5. Fortsetzung des Kapitels, welches von Claude Frollo handelte.

Im Jahre 1482 war Quasimodo ohngefähr zwanzig Jahre, Claude Frollo ohngefähr sechsunddreißig Jahre alt. Der eine war groß, der andere alt geworden.

Claude Frollo war nicht mehr der einfache Student des Collegiums Torchi, der zärtliche Beschützer eines kleinen Kindes, der junge und träumerische Philosoph, welcher vieles wußte und vieles wieder nicht wußte. Er war ein strenger, würdevoller und mürrischer Priester, ein Seelsorger, der Herr Archidiaconus von Josas, der zweite Meßgehilfe des Bischofs, und hatte die beiden Decanate Montchéry und Châteaufort und einhundertvierundsiebzig Landpfarrer auf dem Halse. Er war eine Ehrfurcht gebietende und düstere Persönlichkeit, vor welcher die Chorknaben im Chorhemde und im Jäckchen, sowie die Kirchensänger, die Brüder vom Orden des heiligen Augustinus, die Geistlichen der Frühmetten in Notre-Dame zitterten, wenn er langsam unter den hohen Bogen des Chores dahinschritt, majestätisch, in Nachdenken versunken, mit gekreuzten Armen und das Haupt so tief auf die Brust gesenkt, daß man von seinem Antlitze nur die hohe, kahle Stirn sah.

Uebrigens hatte Dom 83 Claude Frollo weder die Wissenschaft, noch die Erziehung seines jungen Bruders, diese zwei Beschäftigungen seines Lebens, vernachlässigt. Aber mit der Zeit hatte sich einige Bitternis in diese so angenehmen Angelegenheiten gemischt. Auf die Länge, sagt Paulus Diaconus, wird selbst der beste Speck ranzig. Der kleine Johann Frollo, mit dem Beinamen Du-Moulin, wegen des Ortes, wo er erzogen worden, war nicht in der Richtung herangewachsen, welche Claude ihm hatte geben wollen. Der große Bruder rechnete auf einen frommen, folgsamen, gelehrten und ehrenhaften Zögling. Nun aber wuchs der kleine Bruder, wie jene jungen Bäume, welche aller Anstrengung des Gärtners spotten und sich hartnäckig nach der Seite hin wenden, von wo ihnen Luft und Sonne kommt, – wuchs also, trieb und mehrte der kleine Bruder schöne, dichte und üppige Zweige nur nach der Seite der Faulheit, Unwissenheit und Ausschweifung hin. Er war ein wahrhaft ausgearteter Teufel, weshalb Dom Claude die Augenbrauen zusammenzog, aber ebenso drollig und ebenso gewandt, was dem ältern Bruder ein Lächeln abnöthigte. Claude hatte ihn demselben Collegium Torchi anvertraut, wo er seine ersten Jahre im Studium und in der Andacht verbracht hatte; und es verursachte ihm Schmerz, daß dieses Heiligthum, das von dem Namen Frollo einst so erbaut war, jetzt an ihm Aergernis nahm. Er hielt Johann deshalb manchmal sehr ernste und sehr lange Strafpredigten, welche dieser furchtlos aushielt. Bei alledem hatte der kleine Taugenichts ein gutes Herz, wie man das in allen Lustspielen sehen kann. Aber war die Strafpredigt vorbei, so betrat er ebenso ruhig wieder die Pfade seines empörenden Treibens und seiner Abscheulichkeiten. Bald war es ein »Gelbschnabel« (so nannte man die neuen Ankömmlinge im Universitätsviertel), welchen er zum Willkommen gezaust hatte – eine köstliche Ueberlieferung, die sich sorgfältig bis auf unsere Tage forterhalten hat. Bald hatte er einer Bande von Studenten den Anstoß gegeben, die sich in wahrhaft klassischer Weise, » quasi classico excitati«, auf eine Kneipe geworfen, später den Wirth »angriffsweise mit Stöcken« geprügelt und in aller Fröhlichkeit das Lokal dermaßen geplündert hatten, daß die Weinfässer im Keller in Stücke gingen. Und dann gab es einen schönen lateinischen Bericht, welchen der Sub-Monitor von Torchi mit kläglicher Geberde und der schmerzlichen Randbemerkung: » Rixa, prima causa, vinum optimum potatum« 84 an Dominus Claude einreichte. Endlich erzählte man – was bei einem Knaben von sechzehn Jahren erschrecklich –, daß seine Abwege ihn zu wiederholten Malen bis in die Rue-de-Glatigny 85 führten.

Claude hatte sich, über das alles betrübt und in seinem Wohlwollen für die Menschen getäuscht, mit desto mehr Eifer in die Arme der Wissenschaft geworfen, – dieser Muse, die einem wenigstens nicht ins Gesicht lacht und immer, wiewohl manchmal mit etwas hohler Münze, die Sorgfalt bezahlt, welche man ihr gewidmet hat. Er wurde daher immer gelehrter und zu gleicher Zeit, durch eine natürliche Folge, als Priester immer strenger, als Mensch immer finsterer. Es bestehen für jedermann in der Welt gewisse Parallelismen zwischen unserer Verstandesbildung, unsern Sitten und unsern Charaktereigenschaften, die sich ohne Unterbrechung entwickeln und nur in Folge großer Störungen im Leben unterbrochen werden.

