Sechstes Buch

Nach dem Sieg der härteste Kampf

I.

Lantenac gefangen

Der Marquis war wirklich in die Gruft zurückgekehrt. Man führte ihn ab. Sofort wurde, unter Cimourdain’s strenger Aufsicht das ebenerdige in den Stein gehauene Verließ von La Tourgue geöffnet, eine Lampe, ein Krug Wasser, ein Kommislaib und ein Strohbündel hineingeschafft, und bevor noch eine Viertelstunde verflossen war, seitdem die Hand des Priesters den Marquis berührt hatte, schloß sich bereits hinter Lantenac die Thür seines Kerkers. Gleich darauf – es schlug in der Ferne auf dem Kirchthurm von Parigné gerade elf – begab sich Cimourdain zu Gauvain und sagte zu ihm: Ich werde ein Kriegsgericht einsetzen, ohne jedoch Dich beizuziehen. Du bist ein Gauvain und Lantenac ist ein Gauvain. Ihr seid zu nahe verwandt, als daß Du sein Richter sein könntest, und ich tadele es, daß Egalité über Capet mit abgeurtheilt hat. Das Kriegsgericht wird aus drei Richtern bestehen, einem Offizier, dem Hauptmann Guéchamp, einem Unteroffizier, dem Sergeanten Radoub, und mir, dem Präsidenten. Mit Allem, was von jetzt ab geschehen soll, hast Du Dich nicht zu befassen. Wir halten uns an den Beschluß des Konvents und werden ganz einfach die Identität des vormaligen Marquis von Lantenac feststellen. Morgen die Gerichtssitzung, übermorgen die Guillotine. Die Vendée ist todt.

Gauvain machte nicht die geringste Einwendung, und Cimourdain, von dieser seiner endgültigen Aufgabe völlig in Anspruch genommen, verließ ihn, denn es blieben noch Stunden zu bestimmen und Lokalitäten zu wählen. Wie Lequinio zu Granville, Tallien zu Bordeaux, Châlier zu Lyon, Saint-Just zu Straßburg, pflegte er bei den Hinrichtungen zugegen zu sein; diese Gewohnheit des Richters, dem Henker zuzuschauen, galt für ein gutes Beispiel und war von den dreiundneunziger Schreckensmännern den französischen Parlamenten und der spanischen Inquisition entlehnt worden.

Nicht minder in Anspruch genommen war auch Gauvain.

Vom Wald her blies ein rauher Wind. Gauvain überließ es Guéchamp, die nöthigen Befehle zu ertheilen, ging in sein Zelt am Waldsaum, auf dem Rasenplatz vor La Tourgue, und hüllte sich in seinen Mantel. Dieser Mantel war mit einer Kapuze versehen und mit jener einfachen Borte besetzt, in der die prunklos republikanische Auszeichnung der Korpskommandanten bestand. Dann wandelte er auf der blutigen Wiese, wo der Sturm auf La Tourgue begonnen hatte, auf und nieder. Er war ganz ungestört. Das Feuer, dem nunmehr keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, brannte weiter. Radoub war bei den Kindern und der Mutter, fast ebenso mütterlich wie diese. Das Brückenschlößchen war beinahe vernichtet; die Sappeurs isolirten nur noch den Gluthherd. Man warf Gruben auf für die Todten, verband die Verwundeten, riß die Barrikade nieder, entfernte die Leichen aus den Gemächern und von den Treppen, reinigte den Schauplatz des Gemetzels und schaffte den fürchterlichen Kehricht des Sieges bei Seite. Die Soldaten besorgten mit militärischer Hurtigkeit, was man das Hauswesen einer beendigten Schlacht nennen könnte. Aber von dem Allen sah Gauvain nichts. Kaum daß er, aus seiner Träumerei heraus, einen Blick auf den Wachtposten vor der Bresche warf, der auf Cimourdains Befehl verdoppelt worden war. Der Wiesenfleck, wo er gewissermaßen eine Zuflucht gesucht hatte, lag etwa hundert Schritt von der Bresche, deren schwarzen Schlund er in der Dunkelheit unterscheiden konnte. Dort hatte vor drei Stunden der Angriff begonnen; dort war Gauvain in den Thurm eingedrungen; dort befand sich der Saal, wo die Barrikade gestanden; jener Saal führte in den Kerker des Marquis, welcher durch den Wachtposten der Bresche bewacht wurde, und jedes Mal, wenn Gauvains Blick diese Bresche streifte, tönte ihm wie Grabgeläute ein verworrener Nachhall der Worte ins Ohr: »Morgen die Gerichtssitzung, übermorgen die Guillotine.«

Die Feuersbrunst, wiewohl begrenzt und durch die Sappeurs mit allem verfügbaren Wasser begossen, erlosch nicht ohne Widerstand und wirbelte stellenweise noch Flammen auf; hin und wieder hörte man das Gekrach des Gebälks und der aufeinander einstürzenden Stockwerke, und dann sprühte das Schlößchen, wie eine geschwungene Fackel, ganze Wirbel von Funken; der äußerste Horizont erglänzte wie bei einem Blitzstrahl und La Tourgue warf plötzlich einen riesenhaften Schlagschatten bis zum Waldsaum hinüber.

Gauvain, der langsamen Schritts in der Dunkelheit vor der Bresche auf und abging, kreuzte zuweilen beide Hände hinter der Kapuze seines Soldatenmantels, die er über den Kopf geschlagen hatte, und sann.

II.

Gauvain in Gedanken

Es war ein unergründlich tiefes Hinbrüten; hatte doch eine unerhörte Verwandlung soeben stattgefunden. Der Marquis von Lantenac hatte sich verklärt, und diese Verklärung hatte Gauvain mit angesehen. Nie hätte er geglaubt, daß irgend welche Verwickelung von Umständen dergleichen Dinge mit sich bringen könne, und nie, selbst im Schlaf nicht, geahnt, daß so etwas möglich sei. Das Unerwartete, dieses unbestimmte, mit den Menschen spielende herrische Walten, hatte ihn erfaßt und hielt ihn fest. Unter seinen Augen war das Unmögliche, Sichtbare, Greifbare, Unvermeidliche, Unerbittliche Wirklichkeit geworden. Wie stellte sich nun er, Gauvain, zu dieser Thatsache? Nicht Ausflüchte zu suchen galt es hier; es galt, einen Schluß zu ziehen. Es war eine Frage an ihn gerichtet worden, welcher er nicht ausweichen durfte, und wer richtete diese Frage an ihn? Die Ereignisse, und die Ereignisse nicht allein, denn wenn die wandelbaren Ereignisse anfragen, steht die unwandelbare Gerechtigkeit dahinter und fordert Antwort. Hinter der Wolke, die ihren Schatten auf uns wirft, leuchtet der Stern, und wir können, uns dem Licht ebenso wenig entziehen wie dem Schatten.

Gauvain bestand ein Verhör. Er erschien vor einem Richter, einem furchtbar strengen Richter: seinem eigenen Gewissen. Er empfand ein innerliches Taumeln; seine festesten Vorsätze, seine bestimmtesten Versprechungen, seine unwiderruflichsten Entschlüsse, das Alles kam in den Grundfesten seiner Willenskraft in ein Wanken. Wie Erdbeben, so giebt es auch Seelenbeben. Je mehr er dem Gesehenen nachgrübelte, desto tiefer wühlte sich die Umwälzung. Ihm, der als Republikaner das Wahre erfaßt zu haben glaubte und auch erfaßt hatte, erschien nun urplötzlich eine höhere Wahrheit, über der politischen Idee die rein menschliche. Was in ihm vorging, ließ sich nicht bemänteln; der Thatbestand fiel schwer ins Gewicht; Gauvain, der in diesen Thatbestand mit verflochten war, konnte sich nicht zurückziehen, und trotz Cimourdains Versicherung: »Mit Allem, was von jetzt ab geschehen soll, hast Du Dich nicht zu befassen«, fühlte er in seinem Innern etwas Aehnliches wie ein Baum, der von seiner Wurzel losgerissen wird. Jeder Mensch hat eine Grundlage, und jede Erschütterung dieser Grundlage versetzt den Menschen in namenlose Verwirrung; diese Verwirrung war über Gauvain gekommen, und er drückte beide Hände gegen seine Stirn, als wolle er das Richtige daraus hervorpressen.

Eine solche Situation klar zusammenzufassen war kein Leichtes; es gab sogar nichts Schwereres; großmächtige Zahlen ragten vor ihm auf, aus denen er eine Summe ziehen sollte; ein ganzes Schicksal zusammen addiren, wem schwindelt davor nicht? Er machte den Versuch; er rang nach Aufklärung; er mühte sich ab, seine Gedanken zu sammeln, das oder jenes heimliche Widerstreben zu überwältigen, die Thatsachen der Reihe nach zu prüfen und sie sich selber zu erläutern.

Wer hat sich nicht schon einen Selbstbericht erstattet und ist nicht, an Wendepunkten seines Lebens, mit sich zu Rath gegangen, um sich einen Weg. für den Vorstoß oder für den Rückzug vorzuzeichnen?

Gauvain hatte etwas Unerklärliches geschaut. Gleichzeitig mit dem irdischen Kampf war ein himmlischer ausgefochten worden, der Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen; in diesem Kampf war ein steinern Herz überwunden worden, und wenn man alle Verdüsterungen dieses Herzens in Betracht zieht, die Gewaltthätigkeit, die Selbsttäuschung, die Blindheit, die krankhafte Verstocktheit, den Hochmuth, die Eigenliebe, so war hier wirklich ein Wunder geschehen: der Sieg der Menschheit über den Menschen. Das Menschliche hatte über das Unmenschliche triumphirt. Und wie hatte es einen Riesen an Zorn und Haß niedergeworfen? Durch welche Mittel? Mit welchen Waffen, welcher Kriegsmaschine? Durch eine bloße Kinderwiege.

Gauvain war wie durch ein Meteor geblendet. Mitten im sozialen Kampf, im Auflodern aller Feindseligkeiten und Rachegelüste, im dunkelsten, wildesten Moment des Aufeinanderprallens, in der Stunde, wo das Verbrechen in seinen hellsten Flammen und der Haß in seiner vollsten Finsterniß aufging, in diesem Augenblick der Schlacht, wo Alles zur Waffe wird und wo das Handgemenge so verhängnißwuchtig tobt, daß man nicht mehr weiß, auf welcher Seite die Gerechtigkeit, die Ehrlichkeit, die Wahrheit zu suchen sind, hatte das unbekannte Etwas, der geheimnißvolle Seelenmahner, über dem menschlichen Licht- und Schattenwiderstreit, urplötzlich den großen ewigen Strahlenborn leuchten lassen. Ueber dem düstern Zweikampf des Falschen und des nur bedingt Richtigen war mit einem Mal, in tiefster Ferne, das Antlitz der Wahrheit erschienen und die Macht der Schwachen zum Durchbruch gekommen. Man hatte drei armselige, kaum geborene, kaum ihrer selbst bewußte, verlassene, verwaiste, vereinsamte, stammelnde, lächelnde Wesen den Sieg davontragen sehen über den Bürgerkrieg, über die systematische Wiedervergeltung, über die gräßliche Logik der Gegenwehr, über den gewaltsamen Tod, das Gemetzel, den Brudermord, die Raserei, den verbissenen Groll, kurz über alle Gorgonen; man hatte eine verruchte, zu einem Verbrechen gedungene Feuersbrunst mißlingen und fehlschlagen gesehen, gesehen, wie ein unmenschlicher Vorbedacht entwaffnet und vereitelt wurde, gesehen, wie die überlieferte Grausamkeit des Mittelalters, die alte unerbittliche Menschenverachtung, die erfahrungsmäßigen angeblichen Nothbehelfe der Kriegführung mitsammt der Staatsräson und den eingefleischten, angemaßten Vorurtheilen eines grausamen Greisenthums in nichts zerstoben waren vor dem blauen Blick Solcher, die noch nicht gelebt hatten: eigentlich ein natürlicher Vorgang, denn wer noch nicht gelebt hat, hat auch noch nicht gesündigt; er ist die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die weiße Reinheit, und in den kleinen Kindern verkörpern sich die Engel des Himmels.

Ein nutzbringend Schauspiel, ein guter Rath, eine Lehre war’s für die maßlosen Kämpfer eines unbarmherzigen Kampfes, plötzlich zu sehen, wie sich im Angesicht all der Unthaten, all der Frevel, all der Parteiwuth, der Blutgier, der scheiterhaufenanfachenden Rache, des fackelschwingenden Todes die Allmacht der Unschuld über die unzählige Legion von Greueln erhob. Und die Unschuld hatte gesiegt. Und jetzt konnte man sagen: Nein, es giebt keinen Bürgerkrieg, es giebt keine Barbarei, giebt keinen Haß, kein Verbrechen, keine Finsterniß mehr, dies Heer von Unholden zu zerstreuen genügte ein einzig Morgenroth: die Kindheit.

0335

In keinen Kampf, niemals, hatte sowohl das Göttliche wie das Teuflische sichtbarlicher eingegriffen. Der Kampfplatz war ein Gewissen gewesen, das Gewissen Lantenacs, und nun brach, noch heißer und noch entscheidender, in einem andern Gewissen der Kampf los, in Gauvains Gewissen. Ein Mensch, welch ein Schlachtfeld! Göttern, Ungeheuern und Riesen sind wir preisgegeben, unsern eigenen Gedanken, und diese wilden Ringer, wie oft zerstampfen sie uns die Seele!

Immer tiefer versank Gauvain in sein Grübeln.

Der Marquis von Lantenac, eingeschlossen, bestürmt, verurtheilt, in Bann und Acht, festgekeilt wie ein Löwe in der Arena, wie der Nagel in der Zange, in seiner kerkergewordenen Höhle gefangen und allenthalben bedrängt von einer feurigen Eisenmauer, hatte ihr zu entrinnen vermocht; er war wie durch ein Wunder entkommen; ihm war ein Meisterstück gelungen, in einem solchen Krieg das schwerste unter allen, die Flucht. Er hatte wieder Besitz ergriffen von seinem Wald, um sich darin zu verschanzen, von der ganzen Umgegend, um darin zu kämpfen, von der Finsterniß, um darin zu verschwinden. Er war der schreckenverbreitende Auf- und Niedertaucher wieder, der düstere Irrfahrer, das Oberhaupt der Unsichtbaren, der Anführer der unterirdischen Männer, der Herr der Wälder. Gauvain hatte den Sieg, Lantenac aber seine Freiheit errungen. Er hatte fortan die vollste Sicherheit, den unbegrenzten Raum, die unerschöpfliche Wahl seiner Schlupfwinkel vor sich; er war ungreifbar, unentdeckbar, unerreichbar; der gefangene Löwe war der Falle entsprungen und in diese Falle war er zurückgekehrt, hatte freiwillig, aus eigenem Antrieb, willkürlich, den Wald und den Schatten und die Geborgenheit und das Asyl seiner Freiheit verlassen, um sich tollkühn in die entsetzlichste Gefahr zu begeben, ein erstes Mal, als er sich in das Gebäude stürzte, das ihn mit dem Untersinken in den Flammen bedrohte, und dann noch ein zweites Mal, als er an jener Leiter hinabstieg, die ihn seinen Feinden überantwortete und die, eine Rettungsleiter für die Anderen, für ihn die Leiter zum Grab war. Und weshalb hatte er das Alles gethan? Um drei Kinder dem Tode zu entreißen. Und was wollte man jetzt mit diesem Mann beginnen? Ihm den Kopf vor die Füße legen. Für drei Kinder – waren es seine Kinder? Nein; gehörten sie wenigstens seiner Familie an? Nein; seiner Kaste? – Nein – für die drei Kinder einer Bettlerin, die nächstbesten, für unbekannte, zerlumpte, halbnackte Findlinge hatte dieser Edelmann, dieser Fürst, dieser Greis, der Gerettete, der Befreite, der Sieger – denn solch ein Entrinnen ist ein Triumph – Alles gewagt, Alles aufs Spiel gesetzt, Alles wieder in Frage gestellt und hatte, in demselben Augenblick, da er die Kinder zurückgab, seinen bis dahin verhaßten, nunmehr aber verehrungswürdigen Kopf mit gebieterischer Ueberlegenheit zurückgebracht und dem Henker angeboten. Und was geschah jetzt? Das Gebotene war angenommen worden. Lantenac hatte die Wahl gehabt zwischen fremdem Leben und zwischen seinem eigenen und hatte sich majestätisch für seinen Tod entschieden. Und den wollte man ihm jetzt zuerkennen, ihm den Tod zur Belohnung seines Heldenthums, wollte auf eine hochherzige That mit einer barbarischen antworten und der Revolution diese Blöße geben! Wie klein müßte da die Republik erscheinen neben dem Marquis! Während der Mann der Vorurtheile und der Unterdrückung, plötzlich umgewandelt, in die Menschheit zurückkehrte, sollten sie, die Männer der Befreiung und der Unabhängigkeit, im Bürgerkrieg verharren, in der Routine des Blutvergießens, im Brudermord! Das göttliche Gesetz der Vergebung, der Selbstverleugnung, der Erlösung, der Opferfreudigkeit sollte also den Verfechtern des Irrthums heilig sein und den Soldaten der Wahrheit nicht! Wie? Sollte man etwa an Großmuth hinter dem Gegner zurückbleiben? Diese Niederlage über sich ergehen lassen? In der Vollkraft sich als der schwächere Theil erweisen, siegreich morden und die Behauptung möglich machen, es ständen auf der Seite der Monarchie Die, welche die Kinder retten, und Die, welche Greise umbringen, seien unter den Republikanern zu suchen? Dieser tapfere Soldat, dieser gewaltige Achtziger, dieser entwaffnete, eher geraubte als gefangene Feind, mitten aus einer edlen That herausgerissen, mit seiner eigenen Erlaubniß festgenommen, noch mit den Schweißperlen einer erhabenen Opferthat auf der Stirn, sollte die Stufen des Schaffotts hinansteigen, wie man hineinsteigt zur Apotheose? An das Fallbeil sollte dieses Haupt ausgeliefert werden, von den bittenden drei Seelen der geretteten kleinen Engel umschwebt? Und bei dieser Selbsterniedrigung seiner Henker sollte Lantenacs Antlitz lächeln und das Antlitz der Republik erröthen? Und in seinem, Gauvains, des Befehlshabers, Beisein sollte das geschehen? Und er, der es verhindern konnte, sollte sich nicht rühren, sich zufrieden geben mit der stolzen Abfertigung: »Mit dem, was von jetzt ab geschehen soll, hast Du Dich nicht zu befassen?« Würde er nicht zu sich selber sagen müssen, daß in solchen Fällen eine Abdankung die Mitschuld ist? Und müßte er sich nicht eingestehen, daß der, welcher eine so ungeheuerliche That zuläßt, noch verwerflicher handelt, als der sie vollbringt, weil er nebenbei noch die Rolle des Feiglings spielt?

Aber hatte er nicht bereits versprochen, den Tod des Marquis herbeizuführen? Hatte er, Gauvain, der Mann der Milde, nicht erklärt, daß Lantenac als Ausnahme außer dem Bereich der Milde stehe und daß er ihn Cimourdain überantworten werde? Diesen Kopf war er schuldig; er zahlte ganz einfach seine Schuld ein. Aber war es denn auch noch derselbe Kopf? Bis jetzt hatte Gauvain in Lantenac lediglich den barbarischen Gegner gesehen, den fanatischen Vorkämpfer des Königthums und der Feudalzustände, den Schlächter der Gefangenen, den durch den Bürgerkrieg losgelassenen Mörder, den Blutmenschen, und jenen Menschen fürchtete er nicht; gegen den Wütherich konnte er wüthen, dem Unversöhnlichen die Unversöhnlichkeit entgegensetzen. So wäre die Sache äußerst einfach und der vorgeschriebene Weg mit düsterer Leichtigkeit einzuhalten gewesen; den Tödtenden tödten war weiter nichts als die gerade Linie des Gräßlichen. Jetzt aber war diese gerade Linie ganz unvermuthet unterbrochen worden und hinter ihrer Krümmung that sich, wie durch eine Offenbarung, ein neuer Gesichtskreis auf. Der unbekannte, verwandelte Lantenac betrat die Bühne. Dem Ungeheuer entstieg ein Held, ja, mehr noch als ein Held, ein Mensch, und mehr noch als eine Seele, ein Gemüth. Gauvain hatte keinen Würger mehr, einen Retter hatte er vor sich. Er war niedergeworfen durch einen himmlischen Lichtstrom; Lantenac hatte ihm einen Donnerschlag der Güte ins Herz geschmettert.

Und dieser verklärte Lantenac sollte Gauvain nicht auch verklären? Was? Auf diesen Strahlenstoß sollte kein Rückstoß erfolgen? Der Mann der Vergangenheit sollte voran- und der Mann der Gegenwart zurückschreiten? Der Mann der Grausamkeit und des Aberglaubens sollte, auf plötzlich ausgebreiteten Schwingen einherschwebend, den Mann des Ideals von oben herab im Staub und in der Nacht kriechen sehen, weiterkriechen im ausgefahrenen Geleise der Rohheit, indessen er, Lantenac, in den Lüften hinsegelte, erhabenen Begegnungen zu?

Und dann noch dies Andere: die Familie! Das Blut, das Gauvain vergießen sollte – denn es vergießen lassen, hieß es selber vergießen – war es nicht sein eigenes? Sein Großvater war gestorben, aber sein Großonkel lebte, und dieser Großonkel war der Marquis. Mußte derjenige der beiden Brüder, der im Grab lag, nicht daraus hervorsteigen, um zu verhindern, daß der andere hinabgestoßen werde? Mußte er nicht seinem Enkel befehlen, fortan diese Krone von weißem Haar, die Schwester seiner eigenen Strahlenkrone, zu ehren, und blitzte nicht zwischen Gauvain und Lantenac der Entrüstungsblick eines Todten? Hatte die Revolution denn die Entartung der Gemüther zum Zweck? War sie gemacht worden, um die Bande der Familie zu sprengen und alles menschliche Fühlen zu ersticken? Im Gegentheil, 89 war ja über der Welt aufgegangen, um diese höchsten Wahrheiten zur Geltung zu bringen und nicht, um sie zu verneinen, denn die Bastillen niederwerfen, heißt die Menschheit befreien, die Feudalherrschaft abschaffen, heißt die Familie begründen. Da der Urheber der Ausgangspunkt der Autorität ist, und da die Autorität dem Urheber innewohnt, giebt es keine andere Autorität als die des Vaters; daher die berechtigte Herrschaft der Bienenkönigin, die ihr Volk gebiert und ihre Königswürde der Mutterschaft entlehnt; daher der Widersinn des Menschenkönigs, der, ohne der Vater zu sein, dennoch der Herr sein will; daher die Absetzung dieses Königs; daher die Republik. Was ging aus dem Allen hervor? Die Familie, die Menschheit, die Revolution. Die Revolution war die Thronbesteigung der Völker und im Grund ist das Volk nichts anderes als das Individuum. Die Frage war so gestellt, ob jetzt, da Lantenac in die Menschheit zurückgekehrt war, Gauvain seinerseits nicht in die Familie zurückkehren werde; die Frage war, ob Oheim und Neffe sich in der höheren Lichtregion zusammenfinden sollten oder ob dem Fortschreiten des Oheims ein Rückschritt des Neffen entsprechen müsse. Auf diese Frage also lief Gauvains erregte Auseinandersetzung mit seinem Gewissen hinaus, und die Antwort schien sich von selber zu ergeben: Rettung für Lantenac.

Wohl, aber Frankreich?

Hier wechselte das schwindelnde Problem plötzlich die Gestalt. Wie? Frankreich lag in den letzten Zügen! Frankreich stand offen, ausgesetzt, ohne Bollwerk; es hatte keinen Wallgraben mehr: Deutschland drang über den Rhein; es hatte keine Mauern mehr: Italien stieg über die Alpen und Spanien über die Pyrenäen. Ihm blieb nur der große Schlund des Ozeans, nur den Abgrund hatte es noch für sich. Dem den Rücken zuwendend, konnte es freilich, auf seine Meere gestützt, dem ganzen Festland die Stirne bieten. Eigentlich war diese Stellung unüberwindlich. Aber nein, diese Stellung war im Rücken bedroht. Dieser Ozean gehört Frankreich nicht mehr. Auf diesem Ozean hausten die Engländer. England wußte allerdings nicht, wie es hinüberkommen sollte, doch siehe da! Es fand sich ein Mann, der ihm eine Brücke bauen wollte, ein Mann, der ihm die Hand reichte, ein Mann, der zu Pitt, zu Craig, zu Cornwallis, zu Dundas, zu den Piratenschiffen sagte: Kommt! Ein Mann, der eben hinüberschreien wollte: Da, England, nimm Frankreich hin! Und dieser Mann war der Marquis von Lantenac und diesen Mann hielt man fest. Nach drei Monaten der Hartnäckigkeit, der Verfolgung, der Hetzjagd, war man seiner endlich habhaft geworden. Gerade war auf den Fluchbeladenen die Hand der Revolution niedergefahren; die zusammengekrampfte Faust von 93 hatte den royalistischen Henker beim Kragen gefaßt, und durch eine Fügung jenes geheimnißvollen Vorbedachts, der von oben herab in die irdischen Ereignisse eingreift, erwartete just in seinem eigenen Stammkerker dieser Muttermörder die Strafe, der mittelalterliche Mensch im mittelalterlichen Burgverließ; die Steine seines Kastells standen wider ihn auf und schlossen sich über ihm, und der sein Vaterland gefangen geben wollte, wurde selber gefangen gegeben durch sein Haus. Das Alles hatte Gott augenscheinlich also angeordnet; die Stunde der Gerechtigkeit hatte geschlagen; die Revolution hatte diesen öffentlichen Widersacher festgenommen; er konnte nicht mehr kämpfen, nicht mehr handeln, nicht mehr schaden; in jener Vendée, die über so viele Arme gebot, war er der einzige Kopf; mit ihm ging der Bürgerkrieg zu Ende; er war gefangen und damit Alles zum tragisch glücklichen Abschluß gekommen; nach so vielen Blutszenen und Metzeleien saß er hinter Schloß und Riegel, und sterben sollte nun auch Der, welcher getödtet hatte. Und dieser Mann hätte einen Retter finden sollen? Cimourdain, das heißt 93, hielt Lantenac, das heißt die Monarchie, in seiner Faust und es sollte sich eine Hand rühren, um der eisernen Kralle diese Beute zu entreißen? Lantenac, derjenige, in dem sich jene Garbe von Plagen zusammenflocht, die man die Vergangenheit nennt, der Marquis von Lantenac lag im Grab; die schwere Pforte der Ewigkeit schlug hinter ihm zu, und es sollte Jemand nahen und von außen den Riegel wieder wegschieben? Dieser soziale Uebelthäter war todt und mit ihm der Aufruhr, der brudermörderische Kampf, der unmenschlich geführte Krieg, und ihn sollte Jemand zurückrufen ins Leben? O wie würde der Todtenkopf dazu lachen! Recht so, würde dieses Gespenst grinsen, da habt ihr mich wieder, ihr dummen Tröpfe! Und wie würde er dann wieder an seine verruchte Arbeit gehen! Mit welcher freudigen Unversöhnlichkeit würde er sich wieder in den Pfuhl des Hasses und der Kriegswuth stürzen! Wie würden, schon am nächsten Tag, die Häuser in Brand gesteckt, die Gefangenen hingeschlachtet, die Verwundeten niedergemacht, die Weiber erschossen werden!

Und jene That, die Gauvain also blendete, maß er ihr denn auch wirklich keinen übertriebenen Werth bei? Drei Kinder waren verloren, und Lantenac hatte sie gerettet. Aber weshalb waren sie verloren? Waren sie’s nicht durch Lantenacs Schuld? Wer hatte jene Wiegen jener Feuersbrunst ausgesetzt? War’s nicht der Imânus? Und was war der Imânus? Das Werkzeug des Marquis. Verantwortlich ist der Befehlshaber. Der Mordbrenner war also kein Anderer als Lantenac. Was hatte er demnach so Bewundernswerthes gethan? Nichts, als daß er von seinem Vorsatz abließ. Nachdem er das Verbrechen zur Hälfte begangen, war er davor zurückgebebt, hatte sich selber Abscheu eingeflößt. Der Schrei der Mutter hatte jenen Rest von angestammtem menschlichen Mitleid in ihm aufgerührt, der als eine Art Ablagerung des allgemeinen organischen Lebens jeder Seele, sogar der ungeheuerlichsten, innewohnt. Bei jenem Schrei hatte er sich umgewendet und war aus der Nacht, in der er sich verlor, zum Licht zurückgekehrt und hatte die Wirkung seines Verbrechens aufgehoben. Sein ganzes Verdienst bestand lediglich darin, daß er nicht bis zum Schluß der Unmensch gewesen.

Und für ein so geringes Verdienst sollte man ihm Alles wiedergeben? Den offenen Raum, die Gefilde, die Ebenen, die Lüfte, den Tag, den Wald ihm wiedergeben, daß er ihn für seine rebellischen Zwecke, die Freiheit, daß er sie zur Knechtung, die Existenz, daß er sie zur Vertilgung anderer ausnütze?

Oder konnte man etwa einen Versuch machen, sich mit ihm zu verständigen, mit seiner gebieterischen Seele zu unterhandeln, ihm bedingungsweise die Befreiung vorzuschlagen, ihn zu fragen, ob er sein Leben mit dem Versprechen erkaufen wolle, sich fortan jeder weiteren Auflehnung und Feindseligkeit zu enthalten? Wie verfehlt wäre solch ein Anerbieten gewesen und welch ein Triumph für ihn! Und mit welch stolzer Geringschätzung könnte er dem Fragenden die Antwort ins Angesicht schlagen: Die Entwürdigungen behaltet für Euch und tödtet mich!

Mit diesem Mann war in der That nichts Anderes zu beginnen, als ihn zu tödten oder zu befreien. Bei ihm gipfelte sich Alles; er war stets bereit, zu entschweben oder sich zu opfern; er war der Adler und der Abgrund seiner selbst, ein psychisches Räthsel. Ihn tödten, welch ein Alp! Ihn befreien, welch eine Verantwortung! War Lantenac frei, so mußte in der Vendée Alles wieder von Neuem begonnen werden; von Neuem mußte man ringen mit dem Lindwurm, dem man den Kopf nicht abgeschlagen. In einem Nu, wie der Blitz, würde die verglimmende Flamme beim ersten Wiedererscheinen dieses Mannes aufflackern, und dieser Mann würde nicht eher ruhen, als bis ihm sein fluchwürdiger Plan gelungen, demzufolge, wie ein Sargdeckel, die Monarchie über die Republik und England über Frankreich geschraubt werden sollte. Lantenac retten, hieß Frankreich opfern; Lantenacs Leben bedeutete den Tod einer Menge von unschuldigen, dem Bürgerkrieg aufs Neue anheimfallenden Wesen, Frauen und Kinder so gut wie Männer; es bedeutete die Landung der Engländer, den Rückprall der Revolution, die Verwüstung der Städte, ein zerfleischtes Volk, eine verblutende Bretagne, ein der Klaue zurückerstattetes Opfer. Und mitten in einem Meer von verworrenen Lichterscheinungen und durcheinander gekreuzten Strahlen sah Gauvain, wie sich allmälig vor seiner hinträumenden Seele das Problem abklärte und aufrichtete: Freigebung des Tigers.

Und dann trat die Frage wieder in ihrer ersten Gestalt an ihn heran; der Sisyphosblock, das Sinnbild des inneren Widerstreits im Menschen, rollte wieder zurück. War Lantenac denn auch wirklich der Tiger? Er mochte ein Tiger gewesen sein; aber war er auch jetzt noch einer? Gauvain empfand die peinlich schwindelnden Windungen des Gedankens, der wie die Schlange in sich selber zurückschnellt. Ließ sich denn schließlich auch nach redlichster Prüfung die Opferthat Lantenacs, seine stoische Selbstverleugnung, seine majestätische Uneigennützigkeit in Abrede stellen? Vor dem aufgerissenen Rachen des Bürgerkrieges der Humanität huldigen, in den Konflikt der untergeordneten Wahrheiten die höhere Wahrheit schleudern, den Beweis führen, daß es über den Königsthronen, über den Revolutionen, über den irdischen Streitfragen noch das endlos zärtliche Hinschmelzen der Seele giebt, die Pflicht der Starken, den Schwachen zu beschützen, die Rettungspflicht der Geretteten gegen die Rettungsbedürftigen, die Vaterpflicht aller Greise gegen alle Waisen – diese Herrlichkeiten zur Geltung bringen und das eigene Haupt dafür einsetzen, General sein und auf den Krieg, auf die Schlachten, auf die Revanche verzichten, Royalist sein und zu einer Wage greifen und auf die eine Schale den König von Frankreich, eine fünfzehnhundertjährige Monarchie, die wiederherzustellenden alten Gesetze, die wiedereinzuführende alte gesellschaftliche Ordnung und auf die andere Schale die nächstbesten drei Bauernkinder legen und den König, den Thron, das Scepter, die fünfzehn Jahrhunderte leicht befinden gegen eine dreifache Unschuld – das Alles sollte so viel sein wie nichts, und Der dies vollbracht, sollte der Tiger bleiben und als Bestie ausgerottet werden? Nein, zehnmal nein! Ein Unmensch war es nicht, der soeben noch den Abgrund des Bürgerkrieges mit dem Strahl einer göttlichen That erhellt hatte! Aus dem Schwertschwinger war ein Lichtspender geworden; der Höllenfürst war wieder Lucifer der Engel. Durch sein Opfer hatte sich Lantenac von allen früher verübten Greueln losgekauft; er hatte sich durch seinen zeitlichen Untergang moralisch gerettet, hatte sich eine neue Unschuld erkämpft, hatte seine eigene Begnadigung unterschrieben, denn es besteht ein Recht der Selbstverzeihung, und von nun an war Lantenac ehrwürdig. Er hatte das Außerordentliche bereits geleistet, und nun kam die Reihe an Gauvain; Gauvain war ihm die Antwort schuldig. Der Widerstreit der edlen und unedlen Leidenschaften hatte dermalen die Welt in ein Chaos zurückgestoßen und diesem hatte Lantenac die Humanität abgerungen; Gauvain fiel nun die Aufgabe zu, dem Chaos noch ein Zweites abzuringen, die Familie. Was mußte geschehen? Konnte Gauvain unterlassen, was Gott selber ihm zutraute? Nimmermehr, und aus seinem Tiefsten heraus flüsterte ihm eine Stimme zu: Retten wir Lantenac! – Nun denn, entgegnete eine andere, thue es nur, arbeite den Engländern nur in die Hände, desertire, lauf über zum Feind, rette Lantenac und werde zum Verräther am Vaterland!

Und er schauderte in sich zusammen.

O Du Träumer, Deine Lösung des Problems ist keine Lösung. – Vor Gauvain stieg in der Finsterniß, die ihn umgab, die düster lächelnde Sphinx auf. Seine Situation glich einem grauenhaften Kreuzweg, in den die widersprechenden Wahrheiten einmündeten und sich einander gegenüberstellten, und wo die drei höchsten Güter des Lebens einander anstarrten: die Menschheit, das Vaterland, die Familie. Jede dieser Wahrheiten ergriff der Reihe nach das Wort und der Reihe nach sagte jede etwas Richtiges. Wie sollte da gewählt werden? Eine um die andere schien den Berührungspunkt der Weisheit und der Billigkeit entdeckt zu haben und mahnte: So mußt Du handeln. Aber mußte wirklich so gehandelt werden? Ja und Nein. Die Vernunft rieth zu Dem, das Gefühl zu Jenem, und die beiden Rathschläge bildeten einen Gegensatz. Die Vernunft ist blos unser Hirn und geht vom Menschlichen aus; das Gefühl ist oft das Gewissen der Weltseele und geht demnach aus vom Uebermenschlichen. Darum auch hat das Gewissen die mindere Klarheit, aber die größere Macht. Und dennoch, was liegt in der strengen Vernunft nicht für eine Gewalt! Gauvain schwankte in grausamer, Rathlosigkeit zwischen zwei Abgründen hin und her: den Marquis verderben oder ihn retten. In einen von beiden mußte er sich stürzen; aus welchem von beiden aber rief die Pflicht?

III.

Der Mantel des Kommandanten.

Die Pflicht und abermals die Pflicht: vor Cimourdain stieg sie düster, vor Gauvain bedrohlich empor, einfach vor Jenem und vor Diesem vielseitig, widerspruchsvoll, verwickelt.

Mittlerweile hatte es Zwölf und Eins geschlagen.

Ohne daß er es merkte, hatte sich Gauvain allmälig der Bresche genähert.

Die Feuersbrunst war zu einer sterbenden Gluth verglommen, deren Widerschein auf das gegenüberliegende Plateau fiel und es in den Zwischenräumen, wo der Rauch sie nicht umwölkte, matt erhellte. Dieser stoßweise auflebende und plötzlich wieder erlöschende Schimmer gab den Gegenständen ein unverhaltnißmäßiges Aussehen und die Schildwachen des Lagers tauchten wie Gespenster darin auf. Aus seiner Traumwelt heraus folgte zuweilen Gauvains Blick mechanisch diesem Untergehen des Qualms im Aufleuchten und des Aufleuchtens im Qualm. Das Auf- und Abwogen der Gluth entsprach einigermaßen der innern Fluth und Ebbe seiner Seele.

Plötzlich warf zwischen dem Aufwirbeln zweier Rauchwolken ein davonfliegender Feuerbrand des verglimmenden Gluthherdes ein grelles Licht auf die höchste Stelle des Plateaus und beschien dort mit röthlichem Glanz die Umrisse eines Karrens. Gauvain schaute hinüber. In diesem Karren, um welchen berittene Gendarmen hielten, glaubte er das Fuhrwerk wiederzuerkennen, das er vor einigen Stunden, bei Sonnenuntergang, durch Guechamp’s Fernrohr betrachtet hatte. Es standen Menschen darauf, die etwas abzuladen schienen, und zwar etwas Schweres, das hin und wieder dumpf durcheinander klirrte; was es eigentlich war, hätte sich schwerlich bestimmen lassen; dem Aussehen nach mochte es wohl Balkenwerk sein. Zwei von den Männern schafften eben eine dreieckige flache Kiste herab, die auf die Erde gestellt wurde. Da erlosch der Feuerbrand und Alles verschwamm wieder im Dunkeln. Nachdenklich starrte Gauvain noch immer hinüber nach dem Plateau, auf dem Laternen angezündet worden waren und undeutliche Gestalten ab und zugingen, die Gauvain, von unten und diesseits der Schlucht, nur dann wahrnahm, wenn sie zum äußersten Rand des Plateaus vortraten. Man hörte auch Stimmen, konnte jedoch keine Worte unterscheiden. Hier und da ertönte es wie von Hammerschlägen auf Holz oder gab jenen eigenthümlichen metallischen Klang, der das Wetzen einer Sense begleitet. Es schlug Zwei.

Langsam wie Einer, der nach zwei Schritten vorwärts am liebsten drei andere wieder rückwärts thun möchte, ging Gauvain auf die Bresche zu. Als er näher kam, erkannte ihn die Schildwache trotz der Dunkelheit an der

goldenen Borte seines Mantels und präsentirte das Gewehr. Nun trat Gauvain in den ebenerdigen Saal, der jetzt in eine Wachtstube umgewandelt worden; die Laterne, die von der Decke herunterhing, gab gerade so viel Licht, daß man durch das Gemach schreiten konnte, ohne über die am Boden auf Stroh ausgestreckten Soldaten des Postens zu stolpern, die fast alle schliefen. Da wo sie vor wenig Stunden noch gekämpft, schlummerten sie jetzt, zwar nicht gerade bequem, denn auf den mangelhaft gekehrten Steinplatten kam mancher noch auf ein von der Schlacht übrig gebliebenes Eisen- oder Bleigeschoß zu liegen; aber sie waren müde und rasteten wenigstens aus. Auf dieser gräßlichen Stätte des ersten Angriffs war gebrüllt, geheult, mit den Zähnen geknirscht, geschlagen, gewürgt, geröchelt worden; auf diesem Fußboden, der ihnen nun als Lager diente, waren gar viele der Ihrigen getroffen niedergestürzt; das Stroh, auf dem sie ruhten, trank das Blut ihrer Kameraden; jetzt war Alles vorüber, man hatte das Blut fortgespült, die Säbel abgewischt; die Todten waren todt und die Ueberlebenden friedlich eingeschlummert. So will es der Krieg. Und auch in der nächsten Nacht sollte ebenso friedlich geschlafen werden.

Als Gauvain erschien, erhoben sich Diejenigen, die blos dämmerten, und unter diesen der Kommandirende des Wachtpostens, vom Boden. Gauvain deutete nach der Kerkerthür und sagte: Machen Sie mir auf. Die Riegel wurden zurückgeschoben und Gauvain trat durch die geöffnete Thür ein, die sich sofort wieder hinter ihm schloß.

Siebentes Buch.

0343

Mittelalter und Neuzeit.

I.

Der Ahnherr.

Auf einer Steinplatte des Gefängnisses, neben der viereckigen Oeffnung des unterirdischen Verließes, brannte eine Lampe; weiter hinten war auch der Wasserkrug mit dem Kommisbrod und das Bündel Stroh. Da der Kerker in den Felsen gehauen war, wäre der Einfall, dieses Stroh in Brand zu stecken, dem Insassen übel bekommen, denn er hätte, ohne den geringsten Schaden anrichten zu können, unfehlbar im Rauch ersticken müssen.

Im Augenblick, wo sich die Thür in den Angeln drehte, schritt der Marquis in seinem Gefängniß auf und nieder, mit der mechanischen Unruhe des Löwen im Käfig. Beim Geräusch der auf- und zugehenden Pforte erhob er den Kopf, und die Lampe zwischen Gauvain und ihm leuchtete den Beiden von unten ins Gesicht. Sie schauten einander an, mit einem Blick, vor dem Jeder erstarrte. Dann brach Lantenac in schallendes Gelächter aus und rief: – Guten Tag, mein Herr. Es sind nun schon hübsch viele Jahre, daß mir das Glück nicht mehr zutheil geworden, mit Ihnen zusammen zu treffen. Sie haben die Gewogenheit, mir einen Besuch abzustatten. Ich danke Ihnen. Es kommt mir ganz erwünscht, ein klein wenig zu plaudern, denn ich war bereits auf dem besten Weg, mich zu langweilen. Ihre guten Freunde vergeuden die Zeit mit allerlei Weitschweifigkeiten, mit Feststellungen der Identität und Kriegsgerichten. Ich ginge rascher zu Werk. Bemühen Sie sich nur ganz herein – ich bin hier zu Hause. Nun, was sagen denn Sie zu Allem, was sich jetzt abspielt? Recht originell, nicht wahr? Es war einmal ein König und eine Königin; der König war der König; die Königin war Frankreich. Den König hat man enthauptet und die Königin mit Robespierre vermählt; dieser Herr und diese Dame haben eine Tochter bekommen, die man die Guillotine heißt und deren Bekanntschaft ich allem Anschein nach morgen früh machen werde. Es soll mir ein Vergnügen sein, gerade so vorzüglich, mein Herr, wie das, Sie hier bei mir zu sehen. Führt Sie etwa diese Angelegenheit her? Wären Sie wohl gar zum Henker avancirt? Wenn Sie mir hingegen einen bloßen Freundschaftsbesuch zugedacht haben, so bin ich unendlich gerührt. Sie wissen vielleicht nicht mehr, was ein Edelmann ist. Nun wohl, hier steht Einer: ich. Sehen Sie sich das sonderbare Ding nur an; das glaubt Ihnen an Gott; das glaubt an Althergebrachtes, glaubt an die Familie, an seine Vorfahren, an das Beispiel seines Vaters, an die Loyalität, an die Treue gegen den Landesherrn, an die Achtung vor den überlieferten Gesetzen, an eine Tugend, an eine Gerechtigkeit und das würde Sie mit Freuden füsiliren lassen. Aber bitte, gefälligst Platz zu nehmen, auf dem Stein zwar, denn in diesem Salon kann ich Ihnen keinen Fauteuil anbieten; doch wer im Unrath lebt, kann sich auch am Boden niedersetzen. Glauben Sie ja nicht, daß ich mit dieser Aeußerung eine beleidigende Absicht verbinde, denn was wir den Unrath nennen, das nennen Sie die Nation und von mir werden Sie doch schwerlich verlangen, daß ich mitrufe: Freiheit, Gleichheit, Verbrüderung. Wir stehen hier in einem alten Gemach meines Hauses; vor Zeiten sperrten die Herren die Hintersassen, jetzt sperren die Hintersassen die Herren hinein. Dergleichen Albernheiten heißt man eine Revolution. In sechsunddreißig Stunden soll mir auch, so scheint es, der Hals abgeschnitten werden. Ich sehe nicht ein, was ich daran aussetzen sollte. Nur hätte man wenigstens so höflich sein können, mir meine Dose herunterzuschicken, die ich droben im Spiegelzimmer ließ, wo Sie als kleines Kind oft gespielt haben und auf meinen Knieen geritten sind. Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen auch mittheilen, daß Sie den Namen Gauvain führen und daß sonderbarerweise edles Blut in Ihren Adern fließt, ja weiß Gott, dasselbe Blut wie in den meinen, und daß dies Blut aus mir einen Mann von Ehre macht und aus Ihnen etwas Anderes. Jeder hat seine Eigenheiten. Sie werden mir vielleicht bemerken, das sei nicht Ihre Schuld; nun, meine ist es auch nicht. Mein Gott, man kann ja ein Uebelthäter sein, ohne es zu wissen; das liegt an der Luft, in der man lebt, und in Zeiten, wie wir sie jetzt haben, ist man für sein Handeln keineswegs verantwortlich; die Revolution, die nimmt jede einzelne Nichtswürdigkeit auf ihre Kappe, und all Ihre großen Verbrecher sind die leibhaftige Unschuld. Einfaltspinsel sind’s! Sie zu allermeist. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Bewunderung ausspreche. Ja, ich bewundere einen Jungen, der wie Sie, von hoher Geburt, eine hervorragende Stellung im Staat einzunehmen und ein edles Blut zu vergießen hat für eine edle Sache, einen Vikomte von La Tour-Gauvain, einen bretonischen Fürsten, der von rechtswegen Herzog und von erbschaftswegen Pair von Frankreich sein könnte, so ziemlich Alles, was ein vernünftiger Mensch hienieden verlangen dürfte, und der seinen Spaß daran findet, dem, der er ist, zum Trotz der zu sein, der Sie sind, so daß er schließlich seinen Feinden als ein Bösewicht und seinen Freunden als ein Dummkopf erscheinen muß. Da fällt mir eben ein, empfehlen Sie mich doch auch dem Herrn Abbé Cimourdain.

