Die Reformatoren

V.

Die Niederlage war nicht abzustreiten. Der Sieg war auf Prouts Seite, aber sie mißgönnten ihn ihm nicht. Hatte er sich über die Spielregeln hinweggesetzt, indem er sich an den Direktor wandte, so hatten sie dafür auch ihren guten Spaß gehabt.

Ehrwürden John nahm die erste Gelegenheit wahr, die Geschichte zu besprechen. Mitglieder einer Junggesellen-Tafelrunde in einer Schule, wo die Zimmer der Lehrer absichtlich zwischen die Arbeitszimmer und -säle verstreut sind, können, wenn sie nur Lust haben, recht viel Einblick in das Leben ihrer Schützlinge gewinnen. »Nummer fünf« hatte voll Vorsicht ein paar Jahre darauf verwandt, Ehrwürden John zu prüfen. Er war entschieden ein Gentleman. Bevor er ein Studierzimmer betrat, klopfte er an die Tür; er benahm sich wie ein Besucher und nicht wie ein verirrter Liktor; er hielt niemals langweilige Reden und machte von den vertraulichen Mitteilungen müßiger Stunden niemals im offiziellen Leben Gebrauch. Prout war stets eine schreckliche Plage, und King kam nie anders, als ein blutiger Racheengel. Selbst der kleine Hartopp, der in Naturgeschichte unterrichtete, vergaß sein Amt selten. Doch Ehrwürden John war ein gern gesehener und beliebter Gast bei »Nummer fünf«.

Er saß da in ihrem einzigen Armstuhl, eine krumme Holzpfeife zwischen den Zähnen, das Kinn mit den drei Falten auf den geistlichen Kragen gesenkt, und blies wie ein liebenswürdiger Walfisch. »Nummer fünf« äußerte sich über das Leben, wie es ihnen erschien, und besonders über das letzte Interview mit dem Direktor – in der Wucherangelegenheit.

»Einmal Prügel die Woche würde euch gewaltig gut tun«, sagte er, mit den Augen zwinkernd und sich schüttelnd; – »ihr war’t, wie ihr sagt, natürlich vollständig im Recht.«

»Freilich, Padre! Wir hätten es beweisen können, wenn er uns nur hätte reden lassen,« behauptete Latte, »aber er tat’s nicht. Der Direktor ist ’n schlauer Vogel.«

»Er kennt euch ganz genau. Ho! Ho! Na, ihr habt auch ordentlich darauf hingearbeitet.«

»Aber er ist schrecklich anständig. Er macht’s nicht so, daß er einen Jungen am Morgen prügelt und ihm am Nachmittag ’ne Predigt hält«, erklärte Käfer.

»Er kann’s nicht, er ist kein Theologe, dank dem Himmel«, sagte M’Turk. »Nummer fünf« war sehr stark gegen geistliche Direktoren eingenommen, und stets bereit, mit ihrem Pastor darüber zu disputieren.

»Beinahe alle anderen Schulen haben Theologen zu Direktoren«, sagte Ehrwürden John sanft.

»Es ist nicht gut für die Jungen,« äußerte Latte, »’s macht sie bockig. Mit Ihnen ist’s natürlich was anderes, Sir. Sie gehören zur Schule – ebenso wie wir. Ich meine gewöhnliche Theologen.«

»Na, ich bin ein ganz gewöhnlicher Theologe; und Mister Hartopp ist doch auch ordiniert.«

»Ja, aber er wurde es erst, nachdem er schon zum Institut gekommen war. Wir sahen ihn zu seinem Examen reisen. So ist es in der Ordnung«, sagte Käfer. »Aber denken Sie mal, wenn jetzt der Direktor reiste und ordiniert würde.«

»Was würde dann passieren, Käfer?«

»Oh, das Institut würde in einem Jahr in Stücken sein, Sir. Gar kein Zweifel dran.«

»Wie kannst du das wissen?« Ehrwürden John lächelte.

»Wir sind jetzt beinahe sechs Jahre hier. Es gibt mächtig wenig Dinge, von denen wir nichts wissen«, entgegnete Latte. »Sie selbst kamen sogar ’n Semester nach mir, Sir. Ich kann mich noch erinnern, wie sie in der Klasse in Ihrer ersten Stunde nach unsern Namen fragten. Mister King, Mister Prout und natürlich der Direktor sind die einzigen Lehrer, die länger hier sind als wir.«

»Ja, ja, wir haben tüchtig gewechselt im Konferenzzimmer.«

»Huh!« machte Käfer mit einem Grunzen. »Sie kamen her, und dann gingen sie weg und verheirateten sich. Aber ganz gut, daß wir sie los sind!«

»Ist unser Käfer nicht fürs Heiraten?«

»Nein, Padre, spaßen Sie nicht über mich. Ich hab‘ in den Ferien Jungen getroffen, die verheiratete Hausmeister haben. Das ist einfach schrecklich! Sie haben Babys und Zahnen und Masern, und alle solche Sachen bringen sie in die Schule; und die Lehrerfrauen geben Teegesellschaften – Teegesellschaften, Padre! – Und laden die Jungen zum Frühstück ein.«

»Das macht nicht so viel aus«, sagte Latte. »Aber die Hausmeister lassen ihre Häuser allein und überlassen alles ganz und gar den Aufsehern. Ja, in einer Schule, hat mir ein Junge erzählt, da waren Decken vor den Türen, und zwischen dem Haus und der Wohnung vom Lehrer war ein Weg von ’ner Meile. Sie konnten tun, was sie wollten.«

»Seht an – Satan schimpft über die Sünde.« »Oh, Streiche muß es schon geben; aber Sie wissen, was ich meine, Padre. Nach einem Weilchen wird’s schlimmer und schlimmer. Dann gibt’s einen großen Krach und einen Skandal, der in die Zeitungen kommt, und ’ne Menge Jungens werden geschaßt, nicht wahr?«

»Immer sind’s die falschen, das müssen Sie nicht vergessen. Nehmen Sie ’ne Tasse Kakao, Padre?« fragte M’Turk, den Kessel in der Hand.

»Danke, ich rauche. Immer die Unrichtigen? Weiter, mein Latte!«

»Und dann« – Latte erwärmte sich an seinem Thema – »sagen alle: »Wer hätte so was gedacht! Schreckliche Jungen! Verdorbene kleine Kreaturen!« – Das kommt alles davon, meine ich, wenn man verheiratete Hausmeister hat.«

»Ein Danielsurteil!«

»Aber es ist so«, fiel M’Turk ein. »Ich bin in den Ferien mit Jungen zusammengekommen, und sie haben mir dasselbe erzählt. Es sieht schrecklich nett aus, wenn man das so sieht – ein hübsches apartes Haus und eine hübsche Frau und all das. Aber es ist nicht so. Es hält die Hausmeister von ihrer Arbeit ab, und die Aufseher bekommen viel zu viel Macht, und – und – es verdirbt einfach alles. Seh’n Sie, es ist ja nicht so, als ob wir ’ne gewöhnliche Schule wären. Wir nehmen ‚rausgeworfene Pressiers ebenso gut auf wie kleine Jungen wie Latte. Wir haben das getan, um uns dadurch bekannt zu machen, und wir bringen sie auf eine oder die andre Weise nach Sandhurst ‚rein, nicht wahr?«

»’s ist wahr, o Turk. Du sprichst wie ein Buch, Turkey.«

»Und deshalb brauchen wir ganz andre Lehrer, nicht wahr, als andre Schulen? Wir sind nicht so wie die übrigen Schulen.«

»Es führt auch dazu, daß die kleinen Jungens auf alle Art von den Großen gezwiebelt werden – hat mir ein Junge erzählt«, sagte Käfer.