Da Claude Frollo von seiner Jugend an fast den ganzen Kreis des menschlichen, positiven, äußern und erlaubten Wissens durchmessen hatte, so war er gezwungen, falls er nicht stehen bleiben wollte, ubi defuit orbis 86 – war also gezwungen, weiter zu gehen und für die unersättliche Thätigkeit seines Geistes andere Nahrung zu suchen. Das alte Sinnbild der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, paßt vornehmlich auf die Wissenschaft. Claude Frollo scheint das aus eigener Erfahrung kennen gelernt zu haben. Mehrere vertrauenswürdige Personen versicherten, daß, nachdem das » fas« 87 des menschlichen Wissens von ihm erschöpft worden war, er in das » nefas« 88 einzudringen sich erkühnt hätte. Man erzählte, er habe nach und nach alle Früchte vom Baume der Erkenntnis gekostet und, sei es aus Hunger oder aus Uebersättigung, schließlich in die verbotene Frucht gebissen. Er hatte, wie unsere Leser gesehen haben, nach und nach bei den Verhandlungen der Theologen in der Sorbonne, in den Versammlungen der Philosophiestudirenden an der Bildsäule des heiligen Hilarius, bei den Disputationen der Dekretisten an der Bildsäule des heiligen Martin, in den Zusammenkünften der Mediziner am Weihkessel in Notre-Dame ( ad cupam Nostrae-Dominae) seinen Platz eingenommen. Alle erlaubten und gutgeheißenen Gerichte, welche diese vier großen Küchen, genannt die vier Facultäten, einer Fassungskraft zubereiten und darbieten konnten, hatte er verschlungen, und er hatte Ueberdruß an ihnen bekommen, ehe sein Hunger gestillt worden war. Dann war er weiter und tiefer auf den Grund dieses ganzen beschränkten, materiellen und eingezwängten Wissens vorgedrungen; er hatte vielleicht seine Seele aufs Spiel gesetzt, sich im finstern Raume an jener geheimnisvollen Tafel der Alchymisten, der Astrologen und Hermesjünger 89 niedergelassen, an deren Ende Averroes, 90 Wilhelm von Paris und Nicolaus Flamel im Mittelalter sitzen, und welche bis in den Orient, bis zum Lichterglanze des siebenarmigen Leuchters, bis auf Salomo, Pythagoras und Zoroaster zurückreicht.

Wenigstens vermuthete man das, gleichviel ob mit Unrecht oder mit Recht. Gewiß ist, daß der Archidiaconus häufig den Kirchhof Saint-Innocents, wo sein Vater und seine Mutter bekanntlich mit den übrigen Opfern der Pest von 1466 begraben waren, besuchte; wahr ist aber auch, daß er mit weit geringerer Andacht am Kreuze ihres Grabes sich zeigte, als bei den seltsamen Figuren, mit denen die dicht daneben liegende Gruft Nicolaus Flamels und Claude Pernelles versehen war!

Es ist ausgemacht, daß man ihn öfter die Rue-des-Lombards entlang gehen und verstohlen in ein kleines Haus hatte eintreten sehen, welches die Ecke der Rue-des-Ecrivains und der Rue Marivaulx bildete. Das war das Haus, welches Nicolaus Flamel gebaut hatte, wo er um 1417 gestorben war, und welches seitdem, immer leer stehend, nachgerade zu verfallen anfing: so sehr hatten die Hermesjünger und Goldmacher aus aller Herren Länder die Mauern demolirt, auf die sie nur allein ihre Namen eingekratzt hatten. Ja, einige Nachbarn versicherten, durch ein Kellerloch einmal gesehen zu haben, wie der Archidiaconus Claude in den beiden Kellern, deren Stirnpfeiler von Nicolaus Flamel selbst mit zahllosen Versen und Hieroglyphen beschmiert worden waren, die Erde ausgehöhlt, auf- und umgewühlt habe. Man nahm an, daß Flamel den Stein der Weisen in diesen Kellern vergraben hätte; und die Alchymisten haben zwei Jahrhunderte lang, von Magistri bis zum Pater Pacifique, nicht abgelassen, den Boden desselben so lange zu durchsuchen, bis das schrecklich untergrabene und umgekehrte Haus schließlich unter ihren Füßen in Staub zusammengestürzt ist.

Auch das ist ausgemacht, daß der Archidiaconus eine merkwürdige Leidenschaft für das symbolische Portal von Notre-Dame hatte: diese Seite aus dem in Stein geschriebenen Zauberbuche des Bischofs Wilhelm von Paris, der ohne Zweifel dafür verdammt ist, weil er der heiligen Dichtung, welche das übrige Gebäude ewig singt, ein so höllisches Titelblatt gegeben hat. Auch nahm man an, daß der Archidiaconus Claude die Kolossalbildsäule des heiligen Christoph, jene hohe, räthselhafte Statue, untersucht habe, welche sich damals am Eingange zum Vorhofe erhob, und welche das Volk in seinen Spöttereien »den alten Sauertopf« nannte. Aber was jedermann hatte bemerken können, war, daß er ungezählte Stunden häufig damit hinbrachte, auf der Brustmauer des Vorhofes sitzend, die Bildhauerarbeiten des Portals zu betrachten, wobei er bald die törichten Jungfrauen mit ihren umgestoßenen Lampen, bald die klugen Jungfrauen mit ihren hochgehaltenen Lampen betrachtete; zu andern Malen wieder den Gesichtswinkel jenes Raben berechnete, welcher links am Portale sitzt und nach einem geheimnisvollen Punkte in der Kirche blickt, wo sicherlich der Stein der Weisen versteckt liegt, wenn anders er sich nicht im Keller Nicolaus Flamels befindet. Es war, im Vorbeigehen sei es gesagt, das sonderbare Geschick für die Kirche Notre-Dame, in dieser Epoche zweimal in so verschiedenen Graden, mit so viel Hingabe und von zwei so ungleichen Wesen geliebt zu werden, wie Claude und Quasimodo waren. Instinktmäßig geliebt von dem einen, der nur eine Art wilder Halbmensch war, wegen ihrer Schönheit, ihrer Gestalt, wegen der harmonischen Vollendung, die sich aus ihrem prächtigen Ganzen ergiebt; geliebt von dem andern, einem gelehrten und leidenschaftlichen Phantasten, wegen ihrer Bedeutung, ihrer Sage, wegen des Gedankens, den sie enthält, wegen des Symboles, das in den Skulpturen ihrer Façade versteckt liegt, wie der Urtext in einem Palimpseste 91 unter dem darübergeschriebenen Texte – mit einem Worte wegen des Räthsels, welches sie ewig dem menschlichen Verstande zu errathen giebt.