Der Marquis sprach behaglich und gelassen, ohne irgend etwas besonders zu betonen, mit einer Salonstimme, mit klarem, ruhigem Blick und mit den Händen in den Westentaschen. Nachdem er innegehalten, um aufzuathmen, begann er wieder: – Ich will Ihnen nicht verschweigen, daß ich Alles aufgeboten habe, um Ihnen das Leben zu nehmen. Wie Sie mich hier sehen, habe ich zu dreien Malen, ich selber, eigenhändig eine Kanone auf Sie abgefeuert, ein unfeines Verfahren, ich gebe es zu, aber es hieße von einer irrigen Voraussetzung ausgehen, wenn man sich einbilden wollte, daß in Kriegszeiten der Feind bemüht sei, sich Einem gefällig zu erweisen, und wir führen ja Krieg, Herr Neffe, mit Feuer und Schwert, und es läßt sich auch nicht in Abrede stellen, daß der König hingerichtet worden ist. Ein anmuthiges Jahrhundert das!

Er schwieg abermals und hob dann wieder an: – Wenn man bedenkt, daß dies Alles unterblieben wäre, hätte man nur Voltaire gehenkt und Rousseau auf eine Galeere gesetzt! O die geistreichen Männer, welch ein Krebsschaden! Ei, zum Teufel, was können Sie ihr denn vorwerfen, dieser Monarchie? Sie hat allerdings den Abbé Pucelle in seine Abtei von Corbigny zurückgeschickt mit der freien Wahl der Fahrgelegenheit und der Bewilligung einer beliebigen Reisedauer, und was Ihren Herrn Titon anbelangt, der mit Verlaub ein rechter Wüstling war und bei den Dirnen vorsprach, eh er dem wunderthätigen Diakonus Paris nachlief, so wurde er vom Schloß von Vincennes nach dem Schloß von Ham in der Picardie übergeführt, welches, ich leugne es nicht, allerdings ein ziemlich garstiger Aufenthaltsort ist. Das waren die Beschwerdepunkte; ich erinnere mich noch ganz gut; ich habe meiner Zeit auch mitgeschrieen; ich bin so einfältig gewesen wie Sie.

Der Marquis griff an seine Tasche, als wolle er die Tabaksdose herausnehmen und fuhr fort: Aber so bösartig nicht. Man redete, um eben zu reden. Es wurde auch Unfug getrieben mit den Untersuchungen und Eingaben, und nachher kamen die Herren Philosophen; statt der Verfasser hat man ihre Schriften verbrannt; die Hofintriguen haben mitgespielt; dann kamen auch alle die Dummköpfe wie Turgot, Quesnay, Malesherbes, die Physiokraten und Konsorten, und die Hetzerei ging los. Die Schmieranten und Versifexe haben den ganzen Wirrwarr in Szene gesetzt. Die Encyclopädisten! Diderot! d’Alembert! O über die nichtsnutzigen Tröpfe! Daß ein anständiger Mann wie jener König von Preußen sich in dergleichen verrennen konnte. Wie hätte ich an seiner Stelle die Tintenkleckser sammt und sonders aus dem Weg geschafft! Ha, wir Andern, wir wußten noch mit der Rechtspflege umzugehen. Hier diese Mauer mit den Räderspuren erzählt noch davon. Wir machten Ernst. Nein, nein, fort mit dem Schreiberpack! So lange es noch Leute giebt wie einen Arouët, wird es auch Leute geben wie Marat; so lange noch Krakehler Papier verkratzen, werden Spitzbuben morden; so lange die Tinte fließt, werden die schwarzen Flecken nicht ausbleiben, und so lange eine Menschenpfote einen Gänsekiel halten wird, werden die frivolen Albernheiten in niederträchtige Albernheiten ausarten. Die Verbrechen werden durch die Bücher in die Welt gesetzt. Das Wort Chimäre hat einen doppelten Sinn: es bezeichnet einen Traum und bezeichnet ein Ungeheuer. Wie bereitwillig giebt man sich mit leeren Redensarten zufrieden! Was faselt ihr mir da vor von Rechten? Von Menschenrechten, Volksrechten! Läßt sich etwas Hohleres, etwas Stupideres, etwas Unmöglicheres, etwas Inhaltloseres aushecken? Ich, wenn ich sage: Havoise, die Schwester Conans II., brachte dem Grafen Hoël von Nantes und Cornouailles die Grafschaft Bretagne mit in die Ehe; von diesem vererbte sich die Krone auf Alain Fergant, den Oheim von Bertha, welche sich mit dem souveränen Herrn zu La Roche-sur Yon, Alain dem Schwarzen, vermählte und ihm Conan den Kleinen, den Ahnen von Guy oder Gauvain von Thouars, dem Gründer unseres Stamms, gebar, – wenn ich so spreche, so spreche ich eine bestimmte Thatsache aus und leite ein bestimmtes Recht davon ab. Auf welche Rechte aber berufen sich Ihre Strolche, Ihre Gaudiebe, Ihre Hungerleider? Auf die Gotteslästerung und auf den Königsmord. Und das soll nicht niederträchtig sein? O welche Hallunken! Es thut mir leid für Sie, mein Herr, aber Sie sind aus jenem stolzen bretonischen Geschlecht; Sie wie ich stammen von Gauvain von Thouars ab, auch von jenem großen Herzog von Montbazon, der französischer Pair und Großkreuz des königlichen Hausordens war, der die Vorstadt von Tours stürmte, im Gefecht von Arques verwundet wurde und in seinem sechsundachtzigsten Lebensjahr als Oberstjägermeister von Frankreich auf seinem Schloß von Couzières in der Touraine verstarb. Ich könnte Ihnen ferner noch vom Herzog von Laudunois, dem Sohn der Freifrau von La Garnache, erzählen, von Claude von Lothringen, Herzog von Chevreuse, und von Henri von Lenoncourt und von Françoise von Laval-Boisdauphin; aber wozu? Der junge Herr haben die Ehre, ein Simpel zu sein, und wollen durchaus mit meinem Stallknecht rangiren. Ich sage Ihnen nur so viel, daß ich schon ein betagter Mann war, als Sie noch in den Windeln lagen. Ich habe Ihnen oft das Rotznäschen geputzt und möchte es wieder thun, denn Sie haben das Kunststück geliefert, mit den Jahren kleiner zu werden. Seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben, ist Jeder von uns seiner Wege gegangen, ich den rechtschaffenen, Sie den entgegengesetzten. Wozu das Alles führen wird, weiß ich zwar nicht, aber das weiß ich, daß Ihre Herren Freunde famose Schurken sind, O ja, es ist Alles recht schön und gut; ich muß es loben; der Fortschritt ist kolossal; in der Armee hat man die Strafe des dreitägigen Wassertrinkens für die Säufer abgeschafft; man hat das Maximum, den Konvent, den Bischof Gobel, die Herren Chaumette und Hébert und rottet die ganze Vergangenheit mit Stumpf und Stiel aus, von der Bastille bis herab zum Kalender, in dem die Heiligen durch Gemüsesorten ersetzt werden. Schön, Ihr Herren Bürger, herrscht nur zu, regiert, macht es Euch bequem, thut Euch gütlich, genirt Euch nicht. Dafür bleibt die Religion doch die Religion; dafür füllt das Königthum doch fünfzehn Jahrhunderte in unserer Geschichte aus; und dafür steht der alte französische Adel doch über Euch, auch wenn Ihr ihn köpft. Und über Eure Nörgeleien am historischen Recht der Dynastien zucken wir nur die Achseln. Hilperich war blos ein Mönch Namens Daniel und wurde durch Rainfried untergeschoben, um Karl Martell zu ärgern; das Alles wissen wir so gut wie Ihr. Aber darum handelt sich es nicht; es handelt sich darum, ein großes Reich zu sein, das alte Frankreich, dieses herrlich organisirte Land: an der Spitze die geheiligte Person des Monarchen, dann die Prinzen, dann die Würdenträger der Krone für den Krieg zu Land und zu See, für die Artillerie, für die Oberleitung und Pflege der Finanzen, dann die souveräne und subalterne Justiz, dann das Steuerwesen und die Staatseinnahmen und zuletzt die drei verschiedenen Abstufungen der Königlichen Polizei. Das war schön und vornehm angeordnet; Ihr habt es zerstört, habt die Eintheilung der Provinzen zerstört, Ihr jämmerlichen Ignoranten, ohne auch nur zu ahnen, was die Provinzen bedeuten sollten. In Frankreichs Genius konzentrirte sich der Genius des ganzen Kontinents und jede französische Provinz vertrat eine europäische Tugend, die Pikardie die deutsche Offenherzigkeit, die Champagne die schwedische Großmuth, Burgund den holländischen Gewerbefleiß, das Languedoc die polnische Rührigkeit, die Gascogne den spanischen Ernst, die Provence die italienische Klugheit, die Normandie den griechischen Scharfsinn, das Dauphiné die schweizerische Treue. Von dem Allen habt Ihr nichts gemerkt; Ihr habt zerbrochen, zertrümmert, zerschmettert, niedergerissen, in aller Seelenruhe, wie die Bestien. Ah, Ihr wollt keinen Adel mehr? Nun gut, Ihr sollt auch keinen mehr haben. Ergebt Euch denn darein; verzichtet nur gleich auf die Paladine, auf die Helden; gute Nacht, du alte Größe! Zeigt mir heut zu Tage einen d’Assas! Ihr seid Alle besorgt um Eure Haut; es ist vorbei mit jenen ritterlichen Kämpfern von Fontenoy, die den Feind grüßten, ehe sie losschlugen, vorbei mit den Heroen in seidenen Strümpfen, die bei der Belagerung von Lerida gefochten, vorbei mit jenen stolzen Schlachten, wo die Federbüsche wie Meteore einherstürmten; Ihr seid ein bankrott gewordenes Volk; Ihr werdet die Nothzucht der Invasion über Euch ergehen lassen, und wenn ein zweiter Alarich kommt, wird er keinen zweiten Klodwig finden; wenn Abderrahman wiederkehrt, wird kein Karl Martell, wenn die Sachsen wiederkehren, wird kein Pipin da sein. Ihr werdet kein Agnadel, kein Rocroy, kein Lens, Staffarde, Neerwinden, Steinkirchen, La Marsaille, Rocoux, Laufeld, Mahon mehr erleben, kein Marignan mit seinem Franz I., kein Bouvines mit seinem Philipp August, der mit der einen Hand den Grafen Renaud von Boulogne und mit der anderen den Grafen Ferrand von Flandern gefangen nimmt. Nur zu einem Azincourt werdet Ihr es bringen, aber ohne dabei einen Oriflammenträger zu haben wie den edlen Herrn von Bacqueville, der sich, in seine Fahne gewickelt, niederhauen läßt. Aber geht, geht nur immer Eures Wegs und seid die Männer der Neuzeit und werdet klein.

Der Marquis machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: – Aber uns laßt groß bleiben. Bringt die Könige um, die Edelleute, die Priester, zerstört, verheert, guillotinirt, tretet mit Füßen Alles, setzt Eure Stiefelsohlen auf die Ueberlieferungen der Vergangenheit, trampelt auf dem Thron herum, stampft die Altäre nieder, schmettert Gott in den Staub und tanzt darüber hinweg! Das ist Eure Sache. Ihr seid Verräther und Feiglinge, unfähig, Euch für etwas hinzugeben und aufzuopfern. Ich bin zu Ende. Jetzt lassen Sie mich guillotiniren, Herr Vikomte. Ich habe die Ehre, Ihr Allergehorsamster zu sein.

Und er setzte noch hinzu: Nicht wahr, ich habe Ihnen die Leviten gelesen? Warum sollte ich nicht? Ich bin ja todt.

– Sie sind so frei, sagte Gauvain. Und er trat auf den Marquis zu, knöpfte den Mantel auf, warf ihm denselben über die Schultern und zog ihm die Kapuze über die Stirn. Sie waren Beide in einer Größe.

– Ei, was thust Du denn da? fragte der Marquis.

– Lieutenant! schließen Sie auf! rief Gauvain mit lauter Stimme. Die Thür wurde geöffnet.

– Riegeln Sie die Thür gleich wieder hinter mir zu! befahl Gauvain und stieß den staunenden Marquis zum Kerker hinaus.

Der ebenerdige Saal, der jetzt eine Wachtstube war, hatte, wie man sich erinnern wird, keine andere Beleuchtung als die einer Hornlaterne, die Alles ganz trübe erscheinen ließ und mehr Nacht verbreitete als Licht. In diesem verschwommenen Dämmerdunkel sahen die noch wach gebliebenen Soldaten einen hochgewachsenen Mann in dem Mantel und der Kapuze des Kommandanten dem Ausgang zu vorüberschreiten und salutirten. Langsam trat der Marquis zur Bresche und durch diese, nicht ohne sich mehrmals die Stirn anzurennen, vor den Thurm hinaus. Dort präsentirte ihm die Schildwache, welche Gauvain zu erkennen glaubte, das Gewehr. Als er draußen war, auf dem Grasplatz, zweihundert Schritte vom Wald, mit dem unbegrenzten Raum und der Nacht und der Freiheit und dem Leben vor sich, stand er eine Weile regungslos, wie Einer, dem ohne sein Zuthun etwas durch Ueberraschung aufgenöthigt worden und der nun nach Benutzung der offenen Thür, mit sich selbst im Unklaren, zaudert und, bevor er weitergeht, erst seine Gedanken sammelt. Nach einigen Momenten aufmerksamer Ueberlegung, erhob er die rechte Hand, drückte den Mittelfinger gegen den Daumen und sagte, indem er ein Schnippchen schlug: Meinetwegen!

Als er den Wald betrat, war der Kerker, in welchem Gauvain zurückgeblieben, schon längst wieder verriegelt.

II.

Das Kriegsgericht

In der damaligen Militärjustiz herrschte so ziemlich die Willkür. Dumas hatte wohl in der gesetzgebenden Versammlung Grundzüge zu einem Kodex für die Kriegsgerichte entworfen und seine Arbeit war auch durch Talot im Rath der Fünfhundert wieder aufgenommen worden, aber die endgiltige Gesetzgebung für die Armee ist das Werk des Kaiserreichs. So war zum Beispiel zur Revolutionszeit den Kriegsgerichten noch nicht vorgeschrieben, beim Einsammeln der Stimmen mit der untersten Charge zu beginnen. Im Jahre 93 vereinigten sich so gut wie alle Befugnisse eines solchen Gerichtshofs in der Person des Präsidenten; er wählte die Votanten, bestimmte die beizuziehenden Chargen, entschied über den Abstimmungsmodus, kurz war Machthaber und Richter in einer Person.

Zum Sitzungslokal war durch Cimourdain der ebenerdige Saal ausersehen, wo die Barrikade gestanden hatte und wo sich jetzt der Wachtposten befand. Alles sollte möglichst abgekürzt werden, sowohl der Weg vom Gefängniß zur Verhandlung, wie von dieser zum Schaffott. Hier hatte sich das Gericht, Cimourdain’s Anordnung zufolge, um zwölf Uhr Mittags versammelt. Die ganze äußere Ausstattung bestand aus drei Strohsesseln, einem Tisch aus Tannenholz, darauf zwei brennende Lichter und dahinter ein hoher Schemel: die Sessel für die Richter, der Schemel für den Angeklagten. An jedem Ende des Tisches stand noch ein anderes Tabouret für den Auditor, der ein Fourier, und für den Schriftführer, der ein Korporal war. Auf dem Tisch befand sich ferner noch eine Stange von rothem Siegellack, ein kupfernes Amtssiegel, zwei Tintenfässer, Schreibpapier und zwei ihrer ganzen Größe nach entfaltete gedruckte Plakate, das eine mit der Bekanntmachung, daß Lantenac außer dem Gesetz stehe, das andere mit der Verordnung des Konvents. Ueber dem mittleren Stuhl erhoben sich ein paar dreifarbige Fahnen. In diesen prunklos derben Zeiten verlor man mit der Ausschmückung nicht viel Zeit und konnte im Handumdrehen eine Wachtstube in einen Gerichtssaal umwandeln. Der mittlere Sessel, der Präsidentenstuhl, war der Kerkerthür zugewendet. Soldaten bildeten das Publikum, und hinter dem für den Angeklagten bestimmten Schemel standen zwei Gensdarmen.

Cimourdain saß auf seinem Platz, zu seiner Rechten den Hauptmann Guéchamp als ersten Richter und als zweiten zur Linken den Sergeanten Radoub. Er hatte einen Hut mit dreifarbigem Federbusch auf, seinen Säbel an der Seite und in der Schärpe seine zwei Pistolen. Der grimmige Ausdruck seines Gesichts wurde durch die hochrothe Narbe noch gesteigert.

Radoub, der sich schließlich hatte verbinden lassen, trug ein Tuch um den Kopf gewickelt, auf dem ein Blutflecken zu sehen war, welcher allmälig um sich griff.

Die Sitzung hatte noch nicht begonnen. Beim Gerichtstisch stand eine Staffette, deren Pferd man draußen scharren hörte, und Cimourdain schrieb folgende Worte nieder: »Bürger und Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses, Lantenac ist gefangen und wird morgen guillotinirt.« Er setzte das Datum hinzu, unterschrieb die Depesche, faltete und versiegelte sie und reichte sie dann dem Boten, der sich damit entfernte. Hierauf sagte Cimourdain mit lauter Stimme: Man öffne das Gefängniß.

Die zwei Gensdarmen schoben die Riegel zurück, schlossen auf und traten hinein. Cimourdain hob den Kopf in die Höhe, verschränkte die Arme, schaute nach der Thür und rief: Man führe den Gefangenen vor.

Da erschien unter der Wölbung der Thür zwischen den zwei Gensdarmen ein Mann.

Cimourdain zuckte zusammen, als er ihn erblickte: Gauvain! rief er aus und setzte dann hinzu: Den Gefangenen will ich haben.

– Der bin ich, sagte Gauvain.

– Du?

– Ich.

– Und Lantenac?

– Ist frei.

– Frei?

– Ja.

– Ausgebrochen?

– Ausgebrochen.

Zitternd stammelte jetzt Cimourdain: Allerdings dies Schloß hier ist ja sein; er kennt alle Schliche; sein Gefängniß hat wohl einen geheimen Ausgang; daran hätte ich denken sollen; es wird ihm eben gelungen sein, zu entrinnen, ohne irgend welcher fremden Hilfe zu bedürfen.

– Ihm ward geholfen.

– Zur Flucht?

– Zur Flucht.

– Und wer verhalf ihm dazu?

– Ich.

– Du?!

– Ja, ich.

– Du sprichst im Traum!

– Ich bin zu ihm in den Kerker gegangen, war dort mit ihm allein, habe meinen Mantel von den Schultern genommen und um die seinen geworfen; habe ihm die Kapuze über das Gesicht zurückgeschlagen, dann hat er sich statt meiner entfernt; ich bin statt seiner geblieben, und hier stehe ich.

– Das hast Du nicht gethan!

– Ich habe es gethan.

– Es ist rein unmöglich.

– Es ist so.

– Bringt mir Lantenac!

– Er ist schon weit. Die Soldaten, die ihn im Kommandantenmantel sahen, haben ihn für mich gehalten und an sich vorübergehen lassen. Es war noch Nacht.

– Du redest irre.

– Ich rede die Wahrheit.

Nach einer Pause stotterte Cimourdain: Aber dann verdienst Du ja …

– Den Tod, sagte Gauvain.

Cimourdain’s Gesicht war blaß geworden wie ein abgeschnittener Kopf; er saß regungslos da, wie vom Blitz gerührt. Es war, als athme er nicht mehr, und Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Endlich sprach er mit etwas festerer Stimme: Man lasse den Gefangenen niedersitzen.

Gauvain nahm seinen Platz auf dem Schemel ein. – Gensdarmen, hob Cimourdain wieder an, zieht die Säbel.

Es war dies die gebräuchliche Form, wenn Jemand eines Verbrechens angeklagt war, das durch den Tod bestraft wurde.

Die Gensdarmen zogen blank. Cimourdain’s Stimme hatte ihre ganze gewohnte Festigkeit wiedergewonnen. Angeklagter, sagte er, stehen Sie auf.

Er redete Gauvain nicht mehr mit Du an.

III.

Die Abstimmung.

Gauvain erhob sich.

– Wie heißen Sie? fragte Cimourdain.

– Gauvain.

Nun nahm das Verhör seinen weiteren Verlauf.

– Wer sind Sie?

– Ich bin Oberkommandant der Streifkolonne vom Departement Côtes-du-Nord.

– Sind Sie mit dem flüchtig Gewordenen blutsverwandt oder verschwägert?

– Ich bin sein Großneffe.

– Sie haben Kenntniß von der Verordnung des Konvents?

– Dort liegt sie gedruckt auf dem Tisch.

– Haben Sie betreffs dieser Verordnung etwas zu bemerken?

– Ich habe zu bemerken, daß ich sie mit unterzeichnete, daß ich die Vollstreckung in Aussicht stellte und daß ich selber das von mir unterschriebene Plakat anschlagen ließ.

– Wählen Sie sich einen Vertheidiger.

– Ich werde mich selber vertheidigen.

– Sie haben das Wort.

Cimourdain beherrschte sich wieder; nur glich diese Selbstbeherrschung weniger der Seelenruhe eines Menschen als der Starrheit eines Felsens. Gauvain blieb eine Weile stumm und in sich gekehrt.

– Was können Sie zu Ihrer Vertheidigung vorbringen? mahnte Cimourdain.

Langsam erhob Gauvain das Haupt und antwortete, ohne Jemand anzublicken: Dies Eine: mich hat ein Umstand verhindert, einen anderen in Betracht zu ziehen; eine gute That, allzusehr in der Nähe beschaut, hat mir hundert Missethaten verdeckt; ein Greis einerseits und andererseits die Kinder, das Alles hat sich zwischen mich und meine Pflicht gedrängt. Ich habe die eingeäscherten Dörfer vergessen, die verwüsteten Felder, die erschossenen Gefangenen, die niedergemachten Verwundeten, die hingerichteten Weiber, habe das an England verrathene Frankreich vergessen und den Mörder des Vaterlandes in Freiheit gesetzt. Ich bin schuldig. Indem ich also spreche, könnte man vielleicht glauben, ich spräche gegen mein Interesse, aber das wäre ein Irrthum: ich rede mir selber das Wort, denn wenn der Schuldige seine Schuld erkennt, so rettet er das Einzige, was zu retten sich der Mühe verlohnt, die Ehre.

– Ist das Alles, was Sie zu Ihrer Vertheidigung zu sagen haben? fragte Cimourdain.

– Ich füge noch hinzu, daß, wie mir als dem Kommandanten obgelegen hätte, mit gutem Beispiel voranzugehen, Ihnen als den Richtern jetzt ein gleiches obliegt.

– Worin soll das gute Beispiel bestehen?

– In meinem Tod.

– Sie finden ihn also gerechtfertigt?

– Und nothwendig.

– Setzen Sie sich.

Nun erhob sich der Fourier und verlas in seiner Eigenschaft als Auditor erstens den Beschluß, der den vormaligen Marquis von Lantenac in die Acht erklärte, zweitens die Verordnung des Konvents, welcher über Jeden die Todesstrafe verhängte, welcher einem gefangenen Rebellen zur Flucht verhelfen würde, und schloß mit den der Verordnung beigefügten wenigen Zeilen, durch welche, gleichfalls bei Todesstrafe, strengstens verboten wurde, dem obengenannten Rebellen Beistand und Vorschub zu leisten, und welche die Unterschrift trugen: »Der Kommandant der Streifkolonne, Gauvain.«

Nachdem dies geschehen, setzte sich der Auditor wieder. Cimourdain schlug die Arme über einander und sagte: Angeklagter, merken Sie wohl auf, und Ihr Anwesenden hört, schaut und schweigt. Jetzt waltet das Gesetz. Ich lasse abstimmen. Die einfache Majorität soll entscheiden. Der Reihe nach und in Gegenwart des Angeklagten, denn die Gerechtigkeit hat nichts zu verheimlichen, werden die Richter ihr Urtheil fällen. Ich ertheile dem ersten Richter das Wort; Hauptmann Guéchamp, reden Sie.

Der Hauptmann Guéchamp schien weder Cimourdain noch Gauvain zu sehen; seine gesenkten Wimpern versteckten seine unbeweglichen Augen, die zu dem Plakat des Konvents hinüberstarrten, als starrten sie in einen Abgrund: Der Wortlaut des Gesetzes, sagte er, ist klar. Ein Richter aber ist mehr und weniger als ein Mensch, weniger, denn er darf kein Herz haben, und mehr, denn er führt das Schwert. Im Jahr 414 der römischen Zeitrechnung ließ Manlius seinen eigenen Sohn das Verbrechen, ohne seinen Befehl gesiegt zu haben, mit dem Leben büßen. Die verletzte Disziplin erheischte diese Sühne. Im vorliegenden Fall nun ist das Gesetz verletzt worden und das Gesetz steht noch über der Disziplin. Das Vaterland schwebt in Folge einer Anwandlung von Mitleid wieder in Gefahr. Auch das Mitleid kann zum Verbrechen anwachsen. Der Kommandant Gauvain hat dem Rebellen Lantenac zur Flucht verholfen. Gauvain ist schuldig. Ich stimme für Todesstrafe.

– Schriftführer, sagte Cimourdain, nehmen Sie zu Protokoll: »Hauptmann Guéchamp Todesstrafe.«

Während der Korporal schrieb, erhob Gauvain die Stimme und sprach: Sie haben ein gerechtes Urtheil gefällt, Guéchamp, und ich danke Ihnen dafür.

– Jetzt hat der zweite Richter das Wort, begann wieder Cimourdain. Reden Sie, Sergeant Radoub.

0351

Radoub stand auf und wendete sich gegen Gauvain.

Radoub stand auf, wendete sich gegen Gauvain und machte vor dem Angeklagten die Honneurs; dann rief er: Ja, wenn das so ist, so köpft mich mit, denn hier lege ich bei allen Himmeldonnerwettern mein heiligstes Ehrenwort darauf ab, ich möchte gehandelt haben erstens wie der Alte und zweitens wie mein Kommandant. Als ich sah, wie sich der achtzigjährige Patron ins Feuer warf, um die drei Thierchen zu retten, da habe ich gesagt: Weißkopf, Du bist ein braver Kerl! Und wenn ich jetzt erfahre, daß durch meinen Kommandanten der Alte Eurer dummen Guillotine aus dem Rachen gerissen worden ist, Gott verdamm mich, da muß ich sagen: Kommandant, Sie sollten mein General sein, denn Sie sind ein ganzer Mann, und hol mich der Teufel! Ihnen würde ich das Ludwigskreuz anhängen, wenn es noch Kreuze und heilige Ludwige und dergleichen gäbe. Ja Wetter! Soll etwa von nun an der höhere Blödsinn Trumpf sein? Wenn dafür die Schlacht von Valmy und die Schlacht von Jemappes und die Schlacht von Fleurus und die Schlacht von Wattignies gewonnen worden sind, so muß man’s nur gleich heraussagen. Wie! da ist der Kommandant Gauvain, der seit vier Monaten all die royalistischen Kaffern nach Noten zu Paaren treibt und der die Republik mit seinem Säbel aus dem Gedränge heraushaut und der das Dol ins Werk gesetzt hat, wozu doch wahrhaftig eine gewisse Pfiffigkeit gehörte, und wenn man einmal einen solchen Mann hat, so giebt man sich alle Mühe, ihn wieder loszuwerden, und will ihm, anstatt ihn zum General avanciren zu lassen, gar noch die Gurgel abschneiden? Da möchte man doch gleich kopfüber über das Geländer vom Pont-Neuf springen; Ihnen aber, Bürger Gauvain, meinem Kommandanten, sage ich, daß, wenn Sie, anstatt mein General zu sein, mein Korporal wären, ich Ihnen sagen würde, daß Sie vorhin strohdummes Zeug gesagt haben. Der Alte hat wohl daran gethan, die Kinder zu retten; Sie haben wohl daran gethan, den Alten zu retten; und wenn man die Leute für jede gute That guillotinirt, dann soll das Donnerwetter dreinfahren; dann weiß ich nicht mehr, was die Uhr geschlagen hat, dann sehe ich nicht ein, wo man aufhören soll. Ja, ist das Alles denn auch wirklich wahr? Man muß sich wirklich zwicken, um zu sehen, daß man nicht träumt. Mir steht der Verstand still. Hätte vielleicht der Alte die kleinen Dinger bei lebendigem Leibe verbrennen und mein Kommandant dem Alten den Hals entzweischneiden lassen sollen? Nun gut, schneidet den Hals auch mir entzwei; mir kann es schon recht sein. Noch Eins: nehmen wir an, die Kleinen wären umgekommen, so war das Bataillon Bonnet-Rouge entehrt. Wäre das etwa in der Ordnung gewesen? Nun dann fressen wir einander nur gleich auf dem Kraut! In der Politik weiß ich ebenso gut Bescheid wie Sie Alle und habe oft genug im Klub vom Bezirk Les Piques gesessen. Hol es der Teufel! Wir gehen nachgerade den Krebsgang. Kurzum, mir ist Alles zuwider, was den Nachtheil hat, zu bewirken, daß man sich schließlich garnicht mehr zurechtfinden kann. Warum, zum Henker, lassen wir uns denn umbringen? Damit man uns unseren Kommandanten umbringt? Nichts da, Frau Tante. Meinen Kommandanten will ich zurückhaben; ich muß ihn haben meinen Kommandanten; heute gefällt er mir noch immer besser als gestern. Den auf die Guillotine schicken – lächerbar! Von dem Allem wollen wir ein für allemal nichts wissen; ich habe herumgehorcht, und was auch gesagt werden mag, Punktum, aus der Geschichte wird nichts.

Und Radoub setzte sich. Seine Wunde hatte sich wieder geöffnet und von der Stelle, wo ihm das Ohr abgeschossen worden, rann ihm das Blut tropfenweise durch die Binde am Hals herab.

– Sie stimmen also für Freisprechung des Angeklagten? fragte ihn Cimourdain.

– Ich stimme dafür, daß er zum General ernannt werde, antwortete Radoub.

– Ich will wissen, ob Sie für seine Freisprechung stimmen?

– Ich stimme für seine Ernennung zum obersten Posten der Republik.

– Sergeant Radoub, stimmen Sie, Ja oder Nein, für Freisprechung des Kommandanten Gauvain?

– Ich stimme dafür, daß man mir an seiner Stelle den Kopf abschneide.

– Freisprechung, sagte Cimourdain. Schriftführer, nehmen Sie zu Protokoll: »Sergeant Radoub Freisprechung.«

Nachdem der Korporal geschrieben, bemerkte er: Die Stimmen sind also getheilt.

Nun kam die Reihe an Cimourdain. Er stand auf, nahm seinen Hut ab und legte ihn auf den Tisch. Er war weder bleich noch fahl mehr; sein Gesicht war erdfarbig geworden. Wenn alle Anwesenden in Leichentüchern da gelegen hätten, es hätte keine tiefere Stille geherrscht als jetzt. Mit feierlicher, gedehnter und fester Stimme sagte Cimourdain: Angeklagter, die Verhandlung ist geschlossen. Im Namen der Republik und mit zwei Stimmen gegen eine …

Er stockte und hielt inne; zauderte er, sich für den Tod, oder zauderte er, sich für das Leben zu erklären? Alles stand athemlos. Jetzt fuhr er fort: Verurtheilt Sie das Kriegsgericht zum Tod.

Auf Cimourdain’s Gesicht malte sich die Marterqual des düsteren Triumphes. Als Jakob sich durch den Engel, den er in der Finsterniß überwunden hatte, segnen ließ, zuckte wohl solch ein entsetzliches Lächeln über sein Antlitz. Nur dies eine flüchtige Aufblitzen und Cimourdain’s Züge erstarrten wieder zu Marmor; er setzte sich, bedeckte sich und fügte hinzu:

– Gauvain, die Hinrichtung wird morgen bei Sonnenaufgang vollzogen.

Gauvain erhob sich, grüßte und entgegnete: Ich spreche dem Gerichtshof meinen Dank aus.

– Man führe den Verurtheilten zurück, befahl Cimourdain. Auf seinen Wink hin that sich die Kerkerthür wieder auf; Gauvain trat ein und die Thür ging zu. Die Gensdarmen blieben mit blankem Säbel rechts und links als Schildwachen davor stehen. Radoub wurde ohnmächtig fortgetragen.

IV.

Nach dem Richter Cimourdain Cimourdain der Gebieter

Ein Lager ist ein Wespennest, zumal in Revolutionszeiten. Gern und rasch tritt der dem Soldaten innewohnende Stachel des Bürgersinns hervor und trägt kein Bedenken, sich, nachdem der Feind verjagt worden, am eigenen Anführer zu vergreifen. Im Hin- und Hersummen der tapferen Schaar, die La Tourgue eingenommen hatte, machten sich verschiedene Strömungen geltend; die erste richtete sich gegen den Kommandanten Gauvain, als Lantenac’s Flucht bekannt wurde. Der Augenblick, da man Gauvain aus dem Kerker treten sah, in dem man den Marquis festzuhalten glaubte, wirkte wie ein elektrischer Funke, denn im Nu hatte sich im ganzen Lager die Nachricht davon verbreitet und durch das kleine Heer zog ein brummend Geflüster: Jetzt gehen sie mit Gauvain wohl ins Gericht, aber sie machen uns nur blauen Dunst vor. Da traue Einer den Junkern und Pfaffen! Erst haben wir gesehen, wie ein Vikomte einem Marquis das Leben gerettet hat, und nun werden wir sehen, wie der Priester den Vikomte freispricht. Als man aber Gauvain’s Verurtheilung erfuhr, erhob sich ein anderes Murren. Das ist doch etwas stark! Unser Chef, unser wackerer Chef, unser junger Kommandant, ein Held! Er ist Vikomte, allerdings; aber deshalb sind seine Verdienste um die Republik gerade um so höher anzuschlagen. Was? ihn, den Befreier von Pontorson, von Villedieu, von Pont-au-Beau, den Sieger von Dol und von La Tourgue, den Mann, dem wir unsere Unüberwindlichkeit verdanken, den rechten Arm der Republik in der Vendée, den Feldherrn, der seit fünf Monaten die Chouans in Schach hält und alle Böcke von Léchelle und Konsorten wieder gut macht, den wagt dieser Cimourdain zum Tode zu verurtheilen? Und warum? Weil er einen Greis rettete, der drei Kinder gerettet hat? Ein Soldat, der von Priesterhand fällt, ist das nicht unerhört?

In diesen und ähnlichen Worten machte sich der Mißmuth der siegreichen und unzufriedenen Truppe Luft. Cimourdain war von einem finstern Grollen umgeben. Viertausend Mann gegen einen einzigen, man sollte meinen, das sei ein wirksames Gegengewicht, aber nein: diese Viertausend waren blos eine Menschenmenge, und Cimourdain war ein Wille. Man wußte, daß sich Cimourdain’s Stirn gar leicht in Falten zog, und das genügte, um das Armeekorps in Respekt zu halten. In jenen strengen Zeiten brauchte sich hinter Jemand nur der Schatten des Wohlfahrtsausschusses zu erheben, um ihn bedrohlich erscheinen zu lassen und die Verwünschungen zu einem Gelüster zu dämpfen und das Geflüster zum Schweigen zu bringen. Nach wie vor diesem Gemurmel blieb Cimourdain der unumschränkte Gebieter über Gauvain’s wie über aller Anderen Schicksal. Man wußte, daß man von ihm nichts fordern durfte und daß er lediglich auf die übermenschliche, ihm allein verständliche Stimme seines Gewissens hören werde. Von ihm hing Alles ab. Er allein konnte das Urtheil, das er als Präsident des Kriegsgerichts gefällt hatte, als Zivilkommissär wieder umstoßen. Ihm allein stand das Recht der Begnadigung zu. Kraft seiner unbegrenzten Vollmacht bedurfte es nur eines Winks von ihm, und Gauvain war frei; Cimourdain war der Herr über Leben und Tod; ihm nur gehorchte die Guillotine, und in dieser tragischen Situation war er der Mann der Entscheidung.

Der Tag ging bereits zur Neige. Man konnte nur abwarten, was der nächste Morgen bringen würde.

V.

Im Kerker

Aus dem Gerichtssaal war wieder eine Wachtstube geworden, in welcher wie am Abend zuvor, ein doppelter Posten aufzog, und vor der Kerkerthür schritten zwei Schildwachen auf und nieder.

Gegen Mitternacht kam ein Mann mit einer Laterne in der Hand her, gab sich zu erkennen und ließ sich das Gefängniß aufschließen. Er trat hinein, und die Thür blieb hinter ihm zugelehnt.

Dunkel und still war’s im Kerker. Cimourdain that einen Schritt vorwärts in diese Finsterniß, stellte die Laterne auf den Fußboden hin und blieb unbeweglich. Die gleichmäßigen Athemzüge eines Schlafenden drangen an sein Ohr durch die Schatten der Nacht und sinnend lauschte er dem friedlichen Hauch Gauvain’s, der an der Rückwand des Kerkers auf dem Bündel Stroh in tiefem Schlummer lag. So geräuschlos wie möglich schlich er sich dicht an ihn heran und betrachtete ihn mit einem Blick so zärtlich und so unaussprechlich, wie ihn nur eine Mutter haben kann, wenn sie ihren Säugling anschaut. Dieser Blick war wohl stärker als er, denn er drückte sich, wie oft Kinder thun, beide Fäuste gegen die Augen und rührte sich nicht. Nachdem er eine Weile so gestanden, kniete er nieder, nahm Gauvain’s Hand und führte sie zu seinen Lippen. Gauvain machte eine Bewegung, schlug staunend die Augen auf wie Jeder, der nicht von selber aufwacht, und erkannte beim trüben Schein der Laterne Cimourdain. – Sieh da, sagte er. Sie sind’s, mein Lehrer. Mir träumte, fügte er hinzu, meine Hand küsse den Tod.

Cimourdain empfand jene Erschütterung, mit der uns zuweilen das plötzliche Hervorbrechen einer Gedankenfluth durchzuckt, und diese Fluth geht hier und da so stürmisch hoch, daß sie die Seele zu ertränken droht. Dem tiefsten Herzen Cimourdain’s konnte sich nur ein einziger Laut entringen: Gauvain!

Und beide blickten einander in die Augen, Cimourdain mit jenen Flammen darin, welche die Thränen verbrennen, Gauvain mit seinem sanftesten Lächeln.

– Diese Narbe hier auf Ihrer Stirn, sagte Gauvain, indem er sich auf den Ellenbogen stützte, ist der Säbelhieb, den Sie für mich aufgefangen haben. Gestern noch standen Sie neben mir und mir zulieb im Kugelregen, und wenn die Vorsehung Sie nicht an meine Wiege gestellt hätte, wo wäre ich jetzt? Mitten in Finsternissen. Daß ich jetzt einen Begriff habe von der Pflicht, verdanke ich Ihnen allein, denn in Banden war ich geboren, in Banden des Vorurtheils, und Sie haben mich davon befreit, haben meinem Wachsthum Spielraum gegeben und haben aus etwas, das schon eingepfercht war wie eine Mumie, wieder ein Kind gemacht. In eine Seele, die sonst hätte verkrüppeln müssen, haben Sie ein Gewissen gepflanzt. Ohne Sie hätte ich mich zum Zwerg entwickelt. Durch Sie lebe ich. Ich war nur ein Vikomte und Sie haben mich zum Bürger herangezogen; ich war nur ein Bürger und herangezogen haben Sie mich zu einem Geist; durch Sie bin ich als Mann für die Existenz auf Erden und als Seele für die im Himmel reif geworden. Sie haben mir, um in das Menschliche einzudringen, den Schlüssel der Wahrheit, und um einzudringen ins Übermenschliche, den Schlüssel des Lichts gegeben. O mein Lehrer, wie dank ich Ihnen, daß Sie mein Schöpfer gewesen!

Cimourdain setzte sich neben ihn auf das Strohlager und sagte: Laß uns zu Nacht essen mit einander.

Gauvain brach sein schwarzes Brod und reichte es Cimourdain, der die eine Hälfte davon nahm; dann hielt er ihm den Wasserkrug hin.

– Trink Du zuerst, sagte Cimourdain.

Gauvain gehorchte und gab dann den Krug an Cimourdain. Er hatte blos einen Schluck gethan; Cimourdain hingegen trank in langen Zügen. Ueberhaupt war bei diesem Liebesmahl Gauvain der Hungrige und Cimourdain der Durstige, ein Beweis für die Ruhe des Einen und die fieberhafte Aufregung des Andern.

Nun verbreitete sich in diesem Kerker eine geheimnißvolle Verklärtheit. Die beiden Männer unterhielten sich mit einander:

– Die großen Dinge sind im Werden, sagte Gauvain. Die jetzige Thätigkeit der Revolution ist eine räthselhafte, und hinter dem sichtbaren Werk geht das unsichtbare seinen Gang; das eine verdeckt das andere. Das sichtbare Werk ist grausam, das unsichtbare erhaben. Das Alles leuchtet mir ein in diesem Augenblick. Ein seltsames, herrliches Schauspiel. Freilich hat man sich mit dem vorgefundenen Material behelfen müssen; daher dieses außergewöhnliche 93. Unter einem Gerüst von Barbarei wird der Humanität ein Tempel aufgebaut.

– Jawohl, erwiderte Cimourdain. Aus diesem Uebergangszustand wird sich der endgiltige entwickeln, das heißt ein Parallelismus von Recht und Pflicht, verhältnißmäßig gesteigerte Besteuerung, obligatorischer Kriegsdienst, eine Ausgleichung ohne Ausnahmen, und über Allen und Allem die gerade Linie des Gesetzes, die logische Republik.

– Die ideale Republik, entgegnete Gauvain, wäre mir die liebste. Und nach einer Pause fuhr er fort: O mein Lehrer, wo findet in Allem, was Sie da erwähnt haben, die Hingebung, die Aufopferung, die Selbstverleugnung, die großmüthige Verkettung der wohlwollenden Gefühle, mit einem Wort die Nächstenliebe ihren Platz? Ein allgemeines Gleichgewicht ist viel werth, noch mehr aber die allgemeine Harmonie. Ueber der Wage steht doch noch das Saitenspiel. Durch Ihre Republik wird der Mensch gemessen, eingetheilt, geregelt; meine trägt ihn zum blauen Himmel empor; beide unterscheiden sich gerade so von einander wie ein mathematischer Lehrsatz und ein Adler. – Du verlierst Dich in den Wolken. – Und Sie verlieren sich in der Berechnung. – Diese Harmonie versteigt sich ins Reich der Träume. – Das thut die Algebra auch. – Durch einen Euklid möchte ich den Menschen konstruirt wissen. – Und ich, meinte Gauvain, durch einen Homer.

Cimourdains strenges Lächeln schien Gauvain Halt gebieten zu wollen:

– Dichterphantasten! Durch die Poeten laß Dich nicht bestechen.

– O ich kenne das. Laß Dich durch keinen Lufthauch bestechen, nicht bestechen durch Alles, was strahlt, durch Alles, was duftet, durch die Blumen, durch die Sternbilder. – Von dergleichen läßt sich auch nicht leben. – Wissen Sie das so genau? Auch die Ideen sind in ihrer Art eine Speise; eine Hälfte unseres Wesens nährt sich von Gedanken. – Nur keine Utopien. Die Republik ist ein Einmaleins, und wenn ich Jedem gegeben, was ihm unbedingt zukommt … – Sind Sie Jedem noch das schuldig, was ihm nicht unbedingt zukommt. – Was meinst Du damit? – Damit meine ich die unendliche Reihe von gegenseitigen Konzessionen, zu welchen Alle gegen jeden Einzelnen verpflichtet sind und auf denen das ganze soziale Leben beruht. – Außerhalb des strengbegrenzten Rechts giebt es nichts mehr. – Oder Alles. – Ich sehe nur Eins vor mir, die Gerechtigkeit. – Und ich sehe höher. – Was stände wohl noch über der Gerechtigkeit? – Die Billigkeit.

Zuweilen hielten Beide inne, als folgte ihr Blick einem vorüberschwebenden Leuchten. – Drücke Dich bestimmt aus, hob Cimourdain wieder an; ich wette, Du vermagst es nicht. – Wohlan. Sie erstreben den obligatorischen Kriegsdienst. Gegen wen? Gegen Mitmenschen. Ich strebe ihn nicht an, weil ich den Frieden anstrebe. Sie wollen den Elenden geholfen, ich aber will das Elend abgeschafft wissen. Sie verlangen die fortschreitende Besteuerung; ich bin jeder Besteuerung abgeneigt und möchte die allgemeinen Ausgaben auf ein Minimum zurückführen, das durch den sozialen Ueberschuß gedeckt würde. – Was willst Du damit wieder sagen?

