaterlandes ab.

»Wenn das so weiter geht, meine geliebten Hörer, wird es meine schmerzliche Pflicht sein, diesem Kerl da eins auszuwischen.« Latte holte tief Atem durch die Nase.

»Das geht nicht«, meinte M’Turk. »Er nimmt ja für seinen Romeo nichts bezahlt.«

Und deshalb sollten sie an die Pflichten und die Verantwortung des Lebens denken, das vor ihnen lag. Das Leben wäre nicht nur – er zählte ein paar Spiele auf, und damit sein Sturz noch plötzlicher und heftiger würde, fügte er unglücklicherweise noch »Murmeln« hinzu. »Ja, leben,« sagte er, »heißt nicht nur mit Murmeln spielen.«

Ein scharfes Atmen – unter den jüngeren Schülern fast wie ein Schrei – bebenden Abscheues ging durch den kaum. Das war ja ein Heide, ein Ausgestoßener, über alle Grenzen der Duldung hinaus, verdammt durch sich selbst vor allen Leuten! Latte barg den Kopf in den Händen, M’Turk trank mit glänzenden, fröhlichen Augen jedes Wort, und Käfer nickte mit feierlicher Billigung vor sich hin.

Zweifellos erwarteten manche von ihnen, in wenigen Jahren von der Königin durch ein Patent geehrt zu werden und ein Schwert zu tragen. Nun, er hätte auch einige Erfahrung in diesen Pflichten, als Major in einem Freiwilligen-Regiment, und es hätte ihn gefreut, zu erfahren, daß sie in ihrer Mitte ein Freiwilligenkorps gebildet hätten. Eine solche Einrichtung fördere gesunde, tüchtige Gesinnung, und wenn man diese pflege, werde sie einst von großem Nutzen für das Land sein, das sie so liebten, und dem anzugehören sie stolz waren. Manche der Anwesenden erwarteten – er hegte keinen Zweifel daran – manche von ihnen hegten den sehnlichen Wunsch, ihre Leute gegen die Geschosse der Feinde Englands zu führen, das Feld der Ehre in all dem Stolz ihrer jugendlichen Manneskraft zu betreten.

Nun ist die scheue Zurückhaltung eines Knaben zehnmal größer als die eines Mädchens, denn das hat die blinde Mutter Natur nur zu einem Zweck erschaffen, den Mann aber zu mehreren. Mit gewalttätiger Hand riß er diese Schleier herunter und zertrampelte sie unter den Füßen seiner wohlmeinenden Beredsamkeit. Mit heiserer Stimme schrie er eine Menge Gemeinplätze heraus, wie »Hoffnung auf Ehre« und »Ruhmesträume«, über die Knaben nicht einmal mit ihren vertrautesten Freunden sprachen, des frohen Glaubens, daß sie bis zum Augenblick, wo er davon sprach, nie an solche Möglichkeiten gedacht hätten. Er wies sie auf leuchtende Ziele, mit Fingern, die den Glanz von allen Horizonten wegwischten. Er entweihte die geheimsten Plätze ihrer Seelen mit seinem schreien und seinen Gestikulationen. Er bat sie, der Taten ihrer Ahnen zu gedenken, in einer weise, daß sie bis an ihre klingenden Ehren erröteten. Manche von ihnen – die scharfe Stimme schnitt durch eine eisige Stille – hätten wohl Verwandte gehabt, die im Kampf fürs Vaterland gefallen wären. (Nicht wenige van ihnen gedachten eines alten Schwertes, das zu Hause in einem Korridor oder über dem Tisch im Speisezimmer hing, und das sie betrachtet und verstohlen berührt hatten, seit sie gehen konnten.) Er beschwor sie, solchen herrlichen Beispielen nachzueifern, und voll größten Unbehagens sahen sie in alle Ecken.

Sie hatten noch nicht die Jahre, um sich ihre Gedanken klarmachen zu können. Sie fühlten nur voll Grimm, daß sie von einem dicken Mann beleidigt wurden, der Murmeln für ein Spiel ansah.