Außerdem war es bekannt, daß der Archidiaconus sich auf demjenigen der zwei Thürme, welcher nach dem Grèveplatz gelegen ist, dicht neben der Glockenstube eine kleine, ganz versteckte Zelle eingerichtet hatte, in welche niemand, nicht einmal der Bischof, wie man sich erzählte, ohne seine Erlaubnis eintreten durfte. Diese Zelle, die fast in der Spitze des Thurmes unter den Rabennestern lag, war einst vom Bischöfe Hugo von Besançon, 92 der hier zu seiner Zeit Zauberei getrieben, eingerichtet worden. Was diese Zelle enthielt, wußte niemand; aber man hatte oftmals vom Strande des Terrains aus, an einer kleinen Dachluke, die nach der Rückseite des Thurmes hinausging, des Nachts einen seltsamen rothen, manchmal nachlassenden Schein bemerkt, der in kurzen und gleichen Zwischenräumen sichtbar wurde, verschwand und sich wieder zeigte, und durch die Luftstöße eines Blasebalges zu entstehen, und eher von einer Flamme, als von einem Lichte herzurühren schien. In der Dunkelheit und in dieser Höhe machte das einen sonderbaren Eindruck, und die alten Weiber pflegten zu sagen: »Seht den Archidiaconus, wie er Feuer anfacht! Da oben prasselt die Hölle!«

In allem dem fanden sich freilich keine hinreichenden Beweise für Zauberei, aber der Rauch war doch immer groß genug, als daß man Feuer annehmen mußte; und der Archidiaconus hatte einen ziemlich schrecklichen Ruf. Wir müssen aber sagen, daß die ägyptischen Wissenschaften: die Geisterbeschwörung, die Magie, selbst die Weiße Magie 93 als die unschuldigste, keinen erbitterteren Feind, keinen unbarmherzigeren Angeber bei den Herren vor dem geistlichen Gerichtshofe von Notre-Dame hatten. Vielleicht war es aufrichtiger Abscheu, vielleicht auch der Kunstkniff eines verfolgten Diebes, der »ein Dieb, halt‘ auf!« ruft. Das alles verhinderte aber nicht, daß der Archidiaconus von den gelehrten Häuptern des Ordenskapitels für eine Seele gehalten wurde, die im Vorhofe der Hölle herumschweift, in den Höhlen der Kabala sich verloren hat und in der Finsternis geheimer Wissenschaften umhertappt. Das Volk ließ sich schon gar nicht mehr irre machen: bei jedermann, der nur ein wenig Scharfsinn besaß, galt Quasimodo für den Satan, Claude Frollo für den Hexenmeister. Es lag am Tage, daß der Glöckner dem Archidiaconus eine festgesetzte Zeit lang dienen mußte, nach deren Ablauf er seine Seele an Zahlungsstatt hinwegführen würde. Daher stand der Archidiaconus, trotz seines übermäßig strengen Lebenswandels, bei den frommen Seelen in üblem Geruche; und es gab keine noch so unerfahrene Betschwesternase, die in ihm nicht den Zauberer gewittert hätte.

Und hatten sich bei zunehmendem Alter in seiner Wissenschaft Abgründe aufgethan, so hatten sich solche auch in seinem Herzen geöffnet. Wenigstens hatte man Grund dazu, das zu glauben, sobald man dieses Antlitz prüfte, auf dem man seine Seele nur durch ein trübes Gewölk glänzen sah. Woher hatte er diese breite, kahle Stirne, dieses immer gesenkte Haupt, diese stetig von Seufzern geschwellte Brust? Welcher geheime Gedanke ließ seinen Mund mit so großer Bitterkeit in demselben Augenblicke lächeln, wo seine zusammengezogenen Augenbrauen sich einander wie zwei Stiere näherten, die miteinander kämpfen wollen? Warum waren die wenigen Haare seines Hauptes schon grau? Was für ein tiefinneres Feuer war das, welches bisweilen aus seinem Blicke mit solcher Gewalt hervorbrach, daß sein Auge der in die Wand eines Glühofens gebrochenen Oeffnung glich?

Diese Symptome eines heftigen moralischen Vorurtheiles hatten namentlich in dem Zeitraume einen hohen Stärkegrad angenommen, in welchem sich gegenwärtige Geschichte zuträgt. Mehr als einmal war ein Chorknabe entsetzt davongelaufen, wenn er sich allein mit ihm in der Kirche befand: dermaßen seltsam und stechend war der Blick seines Auges. Mehr als einmal während des Chorgesanges hatte, zur Stunde des Gottesdienstes, sein Nachbar im Chorstuhle ihn unverständliche Zwischenstrophen in den gregorianischen Choralgesang »ad omnem tonum« 94 hineinmischen gehört. Mehr als einmal hatte die Waschmeisterin des Terrains, die verpflichtet war, »das Klosterkapitel sauber zu erhalten«, nicht ohne Entsetzen Spuren von Nägeln und zusammengekrallten Fingern im Chorhemde des Herrn Archidiaconus von Josas wahrgenommen. Uebrigens nahm er an Härte zu und war doch niemals musterhafter gewesen. In Folge seines Standes und seines Charakters hatte er sich immer von den Frauen ferngehalten; er schien sie mehr als je zu hassen. Das bloße Rauschen eines seidenen Weiberrockes ließ seine Kapuze über seine Augen fallen. In diesem Punkte sah er dermaßen auf Strenge und Zurückhaltung, daß, als Frau von Beaujeu, die Tochter des Königs, im Monat December 1481 das Kloster Notre-Dame zu besuchen sich anschickte, er sich nachdrücklich ihrem Eintritte widersetzte und den Bischof an die Verordnung des »Schwarzen Buches«, datirt vom Vorabende des Sanct-Bartholomäustages 1334, erinnerte, welche den Zutritt zum Kloster jedweder Frau, »gleichviel ob alt oder jung, Herrin oder Dienerin« untersagt. Daraufhin hatte ihm der Bischof die Verordnung des Legaten Odo citiren müssen, welche gewisse Damen von Stande »aliquae magnates mulieres, quae sine scandalo evitari non possunt« ausnimmt. Und dennoch erhob der Archidiaconus Einsprache dagegen, indem er einwarf, daß die Verordnung des Legaten, welche auf das Jahr 1207 zurückreiche, einhundertsiebenundzwanzig Jahre älter, als das Schwarze Buch und, in Folge dessen, thatsächlich von letzterem aufgehoben sei. Und er hatte sich geweigert, vor der Prinzessin zu erscheinen.

Man bemerkte außerdem, daß sein Abscheu vor den Zigeunerinnen und Zigeunern sich seit einiger Zeit zu verdoppeln schien. Er hatte beim Bischofe um einen Erlaß nachgesucht, durch welchen den Zigeunerinnen ausdrücklich verboten sein sollte, auf dem Platze des Domhofes zu tanzen und Tamburin zu schlagen; und er durchwühlte seit der nämlichen Zeit die moderduftigen Urkunden des Offizes, um die Fälle zu sammeln, wo Zauberer und Zauberinnen wegen Theilnahme an Zaubereien mit Böcken, Sauen oder Ziegen zum Feuertode oder Strange verurtheilt worden waren.