»Na, ihr nehmt einem ledigen Manne auch seine meiste Zeit, muß ich sagen.« Ehrwürden John betrachtete seine Gastfreunde kritisch. »Aber habt ihr niemals das Gefühl, daß die Welt – das Konferenzzimmer – sich manchmal zu viel mit euch zu schaffen macht?«

»Nicht gerade – im Sommer wenigstens.« Lattes Auge schweifte zufrieden durch das Fenster. »Unsere Grenzen sind hübsch weit, und wir sind recht viel uns selbst überlassen.«

»Zum Beispiel, ich sitze hier in eurem Arbeitszimmer euch recht im Wege, nicht wahr?«

»Sie sind’s wirklich nicht, Padre. Bleiben Sie sitzen. Gehen Sie nicht, Sir. Sie wissen, wir sind immer froh, wenn Sie kommen.«

Die Aufrichtigkeit dieser Worte war nicht zu bezweifeln. Ehrwürden John wurde ein wenig rot vor Vergnügen und stopfte seine Pfeife noch einmal.

»Und wir wissen gewöhnlich auch, wo die Herren aus dem Konferenzzimmer sind«, erzählte Käfer triumphierend. »Sind Sie nicht vergangene Nacht nach zehn unten durch unsere Schlafzimmer gekommen, Sir?«

»Ich ging mit eurem Hausmeister eine Pfeife rauchen. Nein, ich habe ihm keine Andeutungen gemacht. Ich nahm den kürzesten Weg durch eure Schlafzimmer.«

»Ich roch ’ne Spur von Tabak diesen Morgen. Ihrer ist stärker als Mister Prouts. Ich wußte es«, sagte Käfer und wiegte sein Haupt.

»Himmlische Güte!« sagte Ehrwürden John abwesend. Erst ein paar Jahre später erkannte Käfer, daß dies mehr seiner Einfalt als seiner Beobachtungsgabe galt. Die langen, hellen, vorhanglosen Schlafzimmer wurden zu allen Stunden der Nacht von Lehrern durchschritten, die einander besuchten, denn Junggesellen sitzen später auf als verheiratete Leute. Käfer hatte es sich nie im Traum einfallen lassen, daß dieser ständigen Ueberwachung eine Absicht zugrunde liegen möchte.

»Da wir über Tyrannei sprechen,« begann Ehrwürden John wieder, – »ihr alle habt es wohl hübsch schlimm gehabt, als ihr Füchse war’t, nicht wahr?«

»Na, wir müssen ziemlich scheußliche kleine Biester gewesen sein«, meinte Käfer, voll Ernst den Abgrund überschauend, der zwischen elf und sechzehn Jahren liegt, »Wahrhaftig, was für Rauhbeine waren das damals: Fairburn, »Gobby«, Maunsell und die ganze Gesellschaft.«

»Ich weiß noch, wie »Gobby« uns die drei blinden Mäuse nannte, und wir auf den Schränken sitzen und singen mußten, während er mit Tintenfässern nach uns schmiß«, erzählte Latte. »Das waren noch Rauhbeine, nicht wahr?«

»Aber so was gibt’s jetzt gar nicht mehr«, sagte M’Turk besänftigend.

»Da seid ihr im Irrtum. Man ist immer geneigt, zu behaupten, daß alles in Ordnung ist, solange einem selbst nichts geschieht. Ich möchte manchmal doch wissen, ob es wirklich damit vorbei ist.«

»Die Füchse piesacken sich untereinander schrecklich; aber die oberen Klassen, müßte man meinen, haben zum Examen zu ochsen. Sie haben jetzt an was andres zu denken«, meinte Käfer.

»Nun? was meinen sie?« Latte hatte des Kaplans Miene beobachtet.

»Ich habe meine Zweifel daran.« Dann brach er plötzlich heraus: »Mein Wort darauf, für ein paar einigermaßen intelligente Jungen beobachtet ihr nicht sehr scharf. Ich glaube, ihr hattet zu sehr damit zu tun, eurem Hausmeister die Hölle heiß zu machen, daß ihr die Dinge vor eurer Nase nicht sehen konntet, als ihr vergangene Woche in den Arbeitssälen war’t.«

»Was meinen Sie, Sir? Ich – ich schwöre, wir haben gar nichts gesehen«, sagte Käfer.

»Dann will ich euch ’nen Wink geben, aufzupassen. Wenn ein kleiner Junge in einer Ecke heult und seine Kleider wie Lumpen sind, und er nie etwas arbeitet und notorisch die schmutzigste kleine »Korridorgefahr« ist, – dann muß irgendwo etwas in Unordnung sein.«

»Das ist Clewer«, sagte M’Turk leise.

»Ja, Clewer. Er kommt zu mir in französische Nachhilfestunde. Es ist sein erstes Semester, und er ist fast eben solch ein Wrack, wie du es warst, Käfer. Er ist von Natur ja nicht schlau, aber er ist malträtiert worden, daß er fast ein Idiot geworden ist.«

»Ach nein. Sie stellen sich nur so, damit sie keine Prügel mehr bekommen«, behauptete Käfer. »Das kenne ich.«

»Ich habe freilich niemals gesehen, daß er geprügelt wurde«, sagte Ehrwürden John.

»Die richtige Sorte tut das nicht öffentlich«, erklärte Käfer. »Faibern hat mich nie angerührt, wenn uns einer sah.«

»Du brauchst das nicht auszuquatschen, Käfer«, sagte M’Turk. »Wir haben zu unserer Zeit alle unser Teil gekriegt.«

»Ich hab‘ aber mehr abgekriegt als jeder andere«, klagte Käfer. »Wenn Sie eine Autorität über Piesacken brauchen, Padre, dann kommen Sie zu mir. Korkzieher – Bürsten – Schlüssel – Kopfnüsse – Armdrehen – Katzenköpfe – und alle die andern Sachen.«

»Ja, ich brauche dich als Autorität – oder vielmehr euer aller Autorität, um dem ein Ende zu machen.«

»Wenn Abana und Pharpar da sind, Padre – Harrison, Craye? Das sind Mister Prouts Lieblinge«, erklärte M’Turk ein wenig bitter, »wir sind nicht einmal Unteraufseher.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber andererseits, da die Füchse meistens aus bloßer Gedankenlosigkeit malträtiert werden – – –«

»Ganz und gar nicht, Padre«, sagte M’Turk. »piesacken ist piesacken. Sie tun es ganz aus Absicht. In der Stunde denken sie es sich aus, und in der Pause probieren sie’s dann.«

»Ganz egal, wenn die Sache an den Aufseher kommt, gibt es einen neuen Skandal im Haus. Ihr habt schon einen verursacht. Lacht nicht noch. Hört zu. Ich bitte euch – meine eigne zehnte Legion – die Sache ganz still in die Hand zu nehmen. Ich möchte, daß der kleine Clewer hübsch sauber und anständig gemacht wird – – –«

»Deiwel soll mich holen, wenn ich ihn wasche«, flüsterte Latte.