– Weiter nichts, als schafft vor Allem das Berufsparasitenthum ab, den Priester, den Richter, den Soldaten. Beutet ferner Eure Reichthümer aus; leitet den Dünger statt in die Kloake auf die Felder; drei Viertel des Bodens liegen brach; macht Frankreich einmal urbar; bebaut die nutzlosen Triften; vertheilt die Gemeindegründe; gebt jedem Menschen einen Acker und jedem Acker einen Menschen. Im Augenblick, wo wir sprechen, gewinnt der französische Bauer der Erde nur die Möglichkeit ab, sich vier Mal des Jahres mit Fleisch zu nähren, und dieselbe Erde könnte, bei einer praktischeren Verwendung, dreihundert Millionen Menschen, ja ganz Europa erhalten. Zieht doch Nutzen aus der urkräftigen, unbeachteten Bundesgenossin, aus der Natur. Macht Euch jeden Windhauch dienstbar, jeden Wasserfall, jede magnetische Strömung. Unser Planet ist von einem Netz von unterirdischen Adern durchwoben, und in diesen Adern fließt Wasser, Oel und Feuer die Menge; diese Adern schneidet auf und verwerthet das Wasser für Eure Brunnen, das Oel für Eure Lampen, das Feuer für Euren Herd. Vertieft Euch in die Schwankungen der Wellen, in die Ebbe und die Fluth, in dieses gewaltige Hin- und Herwogen. Was ist der Ozean Anderes als eine ungeheure verlorene Kraft? Wie thöricht ist es doch von der Erde, daß sie das Meer nicht für sich arbeiten läßt! – Da segelst Du schon mitten im Traum. – Das heißt mitten in der Wirklichkeit.

– Und das Weib, fuhr Gauvain fort, was macht Ihr aus dem? – Was es ist, antwortete Cimourdain, die dienende Gefährtin des Mannes.

– Einverstanden, aber unter einer Bedingung. – Welche? – Daß der Mann seinerseits der dienende Gefährte sei des Weibes.

– Bist Du bei Sinnen? rief Cimourdain; der Mann und dienen? Nimmermehr. Der Mann ist der Herr; ich erkenne nur eine Oberherrschaft an, die am häuslichen Herd; dort ist der Mann ein König. – Einverstanden, aber unter einer Bedingung. – Und die wäre? – Daß die Frau dort eine Königin sei. – Du begehrst also für den Mann und für das Weib… – Gleichberechtigung. – Gleichberechtigung? Weißt Du denn auch, was Du sprichst? Zwei grundverschiedene Wesen! – Darum habe ich Gleichberechtigung gesagt, nicht absolute Gleichheit.

Wieder entstand eine Pause, etwas wie eine Waffenruhe für diese zwei aufeinanderblitzenden Geister; dann brach Cimourdain das Schweigen: Und das Kind, wem gehört das? – Zuerst dem Vater, der es zeugt, dann der Mutter, die es zur Welt bringt, dann dem Lehrer, der es unterrichtet, dann der Heimath, die es zum Mann erzieht, dann der Mutter im höheren Sinn, dem Vaterland, und endlich der Mutter im allerhöchsten Sinn, der Menschheit. – Und Gott übergehst Du? – Jede dieser Bildungsstufen, Vater, Mutter, Lehrer, Heimath, Vaterland, Menschheit ist ja eine Sprosse der Himmelsleiter, die zu ihm emporsteigt.

Cimourdain verstummte und Gauvain setzte hinzu: Wer die letzte Sprosse erreicht hat, ist bei der Gottheit angelangt, die sich dann vor ihm aufthut und ihn in sich aufnimmt.

Cimourdain machte die Geberde, mit der man einen Andern aus der Ferne zu sich nimmt: Kehre auf die Erde zurück, Gauvain. Das Mögliche wollen wir verwirklichen. – Drum sorgt vor Allem dafür, daß es unten Euren Händen nicht zum Unmöglichen werde. – Verwirklichen läßt sich das Mögliche immer. – Immer nicht. Wenn man mit der Hoffnung zu derb umgeht, so tödtet man sie. Nichts ist wehrloser als das werdende Ei. – Aber man muß die Hoffnung immerhin anfassen und sie durch das kaudinische Joch der Wirklichkeit treiben und dem Rahmen der Thatsachen anbequemen. Der abstrakte Begriff muß zu Fleisch und Blut werden; was er an Schönheit und Größe einbüßt, gewinnt er dafür an Nützlichkeit und an Gehalt. Das Recht muß sich in das Gesetz hineinzwängen, und ist dies einmal geschehen, dann wohnen auch dem Gesetz die ewigen Eigenschaften des Rechts inne, und dann ist das erreicht, was ich das Mögliche nenne. – Das Mögliche reicht auch weiter. – So, nun ergehst Du Dich schon wieder in Träumen. – Das Möglichste ist ein geheimnißvoller Adler, der stets über den Menschen kreist. – Diesen Adler muß man einfangen. – Aber lebendig. Ich denke so, fuhr Gauvain fort: Nur immer voran. Wenn Gott gewollt hätte, daß der Mensch zurückschreite, hätte er ihm die Augen nicht vorn in den Kopf gesetzt. Richten wir nur immer den Blick dem Morgenroth, dem Aufblühen, dem Werden zu. Jedes Abfallen bedingt ein Hervorkeimen, und das Aechzen des absterbenden Baumes ruft dem Samenkorn entgegen: Sprieß auf! Jedes Jahrhundert wird sein Werk vollbringen, heute noch das staatliche, morgen das allgemein menschliche. Heute handelt es sich um das Recht; morgen wird sich’s um den Lohn handeln. Lohn und Recht sind im Grunde genommen eins. Der Mensch lebt nicht, um leer auszugehen, denn indem Gott Leben schafft, übernimmt er eine Verpflichtung; das Recht ist der angeborene Lohn und der Lohn das zur Geltung gekommene Recht.

Gauvain sprach mit der Innigkeit eines Propheten und Cimourdain lauschte; die Rollen waren vertauscht; jetzt schien der Schüler der Lehrer zu sein.

– Deine Gedanken fliegen rasch, murmelte Cimourdain. – Weil ich wohl etwas eilen muß, sagte Gauvain mit einem Lächeln. – Mein theurer Lehrer, begann er wieder, der Unterschied zwischen unseren beiden Träumen liegt darin, daß Ihnen die obligatorische Kaserne, mir die Schule vorschwebt; Ihr Ziel ist der Soldat und meines ist der Bürger; Sie streben den furchteinflößenden Menschen an, ich den sinnenden; Sie gründen die Republik des Schwertes; ich gründe …. Das heißt, unterbrach er sich, gründen würde ich eine Republik der Geister.

Cimourdain senkte den Blick auf die Steinplatten des Kerkers und sagte: Und bis dahin, was willst Du haben? – Was schon ist. – Du klagst also die Gegenwart nicht an? – Nein. – Weshalb nicht? – Weil sie ein Sturm ist und ein Sturm immer weiß, was er thut; für einen Eichbaum, den er entwurzelt, braust er vielen Wäldern ein frischeres Leben zu. Die menschliche Kultur litt an einer Pest und dieser Orkan befreit sie davon. Vielleicht ist er nicht wählerisch genug, aber wie wäre das auch möglich bei einer solchen Reinigungsaufgabe? Von so verderblichen Dünsten ist die Luft geschwängert, daß ich die Wuth der Windsbraut wohl begreife. Uebrigens, fuhr Gauvain fort, was kümmert mich der Sturm, wenn ich einen Kompaß, was kümmern mich die Ereignisse, wenn ich mein Gewissen habe! Und mit jener gedämpften Stimme, die oft die feierlichste ist, setzte er hinzu: Es lebt Jemand, den man unter allen Umständen walten lassen soll. – Wer? fragte Cimourdain. Gauvain deutete nach oben, und Cimourdain, dessen Blick die Richtung des erhobenen Fingers verfolgte, glaubte durch das Gewölbe des Kerkers hindurch den Sternenhimmel leuchten zu sehen.

Abermals schwiegen Beide.

– Was Du herbeisehnst, begann dann Cimourdain, ist größer, als es die Natur zuläßt. Ich wiederhole es: Du greifst über das Mögliche hinaus; das sind Utopien. – Nein, das ist der Endzweck. Wenn nicht, wozu das gesellschaftliche Zusammenleben? Warum dann nicht ganz bei der Natur bleiben, im Zustand der Wildheit? Otahiti ist ein Paradies, aber ein Paradies, in dem nicht gedacht wird, und solch einem stumpfsinnigen Paradies würde ich eine geistig thätige Hölle noch vorziehen. Doch nein, fern sei uns auch solch eine Hölle! Lassen Sie uns eine menschliche Gesellschaft werden, die über die Schranken der Natur hinauswächst! Wenn zum Naturzustand nichts Weiteres hinzukommen sollte, weshalb aus ihm heraustreten? Dann begnügt Euch mit der Arbeit wie die Ameise und mit dem Honig wie die Biene und entscheidet Euch für die fleißige Thierheit statt für die gebietende Intelligenz. Sobald Ihr der Natur etwas beifügt, werdet Ihr nothwendigerweise größer als sie, denn beifügen heißt mehren und mehren heißt vergrößern. Die Gesellschaft ist die sublimirte Natur und ich beanspruche für sie Alles, was dem Bienenkorb, Alles, was dem Ameisenhaufen fehlt, die Prachtbauten, die Künste, die Poesie, die Helden der That und die Helden des Gedankens. Der Mensch kann unmöglich dazu verurtheilt sein, ewig Lasten zu tragen. Nein, nein, fort mit den Parias, mit den Sklaven, mit den Galeerenruderern, mit den Verdammten! Jedes Attribut des Menschen sei ein Sinnbild der höhern Kultur und ein Gefäß des Fortschritts! Freiheit für die Geister, Gleichheit für die Herzen, Verbrüderung für die Seelen! Kein Joch mehr, nein! Um Schwingen auszubreiten und nicht um Ketten zu schleppen sind wir geschaffen. Darum nicht weiter gekrochen am Boden! Ich verlange, daß sich die Larve zum Schmetterling verkläre, daß sich der Wurm in eine lebendige, davonstiegende Blume verwandle, verlange….

Er hielt inne. Sein Auge glühte; seine Lippen bewegten sich noch, aber er sprach nicht mehr.

Durch die nur angelehnte Thür drang das Geräusch der Außenwelt bis in den Kerker. Erst vernahm man gedämpfte Trompetenklänge, wahrscheinlich die Reveille, dann das Dröhnen von Gewehrkolben: draußen wurden die Schildwachen abgelöst; und endlich entstand, ziemlich nah beim Thurm, eine Bewegung, die man, soweit man sich in der Dunkelheit davon Rechenschaft zu geben vermochte, für ein Hin- und Herschieben von Brettern halten konnte, welches von regelmäßigen dumpfen Hammerschlägen begleitet war.

Cimourdain erblaßte und lauschte hin, aber Gauvain sah und hörte nicht. Immer tiefer war er in seine Träumerei versunken. Er schien nicht einmal mehr zu athmen, so war er in den Anblick dessen verloren, was aus der visionenerfüllten Wölbung seiner Stirn vor ihm aufstieg. Zuweilen durchzuckte ihn ein seliges Aufschauern und immer glänzender strahlte das Morgenleuchten seines Auges.

Nachdem die Beiden geraume Zeit stumm dagesessen, fragte Cimourdain: Woran denkst Du?

– An die Zukunft, sagte Gauvain und sank in seine Betrachtungen zurück. Er bemerkte nicht, daß Cimourdain sich vom Strohlager erhob, auf das dieser sich neben ihm niedergelassen hatte; Cimourdain aber bewegte sich rücklings, den Blick bis zu Ende auf den sinnenden Jüngling zärtlich geheftet, langsamen Schritts der Thür zu und entfernte sich so aus dem Kerker, der gleich darauf wieder geschlossen wurde.

VI.

Bei Sonnenaufgang

Es dauerte nicht mehr lange, so graute der Morgen und mit dem Morgengrauen tauchte über dem Wald von Fougères, auf dem Plateau vor La Tourgue, etwas Seltsames, Unbewegliches, Befremdendes auf, das die Vögel des Himmels hier noch nie gesehen hatten. Es war über Nacht aufgebaut oder besser aufgepflanzt worden und sein Profil hob sich vom Horizont in lauter harten, geraden Linien ab, die an die Form eines hebräischen Buchstabens oder einer Hieroglyphe aus dem alten egyptischen Räthselalphabet erinnerten. Der erste Begriff, den dieses Ding im Beschauer weckte, war der der Zwecklosigkeit. Man fragte sich, wozu es dort auf jener Fläche von glühendem Haidekraut stand. Dann aber überlief Einen ein Schauder. Man hatte ein auf vier Posten ruhendes Podium vor sich. An dem einen Ende dieses Podiums ragten zwei lange Pfähle hoch aufgerichtet in die Luft und an dem Querbalken, der sie oben mit einander verband, hing ein rechtwinkeliges Dreieck, das im blauen Morgenhimmel schwarz erschien. Am anderen Ende war eine Leiter angebracht. Am Podium zwischen den beiden Pfählen, also unter dem Dreieck, gewahrte man eine Art Riegelwand, aus zwei beweglichen Hälften bestehend, die zusammen, wenn die obere auf der unteren ruhte, ein rundes, dem Umfang eines menschlichen Halses so ziemlich entsprechendes Loch bildeten. Die obere Hälfte griff rechts und links in eine Fuge an die Pfähle ein und konnte so hinaufgezogen und heruntergelassen werden. Dermalen waren die beiden Hälften mit ihren halbkreisförmigen Einschnitten von einander getrennt. Am Fuß der zwei Pfähle mit dem Dreieck bemerkte man ferner ein Brett mit Scharnieren, das sich schaukelförmig heben und senken ließ. Neben diesem Brett stand ein langer und zwischen den beiden Pfählen, gegen den Rand des Podiums zu, ein viereckiger Korb. Das Ganze war, mit Ausnahme des eisernen Dreiecks, von Holz und roth angestrichen. Man sah ihm an, daß es von Menschenhand gezimmert worden, so häßlich, kleinlich und armselig war es, und dennoch schaute es so entsetzlich drein, daß es verdient hätte, durch Rachegenien hergetragen worden zu sein. Dies ungestaltete Balkenwerk war die Guillotine. Ihr hart gegenüber ragte aus der Schlucht ein anderes Ungeheuer, La Tourgue; das steinerne Ungeheuer bildete die Folie zum hölzernen. Es läßt sich fast behaupten, daß Holz und Stein, wenn vom Menschen einmal gestaltet, aufhören, Holz und Stein zu sein und etwas vom Wesen ihrer Bearbeiter annehmen. Ein Gebäude ist zugleich auch ein Grundsatz und eine Maschine eine Idee. La Tourgue war jenes verhängnißvolle Ergebniß der Vergangenheit, welches in Paris die Bastille hieß, in England der Londoner Tower, in Deutschland der Spielberg, in Spanien das Eskurial, zu Moskau der Kreml und das Kastell Sant‘-Angelo zu Rom. In La Tourgue hatten sich fünfzehnhundert Jahre zusammengedrängt, das ganze feudale Mittelalter mit seinem Lehenswesen und seiner Leibeigenschaft; in der Guillotine verkörperte sich das eine Jahr 93, und diese zwölf Monate hielten jenen fünfzehn Jahrhunderten die Wage. La Tourgue war die Monarchie; die Guillotine war die Revolution. Welch tragisches Gegenüber! Auf der einen Seite die Schuld, auf der anderen die Verfallzeit, hier die unentwirrbare soziale Verwickelung, Hörige und Herren, Sklaven und Gebieter, Bürgerthum und Adel, eine Unmasse von Gesetzbüchern, jedes abgezweigt in eine andere Unmasse Gewohnheitsrechte, das Bündniß des Richters und des Priesters, die zahllosen Unterbindungen aller Lebensadern, der Fiskus, die Salz- und Kopfsteuer, die todte Hand, die Ausnahmestellungen, die Privilegien, der königliche Vorbehalt des Bankrotts, das Szepter, der Thron, die Willkür, das Gottesgnadenthum; dort ein einfaches Fallbeil. Dem Knoten gegenüber das Schwert. Wie lange hatte La Tourgue in dieser Einsamkeit gebieterisch gewaltet! Da stand es noch mit seinen Mauervorsprüngen, aus denen einst siedendes Oel und brennendes Pech und geschmolzenes Blei hinabströmte, mit seinem Verließ voll Gebeinen, mit seiner Folterkammer, mit der ungeheuren Tragik seines Vorlebens, eine unselige Gestalt, die im Schatten dieses von ihr beherrschten Waldes fünfzehn Jahrhunderte wilder Ruhe genossen; für die ganze Umgegend war dieser Thurm die einzige Macht, die einzige Respektsperson, der einzige Schrecken gewesen; er hatte regiert, barbarisch und unumschränkt, und sah nun plötzlich etwas, nein mehr als etwas, Jemand vor sich und gegen sich aufstehen, der ebenso gräßlich war, die Guillotine. Dem Stein scheint zuweilen ein räthselhaftes Schauen innezuwohnen, als könne die Statue beobachten, der Thurm lauern, der Palast betrachten. So war es jetzt auch, als ob La Tourgue, die Guillotine mit den Augen verschlingend, an sich selber die Frage richte, was das sei. Jenes Etwas schien aus der Erde herausgewachsen zu sein, und so verhielt es sich auch in der That; aus dieser verhängnißvollen Erde war ein verhängnißvoller Baum aufgeschossen; aus diesem Boden, den so viel Schweiß, so viele Thränen, so viel Blut gedüngt hatte, aus diesem Boden, in den so viele Gruben und Gräber, Höhlen und Fallen gegraben worden, aus diesem Boden, in dem alle Opfergattungen jeder Gattung von Tyrannei moderten, aus diesem Boden, der auf so vielen Abgründen lag und in den so manche Unthaten wie ebensoviel fruchtbare Samenkörner versenkt waren, aus diesem tiefdurchfurchten Boden war zur gegebenen Stunde jene unbekannte Rächerin, jene blutdürstige schwertführende Maschine emporgestiegen, und 93 hatte zu der alten Welt gesagt: Da bin ich. Mit vollem Recht konnte die Guillotine dem Thurm zurufen: Ich bin Deine Tochter. Und der Thurm seinerseits fühlte – denn dergleichen lebt ein dunkles Räthselleben –, daß ihm diese seine Tochter das Leben nahm. Wie verstört blickte er zu der drohenden Erscheinung hinüber, man hätte fast meinen können, er fürchte sich davor. Seine ungeheuerliche Granitmasse war in ihrer majestätischen Verruchtheit durch jene zwei Balken mit dem Dreieck überboten und mit Abscheu bebte die gestürzte vor der neueingesetzten Allmacht zurück. Die Kriminalgeschichte und die Geschichte der Feudaljustiz starrten einander an. Die Gewaltthätigkeit von ehemals verglich sich mit der jetzigen und die alte Festung, das alte Gefängniß, die alte Herrenburg, die einst vom Geheul entzweigerissener armer Sünder widerhallte, der kampfunfähig und nutzlos gewordene, geschändete, entwaffnete, seiner Krone beraubte Krieg- und Mordbau, dieser Steinhaufen, der nun gerade so viel werth war wie ein Häuflein Asche, dieser abscheuliche, imponirende Leichnam, in dem noch die Seelenschwingungen greuelvoller Jahrhunderte nachzitterten, sah jetzt mit Grauen die gegenwärtige Stunde an sich vorüberziehen. Dem Gestern schauderte vor dem Heute; die alte Grausamkeit erkannte und erduldete das Entsetzen der Neuzeit; das schon ins Nichts Hinschwindende riß vor dem Werkzeug der Schreckenstage seine Geisteraugen auf und das Phantom betrachtete das Gespenst.

Die Natur ist unbarmherzig; sie übt die Gnade nicht, vor den menschlichen Freveln mit ihren Blumen, ihrem Wohllaut, ihren Strahlen und Düften zurückzuhalten, und erdrückt den Menschen lieber unter dem Kontrast ihrer göttlichen Pracht und seiner sozialen Häßlichkeit; sie erläßt ihm auch nicht einen Schmetterlingsflügel, auch nicht einen Vogeltriller; mitten im Mord, mitten in der Rache, mitten in der Barbarei, muß er den Anblick der heiligen Dinge ertragen und darf sich nicht dem unendlichen Vorwurf der allgemeinen Milde und dem unerbittlich heitern Blau des Himmels entziehen.

Mitten im blendenden Glanz der Ewigkeit muß die Mißgestalt der menschlichen Satzungen sich in ihrer ganzen Nacktheit bloßstellen. Der Mensch zerbricht und zermalmt; der Mensch zerstört und tödtet, aber der Sommer bleibt der Sommer, die Lilie bleibt Lilie, das Gestirn Gestirn.

Nie war die frische Morgensonne lieblicher aufgegangen als an diesem Tag. Ein lauer Wind wiegte die Grashalmen hin und her; weich schmiegten sich Dunstflocken durch die Zweige und ganz durchweht vom Athemhauch der Quellen dampfte der Wald von Fougères wie ein großer duftender Altar. Das blaue Firmament, die weißen Wolken, das klare, durchsichtige Wasser, das Grün der Blätter, jene harmonische Farbentonleiter, die vom Aquamarin aufsteigt bis zum Smaragd, die brüderlichen Baumgruppen, die Rasenteppiche, die tiefgedehnten Landflächen, das Ganze war von jener Reinheit durchdrungen, mit der die Natur dem Menschen von Ewigkeit her ins Gewissen redet. Und unter dem Allem machte sich des Menschen verruchtes Treiben schamlos breit; aus dem Allem erhoben sich die Festung und das Schaffot, der Krieg und das Hochgericht, die Verkörperungen des blutgierigen Zeitalters und der blutigen Minute, die Nachteule der Vergangenheit und die Fledermaus der Zukunftsdämmerung. Der leuchtende Himmel aber, der im Angesicht der blühenden, duftenden, liebenden und liebenswerthen Schöpfung auch La Tourgue und die Guillotine in Morgenstrahlen badete, schien den Menschen zu sagen: Da seht, was ich thue und was Ihr thut. So kann ein gewaltiger Mahnruf oft hervorklingen aus dem Licht der Sonne.

Dieses Schauspiel hatte zahlreiche Zuschauer. Die viertausend Mann der kleinen Expeditionsarmee standen in Schlachtordnung auf dem Plateau, zu drei Seiten der Guillotine, um die sie, um uns bildlich auszudrücken, die Figur eines lateinischen großen E beschrieben, in dessen längerer Linie die Batterie die Mitte einnahm. Die rothe Maschine war zwischen den drei Fronten, diesen Mauern von Soldaten, die sich zu zwei Seiten bis zum Rande des Plateaus ausdehnten, wie eingesperrt; nur die vierte Seite, die der Schlucht und dem Thurm zugekehrte, war frei. Das Ganze bildete also ein längliches Viereck, in dessen Zentrum sich das Schaffot erhob. Je höher die Sonne stieg, desto mehr verkürzte sich der Schatten, den die Guillotine warf. Die Kanoniere standen mit glimmender Lunte bei ihren Geschützen. Aus der Schlucht qualmte ein sanfter bläulicher Rauch, das letzte Lebenszeichen der hinsterbenden Feuersbrunst. Dieser Rauch umschwamm, ohne ihn jedoch zu verschleiern, den Thurm von La Tourgue, dessen ragende Plattform den ganzen Horizont beherrschte. Plattform und Guillotine waren nur durch die Breite der Schlucht von einander getrennt, so daß man hüben und drüben mit einander sprechen konnte. Auf diese Plattform hatte man den Gerichtstisch und den Sessel mit den dreifarbigen Fahnen geschafft und am immer sonnigeren Hintergrund hob sich die Steinmasse der Festung und oben drüber auf dem Präsidentenstuhl und unter den Trikoloren die Gestalt eines mit verschränkten Armen dasitzenden Mannes schwarz ab, Cimourdain’s Gestalt. Er war wie am Abend zuvor als Zivilkommissar gekleidet und trug den Hut mit dreifarbigem Federbusch, an der Seite einen Säbel und im Gürtel seine Pistolen. Er schwieg. Es schwieg Alles. Mit gesenktem Blick standen die Soldaten Gewehr bei Fuß, so dicht neben einander, daß sie einander mit den Ellenbogen berührten, aber dennoch flüsterte keiner mit seinem Nebenmann. In dumpfem Hinbrüten ließen sie diesen ganzen Krieg vor ihrem Geist vorüberziehen mit all seinen Kämpfen, mit den kugelsprühenden Hecken, die sie so muthig angriffen, mit den Schwärmen von anstürmenden Bauern, die ihre Tapferkeit zurückgeworfen, mit den eroberten Festungen, den gewonnenen Schlachten, den Triumphen allen, und jetzt ward ihnen, als verkehre sich in Schande ihr ganzer Ruhm. Eine düstere Erwartung schnürte jede Brust zusammen. Auf der Plattform der Guillotine sah man im wachsenden Morgenglanz, der sich majestätisch über den Himmel ausbreitete, den Henker auf- und niederschreiten.

Plötzlich vernahm man den gedämpften Schall von umflorten Trommeln, ein schauerliches Wirbeln, das immer näher kam. Die Front that sich auf und ließ einen Zug durch, der sich nach dem Blutgerüst bewegte, voran die verschleierten Trommeln, dann eine Kompagnie Grenadiere mit umgekehrtem Gewehr, dann ein Peloton Gendarmen mit blankem Säbel, dann der Verurtheilte, Gauvain, der frei einherschritt, ohne Fesseln, in kleiner Uniform, den Degen an der Seite, und endlich ein anderes Peloton Gendarmen. Gauvain’s Antlitz war noch von jener sinnigen Glückseligkeit umflossen, die ihn verklärt hatte, als er zu Cimourdain gesagt: »Ich denke an die Zukunft,« und es ließ sich nichts Erhabeneres denken als dieses fortleuchtende Lächeln. Sein erster Blick, als er die düstere Stätte erreichte, galt, die Guillotine verschmähend, der Plattform des Thurms, denn er wußte, daß Cimourdain es für seine Pflicht halten werde, der Hinrichtung beizuwohnen. Ihn suchte sein Auge und fand ihn auch dort oben.

Cimourdain ward erdfahl und eisstarr. Die neben ihm Stehenden konnten seinen Athemzug nicht vernehmen.

Als er Gauvain ankommen sah, war auch nicht das leiseste Zucken an ihm zu bemerken gewesen.

Unterdessen ging Gauvain auf die Guillotine zu, schaute aber, während er so dahinwandelte, immer noch zu Cimourdain hinüber, der auch ihn unverwandt anschaute. Es war, als stütze sich Cimourdain auf diesen Blick.

Nun war Gauvain am Fuße des Schaffots angelangt und bestieg es, gefolgt von dem Offizier, der die Grenadiere befehligte. Er schnallte den Degen los und überreichte ihn dem Offizier; dann nahm er die Halsbinde ab und reichte sie dem Henker. Nie war er so schön gewesen; er strahlte wie ein Traumbild. Seine braunen Locken flatterten im Wind; damals war es nicht Brauch, dem Verurtheilten das Haar abzuschneiden, sein Nacken war lieblich anzusehen wie der eines Weibes und sein Blick heldenmüthig und erhaben wie der eines Erzengels. So stand er traumhaft auf dem Blutgerüst. Auch diese Stätte ist ein Gipfel, und auf diesem Gipfel thronte Gauvain befriedet und von der Sonne wie mit einem Glorienschein umwoben.

0367

Gnade! Gnade! rief es von allen Seiten.

Nun trat der Henker mit einem Strick in der Hand an ihn heran, um ihn zu binden, und jetzt, im Augenblick, wo sie ihren jungen Führer wirklich dem Beil verfallen sahen, hielten es die Soldaten nicht länger aus; den Kriegern sprengte diese Minute das Herz, und man hörte etwas Unerhörtes, das Aufschluchzen einer Armee. – Gnade! Gnade! rief es von allen Seiten. Einige fielen auf die Knie; Andere warfen ihre Gewehre weg und erhoben die Arme zur Plattform des Thurms nach Cimourdain. – Nimmt man denn für das Ding da keine Ersatzmänner an? schrie ein Grenadier, indem er auf die Guillotine deutete; hier bin ich! Und wie außer sich riefen Alle wieder: Gnade! Gnade! und selbst Löwen hätten bei diesem Anblick der Rührung und des Schreckens sich nicht erwehrt, denn es ist etwas Furchtbares um die Thränen eines Soldaten. Selbst der Henker hielt inne und stand rathlos. Da sprach vom Thurm herab eine abgebrochene, leise Stimme, deren Worte doch Jedermann vernahm:

– Dem Gesetz die Ehre!

Jetzt kannte man den Ausspruch der Unerbittlichkeit. Cimourdain hatte entschieden. Der Armee überlief ein Schauder. Der Henker zögerte nicht länger; er trat näher.

– Warten Sie, sagte Gauvain. Und gegen Cimourdain gewendet, winkte er ihm mit seiner freigebliebenen Rechten einen Scheidegruß zu; dann ließ er sich binden. – Pardon, noch eins, sagte er, als dies geschehen war, zum Henker, und rief mit lauter Stimme: Es lebe die Republik!

Dann wurde er auf das Schaukelbrett gelegt; der verruchte Ring schloß sich hinter seinem anmuthigen stolzen Haupt; sanft hob ihm der Henker das Haar vom Nacken und drückte an der Feder. Das eiserne Dreieck löste sich vom Querbalken und glitt erst langsam, dann blitzschnell herab; ein gräßlich Dröhnen und …

In demselben Augenblick dröhnte es ebenso gräßlich von drüben her. Dem Dröhnen des Fallbeils antwortete das Dröhnen eines Schusses. Cimourdain hatte eine der Pistolen aus seinem Gürtel gerissen und jagte sich, im Moment, da Gauvains Kopf in den Korb rollte, eine Kugel durch das Herz. Aus seinem Mund brach ein Blutstrom und er sank todt in den Sessel zurück.

So entschwebten sie denn miteinander, diese zwei Seelen, tragisch verschwistert und so innig in einander hinschmelzend, daß der Schatten der einen im Licht der anderen zerfloß.

Victor Hugo

Ende.

Drittes Buch.

Halmalo.

I.

Und der Geist war im Wort.

Nun erhob auch der Greis langsam das Haupt.

Der Mann, der zu ihm gesprochen, war ungefähr dreißig Jahre alt. Seine Stirn war von der Seeluft gebräunt; in eigentümlicher Mischung schaute in ihm der Scharfblick des Matrosen aus den treuherzigen Augen des Bauern. Wuchtig hielt er die Ruder in seinen beiden Fäusten fest. Er hatte etwas Kindliches. Im Gürtel trug er ein Dolchmesser, zwei Pistolen und einen Rosenkranz.

– Wer sind Sie? fragte der Greis. – Sie haben es gehört.

– Und was wollen Sie von mir?

Der Mann ließ die Ruder los, kreuzte die Arme und sagte:

– Sie umbringen.

– Sie können es, sagte der Greis.

– Halten Sie sich bereit, sprach der Mann mit erhobener Stimme.

– Bereit wozu?

– Zu sterben.

– Warum? fragte der Greis.

Es entstand eine Pause. Der Mann schien ein paar Augenblicke über die Frage zu staunen. Dann erwiderte er:

– Sie haben’s gehört: ich will Sie umbringen.

– Und ich frage Sie, warum?

In den Augen des Matrosen erglänzte ein flüchtiger Blitz:

– Weil Sie meinen Bruder umgebracht haben.

Der Greis entgegnete ruhig: Nachdem ich ihm zuvor das Leben gerettet.

– Das ist wahr; Sie haben ihn zuerst gerettet und dann umgebracht.

– Nicht ich.

– Wer denn sonst?

– Seine Schuld.

Mit noch größerem Staunen als zuvor sah der Matrose den Greis an; aber bald darauf zog sich seine Stirne wieder in drohende Falten zusammen.

– Wie heißen Sie? fragte der Greis.

– Ich heiße Halmalo, doch meinen Namen brauchen Sie nicht zu wissen, um von mir umgebracht zu werden.

In diesem Augenblick ging die Sonne auf. Ein heller Strahl fiel auf den Matrosen und leuchtete ihm ins trotzige Gesicht. Forschend betrachtete ihn der Greis. Das Geschützfeuer grollte noch immer aus der Ferne, aber mit Unterbrechungen und stoßweise wie in letzten Zuckungen. Ueber den Horizont senkte sich eine dichte Dampfwolke. Das Boot trieb, von keinem Ruderer mehr gelenkt, willenlos ins Weite. Der Matrose zog mit der rechten Hand eine seiner Pistolen und mit der Linken seinen Rosenkranz aus dem Gürtel. Aufstehend, hoch emporgerichtet fragte der Greis:

– Glaubst du an einen Gott?

– Unseren Vater im Himmel, versetzte der Matrose und schlug ein Kreuz.

– Hast du deine Mutter noch?

– Ja. Und er bekreuzte sich nochmals. Dann sagte er:

– Es muß sein. Ich schenke Ihnen nur noch eine Minute, gnädiger Herr. Und er schob den Hahn an seinem Pistol zurück.

0055

Es muß sein, ich schenke Ihnen nur noch eine Minute, gnädiger Herr!

– Warum hast du »gnädiger Herr« zu mir gesagt?

– Weil Sie ein Herr sind; das sieht man Ihnen an.

– Hast du einen Herrn?

– Ja, und einen Großen. Einen Herrn muß doch Jeder haben.

– Wo ist er, dein Herr?

– Das weiß ich nicht. Fort. Er heißt der Herr Marquis von Lantenac; er ist auch noch Vikomte von Fontenay und Fürst und Herr von Sept-Forêts. Gesehen habe ich ihn zwar nie, aber deshalb bleibt er nicht minder mein Herr.

– Und wenn du ihn sähst, würdest du ihm wohl gehorchen?

– Sicherlich. Wär ich doch ein Heide, wenn ich ihm nicht gehorchen wollte! Zuerst ist man Gott Gehorsam schuldig, dann dem König, weil er Gott am nächsten steht, und dann dem Herrn, weil er dem König am nächsten steht. Aber davon ist jetzt die Rede nicht: Sie haben meinen Bruder umgebracht und darum müssen jetzt auch Sie umgebracht werden.

– Daß ich ihn umgebracht habe, antwortete der Greis, daran that ich recht.

Der Matrose preßte die Finger krampfhaft um sein Pistol und sagte:

– Machen wir ein Ende.

– Meinetwegen, erwiderte der Greis, und setzte ruhig hinzu:

– Wo ist der Priester?

Der Matrose sah ihn fragend an:

– Der Priester?

– Ja wohl, der Priester. Deinen Bruder habe ich nicht ohne Beichte sterben lassen; den Priester bist du mir schuldig.

– Ja, wenn ich ihn hätte, entgegnete der Matrose, und fuhr dann fort:

– Als ob man hier auf offener See einen Priester holen könnte! Immer dumpfer ertönte der konvulsivische Geschützdonner des fernen Todeskampfes.

– Die, welche dort drüben sterben, haben einen, sagte der Greis.

– Schon wahr, murmelte der Matrose. Sie haben den Herrn Schiffsprediger.

Der Greis fuhr fort:

– Du vergreifst dich am Heil meiner Seele, und das fällt schwer ins Gewicht. Der Matrose schaute sinnend vor sich nieder.

– Und mit meinem Seelenheil, sagte der Greis, vernichtest du zugleich auch dein eigenes. Höre mich an: du dauerst mich. Nachher kannst du’s ja noch immer halten, wie du willst. Ich habe der Pflicht die Ehre gegeben, sowohl als ich vorhin deinem Bruder das Leben rettete, wie auch als ich es ihm wieder nahm, und jetzt gebe ich abermals der Pflicht die Ehre, wenn ich versuche, dir dein Seelenheil zu retten. Gieb wohl Acht; was ich sagen werde, bezieht sich unmittelbar auf dich. Hörst du die Kanonenschüsse dort drüben? In diesem Augenblicke sterben dort Männer, röcheln Verzweifelnde, Gatten, die ihre Frauen, Väter, die ihr Kind, Brüder, die, wie du, ihren Bruder nicht mehr wiedersehen werden. Und das Alles durch wessen Schuld? Durch deines Bruders. Du glaubst an einen Gott, nicht wahr? Aber dann mußt du auch wissen, daß in diesem Augenblick Gott leidet in seinem allerchristlichsten Sohn, dem König von Frankreich, der ein Kind ist gerade wie das Jesuskind, und den sie in den Thurm des Temple gesperrt haben; daß Gott leidet, so weit die ganze Bretagne reicht, in seiner Kirche, leidet in seinen geschändeten Kathedralen, leidet in seinen zerrissenen heiligen Büchern, leidet in seinen entweihten Andachtstätten, leidet in seinen hingemordeten Dienern. Warum haben wir uns eingeschifft allesammt auf jenem Wrack, das jetzt eben untergeht? Nur um Gott zu Hilfe zu eilen. Wenn dein Bruder ein treuer Knecht gewesen wäre, wenn er mit Klugheit, Eifer und Ernst seine Pflicht erfüllt hätte, dann wäre das Unglück mit dem Geschütz unterblieben, dann wäre die Korvette nicht beschädigt worden, wäre nicht von ihrem Kurs abgewichen, wäre nicht jenen gottvergessenen Kreuzern in die Hände gefallen, und wir, wir würden Alle, jetzt zur Stunde, als tapfere Kriegs- und Seeleute an der heimatlichen Küste landen, den Säbel in der Faust, mit fliegender Lilienfahne, stark an Zahl und stark an frischer Freudigkeit, und würden den wackeren Bauern der Vendée das Vaterland retten helfen, den König retten helfen, Gott retten helfen. Das wollten wir thun; das würden wir thun; das soll ich, der einzig Überlebende, noch immer thun. Aber du, du verhinderst es. In diesem Kampf der Gottlosen gegen die Priester, der Königsmörder gegen den König, des Höllenfürsten gegen Gott ergreifst du die Partei des Höllenfürsten. Dein Bruder war sein erster Helfershelfer; der zweite bist du. Was er begonnen, das führst du zu Ende. Du stehst den Königsmördern bei gegen den Thron, stehst den Gottlosen bei gegen die Kirche, nimmst Gott die letzte Hilfe weg in der Noth. Weil ich nicht da sein werde an des Königs Stelle, müssen die Dörfer weiterbrennen, die Weiber weiterweinen, die Priester weiterbluten, muß die Bretagne weiterleiden, der König seine Ketten weitertragen und unser Heiland weiterwanken gen Golgatha in Schmach und Schmerzen. Und wer wird das Alles auf dem Gewissen haben? Du. Nun, du hast ja die freie Wahl. Ich durfte zwar von dir gerade das Gegentheil erwarten; etwas Täuschung, und ja! im Grunde hast du ganz Recht: habe ich nicht deinen Bruder erschießen lassen? Dein Bruder ist muthig gewesen: ich habe ihn belohnt; er ist schuldig gewesen, und ich habe ihn bestraft. Er hat sich an seiner Pflicht versündigt, ich nicht, und was ich that, das würde ich wieder thun, und, das schwöre ich dir bei unserer hochheiligen Anna von Auray, die uns in die Herzen schaut: gerade wie ich deinen Bruder erschießen ließ, hätte ich im gleichen Fall meinen leiblichen Sohn erschießen lassen. Jetzt handle nach Gutdünken, aber ich bedaure dich. Du hast deinen Kapitän angelogen; du willst ein Christ sein und bist ohne Treu und Glauben; du willst ein Bretone sein und hast keine Ehre im Leibe; deiner Redlichkeit bin ich anvertraut worden; dein Verrath hat Ja dazu gesagt, und nun wirfst du Allen, denen du gelobt hast, mich zu retten, meinen Kopf vor die Füße. Weißt du auch, wen du dabei strafst? Dich! Du raubst dem König mein Leben und schenkst dafür deine Seele der Hölle. Aber laß dich nicht abhalten, begehe nur dein Verbrechen, thu’s! Dein Antheil an der ewigen Seligkeit ist dir feil und werthlos – gut. Dir also wird es zuzuschreiben sein, daß der Satan siegen wird, dir, daß die Heiden die Kirchen niederreißen, dir, daß sie fortfahren werden, die Glocken zu Kanonen umzugießen, um dann zu tödten mit dem, was den Seelen einst das Leben geben half. Jetzt, im Augenblick, da ich zu dir spreche, wird deine Mutter vielleicht zerrissen durch die Glocke, die deine Taufe eingeläutet hat. Aber geh, hilf nur dem bösen Feind, thu’s nur. Ja, ich habe deinen Bruder verurtheilt, doch wisse, daß ich ein Werkzeug bin des Allmächtigen. Du aber wirfst dich zum Richter auf über die Maßregeln Gottes – was? Du wirst nun wohl ins Gericht gehen mit dem Blitz des Himmels? Unglückseliger, du wirst gerichtet werden durch ihn. Bedenke wohl, was du thust. Weißt du auch nur, ob ich frei von jeglicher Todsünde aus der Welt gehe? Nein. Aber kehre dich daran nicht, und führe deinen Vorsatz nur aus! Es steht dir vollkommen frei, mich der Hölle in den Rachen zu schleudern und dich selber mit. Unser Beider Verdammniß liegt in deiner Hand. Die Verantwortlichkeit dafür trifft aber vor Gott nur dich. Wir sind allein, und ringsum gähnt der Abgrund. Vorwärts! Mach ein Ende! Vollbring’s! Ich bin ja alt, und du bist jung, ich bin wehrlos und du in Waffen. Losgedrückt! Feuer!

Während der Greis, hochaufrecht und mit einer Stimme, die das Rauschen der Wogen gewaltig übertönte, also sprach, ließen ihn die Schwankungen der Wellen einmal im Dunkeln, dann wieder im Sonnenlicht erscheinen. Der Matrose war kreideweiß geworden; große Schweißtropfen perlten ihm von der Stirn; er zitterte wie das Blatt im Wind; zuweilen führte er den Rosenkranz an seine Lippen. Als der Greis zu sprechen aufhörte, warf er sein Pistol hin und fiel nieder aus die Knie:

– Seien Sie barmherzig, gnädiger Herr! rief er ihn an, verzeihen Sie mir! Aus Ihnen redet der liebe Gott. Ich habe mich versündigt, und mein Bruder hat sich versündigt. Alles will ich thun, um wieder gut zu machen, was er verbrach. Machen Sie aus mir, was Ihnen beliebt. Befehlen Sie, und ich gehorche.

– Ich erbarme mich deiner, sagte der Greis.

II.

Bauerngedächtniß kann ebenso nützlich sein wie Feldherrntalent.

Die mitgenommenen Vorräthe kamen den beiden Flüchtlingen sehr zu Statten, denn, auf vielfache Umwege angewiesen, brauchten sie volle sechsunddreißig Stunden, bis sie die Küste erreichten. Sie verbrachten die nächstfolgende Nacht auf hoher See, aber es war eine schöne Nacht, nur etwas zu mondhell für Leute, die ungesehen bleiben wollen.

Zu Anfang mußten sie sich von Frankreich wieder etwas entfernen, wieder gegen Jersey zu. So kam’s, daß sie die letzte Geschützsalve der niedergedonnerten Korvette noch hörten, das letzte Gebrüll eines tödtlich getroffenen Löwen. Nun trat eine große Stille ein.

Diese Korvette »Claymore« endete in ähnlicher Weise wie der »Vengeur«; aber für sie blieb der Nachruhm aus. Der Kampf gegen das Vaterland läßt kein anerkanntes Heldenthum aufkommen.

Halmalo war geradezu überraschend: er verrichtete wahre Wunder seemännischen Geschicks und Scharfsinns. Diese aus dem Stegreif entworfene Fahrt durch die Klippen, die Wellenschläge und das Auflauern des Feindes war eine Musterleistung.

Nun hatte der Wind nachgelassen, und die See war fügsamer geworden, Halmalo wich vor les Caux des Minquiers aus, beschrieb einen Halbkreis um la Chaussée aux Boeufs und rastete einige Stunden in dem kleinen Schlupfhafen aus, der sich dort an der Nordseite zur Ebbezeit vorfindet; dann stahl er sich, den Kurs wieder nach Süden nehmend, zwischen Granville und den Chausey-Inseln durch, ohne von den beiden Wachtposten von Chausey und von Granville bemerkt zu werden, und lief in die Bucht von Saint-Michel ein, ein kühnes Unterfangen, wenn man die geringe Entfernung von Cancale in Betracht zieht, wo die Kreuzer einen Ankerplatz hatten. Am zweiten Tag Abends, etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang, landete er, den Mont Saint-Michel im Rücken, an einer Stelle des Strandes, wo sich gewöhnlich Niemand hinwagt, weil dort immer ein Auffahren im Sande zu befürchten steht.

Glücklicherweise hatten sie gerade hohe See. Halmalo trieb das Boot mit einem möglichst kräftigen Ruck ans Land, befühlte die Sandfläche, that dann, als er sie hinlänglich fest befunden, einen Sprung aus der Jolle und zog sie ans Ufer.

Der Greis folgte nach und suchte sich genau zu orientiren.

– Gnädiger Herr, sagte Halmalo, wir sind hier beim Ausfluß des Couesnon und haben an Steuerbord Beauvoir und Huisnes an Backbord. Geradeaus sehen Sie den Kirchthurm von Ardevon.

Der Greis bückte sich und nahm ein Stück Zwieback aus dem Boot; dann sagte er zu Halmalo:

– Nimm du den Rest.

Halmalo legte, was von der Ochsenzunge übrig war, zu dem Zwieback, lud den Sack auf die Schulter und fragte:

– Soll ich den gnädigen Herrn führen oder soll ich ihm folgen?