  1. [Anrede gewisser Geistlicher: »Ehrwürdiger Herr.« Anm. d. Uebers.]
  2. [ Lateinisch: Eine Rauferei, die nächste Folge der vielen guten Weine, die getrunken waren.]
  3. [Name einer berüchtigten Gasse.]
  4. [ Lateinisch: Wo die Welt ein Ende hat. Anm. d. Uebers.]
  5. [ Lateinisch: Das Erlaubte, das erlaubte Wissen.]
  6. [ Lateinisch: Das Unerlaubte, das verbotene Wissen, wie z. B. alle geheimen Wissenschaften (Alchymie, Zauberei etc.).]
  7. [Schüler und Anhänger des Hermes Trismegistos, des Vaters der (geheimen) Wissenschaften.]
  8. [Arabischer Arzt und Philosoph († 1225). Anm. d. Uebers.]
  9. [Palimpseste heißen die alten Pergamenthandschriften griechischer und römischer Klassiker, von denen mönchischer Unverstand im Mittelalter den Text entfernt hat, um Schreibmaterial für Heiligenlegenden u. s. w. zu gewinnen. Anm. d. Uebers.]
  10. [ Hugo II. de Bisuncio (1326-32). Anm. d. Autors.]
  11. [Die weiße, natürliche Zauberei, die nicht verpönt war (eine Art Chemie) bildete den Gegensatz zur schwarzen, höllischen Magie im Mittelalter. Anm. d. Uebers.]
  12. [ Lateinisch: Zu dem ganzen Tone (weil der Gregorianische Gesang, benannt nach Papst Gregor dem Großen, aus lauter gleichwerthigen, ganzen Tönen bestand). Anm. d. Uebers.]

6. Mißliebigkeit.

Der Archidiaconus und der Glöckner waren, wie wir schon gesagt haben, bei dem vornehmen und geringen Volke aus der Nachbarschaft der Kathedrale nicht sehr beliebt. Wenn Claude und Quasimodo, was zeitweilig geschah, mit einander ausgingen, und man sie in Gesellschaft, der Diener hinter dem Herrn drein, über die schmutzigen, engen und dunkeln Straßen der Klostergebäude von Notre-Dame schreiten sah, so beunruhigte sie manch böses Wort, manch ironisches Lachen und manch beleidigender Witz auf ihrem Gange, wofern Claude Frollo nicht, was freilich selten geschah, aufrechten und stolzen Hauptes einherschritt und sein ernstes, fast majestätisches Antlitz den bestürzten Spaßvögeln zeigte. Alle beide waren in ihrem Stadtviertel das, was jene »Dichter« waren, von denen Regnier spricht:

»Allerlei Leute rennen hinter dem Dichter drein,
Wie hinter Eulen just schreiende Grasmücklein.«

Bald war es ein heimtückischer Bursche, welcher seine Haut und seine Knochen für das unaussprechliche Vergnügen wagte, eine Nadel in Quasimodo’s Buckel zu bohren; bald streifte eine hübsche junge Dirne, die frecher und unverschämter war, als es sich geschickt hätte, das schwarze Kleid des Priesters und sang ihm unter hämischem Gelächter das Lied ins Gesicht:

»Verdufte, verdufte, der Teufel ist gefangen!«

Manchmal schimpfte ein Haufen schmutziger Weiber, die sich hinter einander auf den Stufen einer Thürhalle im Schatten niedergekauert hatten, mit lauten Worten beim Vorübergehen des Archidiaconus und des Glöckners und schleuderten ihnen unter Verwünschungen den anfeuernden Willkommen ins Gesicht: »Ha! sehet da einen, der eine Seele hat, wie der andere den Körper!« Oder es fand sich auch eine Bande Studenten und Soldaten, die Brett spielten, sich zusammenrotteten und jene in klassischer Weise mit dem Hohngeschrei auf Lateinisch begrüßten: »Eia, eia! Claudius cum claudo« 95

Gewöhnlich aber glitt die Beleidigung ungehört an dem Priester und Glöckner ab; denn um alle die niedlichen Dinge zu vernehmen, war Quasimodo zu taub und Claude zu sehr in Gedanken versunken.

  1. [ Lateinisch: Ei der tausend! Claude mit einem Lahmen! Anm. d. Uebers.]

1. Abbas Beati Martini.

Der Ruf Dom Claude’s hatte sich weithin verbreitet. Dieser verschaffte ihm ohngefähr um die Zeit, als er sich weigerte, Frau von Beaujeu zu sehen, einen Besuch, für den er lange Zeit hindurch sich die Erinnerung bewahrte.

Es war an einem Abende. Claude hatte sich nach Beendigung der Messe soeben in seine Stiftspfründezelle im Kloster Notre-Dame zurückgezogen. Diese bot, ausgenommen vielleicht einige Glasfläschchen, die in die Ecke gestellt und mit einem ziemlich verdächtigen Pulver, das ganz dem Schießpulver ähnelte, gefüllt waren, nichts Auffälliges und Geheimnisvolles dar. Hier und da fanden sich auch einige Inschriften an der Wand; aber das waren nur wissenschaftliche oder fromme Sentenzen, die aus guten Schriftstellern entlehnt worden waren. Der Archidiaconus hatte sich soeben beim Lichte eines dreiarmigen Leuchters aus Kupfer vor einer mächtigen, mit Handschriften gefüllten Truhe niedergelassen. Er hatte seinen Ellbogen auf das weitgeöffnete Buch des Honorius von Autun: » De praedestinatione et libero arbitrio« 96 gestützt und durchblätterte im tiefen Nachdenken einen gedruckten Folianten, den er soeben herbeigeholt hatte, und welcher das einzige Erzeugnis der Buchdruckerpresse war, das seine Zelle umschloß. Während er im Nachsinnen versunken war, klopfte man an seine Thür.

»Wer ist da?« rief der Weise mit dem freundlichen Tone einer hungrigen Dogge, die man bei ihrem Knochen stört. Eine Stimme antwortete von draußen: »Euer Freund Jacob Coictier.« Er erhob sich, um zu öffnen.

Es war in Wirklichkeit der Leibarzt des Königs: eine Persönlichkeit von ohngefähr fünfzig Jahren, deren harter Gesichtsausdruck nur durch einen listigen Blick gemildert wurde. Ein anderer Mann begleitete ihn. Alle beide trugen ein langes, schieferfarbiges, mit Grauwerk gefüttertes Kleid, das zugenestelt und in der Mitte des Leibes von einem Gürtel gehalten wurde; die Kopfbedeckung war von demselben Stoffe und derselben Farbe. Ihre Hände verschwanden in den Aermeln, ihre Füße unter den Kleidern, die Augen waren von ihren Mützen beschattet.