»Anständig und ’n bißchen Selbstachtung bekommt. Was den andern Jungen betrifft, was es auch sein mag – so könnt ihr euren Einfluß« – ein ganz und gar weltliches Licht flackerte in des Kaplans Augen – »ganz wie es euch beliebt benutzen, um – um ihm vom Ueblen abzuraten. Das ist alles. Ich will’s euch überlassen. Gute Nacht, mes enfants

*

»Na, was sollen wir jetzt tun?« »Nummer fünf« starrte einander an.

»Der kleine Clewer würde seine Augen drum geben, wenn er ’nen Platz hätte, wo er ruhig sitzen könnte. Das weiß ich. Wenn wir ihn als Fuchs in unser Arbeitszimmer nähmen, was?« schlug Käfer vor.

»Nein«, entgegnete M’Turk entschieden. »Er ist ’n dreckiges kleines Biest und würde alles vernichten. Außerdem, wir wollen doch nicht solche verfluchten Geschichten anfangen wie in »Eric«. Hast du Lust, mit ihm ‚rumzuspazieren, den Arm um seinen Hals?«

»Er würd‘ die Kompottöpfe jedenfalls leer machen und die Hafersuppe nehmen – ’s ist ’ne verfluchte Sache.«

»Das ist nicht das richtige«, äußerte Latte und beförderte seine Absätze mit einem Krach auf den Tisch. »Wenn wir den lustigen Spaßmacher ‚rauskriegen, der ihn gezwiebelt hat, und ihn glücklich machen, wird alles in Ordnung sein. Warum haben wir ihn aber eigentlich nicht ‚rausgekriegt, als wir in den Arbeitssälen waren?«

»’s kann ja sein, daß ’n Haufen Füchse Clewer vorgehabt hat. Das machen sie manchmal.«

»Dann müssen wir alle aus den unteren Klassen in unserm Haus verprügeln – aufs Geratewohl. Los!« sagte M’Turk.

»Sei doch man friedlich! Wir müssen keinen Lärm bei der Geschichte machen. Wer’s nun auch gewesen ist, er muß ganz ruhig gewesen sein, sonst hätten wir ihn gesehen«, äußerte Latte. »Wir wollen mal ‚rumgehen und herumschnüffeln, bis wir’s ‚raushaben.«

Sie suchten die Arbeitssäle des Hauses ab und gingen alle jüngeren und älteren Schüler des Hauses durch, gegen die sie Verdacht hatten – durchforschten dann auf Käfers Anregung die Waschräume und Schrankzimmer, aber ohne Erfolg. Jeder schien da zu sein, außer Clewer.

»Doll!« sagte Latte und blieb vor der Tür eines Arbeitszimmers stehen. »Alle Wetter!«

Ein dünnes Winseln, von Schluchzen unterbrochen, drang gedämpft durch die Tür.

»Als schön Kitty eines Morgens wanderte –«

»Lauter, du junger Teufel, oder ich schmeiß dir ein Buch an den Kopf.«

»Eine Kanne voll Milch am Arm – Oh, Campbell, bitte, laß sein! – Auf den Markt zu – – –«

Ein Buch klatschte gegen etwas Weiches, und Quietschen erhob sich.

»Na, ich hätt‘ nicht gedacht, daß es ’n Junge aus ’nem Arbeitszimmer wäre. Das erklärt auch, warum wir nichts von ihm gemerkt haben«, sagte Käfer. »Sefton und Campbell sind ziemlich schwer zu packen. Und man kann auch nicht in ihr Zimmer wie in ’nen Arbeitssaal ‚reingehen.«

»Solch Schwein!« M’Turk horchte. »Was fürn Spaß ist dabei? Ich glaube, Clewer ist ihr Fuchs.«

»Sie sind nicht Aufseher. Das ist ’n guter Spaß«, sagte Latte mit seinem Kriegsgrinsen. »Sefton und Campbell! Um! Campbell und Sefton! Ah! Einer von ihnen ist ’n Pressier.«

Die beiden waren frühreife, bärtige Jünglinge zwischen siebzehn und achtzehn Jahren, die von ihren verzweifelnden Eltern ins Institut geschickt worden waren, in der Hoffnung, daß sechs Monate beständiger Paukerei sie vielleicht für Sandhurst zureiten könnten. Nominell waren sie in Mister Prouts Haus, in Wirklichkeit aber standen sie direkt unter des Direktors Aufsicht, und da dieser Sorge trug, niemals fremden Neulingen einen Aufseherposten zu geben, glaubten sie Grund zum Aerger gegen die ganze Schule zu haben. Sefton war drei Monate auf einer Londoner Presse gewesen, und die Geschichte seiner dortigen Abenteuer verlor nichts beim Erzählen. Campbell, der für sehr gewählte Kleidung war und ein fließendes Mundwerk hatte, folgte seiner Führung und schaute gleichfalls hochmütig auf die übrige Welt herab. Dies war erst ihr zweites Semester, und die Schule, an das, was sie profanerweise »Pressiers« nannte, gewöhnt, war ihnen mit ziemlich unangenehmer Reserve begegnet. Doch ihre Backenbärte – Sefton besaß ein wirkliches Rasiermesser – und ihre Schnurrbärte machten ohne alle Frage Eindruck.

»Sollen wir ‚reingehen und ihnen abraten?« fragte M’Turk. »Ich hab‘ nie mit ihnen zu tun gehabt, aber ich möchte auf meinen Hut wetten, daß Campbell feige ist.«

»Nein. Das ist oratio directa«, sagte Latte und schüttelte den Kopf. »Ich bin mehr für oratio obliqua. Und dann, wo bliebe dann unser moralischer Einfluß? Denk‘ doch daran.«

»Quatsch! Was willst du denn tun?« Käfer ging in den Arbeitssaal »Nummer neun«, der neben dem Studierzimmer lag.

»Ich?« Das Feuer des Krieges bedeckte Lattes Antlitz. »Oh, ich möchte meinen Spaß mit ihnen haben. Seid mal ’ne Weile ruhig!«

Er steckte die Hände in die Taschen und starrte durch das Fenster auf die See, zwischen den Zähnen hindurch pfeifend. Dann klappte ein Fuß auf den Boden, eine Schulter hob sich, und er begann den kurzen, raschen Schleifer – Lattes Kriegstanz beim Nachdenken. Dreimal hatte er den leeren Arbeitssaal durchquert, mit geschlossenen Lippen und gedehnten Nüstern, sich wiegend in schnellem Schritt. Dann hielt er vor dem stummen Käfer und knuffte ihm sanft das Haupt, indes jener sich den Hieben beugte. M’Turk hob ein Knie hoch und schwankte hin und her. Sie konnten Clewer heulen hören, als ob ihm das Herz brechen wollte.