– Keins von Beiden.

Halmalo schaute den Greis verwundert an, und dieser fuhr fort:

– Wir werden uns trennen, Halmalo. Selbzweit gehen taugt nicht. Entweder zu Tausend oder Jeder für sich allein. Und sich unterbrechend, zog er aus einer seiner Taschen eine grünseidene Schleife, die beinah die Form einer Kokarde hatte und in deren Mitte eine goldene Lilie gestickt war.

– Kannst du lesen? begann er nun wieder.

– Nein.

– Schon recht; das Lesen thut nicht gut. Hast du ein scharf Gedächtniß?

– Ja.

– Schön. Und jetzt merke wohl auf, Halmalo: Du wirst rechts gehen und ich links, ich gegen Fougères zu, du gegen Bazouges. Den Sack behältst du bei dir; er giebt dir das Aussehen eines Bauern. Deine Waffen verstecke. Schneide dir einen Stock, krieche über die Aecker – der Roggen steht ja hoch –, schleiche die Hecken entlang, steige über die Pfahlzäune, um ins Freie zu kommen, meide Menschen, Wege und Brücken, halte dich in gehöriger Entfernung von Portorson … Ach so! du mußt ja über den Couesnon; wie willst du hinüberkommen?

– Durchschwimmen.

– Gut; es giebt übrigens eine Furt; weißt du vielleicht wo?

– Zwischen Ancey und Vieux-Mel.

– Ganz recht; ich sehe, daß du wirklich hier zu Hause bist.

– Aber es wird Nacht. Wo werden der gnädige Herr schlafen?

– Meine Sache; wo wirst du schlafen?

– In irgend einer Höhlung. Bevor ich Matrose wurde, war ich ein Bauer.

– Den Matrosenhut wirf ins Wasser! er könnte dich verrathen. Du wirst doch irgendwo eine andere Kopfbedeckung auftreiben können?

– O ja, eine Regenkappe, die giebt’s überall. Der nächstbeste Fischer wird mir seine verkaufen.

– Gut. Nun höre weiter: Du kennst doch die Wälder hier herum?

– Alle.

– In der ganzen Umgegend?

– Von Noirmoutier bis Laval.

– Kennst du sie auch bei ihren Namen?

– Die Wälder, die Namen, Alles.

– Und wirst auch nichts vergessen?

– Nichts.

– Gut, und jetzt aufgepaßt! Wie viel Stunden Wegs kannst du in einem Tag wohl zurücklegen?

– Zehn, fünfzehn, wenn’s noththut zwanzig.

– Es wird noththun. Verliere kein Wort von Allem, was ich dir jetzt sagen werde: Zunächst begiebst du dich in den Wald von Saint-Aubin.

– Bei Lamballe?

– Ja. Am Rande der Schlucht zwischen Saint-Rieul und Plédéliac steht ein großer Kastanienbaum. Bei dem hältst du still. Sehen wirst du Niemand.

– Aber es wird doch Jemand da sein; weiß schon.

– Du wirst das Zeichen geben. Kennst du das Zeichen auch?

Halmalo blies die Backen auf, wendete sich gegen das Meer und stieß den Eulenruf aus. Man hätte darauf geschworen, dieses »Huhu« ertöne aus tiefster Waldesnacht, so echt war’s und schauerlich.

0063

Halmalo schaute den Greis verwundert an.

– Gut, sagte der Greis; du bist ein Wissender.

– Hier, setzte er hinzu, indem er Halmalo die grünseidene Schleife hinhielt, hier hast du meine Kommandoschleife. Stecke sie zu dir. Einstweilen ist noch viel daran gelegen, daß mein Name unbekannt bleibe. Aber die Schleife genügt schon. Diese Lilie hat Madame, die Königin Antoinette, in ihrem Gefängniß mit eigener Hand gestickt.

Halmalo beugte das Knie und griff mit bebender Hand nach der Schleife, die er zu seinen Lippen führte; aber plötzlich innehaltend, fragte er mit innerem Grauen:

– Darf ich denn auch?

– Küssest du das Kruzifix nicht auch? Also.

Und Halmalo küßte die Lilie.

– Steh auf, sagte der Greis. Halmalo stand auf und verwahrte die Schleife an seiner Brust.

– Gieb wohl Acht, fuhr der Greis fort. Die Ordre lautet: Zu den Waffen – ohne Pardon. Beim Kastanienbaum giebst du also das Zeichen, und zwar zu dreien Malen. Nach dem dritten Mal wird ein Mann aus der Erde steigen.

– Aus einem Loch unten an einem Baum; weiß schon.

– Dieser Mann ist Planchenault, auch Coeur-de-Roi geheißen. Dem zeigst du die Schleife vor, und er wird verstehen. Nachher schleichst du auf Wegen, deren Wahl ich dir überlasse, in den Wald von Astillé; dort wirst du einen hinkenden Mann treffen, der den Beinamen Mousqueton führt, und der niemals Pardon giebt. Dem sagst du, daß ich ihn lieb habe, und daß er seine Gemeinden auf die Beine bringen soll. Ferner verfügst du dich in den Wald von Couesbon, eine Stunde von Ploërmel. Dort giebst du abermals das Zeichen und wirst einen Mann aus einer Öffnung hervorkriechen sehen, den Seneschall von Ploël, Herrn Thuault, welcher Mitglied der sogenannten konstituirenden Versammlung war, aber ein Rechtschaffener. Dem sagst du, er möge das Schloß von Couesbon in Stand setzen, ein Besitzthum des ausgewanderten Marquis von Guer. Schluchten, Buschwerk, ungleiches Terrain, läßt sich ausnützen; Herr Thuault ist ein gerader, besonnener Mann. Hieraus gehst du nach Saint-Ouen-les-Toits, wo du mit Jean Chouan sprechen wirst, der in meinen Augen der eigentliche Anführer ist, und von dort in den Wald von Ville-Anglose, wo du Guitter, auch Saint-Martin zubenannt, aufsuchen wirst, um ihm zu sagen, er solle ein Auge haben auf einen gewissen Courmesnil, Schwiegersohn des alten Goupil aus Préfeln und Rädelsführer der Jakobinerbande von Argentan. Präge dir Alles genau ins Gedächtniß! Ich gebe dir nichts Schriftliches mit, weil dergleichen nie schriftlich besorgt werden soll. La Rouarie hat ein Namensverzeichniß niedergeschrieben, und Alles kam heraus. Dann ermittelst du im Wald von Rougefeu einen Mann, der Miélette heißt und immer einen langen Stock mit eiserner Spitze führt.

– Mit so einem Stock setzt man über die breitesten Gräben.

– Kannst du das auch?

– Ich müßte keine Bretone und kein Bauersmann sein! Der Springstock ist ja unser Freund in der Noth; den Arm dehnt er aus und verlängert die Beine.

– Verringert demnach den Feind und verkürzt den Weg.

– Mit meinem Springstock habe ich einmal drei Salzwächter zurückgeschlagen, die mit Säbeln bewaffnet waren.

– Wann war das?

– Vor zehn Jahren.

– Da herrschte ja der König noch.

– Freilich.

– Damals also lehntest du dich auf?

– Gewiß.

– Gegen wen?

– Ja, das weiß ich nicht recht. Ich war Salzschmuggler.

– So.

– Sie nannten es eben den Kampf gegen die Salzsteuer. Haben denn die Salzsteuer und der König etwas mitsammen gemein?

– Ja. Nein …. Aber das sind Dinge, die du nicht zu verstehen brauchst.

– Ich bitte den gnädigen Herrn, mir zu verzeihen, daß ich so frei war, den gnädigen Herrn zu fragen.

– Fahren wir fort: Kennst du La Tourgue?

– Ob ich es kenne! Dort bin ich ja her.

– Wie so her?

– Nun ja, weil ich aus Parigné bin.

– Allerdings: Parigné liegt ganz nah bei La Tourgue.

– Ob ich es kenne, das große runde Schloß! Es ist ja das Stammschloß meines gnädigen Herrn! Ein großes eisernes Thor ist daran, welches das alte Schloß von dem neuen absperrt; mit Kanonen könnte man’s nicht sprengen. In dem neuen Schloß ist auch das berühmte Buch über den heiligen Bartholomäus zu sehen, das die Leute ehemals zu betrachten kamen. Ganz klein habe ich auf dem Grasplatz gespielt, wo die vielen Frösche sind. Und der unterirdische Gang erst! Den weiß vielleicht kein Mensch mehr außer mir.

– Ein unterirdischer Gang. – Was willst du damit sagen?

– Das war für die früheren Zeiten, damals als La Tourgue noch belagert wurde. Da konnten die Leute sich durch den Gang flüchten, der unter der Erde bis tief in den Wald hineinführt.

– Einen solchen Gang giebt es allerdings im Schloß La Jupellière und auch in dem von La Hunaudaye und im Thurm von Champéon, aber in La Tourgue ist nichts dergleichen vorhanden. – Ja doch, gnädiger Herr. Die Durchgänge, von denen der gnädige Herr sprechen, sind mir zwar unbekannt. Ich weiß blos um den zu La Tourgue, weil dort eben meine Heimath ist. Aber außer mir dürfte schwerlich Jemand darum wissen. Man sprach davon nicht; es war verboten, weil man den Gang zur Zeit des Herrn von Rohan im Krieg benutzt hatte. Mein Vater kannte das Geheimniß und hat mir’s gezeigt. So kenne denn auch ich den geheimen Eingang und den geheimen Ausgang; vom Wald kann ich in den Thurm und vom Thurm in den Wald gelangen, ohne daß mich Einer sieht. Und deshalb findet der Feind auch Niemand mehr, wenn er in das Schloß eindringt. Ja, so ist das eingerichtet in La Tourgue; ich weiß es genau.

– Du bist offenbar im Irrthum, erwiderte der Greis, nachdem er eine Weile nachgesonnen, wenn etwas Derartiges da wäre, müßte ich es kennen.

– Gnädiger Herr, ich bin meiner Sache gewiß. Es ist ein Stein, der sich dreht.

– So, so! Nun ja, von Steinen wißt ihr Bauern alles Mögliche zu erzählen, von Steinen, welche sich drehen, welche singen oder welche des Nachts an den Bach gehen, um zu trinken. Ammenmärchen.

– Wenn ich aber dem gnädigen Herrn sage, daß ich selber gesehen habe, wie sich der Stein drehte.

– Wie viel Andere haben ihn nicht auch singen hören! La Tourgue, mein Sohn, ist ein sicheres, festes Castell und leicht zu vertheidigen; allein wer sich auf einen unterirdischen Weg verlassen wollte, um zu entkommen, der wäre auf dem Holzweg.

– Aber gnädiger Herr…..

– Verlieren wir keine Zeit, unterbrach ihn der Greis mit einem Achselzucken, und kommen wir auf das Wichtigere zurück.

Dieser entschiedene Ton setzte jedem weiteren Betheuern eine Schranke.

– Fahren wir fort, sagte der Greis. Von Rougefeu, hörst du wohl, geht es dann in den Wald von Montchevrier; dort haust Benedicite, das Oberhaupt der Zwölf, auch Einer von den Rechten. Während er die Gefangenen füsiliren läßt, pflegt er sein »Benedicite« zu beten. Ja, nur keine Empfindelei in Kriegszeiten. Von Montchevrier gehst du …. Fast hätte ich das Geld vergessen, fiel er sich plötzlich ins Wort, und zog aus seiner Tasche eine Börse und ein Portefeuille, die er Halmalo übergab: Das Portefeuille hier enthält dreißigtausend Livres in Assignaten, etwas wie drei Livres zehn Sous. Die Scheine sind zwar falsch, aber die echten sind deshalb um keinen Heller mehr werth. In dem Beutel, paß auf, sind hundert Louisdor. Es ist meine ganze Baarschaft; hier brauche ich so kein Geld mehr, und es ist auch besser, wenn keines bei mir gefunden werden kann. Jetzt höre weiter: Von Montchevrier begibst du dich nach Antrain zu Herrn von Frotté, von Antrain nach La Jupellière zu Herrn von Rochecotte, von La Jupellière nach Noirieux zu dem Abbé Baudoix. Kannst du das Alles auswendig behalten?

– Wie das Vaterunser.

– In Saint-Brice-en-Cogles sprichst du mit Herrn Dubois-Guy, in dem befestigten Marktflecken Morannes mit Herrn von Turpin und in Château-Gonthier mit dem Fürsten von Talmont.

– Darf ich mit einem Fürsten denn auch sprechen?

– Sprichst du nicht auch mit mir?

Halmalo verneigte sich.

– Jeder, dem du die Lilie von Madame vorzeigst, wird dich willkommen heißen. Vergiß nicht, daß du Ortschaften berühren wirst, wo patschfüßiges Gebirgsvolk haust. Du wirst dich dann verkleiden müssen. Geht ganz leicht; so dumm sind diese Republikaner, daß Einen Keiner beachtet, wenn man nur einen blauen Rock, den dreieckigen Hut und die dreifarbige Kokarde trägt. Regimenter giebt es ja nicht mehr, Uniformen auch nicht; die Abtheilungen haben keine Nummern mehr und Jeder steckt sich in den Trödel, der ihm gerade paßt. Hernach gehst du nach Saint-Hervé zu Gaulier, auch Grand-Pierre geheißen; dann nach Parné, wo Männer mit geschwärzten Gesichtern im Quartier liegen; sie schießen mit Kies und mit doppelter Pulverladung, um mehr Lärm zu machen; daran thun sie auch recht; aber vor Allem schärfe ihnen ein: nur immer todtschlagen, todtschlagen, todtschlagen! Dann gehst du ins Lager von La Vache-Noire, das auf einer Anhöhe mitten im Wald von La Charnie liegt, ferner ins Lager von L’Avoine, ferner ins Lager Camp-Vert, ferner ins Lager von Les Fourmies, ferner nach Le Grand-Bordage, das auch Le Haut-du-Pré genannt wird; dort wohnt eine Wittwe, deren Tochter Treton, den sie auch »den Engländer« nennen, geheirathet hat. Le Grand-Bordage gehört zur Gemeinde von Quelaines. Auch Epineux-le-Chevreuil, Sillé-le-Guillaume, Parannes und die nächstliegenden Waldungen wirst du bereisen. Allenthalben wirst du Freunde treffen; die schickst du zur Grenzscheide von Ober- und Nieder-Maine. Endlich wirst du noch Jean Treton in der Gemeinde von Baisges, Sans-Regret in Le Bignon, Chambord in Bonchamps, die Gebrüder Corbin in Maisoncelles in Saint-Jean-sur-Erve le Petit-sans-Peur aufsuchen, der auch Bourdoiseau heißt. Wenn du das Alles besorgt und Jedem die Parole gegeben hast »Zu den Waffen – ohne Pardon«, wirst du dich der großen katholisch-königlichen Armee anschließen, wo sie zur Zeit gerade kampiren wird. Dort meldest du dich bei den Herren d’Elbée, von Lescure, von La Rochejacquelein, kurz bei den Chefs, die dann noch am Leben sein werden, und zeigst Ihnen meine Kommandoschleife vor. Sie werden sie schon erkennen; du bist zwar nur ein Matrose, aber Cathelineau ist auch nicht mehr als ein Fuhrmann. Du wirst ihnen in meinem Namen Folgendes verkünden: Es ist nun an der Zeit, beide Kriege zugleich zu führen, den großen und den kleinen; der große macht lautern Lärm, der kleine ausgiebigere Geschäfte; die Vendée ist allerdings gut, aber die Chouans sind ärger, und im Bürgerkrieg ist das Aergste stets das Beste, denn der Werth einer Kriegführung läßt sich überhaupt nur nach dem angerichteten Schaden bemessen.

Und in einen anderen Ton übergehend, fuhr der Greis fort:

– Von Allem, was ich dir da gesagt habe, hast du vielleicht nicht jedes Einzelne, den Sinn aber des Ganzen gewiß begriffen. Ich habe Vertrauen zu dir gefaßt, als ich zusah, wie du unser Boot lenktest; ohne je Geometrie gelernt zu haben, wußtest du doch die überraschendsten, scharfsinnigsten Schwenkungen zu erdenken; wer mit einer Barke so umzugehen versteht, gibt auch einen Lootsen ab für eine Volkserhebung; der Art nach, wie du mit der See fertig geworden bist, darf ich von dir erwarten, daß du alle meine Aufträge in entsprechender Weise ausführen wirst. Vernimm jetzt meine letzten Worte, die du den Generälen mittheilen sollst, dem Sinne nach, so gut du es eben vermagst – es wird schon richtig sein:

Ich ziehe den Krieg im Busch dem Krieg auf offenem Felde vor und trage kein besonderes Gelüste darnach, hunderttausend Bauern vor den Gewehrsalven der Blauen und der Artillerie des Herrn Carnot regelrecht in Reih und Glied zu stellen. Innerhalb eines Monats will ich fünfmalhunderttausend Schützen auf dem Anstand stehen haben in den Wäldern. Die republikanischen Regimenter sind mein Wild; meine Soldaten sollen Jäger sein; ich bin der Stratege des Busches…. ah, schon wieder ein Ausdruck, der dir nicht geläufig ist; thut aber nichts; klar wird dir schon dieses sein: Keinen Pardon! überall eine Falle. Weniger Gelehrsamkeit und mehr Hinterlist! Du wirst hinzufügen, daß wir die Engländer auf unserer Seite haben. Nehmen wir die Republik in ein Kreuzfeuer! Europa kommt uns zu Hilfe. Zertreten wir die Revolution! Im Osten hat sie den Krieg mit den Königreichen; im Westen erhebe sich der Kreuzzug der Dörfer! So wirst du zu ihnen sprechen. Hast du verstanden?

– Ja. Dreinfahren mit Feuer und mit Schwert!

– Recht so.

– Niemals Pardon geben.

– Keinem, recht so.

– Ich werde überall hingehen.

– Aber Vorsicht, denn hier zu Lande wird man leicht ein stiller Mann.

– Mich kümmert das wenig. Man weiß so nie, ob man den ersten Schritt nicht in den letzten Schuhen thut.

– Tapfer gesprochen.

– Und wenn man mich nach dem Namen des gnädigen Herrn fragt?

– Der muß noch verschwiegen werden. Du wirst einfach die Wahrheit sagen, daß du ihn nicht weißt. – Und wo werde ich den gnädigen Herrn wiederfinden?

– Wo ich gerade zugegen sein werde.

– Aber wie soll ich das erfahren?

– Von selbst, denn Jedermann wird es wissen. Ehe acht Tage vergehen, will ich von mir reden lassen, will den König und die Kirche durch Strafgerichte rächen, und du wirst schon erkennen, daß ich es bin, von dem geredet wird.

– Ich weiß schon.

– Also nichts vergessen.

– Seien Sie ganz unbesorgt.

– Und jetzt behüte dich Gott. Geh!

– Alles werde ich thun, wie Sie gesagt, werde gehen, werde sprechen, werde befehlen.

– Gut.

– Und wenn mir’s gelingt…

– Mach‘ ich dich zum Sanct-Ludwigsritter.

– Wie meinen Bruder, und wenn mir’s nicht gelingt, mögen Sie mich erschießen lassen.

– Wie deinen Bruder.

– Einverstanden, gnädiger Herr.

Der Greis senkte das Haupt und verfiel in strenges Sinnen. Als er wieder aufblickte, war er allein. Ein schwarzer, schwindender Punkt, verlor sich Halmalo schon am Horizont. Die Sonne war eben untergegangen. Die großen und kleinen Möven kamen heimgeflogen von draußen, vom Meer. Man fühlte jene Bangigkeit durch die Lüfte zittern, welche der Nacht vorangeht. Mitten unter dem Schmettern des Unkenrufs umflatterten die Wasserschnepfen mit schrillem Schrei die Pfützen, an denen sie gesessen; die Raben, Krähen, Dohlen stimmten ihr abendliches Gekrächze an; alle Vögel des Strandes lockten einander herbei. Von einem menschlichen Wesen keine Spur; in der Bucht kein Segel, kein Bauer drüben auf dem Gefild. So weit das Auge reichte, auf der öden Fläche die tiefste Einsamkeit. Die großen Sanddisteln schauerten zusammen; vom weißverdämmernden Himmel strömte noch über See und Küste ein fahler Widerschein, und fernab auf der finsteren Ebene schillerte hin und wieder ein Teich wie eine hingenagelte große Zinnplatte, indeß ein Windhauch landeinwärts hinstrich über die Fluthen.

Erstes Buch.


Auf hoher See.

Im Wald von La Saudraie.

Ende Mai 1793 wurde eines der Pariser Bataillone, die unter Santerre in die Bretagne eingerückt waren, zu einem Streifzug durch den schauerlichen Wald von La Saudraie, Bezirk Astillé, kommandirt. Dieses Bataillon war nur dreihundert Mann stark, denn es hatte in jenen harten Kriegszeiten sehr nothgelitten – Zeiten episch heldenhaften Ringens, wo von den sechshundert Freiwilligen des ersten Pariser Bataillons siebenundzwanzig, des zweiten dreiunddreißig und des dritten siebenundfünfzig Mann aus der Argonne und den Schlachten von Valmy und Jemmappes zurückgekehrt waren.

Die Bataillone, die von Paris nach der Vendée abmarschirten, zählten neunhundertundzwölf Mann und führten jedes drei Geschütze. Ihr Zustandekommen war ein sehr rasches gewesen: Den 25. April, also zur Zeit, da Gohier die Justiz und Bouchotte das Kriegswesen leiteten, war vom Stadtbezirk Bon-Conseil der Vorschlag ausgegangen, in die Vendée Freiwilligenbataillone zu entsenden; hierauf hatte ein Mitglied des Stadtraths Namens Lubin Bericht darüber erstattet, und am ersten Mai hatte Santerre bereits zwölftausend Mann nebst einem Bataillon Artillerie und dreißig Feldgeschützen zusammen. Trotz aller Eile war die Art und Weise der Mobilmachung so vorzüglich, daß sie heutzutage der Einteilung der Linienkompagnien zu Grunde gelegt wird; es ist dadurch das frühere numerische Verhältniß zwischen Truppe und Unteroffizieren ein anderes geworden.

Unter dem Datum des 28. April war vom Pariser Stadtrath an die Freiwilligen von Santerre die Ordre ergangen: »Keine Gnade, keinen Pardon!« Ende Mai waren von den zwölftausend Parisern achttausend gefallen.

Das Bataillon, welches im Walde von La Saudraie operirte, rückte sehr behutsam vor. Von Hast keine Spur, ein fortwährendes Spähen nach rechts und links, vor sich hin und rückwärts: »Der Soldat muß ein Auge im Rücken haben«, meinte Kleber. Marschirt wurde schon lang. Wie viel Uhr oder welche Tageszeit es sein mochte, hätte sich schwer bestimmen lassen, denn in einem so urwüchsigen Dickicht weicht ein gewisses abendliches Dämmern auch der hellsten Mittagssonne nicht.

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Deshalb drangen die Soldaten so vorsichtig weiter.

Tragische Erinnerungen knüpften sich an diesen Wald: In diesem Gestrüpp hatte, schon im November 1792, der Bürgerkrieg seine Gräuelthaten begonnen; der wilde, hinkende Mousqueton war dieser Baumnacht entstiegen, die nunmehr ein Grab unzähliger Opfer schaudervollsten Mordes, eine Stätte des Entsetzens war; deshalb drangen die Soldaten so vorsichtig weiter in die Tiefen. Und doch blühte Alles rings um sie her und wob sich von allen Seiten zu einer zitternden Mauer von zartbelaubten, kühlfächelnden Zweigen zusammen; hin und wieder schillerte ein Sonnenstrahl in die grünende Finsterniß hinein und auf der Erde dehnte sich ein dichtüppiger Rasenteppich, gestickt und verbrämt mit Schwertlilien, Narcissen, lenzduftigem Safran und jenen kleinen Blumen, die das schöne Wetter ankündigen, und allen Moosgattungen in jeder erdenklichen Form durcheinanderwimmelnd, hier gekrümmt wie eine Raupe und dort gezackt wie ein Stern. Langsamen Schritts und schweigend bahnten sich die Soldaten einen Weg durch das leise auseinandergeschobene Astwerk, indem die Vögelchen über ihren Bajonetten weiterzwitscherten.

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Ein fortwährendes Spähen nach rechts und links.

Früher, in friedlichen Zeiten, hatte in den Gebüschen von La Saudraie die »Houiche-ba« florirt, so heißt dort nämlich das nächtliche Jagen auf jene Vögelchen; jetzt wurde nur noch Jagd gemacht auf Menschen.

In diesem Wald gediehen an hochstämmigen Holzarten nur Birke, Buche und Eiche; das ebene, mit Moos und Gras dichtbewachsene Terrain gab keinen Laut von sich unter den Tritten der schreitenden Männer; wenn sich ausnahmsweise ein Fußpfad zeigte, so war’s nur auf einer ganz kurzen Strecke; vor lauter Stechpalmen, Schlehdornen, Farrenkräuterstauden, Heuhecheln und Brombeerhecken konnte man einen Menschen auf eine Entfernung von nur zehn Schritten unmöglich gewahr werden.

Ein Reiher oder ein Wasserhuhn, die zuweilen durch die Wipfel hinflatterten, deuteten an, daß ein Sumpf in der Nähe war.

Der Zug bewegte sich auf gut Glück hin immer vorwärts, gespannt und besorgt, Gesuchtes zu finden.

Hin und wieder zeigten abgebrannte oder ausgetretene Stellen, kreuzförmig aufgerichtete Stöcke, blutige Zweige die Spuren menschlichen Aufenthaltes: hier war Menage gekocht, dort Messe gelesen worden, und dort hatte man die Verwundeten gepflegt. Aber die hier ausrasteten, waren verschwunden – wohin? vielleicht schon in weite Ferne; vielleicht auch mochten sie nur wenige Schritte weit mit zielenden Stutzen im Hinterhalt liegen. Einstweilen war der Wald wie ausgestorben. Das Bataillon marschirte mit steigender Vorsicht; Einsamkeit und Mißtrauen halten gleichen Schritt. Weit und breit keine Seele, also ein Grund mehr zur Besorgniß in dieser berüchtigten Einöde; wie nahe lag da die Wahrscheinlichkeit einer listig gestellten Falle.

Dreißig Grenadiere unter der Führung eines Sergeanten gingen in beträchtlicher Entfernung vom Kern des Bataillons als Eclaireurs voraus, mit ihnen die Marketenderin.

Marketenderin schließen sich überhaupt lieber der Avant-Garde an: es ist dies zwar mit Gefahr verbunden, aber man bekommt dabei doch etwas zu sehen, und die Neugierde ist einmal eine der Aeußerungen weiblicher Tapferkeit.

Plötzlich durchzuckte jeden Einzelnen dieses kleinen Vortrabs jener den Jägern wohlbekannte Schauer, wenn sie auf ein Wild gestoßen sind. Mitten aus einem Dickicht heraus hatte man etwas wie ein Aufathmen vernommen, und nun schien es auch, als ob es sich im Laubwerk rührte. Die Soldaten winkten einander zu.

In den Späher- und Lauscherdienst der Eclaireurs braucht kein Offizier einzugreifen; was geschehen soll geschieht schon von selbst. Vor Ablauf einer Minute war die verdächtige Stelle bereits umstellt und ein Kreis von Gewehrläufen darauf gerichtet; von allen Seiten her hatten die Soldaten den dunkeln Mittelpunkt des Dickichts aufs Korn genommen und erwarteten, den Finger am Drücker und den Blick auf das verdächtige Objekt geheftet, nur noch das Kommando des Sergeanten, um einen Kugelregen hinzusenden.

Da, im Moment, wo der Sergeant abfeuern lassen wollte, rief die Marketenderin: Halt!

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Da rief die Marketenderin: Halt!

Sie hatte es gewagt, einen Blick durch das Buschwerk zu thun und setzte nun, zu den Soldaten gewendet, hinzu:

– Kameraden, schießt nicht!

Hierauf eilte sie ins Dickicht. Die Uebrigen folgten ihr nach, und wirklich fand sich Jemand in dem Versteck vor.

Mitten im dichtesten Gestrüpp, am Rande einer jener kleinen kreisförmigen Lichtungen, die in den Wäldern durch Kohlenmeier entstehen, welche die Baumwurzeln rundum versengen, saß in einem von Zweigen gebildeten Nest, einer Art Laubkammer, die wie ein Alkoven nach einer Seite hin halb offen stand, ein Weib mit einem Säugling an der Brust und zwei blondlockigen schlafenden Kindern auf dem Schooß.

Das also war der Feind.

– Sie, was thun Sie hier? rief die Marketenderin.

Das Weib blickte von dem Säugling zu ihr auf.

– Sind Sie verrückt, hier so zu sitzen, fuhr die Marketenderin fort, und fügte dann hinzu:

– Nur noch eine Minute, und Sie waren über den Haufen geschossen!

Und zu den Soldaten gewendet, erklärte sie:

– Es ist ein Weib.

– Donnerwetter! so viel sehen wir auch, sagte einer von den Grenadieren.

– In den Wald rennen, um sich über den Haufen schießen zu lassen, begann die Marketenderin von Neuem, ist so was Dummes je dagewesen!

Das Weib, verblüfft und starr vor Bestürzung, glotzte wie im Traum all die Gewehre, Säbel, Bajonette und wilden Gesichter um sich an.

Die beiden Kinder wachten auf und schrieen.

Das eine rief: Mich hungert.

Das andere: Mutter, ich fürchte mich.

Der Säugling trank ruhig weiter.

– Am Gescheutesten bist du dran, sagte die Marketenderin zu ihm.

Die Mutter war vor Entsetzen sprachlos.

– Nur nicht ängstlich, rief ihr der Sergeant zu, wir sind das Bataillon Bonnet-rouge.

Das Weib erzitterte am ganzen Leibe und starrte in des Sergeanten hartes Gesicht, von dem eigentlich nur die Brauen, der Schnurrbart und die zwei kohlschwarz glühenden Augen sichtbar waren.

– Vormals das Bataillon von der Croix-Rouge, erläuterte die Marketenderin.

Und der Sergeant fuhr fort:

– Wer bist du, meine Dame?

Immer noch starrte das Weib schaudernd zu ihm hinüber. Sie war jung, blaß, abgezehrt, und trug, wie alle bretonischen Bäuerinnen, nur ganz zerfetzt, die große Kapuze und die mit einer Schnur um den Hals zurückgeschlagene Wolldecke. Mit der Gleichgültigkeit der Verwilderung ließ sie ihren Busen entblößt. Ihre nackten Füße bluteten.

– Es ist eine Arme, sagte der Sergeant.

Und die Marketenderin begann wieder in ihrem soldatisch weiblichen, nur so verstohlen mildanklingenden Ton:

– Wie heißen Sie?

Das Weib stammelte leise, fast unverständlich vor sich hin:

– Michelle Fléchard.

Die Marketenderin fuhr dem Säugling mit ihrer breiten Hand streichelnd über das Köpfchen und fragte:

– Wie alt ist der Käfer?

Da die Mutter keine Antwort gab, wiederholte sie ihre Frage:

– Wie alt das Ding da ist, möcht ich wissen.

– Ach so, sagte nun die Mutter, achtzehn Monate.

– Ei, das ist ja schon altes Eisen, sagte die Marketenderin. Das hat lang genug an der Brust gelegen. Das muß entwöhnt werden. Wollen’s mit Suppe füttern.

Die Mutter erholte sich allmälig von ihrem Schrecken. Die zwei wachgewordenen Kleinen waren eher neugierig als ängstlich. Sie staunten die schönen Federbüsche der Soldaten an.

– Ach! sagte die Mutter, sie sind recht hungrig, und setzte dann noch hinzu: Mir ist die Milch ausgegangen.

– Sollen schon was zu essen kriegen, rief der Sergeant ihr zu, und du auch. Aber das ist nicht Alles. Was hast du für politische Gesinnungen?

Das Weib schaute den Sergeanten an, ohne ihm zu antworten.

– Hast du mich nicht verstanden?

Darauf erwiderte sie:

– Ganz klein bin ich ins Kloster gekommen, aber ich habe geheirathet; ich bin keine Klosterfrau geworden. Bei den Schwestern habe ich französisch reden lernen. Unser Dorf ist angezündet worden. Wir sind so schnell davongelaufen, daß ich nicht einmal Schuhe angezogen habe.

– Nach deinen politischen Gesinnungen frage ich.

– Das weiß ich nicht.

– Blos weil es Kundschafterinnen giebt hier herum, fuhr der Sergeant fort. Dergleichen wird von uns mit blauen Bohnen traktirt. Na, so sprich einmal! Eine Zigeunerin bist du doch nicht? Du hast doch ein Vaterland?

– Ich weiß nicht, antwortete sie.

– Was? du weißt nicht, wo deine Heimath ist?

– Ah so, meine Heimath – o doch.

– Nun also, wie heißt dein Vaterland, deine Heimath?

– Die Maierei von Siscoignard in der Gemeinde von Azé.

Jetzt war an den Sergeanten die Reihe gekommen, verblüfft dreinzuschauen. Nachdem er einen Augenblick nachdenklich dagestanden, begann er wieder:

– Wie hast du gesagt?

– Siscoignard.

– Das ist aber noch immer kein Vaterland, so ein Nest.

– Aber so heißt meine Heimath, sagte die Frau, schien dann eine Minute lang über etwas nachzusinnen, und fügte schließlich hinzu:

– Nun versteh ich’s, mein Herr: Sie sind aus Frankreich; ich bin aus der Bretagne.

– Und was weiter?

– Ja, das ist nicht die nämliche Heimath.

– Aber das nämliche Vaterland! schrie der Sergeant.

Die Frau erwiderte hierauf nur:

– Ich bin aus Siscoignard.

– Gut; lassen wir’s gelten, dein Siscoignard, entgegnete der Sergeant. Dort ist also deine Familie her?

– Ja.

– Und was treiben sie, die Leute?

– Sie sind alle gestorben. Ich habe niemand mehr.

Der Sergeant, der sich nicht ganz ungern reden hörte, inquirirte weiter:

– Eltern hat man doch, zum Teufel! oder hat sie gehabt. Wer bist du? Heraus mit der Sprache!

Das Weib lauschte in dumpfem Staunen den drei Worten »hat sie gehabt«, die schon mehr wie ein Niesen als wie eine menschliche Rede klangen.

Die Marketenderin fühlte das Bedürfniß, sich ins Mittel zu legen. Sie begann abermals den Säugling zu streicheln und klopfte den zwei anderen Kindern auf die Backen.

– Wie heißt der Milchegel da? fragte sie. Aber nein, es ist offenbar ein Mädel.

– Georgette, antwortete die Mutter.

– Und der Aelteste? denn der wenigstens ist doch ein Mannsbild, der Schlingel dort.

– René-Jean.

– Und der Jüngere, der ja auch ein Mannsbild ist und noch dazu zwei Backen hat wie ein Trompeter?

– Das ist mein Dicker, Alain.

– Nett sind sie, die kleinen Kerle, sagte die Marketenderin; das stolzirt euch schon so einher wie etwas Vernünftiges.

Der Sergeant aber ließ nicht ab:

– Heraus jetzt mit der Sprache, meine Dame! Hast du ein Haus?

– Ich habe eins gehabt.

– Wo?

– In Azé.

– Und warum bist du nicht mehr in diesem Haus?

– Weil man mir’s verbrannt hat.

– Wer?

– Ich weiß nicht – so eine Schlacht eben.

– Woher kommst du?

– Von dort drüben her.

– Wohin gehst du?

– Ich weiß nicht.

– Zur Sache endlich: Wer bist du?

– Ich weiß nicht.

– Was, du weißt nicht, wer du bist?

– Wir sind eben Leute, die sich flüchten.

– Mit welcher Partei hältst du’s?

– Ich weiß nicht.

– Stehst du zu den Blauen oder stehst du zu den Weißen? Zu wem stehst du?

– Zu meinen Kindern steh ich.

Es entstand eine Stille; dann sagte die Marketenderin:

– Ich habe nie eins gehabt, ein Kind: ich war immer so in Eile.

– Aber von deinen Eltern weißt du doch etwas? hob der Sergeant wieder an. Heraus damit, meine Dame: wie war’s mit deinen Eltern bestellt? Ich heiße Radoub; ich bin Sergeant; ich stamme aus der Straße Cherche-Midi wie mein Vater und meine Mutter; ich kann von meinen Eltern erzählen. Erzähle du uns von den Deinigen. Sage uns, was das für Leute gewesen sind.

– Fléchard nannten sie sich. Weiter ists nichts mit ihnen.

– Allerdings, ein Fléchard heißt Fléchard, gerade wie ein Radoub Radoub heißt. Aber man treibt doch irgend ein Gewerbe? Womit haben sie sich beschäftigt? Womit beschäftigen sie sich? Wie haben sie sich durch die Existenz fléchardirt, deine Fléchards?

– Sie waren Bauersleute. Mein Vater war verstümmelt und arbeitsunfähig von wegen der Stockprügel, die der gnädige Herr, sein und unser gnädiger Herr, ihm hatte geben lassen, was noch aus Güte geschah, weil mein Vater ein Kaninchen weggenommen hatte, weswegen man zum Tod verurtheilt wurde; aber der gnädige Herr war barmherzig gewesen und hatte gesagt: Gebt ihm bloß hundert Stockprügel; und so ist mein Vater ein Krüppel geworden.

– Weiter.

– Mein Großvater war ein Hugenott. Der hochwürdige Herr Pfarrer hat ihn auf eine Galeere schicken lassen. Ich war noch ganz klein.

– Weiter.

– Meines Mannes Vater war ein Salzschmuggler. Der König hat ihn erhängen lassen.

– Und dein Mann, was treibt der?

– Dieser Tage hat er sich geschlagen.

– Für wen?

– Für den König.

– Weiter.

– Nun ja, und für seinen gnädigen Herrn.

– Weiter.

– Nun ja, und für den hochwürdigen Herrn Pfarrer.

– Himmelherrgottsakramentsochsen! platzte ein Grenadier heraus.

Das Weib fuhr vor Entsetzen in die Höhe.

– Sie sehen, werthe Frau, daß wir echte Pariser sind, sagte die Marketenderin verbindlich.

Das Weib faltete die Hände und rief:

– Jesus, Maria und Joseph!

– Nur keine abergläubischen Faxen, ermahnte sie der Sergeant.

Die Marketenderin setzte sich neben sie und zog den ältesten Knaben zu sich her, der es auch gern geschehen ließ. Kinder beruhigen sich gerade so, wie sie erschrecken: man weiß nicht weshalb; sie haben einen geheimnißvollen innerlichen Tastsinn.

– Sie arme gute Frau vom Land, Sie haben da ein nett Paar Rangen; das ist immerhin etwas. Man sieht ihnen ihr Alter an: der Größere geht ins fünfte Jahr, der Andere ins vierte. Aber das muß ich sagen, der Wurm, den Sie an der Brust haben, ist ein verteufelter Vielfraß. O du kleines Ungeheuer, ob du wohl aufhören wirst, deine Mama so abzugrasen!

Wissen Sie Frau, Sie müssen keine Furcht haben. Eigentlich sollten Sie sich ins Bataillon aufnehmen lassen und es machen wie ich. Mich heißen sie die Husarin; ein Spitzname, was? Aber lieber will ich so heißen als Mamsell Bicorneau wie meine Mutter. Ich bin die Marketenderin, heißt so viel wie eine Person, welche Erfrischungen herumreicht, wenn man sich zusammenkartätscht und abschlachtet, wenn der Teufel los ist, was? Wir haben ungefähr den gleichen Fuß; ich werde Ihnen ein Paar von meinen Schuhen geben. Ich habe den 10. August mitgemacht zu Paris. Westermann hat von meinem Schnaps getrunken. Ich habe auch Ludwig XVI., das heißt Ludwig Capet köpfen sehen. Er wollte nicht dran; ist auch ganz begreiflich; wenn man bedenkt, daß er am 13. Januar noch Kastanien gebraten hat und gelacht mit seiner Familie! Als man ihn mit Gewalt auf das Fallbrett legte, wie man’s nennt, trug er weder Rock noch Schuhwerk mehr, blos das Hemd, eine gesteppte Weste, eine graue Tuchhose und grauseidene Strümpfe. Der Fiaker, in dem er angefahren kam, war grün angestrichen. Sehen Sie, Sie thäten am besten, mit uns zu gehen; wir sind ein Bataillon von lauter guten Kerlen; Sie wären dann die Marketenderin Nummer zwei; Sie werden den Rummel bald los haben; ich will Ihnen schon zeigen, wie einfach das Geschäft ist: da hat man sein Fäßchen mit der Schelle und geht eben in den Lärm, ins Pelotonfeuer, in die Kanonenschüsse, kurz mitten in die Suppe hinein und ruft: Nun, Kinder, mag Keiner eins trinken? Das ist die ganze Hexerei. Von mir kriegt Jeder einen Schluck, auf Ehre ja, die Weißen wie die Blauen, obschon ich blau bin und das in der Wolle gefärbt; aber trinken dürfen sie Alle; das hat eine trockene Leber, so ein Verwundeter, und dann sucht sich ja der Tod die Leute nicht nach ihrem Glaubensbekenntniß aus. Im Angesicht des Todes sollten die Menschen einander eine Hand geben. Eigentlich ist es etwas Einfältiges, so eine Keilerei.

Kommen Sie nur mit! Wenn ich aus dem Leben muß, können Sie dann das Geschäft fortsetzen.

Ich sehe nur so aus, wissen Sie; im Grunde bin ich ein gutmüthiges Weib und ein braver Kerl; vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten.

Als die Marketenderin schwieg, murmelte die Arme vor sich hin:

– Unsere Nachbarin hieß Marie-Jeanne und unsere Magd Marie-Claude. Unterdessen belehrte der Sergeant Radoub den einen Grenadier:

– Sei still! Du hast die Frau erschreckt. In Damengesellschaft flucht man nicht.

– Aber, entgegnete der Grenadier, es ist denn doch die reine Seekrankheit für die Intellektualität eines honetten Menschen, wenn man solche chinesische Kaffern sieht, denen der gnädige Herr den Schwiegervater zum Krüppel gehauen, denen der hochwürdige Herr Pfarrer den Großvater ins Zuchthaus, denen der König den Vater an den Galgen gebracht hat, und die sich zuguterletzt noch herumholzen und eine Rebellion anfangen und sich abtakeln lassen für den König, den gnädigen Herrn und den hochwürdigen Herrn Pfarrer!

– Keine Widerreden! rief der Sergeant.

– Man schweigt ja schon, murrte der Grenadier; aber verdrießen darf es Einen, wenn eine so nette Frau wie die sich der Gefahr aussetzt, blos für den Jux eines Pfaffen den Schädel eingeschlagen zu bekommen.

– Mann, sagte der Sergeant, wir sind hier nicht im Club unseres Stadtviertels; darum sei kein Cicero.

Und er wendete sich wieder zu dem Weib: – Aber dein Mann, meine Dame? Was treibt er? Was ist aus ihm geworden?

– Nichts: man hat ihn ja umgebracht.

– Wo denn?

– Im Busch.

– Wann?

– Vor drei Tagen.

– Und wer?

– Ich weiß nicht.

– Was? Du weißt nicht, wer dir deinen Mann umgebracht hat?

– Nein.

– War’s ein Blauer oder war’s ein Weißer?

– Eine Flintenkugel war’s.

– Und vor drei Tagen?

– Ja.

– Wozugegen war’s?

– Bei Ernée. Dort ist er gefallen, ja.

– Und du, was treibst du, seitdem du deinen Mann verloren hast?

– Ich trage meine Kinder fort.

– Wohin willst du sie tragen?

– Vorwärts.

– Und wo schläfst du?

– Auf der Erde.

– Und wovon nährst du dich?

– Von nichts.

Der Sergeant machte jene militärische Grimasse, wobei der Schnurrbart bis zur Nasenspitze hinaufgezogen wird:

– Also von nichts?

– Heißt das von Schlehen, von Brombeeren, wenn noch welche vom vergangenen Jahre her übrig geblieben sind, dann auch von Heidelbeeren und von den Schößlingen am Farrenkraut.

– Allerdings gleichbedeutend mit nichts.

Das älteste Kind schien zu verstehen und sagte:

– Mich hungert.

Da zog der Sergeant ein Stück Kommisbrod aus der Tasche und reichte es der Mutter hin. Diese brach das Brod in zwei Theile, die sie den Kindern gab. Gierig fielen die Kleinen darüber her.

– Für sich hat sie nichts behalten, brummte der Sergeant.

– Sie hat eben keine Lust zum Essen, sagte ein Soldat.

– Sie ist eben die Mutter, entgegnete der Sergeant.

Die Kinder hielten inne:

– Trinken! sagte das Eine: – Trinken! wiederholte das Andere.

– Giebt’s denn kein Wasser in dem verteufelten Wald? sagte der Sergeant.

Da nahm die Marketenderin den kleinen kupfernen Becher, der neben dem Glöckchen an ihrem Gürtel hing, drehte den Hahn des Fäßchens, das sie querüber an einem Riemen trug, ließ ein paar Tropfen in den Becher rinnen und setzte ihn den Kindern an die Lippen.

Das ältere trank und verzog das Gesicht. Das jüngere spuckte aus.

– Aber es ist doch etwas Gutes, sagte die Marketenderin.

– Ein Schwerenöther? fragte der Sergeant.

– Und noch dazu vom besten. Es sind halt Bauern, antwortete sie, indem sie den Becher auswischte.

Der Sergeant begann abermals:

– So viel steht also fest, meine Dame, daß du davonläufst?

– Ich muß ja wohl.

– Immer querfeldein, so auf gut Glück hin?

– Erst renne ich aus Leibeskräften, dann geh ich nur noch, und nachher fall ich hin.