»So wahr Gott mir helfe, meine Herren!« sprach der Archidiaconus, indem er sie in die Zelle hereinführte, »ich machte mich auf so ehrenvollen Besuch zu solcher Stunde nicht gefaßt.« Und während er in dieser höflichen Weise sprach, warf er einen unruhigen und forschenden Blick vom Arzte auf dessen Begleiter.

»Es ist niemals zu spät, einem so bedeutenden Gelehrten, wie Dom Claude Frollo von Tirechappe, seinen Besuch zu machen,« antwortete der Doctor Coictier, dessen hochburgundische Aussprache alle seine Worte mit der Würde eines Schleppkleides hinschleifen ließ.

Dann begann zwischen dem Arzte und dem Diaconus eine jener beglückwünschenden Vorreden, die, wie es in diesem Zeitabschnitte so gebräuchlich war, jeder Unterhaltung unter Gelehrten vorangingen, und die sie nicht verhinderte, sich in der herzlichsten Weise von der Welt zu verabscheuen. Uebrigens ist es heute noch so: jeder Mund eines Gelehrten, der einen andern beglückwünscht, ist ein Gefäß mit honigsüßer Galle.

Die Glückwünsche Claude Frollo’s für Jacob Coictier bezogen sich hauptsächlich auf die zahlreichen irdischen Vortheile, welche der würdige Arzt im Fortgange seiner vielbeneideten Laufbahn aus jeder Krankheit des Königs zu ziehen verstanden hatte: – freilich die Wirkung einer besseren und sichereren Alchymie, als das Suchen nach dem Steine der Weisen.

»In Wahrheit, Herr Doctor Coictier, ich habe große Freude gehabt, die Beförderung Eures Neffen, meines ehrwürdigen Herrn Peter Versé, zum Bischofe zu vernehmen. Ist er nicht Bischof von Amiens?«

»Ja, Herr Archidiaconus, das ist ein Huld- und Gnadengeschenk Gottes.«

»Wisset Ihr, daß Ihr am Weihnachtstage ein wahrhaft großartiges Aussehen zeigtet an der Spitze Eures Rechnungskammer-Collegiums, Herr Präsident?«

»Vice-Präsident, Dom Claude. Leider nicht mehr!«

»Wie weit seid Ihr mit Eurem prächtigen Hause in der Straße Saint-André-des-Arcs? Das ist ein zweiter Louvre. Mir gefällt besonders der Aprikosenbaum, welcher über der Thüre ausgemeißelt ist, mit dem spaßhaften Wortspiele: A l’abri cotier97

»Ach, Meister Claude, dieser ganze Steinmetzfleiß kostet mich schweres Geld. In dem Maße, wie mein Haus emporwächst, geht’s mit mir abwärts.«

»Oho! Habt Ihr denn nicht Eure Einkünfte vom Stockhause und vom Amtsbezirke des Justizpalastes, und die Rente von allen Häusern, Fleischbänken, Meß- und Marktbuden innerhalb der Ringmauer? Das heißt doch eine gute Kuh melken.«

»Meine Burgbanngerichtsbarkeit von Poissy hat mir in diesem Jahre nichts eingebracht.«

»Aber Eure Zollhäuser in Triel, Saint-James und Saint-Germain-en-Laye sind immer rentabel.«

»Hundertundzwanzig Livres, nicht einen Pariser Sou drüber.«

»Ihr habt Euer Amt als Rath des Königs. Das hat feste Einnahmen, das Amt.«

»Ja, Amtsbruder Claude; aber die verdammte Lehnsherrschaft Poligny, von der man so viel Geschrei macht, bringt mir, ein Jahr ins andere gerechnet, nicht sechzig Goldthaler ein.«

Es lag in den Glückwünschen, welche Dom Claude an Jacob Coictier richtete, jener hämische, spitze und unmerklich spöttische Ton, jenes verdrießliche und herbe Lächeln eines überlegenen und unglücklichen Menschen, der zur Zerstreuung einen Augenblick einen gewöhnlichen Menschen mit seinem dummen Glücke foppt. Der andere merkte das nicht.

»Bei meiner Seele,« sagte schließlich Claude, indem er ihm die Hand drückte, »es freut mich, Euch bei so guter Gesundheit zu finden.«

»Danke, Meister Claude.«

»Was ich fragen wollte,« rief Dom Claude, »was macht Euer königlicher Patient?«

»Er bezahlt seinen Arzt nicht hinlänglich,« antwortete der Doctor und warf einen Seitenblick auf seinen Begleiter.

»Findet Ihr, Gevatter Coictier?« sagte der Begleiter.

Diese Worte, im Tone der Ueberraschung und des Tadels gesprochen, lenkten auf diese unbekannte Persönlichkeit wieder die Aufmerksamkeit des Archidiaconus hin, der, um die Wahrheit zu sagen, sich nicht einen einzigen Augenblick, seitdem der Fremde die Schwelle der Zelle überschritten, ganz von ihm weggewandt hatte. Es hatte gerade der vielen Gründe, die er besaß, bedurft, den Doctor Jacob Coictier, den allmächtigen Leibarzt Ludwig des Elften, sich zu Nutze zu machen, um ihn in solcher Begleitungen empfangen. Daher hatte seine Miene nichts sehr Verbindliches, als Jacob Coictier zu ihm sagte:

»Noch eins, Dom Claude, ich bringe Euch einen Mitbruder, der Euch auf Euren Ruf hin zu sehen gewünscht hat.«

»Der Herr ist Gelehrter?« fragte der Archidiaconus und heftete sein durchdringendes Auge auf den Begleiter Coictiers. Er fand unter den Brauen des Unbekannten einen ebenso durchbohrenden und ebenso argwöhnischen Blick, als der seinige war. Der Unbekannte war, soweit der schwache Schein der Lampe ihn zu beurtheilen gestattete, ein Greis von ohngefähr sechzig Jahren und von mittlerer Statur, die ziemlich krank und gebrochen erschien. Sein Gesicht, wiewohl von sehr alltäglichem Schnitte, zeigte etwas Gewaltiges und Strenges; sein durchdringender Blick funkelte unter einer mächtig geschwungenen Augenbraue wie ein Licht in der Tiefe einer Höhle; und unter der herabgezogenen Mütze, welche ihm auf die Nase fiel, bemerkte man die mächtige Breite einer genialen Stirn hervortreten.