»Käfer ist das Opfer«, sagte Latte schließlich. »Es tut mir leid um dich, Käfer. Besinnst du dich noch auf Galtons »Kunst zu reisen« (in einer Klasse hatte man das unterhaltende Werk studiert) und das Zicklein, das durch sein Blöken den Tiger anlockte?«

»O verflucht!« sagte Käfer voll Unbehagen. Es war nicht sein erstes Auftreten als Opfer. »Kannst du nicht ohne mich fertig werden?«

»Fürchte, ’s geht nicht, lieber Käfer. Du sollst von Turkey und mir gepiesackt werden. Je mehr du heulst, desto besser wird’s natürlich sein. Turkey, geh und klemme irgendwo ’nen Bakel und ’nen Strick. Wir wollen ihn als Köder anbinden – à la Galton. Weißt du noch, wie »Molly« Fairburn uns Hahnenkampf spielen ließ, die Schuhe ausgezogen und die Knie heraufgebunden?«

»Aber das tat verdammt weh.«

»Natürlich tat’s das. Was für’n schlauer Junge du bist, Käfer! Turkey wird dich den ganzen Fußboden entlang schubsen. Wir haben alle ’nen großen Streit gehabt, und ich hab‘ euch hierbei abgefaßt. Borg‘ mir dein Taschentuch.«

Käfer wurde zum Hahnenkampf zurechtgemacht; zwischen die hochgezogenen Knie und die Ellbogen wurde ein Stock gesteckt, und die Knie außerdem noch mit einem Strick zusammengebunden. In dieser Lage rollte er auf einen Stoß Lattes dahin, sich über und über mit Staub bedeckend.

»Fahr ihm ins Haar, Turkey. Jetzt kommst du dran! »Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an.« Ihr beide seid in solcher dollen Wut gegen mich, daß ihr bloß flucht. Denkt dran. Ich werde euch mit ’nem Bakel kitzeln. Du mußt blöken, Käfer.«

»Ganz recht. In ’nem halben Augenblick fang‘ ich an«, sagte Käfer.

»Nun fang‘ an und denk‘ an das Blöken des Zickleins.«

»Hört auf, ihr Biester. Laßt mich aufsteh’n. Ihr habt mir beinah‘ die Knie abgeschnitten. Oh, ihr verfluchten – – – hört auf! Das ist kein Spaß!« Käfers Protest war im Ton ein Kunstwerk.

»Gib’s ihm, Turkey! Gib ihm Fußtritte! Kull’re ihn. Schlag‘ ihn tot! Sei nicht feig, Käfer, du Biest. Gib ihm noch ’nen Fußstoß, Turkey.«

»Er heult nicht wirklich. Dreh dich, Käfer, oder ich schubse dich ins Kamingitter«, brüllte M’Turk. Sie vollführten einen gräßlichen Lärm. Der Köder lockte denn auch ihre Leute an.

»Hallo! Was ist das fürn Spaß?« Sefton und Campbell kamen herein und fanden Käfer, auf der Seite liegend, den Kopf gegen den Kamin, und heftig weinend, während M’Turk ihn mit den Zehen in den Rücken stich.

»’s ist bloß Käfer«, erklärte Latte. »Er tut nur so, als ob er was hat. Ich kann Turkey nicht dazu bringen, ihm mehr zu geben.«

Sefton nahm sofort beide Jungen vor, und sein Antlitz erglühte. »Schon gut, ich werd‘ ihnen helfen. Steht auf und macht Hahnenkampf, ihr beide. Gib mir den Bakel. Ich will sie kitzeln. Das ist ’n Spaß. Los, Campbell, wir wollen sie zwiebeln.«

Da wandte sich M’Turk gegen Latte und warf ihm eine Flut von Schimpfworten an den Kopf.

»Du sagtest doch, wir wollten Hahnenkampf machen, Latte, los!«

»Bist ’n großer Esel gewesen, daß du mir geglaubt hast!« schrie Latte.

»Habt ihr Jungen Streit gehabt?« fragte Campbell.

»Streit?« meinte Latte. »Ho! Ich erziehe sie bloß. Verstehst du was vom Hahnenkampf, Seffy?«

»Ob ich was davon verstehe? Na, bei Maclagan, wo ich in der Stadt auf der Presse war, haben wir immer in seinem Sprechzimmer Hahnenkampf gemacht, und der kleine Maclagan durfte nicht aufmucksen. Aber wir waren dort natürlich auch so gut wie Erwachsene. Ob ich was davon verstehe? Ich will’s euch zeigen.«

»Kann ich aufsteh’n?« winselte Käfer, während Latte auf seiner Schulter saß.

»Jamm’re nicht, du fettes Luder. Du sollst jetzt gegen Seffy kämpfen.«

»Er schlägt mich aber tot!«

»Oh, wir wollen sie in unser Studierzimmer schleppen«, schlug Campbell vor. »Da ist es nett und ruhig. Ich werde mit Turkey Hahnenkampf machen. Das ist zur Ausbildung für den kleinen Clewer.«

»Famos! Wir behalten die Schuhe an, und sie müssen sie ausziehn«, sagte Sefton vergnügt. Die beiden wurden im Studierzimmer auf den Boden hingeworfen. Latte rollte sie hinter einen Armstuhl.

»Jetzt will ich euch beide zurecht machen und dann den Stierkampf dirigieren. Donner, was für Handgelenke du hast, Seffy. Sie sind zu dick für ’n Taschentuch; habt ihr noch irgend ’n Strick?« fragte er.

»Massenhaft – da in der Ecke«, erwiderte Sefton. »Mach‘ fix! Hör‘ auf zu blöken, Käfer, du Biest. Wir werden jetzt ’ne famose Schlacht haben. Die Besiegten müssen die Sieger besiegen – müssen Oden dichten zu Ehren des Ueberwinders. Du nennst dich ja selbst ’nen verdammt großen Dichter, nicht wahr, Käfer? Ich werd‘ dir’s Dichten beibringen.« – Er wälzte sich an Campbells Seite in Position.

Schnell und mit Sachkenntnis wurden die Stöcke durch die natürlichen Haken gesteckt und die Handgelenke mit fest zusammengezogenen Stricken umbunden, unter einem Begleitkonzert von Injurien von seiten M’Turks, der gebunden, verlassen und rollbar hinter dem Stuhl lag.

Latte brachte Campbell und Sefton in die Ecke und eilte dann zu seinem Verbündeten, unterwegs noch schnell die Tür schließend.

»So, nun ist alles in Ordnung«, sprach er dann mit ganz veränderter Stimme.

»Was, zum Teufel – –« begann Sefton. Käfers falsche Tränen flossen nicht mehr; M’Turk stand wieder auf den Füßen und grinste. Dann banden sie ihre Feinde an Knien und Handgelenken noch fester. Latte setzte sich in den Armstuhl und betrachtete mild lächelnd die ganze Szene. Der Mensch, der zum Hahnenkampf zurecht gemacht ist, ist vielleicht das hilfloseste Ding auf der Welt.

»Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an. Oh, ihr riesigen Esel!« – Er lehnte sich zurück und lachte, bis er nicht mehr konnte. Die Opfer begannen die Situation langsam zu begreifen.

»Ihr werdet von uns die schönsten Prügel kriegen, die ihr je in eurem jungen Leben gehabt habt, wenn wir wieder aufkommen!« donnerte Sefton vom Fußboden. »Ihr werdet nachher schon schön heulen. Was, zum Deiwel, soll das heißen?«

»Das werdet ihr in zwei Augenblicken seh’n«, sagte M’Turk. »Flucht nicht so. Was wir wissen wollen, ist, warum ihr beiden riesigen Schweine Clewer gepiesackt habt?«

»Das geht euch nichts an.«

»Warum habt ihr Clewer gepiesackt?« Die Frage wurde von allen dreien abwechselnd mit wahnsinnig machender Wiederholung gestellt. Sie verstanden ihre Sache.

»Weil wir Lust hatten«, lautete schließlich die Antwort. »Laßt uns aufstehen.« Sie wußten noch immer nicht, worauf das alles hinzielte.

»Na, jetzt werden wir euch piesacken, weil wir Lust haben. Wir werden ebenso anständig gegen euch sein, wie ihr’s gegen Clewer war’t. Er konnte nichts gegen euch tun. Ihr könnt nichts gegen uns tun. Toll, nicht wahr?«

»Wir können nichts tun? Wartet’s nur ab!«

»Ah,« sagte Käfer nachdenklich, »man merkt, daß noch nie mit euch jemand ordentlich gespaßt hat. Oeffentlich Prügel gibt’s nicht bei ’nem anständigen Spaß. Ich wette ’nen Bob, ihr werdet weinen und alles mögliche versprechen.«

»Paß auf, kleiner Käfer, wir werden dich halb totschlagen, wenn wir wieder aufkommen. Ich verspreche dir das auf jeden Fall.«

»Jetzt wirst du erst mal halb totgeschlagen werden. Habt ihr Clewer Kopfnüsse gegeben?«

»Habt ihr Clewer Kopfnüsse gegeben?« echote M’Turk. Und bei der zwanzigsten Wiederholung – kein Junge kann die Marter einer unaufhörlich wiederholten Frage aushalten, und das ist eben die Hauptsache beim Malträtieren – erfolgte die Beichte.

»Ja, wir haben – der Teufel soll euch holen!« »Dann wollen wir euch Kopfnüsse geben.« Und sie bekamen sie, ausgeteilt nach alten Erfahrungen. Kopfnüsse sind keine Kleinigkeit, aber Molly Fairburn hätte sie in den alten Tagen nicht besser verabfolgen können.

»Habt ihr Clewer die Bürste gegeben?«

Dieses Mal wurde die Frage früher beantwortet, und fünf Minuten lang nach Lattes Uhr bekamen sie die Bürste. Sie konnten sich nicht einmal krümmen in ihren Banden. Beim Bürstegeben ist übrigens keine Bürste erforderlich.

»Habt ihr Clewer den Schlüssel gegeben?«

»Nein, wir haben’s nicht! Ich schwöre, wir haben’s nicht!« schrie Campbell, in Todeszuckungen sich wälzend.

»Dann wollen wir ihn euch geben, damit ihr sehen könnt, wie’s gewesen wäre, wenn ihr’s getan hättet.«

Die Folter des Schlüssels – wozu übrigens kein Schlüssel gebraucht wird – tut entsetzlich weh. Mehrere Minuten lang mußten sie sie erdulden, und die Aeußerungen, die sie fallen ließen, machten Knebel notwendig.

»Habt ihr Clewer Korkzieher gegeben?«

»Ja. Oh, verdammt sollt ihr sein, blödsinnige Bande! Laßt uns in Ruhe, ihr Gesindel!«

Sie bekamen Korkzieher, und diese Folter – sie hat nichts mit einem Korkzieher zu tun – ist noch schlimmer als die des Schlüssels.

Die methodischen und schweigsamen Angriffe erschöpften die Nerven. Vor jeder neuen Folter kam der erbarmungslose, betäubende Regen von Fragen, und wenn sie nicht zur Sache antworteten, wurden ihnen Taschentücher von Isabellenfarbe in den Mund gesteckt.

»Das wären wohl all die Sachen, die ihr mit Clewer gemacht habt? Nimm die Knebel ‚raus, Turkey, und laß sie antworten.«

»Ja, ich schwör‘, das war alles. Oh, ihr schlagt uns tot, Latte«, schrie Campbell.

»Genau das hat Clewer zu euch gesagt. Ich hab’s gehört. Jetzt wollen wir euch zeigen, was richtiges Piesacken ist. Was ich von dir nicht leiden kann, Sefton, ist, daß du mit deinem meterhohen Kragen und deinen Lackstiefeln hier ins Institut kommst und glaubst, du kamst uns noch was beibringen? Nimm ihm den Knebel ‚raus und laß ihn antworten.«

»Nein«, lautete die grimmige Antwort.

»Er sagt nein. Wir wollen ihn einwiegen. Campbell kann zuseh’n.«

Einen Jungen einzuwiegen, dazu gehören drei Jungen und zwei Boxerhandschuhe. Auch in diesem Fall hat die Operation nichts mit ihrem Namen zu tun. Sefton wurde gewiegt, bis ihm die Augen tief im Kopf saßen und er, krank und betäubt, nach Atem schnaubte und krächzte.

»Heil’ge Tante!« sagte Campbell erschreckt aus seiner Ecke her und wurde ganz bleich.

»Schafft ihn weg«, ordnete Latte an. »Bringt Campbell her. So, dies heißt Piesacken. Oh, ich vergaß! Sage, Campbell, weshalb hast du Clewer gepiesackt? Nehmt ihm den Knebel ‚raus und laßt ihn antworten.«

»Ich – ich weiß es nicht. Oh, laßt mich in Ruhe! Ich schwöre, ich will pax machen. Wiegt mich nicht!«

»Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an. Er sagt, er weiß es nicht. Setz‘ ihn aufrecht, Käfer. Gib mir den Handschuh und steck‘ ihm den Knebel ‚rein.«

In tiefer Stille wurde Campbell vierundzwanzigmal »gewiegt«.

»Ich glaube, ich sterbe«, stöhnte er.

»Er sagt, er stirbt. Bringt ihn weg. Nun, Sefton! Oh, ich vergaß. Sefton, weshalb hast du Clewer gepiesackt?«

Die Antwort läßt sich im Druck nicht wiedergeben, doch Lattes ruhiges Antlitz bedeckte nicht die leiseste Röte.

»Gib ihm Katzenköpfe, Turkey.«

Und sogleich bekam er Katzenköpfe. Die hart erkaufte Erfahrung von nahezu achtzehn Jahren stand zu seiner Verfügung, aber er schien sie nicht zu schätzen.