So arbeitete er weiter bis zum Schluß seiner Rede, die er übrigens später mit überwältigendem Erfolge bei einer Versammlung von Wählern wiederholte, indes sie hier, rot und voll Unbehagen, in saurem Widerwillen dasaßen. Nach vielen, vielen Worten griff er endlich nach dem tuchumwickelten Stock und legte die eine Hand auf die Brust. Dies, dies wäre das konkrete Symbol ihres Landes, dem Ehre und Achtung zu erweisen war. Möchte kein Knabe diese Flagge anschauen, der nicht die Absicht habe, würdig zu ihrem unvergänglichen Glanze beizutragen. Er schwenkte sie vor ihnen, einen großen Kaliko Union-Jack, der in allen drei Farben glänzte, und merkte auf das Beifallsdonnern, das seine Anstrengungen krönen sollte.

Sie schauten schweigend darauf hin. Sie hatten das Ding ja schon früher geseh’n – unten bei der Außenwachtstation, oder durch ein Fernrohr halbmast auf einer Brigg, die bei den Untiefen von Braunton gestrandet war; auf dem Dach des Golfklubhauses und in Keytes Schaufenster, wo eine bestimmte Sorte vielfarbigen Konfekts es auf dem Papier jeder Schachtel trug. Aber das Institut entfaltete es niemals; es war noch nie in ihr Leben getreten, der Direktor hatte nie davon gesprochen, ihre Väter hatten ihnen keine Erklärung davon gegeben. Es war ein ihnen verschlossenes, geheiligtes, entferntes Ding, was, im Namen aller Ungeschliffenheiten, wollte er denn, der da das Schreckensding vor ihren Augen schwenkte? Ein Gedanke! Vielleicht war er betrunken.

Der Direktor rettete die Situation, indem er schnell aufsprang und ein Dankvotum vorschlug. Auf seine erste Bewegung hin applaudierten sämtliche Schüler ganz wild, mit erleichtertem Aufatmen.

»Und ich bin sicher,« schloß er, und das Gaslicht fiel voll auf sein Gesicht, »daß ihr alle euch meinem herzlichsten Dank an Mister Raymond anschließen werdet für die erhebende Ansprache, die er uns gehalten hat.«

Bis zum heutigen Tage ist es noch nicht aufgeklärt worden, wie die Sache eigentlich war. Der Direktor behauptete, daß er nichts dergleichen getan habe, oder daß, wenn es doch der Fall gewesen sei, ihm etwas ins Auge geflogen sein müsse; aber alle damals Anwesenden sind überzeugt, daß er nach dem Wort »erhebend« ganz offen und feierlich gezwinkert habe. Mister Raymond Martin bekam vollauf seinen Beifall. Und er meinte: »Ohne mir etwas einzubilden, kann ich wohl glauben, daß meine paar Worte ihnen zu Herzen gegangen sind. Ich hätte nie gedacht, daß Knaben so Hurra rufen könnten.«

Er ging, als die Glocke zum Gebet läutete, und die Knaben stellten sich längs der Mauer auf. Die Flagge lag noch entrollt auf dem Tisch, und Foxy betrachtete sie voll Stolz, denn Mister Martins Beredsamkeit war ihm ans Herz gegangen. Der Direktor und das Lehrerkollegium drehten dem Podium den Rücken zu und konnten das beleidigend ins Auge fallende Ding nicht sehen, aber ein Aufseher verließ das Glied, rollte die Fahne schnell zusammen und warf sie ebenso schnell in einen Kasten, in dem Fechthandschuhe und Rappiere lagen.

Als ob er ein Federwerk ausgelöst hätte, brach dann unterdrücktes Beifallsmurmeln aus, das sich zu schnell entfesseltem Beifallssturm steigerte.