Er übernahm es selbst, auf die Frage des Archidiaconus zu antworten: »Ehrwürdiger Meister,« sagte er in ernstem Tone, »Euer Ruf ist bis zu mir gedrungen, und ich habe gewünscht, Euch um Rath anzugehen. Ich bin nur ein armer Edelmann aus der Provinz, der seine Schuhe auszieht, ehe er bei den Gelehrten eintritt. Ihr sollt meinen Namen wissen: ich nenne mich den Gevatter Tourangeau.«

»Merkwürdiger Name für einen Edelmann!« dachte der Archidiaconus. Indessen fühlte er, daß er einer bedeutenden und ernsten Angelegenheit gegenüber stand. Der Instinkt seiner hohen Intelligenz ließ ihn eine ebenso hohe, unter der gefütterten Mütze des Gevatters Tourangeau ahnen; und während er dieses ernste Antlitz betrachtete, verschwand das ironische Zucken, welches die Gegenwart Jacob Coictiers auf seinem mürrischen Gesichte hervorgebracht hatte, allmählich wie das Abendroth am nächtlichen Horizonte. Er hatte sich düster und schweigend wieder in seinem großen Armstuhle niedergelassen, sein Ellbogen hatte den gewohnten Platz wieder auf dem Tische, seine Stirne in der Hand eingenommen. Nach einigen Augenblicken stillen Nachdenkens gab er den beiden Besuchern ein Zeichen, sich zu setzen und richtete das Wort an Gevatter Tourangeau:

»Ihr kommt mich um Rath zu fragen, Meister, und über welchen Gegenstand der Wissenschaft?«

»Ehrwürdiger,« antwortete der Gevatter Tourangeau, »ich bin krank, sehr krank. Man nennt Euch einen großen Aesculap, und ich bin gekommen, Euch um Verordnung eines Arzneimittels zu ersuchen.«

»Eines Arzneimittels!?« sagte der Archidiaconus und schüttelte unwillig das Haupt. Er schien sich einen Augenblick lang zu besinnen und entgegnete: »Gevatter Tourangeau, da das nun einmal Euer Name ist, wendet das Haupt um. Ihr werdet meine Antwort deutlich an die Wand geschrieben finden.«

Der Gevatter Tourangeau gehorchte und las über seinem Haupte folgende, in die Mauer eingekratzte Inschrift: »Die Heilkunde ist die Tochter leerer Träume. – Jamblichus.«

Der Doctor Jacob Coictier hatte jedoch die Frage seines Begleiters mit einem Mißbehagen vernommen, welches die Antwort Dom Claude’s noch gesteigert hatte. Er neigte sich zum Ohre des Gevatters Tourangeau und sagte leise genug, um nicht vom Archidiaconus verstanden zu werden, zu ihm: »Ich hatte Euch ja berichtet, daß er ein Narr wäre. Ihr habt ihn sehen wollen!«

»Es ist doch sehr leicht möglich, daß er Recht hätte, dieser Narr, Doctor Jacob!« entgegnete der Gevatter im nämlichen Tone und mit bitterem Lächeln.

»Wie es Euch belieben wird,« entgegnete Coictier trocken. Dann wandte er sich an den Archidiaconus: »Ihr seid rasch im Urtheil, Dom Claude, und um den Hippokrates kaum mehr verlegen, als ein Affe um eine Haselnuß. Die Heilkunde ein Traum! Ich zweifle, daß die Apotheker und Doctoren, wenn sie hier wären, sich enthalten würden, Euch zu steinigen. Also Ihr läugnet den Einfluß der Zaubertränke auf das Blut, den der Salben auf das Fleisch! Ihr läugnet diese ewige Apotheke voll Blüten und Metalle, welche man Welt nennt, und die ausdrücklich für diesen Kranken geschaffen ist, welcher Mensch heißt.«

»Ich läugne weder die Kunst des Apothekers noch die Krankheiten der Menschen,« sprach Dom Claude kalt. »Vom Arzte will ich nichts wissen.«

»Also ist es nicht wahr,« fuhr Coictier mit Eifer fort; »daß die Gicht eine Flechte im Innern sei; daß man eine Schußwunde durch Auflegen einer gebratenen Maus heilt; daß jugendliches und in angemessener Weise eingespritztes Blut alten Adern die Jugend wiedergiebt? Es ist nicht wahr, daß zweimal zwei vier ist, und daß die Emprostothonie 98 auf die Opistothonie 99 folgt?«

Der Archidiaconus antwortete, ohne sich zu erregen: »Es giebt gewisse Dinge, über die ich in bestimmter Weise denke.«

Coictier wurde roth vor Zorn.

»Nun, nun, mein guter Coictier, ereifern wir uns nicht,« sagte der Gevatter Tourangeau. »Der Herr Archidiaconus ist unser Freund.«

Coictier wurde ruhig und brummte mit halber Stimme vor sich hin:

»Trotz alledem ist er ein Narr!«

»Beim allmächtigen Gott, Meister Claude,« begann der Gevatter Tourangeau wieder nach einem Schweigen, »Ihr bereitet mir viel Ungelegenheit. Ich hatte vor, Euch um zwei Gutachten zu bitten: das eine betrifft meinen Gesundheitszustand, das andere meinen Stern und mein Geschick.«

»Herr,« versetzte der Archidiaconus schnell, »wenn das Eure Meinung ist, so würdet Ihr ebenso wohl gethan haben, Euch auf den Stufen meiner Treppe nicht außer Athem zu steigen. Ich glaube nicht an die Heilkunde. Ich glaube nicht an Astrologie.«

»In Wahrheit!« sagte der Gevatter überrascht.

Coictier brach in ein erzwungenes Lachen aus.

»Ihr sehet wohl, daß er ein Narr ist,« sprach er ganz leise zum Gevatter Tourangeau. »Er glaubt nicht an die Astrologie!«

»O, über die Einbildung,« fuhr Dom Claude fort, »zu glauben, daß jeder Sternstrahl ein Faden sei, der am Haupte eines Menschen haftet!«

»Und woran glaubt Ihr denn?« rief der Gevatter Tourangeau aus.