»Er sagt, wir sind gemein. Bringt ihn weg! Nun, Campbell! Oh, ich vergaß! Na, Campbell, warum hast du Clewer gepiesackt?«

Jetzt kamen die Tränen – heiße Tränen, Flehen um Gnade und kriechende Friedensversprechungen. Sie sollten mit den Foltern aufhören, und Campbell würde niemals die Hand wider sie erheben. Die Fragen begannen von neuem, begleitet von heftigen Ueberredungskünsten.

»Du scheinst kaputt zu sein, Campbell. Bist du kaputt?«

»Ja. Schrecklich.«

»Er sagt, er ist kaputt. Bist du gebändigt?«

»Ja, ja! Ich schwöre, ich bin’s. Oh, hör‘ auf!«

»Er sagt, er ist gebändigt. Bist du gehorsam?«

»Ja!«

»Er sagt, er ist gehorsam. Bist du ganz verteufelt gehorsam?«

»Ja!«

»Er sagt, er ist ganz verteufelt gehorsam. Wirst du Clewer niemals mehr piesacken?«

»Nein. Nei–ein!«

»Er sagt, er wird Clewer nicht mehr piesacken. Oder irgend wen anders?«

»Nein. Ich schwöre, ich werd’s nicht tun.«

»Oder irgend wen anders. Wie ist das mit den Prügeln, die du und Sefton uns geben wolltet?«

»Ich werd‘ nicht! Ich werd‘ nicht! Ich schwöre, ich werd‘ nicht!«

»Er sagt, er wird uns nicht prügeln. Glaubst du, daß du etwas vom Piesacken verstehst?«

»Nein – ich versteh‘ nichts!«

»Er sagt, er versteht nichts vom Piesacken. Haben wir dir nicht ’n bißchen beigebracht?«

»Ja – ja!«

»Er sagt, wir haben ihm ’n bißchen beigebracht. Bist du nicht dankbar?«

»Ja!«

»Er sagt, er ist dankbar. Bringt ihn weg. Oh, ich vergaß! Höre, Campbell, weshalb hast du Clewer gepiesackt?«

Er begann von neuem zu weinen; seine Nerven waren hin. »Weil ich ein Rauhbein war. Ich denke, das ist es, was ihr von mir hören wollt.«

»Er sagt, er ist ein Rauhbein. Stimmt. Legt ihn in die Ecke. Campbell hat genug Spaß. Jetzt Sefton!«

»Ihr Teufel! Ihr jungen Satans!« Dies und noch viel mehr erscholl, als Sefton von geschickten Knien gegen den Kamin befördert wurde.

»Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an. Wir wollen dich jetzt schön machen. Wo verwahrt er sein Rasierzeug? (Campbell gab Auskunft.) Käfer, hol‘ Wasser. Turkey, schlag‘ Schaum. Wir werden dich jetzt rasieren, Seffy. Deshalb wird’s besser sein, wenn du still liegst, sonst wirst du geschnitten werden. Ich hab‘ bis jetzt noch nie jemand rasiert.«

»Laß sein! Oh, laß sein! Bitte, laß sein!«

»Wirst jetzt höflicher, eh? Ich will nur einen netten, kleinen Backenbart abnehmen –«

»Ich will – ich will pax machen, wenn du’s sein läßt. Ich schwöre, ich will euch eure Prügel schenken, wenn ich aufstehen kann.«

»Und auch die Hälfte von dem Schnurrbart, auf den wir so stolz sind. Er sagt, er will uns unsere Prügel schenken. Ist er nicht nett?«

M’Turk lachte in den vernickelten Rasiernapf hinein und brachte Seftons Kopf zwischen Lattes Knie, die sich wie ein Schraubstock zusammenschlossen.

»Wartet ’nen Augenblick,« sagte Käfer, »man kann lange Haare nicht rasieren. Ihr müßt den Schnurrbart erst kurz schneiden und ihn dann abschaben.«

»Na, ich werde nicht erst nach ’ner Schere auf die Jagd gehen. Tut’s nicht auch ’n Streichholz? Reich‘ uns die Streichholzschachtel. Er ist ein Schwein, wißt ihr; deshalb müssen wir ihn sengen. Lieg‘ still!«

Er zündete einen Wachszündfaden an, zog aber plötzlich die Hand zurück. »Ich brauche ja bloß die Hälfte abnehmen.«

»Das ist gut.« Käfer schwenkte den Rasierpinsel. »Ich werd‘ ihn in der Mitte einseifen, ja? Du kannst das andre abbrennen.«

Der dünnhaarige frühe Jünglingsschnurrbart ging in Flammen auf bis zu der Seifenlinie in der Mitte der Lippe, und Latte rieb die verbrannten Stoppeln mit dem Daumen fort. Es war kein sehr sauberes Rasieren, aber es erfüllte seinen Zweck überreichlich.

»Jetzt den Backenbart auf der andern Seite. Dreht ihn um!« Auch dies wurde mit Streichholz und Rasiermesser erledigt. »Gebt ihm seinen Rasierspiegel. Nehmt den Knebel ‚raus! Ich möchte hören, was er sagen wird.«

Aber es kamen keine Worte. Sefton starrte voll Entsetzen und Verzweiflung auf das einseitige Wrack. Zwei dicke Tränen rollten ihm über die Backen.

»Oh, ich vergaß! Du, Sefton, weshalb hast du Clewer gepiesackt?«

»Laß mich in Ruh‘! Oh, ihr verdammten Rauhbeine, laßt mich in Ruh‘! Hab‘ ich denn noch nicht genug bekommen?«

»Er sagt, wir sollen ihn in Ruhe lassen«, sagte M’Turk.

»Er sagt, wir piesacken ihn, und wir haben noch nicht mal angefangen«, sagte Käfer. »Du bist undankbar, Seffy! Donner, du siehst scheußlich abschreckend aus!«

»Er sagt, er hat genug gehabt«, fing Latte an. »Er irrt sich.«

»Wohlan, ans Werk, ans Werk!« sang M’Turk und schwenkte einen Knüppel. »Weiter, mein famoser Narziß, verlieb‘ dich nur nicht in dein eigenes Spiegelbild.«

»Oh, laßt ihn sein,« rief Campbell aus seiner Ecke, »er heult ja.«

Sefton schrie wie ein Zwölfjähriger vor Schmerz, Scham, verletzter Eitelkeit und äußerster Hilflosigkeit.

»Willst du nicht pax machen, Sefton? Du kannst gegen diese jungen Teufel nicht ankommen – –«

»Sei nicht unartig, Campbell, mein Lie–ber,« warnte M’Turk, »sonst kommst du noch einmal ‚ran.«

»Ihr seid Teufel, wißt ihr das?« beharrte Campbell.