– Traurige Wirtschaft, das! meinte die Marketenderin.

– Es wird ja gerauft, stammelte das Weib. Ringsum ist Alles eine große Schießerei. Ich weiß nicht, was sie gegen einander haben. Meinen Mann haben sie mir umgebracht. Weiter versteh ich nichts davon.

Der Sergeant stampfte mit seinem Flintenkolben auf die Erde, daß es klirrte: – Ja, ein dummer Krieg, hol mich der Teufel!

– Gestern Nacht, fuhr das Weib fort, haben wir uns in einer Höhlung schlafen gelegt.

– Selb Vieren?

– Selb Vieren.

– Schlafen gelegt?

– Schlafen gelegt.

– Also aufrecht schlafen gelegt, bemerkte der Sergeant. Und zu den Soldaten gewendet:

– Kameraden, sagte er, eine Höhlung heißt in der Sprache dieser Eingeborenen ein alter, hohler, abgestorbener Baum, in den ein Mensch nur hineinschlüpfen kann wie ein Säbel in die Scheide. Aber was ist da zu machen? Es gehört einmal nicht zu den Naturnotwendigkeiten, daß Jeder in Paris geboren wird.

– In einem Baumstamm übernachten! staunte die Marketenderin, und dazu mit drei Kindern!

– Und wenn nun die Heulerei der Kleinen losging, fuhr der Sergeant fort, muß es den Leuten, die ihr Weg vorüberführte und die gar nichts sehen konnten, ganz schnurrig vorgekommen sein, einen Baum »Papa« und »Mama!« schreien zu hören.

– Es ist noch Sommer, gottlob! seufzte das Weib. Und sie starrte zu Boden, in Ergebung, mit dem Staunen der Geschöpfe, die einer Naturgewalt unterliegen.

Schweigend umstanden die Soldaten dieses Elend: eine Wittwe, drei Waisen, auf der Flucht, ausgestoßen, preisgegeben dem ringsum grollenden Krieg, dem Hunger, dem Durst, ohne eine andere Nahrung als das Gras des Feldes, ein anderes Obdach als den freien Himmel. Der Sergeant trat näher und betrachtete den Säugling. Da ließ die Kleine die Mutterbrust los, wendete langsam das Köpfchen um und schaute mit einem Lächeln aus seinen schönen blauen Augen in das unheimlich wilde, struppige, borstige Gesicht, das sich hinbeugte über sie. Der Sergeant richtete sich wieder auf: es rann ihm eine große Thräne längs der Wange herab und blieb wie eine Perle an der Spitze seines Schnurrbarts hängen. Mit fester Stimme sprach er:

– Kameraden, aus der ganzen Bescheerung läßt sich schließen, daß dem Bataillon Vaterfreuden bevorstehen. Alles einverstanden? Die drei Kleinen werden an Kindesstatt angenommen.

– Die Republik hoch! riefen die Grenadiere.

– Abgemacht, sagte der Sergeant und streckte beide Arme über die Mutter und die Kleinen aus:

– Hier seht ihr also die Kinder des Bataillons Bonnetrouge.

Die Marketenderin sprang vor Freude in die Höhe und rief:

– Recht so, drei Köpfe unter einer Kappe. Dann drückte sie schluchzend, überschwänglich die arme Wittwe an ihr Herz und sagte:

– Wie doch die Kleine schon so muthwillig dreinschaut!

– Hoch die Republik! ertönte es nochmals aus Aller Mund, und der Sergeant sprach zur Mutter:

– Komm mit, Bürgerin.

Zweites Buch.

0015

Die Korvette »Claymore«.

I.

Englisch-französische Mischung.

Im Frühling 1793, während Frankreich, von allen Seiten her gleichzeitig angegriffen, sich mit einem pathetischen Intermezzo, dem Sturz der Gironde, beschäftigte, trug sich auf der Inselgruppe des Kanals Folgendes zu.

Eines Abends, am 1. Juni, auf Jersey, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang, bei nebliger Witterung, die für eine heimliche Abfahrt gerade in Folge ihrer Gefährlichkeit günstig ist, segelte eine Korvette aus der kleinen öden Bucht von Bonnenuit. Das Fahrzeug hatte eine französische Mannschaft an Bord, gehörte jedoch zu der englischen Flottille, die wie ein Vorposten bei der östlichen Spitze der Insel ihre Station hatte. Die englische Flottille stand unter dem Kommando des Fürsten von la Tour-d’Auvergne, aus dem Geschlechte der Bouillon, und auf seinen Befehl war die Korvette mit einem eigenen und dringenden Auftrag detachirt worden.

Diese in Trinity-House unter dem Namen »The Claymore« eingetragene Korvette war scheinbar ein Fracht-, in Wirklichkeit aber ein Kriegsschiff. Trotz ihrem schwerfälligen, friedfertig merkantilen Aussehen, war ihr keineswegs zu trauen, denn bei ihrem Bau hatte man einen Doppelzweck im Auge gehabt: List, um womöglich zu täuschen, und Kraft, um nöthigen Falls zu kämpfen. Für den heutigen Nachtdienst hatte die Ladung des Zwischendecks dreißig kurzen Marinegeschützen von schwerem Kaliber den Platz räumen müssen. In Voraussicht eines Sturmes oder vielmehr um dem Fahrzeug seine harmlose Figur zu belassen, waren dieselben eingezogen, das heißt mit dreifachen Ketten dergestalt nach innen zu festgehalten, daß die Mündungen die überdies zugestopften Lucken kaum berührten; von außen war also nichts sichtbar; auch die Stückpforten waren geblendet, jede Oeffnung geschlossen; kurz die Korvette trug gewissermaßen eine Maske. Die ordonnanzmäßigen Korvetten führen ihre Geschütze nur auf dem Verdeck; dieses Schiff hingegen, für Trug und Ueberfall berechnet, war so gebaut, daß, wie wir bereits wissen, die Batterie nicht auf dem Deck, sondern im Zwischendeck untergebracht war. Obgleich nach einem massiven, gedrungenen Modell konstruirt, war der »Claymore« den Schnellseglern beizuzählen; seine Schale war so fest wie sonst keine zweite in der englischen Marine und im Gefecht blieb seine Leistungsfähigkeit kaum hinter der einer Fregatte zurück, obwohl er an Stelle des Besanmastes einen ungleich kleineren mit einer einfachen Brigantine führte. Von seltenem Scharfsinn zeugte das ausgezeichnete geschweifte Fugenwerk am Steuer, welches auf den Werften von Southampton mit fünfzig Pfund Sterling bezahlt worden war.

Die ausschließlich französische Schiffsmannschaft bestand aus übergelaufenen Matrosen und war von Emigranten befehligt. Unter diesen sorgfältig ausgesuchten Leuten befand sich auch nicht Einer, der nicht ein guter Seemann, ein guter Soldat und ein guter Royalist gewesen wäre; Alle bekannten sie sich zu dem dreifach schwärmerischen Kultus: Schiff, Waffe, König. Behufs einer eventuellen Landung war ihnen ein halbes Bataillon Marinetruppen beigegeben worden. Kapitän der Korvette war der Graf du Boisberthelot, Ritter des Sankt-Ludwigsordens und einer der verdienstvollsten Marineoffiziere des früheren Regime, Lieutenant der Chevalier von La Vieuville, der bei den Gardes-françaises die Kompagnie kommandirt hatte, in welcher Hoche Sergeant gewesen, und Lootse Philipp Gacquoil, der geschickteste Fachmann von ganz Jersey.

Daß das Fahrzeug etwas Außerordentliches vorhatte, unterlag keinem Zweifel, umsomehr als ein Mann an Bord gekommen war, dem man irgend ein Wagniß zutrauen mußte. Es war ein hochgewachsener Greis, rüstig, von aufrechter Haltung und strengen Gesichtszügen; sein Alter genau festzustellen hätte schwer fallen dürfen, da er zugleich bejahrt und doch wieder jung erschien – eine jener Gestalten voller Furchen und voller Kraft, mit weißem Haar auf der Stirn und einem Blitz im Auge, an Körperstärke Vierziger und Achtziger an geistigem Ansehen. Während er die Korvette bestieg, hatte man durch den klaffenden Schlitz seines Schiffermantels wahrnehmen können, daß er sogenannte »Bragou-Bras« oder Pumphosen trug, ferner hohe Stiefel und eine Jacke aus Ziegenfell, das seidengestickte Leder nach außen, das rauhe, borstige Haar nach innen zugekehrt, also ganz wie ein bretonischer Bauer gekleidet war. Jene altmodischen bretonischen Jacken ließen sich auf zweierlei Arten tragen, sowohl an Festtagen wie bei der Arbeit, je nachdem man sie nach der glatten oder der behaarten Seite wendete; so ging man die Woche über im Pelz, am Sonntag in der Stickerei.

Der Bauernanzug dieses Greises war überdies, gleichsam zur Vervollständigung seiner trügerisch beabsichtigten Echtheit, an Knieen und Ellenbogen wie durch langjährigen Gebrauch abgenutzt, und auch der grobe Tuchmantel glich dem heruntergekommenen Erbstück einer Fischerfamilie. Als Kopfbedeckung trug der Mann den Hut von hoher Form mit breiter Krämpe, der, wenn man letztere in der wagerechten Stellung läßt, ländlich aussieht, kriegerisch aber, wenn man sie auf einer Seite vermittelst einer Schnur und Kokarde aufstülpt. Er trug ihn nach Bauernmanier einfach mit hängender Krämpe, ohne Schnur noch Kokarde.

Der Gouverneur der Insel und der Fürst von la Tour-d’Auvergne hatten ihn persönlich an Bord geführt und untergebracht, und der geheime Agent des Prinzen, Gélambre, ein ehemaliger Garde-du-corps des Herrn Grafen von Artois, der schon die Einrichtung der Kajüte selber überwacht hatte, war trotz seinem alten Adel in der Rücksicht und Hochachtung so weit gegangen, dem Greis die Reisetasche nachzutragen. Auch hatte sich Herr von Gélambre, als er das Schiff wieder verließ, vor dem Bauern tief verneigt; Lord Balcarras hatte ihm noch zugerufen: »Glück auf, General!« und der Fürst von la Tour-d’Auvergne: »Lieber Vetter, auf Wiedersehen!«

0020

Herr v. Gélambre hatte sich vor dem Bauern tief verneigt.

»Der Bauer.« So wurde der Passagier auch wirklich gleich nach seinem Erscheinen vom Schiffsvolk in jenen wortkargen Gesprächen bezeichnet, die Seeleute mit einander führen; doch wenn ihnen auch der Schlüssel des Räthsels fehlte, so viel wußten sie immerhin, daß jener Bauer ebensowenig ein Bauer war wie der »Claymore« ein Kauffahrer.

Bei spärlichem Wind ging die Korvette unter Segel, steuerte an Boulay-Bay vorüber und blieb noch eine gute Weile lavirend in Sicht, bis sie, immer mehr zusammenschrumpfend, in der sinkenden Nacht verschwand.

Eine Stunde später schickte Gélambre von seiner Wohnung in Saint-Hélier aus folgende kurze Zeilen via Southampton an den Herrn Grafen von Artois ins Hauptquartier des Herzogs von York: »Königliche Hoheit, die Abfahrt hat soeben stattgefunden. Erfolg gesichert. In acht Tagen steht die ganze Küste in Flammen, von Granville bis Saint-Malo.«

Vier Tage vorher war dem Abgeordneten Prieur vom Marne-Departement, Kommissär des Nationalkonvents bei der Armee von Cherbourg, derzeit in Granville beschäftigt, durch einen geheimen Eilboten und von derselben Hand wie obige Depesche geschrieben, dies Billet zugestellt worden: »Bürger Abgeordneter, den 1. Juni, zur Ebbezeit, wird die Kriegskorvette mit maskirter Batterie »The Claymore« auslaufen, um einen Mann an die französische Küste zu bringen, dessen Personalbeschreibung anbei folgt: hoher Wuchs, alt, Haar weiß, Bauernkleider und Aristokratenhände. Morgen ein Näheres. Er wird am zweiten in der Frühe landen. Alarmiren Sie die Kreuzer, kapern Sie die Korvette, lassen Sie den Mann guillotiniren.«

II.

Ueber Schiff und Passagier Nacht.

Die Korvette, anstatt südlich gegen Sainte-Catherine zuzusegeln, hatte ihren Kurs nach Norden, dann nach Osten gerichtet und war schließlich resolut zwischen Serk und Jersey in die Meerenge eingedrungen, die man le Passage de la Deroute nennt. Damals gab es weder auf dem einen noch auf dem anderen Ufer einen Leuchtthurm.

Die Sonne war völlig untergegangen und die Nacht dunkler als es sonst im Sommer zu sein pflegt; eine Mondnacht, aber ein Himmel, eher an die Aequinoktial- als an die Sonnenwendezeit erinnernd, so gleichmäßig war er mit schweren Wolken ausgefüttert; demnach konnte, aller Wahrscheinlichkeit nach, der Mond erst im Untergehen, bei seiner Berührung mit dem Horizont sichtbar werden. Einige Wolken hingen sogar bis auf das Meer herab und bedeckten es mit Nebeln.

Die allseitige Dunkelheit war jedoch günstig. Der Lootse Gacquoil hatte den Plan, Jersey links und Guernesey rechts liegen lassend, nach einer kühnen Durchfahrt zwischen Les Hanois und Les Douvres in irgend eine Bucht an der Küste von Saint-Malo einzulaufen; dieser Weg war zwar weniger kurz als der über Les Minquiers, aber sicherer, da die französischen Kreuzer bis auf weiteren Befehl Ordre hatten, vor Allem die Strecke zwischen Saint-Helier und Granville im Auge zu behalten.

Mit Aufgebot aller Mittel hoffte Gacquoil, unvorhergesehene Zwischenfälle abgerechnet, bei einigermaßen günstigem Wind die französische Küste vor Tagesgrauen zu erreichen.

Bis jetzt ging Alles nach Wunsch; die Korvette war eben an Gros-Nez vorbeigesegelt; das Wetter schien, wie der Seemann sagt, schmollen zu wollen; der Wind wurde stärker und die Wellen bewegter; aber gerade dieser Wind war gut und die See ging hoch, ohne deshalb stürmisch zu sein. Nur bekam bei gewissen Wogenschlägen das Vordertheil des Fahrzeugs etwas zu viel Senkung.

Der »Bauer«, den Lord Balcarras »General« genannt, und zu dem der Fürst von la Tour-d’Auvergne »Lieber Vetter« gesagt, hatte den Matrosenschritt und spazierte ruhig und gravitätisch auf dem Deck auf und nieder. Daß das Schiff heftig hin und hergeworfen wurde, schien er nicht zu bemerken.

0023

Der Bauer spazierte ruhig und gravitätisch auf und nieder.

Von Zeit zu Zeit zog er aus der Tasche seines Wammses ein Schokoladetäfelchen, von dem er ein Stück abbrach und verzehrte: trotz seinem weißen Haar hatte er noch alle seine Zähne. Nur den Kapitän redete er zuweilen leise und bündig an, sonst keine Seele, und dieser hörte ehrerbietig zu, als hielte er eher seinen Passagier als sich selber für den eigentlich Kommandirenden.

Der »Claymore« fuhr nun, in Nebel eingehüllt, sehr geschickt die gedehnte, steile Nordküste von Jersey entlang, dem Lande möglichst nah, wegen der gefürchteten Klippe Pierres de Leeq, die sich in der Mitte der Meerenge zwischen Jersey und Serk befindet. Gacquoil, aufrecht beim Steuer, die Richtung von Grève de Leeq Gros-Nez, Plémont der Reihe nach angebend, ließ die Korvette einigermaßen blindlings, aber mit vollkommener Sicherheit, wie Einer, der zum Haus gehört und das ganze Winkelwerk des Meeres kennt, zwischen all den Verkettungen von Hindernissen einhergleiten. Das Vordertheil des Schiffes hatte kein Licht, aus Furcht vor einem Entdecktwerden in diesen so argwöhnisch überwachten Gegenden. Man wünschte sich zu dem Nebel Glück. Jetzt war man bei La Grande-Etaque, und die Finsterniß so dicht, daß man die ragenden Umrisse des Pinacle kaum zu unterscheiden vermochte. Auf dem Thurm von Saint-Ouen hörte man die zehnte Stunde schlagen, ein Zeichen, daß man immer noch den Wind im Rücken hatte. Die Gunst der Elemente ließ nicht nach; die See ging höher, weil man sich nicht weit von La Corbière bewegte.

Kurz nach Zehn geleiteten der Graf du Boisberthelot und der Chevalier von La Vieuville den »Bauern« nach seiner Kajüte, die keine andere war als die des Kapitäns. Beim Eintreten sagte der Greis mit gedämpfter Stimme:

– Sie wissen, meine Herren, das Geheimniß muß gewahrt werden. Kein Wort also, bis die Mine springt. Sie allein kennen hier meinen Namen.

– Wir würden ihn mitnehmen ins Grab, antwortete Boisberthelot.

– Ich für mein Theil, erwiderte der Greis, verschweige ihn, selbst im Angesicht des Todes.

So verabschiedeten sich die Drei.

III.

Adelig-bürgerliche Mischung.

Der Kapitän und sein Lieutenant stiegen wieder aufs Deck und gingen plaudernd neben einander auf und ab. Sie unterhielten sich offenbar über ihren Passagier. Dies im großen Ganzen ihr Gespräch, das ihnen der Wind vom Mund in die Nacht entführte.

– Es wird sich bald zeigen, ob er der rechte Mann ist, brummte Boisberthelot dem Chevalier halblaut ins Ohr.

– Einstweilen ist er ein Fürst, entgegnete La Vieuville.

– Beinahe.

– Französischer Edelmann, aber bretonischer Fürst.

– Wie die La Trémoille, wie die Rohan.

– Mit denen er auch verschwägert ist.

Boisberthelot begann wieder:

– In Frankreich und in den Galawagen des Königs ist er der Marquis, gerade wie ich Graf bin und Sie Chevalier.

– Eine verschollene Mär, die Galawagen! rief La Vieuville. Jetzt ist der Karren Trumpf.

Nach einer Pause sagte Boisberthelot:

– In Ermangelung eines französischen Fürsten behilft man sich schon mit einem Bretonen.

– Wenn die Tauben nicht mehr gebraten herumfliegen, so …. Nein, wenn kein Adler herumfliegt, begnügt man sich mit einem Raben.

– Ein Geier wäre mir lieber, erwiderte Boisberthelot.

– Allerdings! meinte La Vieuville, ein Schnabel und zwei Klauen.

– Es wird sich ja zeigen.

– Hoffentlich, antwortete La Vieuville, denn zu lang schon thut ein Führer Noth. Ich sage wie Tinténiac: »Nur einen Führer und Patronen!« Sehen Sie, Graf, ich kenne sie so ziemlich, alle möglichen und unmöglichen Führer, die von gestern, die von heut und die von morgen: nicht Einer hat den Soldatenschädel, den wir gerade brauchen. In dieser verteufelten Vendée muß der General auch ein Inquisitor sein; den Feind abhetzen muß er, ihm jede Mühle, den Busch, den Graben, die Erdscholle streitig machen, ihm faule Händel zwischen die Beine werfen, Alles verwerthen, nichts aus den Augen verlieren, viel massakriren, abschrecken, den Schlaf und die Barmherzigkeit davonjagen. Zur Stunde giebt es in jener Armee von Bauern wohl Helden, aber keine Kommandeurs. Von Elbée ist eine Null, Lescure ein kranker Mann, Bonchamps ein Pardonirer: Mitleid dummes Zeug! La Rochejacquelein mag einen prächtigen Infanterielieutenant abgeben; Silz weiß mit der Taktik, aber nicht mit den Nothbehelfen des Freischaarenkriegs umzugehen. Cathelineau ist ein naiver Fuhrmann, Stofflet ein durchtriebener Förster, Bérard ein untauglicher, Boulainvilliers ein lächerlicher, Charette ein abscheulicher Mensch; den Barbier Gaston will ich hier gar nicht erwähnen, denn Sapperlot noch einmal! weshalb liegen wir der Revolution in den Haaren, und was soll uns von den Republikanern unterscheiden, wenn wir den Edelleuten Perrückenmacher als Kommandanten zumuthen?

– Diese Schandrevolution steckt eben auch uns mit an.

– Wie eine Räude – ganz Frankreich.

– Ja, die Räude des dritten Standes, fuhr Boisberthelot fort. Nur England kann uns davon kuriren.

– Und das wird es auch, verlassen Sie sich darauf, Kapitän.

– Einstweilen bleibt’s etwas Unappetitliches.

– Und wie! Ueberall Plebs; die Monarchie mit Stofflet, dem Förster des Herrn von Maulevrier als Generalissimus, braucht die Republik um den Portiersohn des Herzogs von Castries, Seine Excellenz Herrn Staatsminister Pache, nicht zu beneiden. Ein sauberes Gegenüber, dieser Vendéer Krieg: auf der einen Seite der Bierbrauer Santerre und auf der andern Gaston, der Haarkünstler.

– Mein lieber La Vieuville, auf diesen Gaston halte ich gewissermaßen etwas. Er hat sich in seinem Rayon von Guéménée nicht übel benommen und dreihundert Blaue ganz hübsch zusammengepfeffert, die zuvor noch ihre eigene Grube graben mußten.

– Recht brav, aber das hätte ich gerade so gut besorgt.

– Ei der Tausend, ich auch.

– Große Kriegsthaten, begann La Vieuville abermals, beanspruchen bei dem, der sie vollbringen soll, Noblesse; sie geziemen den Rittern kurzweg und nicht einem Ritter vom Kamm.

– Und dennoch, entgegnete Boisberthelot, giebt es in jenem dritten Stand anständige Menschen. Da haben Sie zum Beispiel einen gewissen Uhrmacher Joly, vormals Sergeant beim Regiment Flandern: Der Mann geht Ihnen unter die Vendéer und sammelt eine Bande bei der Küste; nun hat er aber einen Sohn, der als Republikaner bei den Blauen dient, während er zu den Weißen hält. Schließlich Zusammenstoß, Gefecht. Der Vater nimmt seinen Sohn gefangen und jagt ihm eine Kugel durch das Hirn.

– Der ist allerdings nicht ohne, sagte La Vieuville.

– Ein monarchischer Brutus, setzte Boisberthelot hinzu.

– Unerträglich bleibt es aber trotz alledem doch, unter dem Kommando eines Coquereau zu stehen, eines Jean-Jean, Moulins, Focart, Bouju oder Chouppes!

– Lieber Chevalier, drüben beim Feind ärgern sie sich genau so. Wir stecken voll geringer Leute und sie voll Adel. Oder meinen Sie, daß die Sansculotten ein Wohlgefallen finden an Bürgergeneralen wie dem Grafen von Canclaux, dem Vicomte von Miranda, dem Vicomte von Beauharnais, dem Grafen von Valence, dem Marquis von Custine, dem Herzog von Biron?

– Ein tolles Durcheinander!

– Und dem Grafen von Chartres nun gar!

– Dem Sohn von Egalité? Apropos, wann wird denn der Vater wohl einmal König?

– Niemals.

– Er rückt dem Throne näher. Seine Verbrechen kommen ihm zu Statten.

– Aber seine Laster gestatten ihm nicht, zu kommen, sagte Boisberthelot. Und nach einer Pause setzte er wieder hinzu:

– Und doch hatte er eine Aussöhnung angestrebt. Er hatte den König besucht. Ich war dabei, in Versailles, wie ihm auf den Rücken gespuckt wurde.

– Von der großen Treppe herab?

– Ja.

– Geschah ihm ganz recht.

– Unter uns nannten wir ihn Philipp, »das liebe Vieh«.1

– Eine Glatze, ein Gesicht voller Beulen, ein Königsmörder – ekelhaft! Und La Vieuville setzte noch hinzu:

– Ich war bei Quessant mit ihm zusammen.

– Auf dem »Saint-Esprit?«

– Ja.

– Wäre er dem Signal gefolgt, das ihm befahl, unter dem Wind des Admiralsschiffs von d’Orvillers zu bleiben, so hätte er die Engländer am Durchbrechen verhindert.

– Gewiß.

– Hat er sich damals wirklich bis zum Kiel hinab verkrochen?

– Das nicht. Aber behaupten muß man es doch, sagte La Vieuville und brach in Lachen aus.

– Dummköpfe giebt’s einmal, ergänzte Boisberthelot. Nehmen Sie nur zum Beispiel jenen Boulainvilliers, den Sie soeben erwähnt: ich hab ihn gekannt, hab ihn wirthschaften sehen. Zu Anfang waren die Bauern mit Piken bewaffnet; hatte sich der Mensch wahrhaftig in den Kopf gesetzt, sie auf die Pike abzurichten! Er ließ ihnen Handgriffe einüben: Pike schräg! oder: Schleift die Pike, Spitze herab! Liniensoldaten aus diesen Wilden zu machen, war seine Marotte. Er glaubte, ihnen beibringen zu können, wie man Carrés mit vorgeschobenen Schützen oder hohle Vierecke formirt. Dabei radebrechte er die Kommandosprache von Olims Zeiten, und nannte den Feldwebel noch Rottmeister wie unter Ludwig XIV. Er war förmlich darauf versessen, all die Wilderer zu einem Regiment zusammenzuschweißen; er hatte regelrechte Kompagnien organisirt, deren Sergeanten jeden Abend einen Kreis um ihn bilden mußten, um die Parole und Gegenparole vom Leibkompagnie-Sergeanten des Obersten zu empfangen, der sie dem Leibkompagnie-Sergeanten des Majors zuflüsterte, welcher sie wiederum seinem nächsten Nachbar übermittelte und so von Ohr zu Ohr bis herab zum letzten Mann. Einmal sogar kassirte er einen Offizier, der sich mit bedecktem Haupte erhoben hatte, als ihm der Sergeant die Parole geben sollte. Wie das anschlug, können Sie sich schon vorstellen. Dem Strohkopf ging nicht ein, daß Rüpel rüpelhaft geführt sein wollen, und daß sich aus Waldmenschen keine Kasernenmenschen machen lassen. Ich hab ihn wirthschaften sehen, diesen Boulainvilliers.

Sie thaten ein paar Schritte, Jeder mit eigenen Gedanken beschäftigt. Dann wurde das Gespräch wieder aufgenommen:

– Apropos, bestätigt sich’s auch, daß Dampierre gefallen ist?

– Ja wohl, Kapitän.

– Vor Condé?

– Im Lager von Pamars. Eine Kanonenkugel.

Boisbertheloi seufzte.

– Der Graf von Dampierre! Auch Einer von den Unsern, der zu den ihren zählte.

– Er reise glücklich!« sagte La Vieuville.

– Und Mèsdames? wo sind die?

– In Triest.

– Immer noch?

– Immer. Und La Vieuville setzte heftig hinzu:

– O über diese Republik! So viel Verwüstungen um einer Bagatelle willen! Wenn man bedenkt, daß diese Revolution aus einem Defizit von ein paar Millionen herausgewachsen ist! …

– Kleine Ausgangspunkte niemals unterschätzen, bemerkte Boisberthelot.

– Uns geht doch Alles schief, fuhr La Vieuville fort.

– Leider: La Rouarie ist todt und Du Dresnay versimpelt. Sind das traurige Parteihäupter, diese Bischöfe sammt und sonders, dieser Coucy von La Rochelle und dieser Beaupoil Saint-Aulaire von Poitiers und dieser Mercy von Luçon mit seiner verliebten Frau von l’Eschasserie …..

– Welche eigentlich Servanteau heißt, denn Sie werden ja wissen, Kapitän, daß l’Eschasserie ein Gutsname ist.

– Und dieser falsche Bischof von Agra, der nebenbei Pfarrer ist von Dingsda!

– Von Dol! Er heißt Guillot von Folleville. Hat übrigens Kourage, denn er schlägt sich.

– Priester, wenn wir Soldaten brauchen! Bischöfe, die keine Bischöfe, und Generale, die keine Generale sind! …

– Nicht wahr, Kapitän, unterbrach La Vieuville, Sie haben doch den »Moniteur« in Ihrer Kajüte?

– Allerdings.

– Was wird denn gegenwärtig in Paris gespielt?

– »Paul und Adele« und »die Höhle«.

– Ins Theater möcht ich wieder einmal.

– Sie werden nicht lang mehr darauf warten, denn in einem Monat sind wir in Paris. Und nachdem er einen Augenblick nachgerechnet, fügte Boisberthelot hinzu:

– Allerspätestens. Lord Hood weiß es von Herrn Windham.

– Aber wenn dem so ist, Kapitän, gehen die Dinge gar so schief nicht.

– Am Schnürchen würden sie gehen, nur muß der Krieg in der Bretagne ordentlich geführt werden.

La Vieuville schüttelte den Kopf und fragte dann:

– Kapitän, wird unsere Marine-Infanterie ausgeschifft?

– Wenn es die Beschaffenheit der Küste zuläßt, ja, wonicht, nein. Der Krieg muß je nach Umständen in ein Ding hineinhageln oder hineinschleichen, zumal der Bürgerkrieg, der immer einen Nachschlüssel in der Tasche haben soll. Was geschehen kann, wird geschehen. Die Hauptsache ist und bleibt aber der Chef. Und halb in Gedanken that Boisberthelot die Frage:

– La Veuville, was halten Sie von dem Chevalier von Dieuzie?

– Dem Jungen?

– Ja.

– Als Kommandeur?

– Ja.

– Wieder nur ein Taktiker fürs Flachland. Mit dem Busch wird nur der Bauer fertig.

– Dann bleibt Ihnen auch nichts Anderes übrig, als den General Stofflet und den General Cathelineau in Geduld hinzunehmen.

La Vieuville stand eine Minute nachdenklich; dann sagte er:

– Ein Prinz müßte kommen, ein französischer Prinz, ein Prinz von Geblüt, ein echter Prinz.

– Sie meinen? Durchgebrannte Prinzen…

– Fürchten das Feuer – ich weiß schon, Kapitän; man muß aber den aufgerissenen Ochsenaugen der Bauernburschen etwas zu verschlingen geben.

– Lieber Chevalier, unsere Prinzen werden fernbleiben.

– Wir werden uns drein ergeben.

Boisberthelot fuhr sich mit einer mechanischen Geberde über die Stirn, als wolle er einen Gedanken herauspressen, und sagte schließlich:

– Nun versuchen wir’s vorläufig mit diesem General.

– Er hat wenigstens einen Namen.

– Glauben Sie, daß er ansprechen wird?

– Wenn er nur nicht ohne ist! antwortete Vieuville.

– Das heißt, entsetzlich, sagte Boisberthelot.

Der Graf und der Chevalier schauten einander an.

– Sie haben den richtigen Ausdruck gefunden, Herr du Boisberthelot: entsetzlich. Das ist es, was Noth thut. In dem Krieg auf’s Messer, der gegenwärtig ausgekämpft wird, ist die Blutgier das Zeitgemäße. Die Königsmörder haben Ludwig XVI. das Haupt abgeschlagen; wir wollen dafür den Königsmördern die Glieder vom Leib reißen. Ja, unser General muß die generalgewordene Unerbittlichkeit sein. In Anjou und im oberen Poitou, wo die Führer sich auf die Großmüthigen hinausspielen, wird mit der Stange in der Barmherzigkeit herumgefahren: nichts kommt vom Fleck; im Marais und in der Gegend von Retz ist man entsetzlich: da steckt Alles. Blos weil Charette entsetzlich ist, behauptet er gegen Parrain das Feld. Hyäne wider Hyäne.

Boisberthelot mußte die Antwort schuldig bleiben, denn ein Verzweiflungsschrei schnitt La Vieuville plötzlich die Rede ab, und gleichzeitig erdröhnte etwas, das nichts sonst Gehörtem gleichkam. Beides, der Schrei und dieses Etwas aus den untern Schiffsräumen.

Kapitän und Lieutenant stürzten zum Zwischendeck, vermochten jedoch nicht, in dasselbe einzudringen. Alle Artilleristen stürmten ihnen fassungslos entgegen.

Ein furchtbares Ereigniß hatte stattgefunden.

0039

IV.

Tormentum belli.2

Ein Geschütz der Batterie, ein Vierundzwanzigpfünder, war losgerissen.

Im ganzen Seeleben giebt es vielleicht keinen gleich schrecklichen Moment. Es ist dies das Furchtbarste, was einem Kriegsschiff auf offener See begegnen kann. Ein Geschütz, das seine Bande entzweibricht, verwandelt sich urplötzlich wie in ein übernatürliches Wesen. Die Maschine ist zum Ungeheuer geworden, und diese Masse rollt nun mit den Sprüngen einer Billardkugel auf ihren Rädern umher, seitwärts, wenn das Schiff der Breite nach, vorwärts, wenn es der Länge nach bewegt wird; sie kommt und geht, steht still, als sänne sie über etwas nach, rast dann von Neuem wieder auf und davon, wie ein Pfeil von einem Ende des Fahrzeugs zum andern fliegend: das schlägt Pirouetten und entwischt, schnellt hin und bäumt sich, stößt, schmettert, mordet, vernichtet. Es gleicht einem Sturmbock, der nach Willkür eine Mauer berennt; dabei ist der Sturmbock von Erz und die Mauer von Holz. Es ist, als ob sich die Materie, dieser ewige Sklave, befreit hätte, um Rache zu nehmen, als löse die Bosheit der sogenannten leblosen Dinge sich los und breche plötzlich vor, die Geduld abschüttelnd, dumpf räthselhaft antobend gegen Alles; es giebt nichts Unwiderstehlicheres als solch Wüthen der willenlosen Masse. Der tollgewordene Metallblock vereinigt die Sprungkraft des Panthers mit der Schwerfälligkeit des Elephanten, der Behendigkeit der Maus, der Ausdauer der Axt, der Unberechenbarkeit der Windsbraut, dem Zickzack des Blitzes, der Taubheit der Gruft; er wiegt zehntausend Pfund und hüpft hin und wieder wie der Spielball eines Kindes, in sinnverwirrendem Wechsel zwischen schwindelnden Kreisen und geradwinkligem Abspringen. Und was vermag da der Mensch? Was soll er beginnen? Ein Sturm legt sich, ein Wirbelwind saust vorüber, ein Orkan erlahmt, ein geborstener Mast läßt sich ersetzen, ein Leck verstopfen, eine Feuersbrunst löschen. Wie aber soll man vor dieser kolossalen erzenen Bestie bestehen? wo sie anfassen? Einem Köter kann man zureden, einen Stier stutzig machen, eine Schlange einschläfern, einen Tiger fortschrecken, einen Löwen zähmen; diesem Ungeheuer, dem losgebrochenen Geschütz gegenüber vermag man nichts: man kann es nicht tödten: es ist leblos, und dennoch hat es eine Existenz, eine grausige, von Naturkräften ihm verliehene Existenz: Das Schiff, dessen Fußboden es schaukelt, wird von den Wellen und diese werden von dem Wind in Bewegung erhalten; die Vertilgungsmaschine ist ihr Spielzeug; Schiff, Wellen, Windstöße, Alles greift in einander und haucht ihr eine elementarische Seele ein. Wie ist diesem Causalsystem beizukommen? Wie diesem übermenschlichen Räderwerk des Schiffbruchs Halt zu gebieten? und wie läßt es sich berechnen, dieses abwechselnde Kommen und Gehen, Wiederkehren, Stehenbleiben und Anprallen? Jeder einzelne Stoß gegen die Verkleidung des Fahrzeugs kann sie entzweisprengen. Wie die Ursachen dieses mäandrischen Herumtobens ergründen? Man hat es mit einem Geschoß zu thun, das sich fortwährend eines Bessern zu besinnen, die vermuthete Richtung zu ändern, räthselhafte Absichten zu haben scheint. Kann man etwas aufhalten, dem man ausweichen muß? Die fürchterliche Kanone tummelt sich, stürmt voran, zurück, schlägt nach allen Seiten aus, entwischt, braust vorbei, spottet aller Voraussicht, rennt jedes Hinderniß über den Haufen, zermalmt die Menschen, als wären es Fliegen. Die ganze Entsetzlichkeit der Situation liegt in der Beweglichkeit des Fußbodens: wie läßt sich ankämpfen gegen eine schiefe Fläche, deren Launen ewig wechseln? So ein Fahrzeug trägt gewissermaßen einen Blitz zwischen den Lenden, der aus dem Kerker hinausstrebt, etwas wie ein Donnerschlag, der über einem Erdbeben dahin rollt.

In einer Sekunde war die ganze Mannschaft auf den Beinen. Verschuldet hatte Alles der Stückmeister, der die Schraubenmutter der Kette nicht genug geschlossen und die vier Räder des Geschützes mangelhaft befestigt hatte, wodurch die Schwelle und die Einfassung gelockert, die zwei Scheiben aus dem richtigen Verhältniß gebracht und schließlich die Anhalttaue verschoben worden waren; so ging denn das Stückwerk auseinander, und die Laffette war gelockert. Feste Anhalttaue, die den Rückstoß verhindern, wurden zu jener Zeit noch nicht gebraucht. Als nun eine starke Welle gegen die Stückpforte anprallte, wurde die nachlässig befestigte Kanone zurückgetrieben, die Kette riß, und das verhangnißvolle Rasen durch das Zwischendeck nahm seinen Lauf.

0031

Um sich dieses ungeheuerliche Hingleiten deutlich zu machen, braucht man blos an das Herabrinnen des Tropfens längs einer Fensterscheibe zu denken.

Im Augenblick, wo die Kette riß, waren die Artilleristen im Zwischendeck zugegen, einzeln oder in Gruppen, mit den Vorbereitungen beschäftigt, welche Seeleute für den Fall eines Angriffs zu treffen pflegen. Durch eine Senkung des Schiffes nach vorn ins Rollen gebracht, bohrte die Kanone sich durch all diese Leute hindurch und zermalmte mit einem Ruck vier Mann, dann schnitt sie, durch eine Seitenbewegung des Fahrzeugs aus der Bahn geschleudert, einen fünften Unglücklichen mitten entzwei und rannte gegen Backbord auf ein Geschütz, das sofort von der Laffette stürzte. In diesem Augenblick war der oben vernommene Verzweiflungsschrei ertönt. Alle Artilleristen stürmten die Leitertreppe hinauf, und im Handumdrehen stand das Zwischendeck leer.

Das kolossale Geschütz blieb sich selber überlassen, sein eigener Herr und Herr über das ganze Schiff, das nun seinem Wüthen preisgegeben war. Die Matrosen, lauter Leute, die im Kampfgewühl nur ein Lachen hatten, jetzt standen sie zitternd da, in unbeschreiblichem Entsetzen.

Boisberthelot und La Neuville, sonst die Unerschrockenheit selber, starrten noch immer wortlos, farblos, rathlos vom Treppenrand hinab, als sie sich plötzlich bei Seite geschoben fühlten durch Jemand, der auch sofort ins Zwischendeck hinunterstieg.

Es war ihr Passagier, der »Bauer«, von dem sie eben zuvor gesprochen hatten.

Auf der untersten Sprosse der Leitertreppe stand dieser Mann stille.

V.

Vis et vir.3

Wie der leibhaftige Wagen aus der Apokalypse fuhr die Kanone im Zwischendeck ab und zu, und der zitternde Schein der Laterne, die unter dem Vordersteven der Batterie hing, umwob die ganze Erscheinung mit einem zwischen Licht und Schatten schwindelnd hin und herwogenden Flimmer. Die Umrisse des Geschützes verschwanden in der Schnelligkeit seiner Flucht; bald huschte es schwarz durch die Helle, bald schimmerte es weißlich durch das Dunkel. Es führte sein Vertilgungswerk immer weiter: vier andere Kanonen hatte es bereits zertrümmert und in die Schiffswand zwei Lücken gebrochen, glücklicherweise über der Wasserlinie, aber doch so, daß bei stärkeren Windstößen die Wellen hineinschlagen mußten. Tollwüthend stürmte es gegen das Fugenwerk an; zwar leisteten die sehr starken Spanten noch Widerstand, denn das Krummholz besitzt eine eigenthümliche Festigkeit; aber man hörte sie unter dieser ungeheuren Keule krachen, die in unfaßlicher Allgegenwart von jeder Seite zugleich auf sie einhieb. Das Schrot, wenn man es in einer Flasche hin und herschüttelt, schlägt nicht toller und unmittelbarer um sich. Immer wieder rasten die vier Räder über die Todten weg und zerschnitten, zerlegten, zerrissen die fünf Leichen in zwanzig herumgeschleuderte Fetzen; die Köpfe schienen noch aufzuschreien, und auf dem Boden folgte ein rieselnder Blutstrom den Schwankungen des Schiffes. Die mehrfach beschädigte Schiffsverkleidung ging bereits auseinander. Und bei alledem fortwährend der dämonische Lärm.

Der Kapitän, der seine Fassung bald wiedergewonnen hatte, ließ durch die Luke Alles ins Zwischendeck hinabwerfen, was den wilden Lauf der Kanone irgendwie hemmen konnte, die Matratzen, die Hängematten, die Segel- und Tauvorräthe, die Säcke der Mannschaft und die Ballen falscher Assignatscheine,4 von denen eine ganze Ladung an Bord war, denn diese Niederträchtigkeit hielt man englischerseits für kriegsrechtlich erlaubt. Aber was nützte das Alles, da sich Niemand hinuntertraute, um es so zu ordnen, daß ein Vortheil daraus hätte erwachsen können? Wenige Minuten und das Ganze beinah war zu Charpie zerfetzt.

Die See ging gerade hoch genug, um dem Unheil möglichst Vorschub zu leisten. Ein Sturm wäre noch wünschenswerther gewesen, denn er hätte die Kanone vielleicht umgeworfen, und sobald sie nur einmal nicht mehr auf den Rädern lief, konnte man ihr beikommen. Unterdessen wurden die Verheerungen immer bedrohlicher. Schon waren die Masten, welche, im Balkenwerk des Kiels wurzelnd, durch alle Etagen der Fahrzeuge wie große runde Pfeiler emporragen, stellenweise gesplittert und sogar geborsten. Der Fockmast hatte unter den konvulsivischen Stößen des Geschützes einen Riß bekommen, und selbst der Mittelmast war beschädigt. Die Batterie ging in die Brüche; von dreißig Geschützen waren zehn bereits kampfunfähig. Die Lücken in der Schiffsverkleidung mehrten sich, und das Wasser begann schon einzudringen.

Der alte Passagier unten an der Treppe des Zwischendecks schien zu Stein erstarrt. Regungslos und mit strengem Blick schaute er der Verwüstung zu. Ein Schritt vorwärts schien ein Ding der Unmöglichkeit. Jede Bewegung der entfesselten Kanone rückte den Untergang näher. In kürzester Frist konnte der Schiffbruch nicht mehr abgewendet werden. Sterben oder dem Unheil Halt gebieten, zu etwas mußte man sich aufraffen, aber zu was? Und welch ein ungleicher Kampf! Galt es doch, diesen entsetzlichen, wahnsinnigen Block festzuhalten, mit einem Blitze zu raufen, einen Donnerschlag niederzudonnern.

– Chevalier, fragte Boisberthelot, glauben Sie an Gott?

La Vieuville antwortete: – Ja, heißt das nein, oder zuweilen doch.

– Beim Sturm?

– Ja, und in Augenblicken wie jetzt.

– Uns kann in der That auch nur Gott weiter helfen, sagte Boisberthelot.

Alles schwieg, nur der höllische Lärm der Kanone nicht, und von außen antwortete die andringende Fluth den Schlägen des Geschützes mit den Schlägen ihrer Wellen; es war, als ob zwei Hämmer einander wechselseitig ablösten.

Plötzlich erschien in dem unzugänglichen Raum, wo die ausgerissene Kanone wie in einem Cirkus umhertollte, ein Mann mit einer Eisenstange. Es war der Urheber der Katastrophe, jener Stückmeister, dessen Fahrlässigkeit Alles verschuldet hatte, und der nun, da er den Schaden angerichtet hatte, ihn auch wieder gut machen wollte. Er hatte mit der einen Hand nach einer Nothspake, mit der anderen nach einem geschlungenen Tau gegriffen und war so durch die Luke ins Zwischendeck gesprungen.

Und nun begann ein titanisches Schauspiel: das Ringen der Kanone mit dem Kanonier; eine Schlacht zwischen Materie und Intelligenz, ein Zweikampf zwischen Mensch und Sache.

0042

Der Mann hatte in einer Ecke Posto gefaßt.

Der Mann hatte in einer Ecke Posto gefaßt und wartete, Stange und Tau krampfhaft festhaltend, mit der ganzen Spannkraft seiner Muskeln wie auf zwei ehernen Säulen wider eine Spante gestemmt und im Boden wurzelnd, todtenbleich, in tragischer Ruhe.

Er wartete auf den Moment, wo das Geschütz an ihm vorbeirollen würde.

Der Kanonier war mit seiner Kanone vertraut, und ihn dünkte, auch sie müsse ihn kennen. Hatte er doch schon lange Zeit mit ihr zusammen gelebt und – wie so oft – seinem dienstbaren Ungeheuer die Hand in den Rachen gesteckt. Jetzt redete er sie an, wie der Herr seinen Hund:

– Komm her!

Vielleicht war sie ihm lieb geworden. Er schien es zu wünschen, daß sie auf ihn zukommen möge. Aber auf ihn zukommen, hieß so viel, wie über ihn kommen, und dann war er ja verloren; wie konnte er der Zermalmung entgehen? Das war die Frage, und Alle starrten entsetzt auf ihn herab. In jeder Brust stockte der Athem, nur vielleicht in der des Greises nicht, der als finsterer Zeuge bei den zwei Fechtern im Zwischendeck stand. Auch ihn konnte die Kanone zerschmettern. Er rührte sich nicht, und unter den Füßen Aller lenkten die blinden Wellen die Schlacht.