In den Schlafzimmern besprachen sie die Rede. Alle Stimmen waren sich ganz und gar einig. Mister Raymond Martin war ohne Zweifel in einem Rinnstein geboren und in einer Klippschule erzogen worden, wo mit Murmeln gespielt wurde. Ferner war er (ich gebe nur eine ganz knappe Auswahl aus dem reichen Vorrat) ein flügelschlagender Kerl, ein gemeiner Stänkerer, ein bierbäuchiger Fahnenschwenker (das war Lattes Beitrag) und verschiedenes andere, was man nicht gut wiedergeben kann.

Das freiwillige Kadettenkorps rückte am nächsten Montag ein, mit niedergeschlagenen und mit verschämten Gesichtern. Selbst jetzt hätte sich durch verständiges Schweigen noch die Klippe umschiffen lassen.

Aber Foxy sagte: »Nach einer so schönen Ansprache, wie Sie sie vorgestern abend gehört haben, sollten Sie die Uebungen mit erneutem Eifer aufnehmen. Ich kann nicht einsehen, was Sie davon abhalten sollte, heraus zu kommen und im Freien zu marschieren.«

»Können wir das nicht lassen, Foxy?« Lattes sanfter zarter Ton hätte ihn eigentlich warnen sollen.

»Nein, nicht, wo er uns so großmütig die Flagge geschenkt hat. Ehe er heute morgen abfuhr, hat er mir noch gesagt, er sähe kein Hindernis, warum das Korps sie nicht in Besitz nehmen und gebrauchen sollte. Es ist eine hübsche Flagge.« Latte brachte in tödlichem Stillschweigen sein Gewehr zum Gestell zurück und trat nicht wieder in das Glied zurück. Hogan und Ansell folgten seinem Beispiel.

Perowne zögerte. »Seht mal, sollen wir nicht –« begann er.

»In einem Augenblick werde ich sie aus dem Kasten herausholen«, sagte der Sergeant und drehte sich um. »Dann können wir – – –«

»Kommt!« schrie Latte. »Worauf zum Teufel wartet ihr noch? Auflösen! Abtreten!«

»Wie – was, zum – wo?«

Das Rasseln der Gewehre, die in das Gestell zurückgeworfen wurden, ertränkte seine Stimme, indes ein Junge nach dem andern das Glied verließ.

»Ich – ich weiß nicht, ob ich das nicht dem Direktor melden soll«, stotterte er.

»Melden Sie’s doch, und hol‘ sie der Teufel«, schrie Latte, weiß bis in die Lippen, und rannte hinaus.

*

»Dolle Sache«, sagte Käfer zu M’Turk. »Ich war im Arbeitszimmer und machte gerade ein nettes liebliches Gedicht über den bierbäuchigen Flaggenschwenker, da kam Latte rein, und ich rief »Hallo!« Und er fluchte auf mich wie ’n Schiffsknecht, und dann fing er an, ganz gewaltig zu heulen, legte den Kopf auf den Tisch und brüllte. Wollen wir nicht was tun?«

M’Turk war beunruhigt. »Vielleicht fehlt ihm was?«

Sie fanden ihn, mit hellglänzenden Augen, durch die Zähne pfeifend.

»Hab‘ ich dich nicht schön angeführt, Käfer? Ich wollt’s mal versuchen. War’s nicht ’ne gute Komödie? Hast du nicht geglaubt, ich heulte? Hab‘ ich’s nicht fein gemacht? Oh, du fetter alter Esel!« Und dann fing er an, Käfers Ohren und Backen zu bearbeiten, in einer Weise, die »Milchen« genannt wurde.

»Ich wußte ja, Du heultest«, antwortete Käfer unerschüttert. »Warum bist du nicht beim Drill?«

»Drill! Was für’n Drill?«

»Stell‘ dich man nicht dumm an! Drill in der Turnhalle.«

»Weil’s den gar nicht mehr gibt. Das Freiwilligen-Kadettenkorps ist aufgelöst, verabschiedet, tot, verfault, verdorben, stinkend. Und wenn du mich noch weiter so ansiehst, Käfer, schlag‘ ich dich tot. – O ja, und ich werd‘ beim Direktor wegen Fluchen angezeigt werden.«

  1. Knight Commander of the Bath.
  2. Member of Parlament.