»Was? Weil wir euch ein bißchen gezwiebelt haben – ebenso, wie ihr es mit Clewer gemacht habt? wie lange habt ihr schon mit ihm Spaß gemacht?« fragte Latte. »Das ganze Semester?«

»Wir haben ihn aber nicht immer geprügelt!«

»Wenn ihr ihn kriegen konntet, habt ihr’s getan«, erklärte Käfer, der mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden saß und von Zeit zu Zeit einen Knüppel auf Seftons Füße fallen ließ. »Hab‘ ich nicht recht?«

»Ja – vielleicht war’s so.«

»Und ihr habt auch aufgepaßt, ihn zu kriegen? Hab‘ ich nicht recht? Weil er ein schreckliches kleines Biest war, was? Hab‘ ich nicht recht? Na, seht ihr, ihr seid auch schreckliche Biester, und ihr kriegt dasselbe, was er bekam – weil er ein Biest war. Weil wir nun mal Lust haben.«

»Wir haben ihn nie wirklich gepiesackt – so wie ihr uns.«

»Ah!« machte Käfer. »Sie piesacken nie wirklich – »Molly« Fairburn tat’s auch nicht. Hat nur ein klein bißchen geprügelt. So sagen sie dann. Schlagen ihnen bloß die Seele aus dem Leib, daß sie in die Schrankzimmer gehn und heulen. Stecken den Kopf zwischen die Mäntel und heulen sich aus. Schreiben den Tag dreimal nach Haus‘ – ja, du Biest, ich hab’s getan – und bitten, man soll sie wegnehmen. Du bist nie ordentlich gepiesackt worden, Campbell. Tut mir leid, daß du pax gemacht hast.«

»Mir nicht«, meinte Campbell, der etwas Humorist war. »Gib acht, du schlägst Sefton.«

In seiner Erregung hatte Käfer den Knüppel ohne Ueberlegung gebraucht, und Sefton schrie jetzt um Gnade.

»Und du!« rief Käfer und drehte sich auf seinem Platz um, »du bist auch nie gepiesackt worden. Wo warst du, eh‘ du hierher kamst?«

»Ich – ich hatte einen Hauslehrer.«

»Ah! das paßte dir. Du hast nie in deinem Leben geheult. Aber jetzt heulst du, wahrhaftig, heulst du jetzt nicht?«

»Kannst du’s nicht sehen, du blindes Biest?« Sefton fiel seitwärts hinüber. Die Tränen hatten durch den angetrockneten Seifenschaum Furchen gezogen. Krach! sauste ihm der Kricketstab auf die Krümmung der Hinterseite.

»Blind bin ich«, sagte Käfer, »und ein Biest? Laß sein, Latte. Ich will mit unserm Freund ein bißchen spaßen, à la »Molly« Fairburn. Ich glaube, ich kann seh’n. Kann ich seh’n, Sefton?«

»Der Punkt ist gut gewählt,« meinte M’Turk, der den Knüppel bei seiner Arbeit beobachtete, »’s würd‘ besser sein, wenn du sagtest, daß er sieht, Seffy.«

»Ja – du kannst! Ich schwöre, du siehst!« brüllte Sefton, denn kräftige Beweisgründe zwangen ihn dazu.

»Sind meine Augen nicht nett?« Der Knüppel hob und senkte sich stetig während dieser Katechese. »Ja.«

»Ein sanftes Braun – nicht wahr?«

»Ja – – ja!«

»Was für ein Lügner du bist! Sie sind himmelblau. Sind sie nicht himmelblau?«

»Ja – o ja!«

»Du weißt von einer Minute zur andern nicht, was du willst. Du mußt lernen – du mußt lernen.«

»Du kannst wohl nicht genug kriegen?« sagte Latte. »Sei doch man friedlich, Käfer.«

»Das hab‘ ich für mich getan«, erklärte Käfer, »weil er gesagt hat, ich wäre ’n Biest.«

» Pax, o pax!« schrie Sefton, »wir wollen pax machen. Ich bin ganz ruhig. Laß mich sein. Ich bin kaputt. Ich kann’s nicht mehr aushalten.«

»Ugh! Und wir haben eben erst angefangen!« grunzte M’Turk. »Sie hätten Clewer nicht sein lassen, möcht‘ ich schwören.«

»Beichte, entschuldige dich – schnell!« ermunterte Latte.

Vom Fußboden her erklärte Sefton seine bedingungslose Unterwerfung, sogar noch demütiger als Campbell. Er würde nie wieder jemand anrühren. Er würde zeitlebens sich ruhig verhalten.

»Wir können’s annehmen, denke ich«, meinte Latte. »So ist’s recht. Sefton, bist du kaputt? Vortrefflich. Hör‘ auf, Käfer! Aber bevor wir euch aufsteh’n lassen, wollt ihr beide uns noch eine Freude machen mit »Kitty von Coleraine« – à la Clewer.«

»Das ist nicht anständig«, erklärte Campbell; »wir haben uns unterworfen.«

»Natürlich habt ihr’s. Jetzt werdet ihr tun, was wir euch sagen – ebenso, wie’s Clewer machen würde. Wenn ihr euch nicht unterworfen hättet, würdet ihr jetzt erst richtig gepiesackt. Da ihr euch aber unterworfen habt – hörst du, Seffy – singt ihr Oden zu Ehren der Sieger. Fix!«

Sie ließen sich protzig auf Stühlen nieder. Campball und Sefton sahen einander an, fanden aber in dem gegenseitigen Anblick auch keinen Trost und stimmten also »Kitty von Coleraine« an.

»Verdammt schlecht«, erklärte Latte, als der jämmerliche Klagegesang beendet war. »Wenn ihr euch nicht unterworfen hättet, würde es unsere schmerzliche Pflicht sein, euch Bücher an den Kopf zu schmeißen, weil ihr falsch gesungen habt. Na, nun ist’s gut!«

Er befreite sie von ihren Banden, aber ein paar Minuten lang konnten sie sich noch nicht erheben. Campbell war zuerst auf seinen Füßen; er lächelte unbehaglich. Sefton wankte auf den Tisch zu, begrub den Kopf in den Armen und weinte krampfhaft. Keiner von beiden hatte auch nur einen Schatten von Kampflust – nur Schreck, Trübsal und Beschämung beherrschte sie.

»Bitte – kann – kann er sich nicht noch vor dem Tee rasieren?« fragte Campbell. »In zehn Minuten läutet’s.«

Latte schüttelte den Kopf. Er hatte die Absicht, den Halbrasierten zum Teetisch zu eskortieren.

M’Turk gähnte in seinem Stuhl, und Käfer wischte sich das Gesicht. Die Aufregung und Anstrengung hatte sie total erschöpft.

»Wenn ich was davon verstände, würde ich euch wahrhaftig ’ne moralische Vorlesung halten«, sagte Latte ernst.

»Quatsch‘ nicht; sie haben sich unterworfen«, widersprach M’Turk.