Im Augenblick, wo der Artillerist seine Kanone zum Zweikampf Brust an Brust herausforderte, fügten es die Schwankungen der Fluth zufällig so, daß das Geschütz auf einen Moment wie vor Staunen innehielt:

– So komm doch! sagte der Mann.

Es war, als ob ihn das Ding verstünde. Plötzlich sprang es auf ihn zu. Der Mann wich aus, und die unerhörte Schlacht begann: das Zerbrechliche rang mit dem Unverwundbaren, der Thierbändiger von Fleisch und Bein griff die erzene Bestie an, die Seele eine Kraft. Das Alles ging in einem Helldunkel vor sich gleich einem verschwimmenden übernatürlichen Gesicht. Eine Seele! seltsam; es war, als ob auch die Kanone eine hätte, aber eine Seele von lauter Haß und Wuth. Dies blinde Ungeheuer schien Augen zu haben und dem Menschen aufzulauern. Es steckte, wenigstens hätte man es fast glauben mögen, etwas Hinterlistiges in diesem Klumpen. Auch er wartete den günstigen Zeitpunkt ab. Man hätte ihn für ein Rieseninsekt aus Eisen mit oder scheinbar mit der Willenskraft eines Dämons halten können. Stellenweise sprang er, eine kolossale Heuschrecke, bis zur niedrigen Decke der Batterie empor, fiel dann wie der Tiger auf seine Klauen, auf seine vier Räder zurück und machte wieder Jagd auf den Menschen. Dieser, geschmeidig, behend, gewandt, glitt gleich einer Schlange zwischen den züngelnden Blitzen einher. Alle Stöße aber, denen er so flink zu entschlüpfen verstand, trafen das Schiff und setzten die Zerstörung fort.

An der Kanone war ein Stück von der zerrissenen Kette zurückgeblieben und hatte sich, wer kann sagen wie? um die Schraube hinten am Knauf geschlungen, so daß eines der Enden an der Laffete hing, während das andere, freie, in wilden Kreisen um das Geschütz herumflog, zehnmal beweglicher noch als das Geschütz selber. Die Schraube hielt es wie mit geschlossener Hand fest und nun schlug diese Kette, mit zehn Geißelhieben für jeden Hieb des Sturmbocks, in gräßlichem Wirbel um sich, eine eiserne Peitsche in eherner Faust. Dadurch war der Kampf noch schwieriger geworden. Und dennoch kämpfte der Mensch weiter. Hier und da war sogar er der Verfolger. Er schlich mit seiner Stange und seinem Tau längs der Schiffsverkleidung hin, und die Kanone, die ihn zu verstehen und eine Ueberlistung zu befürchten schien, entfloh, hinterher der gewaltige Jäger.

Dergleichen Dinge können nicht von Dauer sein. Auf einmal, als ob sie zu sich selber gesagt hätte: Nein, jetzt muß es ein Ende nehmen! blieb die Kanone stehen. Man fühlte, daß die Entscheidung herannahte. Hinter dieser scheinbaren Unentschlossenheit schien oder war – denn Allen galt das Geschütz für beseelt – ein gräßlicher Vorsatz verborgen. Plötzlich stürzte es auf den Artilleristen los. Dieser sprang bei Seite und rief ihm ein lachendes »da capo!« nach. Wie um sich zu rächen, rannte das Ungeheuer eine Backbordkanone um und fuhr dann, von der unsichtbaren Schleuder, der es als Stein diente, wieder fortgeschnellt, nach Steuerbord, wo es anstatt des abermals ausweichenden Mannes drei Kanonen niederriß. Dann, wie blind und seiner selbst nicht mehr bewußt, wandte es dem Mann den Rücken, durchmaß die ganze Länge der Batterie, beschädigte die Steven und schlug eine Lücke in die Vorderwand. Der Mann hatte sich neben die Treppe geflüchtet, nicht weit von dem zuschauenden Greis, und hielt seine Nothspake bereit. Das schien die Kanone zu merken, und ohne sich die Mühe des Umwendens zu geben, flog sie rücklings mit der Schnelligkeit eines Axthiebs auf den Mann zu, der, eingekeilt in seinen Winkel, verloren war. Die ganze Mannschaft that einen Schrei. Aber der bisher so unbewegliche alte Passagier, rascher als jene gräßlich verkörperte Raschheit selbst, hatte vorstürzend und auf die Gefahr hin, zermalmt zu werden, einen übergebliebenen Ballen falscher Assignate erfaßt und vor die Räder der Kanone geschleudert. Diese entscheidende, halsbrecherische That mit mehr Sicherheit und Genauigkeit auszuführen, wäre selbst einem Solchen nicht gelungen, der mit allen im Buche von Dunosel über »das Exerzieren mit Marinegeschützen« beschriebenen Kunstgriffen vertraut gewesen wäre.

Der Ballen war von durchschlagender Wirkung, wie oft auch ein Kiesel einen Felsblock festhalten oder ein Baumzweig einer Lawine eine andere Richtung geben kann. Die Kanone strauchelte. Der Artillerist seinerseits wußte sofort diesen ungeheuren Vortheil auszubeuten und stemmte seine Eisenstange einem der Hinterräder zwischen die Speichen. Das Geschütz stand still; dann neigte es sich etwas seitwärts. Der Mann benutzte die Stange so lang als Hebel, bis er es ins Schwanken brachte, und endlich, als die schwere Masse mit dem Gedröhne einer herunterfallenden Glocke niedergesunken war, stürzte er blindlings, von Schweiß strömend darüber her, um dem zu Boden geworfenen Scheusal die Schlinge seines Taues um den Hals von Erz zu legen. Es war vorüber. Der Mensch hatte gesiegt, die Ameise gegen den Mastodonten Recht behalten, ein Zwerg den Donner zu seinem Gefangenen gemacht.

Die Soldaten und Seeleute klatschten Beifall. Mit Tauen und Ketten eilte die ganze Schiffsmannschaft herbei, und um ein Handumdrehen stand die Kanone wieder an Ort und Stelle.

Der Artillerist sagte salutirend zum Passagier:

– Mein Herr, Ihnen verdanke ich das Leben.

Der Greis aber hatte seine theilnahmslose Haltung wieder angenommen und antwortete mit keiner Silbe.

VI.

Die zwei Wagschalen.

Wohl hatte der Mensch gesiegt, aber dasselbe ließ sich auch von der Kanone behaupten, denn die Gefahr eines unmittelbaren Schiffbruchs war zwar geschwunden, aber die Korvette damit keineswegs gerettet. Die Wirkungen des Unfalls zu beseitigen, schien ein Ding der Unmöglichkeit: An der Schiffsverkleidung zählte man bis zu fünf Lücken, wovon eine sehr beträchtliche beim Bugspriet; zwanzig Kanonen auf dreißig lagen darnieder. Auch das eingefangene, wieder an Ort und Stelle gebrachte Geschütz versagte den Dienst, weil die Knaufschraube verdreht war und man es in Folge dessen nicht mehr hätte richten können. Die Batterie war auf neun Stück zusammengeschmolzen. Ein Leck machte sofortige Abhülfe durch die Pumpen nothwendig. Das Zwischendeck bot jetzt, da man es betreten durfte, einen gräßlichen Anblick. Das Innere eines Käfigs, in dem ein Elephant gewüthet, weist keine größere Verwüstung auf.

Wie viel der Korvette auch daran liegen mußte, nicht erblickt zu werden, so lag die gebieterische Nothwendigkeit der unmittelbaren Rettung doch ungleich näher, und man sah sich gezwungen, zur Beleuchtung des Verdecks an den Brüstungen einige Laternen anzubringen.

Während der ganzen Dauer dieses tragischen Zwischenfalls, wobei die Lebensfrage alles Denken in Anspruch nahm, hatte man sich um die Außenverhältnisse blutwenig gekümmert. Indessen hatte sich der Nebel verdichtet und die Witterung verändert; der Wind war mit dem Schiffe ganz nach Gutdünken umgegangen; die Route war nicht eingehalten worden, und man befand sich nun, von Jersey und Guernesey nicht mehr gedeckt, weiter südlich, als beabsichtigt war. Die See ging höher; mächtige Wellen leckten mit gefahrverkündenden Zungen an den offenen Wunden der Korvette. Das Meer wurde bedrohlich; die Brise artete in Windsbraut aus; es war ein Unwetter, vielleicht auch ein Sturm im Anzug. Ueber die vierte Woge hinaus konnte man nichts mehr unterscheiden.

Während die Seeleute die Beschädigungen im Zwischendeck, soweit dies vorläufig in aller Eile möglich war, ausbesserten, die Lücken beseitigten und die verschont gebliebenen Geschütze wieder in Stand setzten, war der alte Passagier wieder auf das Verdeck gestiegen und lehnte am Mittelmast.

Ihm war eine Bewegung, die in der Nähe stattgefunden, ganz entgangen; der Chevalier von La Vieuville hatte nämlich auf beiden Seiten des Mittelmastes die Marinetruppen in Schlachtordnung aufstellen und die in der Takelage beschäftigten Matrosen durch einen grellen Pfiff auf die Raaen kommandiren lassen. Nun trat Graf du Boisberthelot zu dem Passagier hin; hinter ihm her schritt ein Mann in beschmutzten Kleidern, verstört, athemlos, und doch mit einem Ausdruck der Zufriedenheit auf dem Gesicht; es war der Artillerist, der sich zu so gelegener Zeit als Thierbändiger ausgezeichnet und die Kanone bemeistert hatte.

Der Graf salutirte vor dem »Bauern« und sagte:

– Herr General, hier wäre der Mann.

Der Artillerist blieb aufrecht, mit gesenktem Blick in vorschriftsmäßiger Positur stehen.

– Herr General, setzte Graf du Boisberthelot hinzu, sind Sie nicht der Meinung, in Anbetracht dessen, was der Mann soeben geleistet, könnten seine Vorgesetzten schon etwas für ihn thun?

– Der Meinung bin ich.

– Wollen Sie demnach befehlen, antwortete Boisberthelot.

– Befehlen Sie; Sie sind der Kapitän.

– Sie aber der General, antwortete Boisberthelot. Der Greis betrachtete den Mann; dann sprach er:

– Tritt näher.

Hierauf that der Artillerist einen Schritt vorwärts. Der Greis wendete sich gegen den Grafen du Boisberthelot, nahm das Ludwigskreuz von dessen Brust und heftete es an den Kittel des Kanoniers.

– Hurrah! riefen die Matrosen. Die Marinesoldaten präsentirten das Gewehr. Der Passagier aber fügte, auf den von seinem Glück geblendeten Artilleristen deutend hinzu:

0047

– So, nun führe man ihn zum Tode!

Der Jubel war zur Bestürzung erstarrt. Und mitten in einer Grabesstille erhob der Greis die Stimme und sprach:

– Dieses Schiff ist durch Fahrlässigkeit dem Verderben ausgesetzt worden. Zur Stunde ist es vielleicht verloren. An Bord sein, heißt so viel wie vor dem Feind stehen. Ein Schiff auf hoher See ist ein Heer im Gefecht; der Sturm verbirgt sich zwar, aber er verschwindet nicht; das ganze Meer ist ein einziger Hinterhalt. Pulver und Blei für jedes Vergehen im Feld! Ein Vergehen läßt sich nie wieder gut machen. Der Muth muß belohnt, der Leichtsinn bestraft werden.

Diese Reden fielen in gleichmäßigen Zwischenräumen, langsam, feierlich, so zu sagen im Takte der Unerbittlichkeit, wie Axthiebe gegen einen Baum. Und der Greis, mit einem Blick auf die Soldaten, befahl:

– Sofort!

Der Mann, an dessen Brust das Ludwigskreuz erglänzte, senkte das Haupt.

Auf ein Zeichen des Grafen du Boisberthelot stiegen zwei Matrosen ins Zwischendeck hinunter und kamen mit einem Leichentuch zurück. Der Schiffsgeistliche, welcher, seitdem in See gestochen worden war, in der Offizierskajüte im Gebet lag, begleitete sie. Ein Sergeant ließ zwölf Mann vor die Front treten, die er je sechs in zwei Reihen ausstellte. Ohne einen Laut von sich zu geben, trat der Kanonier in die Mitte. Der Priester, mit einem Kruzifix in der Hand, verfügte sich an seine Seite.

– Vorwärts Marsch! kommandirte der Sergeant, und der Zug bewegte sich langsam nach dem Vordertheil des Schiffes: die beiden Matrosen mit dem Leichentuch folgten. Auf der Korvette herrschte düsteres Schweigen; fern her grollte ein Wetter.

Einige Minuten darauf hallte eine Gewehrsalve einem Blitz folgend hinaus in die Nacht; dann wurde es wieder still, und man vernahm das Geräusch, welches ein schwerer Gegenstand verursacht, der ins Wasser geworfen wird.

Der alte Passagier lehnte noch immer an dem Mittelmast: er hatte die Arme übereinandergeschlagen und sann über etwas nach. Boisberthelot aber flüsterte, mit dem Zeigefinger hinweisend, dem Chevalier die Worte zu:

– Jetzt hat die Vendée einen Kopf.

VII.

Wer den Anker lichtet, setzt in eine Lotterie.

Was sollte die Korvette ferner noch für Schicksale erleben?

Die Wolken, die im Lauf dieser Nacht den Wellen fortwährend näher gerückt waren, hatten sich schließlich so tief gelegt, daß es keinen Horizont mehr gab und die ganze Meeresfläche wie mit einem Mantel zugedeckt war. Nebel und nichts als Nebel – unter allen Umständen eine Gefahr, selbst für ein unbeschädigtes Fahrzeug. Und zu dem Nebel gesellte sich noch eine hohle See!

Die Zeit war nicht unbenutzt verstrichen. Man hatte den Tiefgang der Korvette dadurch vermindert, daß man Alles hinauswarf, was von den Verwüstungen der Korvette hatte weggeräumt werden können, die unbrauchbaren Geschütze, die zerschlagenen Laffetten, das verbogene oder losgebrochene Fugenwerk, die zertrümmerten Holz- und Eisentheile; man hatte die Stückpfosten geöffnet und die Leichen nebst den zusammengelesenen Gliedmaßen im Segeltuch eingewickelt über ein Brett ins Meer hinuntergleiten lassen.

Mit der See war beinah nicht mehr auszukommen, nicht etwa weil der Sturm in allernächster Zeit loszubrechen drohte – im Gegentheil, der Orkan, den man in der Ferne toben hörte, schien eher nachzulassen und das Unwetter sich gegen Norden verziehen zu wollen; aber der immer noch sehr hohe Wellenschlag wies auf schlechten Grund hin und die starke Brandung konnte der Korvette, die, krank wie sie war, den Erschütterungen nur einen mangelhaften Widerstand entgegenzusetzen vermochte, verhängnißvoll werden. Gacquoil stand am Steuerrad, vor sich hinbrütend.

0054

Gacquoil stand am Steuerrad.

Zum bösen Spiel gute Miene machen, ist bei Seeoffizieren Brauch; darum redete La Vieuville, der für Nothlagen ein lustiges Naturell bei der Hand hatte, Meister Gacquoil an:

– Nun, Lootse, da verpufft ja der Sturm. Den Himmel kitzelt’s, aber zum Niesen bringt er’s nicht. Werden mit einem blauen Auge davonkommen. Wind wird’s eben geben, weiter nichts.

Gacquoil antwortete ernsthaft: – Wer den Wind hat, hat auch die Fluth.

Weder lustig noch traurig, so hält’s der echte Seemann. Die Antwort bedeutete indessen nichts Gutes.

Fluth haben heißt bei einem lecken Schiff so viel wie schnell trinken. Deshalb hatte Gacquoil seinen Ausspruch mit einem leisen Stirnrunzeln gewissermaßen unterstrichen. Vielleicht auch mochten La Vieuville’s scherzhafte, ans Leichtfertige grenzenden Worte zu bald auf die Katastrophe mit der Kanone und dem Kanonier erfolgt sein. Es giebt Dinge, die kein Glück bringen auf hoher See. Das Meer hat seine Geheimnisse; man weiß nie, wie man eigentlich mit ihm daran ist; darum Vorsicht.

La Vieuville fühlte, daß hier doch der Ernst am Platze sei und fragte: – Lootse, wo sind wir jetzt?

– Wir sind in der Hand Gottes, sagte dieser.

Ein Lootse ist ein Machthaber: man muß ihn immer gewähren lassen, auch im Reden. Reden thun übrigens diese Leute wenig. La Vieuville entfernte sich wieder. Auf die Frage, die er an den Lootsen gestellt hatte, antwortete der Horizont, denn plötzlich wurde das Meer frei. Der Nebel, der auf den Wellen lungerte, war allenthalben geborsten; in blassem Dämmerschein breitete sich das dunkle Durcheinanderwühlen der Wogen unabsehbar aus, und man gewahrte Folgendes: Oben eine feste, deckelförmige Wolkenmasse, die jedoch nicht mehr bis zur See herunterreichte; östlich eine weißliche Helle, das Grauen des Tages, westlich, wo der Mond unterging, einen anderen fahlen Schimmer, so daß am Horizont, zwischen der dunklen Fluth und dem dunklen Himmel, zwei dünne, fahle Lichtstreifen einander gegenüberlagen. Von diesen beiden Lichtstreifen hob sich, schwarz, aufrecht, unbeweglich, der Schattenriß von Gegenständen ab: im Occident am mondbeschienenen Himmel ragten, senkrecht wie keltische Peulvens, drei hochgezackte Felsen; im Orient beim bleichdämmernden Sonnenaufgang in bedrohlich geordneter Reihe, durch gleichmäßige Zwischenräume von einander getrennt, acht Segel. Die drei Felsen waren ein Riff, die acht Segel ein Geschwader; im Rücken hatte man die berüchtigten Klippen Les Minquiers und vor sich die französischen Kreuzer; gegen Abend den Abgrund, gegen Morgen das Blutbad; man schwamm zwischen einem Schiffbruch und zwischen einer Schlacht. Dem Schiffbruch gegenüber hatte die Korvette einen durchlöcherten Rumpf, schadhaftes Takelwerk, in der Wurzel erschütterte Masten; der Schlacht gegenüber eine Artillerie, von welcher einundzwanzig Kanonen auf dreißig unbrauchbar und von deren Bedienung die besten todt waren.

Der Widerschein der Sonne war sehr matt und man hatte um sich her noch immer die Nacht, vielleicht sogar auf längere Zeit hinaus, wenn sich die Wolken nicht verzogen, die schwer und dicht zusammengeballt wie ein festes Gewölbe anzusehen waren.

Derselbe Wind, der zuvor die Nebel verjagt hatte, trieb nun die Korvette gegen Les Minquiers; gänzlich erschöpft und zerrüttet, gehorchte sie kaum mehr dem Steuer; es war weniger ein Segeln als ein widerstandsloses, fluthgepeitschtes Hinrollen. Das schauerliche Riff Les Minquiers war damals noch zackiger als jetzt. Mehrere Thürme dieser Hochveste der Untiefen sind durch die unablässige Zerstückelungsarbeit des Meeres abgetragen worden. Auch die Gestalt der Klippen ist eine veränderliche und es liegt ein Sinn darin, daß der Ausdruck »lame«, womit der Franzose die Meereswelle bezeichnet, zugleich Klinge bedeutet, denn jedes Branden entspricht in der That einem Sägeschnitt. Les Minquiers damals berühren, hieß untergehen.

Was das Geschwader anbelangt, so war es dasselbe Geschwader von Cancale, welches seitdem unter jenes Kapitän Duchesne’s Führung berühmt wurde, welchen Lequinio den »Père Duchesne« nannte.

Die Lage war mehr als bedenklich. Während des Kampfes mit der Kanone war die Korvette unmerklich von der beabsichtigten Route abgewichen und eher auf Granville als auf Saint-Malo zugefahren. Jetzt hinderte, selbst wenn das Schiff ganz unversehrt geblieben wäre, die Klippe eine Rückkehr nach Jersey und das Geschwader ein Einlaufen in eine französische Bucht.

Im Uebrigen blieb der Sturm richtig aus, aber, wie es der Lootse vorausgesagt, die See ging sehr hoch, und wild rollten die Wellen unter den heftigen Windstößen über dem zerklüfteten Grund. Das Meer giebt seine ganze Absicht niemals kund; in seinen Untiefen schlummert alles Mögliche, sogar etwas wie Chikane. Es ließe sich fast behaupten, daß das Meer ein nur ihm allein bekanntes Verfahren beobachtet; es dringt vor und entweicht, macht einen Vorschlag und nimmt ihn zurück, entwirft ein Unwetter, und giebt es wieder auf, verspricht den Untergang, ohne sein Wort zu halten, droht gegen Norden zu, um nach Süden hin den Streich zu führen. So hatte man die ganze Nacht hindurch an Bord des »Claymore«, mitten im Nebel, das Losbrechen des Orkans befürchtet, den das Meer nun widerrufen hatte, widerrufen, aber mit welcher Tücke! Es hatte den Sturm in Aussicht gestellt und machte nun Ernst mit der Klippe. Auch das war Schiffbruch, nur in verschiedener Form. Und als ob zwei Feinde einander in die Hände arbeiten wollten, gesellte sich noch zu der Gefahr des Scheiterns die Gefahr der ungleichen Schlacht. La Vieuville aber bekam sein tapferes Lachen:

– Schiffbruch hier und Treffen dort.. Karambolage müssen wir machen.

VIII.

9 = 380.

Die Korvette war nicht mehr um Vieles besser daran als ein Wrack. Aus dem fahlen hin und widerschwimmenden Zwielicht, aus dem schwarzen Gewölk, aus den unbestimmten Schwankungen am Horizont, aus dem geheimnißvollen Aufschauern der Wellen wehte ein todesfeierlicher Hauch. Den Wind ausgenommen, der feindselig das Fahrzeug umbrauste, war Alles still. In stummer Majestät entstieg die letzte Stunde ihrer Nacht. Man fühlte sich eher einer Vision als einem Angriff gegenüber. Nichts regte sich auf den Klippen und drüben auf den Schiffen nichts. Allenthalben ein ungeheures Schweigen. War man noch in der Wirklichkeit oder schwebte ein Traumbild über den Wassern? Es giebt Schifferlegenden, die von derartigen Erscheinungen berichten: die Korvette war wie hingezaubert zwischen den Kraken und die Gespensterflotte.

Graf du Boisberthelot ertheilte dem Chevalier halblaut einige Befehle, mit welchen sich dieser ins Zwischendeck begab; dann ergriff er sein Fernrohr und trat zu Gacquoil hin, der, immer noch am Steuerrad, Alles aufbot, um die Korvette in der Richtung des Wellenschlags zu erhalten, denn wenn Wind und See sie von der Seite faßten, war sie rettungslos verloren.

– Lootse, sagte der Kapitän, wo sind wir?

– Auf Les Minquiers.

– Auf welcher Seite?

– Auf der schlimmen.

– Der Grund?

– Lauter Felsen.

– Können wir uns vor Anker legen?

– Sterben kann man immer, antwortete der Lootse.

Der Kapitän richtete das Glas nach Westen und untersuchte das Riff; dann wendete er sich nach Osten nach den Schiffen, die dort in Sicht waren. Wie mit sich selber redend, fuhr Gacquoil fort:

– Les Minquiers. Die lustige Möve ruht darauf aus, wenn sie aus Holland vorbeikommt und die große Seemöve mit den schwarzumränderten Flügeln.

Der Kapitän hatte die Schiffe gezählt. Es waren ihrer in der That acht, die, in ganz korrekter Ordnung ihr kriegerisches Profil über dem Wasserspiegel zeigten. In der Mitte konnte man die hohe Gestalt eines Dreideckers unterscheiden.

– Kennen Sie die Segel? fragte der Kapitän den Lootsen.

– Gewiß! antwortete Gacquoil.

– Nun?

– Es ist das Geschwader.

– Das französische Geschwader?

– Das Geschwader des Teufels. Es entstand eine Pause.

– Vollzählig? hob du Boisberthelot wieder an.

– Nein.

Jetzt erinnerte sich der Kapitän, daß ja dem durch Valazé dem Nationalkonvent am 2. April erstatteten Bericht zufolge, zehn Fregatten und sechs Linienschiffe im Kanal kreuzten.

In der That, sagte er, es könnten ihrer sechszehn sein, und dort sind ihrer nur acht.

– Die übrigen, bemerkte Gacquoil, lungern weiter drüben herum, die ganze Küste entlang, und spioniren.

– Ein Dreidecker, zwei Fregatten ersten Ranges, fünf Fregatten zweiten Ranges, murmelte der Kapitän, während er durch das Fernrohr schaute, vor sich hin.

– Aber auch ich habe spionirt, murrte Gacquoil in den Bart hinein.

– Schönes Material, sagte der Kapitän. Habe auf jedem seiner Zeit ein Weilchen kommandirt.

– Ich habe sie mir in der Nähe angesehen, meinte Gacquoil. Ich verwechsle keins mit dem anderen; habe ihre Personalbeschreibung im Hirnschädel drin. Der Kapitän trat nun sein Fernrohr an Gacquoil ab:

– Lootse, unterscheiden Sie das Linienschiff genau?

– Ja, Herr Kapitän, es ist der Dreidecker »La Côte d’Or«.

– Den sie umgetauft haben, bemerkte der Kapitän. Früher hieß er: »Les Etats de Bourgogne«. Neues Schiff. Hundertachtundzwanzig Kanonen.

Er nahm ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche und schrieb die Zahl 128 auf. Dann fragte er weiter:

– Lootse, wie heißt das erste Segel an Backbord?

– »L’Expérimentée«.

– Fregatte ersten Ranges. Zweiundfünfzig Kanonen. Wurde vor zwei Monaten in Brest ausgerüstet. Und der Kapitän notirte abermals: 52.

– Lootse, fuhr er fort, wie heißt das zweite Segel an Backbord?

– »La Dryade«.

– Fregatte ersten Ranges. Vierzig Achtzehnpfünder. War in Indien, hat eine schöne militärische Laufbahn hinter sich. Und er schrieb unter die Zahl 52 die Zahl 40; dann blickte er wieder auf:

– Und an Steuerbord?

– Lauter Fregatten zweiten Ranges, Herr Kapitän. Es sind ihrer fünfe.

– Wie heißt die nächste beim Dreidecker?

– »La Résolue«.

– Zweiunddreißig Achtzehnpfünder. Und die zweite?

– »La Richemont«.

– Desgleichen. Weiter.

– »L’Athée«.

– Kurioser Name das, um in See zu stechen. Weiter.

– »La Calypso«.

– Weiter.

– »La Preneuse«.

– Fünf Fregatten von je zweiunddreißig. Und der Kapitän schrieb unter die vorhergehenden Zahlen: 160.

– Lootse, sagte er dann. Sie erkennen sie doch genau?

– Und Sie, erwiderte Gacquoil, Sie kennen sie genau, Herr Kapitän. Das Erkennen hat schon etwas für sich, aber das Kennen ist mehr werth.

Der Kapitän, mit seinem Notizbuch beschäftigt, addirte zwischen den Zähnen: Hundertachtundzwanzig, zweiundfünfzig, vierzig, hundertundsechzig. In diesem Augenblick betrat La Vieuville wieder das Verdeck.

– Chevalier, rief ihm der Kapitän entgegen, wir haben dreihundertundachtzig Geschütze vor uns.

– Gut, sagte La Vieuville.

– Sie kommen von der Inspektion, La Vieuville: Wie viel Geschütze bleiben uns schließlich übrig?

– Neun.

– Gut, sagte nun auch Boisberthelot.

Er nahm das Fernrohr dem Lootsen aus der Hand und richtete es wieder nach dem Horizont. Die acht Schiffe, stumm und schwarz, schienen sich nicht zu rühren; nur wurden sie allmälig größer: sie rückten langsam näher.

La Vieuville machte die Honneurs und sagte:

– Herr Kapitän, ich habe dieser Korvette »Claymore« von vornherein nicht getraut. Es ist immer fatal, urplötzlich an Bord eines Fahrzeugs zu kommen, das Einem weder bekannt noch vertraut ist. Ein englisches Schiff, wenn auch Franzosen es führen, das thut nicht gut. Die verdammte Kanone war uns ein Beweis dafür. Ich melde gehorsamst, daß ich die Inspektion vorgenommen habe: Anker trefflich, nicht Roheisen, geschweißtes Stabeisen, starke Flügel. Taue vorzüglich, handlich, von vorschriftsmäßiger Länge, hundertundzwanzig Faden. Reichliche Munition. Sechs Todte. Jedes Geschütz kann hunderteinundsiebzig Mal feuern.

– Weil es nur noch ihrer neun sind, murmelte der Kapitän vor sich hin, indem er wieder das Fernrohr über den Horizont schweifen ließ. Langsam aber stetig rückte das Geschwader heran.

Die Geschütze des »Claymore«, Caronaden genannt, hatten zwar das für sich, daß sie blos drei Mann Bedienung erforderten, hatten aber hinwider gegen sich, daß sie weniger weit und sicher trafen als die gewöhnlichen Kanonen; deshalb mußte man das Geschwader um so viel näher rücken lassen.

Der Kapitän ertheilte seine Befehle mit leiser Stimme. Lautlose Stille herrschte am Bord. Das Verdeck wurde ohne das übliche Glockensignal zum Gefecht klar gemacht. Dem Feinde gegenüber war die Korvette ebenso kampfunfähig wie den Wellen. Man verwerthete die wenigen noch verfügbaren Vertheidigungsmittel so gut es eben ging; trug auf den Laufplanken und auf dem Back das zur Wiederherstellung der Takelage etwa erforderliche Tau- und Takelwerk zusammen und richtete die Verbandstelle her.

Nach dem damaligen Brauch wurde die Schanzverkleidung auf Deck vorgespannt, was zwar gegen das Gewehrfeuer, nicht aber gegen die Artillerie Schutz gewährte. Man schaffte die Kugelmaße herbei, trotzdem zu der Prüfung der Kaliber die Zeit kaum mehr hinreichte. Hatte doch Niemand so mannigfaltige Zwischenfälle vorhersehen können. Jeder Matrose bekam eine Patronentasche und steckte ein Paar Pistolen und ein Dolchmesser in den Gürtel. Die Hängematten wurden zusammengelegt, die Geschütze gerichtet, die Musketen, die Enterbeile und Haken bereitgehalten, die Stückpatronen und Kugeln vertheilt, die Pulverkammer geöffnet. Jeder trat an seinen Posten, und das Alles in düsterer Eile, mit dem Schweigen, das im Gemach eines Sterbenden herrscht.

Und nun ankerte die Korvette. Sie hatte sechs Anker wie die Fregatten; man warf sie alle sechs, vorn den Tagsanker, über das Heck den schweren Werfanker, den Leichtern der See, den Raumanker der Klippenseite zu, an Steuerbord vorn den Teyanker und den Pflichtanker an Backbord.

Die am Leben gebliebenen Geschütze wurden alle neun auf einer Seite dem Feinde zu in Batterie aufgepflanzt.

Die acht Schiffe hatten indessen, ebenso schweigsam, ihre Gefechtstellung eingenommen, und segelten jetzt in einem Halbkreis heran, von dem les Minquiers die Sehne bildeten. In diesem Halbkreis gefangen und übrigens schon durch seine Anker festgehalten, lehnte sich der »Claymore« an les Minquiers, das heißt an den Schiffbruch an. Man hätte ihn mit einem von der Meute umringten Eber vergleichen können; nur kläfften die Verfolger nicht, sondern zeigten stumm die Zähne. Jeder Theil schien auf den Andern zu warten.

Die Kanoniere des »Claymore« standen mit der Lunte in der Hand bereit.

Boisberthelot sagte zu La Vieuville:

– Den ersten Schuß möchte ich mir nicht nehmen lassen! Und La Vieuville antwortete:

– Wer für etwas stirbt, darf sich das Bischen Koketterie schon erlauben.

IX.

Einer entkommt.

Der Passagier hatte das Verdeck nicht verlassen; ohne eine Miene zu verziehen, schaute er zu.

– Herr General, sagte Boisberthelot, der vor ihn hingetreten war, wir sind nunmehr festgeklammert an unser Grab und werden es auch nicht fahren lassen. Eingekeilt zwischen Feind und Riff, bleibt uns außer der Gefangenschaft oder dem Schiffbruch nur eine Wahl, der Schlachtentod. Kämpfen ist noch besser als Scheitern; lieber als ich ertrinke, laß ich mich zusammenschießen; im Feuer stirbt sich’s schöner als im Wasser. Dieses Sterben haben jedoch nur wir Kleinen zu besorgen, nicht aber Sie mit uns. Sie sind der Bevollmächtigte des Prinzen, sind zu einer großen Sendung auserwählt, zum Oberbefehl über unsere Truppen in der Vendée. Wenn Sie fallen, fällt vielleicht die monarchische Fahne; also müssen Sie leben, und wie unsere Pflicht erheischt, daß wir hier ausharren, so erheischt die Ihrige, daß Sie sich retten; deshalb, Herr General, werden Sie das Schiff verlassen. Ich stelle Ihnen ein Boot und einen Ruderer zur Verfügung; auf Umwegen die Küste zu erreichen, ist nicht unmöglich; es ist noch nicht Tag; die Wellen gehen hoch; auf dem Meer ist es noch dunkel; Sie werden entkommen. Unter gewissen Umständen heißt Flucht nicht mehr Flucht, sondern Sieg.

Der Greis gab durch ein langsames Senken seines strengen Hauptes seine Zustimmung zu erkennen, und Boisberthelot rief mit lauter Stimme:

– Soldaten und Matrosen! …

Sofort ließ vom Steuer bis zum Bugspriet Jeder von seiner Beschäftigung ab und schaute nach dem Kapitän, welcher also fortfuhr:

– Der Mann, der sich hier unter uns befindet, ist der Vertreter Seiner Majestät des Königs. Er ward unserer Obhut anvertraut; wir müssen ihn unserer Sache erhalten. Die Krone Frankreichs bedarf seiner. In Ermangelung eines unserer Prinzen wird, wir hoffen es wenigstens, er das Oberhaupt der Vendée sein. Er ist ein großer Führer im Feld. Mit uns sollte er in Frankreich landen; jetzt muß er es ohne uns versuchen. Wenn der Führer gerettet wird, so ist auch die Sache gerettet.

– Ja! ja! ertönte es von allen Seiten. Und der Kapitän sprach weiter:

– Auch er wird ernstliche Gefahren bestehen müssen. Das Ufer zu erreichen, ist nichts weniger als leicht. Um der hohen See zu trotzen, wäre ein großes Boot nöthig; er aber muß ein kleines nehmen, damit ihn die Kreuzer nicht bemerken. Die Aufgabe besteht darin, an irgend einer entlegenen Stelle zu landen, womöglich näher bei Fougères als bei Coutances; gewachsen ist dieser Aufgabe nur ein vielerfahrener Seemann, ein unermüdlicher Ruderer, der auf jener Küste geboren und mit ihren kleinsten Einzelheiten vertraut ist. Es ist jetzt gerade noch so weit dunkel, daß das Boot die Korvette verlassen kann, ohne entdeckt zu werden, um so mehr als der Pulverdampf mit Nächstem das Seinige beitragen wird. Mit einem kleinen Boot läßt sich schon, eben weil es klein ist, über die versteckten Klippen hinwegkommen; wo der Panther stecken bleibt, schlüpft das Wiesel durch. Für uns giebt es kein Entrinnen, wohl aber für ihn. Das Boot wird sich mit voller Ruderkraft entfernen und dem Feind unsichtbar bleiben, dem wir übrigens, wie gesagt, unterdessen Stoff genug zur Unterhaltung geben werden – nicht wahr?

– Ja! ja! stimmte Alles ein. – Jede Minute ist kostbar, schloß der Kapitän. Wer meldet sich?

– Ich, sprach eine Stimme, und ein Matrose trat in der Dunkelheit vor die Front.

X.

Entkommt er wirklich?

Einige Minuten später stieß die kleine Kapitänsjolle vom Schiff ab. Es saßen zwei Männer darin: vorn der Matrose, der sich gemeldet hatte, hinten der Passagier. Es war immer noch ganz finster. Der Matrose ruderte, wie Boisberthelot befohlen hatte, mit aller Gewalt auf les Minquiers los. Einen andern Ausweg gab es ja nicht.

Am Boden der Jolle lagen Mundvorräthe, ein Sack voll Zwieback, eine geräucherte Zunge und ein Fäßchen Wasser.

Im Augenblick, wo die Zwei sich entfernten, lehnte sich La Vieuville, im Tode noch ein unverdrossener Spötter, über den Hintersteven der Korvette hinunter und rief der Jolle seinen Abschiedsgruß nach:

– Famos zum Fliehen, unschätzbar zum Ertrinken.

– Herr, sagte der Lootse, lassen wir den Scherz bei Seite.

Das Boot war hurtig abgestoßen, und hatte bald eine ziemlich bedeutende Strecke zurückgelegt. Wind und Wellen halfen dem Ruderer nach, und immer rascher schaukelte, hinter den hohen Wellen den Blicken entrückt, das kleine Boot im Zwielicht von dannen.

Auf dem Meer lag es wie düstere Erwartung: da, plötzlich, durch das gedehnte, ungestüm geschäftige Schweigen des Elements, brach eine Stimme, die, verstärkt durch das Sprachrohr wie durch den ehernen Mund an der Maske der griechischen Tragödie, beinah übermenschlich klang. Es war Kapitän du Boisberthelot’s Stimme:

– Leute des Königs, donnerte er, nagelt die Lilienflagge an den großen Mast. Unsere letzte Sonne geht auf.

Und die Korvette löste eines seiner Geschütze.

– Es lebe der König! rief die Mannschaft.

Drüben vom Horizont her ertönte ein anderer, mächtiger, in der Ferne verhallender und dennoch deutlich vernehmbarer Ruf:

– Es lebe die Republik!

Und ein Lärm wie von dreihundert Donnerschlägen rollte über die See.

Der Kampf begann. Das Meer verhüllte sich in Dampf und Blitze. Von allen Seiten bohrten sich die Gischtstrahlen, die unter den einschlagenden Kugeln aufspringen, in die Wogen. Der »Claymore« spie seine Flammen nach den acht Schiffen aus, und diese beschossen aus ihrer Halbmondstellung mit allen Batterien die Korvette. Der Horizont leuchtete feuerroth; ein Vulkan schien dem Meer entstiegen zu sein, und der Wind zerrte diesen ungeheuren Schlachtenpurpur hin und her, in welchem die Schiffe geisterhaft auftauchten und wieder schwanden, und von dem die Korvette wie ein schwarzes Skelett vom brennenden Hintergrund sich abhob. Hoch in den Lüften vom Mittelmast des »Claymore« sahen die zwei Männer in der Jolle noch die Lilienflagge wehen. Sie schwiegen Beide.

Das dreieckige Riff les Minquiers, eine kleine unterseeische Trinacria, hat einen weitern Umfang als die ganze Insel Jersey. Das Plateau, zu dem es sich emporgipfelt, überragt die Wasserfläche bei der höchsten Fluth; nordöstlich davon erheben sich in einer Reihe sechs mächtige Felsblöcke, die einer stellenweise eingesunkenen großen Mauer gleichen. Hindurchfahren kann zwischen dem Plateau und den sechs Klippen nur ein Boot mit sehr schwachem Tiefgang. In diesen Kanal, der in die offene See mündet, lenkte der Matrose, der sich zur Rettung des Passagiers erboten hatte, jetzt ein. Auf diese Art schoben sich les Minquiers allmälig zwischen die Schlacht und die Jolle; rechts und links den dichtgegenüberstehenden Felsen ausweichend, schlängelte diese sich mit Gewandtheit weiter. Schon war hinter dem Riff der Kampfplatz verschwunden, und schon begannen die Röthe am Horizont und das wilde Getöse der Kanonade in Folge der zunehmenden Entfernung abzunehmen; aber aus der Hartnäckigkeit des Feuers ließ sich schließen, daß die Korvette tapfer ausharrte und ihre hunderteinundneunzig Salven bis auf die letzte abgeben wollte. Ueber ein Kurzes hatte das Boot Schlacht und Klippe im Rücken, und befand sich längst außer Tragweite eines Geschosses auf offener See. Nach und nach hellten sich die äußern Umrisse des Meeres auf, die unmittelbar im Dunkel wieder verschwimmenden Lichtpunkte breiteten sich aus; die quirlenden Schaumkämme brachen in Strahlenbüschel auseinander und ein weißer Schimmer wiegte sich auf der Halbfläche der Wogen. Es wurde Tag.

Dem Feind war das Boot zwar entronnen, doch das Schwierigste war noch nicht überstanden: man hatte keine Kugel mehr, aber immerhin den Schiffbruch zu gewärtigen, auf wilder See, in dieser schwindend kleinen Nußschale ohne Deck, ohne Segel, ohne Mast, ohne Kompaß, in einem Atom, dem nichts zu Gebote stand als zwei Ruder, um den zwei Riesen Ozean und Orkan zu entfliehen.

Und nun, inmitten dieser unendlichen Einsamkeit, sein Antlitz erhebend, blaß gefärbt vom fahlen Widerschein des Morgens, starrte der Mann, welcher vorn in der Jolle saß, dem Manne, der ihm gegenüber saß, in die Augen und sagte zu ihm:

– Ich bin der Bruder von dem, der auf Ihren Befehl erschossen wurde.

  1. Im Französischen Bourbon le Bourbeux, was unter Beibehaltung des Wortspieles im Deutschen nicht wiederzugeben ist.
  2. Das Werkzeug des Krieges.
  3. Kraft und Mann, hier soviel wie die rohe Naturgewalt gegenüber der schwachen Menschenkraft.
  4. Assignaten waren die von der revolutionären Regierung herausgegebenen Banknoten, die massenhaft im Ausland, namentlich in England, nachgemacht und von den Feinden der Republik, besonders den entflohenen Adligen, nach Frankreich geschmuggelt wurden, um die Assignaten zu entwerthen und dadurch den Kredit der Republik zu schädigen.

IX.

Das Geheimniß Myladys.

D’Artagnan hatte das Hotel verlassen, statt sogleich zu Ketty hinaufzugehen, um hier die Stunde seiner Unterredung mit Mylady abzuwarten, und dies aus zwei Gründen: einmal vermied er auf diese Art die Vorwürfe, den Tadel und die Bitten des jungen Mädchens, und dann war es ihm nicht unangenehm, Zeit zu kalter Ueberlegung zu haben, um wo möglich in die Gedanken dieser Frau einzudringen.

Am klarsten war ihm dabei, daß er sich der Gefahr aussetzte, wahnsinnig in Mylady verliebt zu werden, und daß sie ihn im Gegentheil ganz und gar nicht liebte und nie lieben würde. Einen Augenblick sah er ein, daß es das Gescheiteste wäre, wenn er nach Hause kehrte, einen langen Brief schriebe und gestände, er und der Graf von Wardes seien für sie bis jetzt eine und dieselbe Person; er könne daher, wenn er sich nicht eines Selbstmordes schuldig machen wolle, die Verbindlichkeit nicht übernehmen, den Grafen von Wardes zu tödten, über den sie sich ihrer Behauptung nach zu beklagen habe; aber mit der Ueberzeugung, daß sie ihn haßte, und nur als ein feiles Werkzeug ihrer Rache betrachtete, das sie nach dem Gebrauch zerbrechen würde, kehrte auch das Verlangen, für sich selbst Rache zu üben, in sein Herz zurück. Er wollte diese Frau beherrschen, die mit ihm spielte und ihn als Mitschuldige an der Entführung von Madame Bonacieux in seiner reinen aufrichtigen Liebe verletzt hatte.

Er ging, durch entgegengesetzte Gefühle in Bewegung erhalten, fünf bis sechsmal auf der Place Royale umher, und wandte sich von zehn zu zehn Schritten zurück, um das Licht in Myladys Zimmer zu betrachten, das man durch die Jalousien erblickte; offenbar hatte die junge Frau diesmal weniger Eile, in ihr Zimmer zurückzukehren, als das erste Mal.

Endlich schlug es elf Uhr.

Bei diesem Getöne entwich alle Unentschlossenheit aus dem Herzen d’Artagnans. Er erinnerte sich der Einzelheiten der Unterredung, die so eben zwischen Mylady und ihm stattgefunden hatte, und in einer, unter solchen Umständen so häufig vorkommenden raschen Wendung des Entschlusses trat er mit klopfendem Herzen und entzündetem Kopfe in das Hotel und stürzte in Kettys Zimmer.

Das junge Mädchen wollte, bleich wie der Tod, an allen Gliedern zitternd, d’Artagnan zurückhalten, aber Mylady mit ihren lauernden Ohren hatte das durch seinen Eintritt verursachte Geräusch vernommen, öffnete die Thüre und hieß ihn hereinkommen.

D’Artagnan hatte seine Vernunft verloren, er glaubte von einer jener phantastischen Itriguen fortgezogen zu werden, wie sie uns im Traume vorkommen. Der Anziehungskraft weichend, welche der Magnet auf das Eisen ausübt, ging er auf Mylady zu.

Die Thüre schloß sich hinter ihm.

Ketty stürzte ebenfalls nach der Thüre.

Die Eifersucht, die Wuth, der beleidigte Stolz, alle Leidenschaften, welche sich in dem Herzen eines verliebten weiblichen Wesens streiten, trieben sie zu einer Offenbarung; aber sie war verloren, wenn sie zugestand, daß sie die Hände bei einer solchen Machination im Spiele gehabt hatte, und was mehr als Alles in Betracht kam, – d’Artagnan war für sie verloren; dieser letzte Liebesgedanke rieth ihr, noch ein Opfer zu bringen.