Der Archidiaconus blieb einen Augenblick zweifelhaft; dann ließ er ein düstres Lächeln um seine Züge spielen, welches seine Antwort Lügen zu strafen schien: » Credo in Deum100

» Dominum nostrum,« 101 fügte der Gevatter Tourangeau mit dem Zeichen des Kreuzes hinzu.

»Amen,« sprach Coictier.

»Verehrter Meister,« nahm der Gevatter wieder das Wort, »ich bin in der Seele erfreut, Euch bei so gutem Glauben zu finden. Aber ein großer Gelehrter wie Ihr, seid Ihr auf dem Punkte angelangt, nicht mehr an die Wissenschaft zu glauben?«

»Nein,« sagte der Archidiaconus, indem er den Arm des Gevatter Tourangeau ergriff, und ein Strahl der Begeisterung flammte in seinem trüben Auge auf, »nein, ich läugne die Wissenschaft nicht. Ich bin nicht so lange, aus dem Leibe liegend und die Nägel in die Erde gegraben, durch die zahllosen Seitenpfade der Höhle gekrochen, ohne in der Ferne vor mir, am Ende des dunkeln Ganges ein Licht, eine Flamme, ein Etwas zu erblicken, zweifelsohne den Abglanz des blendenden Centralfeuers, wo Dulder und Weise die Gottheit erspähet haben.«

»Und schließlich,« unterbrach ihn Tourangeau, »was haltet Ihr für wahr und gewiß?«

»Die Alchymie.«

Coictier rief laut: »Bei Gott, Dom Claude, die Alchymie hat ohne Zweifel ihr Recht, aber weshalb die Heilkunde und die Astrologie lästern?«

»Nichts ist es mit Eurer Kenntnis des Menschen! Nichts mit Eurer Kenntnis des Himmels!« sagte der Archidiaconus mit Hoheit.

»Das heißt schonungslos mit Epidaurus und Chaldäa 102 verfahren,« entgegnete der Arzt hohnlächelnd.

»Höret, werther Herr Jacob. Das ist im guten Glauben gesprochen. Ich bin nicht der Leibarzt des Königs und Seine Majestät hat mir nicht den Garten Dädalus geschenkt, um da die Sternbilder zu beobachten… Ereifert Euch nicht und höret mich an… Welche Wahrheit habt Ihr – ich sage nicht in der Heilkunde, denn die ist ein allzu thörichtes Etwas, – sondern in der Astrologie gefunden? Nennet mir die Wirksamkeit des senkrechten Boustrophedon, die Funde aus der Zahl Ziruph und diejenigen aus der Zahl Zephirod.«

»Wollt Ihr,« sprach Coictier, »die sympathische Kraft des Schlüssels Salomonis und das, was cabbalistisch im Abtriftswinkel ist, läugnen?«

»Alles Irrthum, werther Herr Jacob! keine Eurer Formeln führt zur Wirklichkeit. Dagegen hat die Alchymie Ihre Entdeckungen aufzuweisen. Wollet Ihr Ergebnisse wie die folgenden, bestreiten? Das in der Erde tausend Jahre lang eingeschlossene Eis verwandelt sich in Bergkrystall. Das Blei ist der Ahne aller Metalle; denn das Gold ist kein Metall, das Gold ist Licht. Das Blei braucht nur vier Perioden, jede von zweihundert Jahren, um nach und nach aus dem Zustande von Blei in den von rothem Arsenik, vom rothen Arsenik zum Zinn, vom Zinn zum Silber überzugehen. Sind das nicht Thatsachen? Aber an den Schlüssel Salomonis, an die Berührungslinie zweier Körper und an die Sterne zu glauben, das ist gerade so lächerlich, als wie die Einwohner von Grand-Cathay zu glauben, daß die Goldamsel sich in einen Maulwurf und die Getreidekörner in karpfenartige Fische verwandeln!«

»Ich habe die Alchymie studiert,« rief Coictier aus, »und ich versichere … «

Der ungestüme Archidiaconus ließ ihn nicht aussprechen, »Und ich, ich habe Medicin, Astrologie und Alchymie studiert. In letzterer allem liegt die Wahrheit (während er so sprach hatte er aus der Truhe eine mit jenem Pulver gefüllte Phiole genommen, von dem wir weiter oben gesprochen haben), »in ihr allein ist Licht! Hippokrates – ein Traum; Urania – ein Traum; Hermes – es ist eine Meinung. Das Gold – es ist die Sonne; Gold machen – das heißt Gott sein. Das ist die einzige Wissenschaft. Ich habe die Heilkunde und die Astrologie erforscht sage ich Euch! Nichts, nichts ist’s mit ihnen. Der menschliche Körper – alles Dunkelheit! Die Sterne – Dunkelheit!«

Und er fiel mit gewaltiger und begeisterter Haltung in seinen Lehnstuhl zurück. Der Gevatter Tourangeau betrachtete ihn schweigend. Coictier zwang sich höhnisch zu lächeln, hob unmerklich die Schultern und wiederholte mit leiser Stimme: »Ein Narr!«

»Und,« sagte plötzlich Tourangeau, »der wunderbare Endzweck, habt Ihr ihn erreicht? Habt Ihr Gold gemacht?«

»Wenn ich es gemacht hätte,« erwiderte der Archidiaconus und hob langsam seine Worte hervor, wie ein Mensch, der in Nachdenken versunken ist, »würde der König von Frankreich Claude und nicht Ludwig heißen.«

Der Gevatter runzelte die Stirne«

»Was sage ich da?« fuhr Dom Claude mit verächtlichem Lächeln fort. »Was würde der Thron von Frankreich für mich bedeuten, wenn ich das Reich des Orientes wieder aufrichten könnte?«

»Das laß ich mir gefallen!« sagte der Gevatter.

»Ach, der arme Narr!« murmelte Coictier.

Der Archidiaconns, der sich nur noch mit seinen Gedanken zu unterhalten schien, fuhr fort:

»Doch nein, ich liege noch im Staube; ich stoße mir Gesicht und Knien wund an den Steinen des Weges zum Innern der Erde. Ich erkenne wohl, aber ich sehe noch nicht deutlich: ich lese noch nicht, ich buchstabire nur!«

»Und wenn Ihr lesen könnt,« fragte der Gevatter, »werdet Ihr Gold machen?«

»Wer zweifelt daran?« sagte der Archidiaconus.