»Solch nettes moralisches Zureden treibt einem Jungen solche Sachen aus.«

»Seht ihr nicht, wie anständig wir gewesen sind? Wir hätten Clewer ‚reinrufen können, daß er zuseh’n sollte«, sprach Latte. »Das Blöken des Zickleins lockt den Tiger an. Aber wir haben’s nicht getan. Wir brauchten bloß ’n paar Jungens im Institut von der Geschichte erzählen, und man würde euch schön nachschreien. Ihr würdet nicht das Leben wert sein. Aber wir werden das nicht tun. Wir wirken nur moralisch auf euch ein, Campbell; und wenn du oder Seffy nichts davon ausquatscht, wird keiner von uns was sagen.«

»Du bist wahrhaftig anständig, mein Wort drauf«, meinte Campbell. »Ich glaub‘, ich war ziemlich gemein gegen Clewer.«

»Es sah so aus«, entgegnete Latte. »Aber ich meine, Seffy braucht nicht mit ’nem schielenden Bart in den Speisesaal zu kommen. Wär‘ sehr schlimm, den Füchsen gegenüber, wenn sie das sehen würden. Er darf sich rasieren. Bist du nicht dankbar, Sefton?«

Er hob den Kopf nicht. Sefton war in tiefen Schlaf gesunken.

»Das ist doll«, meinte M’Turk, als ein Schnarchton von einem Schluchzen abgelöst wurde. »Unverschämt, meine ich, oder er tut bloß so.«

»Nein, es stimmt«, erklärte Käfer. »Wenn »Molly« Fairburn mich so ’ne Stunde vorgehabt hatte, verkroch ich mich irgendwo und schlief ’ne Weile auf ’ner Bank. Armer Teufel! Aber er hat mich ’nen verdammt großen Dichter geschimpft.«

»Na, kommt.« Latte sprach leiser. »Adieu, Campbell. Denk‘ dran, wenn ihr nichts sagt, sagt auch keiner von uns was.«

Eigentlich wäre nun ein Kriegstanz am Platze gewesen, aber die drei waren so sehr müde, daß sie schon beinahe über den Teetassen in ihrem Studierzimmer einnickten. Sie schliefen dann auch bis zur Arbeitsstunde.

*

»Ein höchst merkwürdiger Brief. Sind denn alle Eltern unheilbar verrückt? Was sagen sie dazu?« fragte der Direktor und reichte Ehrwürden John acht engbeschriebene Seiten.

»Der einzige Sohn seiner Mutter, und die war eine Witwe. Die Art nimmt am allerwenigsten Vernunft an.« Der Kaplan las mit zusammengekniffenen Lippen.

»Wenn die Hälfte jener Beschwerden wahr wäre, müßte er im Krankenhause sein. Aber er befindet sich schrecklich wohl. Rasiert ist er allerdings, das hab‘ ich bemerkt.«

»Dazu gezwungen, wie seine Mutter erklärt. Wie köstlich! Wie heilsam!«

» Sie brauchen ihr nicht zu antworten. Es kommt nicht oft vor, daß ich nicht weiß, was in der Schule passiert ist; dies aber ist mir entgangen.«

»Wenn Sie mich fragten, würde ich Ihnen raten, in diesem Fall nicht besänftigend zu antworten. Wenn man gezwungen ist, Pressiers aufzunehmen – – –«

»Heute morgen war er bei mir in der Privatstunde vollkommen gesund«, sagte der Direktor nachdenklich. »Ganz ungewöhnlich wohl schien ihm zu sein.«

»– – dann erziehen sie die Schule, oder – wie in diesem Falle – die Schule erzieht sie. Ich ziehe unsere eigene Methode vor«, schloß der Kaplan.

»Sie glauben, das war es?« Der Direktor zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Ich bin dessen sicher. Aber nichts entschuldigt sie, daß sie das Institut schlecht zu machen versuchen.«

»Das ist ein Punkt, wegen dessen ich sie mir noch vornehmen will«, antwortete der Direktor.

Die Auguren blinzelten sich zu.

*

Ein paar Tage später suchte Ehrwürden John »Nummer fünf« auf. »Warum haben wir Sie nicht früher geseh’n, Padre?« fragten sie.

»Ich habe den Lauf der Zeiten und Ereignisse beobachtet und Menschen – und Jungen«, entgegnete er. »Ich bin mit meiner zehnten Legion zufrieden. Ich mache ihr mein Kompliment. Clewer warf heute morgen in der Klasse mit Papierkugeln, statt seine Arbeit zu tun. Er schreibt jetzt seine fünfzig Zeilen ab, wegen – unerhörter Frechheit.«

»Sie können uns nicht tadeln, Sir«, sagte Käfer. »Sie haben uns gesagt, wir sollten – die – die Bedrückung verhindern. Das ist das schlimmste für ’nen Fuchs.«

»Ich kenne Jungens, die fünf Jahre älter sind als er und mit Papierkugeln werfen, Käfer. Solch einem hab ich vor nicht langer Zeit zweihundert Zeilen aufgegeben. Und jetzt fällt mir ein, ob die Arbeit jemals aufgezeigt worden ist.«

»Ist sie aufgezeigt, Turkey?« fragte Käfer, ohne zu erröten.

»Meinen Sie nicht, Padre, daß Clewer ’n bißchen sauberer geworden ist?« fiel Latte ein.

»Wir sind ganz gewaltige moralische Reformatoren«, sagte M’Turk.

»Latte machte alles, aber es war ’n Spaß«, erzählte Käfer.

»Ich habe die moralische Reformation nach verschiedenen Richtungen hin bemerkt. Habe ich euch nicht gesagt, ihr hättet mehr Einfluß als alle andern Jungen im Institut, wenn ihr ihn nur anwenden wolltet?«

»Der Spaß nimmt einen aber ordentlich mit – unsere Art von moralischer Ueberredung oft anzuwenden. Außerdem, sehen Sie, macht es Clewer bloß unverschämt.«

»Ich dachte nicht an Clewer; ich dachte an – an die andern, Latte.«

»Oh, wir haben uns nicht viel um die andern gekümmert«, sagte M’Turk. »Nicht wahr?«

»Aber ich – von Anfang an.«

»Dann haben Sie gewußt, Sir.«

Eine große, zu Boden geblasene Tabakswolke.

»Jungen erziehen einander gegenseitig mehr, als unsereins kann oder darf. Wenn ich die Hälfte jener moralischen Ueberredung angewandt hatte, die ihr nun gebraucht oder nicht gebraucht habt –«

»Mit den besten Absichten von der Welt, vergessen sie unsere frommen Absichten nicht, padre«, sagte M’Turk.

»Ich glaube, dann würde ich jetzt in Bideford im Gefängnis schmachten, nicht wahr? Na, um mit dem Direktor zu sprechen, in einer kleinen Angelegenheit, die wir zu vergessen übereingekommen sind, und die mich immer als himmelschreiende Ungerechtigkeit berührt. – worüber lacht ihr denn, ihr jungen Sünder? Ist es nicht wahr? Ich bin nicht hierher gekommen, um mich auslachen zu lassen. Ich kam nur in diese Sündenhöhle, um zu sehen, ob einer von euch vielleicht Lust hätte, nach den Klippen baden zu kommen. Aber ich sehe, ihr wollt nicht.«

»Wir wollen nicht?! Einen halben Augenblick, Padre Sahib; wir wollen nur unsere Handtücher holen, und dann nous sommes avec vous!“

  1. Vulgär für Schilling.