D’Artagnan überließ sich seiner Seite ganz der Eingebungen seiner Eitelkeit. Es war nicht mehr ein Nebenbuhler, den man in ihm liebte, sondern es hatte das Ansehen, als liebte man ihn selbst. Eine geheime Stimme sagte ihm wohl im Hintergrund seines Herzens, er sei nur die Waffe, die man liebkose, bis sie den Tod gegeben habe; aber der Stolz, die Eigenliebe, die Tollheit brachten diese Stimme zum Schweigen, erstickten dieses Gemurmel. Dann verglich sich der Gascogner vermöge seiner bekannten Dosis von Selbstvertrauen mit dem Grafen von Wardes und fragte sich, warum man nicht am Ende ihn selbst um seiner selbst willen lieben könnte.

Durch das Blendwerk dieser Gedanken war Mylady für ihn nicht mehr das Weib mit den unseligen Absichten, die ihn einen Augenblick vorher erschreckt hatten; sie war eine reizende Frau, welche die Liebe selbst zu fühlen versprach, die sie einflößte.

Aber Mylady, welche nicht dieselben Gründe zum Vergessen hatte, wie d’Artagnan, entzog ihn bald seinen Betrachtungen und rief ihn zu der Wirklichkeit dieser Zusammenkunft zurück; sie fragte ihn, ob die Maßregeln, welche am andern Tage einen Streit zwischen ihm und dem Grafen von Wardes herbeiführen sollten, bereits in seinem Kopfe festgestellt seien.

D’Artagnan jedoch, dessen Gedanken einen ganz andern Gang genommen hatten, vergaß sich wie ein Thor und antwortete schmeichelnd: in ihrer Nähe, wo er sich ganz nur dem Glück hingebe, sie zu hören und zu sehen, könne er sich unmöglich mit Duellen und Degenstößen beschäftigen.

Diese Kälte für das einzige Interesse, von dem sie in Anspruch genommen war, erschreckte Mylady, deren Fragen dringender wurden.

D’Artagnan hatte nie ernstlich an dieses Duell gedacht: er wollte dem Gespräch eine andere Wendung geben, aber es lag nicht in seinen Kräften.

Mylady hielt die Unterredung innerhalb der Gränzen, die sie zum Voraus mit ihrem unwiderstehlichen Geist und mit ihrem eisernen Willen festgesetzt hatte.

D’Artagnan hielt sich nun für sehr geistreich, indem er Mylady rieth, Wardes zu vergeben und auf ihre wüthenden Pläne Verzicht zu leisten.

Aber bei den ersten Worten, die er sprach, nahm das Gesicht der jungen Frau einen finsteren Ausdruck an.

»Habt Ihr vielleicht Furcht, lieber Herr d’Artagnan?« rief sie in einem spitzigen, spöttischen Tone, der seltsam in den Ohren des jungen Mannes klang. – »Das kann nicht Euer Ernst sein, meine theure Seele,« erwiderte d’Artagnan; »aber wenn dieser arme Graf Wardes am Ende minder schuldig wäre, als Ihr glaubt?« – »In jedem Fall,« versetzte Mylady ernst, »in jedem Fall hat er mich getäuscht, und von dem Augenblick an, wo er mich getäuscht hat, verdient er den Tod.« – »Er wird also sterben, da Ihr ihn verurtheilt,« sprach d’Artagnan mit so festem Tone, daß dieser Mylady als der Ausdruck einer jede Prüfung bestehenden Ergebenheit erschien.

Alsbald lächelte sie ihm von Neuem zu.

»Ja ich bin ganz bereit,« rief nun d’Artagnan in unwillkürlicher Begeisterung; »aber zuvor wünschte ich einer Sache gewiß zu sein.« – »Und welcher?« fragte Mylady. – »Daß Ihr mich liebt.« – »Eure Anwesenheit dahier scheint mir der beste Beweis zu sein,« antwortete sie mit scheinbarer Verlegenheit. – »Ja; ich bin auch Euer mit Leib und Seele. Verfügt über meinen Arm!« – »Ich danke, mein tapferer Vertheidiger, und eben so, wie ich Euch meine Liebe dadurch beweise, daß ich Euch hier empfange, eben so werdet Ihr mir die Eurige beweisen, nicht wahr?« – »Ganz gewiß. Aber wenn Ihr mich liebt, wie Ihr mir sagt, habt Ihr nicht ein wenig bange für mich?« – »Was sollte ich fürchten?« – »Daß ich gefährlich verwundet, sogar getödtet werde?« – »Unmöglich!« sprach Mylady, »Ihr seid ein so muthiger Mann, ein so geschickter Degen!« – »Ihr würdet also ein Mittel nicht vorziehen, das Euch rächte, während der Kampf dabei überflüssig wäre?«

Mylady schaute den jungen Mann stilleschweigend an; ihre klaren Augen hatten einen seltsam düsteren Ausdruck angenommen.

»In der That,« sprach sie, »ich glaube, Ihr zaudert abermals!«– »Nein, ich zaudere nicht, aber es thut mir in der That leid um den armen Grafen von Wardes, seitdem Ihr ihn nicht mehr liebt, und es scheint mir, ein Mann muß schon durch den Verlust Eurer Liebe so grausam bestraft sein, daß er keiner anderen Züchtigung mehr bedarf.« – »Wer sagt Euch, daß ich ihn geliebt habe?« fragte Mylady. – »Wenigstens kann ich jetzt ohne zu große Abgeschmacktheit glauben, daß Ihr einen Andern liebt,« sprach der junge Mann in höflichem Tone, »und ich wiederhole Euch, ich interessire mich für den Grafen.« – »Ihr?« fragte Mylady. – »Ja, ich.« – »Und warum Ihr?« – »Weil ich allein weiß …« – »Was?« – »Daß er bei weitem nicht so schuldig gegen Euch ist, oder war, als es scheint.« – »In der That?« sprach Mylady mit unruhiger Miene, »erklärt Euch, denn ich weiß wahrhaftig nicht, was Ihr damit sagen wollt.«

Und sie schaute d’Artagnan mit Augen an, in denen sich allmälig ein düsteres Feuer entzündete.

»Ja, ich bin ein Mann von guter Lebensart,« sprach d’Artagnan, entschlossen ein Ende zu machen, »und seitdem Ihr mir Eure Liebe gestanden habt, seitdem ich ihres Besitzes gewiß bin, denn nicht wahr, ich besitze sie?« – »Ganz und gar. Fahrt fort.« – »Seitdem fühle ich mich verwandelt. Ein Geständniß bedrückt mich.« – »Ein Geständniß?« – »Hätte ich an Eurer Liebe gezweifelt, so würde ich es nicht abgelegt haben, aber Ihr liebt mich, nicht wahr, Ihr liebt mich?« – »Allerdings.« – »Wenn ich mich also aus maßloser Liebe zu Euch vergangen hätte, würdet Ihr mir vergeben?« – »Vielleicht. Aber das Geständniß,« sprach sie erbleichend, »was habt Ihr mir zu gestehen?« – »Ihr hattet am vorigen Donnerstag dem Grafen Wardes in diesem Zimmer Rendezvous gegeben, nicht wahr?« – »Ich! nein! das ist nicht der Fall!« sprach Mylady mit so fester Stimme und mit solcher Ruhe im Gesicht, daß d’Artagnan, wenn er nicht vollkommene Gewißheit gehabt hätte, gezweifelt haben würde. – »Lügt nicht, mein schöner Engel, es wäre unnütz,« sprach d’Artagnan und zwang sich dabei zu einem Lächeln. – »Wie so? sprecht doch! Ihr peinigt mich zu Tode.« – »Dieser Ring – ist in meinen Händen. Der Graf von Wardes vom Donnerstag und d’Artagnan von heute sind eine und dieselbe Person.«

Der Unkluge erwartete ein Staunen vermischt mit Scham, einen kleinen Sturm, der sich in Thränen auflösen würde; aber er täuschte sich gewaltig, und sein Irrthum währte nicht lange.

Bleich und furchtbar erhob sich Mylady und wollte d’Artagnan, der in ihrer Nähe war, durch einen heftigen Schlag auf die Brust zurückstoßen und sich von ihm entfernen. D’Artagnan hielt sie am Kleide zurück, um ihre Vergebung zu erflehen, aber mit einer kräftigen, entschlossenen Bewegung suchte sie zu entfliehen. Da zerriß das Kleid oben am Leibe und d’Artagnan erblickte auf einer von ihren schönen Schultern, welche nun entblößt war, zu seinem unaussprechlichen Schrecken die Lilie, das nie zu tilgende Mal, das die Hand des Henkers ausdrückt.

»Großer Gott!« rief er, das Kleid aus den Händen lassend, und blieb stumm, unbeweglich, zu Eis geworden an seiner Stelle.

Aber Mylady fühlte sich gerade durch den Schrecken d’Artagnan’s verrathen. Ohne Zweifel hatte er Alles gesehen; der junge Mann wußte nun ihr Geheimniß, ein furchtbares Geheimniß, das außer ihr der ganzen Welt unbekannt war.

Sie wandte sich um, nicht mehr wie ein wüthendes Weib, sondern wie ein verwundetes Panterthier.

»Ha! Elender!« sprach sie, »Du hast mich feig verrathen, und mehr noch. Du bist im Besitze meines Geheimnisses! Du sollst sterben!«

Und sie lief nach einem kleinen Kistchen mit eingelegter Arbeit, das auf ihrer Toilette stand, öffnete es mit fieberhaft zitternder Hand, zog einen kleinen Dolch mit goldenem Griff und dünner spitziger Klinge heraus und stand mit einem Sprunge wieder vor d’Artagnan, welcher sitzen geblieben war.

Obgleich der junge Mann viel Muth besaß, erschrak er doch vor diesem verstörten Gesichte, diesen hervortretenden Augen, diesen bleichen Wangen, diesen blutigen Lippen; er stand auf und wich zurück, wie vor einer Schlange, die auf ihn zugekrochen wäre, fuhr instinktmäßig mit seiner von Schweiß befeuchteten Hand an den Degen und zog ihn aus der Scheide.

Aber ohne durch den Anblick der blanken Klinge beunruhigt zu werden, rückte Mylady auf ihn zu, um ihm einen Stoß beizubringen, und hielt nicht eher stille, als bis sie die Spitze der Klinge auf ihrer Brust fühlte.

Nun suchte sie den Degen mit ihren Händen zu fassen, aber d’Artagnan entzog ihn fortwährend ihren Griffen, streckte ihr denselben, ohne zu stoßen, bald gegen die Brust, bald gegen die Augen entgegen und wich immer mehr zurück, in der Absicht, die Thüre zu suchen, welche zu Ketty führte, und durch diese seinen Rückzug zu nehmen.

Mylady drang während dieser Zeit mit furchtbarer Anstrengung und einem wahren Löwengebrülle auf ihn ein.

Da dies jedoch am Ende wie ein Duell aussah, so beruhigte sich d’Artagnan nach und nach.

»Gut, schöne Dame, gut,« sprach er; »aber ich bitte Euch um Gotteswillen, besänftigt Euch, oder ich zeichne eine zweite Lilie auf Eure andere Schulter.«

»Heilloser, Elender!« heulte Mylady.

Doch fortwährend die Thüre suchend, war d’Artagnan nur auf seine Vertheidigung bedacht.

Bei dem Geräusch, das sie durch das Umwerfen der Gerätschaften verursachten, sie, um zu ihm zu gelangen, er, um sich hinter dem Geräthe vor ihr zu schützen, öffnete Ketty die Thüre. D’Artagnan, der beständig manövriert hatte, um sich der Thüre zu nähern, war nur noch drei Schritte von dieser entfernt. Mit einem einzigen Sprung warf er sich aus dem Zimmer Mylady’s in das der Zofe, und verschloß schnell wie der Blitz die Thüre wieder, gegen die er sich mit seiner ganzen Macht stützte, während Ketty die Riegel vorstieß.

Dann suchte Mylady die Thüre zu sprengen und zwar mit Kräften, welche weit über das gewöhnliche Maß einer Frau gingen. Da sie fühlte, daß dies unmöglich war, so versetzte sie der Thüre Dolchstöße, von denen einige das Holz in seiner ganzen Dicke durchdrangen.

Jeder Stoß war von einer furchtbaren Verwünschung begleitet.

»Geschwind, geschwind, Ketty,« sprach d’Artagnan mit leiser Stimme, »mach‘, daß ich aus diesem Hotel komme; denn wenn wir ihr Zeit gönnen, sich umzudrehen, läßt sie mich durch ihre Bedienten tödten. Eilen wir, verstehst Du wohl, es hängt Leben und Tod davon ab!«

Ketty verstand nur zu gut. Sie führte ihn in der Dunkelheit über die Stufen hinab. Es war die höchste Zeit. Mylady hatte bereits geschellt und weckte das ganze Haus auf; der Portier zog auf die Stimme Ketty’s in demselben Augenblicke die Schnur, wo Mylady »Oeffnet nicht!« rief.

Der junge Mann floh, während sie ihn mit einer ohnmächtigen Geberde bedrohte. In der Sekunde, in der sie ihn aus dem Gesicht verlor, stürzte sie ohnmächtig in ihrem Zimmer nieder.

VI.

Worin von der Equipirung von Aramis und Porthos die Rede ist.

Seitdem jeder der vier Freunde seiner Equipirung nachjagte, fand keine bestimmte Zusammenkunft mehr unter ihnen statt; die Einen speisten ohne die Andern, wo man sich traf, oder vielmehr man traf sich, wo man konnte. Der Dienst nahm auch einen Theil der so schnell verrinnenden Zeit weg. Nur hatte man sich verabredet, einmal wöchentlich gegen ein Uhr bei Athos zusammen zu kommen, weil der letztere seinem Schwure getreu nicht mehr über seine Thürschwelle ging.

Gerade der Tag, an welchem Ketty d’Artagnan aufgesucht hatte, war auch der Tag der Zusammenkunft. Kaum hatte Ketty das Haus verlassen, als sich d’Artagnan nach der Rue Ferou wandte.

Er fand Athos und Aramis, welche philosophirten. Aramis war halb Willens, zu der Sutane zurückzukehren. Athos rieth ihm, seiner Gewohnheit gemäß, weder ab, noch ermuthigte er ihn dazu. Athos war dafür, Jedem seinen freien Willen zu lassen. Er gab nur Rathschläge, die man von ihm forderte, und man mußte sie zweimal fordern.

»Im Allgemeinen fordert man Rathschläge nur,« sagte er, »um sie nicht zu befolgen, oder wenn man sie befolgt, um Jemand zu haben, dem man einen Vorwurf daraus machen kann, daß er sie gegeben.«

Porthos kam einen Augenblick nach d’Artagnan. Die Versammlung der vier Freunde war also vollzählig.

Die vier Gesichter drückten vier verschiedene Gefühle aus: das von Porthos Ruhe, das von d’Artagnan Hoffnung, das von Aramis Unruhe, das von Athos Sorglosigkeit.

Nach einem kurzen Gespräch, in welchem Porthos durchblicken ließ, eine sehr hochgestellte Person wolle es gütigst übernehmen, ihn aus der Verlegenheit zu ziehen, trat Mousqueton ein. Er bat Porthos, in seine Wohnung zu kommen, wo, wie er mit sehr kläglicher Miene sagte, seine Gegenwart dringend nothwendig sei.

»Betrifft es meine Equipirung?« fragte Porthos. – »Ja und nein,« antwortete Mousqueton. – »Aber was willst Du denn? …« – »Kommt, gnädiger Herr!«

Porthos stand auf, grüßte seine Freunde und folgte Mousqueton.

Einen Augenblick später erschien Bazin auf der Thürschwelle.

»Was willst Du von mir, mein Freund?« sagte Aramis mit jener Weichheit der Sprache, die man jedes Mal bei ihm bemerkte, so oft ihn seine Gedanken zu der Kirche zurückführten. – »Ein Mann erwartet den gnädigen Herrn zu Hause,« antwortete Bazin. – »Ein Mann! was für ein Mann?« – »Ein Bettler.« – »Gib ihm ein Almosen, Bazin, und sage ihm, er möge für einen armen Sünder beten.« – »Dieser Bettler will mit aller Gewalt Euch sprechen, und behauptet, Ihr würdet sehr erfreut sein, ihn zu sehen.« – »Hat er nichts Besonderes für mich?« – »Allerdings.« »»Wenn Herr Aramis,«« sagte er, »»mich nicht sogleich aufsuchen will, so meldet ihm, ich komme von Tours.«« – »Von Tours? ich gehe!« rief Aramis. »Meine Herren, ich bitte tausendmal um Vergebung, aber ohne Zweifel bringt mir dieser Mensch Nachrichten, welche ich erwarte.« So sprechend stand er auf und entfernte sich rasch.

Es blieben noch Athos und d’Artagnan.

»Ich glaube, daß diese Spitzbuben ihre Sachen gefunden haben. Was denkt Ihr davon, d’Artagnan?« sagte Athos.

»Ich weiß, daß Porthos im schönsten Zug ist,« erwiderte d’Artagnan, »und in Bezug auf Aramis bin ich in der That nie ernstlich in Unruhe gewesen. Aber Ihr, mein lieber Athos, der Ihr so edelmüthig die Pistolen des Engländers ausgetheilt habt, die Euch von Rechts wegen zukamen, was gedenkt Ihr zu thun?«

»Ich bin sehr froh, daß ich diesen Schurken getötet habe, da er die alberne Neugierde hatte, meinen wahren Namen erfahren zu wollen; aber wenn ich seine Pistolen eingesackt hätte, so würden sie mich drücken, wie ein Gewissensbiß.«

»Ei, ei, mein lieber Athos, Ihr habt ein wahrhaft unbegreifliches Zartgefühl.«

»Lassen wir das! Apropos, Herr von Treville, der mich gestern mit seinem Besuch beehrte, sagte mir, daß Ihr sehr häufig die verdächtigen Engländer besuchet, welche der Kardinal beschützt.«

»Das heißt, daß ich einer Engländerin meinen Besuch mache, derjenigen, von welcher ich mit Euch gesprochen habe.«

»Ah, ja, die blonde Frau, in Bezug auf welche ich Euch Rathschläge gab, die Ihr natürlich nicht befolgt habt.«

»Ich habe Euch meine Gründe genannt. Ich bin jetzt fest überzeugt, daß diese Dame bei der Entführung der Frau Bonacieux mitgewirkt hat.«

»Ja, und ich begreife, daß Ihr, um eine Frau aufzufinden, einer andern den Hof macht. Das ist der längste Weg, aber der unterhaltendste.«

Wir wollen die zwei Freunde, die sich nichts Wichtiges zu sagen hatten, verlassen, um Aramis zu folgen.

Wir haben gesehen, mit welcher Geschwindigkeit der junge Mann, bei der Nachricht, daß sein Unbekannter von Tours komme, Bazin folgte, oder vielmehr ihm vorauslief. Er machte gleichsam nur einen Sprung von der Rue Ferou nach der Rue Vaugirard.

Beim Eintritt in seine Wohnung fand er wirklich einen Mann von kleinem Wuchs und gescheidten Augen, aber mit Lumpen bedeckt.

»Ihr verlangt nach mir,« sagte der Musketier. – »Das heißt, ich verlange nach Herrn Aramis. Heißt Ihr so?« – »Allerdings. Habt Ihr mir etwas zu übergeben?« – »Ja, wenn Ihr mir ein gewisses gesticktes Taschentuch zeigt.« – »Hier ist es,« sprach Aramis, indem er einen Schlüssel aus der Brust zog und ein kleines, mit Perlmutter inkrustirtes Kistchen von Ebenholz öffnete, »seht, hier ist es.« – »Gut,« sprach der Bettler, »schickt Euren Bedienten weg.«

Bazin hatte wirklich, um zu erfahren, was der Bettler von seinem Herrn wollte, gleichen Schritt mit ihm gehalten und war beinahe zugleich mit ihm angekommen. Aber diese Geschwindigkeit nützte ihn nicht sehr viel. Auf diese Aufforderung des Bettlers gab ihm sein Herr ein Zeichen, sich zu entfernen, und er mußte gehorchen.

Sobald Bazin sich entfernt hatte, warf der Bettler einen raschen Blick umher, um sich zu versichern, daß ihn Niemand hören oder sehen konnte, öffnete seine mit einem ledernen Gürtel nur schlecht verschlossene, zerlumpte Überweste, und fing an, sein Wamms oben aufzutrennen, aus dem er einen Brief hervorzog.

Aramis stieß ein Freudengeschrei bei dem Anblick des Siegels aus und öffnete mit beinahe religiöser Ehrfurcht den Brief, welcher Folgendes enthielt:

»Freund! das Schicksal will, daß wir noch einige Zeit getrennt sein sollen; aber die schönen Tage der Jugend sind nicht unwiederbringlich verloren. Thut Eure Pflicht im Felde, ich thue die meinige anderswo. Nehmt, was der Ueberbringer Euch zustellen wird. Macht den Feldzug als schöner und braver Edelmann mit, und denkt an mich. Adieu, oder vielmehr auf Wiedersehen!«

Der Bettler trennte immer noch auf. Er zog aus seinen schmutzigen Kleidern hundert und fünfzig Doppelpistolen hervor, die er auf dem Tisch an einander reihte; dann öffnete er die Thüre, grüßte und ging ab, ohne daß der erstaunte junge Mann ihm ein Wort hatte sagen können.

Aramis las den Brief noch einmal und bemerkte, daß derselbe eine Nachschrift hatte.

»N. S. Ihr könnt dem Ueberbringer einen guten Empfang zu Theil werden lassen. Er ist Graf und Grand von Spanien.«

»Goldene Träume!« rief Aramis, »oh! das schöne Leben! ja, wir sind jung! ja, wir werden noch schöne Tage haben! oh! Dir! Dir meine Liebe, mein Blut, mein Dasein! Alles, Alles, Alles, meine schöne Geliebte!«

Und er küßte den Brief leidenschaftlich, ohne nur das Gold anzuschauen, das auf dem Tische funkelte.

Bazin kratzte an der Thüre, Aramis hatte keine Ursache mehr ihn entfernt zu halten, und erlaubte ihm einzutreten.

Bazin blieb beim Anblick des Goldes ganz erstaunt stehen und vergaß d’Artagnan zu melden, der aus Neugierde in Betreff des Bettlers zu Aramis kam, nachdem er Athos verlassen hatte.

Da sich aber d’Artagnan bei Aramis keinen Zwang anthat, so meldete er sich selbst, als er sah, daß ihn Bazin vergaß.

»Ah, Teufel, mein lieber Aramis,« sprach d’Artagnan, »wenn das die Pflaumen sind, die man Euch von Tours schickt, so macht dem Gärtner, der sie pflanzt, mein Kompliment.«

»Ihr täuscht Euch, mein Lieber,« erwiderte der allzeit verschwiegene Aramis. »Mein Buchhändler hat mir so eben das Honorar für das Gedicht in einsilbigen Versen geschickt, das ich da unten angefangen habe.«

»Ah, wahrhaftig?« rief d’Artagnan. »Nun wohl! Euer Buchhändler ist splendid, mein lieber Aramis; das ist Alles, was ich sagen kann.«

»Wie, gnädiger Herr,« rief Bazin, »ein Gedicht wird so hoch bezahlt? Das ist unglaublich! Oh, gnädiger Herr! Ihr macht Alles, was Ihr wollt, Ihr könnt es noch so weit bringen, wie Herr Voiture und Herr von Benserade.«

»Bazin, mein Freund,« sagte Aramis, »ich glaube, Du mischest Dich in das Gespräch.«

Bazin begriff, daß er Unrecht hatte, senkte den Kopf und trat ab.

»Wie?« sprach d’Artagnan lächelnd. »Ihr laßt Euch Eure Erzeugnisse mit Gold aufwiegen? Ihr seid sehr glücklich, mein Freund! Aber nehmt Euch in Acht, Ihr verliert den Brief, der aus Eurer Kasake hervorsieht und ohne Zweifel auch von Eurem Buchhändler kommt.«

Aramis erröthete bis unter das Weiß der Augen, drückte seinen Brief tiefer hinein und knöpfte sein Wamms wieder zu.

»Mein lieber d’Artagnan,« sagte er, »wir wollen, wenn es Euch genehm ist, unsere Freunde aufsuchen, und da ich jetzt reich bin, heute wieder anfangen mit einander zu diniren, bis Ihr ebenfalls reich seid.«

»Meiner Treu!« erwiderte d’Artagnan, »mit großem Vergnügen. Wir haben seit geraumer Zeit kein anständiges Mittagsmahl mehr eingenommen, und da ich, für meinen Theil, diesen Abend ein etwas gewagtes Unternehmen auszuführen habe, so wäre es mir, ehrlich gestanden, nicht unangenehm, den Kopf mit einigen Flaschen altem Burgunder zu erwärmen.«

»Es mag sein, alter Burgunder, ich hasse ihn auch nicht,« sprach Aramis, dem der Anblick des Goldes die Gedanken an Zurückgezogenheit abgestreift hatte.

Er steckte drei bis vier Doppelpistolen in seine Tasche, um den Bedürfnissen des Augenblicks zu genügen, und schloß die übrigen in das mit Perlmutter inkrustirte Kistchen von Ebenholz, worin das bereits bekannte Taschentuch lag, das ihm als Talisman gedient hatte.

Die zwei Freunde begaben sich zuerst zu Athos, der es, getreu seinem Schwur nicht auszugehen, übernahm, das Mittagbrod in seine Wohnung bringen zu lassen. Da er sich sehr gut auf die gastronomischen Einzelheiten verstand, so machten d’Artagnan und Aramis keine Schwierigkeit, ihm diese wichtige Sorge zu überlassen.

Sie waren auf dem Wege zu Porthos, als sie an der Ecke der Rue du Bac Mousqueton begegneten, der mit kläglicher Miene ein Maulthier und ein Pferd vor sich hertrieb.

D’Artagnan stieß einen Schrei des Erstaunens aus, dem es nicht an einer Beimischung von Freude fehlte.

»Ah! mein gelbes Pferd!« rief er, »seht dieses Pferd an!«

»Oh! die abscheuliche Mähre!« sagte Aramis.

»Was wollt Ihr, mein Lieber,« versetzte d’Artagnan, »das ist das Pferd, auf welchem ich nach Paris gekommen bin.«

»Wie, der gnädige Herr kennt dieses Pferd?« sprach Mousqueton.

»Es hat eine ganz originelle Farbe,« rief Aramis, »es ist das einzige, das ich mit einer solchen Haut gesehen habe.«

»Ich glaube wohl!« sagte d’Artagnan, »ich habe es auch um drei Thaler verkauft, und das muß der Haut wegen gewesen sein, denn das Gerippe ist sicherlich keine achtzehn Livres werth. Aber wie kommt dieses Pferd in Deine Hände, Mousqueton?«

»Oh! sprecht mir nicht hievon, gnädiger Herr,« erwiderte der Bediente, »das ist ein abscheulicher Streich vom Gemahle unserer Herzogin.«

»Wie so, Mousqueton?«

»Ja, wir sind sehr wohl gelitten bei einer Frau von hohem Stande, bei der Herzogin von … Doch um Vergebung, mein Herr hat mir Verschwiegenheit empfohlen. Sie hatte uns genöthigt, ein kleines Andenken, ein spanisches Roß und ein andalusisches Maulthier anzunehmen, und Beides war herrlich anzuschauen. Der Gemahl erfuhr die Sache, konfiscirte unterwegs die zwei prächtigen Thiers, die man uns schickte, und vertauschte sie mit diesen abscheulichen Bestien.«

»Die Du ihm zurückbringst?«

»Natürlich,« antwortete Mousqueton. »Ihr begreift, daß wir keine solchen Thiere für diejenigen annehmen können, welche uns versprochen waren.«

»Nein, bei Gott! obgleich ich Porthos gerne auf meinem gelben Pferde gesehen haben möchte. Das hätte mir eine Idee davon gegeben, wie ich aussah, als ich nach Paris kam. Aber wir wollen Dich nicht aufhalten, Mousqueton; geh und besorge den Auftrag Deines Herrn. Ist er zu Hause?«

»Ja, gnädiger Herr; aber in sehr verdrießlicher Laune,« sprach Mousqueton.

Und er setzte seinen Weg nach dem Quai des Grands-Augustins fort, während die zwei Freunde an der Thüre des unglücklichen Porthos läuteten. Dieser hatte sie durch den Hof schreiten sehen, und war nicht Willens zu öffnen. Sie klopften also vergebens.

Mousqueton aber trieb seine zwei Mähren vor sich her über den Pont Neuf und erreichte die Rue aux Ours. Hier angelangt, band er, nach dem Befehle seines Herrn, Pferd und Maulthier an den Thürklopfer des Procurators und kehrte sodann, ohne sich um ihr ferneres Schicksal zu bekümmern, zu seinem Herrn zurück, um diesem zu melden, daß sein Auftrag vollzogen sei.

Nach einiger Zeit machten die unglücklichen Thiers, die seit dem Morgen nichts gefressen hatten, dadurch, daß sie den Klopfer aufhoben und wieder fallen ließen, einen solchen Lärm, daß der Procurator seinem Gassenjungen befahl, sich in der Nachbarschaft zu erkundigen, wem das Pferd und das Maulthier gehörten.

Madame Coquenard erkannte ihr Geschenk und konnte Anfangs diese Zurücksendung gar nicht begreifen; aber bald bekam sie Licht durch den Besuch des Musketiers. Der Zorn, der in seinen Augen funkelte, obschon er an sich zu halten suchte, erschreckte die empfindsame Liebende. Mousqueton hatte seinem Herrn wirklich nicht verborgen, daß er d’Artagnan und Aramis begegnet war, und daß d’Artagnan in dem gelben Pferde die Bearner Mähre erkannt, auf der er nach Paris gekommen war und die er sodann um drei Thaler verkauft hatte.

Porthos entfernte sich, nachdem er der Procuratorin im Kloster Saint-Magloire Rendezvous gegeben hatte. Als der Procurator Porthos gehen sah, lud er ihn zum Mittagessen ein, der Musketier aber schlug diese Einladung mit einer Miene voll Majestät aus.

Madame Coquenard begab sich ganz zitternd nach dem Kloster Saint-Magloire, denn sie ahnte die Vorwürfe, die ihrer harrten, aber sie wurde gänzlich geblendet durch die großartigen Manieren von Porthos.

Alles was ein in seiner Eitelkeit verletzter Mensch von Verwünschungen und Vorwürfen auf das Haupt einer Frau herabströmen lassen kann, ließ Porthos auf das gebeugte Haupt der Procuratorin strömen.

»Ach! ich glaubte äußerst klug zu Werke zu gehen,« sagte sie. »Einer von unsern Kunden ist Pferdehändler; er war der Schreibstube Geld schuldig und zeigte sich hartnäckig; ich nahm das Maulthier und das Pferd für das, was wir von ihm zu fordern hatten. Er versprach mir zwei königliche Thiere.«

»Wohl! Madame,« erwiderte Porthos, »wenn er Euch mehr als fünf Thaler schuldig war, so ist Euer Pferdehändler ein Dieb.«

»Es ist nicht verboten, das Wohlfeile zu suchen, Herr Porthos,« entgegnete die Procuratorsfrau, sich entschuldigend.

»Nein, Madame, aber diejenigen, welche das Wohlfeile suchen, müssen Anderen erlauben, sich nach edelmüthigeren Freunden umzusehen.«

Hierauf wandte sich Porthos auf den Absätzen und machte einen Schritt um sich zu entfernen.

»Herr Porthos! Herr Porthos!« rief die Procuratorin, »ich habe Unrecht, ich erkenne es; ich hätte nicht feilschen sollen, da es sich darum handelte, einen Cavalier, wie Ihr seid, zu equipiren.«

Porthos machte, ohne zu antworten, einen zweiten Schritt zum Rückzug.

Die Procuratorin glaubte ihn in einer glänzenden Wolke zu erblicken, umgeben von lauter Herzoginnen uns Marquisen, die ihm Säcke voll Gold vor die Füße warfen.

»Bleibt doch um’s Himmels willen, Herr Porthos!« rief sie, »bleibt und laßt mit Euch sprechen.« – »Mit Euch sprechen bringt mir Unglück,« entgegnete Porthos.« – »Sagt mir doch, was wünscht Ihr?« – »Nichts; denn das kommt gerade auf dasselbe heraus, als wenn ich etwas wünschen würde.«

Die Procuratorin hing sich Porthos an den Arm und rief in überströmendem Schmerz:

»Herr Porthos, ich bin unwissend in allen diesen Dingen. Weiß ich, was ein Pferd ist! Weiß ich, was Equipirung heißt?« – »Dann müßt Ihr Euch an mich halten, der ich mich darauf verstehe; aber Ihr wolltet sparen und folglich auf Wucher leihen.« – »Das war Unrecht von mir, Herr Porthos, und ich werde es auf mein Ehrenwort wieder gut machen.« – »Und wie dies?« fragte der Musketier. – »Hört. Diesen Abend geht Coquenard zu dem Herrn Herzog von Chaulnes, der ihn hat rufen lassen. Es findet eine Berathung statt, welche wenigstens zwei Stunden dauert. Kommt zu mir, wir werden allein sein und unsere Angelegenheiten ordnen.« – »Gut. Das heiße ich vernünftig sprechen, meine Liebe.« – »Ihr verzeiht mir?« – »Wir werden sehen,« erwiderte Porthos majestätisch.

Und sie trennten sich nach wiederholtem: »Diesen Abend also.«

»Teufel!« dachte Porthos auf dem Rückweg, »es scheint mir, ich komme dem Geldkasten des Herrn Coquenard immer näher.

VII.

Bei Nacht sind alle Katzen grau.

Der so ungeduldig von Porthos und von d’Artagnan erwartete Abend kam.

D’Artagnan fand sich wie gewöhnlich gegen neun Uhr bei Mylady ein. Er traf sie in der angenehmsten Laune, nie hatte sie ihn so gut empfangen. Unser Gascogner sah auf den ersten Blick, daß Ketty ihrer Gebieterin das vermeintliche Billet des Grafen von Wardes zugestellt hatte, und daß dieses Billet seine Wirkung hervorbrachte.

Ketty trat ein, um Sorbets zu reichen. Ihre Gebieterin machte ihr die freundlichste Miene, lächelte ihr auf das Anmuthigste zu; aber die Arme war so traurig über die Anwesenheit d’Artagnans bei Mylady, daß sie das Wohlwollen der letzteren gar nicht gewahr wurde.

D’Artagnan schaute die zwei Frauen nach einander an und mußte sich gestehen, daß sich die Natur bei ihrer Hervorbringung getäuscht hatte; der vornehmen Dame hatte sie eine giftige, treulose Seele, der Zofe ein liebendes, treues Herz gegeben.

Um zehn Uhr fing Mylady an, unruhig zu scheinen; d’Artagnan errieth ihre Gedanken sehr wohl; sie schaute auf die Uhr, erhob sich, setzte sich wieder und lächelte d’Artagnan mit einer Miene zu, als wollte sie sagen; »Ihr seid allerdings liebenswürdig, aber Ihr wäret allerliebst, wenn Ihr Euch entferntet.«

D’Artagnan stand auf und nahm seinen Hut; Mylady reichte ihm die Hand zum Kusse. Der junge Mann fühlte, daß sie ihm seine Hand drückte, und begriff, daß er diese Gunst einem Gefühl, nicht der Koketterie, sondern der Dankbarkeit für seinen Aufbruch verdankte.

»Sie liebt ihn wahnsinnig!« murmelte er.

Diesmal erwartete ihn Ketty weder im Vorzimmer, noch auf der Flur, noch im Thorweg. D’Artagnan mußte ganz allein die Treppe und das kleine Zimmer finden.

Ketty hatte an einem Tisch sitzend das Gesicht in den Händen verborgen und weinte.

Sie hörte d’Artagnan eintreten, aber sie hob den Kopf nicht in die Höhe. Der junge Mann näherte sich ihr und nahm sie bei der Hand; dann brach sie in ein Schluchzen aus.

Mylady hatte, wie d’Artagnan voraussetzte, als sie den Brief erhielt, den sie für eine Antwort des Grafen von Wardes hielt, im Uebermaß der Freude der Zofe alles gesagt und ihr als Belohnung für die Art und Weise, wie sie sich ihres Auftrags entledigt, eine Börse geschenkt.

In ihr Zimmer zurückkehrend hatte Ketty die Börse in einen Winkel geworfen, wo sie neben drei oder vier Goldstücken, welche herausgefallen waren, offen liegen blieb.

Bei der Stimme d’Artagnans schaute das arme Mädchen endlich empor. D’Artagnan erschrack über die Veränderung in ihren Gesichtszügen; sie faltete die Hände mit flehender Miene, aber ohne daß sie ein Wort zu sprechen vermochte.

So wenig empfindsam das Herz d’Artagnans war, so fühlte er sich doch gerührt durch diesen stummen Schmerz; aber er hing zu fest an seinen Entwürfen und besonders an diesem, als daß er es hätte über sich gewinnen können, etwas an dem Programm zu verändern, das er zum Voraus gemacht hatte. Er ließ Ketty keine Hoffnung, das von ihm beschlossene kecke Unternehmen zu verhindern. Nur stellte er ihr es als das dar, was es in Wirklichkeit war, das heißt als eine einfache Rache für die Koketterie Mylady’s und als das einzige Mittel, von ihr die gewünschte Auskunft über Madame Bonacieux dadurch zu erlangen, daß er sie durch Furcht vor Skandal beherrschen würde.

Dieser Plan war um so leichter ausführbar, als Mylady aus Gründen, die man sich nicht erklären konnte, die jedoch von großem Gewichte zu sein schienen, Ketty den Befehl gegeben hatte, alle Lichter in ihrem Zimmer und sogar die im Zimmer der Zofe auszulöschen.

Bald hörte man Mylady, welche in ihr Gemach zurückkehrte. D’Artagnan stürzte sogleich in den Schrank; kaum war er hineingeschlüpft, als die Glocke ertönte.

Ketty ging zu ihrer Gebieterin hinein und ließ die Thüre diesmal nicht offen, aber die Scheidewand war so dünn, daß man beinahe Alles hörte, was zwischen den zwei Frauen gesprochen wurde.

Mylady schien trunken vor Freude; sie ließ sich von Ketty die geringsten Einzelnheiten der angeblichen Zusammenkunft der Kammerjungfer mit dem Grafen von Wardes wiederholen, – wie er ihren Brief empfangen, wie er geantwortet, welchen Ausdruck sein Gesicht gezeigt habe, ob er sehr verliebt geschienen; auf alle diese Fragen antwortete die arme Ketty, welche sich keine Blöße geben durfte, mit einer erstickten Stimme, deren schmerzhaften Ton ihre Gebieterin nicht einmal bemerkte – so selbstsüchtig ist das Glück.

Als endlich die Stunde nahte, wo der Graf von Wardes erscheinen sollte, ließ Mylady in der That Alles bei sich auslöschen, und hieß Ketty in ihr Zimmer zurückkehren und den Grafen von Wardes bei ihr einführen, sobald er sich zeigen würde.

Ketty hatte nicht lange zu warten. Kaum hatte d’Artagnan durch das Schlüsselloch seines Schrankes gesehen, daß das ganze Zimmer in Finsterniß gehüllt war, so sprang er in dem Augenblick, wo Ketty die Verbindungsthüre wieder schloß, aus seinem Versteck hervor.

»Was soll dieses Geräusch bedeuten?« fragte Mylady.

»Ich bin es,« sagte d’Artagnan mit halber Stimme, »ich, der Graf von Wardes.«

»O, mein Gott, mein Gott!« murmelte Ketty, »er konnte nicht einmal die Stunde abwarten, die er selbst festgesetzt hatte.«

»Nun!« sprach Mylady mit zitternder Stimme, »warum tritt er nicht ein? Graf, Graf, Ihr wißt, daß ich Euch erwarte.«

Auf diesen Ruf schob d’Artagnan Ketty sachte bei Seite und eilte in das Zimmer von Mylady.

Müssen Wuth und Schmerz eine Seele foltern, so ist dies im höchsten Grad bei einem Liebenden der Fall, welcher unter einem Namen, der nicht ihm gehört, Liebesbetheuerungen empfängt, die seinem glücklichen Nebenbuhler gelten.

D’Artagnan befand sich in einer peinvollen Lage, die er nicht vorhergesehen hatte; die Eifersucht marterte sein Herz, und er litt beinahe so sehr, wie die arme Ketty, welche in demselben Augenblick im anstoßenden Zimmer weinte.

»Ja, Graf,« sagte Mylady mit ihrer weichsten Stimme und drückte dabei eine seiner Hände, »ja, ich bin glücklich durch die Liebe, die mir Eure Blicke und Eure Worte ausdrückten. Aber ich liebe Euch auch. Morgen, morgen will ich irgend ein Pfand von Euch, das beweisen soll, daß Ihr an mich denkt, und da Ihr mich vergessen könntet, so nehmt.«

Und sie zog einen Ring von ihrem Finger und steckte ihn d’Artagnan an.

Es war ein prächtiger Saphir, umgeben von Brillanten.

Die erste Regung d’Artagnans war, ihr denselben zurückzugeben; aber Mylady fügte bei:

»Nein, nein, behaltet diesen Ring, mir zu Liebe. Ueberdies leistet Ihr mir, indem Ihr ihn annehmt,« setzte sie mit bewegter Stimme hinzu, »einen größeren Dienst, als Ihr Euch vorstellen könnt.«

»Diese Frau ist doch voll von Geheimnissen,« dachte d’Artagnan.

In diesem Augenblick fühlte er sich geneigt, Alles zu enthüllen. Er öffnete den Mund, um Mylady zu sagen, wer er sei, und welcher Racheplan ihn herbeigeführt; aber sie fügte hinzu:

»Armer Engel, den dieses Ungeheuer von einem Gascogner beinahe getötet hätte!«

Das Ungeheuer war er.

»Oh!« fuhr Mylady fort, »habt Ihr noch an Euren Wunden zu leiden?« – »Ja, viel,« erwiderte d’Artagnan, der nicht wußte, was er sagen sollte. – »Seid ruhig,« antwortete Mylady, in einem für ihren Zuhörer wenig beruhigenden Ton, »ich werde Euch rächen, grausam rächen!« – »Pest,« sprach d’Artagnan zu sich selbst, »der Augenblick der Offenbarung ist noch nicht gekommen.«

D’Artagnan brauchte einige Zeit, um sich von diesem kleinen Dialog zu erholen: alle rachsüchtigen Gedanken, die er mitgebracht hatte, waren völlig verschwunden. Diese Frau übte eine unglaubliche Macht über ihn aus; er haßte sie und betete sie zugleich an; er hatte nie geglaubt, daß zwei so entgegengesetzte Gefühle in einem Herzen wohnen und ihrer Vereinigung eine seltsame, gleichsam teuflische Liebe bilden können.

Es hatte indessen ein Uhr geschlagen; man mußte sich zurückziehen. In dem Augenblick, wo d’Artagnan Mylady verließ, fühlte er nur ein lebhaftes Bedauern, sich von ihr entfernen zu müssen, und bei dem leidenschaftlichen Lebewohl, das sie an einander richteten, wurde eine neue Zusammenkunft für die nächste Woche verabredet.

Die arme Ketty hoffte einige Worte mit d’Artagnan sprechen zu können, wenn er durch ihr Zimmer gehen würde; aber Mylady geleitete ihn selbst in der Dunkelheit und verließ ihn erst auf der Treppe.

Am andern Morgen lief d’Artagnan zu Athos. Er war in ein so seltsames Abenteuer verwickelt, daß er ihn um seinen Rath bitten wollte, und erzählte ihm deßhalb Alles, was vorgefallen war. Athos runzelte wiederholt die Stirne.

»Eure Mylady,« sprach er, »scheint mir ein heilloses Geschöpf zu sein. Aber es war darum von Euch nicht minder unrecht, sie zu täuschen, und Ihr habt nun auf die eine oder auf die andere Weise eine Feindin auf dem Nacken.«

Während Athos sprach, schaute er beständig den mit Diamanten umgebenen Saphir an, der an d’Artagnan’s Finger die Stelle des Ringes der Königin eingenommen hatte, welcher sorgfältig in ein Kästchen verschlossen worden war.

»Ihr schaut diesen Ring an,« sagte der Gascogner, stolz darauf, vor den Blicken des Freundes ein so reiches Geschenk glänzen lassen zu können.

»Ja,« sagte Athos, »er erinnert mich an ein Familienjuwel.«

»Der Ring ist schön, nicht wahr?« sprach d’Artagnan.

»Herrlich!« antwortete Athos, »ich glaubte nicht, daß zwei Saphire von so schönem Wasser vorhanden wären. Habt Ihr ihn gegen Euren Diamant ausgetauscht?«

»Nein,« sagte d’Artagnan, »es ist ein Geschenk von meiner schönen Engländerin oder vielmehr von meiner schönen Französin, denn, obgleich ich sie nicht darüber befragt habe, bin ich doch überzeugt, daß sie in Frankreich geboren ist.«

»Dieser Ring ist Euch von Mylady zugekommen?« rief Athos mit einer Stimme, in der sich leicht die große Gemüthsbewegung erkennen ließ.

»Von ihr selbst, sie hat ihn mir heute Nacht gegeben.«

»Zeigt mir den Ring,« sprach Athos.

»Hier ist er,« antwortete d’Artagnan und zog ihn vom Finger.

Athos betrachtete denselben und wurde sehr bleich. Dann probirte er ihn an dem Ringfinger seiner linken Hand. Er ging so gut an diesen Finger, als ob er dafür gemacht worden wäre.

Eine Wolke des Zorns und der Rache zog über die gewöhnlich so ruhige Stirne des Edelmanns.

»Es kann unmöglich derselbe sein,« sprach er. »Wie sollte sich dieser Ring in den Händen von Mylady Clarick finden! Und doch läßt sich kaum zwischen zwei Juwelen eine solche Ähnlichkeit denken!«

»Kennt Ihr diesen Ring?« fragte d’Artagnan.

»Ich glaubte ihn zu erkennen,« erwiderte Athos, »aber ich täuschte mich ohne Zweifel.«

Und er gab d’Artagnan den Ring zurück, schaute ihn aber fortwährend an.

»Ich bitte Euch!« sprach er nach einem Augenblick, »ich bitte Euch, d’Artagnan, nehmt diesen Ring von Eurem Finger oder dreht den Saphir nach Innen. Er ruft so schreckliche Erinnerungen in mir zurück, daß ich nicht die nöthige Besinnung hätte, um mit Euch zu plaudern. Wolltet Ihr nicht Rath von mir haben? Sagtet Ihr mir nicht, Ihr seiet in Verlegenheit, was Ihr thun sollet? Aber halt, gebt mir nochmals diesen Ring. Derjenige, von welchem ich sprechen wollte, muß an einer der Seiten des Steines in Folge eines Unfalls geritzt sein.«

D’Artagnan zog den Ring abermals von seinem Finger und gab ihn Athos.

Athos bebte: »Seht,« sprach er; »seht! ist das nicht seltsam!«

Und er zeigte d’Artagnan die Ritze, deren er sich erinnerte.

»Aber von wem hattet Ihr diesen Saphir, Athos?«

»Von meiner Mutter, die ihn von der ihrigen erbte. Wie ich Euch sage, es ist ein alter Juwel, der nie aus der Familie kommen sollte.«

»Und Ihr habt ihn verkauft?« fragte d’Artagnan zögernd.

»Nein,« antwortete Athos mit seltsamem Lächeln. »Ich habe ihn während einer Liebesstunde verschenkt, wie er an Euch verschenkt worden ist.«

D’Artagnan wurde ebenfalls nachdenkend. Es kam ihm vor, als erblicke er in Myladys Leben Abgründe mit düsteren, furchtbaren Tiefen.

Er steckte den Ring nicht an seinen Finger, sondern in seine Tasche.

»Hört,« sprach Athos und faßte ihn bei der Hand, »Ihr wißt, daß ich Euch liebe, d’Artagnan; hätte ich einen Sohn, ich könnte ihn nicht mehr lieben als Euch; nun, glaubt mir, verzichtet auf diese Frau. Ich kenne sie nicht, aber eine unbestimmte Ahnung sagt mir, daß sie ein verdorbenes Geschöpf ist und daß etwas Unseliges in ihr sein muß.«

»Und Ihr habt Recht,« sprach d’Artagnan, »glaubt mir, ich trenne mich von ihr. Ich gestehe Euch, auch mich erfüllt diese Frau mit Schrecken.«

»Werdet Ihr den Muth haben?« sagte Athos.

»Ich werde ihn haben,« antwortete d’Artagnan, »und zwar in diesem Augenblick.«

»Wohl, mein Junge, Ihr habt Recht,« sprach der Edelmann und drückte dem Gascogner mit wahrhaft väterlicher Zuneigung die Hand. »Gott wolle, daß diese Frau, die kaum in Eure Existenz eingetreten ist, keine traurige Spur darin zurücklasse.«

Und Athos grüßte d’Artagnan mit dem Kopf, wie ein Mensch, der zu verstehen geben will, daß es ihm nicht unangenehm wäre, mit seinen Gedanken allein bleiben zu können.

Als d’Artagnan nach seiner Wohnung zurückkehrte, fand er Ketty, die auf ihn wartete. Ein Monat Fieber hätte das arme Kind nicht mehr verändert, als dies durch eine Stunde der Eifersucht und des Schmerzes geschehen war.

Sie wurde von ihrer Gebieterin zum Grafen von Wardes geschickt. Ihre Gebieterin war toll vor Liebe, trunken vor Freude. Sie wollte wissen, wann der Graf ihr eine zweite Zusammenkunft geben würde.

Bleich und zitternd sah die arme Ketty der Antwort d’Artagnan entgegen.

Athos übte einen großen Einfluß über diesen jungen Mann aus. Der Rath seines Freundes hatte ihn in Verbindung mit den Gefühlen seines eigenen Herzens und der Erinnerung an Madame Bonacieux, welche ihn nur selten verließ, in dem Entschlüsse befestigt, jetzt, da sein Stolz gerettet war, Mylady nicht wieder zu sehen. Statt jeder Antwort nahm er eine Feder und schrieb folgenden Brief, den er eben so wenig unterzeichnete, als den vorhergehenden:

»Rechnet nicht auf mich, Madame; seit meiner Wiederherstellung habe ich so viele Unterhaltungen dieser Art zu bewilligen, daß ich eine gewisse Ordnung in die Sache bringen mußte. Kommt die Reihe an Euch, so werde ich die Ehre haben, Euch davon in Kenntniß zu setzen.«

Von dem Saphir kein Wort; der Gascogner wollte ihn bis auf neuen Befehl als eine Waffe gegen Mylady behalten.

Man hätte übrigens Unrecht, die Handlungen einer Epoche aus dem Gesichtspunkte einer andern zu betrachten. Was man heute als eine Schmach für einen Mann von Welt halten würde, war in jener Zeit etwas ganz Einfaches und Natürliches.

D’Artagnan gab den Brief Ketty offen; diese las ihn anfangs, ohne ihn zu verstehen, und wäre beinahe wahnsinnig geworden, als sie ihn zum zweiten Male las.

Ketty konnte nicht an dieses Glück glauben. D’Artagnan war genöthigt, ihr mündlich die Versicherung zu wiederholen, die ihr der Brief schriftlich gab. Wie groß auch die Gefahr war, welche die Arme bei dem heftigen Charakter von Mylady lief, wenn sie dieses Billet ihrer Gebieterin einhändigte, so ging sie doch so geschwind, als sie konnte, nach der Place Royale zurück.

Das Herz der besten Frau ist gefühllos gegen die Schmerzen einer Nebenbuhlerin.

Mylady öffnete den Brief mit derselben Eile, mit der ihn Ketty gebracht hatte, aber bei den ersten Worten, die sie las, wurde sie leichenblaß, dann zerknitterte sie das Papier und wandte sich mit einem Blitze in den Augen gegen Ketty.

»Was soll dieser Brief?« sprach sie.

»Es ist die Antwort auf den der gnädigen Frau,« erwiderte Ketty zitternd.

»Unmöglich!« versetzte Mylady, »unmöglich kann ein Edelmann an eine Frau einen solchen Brief geschrieben haben.«

Dann rief sie plötzlich:

»Mein Gott! sollte er wissen …«

Und sie hielt bebend inne. Sie knirschte mit den Zähnen, ihr Gesicht war leichenfarbig. Sie wollte einen Schritt gegen das Fenster machen, um Luft zu schöpfen; aber sie konnte nur den Arm ausstrecken, die Kraft versagte ihr und sie sank auf einen Stuhl zurück.

Ketty glaubte, sie befinde sich unwohl, und eilte zu ihr, um den Schnürleib zu öffnen. Aber Mylady sprang auf und rief lebhaft:

»Was willst Du? Warum legst Du Hand an mich?« »Ich glaubte, Mylady befinde sich unwohl, und wollte ihr Hülfe leisten,« antwortete die Zofe, ganz erschrocken über den furchtbaren Ausdruck, den das Gesicht ihrer Gebieterin angenommen hatte.

»Ich mich unwohl befinden! hältst Du mich für ein erbärmliches Weib? Soll ich krank werden, wenn man mich beleidigt? Nein, ich räche mich, verstehst Du wohl?«

Und sie gab Ketty ein Zeichen, sich zu entfernen.

VIII.

Rachetraum.

Am Abend gab Mylady Befehl, Herrn d’Artagnan einzuführen, sobald er seiner Gewohnheit gemäß kommen würde. Aber er kam nicht.

Am andern Tag besuchte Ketty den jungen Mann abermals und erzählte ihm Alles, was am Abend vorgefallen war. D’Artagnan lächelte. Dieser eifersüchtige Zorn war seine Rache.

Am zweiten Abend war Mylady noch ungeduldiger, als Tags zuvor; sie erneuerte den Befehl in Beziehung auf den Gascogner; aber sie wartete vergeblich, wie am Tag vorher. Am nächsten Morgen erschien Ketty wiederum bei d’Artagnan, nicht heiterer, nicht aufgeräumter, als an den zwei vorhergehenden Tagen, sondern im Gegentheil zum Sterben traurig. D’Artagnan fragte das arme Mädchen, was sie habe; aber sie zog statt jeder Antwort einen Brief aus der Tasche und händigte ihm denselben ein.

Dieser Brief war von der Hand Myladys, nur mit dem Unterschied, daß er diesmal wirklich für d’Artagnan und nicht für Herrn von Wardes bestimmt war.

Er öffnete und las Folgendes:

»Lieber Herr d’Artagnan, es ist nicht schön, seine Freunde zu vernachlässigen, besonders in dem Augenblick, wo man sie auf lange Zeit zu verlassen im Begriffe ist. Mein Schwager und ich haben Euch gestern und vorgestern vergebens erwartet. Wird dies heute Abend ebenso sein? Eure dankbare

Lady Winter

»Das ist ganz einfach,« sprach d’Artagnan. »Ich erwartete diesen Brief. Mein Kredit steigt durch das Sinken des Grafen von Wardes.«

»Werdet Ihr gehen?« fragte Ketty.

»Höre, mein liebes Kind,« sagte der Gascogner, der sich in seinen eigenen Augen darüber zu entschuldigen suchte, daß er von dem Versprechen, welches er Athos geleistet hatte, abgehen wollte; »Du begreifst, daß es unpolitisch wäre, einer so bestimmten Einladung nicht Folge zu leisten. Würde Mylady mich nicht zurückkommen sehen, so dürfte sie das Abbrechen meiner Besuche nicht begreifen; sie könnte dann irgend etwas vermuthen, und wer weiß, wie weit die Rache einer Frau von diesem Schlage gehen könnte?«

»O mein Gott!« sprach Ketty, »Ihr wißt die Dinge so darzustellen, daß Ihr immer Recht habt. Aber Ihr werdet ihr den Hof machen, und wenn Ihr Mylady diesmal unter Eurem wahren Namen und mit Eurem wahren Gesicht gefallen würdet, so wäre es noch viel schlimmer, als das erste Mal.«

Der Instinkt ließ das arme Mädchen einen Theil von dem, was da kommen sollte, ahnen.

D’Artagnan suchte sie so gut als möglich zu beruhigen und versprach ihr, unempfindlich gegen Myladys Verführungen zu bleiben.

Er ließ dieser antworten, er sei äußerst dankbar für ihre Güte und werde ihrem Befehl gehorchen; aber er wagte es nicht, ihr zu schreiben, weil er für so geübte Augen, wie Mylady’s, seine Handschrift nicht gehörig verstellen zu können fürchtete.

Mit dem Schlag neun Uhr war d’Artagnan auf der Place Royale. Die Bedienten, welche im Vorzimmer warteten, waren offenbar von seiner Erscheinung in Kenntniß gesetzt, denn sobald er kam, sogar ehe er gefragt hatte, ob Mylady sichtbar sei, lief einer von ihnen hinweg, um ihn zu melden.

»Laßt ihn eintreten,« sprach Mylady mit raschem, aber so durchdringendem Tone, daß d’Artagnan es im Vorzimmer hörte.

Man führte ihn ein.

»Ich bin für Niemand zu Hause,« sprach Mylady, »verstehst Du, für Niemand.«

Der Lakai entfernte sich.

D’Artagnan warf einen neugierigen Blick auf Mylady. Sie war bleich und hatte matte Augen, mochte dies nun von Thränen oder von Schlaflosigkeit herrühren. Man hatte absichtlich die gewöhnliche Zahl der Lichter vermindert, und dennoch gelang es der jungen Frau nicht, die Spuren des Fiebers zu verbergen, von dem sie seit zwei Tagen verzehrt wurde.

D’Artagnan näherte sich ihr mit seiner gewöhnlichen Höflichkeit. Sie machte eine gewaltige Anstrengung, um ihn zu empfangen, aber nie hat ein verstörteres Gesicht ein liebenswürdigeres Lächeln Lügen gestraft.

Auf die Frage, welche d’Artagnan über ihre Gesundheit an sie richtete, antwortete Mylady:

»Schlecht, sehr schlecht.«

»Dann begehe ich eine Unbescheidenheit,« sagte d’Artagnan, »Ihr bedürft ohne Zweifel der Ruhe, und ich entferne mich.«

»Nein, im Gegentheil, bleibt, Herr d’Artagnan. Eure liebenswürdige Gesellschaft wird mich zerstreuen.«

»Sie ist nie so reizend gewesen,« dachte d’Artagnan. »Wir wollen ihr Trotz bieten.«

Mylady nahm die liebevollste Miene an, die sie anzunehmen vermochte und verlieh ihrer Unterhaltung allen möglichen Reiz. Zu gleicher Zeit gab das Fieber, das sie einen Augenblick verlassen hatte, ihren Augen den Glanz, ihren Wangen die Farbe ihren Lippen den Karmin wieder. D’Artagnan fand abermals die Circe, die ihn bereits in ihren Zauber verstrickt hatte. Mylady lächelte, und es war d’Artagnan zu Muthe, als könnte er für dieses Lächeln die Höllenqualen erleiden.

Es gab einen Augenblick, wo er etwas wie einen Gewissensbiß über das fühlte, was er gegen sie gethan hatte.

Nach und nach wurde Mylady mittheilsam. Sie fragte d’Artagnan, ob er eine Liebe im Herzen trage.

»Ach!« rief d’Artagnan mit seinem empfindsamsten Tone, »könnt Ihr so grausam sein, eine solche Frage an mich zu richten, an mich, der ich, nachdem ich Euch gesehen habe, nur für Euch, für Euch allein athme und seufze!«

Mylady lächelte seltsam.

»Also liebt Ihr mich?« sprach sie. – »Habe ich nöthig, Euch dies zu sagen? Habt Ihr es nicht selbst wahrgenommen?« – »Allerdings, aber Ihr wißt, je stolzer die Herzen sind, desto schwieriger sind sie zu erobern.« – »Oh! die Schwierigkeiten erschrecken mich nicht,« sprach d’Artagnan; »nur die Unmöglichkeiten können mich erschrecken.« – »Nichts ist einer wahren Liebe unmöglich,« sagte Mylady. – »Nichts, Madame?« – »Nichts!« wiederholte Mylady. – »Teufel,« dachte d’Artagnan, »die Note verändert sich. Sollte sie vielleicht verliebt in mich werden? Sollte sie geneigt sein, mir einen zweiten Saphir zu geben, dem ähnlich, welchen sie mir für Herrn von Wardes gegeben hat?« – »Laßt hören,« sagte Mylady, »was würdet Ihr thun, um mir die Liebe zu beweisen, von der Ihr sprecht?« – »Alles, was man von mir verlangte. Man befehle, ich bin bereit.« – »Zu Allem?« – »Zu Allem!« rief d’Artagnan, welcher zum Voraus wußte, daß er nicht viel wagte, wenn er eine solche Verpflichtung einging. – »Schön! plaudern wir ein wenig,« sprach Mylady und rückte ihren Stuhl d’Artagnan näher. – »Ich höre, gnädige Frau,« sprach dieser.

Mylady blieb einen Augenblick nachdenkend und unentschieden, dann schien sie einen Entschluß zu fassen und sagte:

»Ich habe einen Feind.« – »Ihr Madame?« rief d’Artagnan, den Erstaunten spielend. »Mein Gott, ist es möglich … bei Eurer Schönheit und Güte!« – »Einen Todfeind.« – »In der That?« – »Einen Feind, der mich grausam beleidigt hat, daß zwischen ihm und mir ein Krieg auf Leben und Tod stattfindet. Könnte ich auf Euch als auf einen Bundesgenossen rechnen?«

D’Artagnan begriff sogleich, was das rachsüchtige Geschöpf beabsichtigte.

»Ihr könnt es,« sprach er mit Emphase. »Mein Arm und mein Leben gehören Euch, wie meine Liebe.« – »Dann,« sprach Mylady: »da Ihr in demselben Grade edelmüthig seid, in dem Ihr liebt…« – »Nun?« fragte d’Artagnan. – »Nun!« versetzte Mylady nach kurzem Stillschweigen, »sprecht fortan nicht mehr von Unmöglichkeiten.« – »Tödtet mich nicht durch so viel Glück!« rief d’Artagnan, stürzte auf die Kniee und bedeckte die Hände, die man ihm überließ, mit Küssen. – »Räche mich an diesem heillosen Wardes,« dachte Mylady, »und ich werde mich Deiner alsbald zu entledigen wissen, doppelter Dummkopf, lebendige Degenklinge!« – »Ja, sage mir. Du liebest mich, nachdem Du mich so schändlich betrogen hast, heuchlerisches, gefährliches Weib,« dachte d’Artagnan, »und ich verlache Dich dann mit demjenigen, welchen Du durch meine Hand bestrafen willst.«

D’Artagnan schaute empor und sagte:

»Ich bin bereit.« – »Ihr habt mich also begriffen, lieber Herr d’Artagnan,« sprach Mylady. – »Ich würde Eure Blicke errathen.« – »Ihr werdet also für mich Euren Arm gebrauchen, der sich bereits einen so hohen Ruf erworben hat?« – »Sogleich.« – »Und wie werde ich Euch je für einen solchen Dienst danken können?« sprach Mylady. – »Eure Liebe ist die einzige Belohnung, welche ich verlange,« erwiderte d’Artagnan, »die einzige, die Euer und meiner würdig ist.« – »Eigennütziger!« sagte sie lächelnd. – »Ah!« rief d’Artagnan, einen Augenblick durch die Leidenschaft fortgerissen, welche diese Frau in seinem Herzen zu entzünden gewußt hatte; »ah! weil mir Eure Liebe unwahrscheinlich vorkommt, und weil ich sie wie meine Träume verschwinden zu sehen fürchte, drängt es mich die bestimmte Versicherung aus Eurem Munde zu empfangen.« – »Verdient Ihr denn bereits ein solches Geständniß?« – »Ich bin zu Euren Befehlen,« sagte d’Artagnan. – »Gewiß?« rief Mylady mit einem leichten Zweifel. – »Nennt mir den Elenden, der diese schönen Augen weinen gemacht bat.« – »Wer sagt Euch, daß ich geweint habe?« fragte Mylady lebhaft. – »Es schien mir so …« – »Frauen, wie ich, weinen nicht,« versetzte Mylady. »Desto besser! O sagt mir dann, wie er heißt.« – »Bedenkt, daß sein Name ganz mein Geheimniß ist.« – »Ich muß ihn jedoch wissen.« – »Ja, Ihr sollt ihn erfahren. Seht, welches Vertrauen ich in Euch setze!« – »Ihr erfüllt mich mit Freude! Wie heißt er?« – »Ihr kennt ihn.« – »Wirklich?« – »Ja!« – »Es ist keiner von meinen Freunden?« sprach d’Artagnan zögernd, um an seine Unwissenheit glauben machen.

»Wenn es einer von Euren Freunden wäre, würdet Ihr also zögern?« rief Mylady, und ein drohender Blitz zuckte aus ihren Äugen. – »Nein, und wäre es mein Bruder,« sprach d’Artagnan, als würde er von der Begeisterung fortgerissen.

Unser Gascogner betheuerte, ohne zu wagen, denn er wußte, wohin dies alles führen sollte.

»Ich liebe Eure Ergebenheit,« sagte Mylady. – »Ach! liebt Ihr nur das an mir?« fragte d’Artagnan. – »Ich werde Euch das ein andermal sagen,« antwortete sie und nahm ihn bei der Hand.

Und dieser Druck machte d’Artagnan schaudern, als ob ihn das Fieber, welches Mylady verzehrte, durch die Berührung ebenfalls ergriffen hätte.

»Werdet Ihr mich eines Tages lieben?« rief er. »O, wenn dies der Fall wäre, ich könnte den Verstand darüber verlieren!«

D’Artagnan war in der That trunken vor Freude, und in seinem Wahnsinn glaubte er beinahe an die Zärtlichkeit Myladys, er glaubte beinahe an das Verbrechen von Wardes. Wenn Wardes in diesem Augenblicke unter seiner Hand gewesen wäre, er hätte ihn getödtet.

Mylady ergriff die Gelegenheit.

»Er heißt…« sprach sie. – »Von Wardes, ich weiß es,« unterbrach d’Artagnan. – »Und woher wißt Ihr dies?« fragte Mylady, indem sie seine beiden Hände nahm und in seinen Augen bis auf den Grund seiner Seele zu lesen suchte.

D’Artagnan fühlte, daß er sich hatte hinreißen lassen und daß er einen Fehler gemacht hatte.

»Sprecht, sprecht, sprecht doch!« wiederholte Mylady. »Woher wißt Ihr es?« – »Woher ich es weiß?« sprach d’Artagnan, – »Ja.« – »Ich weiß es, weil gestern von Wardes in einem Salon, wo ich mich befand, einen Ring zeigte, von dem er behauptete, er habe ihn von Euch bekommen.« – »Der Elende!« rief Mylady.

Dieser Beiname trug seinen Klang, wie man leicht begreift, bis tief in d’Artagnans Herz.

»Nun wohl…« fuhr sie fort. – »Wohl! ich werde Euch rächen an diesem Elenden!« versetzte d’Artagnan, und gab sich dabei das Ansehen des Don Japhet von Armenien.

»Ich danke Euch, mein muthiger Freund!« rief Mylady »und wann werde ich gerächt sein?«

»Morgen, sogleich, wenn Ihr wollt.«

Mylady wollte ausrufen: Sogleich! Aber sie bedachte, daß eine solche Eile nicht sehr erfreulich für d’Artagnan wäre.

Ueberdies hatte sie tausenderlei Vorsichtsmaßregeln zu nehmen, ihrem Vertheidiger tausenderlei Rathschläge zu geben, damit er Erklärungen vor Zeugen mit dem Marquis vermeiden möchte.

»Morgen,« sprach d’Artagnan, »seid Ihr gerächt, oder ich bin todt.« – »Nein,« sagte sie, »Ihr werdet mich rächen, aber Ihr werdet nicht sterben. Ich weiß etwas.« – »Was wißt Ihr?« – »Es scheint mir, Ihr hattet Euch bei Eurem Streit mit ihm nicht über das Glück zu beklagen.« – »Das Glück ist eine Buhlerin; heute günstig, kann es mich morgen verrathen.« – »Das heißt: Ihr zögert jetzt.« – »Nein, ich zögere nicht, Gott soll mich bewahren, aber …« – »Stille!« unterbrach sie ihn, »ich höre meinen Schwager. Er braucht Euch nicht hier zu finden.«

Sie schellte. Ketty erschien.

»Geht durch diese Thüre,« sagte sie zu d’Artagnan, und stieß dabei eine kleine verborgene Thüre auf. »Kommt um elf Uhr wieder, und wir werden unsere Unterredung zu Ende bringen. Ketty führt Euch bei mir ein.«

Das arme Kind glaubte umzusinken, als sie diese Worte hörte.

»Nun, was macht Ihr denn, Mademoiselle, Ihr bleibt hier unbeweglich, wie eine Statue? Hört Ihr, führt diesen Herrn zurück, und um elf Uhr, vergeßt es nicht.«

»Es scheint, alle ihre Rendezvous finden um elf Uhr statt,« dachte d’Artagnan. »Das ist eine feste Gewohnheit.«

Mylady reichte ihm die Hand, die er zärtlich küßte.

»Sachte,« dachte er sich entfernend und kaum auf die Vorwürfe Kettys antwortend; »sachte, wir wollen kein Thor sein. Offenbar ist diese Frau eine große Missethäterin. Sei auf Deiner Hut, d’Artagnan!«

VI.

Ein Procuratorsmahl.

Das Duell, bei welchem Porthos eine so glänzende Rolle gespielt hatte, ließ ihn indessen das Mittagsmahl nicht vergessen, wozu er von der Frau Procuratorin eingeladen worden war. Am andern Tag gegen ein Uhr ließ er sich von Mousqueton den letzten Bürstenstrich geben, und wanderte der Rue aux Ours zu. Sein Herz klopfte, aber nicht wie das von d’Artagnan, von einer jungen und ungeduldigen Liebe. Nein, ein materielles Interesse leitete seine Schritte. Er sollte endlich die geheimnißvolle Schwelle überschreiten, die unbekannte Treppe ersteigen, welche die alten Thaler des Meisters Coquenard einer um den andern erstiegen hatten. Er sollte wirklich eine gewisse Kiste sehen, deren Bild ihm zwanzigmal in seinen Träumen erschienen war; eine Kiste von langer und tiefer Form, mit Schlössern und Riegeln versehen, und mit eisernen Bändern an den Boden befestigt; eine Kiste, von der er so oft sprechen gehört, und welche die Hände des Procurators nun vor seinen bewundernden Blicken öffnen sollten.

Und er, der in der Welt umherirrende Mensch, der Mann ohne Vermögen, ohne Familie, der an Herbergen, Gasthöfen, Schenken und Wirtschaften aller Art gewöhnte Soldat, der Gourmand, der meistens nur auf zufällige Schmausereien angewiesen war, sollte sich an den Tisch einer bürgerlichen Haushaltung setzen, die Annehmlichkeiten eines so wohlhäbigen Heimwesens kennen lernen.

Täglich in der Eigenschaft eines Vetters bei einer guten Tafel erscheinen, die gelbe gefaltete Stirne des alten Procurators entrunzeln, die jungen Schreiber durch den Unterricht im Bassettspiele, im Lanzknecht und im Würfeln mit den feinsten Kunstgriffen rupfen und ihnen in Form eines Honorars für die Lection, die er ihnen in einer Stunde geben würde, die Ersparnisse eines Monats abnehmen. Alles dies lag in den seltsamen Sitten jener Zeit und war in der Voraussicht ungemein ergötzlich für Porthos.

Der Musketier erinnerte sich wohl der schlimmen Gerüchte, welche über die Procuratoren, ihre Knickerei, ihre Fasttage im Umlaufe waren. Da er aber im Ganzen die Procuratorin, abgesehen von einigen ökonomischen Anfällen, welche er stets sehr unzeitig fand, ziemlich freigebig gesehen hatte, wohl verstanden für eine Procuratorsfrau, so hoffte er ein angenehm eingerichtetes Haus zu finden.

An der Thüre regten sich jedoch einige Zweifel in dem Musketier. Der Zutritt hatte durchaus nichts Einladendes. Er fand einen übelriechenden schwarzen Gang, eine nur schlecht beleuchtete Treppe mit einem Fenster, durch dessen eiserne Stangen das graue Licht eines benachbarten Hofes mühsam eindrang. Im ersten Stock kam er vor eine niedere und, wie die Hauptthüre des großen Chatelet, mit ungeheuren eisernen Nägeln beschlagene Thüre. Porthos klopfte mit dem Finger an. Ein großer, bleicher und unter einem Wald von struppigen Haaren verborgener Schreiber öffnete und grüßte mit der Miene eines Mannes, der sich genöthigt sieht, an einem Andern den kräftigen hohen Wuchs, eine militärische Uniform und das frische rothe Gesicht zu achten, das die Gewohnheit gut zu leben andeutet.

Ein zweiter, kleinerer Schreiber hinter dem ersten, ein anderer größerer Schreiber hinter dem zweiten, ein Gassenjunge von zwölf Jahren hinter dem dritten.

Im Ganzen drei und ein halber Schreiber, was für jene Zeit eine Schreibstube von sehr bedeutender Kundschaft ankündigte.

Obgleich der Musketier erst um ein Uhr erscheinen sollte, war doch die Procuratorin seit der Mittagstunde mit ihrem Auge auf der Lauer, und versah sich zu dem Herzen und vielleicht auch zu dem Magen ihres Anbeters, daß er vor der bestimmten Zeit erscheinen werde.

Madame Coquenard kam also beinahe in demselben Augenblick aus der Zimmerthüre, wo ihr Gast durch die Treppenthüre eintrat, und die Erscheinung der würdigen Dame entzog Porthos einer großen Verlegenheit. Die Schreiber sahen äußerst neugierig aus, und er blieb völlig stumm, da er nicht wußte, was er zu dieser aufsteigenden Tonleiter sagen sollte.

»Das ist mein Vetter!« rief die Procuratorin. »Tretet doch ein, Herr Porthos!«

Der Name Porthos brachte die gehörige Wirkung auf die Schreiber hervor, welche zu lachen anfingen; aber Porthos wandte sich um und auf alle Gesichter kehrte der Ernst zurück.

Man gelangte in das Kabinet des Procurators, nachdem man ein Vorzimmer, wo die Schreiber waren, und die Schreibstube, in der sie hätten sein sollen, durchschritten hatte. Die letztere war eine Art von schwarzem Saale, mit beschriebenem Papier tapezirt. Aus der Schreibstube heraustretend, ließ man die Küche zur Rechten und gelangte in das Empfangszimmer.

Alle diese Zimmer, welche mit einander in Verbindung standen, brachten Porthos durchaus keine guten Begriffe bei. Man mußte die Worte von ferne durch alle diese offenen Thüren hören; dann hatte er im Vorübergehen einen raschen, forschenden Blick in die Küche geworfen und sich zur Schande der Procuratorsfrau und zu seinem eigenen Bedauern gestanden, daß er nichts von dem Feuer, von der Belebtheit von der Bewegung wahrzunehmen vermochte, wie dergleichen gewöhnlich im Augenblicke eines guten Mahles im Heiligthum der Gern- und Gutesserei zu herrschen pflegt.

Der Procurator war ohne Zweifel zum Voraus von seinem Besuche in Kenntniß gesetzt worden, denn er gab nicht das geringste Erstaunen bei dem Anblick von Porthos kund, der sich ihm mit vollkommen ungezwungener Miene näherte und ihn höflich begrüßte.

»Wir sind Vettern, wie es scheint, mein Herr Porthos?« sagte der Procurator und stand, sich mit den Armen stützend, von seinem Rohrstuhle auf.

Der Greis war in ein großes schwarzes Wamms gehüllt, in welchem sich sein schmächtiger Körper verlor, und sah gelb und vertrocknet aus. Seine kleinen grauen Augen glänzten wie Karfunkel und schienen nebst seinem Munde, der in beständigen Grimassen begriffen war, der einzige Theil seines Gesichtes zu sein, wo noch Leben wohnte. Leider fingen die Beine an, dieser ganzen Knochenmaschine den Dienst zu verweigern. Seit den fünf oder sechs Monaten, wo sich diese Schwäche fühlbar gemacht hatte, war der würdige Procurator beinahe der Sklave seiner Gattin geworden.

Der Vetter wurde mit Resignation aufgenommen und nicht weiter. Wäre Meister Coquenard noch flink auf den Beinen gewesen, so würde er alle Verwandtschaft mit Porthos abgelehnt haben.

»Ja, wir sind Vettern,« sprach Porthos, der nie auf eine begeisterte Aufnahme von Seiten des Gatten gerechnet hatte, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen.

»Durch die Frauen, glaube ich,« sagte der Procurator boshaft.

Porthos fühlte diesen Spott nicht und hielt ihn für eine Naivetät, worüber er in seinen dicken Schnurrbart lachte; Madame Coquenard, welche wußte, daß der naive Prokurator eine äußerst seltene Varietät in der Gattung ist, lächelte ein wenig und erröthete stark.

Herr Coquenard hatte seit der Ankunft von Porthos seine Augen unruhig auf einen großen, seinem eigenen Schreibtisch gegenüber stehenden Schrank geworfen. Porthos begriff, daß dieser Schrank, obgleich er seiner Form nach durchaus nicht demjenigen entsprach, welchen er in seinen Träumen gesehen hatte, das glückselige Geräthe sein mußte, und er beglückwünschte sich darüber, daß sie Wirklichkeit sechs Fuß mehr Höhe hatte, als der Traum.

Meister Coquenard trieb seine genealogischen Forschungen nicht weiter; aber seinen unruhigen Blick vom Schranke wieder Porthos zuwendend, begnügte er sich, zu sagen:

»Euer Herr Vetter wird wohl, ehe er in das Feld zieht, uns die Ehre erweisen, mit uns zu Mittag zu essen, nicht wahr, Madame Coquenard?«

Diesmal empfing Porthos den Stich in den vollen Leib und fühlte ihn; Madame Coquenard schien ihrerseits nicht unempfindlicher zu sein, denn sie fügte bei:

»Mein Vetter wird nicht wieder kommen, wenn er findet, daß wir ihn schlecht behandeln; aber im entgegengesetzten Fall hat er zu wenig Zeit noch in Paris zuzubringen und folglich uns zu sehen, als daß wir ihn nicht um jeden Augenblick bitten sollten, über den er noch zu verfügen vermag.«

»Oh! meine Beine, meine armen Beine!« murmelte Herr Coquenard und suchte zu lächeln.

Diese Hülfe, welche Porthos in dem Augenblicke zugekommen war, wo man ihn in seinen gastronomischen Hoffnungen angegriffen hatte, flößte dem Musketier große Dankbarkeit gegen seine Procuratorin ein.

Bald schlug die Mittagsstunde; man ging in das Speisezimmer, eine große dunkle Stube der Küche gegenüber.

Die Schreiber, denen, wie es scheint, die ungewöhnlichen Gerüche im Hause nicht entgangen waren, beobachteten eine militärische Pünktlichkeit und hielten, bereits sich niedersetzend, ihre Bestecke in der Hand. Man sah sie zum Voraus mit furchtbarem Tätigkeitsdrang ihre Kinnbacken bewegen. »Bei Gott!« dachte Porthos, indem er einen Blick auf die drei Ausgehungerten warf, denn der Gassenjunge wurde, wie man sich denken kann, nicht zu der Ehre eines Herrentisches zugelassen. »Bei Gott! an der Stelle meines Vetters würde ich solche Fresser nicht behalten. Sie sehen aus wie Schiffbrüchige, die seit sechs Wochen nicht gegessen.«

Herr Coquenard wurde auf seinem Rollstuhl von Madame Coquenard hereingeschoben, welche Porthos, bis er den Tisch erreichte, zuvorkommend im Rollen unterstützte. Kaum war er im Zimmer, als er Nase und Kinnbacken nach dem Beispiel seiner Schreiber in Bewegung setzte.

»Oh! oh!« sagte er, »das ist eine einladende Suppe.«

»Was Teufel riechen sie denn Außerordentliches in dieser Suppe?« sagte Porthos zu sich selbst beim Anblick einer blassen, weißlichen, aber ganz blinden Fleischbrühe, auf der einige seltene Krusten, wie die Inseln eines Archipels, schwammen.

Madame Coquenard lächelte und auf ein Zeichen von ihr beeilte sich Jedermann niederzusitzen.

Herr Coquenard wurde zuerst bedient, dann Porthos, hierauf füllte Madame Coquenard ihren Teller und theilte die Krusten ohne Fleischbrühe unter die Ungeduldigen aus.

In diesem Augenblick öffnete sich die Thüre des Speisezimmers knarrend von selbst, und Porthos erblickte durch die halbgeöffneten Flügel den kleinen Schreiber, der, da er nicht an dem Mahl Theil nehmen durfte, sein Brod bei dem doppelten Geruch von der Küche und dem Speisezimmer verzehrte.

Nach der Suppe brachte die Magd eine gesottene Henne, ein Prachtstück, bei dessen Anblick sich die Augenlider der Gäste so sehr erweiterten, daß man glaubte, sie müßten zerreißen.

»Man sieht, Ihr liebt Eure Familie, Madame Coquenard,« sprach der Procurator mit einem beinahe tragischen Lächeln, »das ist offenbar eine Galanterie, die Ihr Eurem Vetter erweist.«

Die arme Henne war alt und mit einer von den dicken, rauhen Häuten bekleidet, welche die Knochen mit aller Anstrengung nicht zu durchdringen vermögen. Man mußte sie lange gesucht haben, um ihre Aufsitzstange zu finden, auf die sie sich zurückgezogen hatte, um an Altersschwäche zu sterben.

»Teufel!« dachte Porthos, »das ist doch sehr traurig. Ich ehre das Alter, aber ich mache mir wenig daraus, wenn es gesotten oder gebraten ist.«

Und er schaute in der Runde umher, um zu beobachten, ob seine Meinung getheilt würde; aber er sah im Gegenteil nur flammende Augen, welche zum Voraus diese erhabene Henne, den Gegenstand seiner Verachtung, verschlangen.

Madame Coquenard zog die Platte zu sich heran, löste geschickt die zwei großen schwarzen Pfoten, die sie ihrem Gatten auf den Teller legte, schnitt den Hals ab, den sie mit dem Kopfe für sich nahm, trennte einen Flügel für Porthos ab und gab der Magd, welche es gebracht hatte, das Thier zurück, so daß es beinahe unberührt zurückkehrte und verschwunden war, ehe der Musketier Zeit hatte, die Veränderungen zu beobachten, welche diese Enttäuschung je nach den Charakteren und Temperamenten der Umsitzenden auf den Gesichtern hervorbrachte.

Nach der Henne machte eine Platte mit Bohnen ihre Aufwartung, in der sich einige Schöpsenknochen zu zeigen schienen, von denen man Anfangs glauben konnte, sie seien mit Fleisch bekleidet. Aber die Schreiber ließen sich durch diesen Trug nicht bethören, und ihre düstern Mienen wurden ergebungsvolle Gesichter.

Madame Coquenard theilte dieses Gericht mit der Mäßigung einer guten Hauswirthin unter die jungen Leute aus.

Nun kam die Reihe an den Wein; Herr Coquenard schenkte aus einem sehr mageren Weinkruge jedem von den jungen Leuten das Drittheil eines Glases em, nahm für sich ungefähr in gleichem Verhältniß, und die Flasche ging sogleich zu Porthos und Madame Coquenard über.

Die jungen Leute füllten das Drittel Wein mit Wasser; wenn sie die Hälfte des Glases getrunken hatten, füllten sie es abermals, und so machten sie dies fortwährend, wodurch sie am Ende des Mahles ein Getränke verschluckten, das von der Farbe des Rubins zu der des Rauchtopases übergegangen war.

Porthos verspeiste schüchtern seinen Flügel. Er trank auch ein halbes Glas von diesem so spärlich zugemessenen Weine und erkannte ihn als einen Montreuil. Meister Coquenard sah ihn den Wein ungemischt trinken und stieß einen Seufzer aus.

»Eßt Ihr vielleicht von diesen Bohnen, mein Vetter Porthos?« sprach Madame Coquenard mit jenem Tone, welcher sagen will: »Glaubt mir, eßt nichts davon.«

»Ich danke meiner Base,« erwiderte er, »ich habe keinen Hunger mehr.«

Es trat ein Stillschweigen ein. Porthos wußte nicht, wie er sich benehmen sollte. Der Procurator wiederholte mehrmals:

»Ah, Madame Coquenard, ich mache Euch mein Compliment. Euer Mittagsbrod ist ein wahres Festmahl!«

Porthos glaubte, man wolle ihn zum Besten halten, und fing an, seinen Schnurrbart in die Höhe zu streichen und die Stirne zu falten. Aber der Blick von Madame Coquenard ermahnte ihn zur Geduld.

In diesem Augenblick standen die Schreiber auf einen Wink des Procurators langsam vom Tische auf, legten ihre Servietten noch langsamer zusammen, verbeugten sich und traten ab.

»Geht, Ihr jungen Leute, geht und verdauet durch Arbeiten,« sagte der Procurator ernsthaft.

Als die Schreiber sich entfernt hatten, erhob sich Madame Coquenard und holte aus einem Speiseschrank ein Stück Käse, eingemachte Quitten und einen Kuchen, den sie aus Mandeln und Honig selbst verfertigt hatte.

Herr Coquenard runzelte die Stirne, weil er zu viel Gerichte erblickte.

»Ein Festmahl, ganz entschieden!« rief er, ungeduldig sich auf seinem Stuhl hin und her bewegend. »Ein wahres Festmahl! Epulae epularum: Lucullus speist bei Lucullus zu Mittag!«

Porthos schaute die Flasche an, die in seiner Nähe stand, und hoffte sich im Wein, Brod und Käse gütlich zu thun. Aber der Wein ging bald aus, die Flasche war leer. Herr und Madame Coquenard thaten, als ob sie es nicht bemerkten.

»Das ist gut,« sprach Porthos zu sich selbst, »ich weiß nun, woran ich bin.«

Er leckte ein wenig an einem Löffel voll eingemachter Quitten und verbiß sich die Zähne in dem zähen Teige von Madame Coquenard.

»Nun ist das Opfer gebracht,« sprach er.

Herr Coquenard fühlte nach den Leckereien eines solchen Mahles, das er einen Exceß nannte, das Bedürfniß, Siesta zu halten.

Porthos hoffte, dies würde an Ort und Stelle und in demselben Räume vorgehen, aber der Procurator wollte nichts davon hören. Man mußte ihn in sein Zimmer zurückbringen, und er schrie, so lange er nicht vor seinem Schranke war, auf dessen Rand er sodann aus Vorsicht seine Füße stellte.

Die Procuratorin führte Porthos in ein anstoßendes Zimmer. »Ihr könnt dreimal in der Woche zu Tisch kommen,« sagte Madame Coquenard. – »Ich danke,« erwiderte Porthos, »ich mache nicht gerne Mißbrauch von solchen Einladungen. Ueberdies muß ich an meine Equipirung denken.« – »Das ist wahr,« sprach die Prokuratorin seufzend, »diese unglückliche Equipirung nimmt Euch in Anspruch, nicht wahr?« – »Ach ja,« sagte Porthos. – »Aber worin besteht denn die Equipirung Eueres Corps, Herr Porthos?« – »Oh! in Mancherlei,« sprach Porthos, »die Musketiere sind, wie Ihr wißt, Elitesoldaten, und sie brauchen viele Dinge, welche die Garden und die Schweizer entbehren können.« – »Nennt sie mir einzeln.« – »Das belauft sich etwa auf … erwiderte Porthos, der sich lieber über den Gesammtbetrag, als über die einzelnen Punkte aussprechen wollte.

Die Procuratorin wartete zitternd.

»Auf wie viel?« fragte sie; »ich hoffe, es wird nicht mehr als …« hier blieb sie stecken, es fehlte ihr das Wort.

»Oh! nein, es beträgt nicht über zwei tausend fünf hundert Livres. Ich glaube sogar, daß ich bei einiger Sparsamkeit mit zwei tausend ausreichen könnte.«

»Guter Gott! zwei tausend Livres!« rief sie, »das ist ja ein ganzes Vermögen, und mein Mann wird sich nie herbeilassen, eine solche Summe zu borgen!«

Porthos machte eine sehr bezeichnende Grimasse; Madame Coquenard verstand ihren Sinn.

»Ich fragte nach den einzelnen Punkten,« sprach sie, »weil ich viele Verwandte und Kunden bei dem Handelsstand habe, und folglich überzeugt sein kann, daß ich die Sache um hundert Procent unter dem Preise bekomme, den Ihr dafür bezahlen müßt.« – »Ah! ah!« rief Porthos, »wenn Ihr damit andeuten wolltet …« – »Ja, mein lieber Herr Porthos. Ihr braucht also vor Allem …« – »Ein Pferd.« – »Ja, ein Pferd. Gut! das ist es gerade, was ich für Euch abmachen kann.« – »Ah!« sprach Porthos strahlend, »in Beziehung auf mein Pferd stehen also die Angelegenheiten ganz gut; dann brauche ich noch ein Pferd für meinen Bedienten und ein Felleisen. Was die Waffen betrifft, so dürft Ihr Euch nicht darum bekümmern, diese habe ich bereits.« – »Ein Pferd für Euern Bedienten?« versetzte die Procuratorin zögernd. »Aber das klingt sehr vornehm.« – »Ei! Madame!« sprach Porthos stolz, »bin ich etwa ein armer Schlucker?« – »Nein. Ich wollte Euch nur sagen, ein hübsches Maulthier sehe gleichsam eben so gut aus, wie ein Pferd, und es scheine mir, wenn ich Euch ein gutes Maulthier für Euren Mousqueton verschaffen würde …« – »Es mag sein, ein hübsches Maulthier; Ihr habt Recht, ich habe sehr vornehme spanische Herren gesehen, deren ganzes Gefolge auf Maulthieren ritt. Aber Ihr werdet dann begreifen, Madame Coquenard, daß ich ein Maulthier mit Federbusch und Schelle haben muß.« – »Seid unbesorgt,« erwiderte die Procuratorin. – »Nun ist noch das Felleisen übrig,« sagte Porthos. – »Oh! das darf Euch nicht beunruhigen,« rief Madame Coquenard, »mein Mann besitzt fünf oder sechs Felleisen, und Ihr sucht Euch das beste aus; es ist besonders eines darunter, das er sehr gerne mit auf Reisen nahm, man könnte eine ganze Welt hineinpacken.« – »Euer Felleisen ist also leer?« fragte Porthos. – »Gewiß, es ist leer,« antwortete die Procuratorin. – »Ah! dasjenige, welches ich brauche,« rief Porthos, »ist ein wohl ausgerüstetes, meine Theure.«

Madame Coquenard stieß neue Seufzer aus. Molière hatte damals seinen Geizhals noch nicht geschrieben. Madame Coquenard gebührt also der Vorrang vor Harpagon.

Der Rest der Equipirung wurde nach und nach auf dieselbe Weise debattirt, und das Resultat der Sitzung war, daß die Procuratorin von ihrem Gatten acht hundert Livres in baarem Gelde verlangen und das Pferd und das Maulthier liefern sollte, welchen beiden Geschöpfen die Ehre zugedacht war, Porthos und Mousqueton zum Ruhme zu tragen.

Als diese Bedingungen festgestellt und die Interessen vertragsmäßig bestimmt waren, nahm Porthos von Madame Coquenard Abschied und kehrte mit abscheulichem Hunger nach seiner Wohnung zurück.