»Für diesen Fall, die heilige Jungfrau weiß es, bin ich des Goldes sehr bedürftig, und ich möchte wohl in Euren Büchern lesen lernen. Sagt mir, verehrter Meister, ist Eure Wissenschaft Unserer lieben Frau feindlich gesinnt oder mißfällig?«

Auf diese Frage des Gevatters begnügte sich Dom Claude mit stolzer Ruhe zu erwidern:

»In wessen Diensten stehe ich als Archidiaconus?«

»Es ist wahr, lieber Meister. Nun wohl! Würdet Ihr die Güte haben, mich einzuweihen? Lasset mich mit Euch buchstabiren.«

Claude nahm die majestätische und hohepriesterliche Haltung eines Samuel an.

»Alter Mann, um diese Reise mitten durch die Welt der Geheimnisse zu unternehmen, braucht’s längere Jahre, als Ihr noch vor Euch habt. Euer Haupt ist sehr grau! Wohl verläßt man den dunkeln Weg nur mit weißem Haupthaar, aber man betritt ihn nur mit dunkelm. Die Wissenschaft vermag schon für sich allein die menschlichen Gesichter hohl zu machen, zu bleichen und einzutrocknen; sie hat nicht nöthig, daß das Alter ihr völlig runzlige Gesichter zuführe. Wenn Ihr indessen von der Begierde besessen seid, Euch in Eurem Alter der Unterweisung zu unterwerfen und das furchtbare Alphabet der Weisheit zu entziffern, wohlan, kommt zu mir, ich will’s versuchen. Euch will ich nicht heißen, armer Alter, Euch aufzumachen, um die Grabkammern der Pyramiden aufzusuchen, von denen der alte Herodot spricht, auch nicht den Backsteinthurm zu Babylon, noch das ungeheure, weißmarmorne Allerheiligste des indischen Tempels zu Eklinga. Gerade wie Ihr habe auch ich nicht die chaldäischen Mauern gesehen, die nach der geheiligten Form des Sikra errichtet waren, noch den Tempel des Salomo, der zerstört ist, auch nicht die steinernen Thüren am Grabmale der Könige Israels, die längst gebrochen sind. Wir wollen uns zufrieden geben mit den Ueberresten vom Buche des Hermes, welches wir hier haben. Ich werde Euch die Bildsäule des heiligen Christoph, das Sinnbild des Säemannes erklären, und diejenigen der beiden Engel, die sich am Portale der Heiligen Kapelle befinden, und von denen der eine seine Hand in einem Gesäße und der andere in einer Wolke hat …«

Nach diesen Worten setzte sich Jacob Coictier, den die hitzigen Einwürfe des Archidiaconus verblüfft hatten, wieder auf den Sessel und unterbrach ihn im triumphirenden Tone eines Gelehrten, der einen andern über etwas zurechtweist: » Erras, amice Claudi. 103 Das Symbol ist keine Zahl. Ihr nehmt Orpheus für Hermes.«

»Ihr seid vielmehr im Irrthume,« entgegnete würdevoll der Archidiaconus. »Dädalus ist die Grundmauer, Orpheus die Mauer, Hermes aber ist das Gebäude, ist das Ganze. Möget Ihr kommen, wann Ihr wollt,« fuhr er gegen Tourangeau sich wendend fort, »ich will Euch die Goldtheilchen zeigen, die im Schmelztiegel des Nicolaus Flamel zurückgeblieben sind, und Ihr möget sie mit dem Golde Wilhelms von Paris vergleichen. Ich werde Euch die geheimen Kräfte des griechischen Wortes »Peristera« 104 lehren. Vor allem aber will ich Euch die marmornen Buchstaben des Alphabets, die steinernen Seiten des Buches eine nach der andern lesen lassen. Vom Portale des Bischofs Wilhelm und von Saint-Jean-le-Rond wollen wir zur Heiligen Kapelle, hierauf zum Hause Nicolaus Flamels, in der Rue Mariveaulx, dann zu seinem Grabmale auf dem Kirchhofe Saints-Innocents, endlich zu seinen beiden Krankenhäusern in der Rue Montmorency gehen. Ich werde Euch die Hieroglyphen lesen lassen, mit denen die vier mächtigen eisernen Feuerböcke am Eingangsthore des Hospitals Saint-Gervais und desjenigen in der Rue-de-la-Ferronnerie bedeckt sind. Wir wollen auch zusammen die Façaden von Saint-Côme, von Saint-Geneviève-des-Ardents, von Saint-Martin, von Saint-Jacques-de-la-Boucherie buchstabiren…«

So klug das Auge Tourangeau’s dreinschaute, so schien er doch schon lange Dom Claude nicht mehr zu begreifen. Er unterbrach ihn:

»Zum Teufel auch! Wie verhält sich denn das mit Euern Büchern?«

»Hier ist eins davon,« sprach der Archidiaconus.

Und indem er das Fenster der Zelle öffnete, deutete er mit dem Finger auf die mächtige Notre-Damekirche, welche am gestirnten Himmel die schwarzen Umrisse ihrer beiden Thürme, ihrer steinernen Flächen und ihres mächtigen Dachrückens abhob und einer ungeheuern, zweiköpfigen Sphinx glich, die sich mitten in der Stadt niedergesetzt hatte.

Der Archidiaconus betrachtete das Riesengebäude eine Zeit lang schweigend, dann streckte er mit einem Seufzer die rechte Hand nach dem gedruckten Buche, welches geöffnet auf dem Tische lag, die linke nach der Notre-Damekirche aus und sagte, wahrend er einen traurigen Blick vom Buche zur Kirche hinüberschweifen ließ: »Wehe! dies wird jenes vernichten.«

Coictier, der sich mit Begierde dem Buche genähert hatte, konnte den Ausruf nicht unterdrücken: »Ei, aber! was giebt es denn so Schreckliches in diesem »Glossa in epistolas D. Pauli, Norimbergae, Antonius Koburger, 1474«. Das ist nichts Neues. Das ist ein Buch des Petrus Lombardus, der Magister setentiarum. Vielleicht deshalb, weil es gedruckt ist?«

»Ihr habt es ausgesprochen,« antwortete Claude, der in tiefes Nachdenken versunken schien, und, den eingebogenen Zeigefinger auf den aus Nürnbergs berühmten Druckerpressen hervorgegangenen Folianten stemmend, dastand. Dann fügte er folgende geheimnisvollen Worte hinzu: »Wehe! Wehe! Das Kleine folgt dem Großen auf dem Fuße nach; ein Zahn siegt über eine Masse. Die Nilratte tödtet das Krokodil, der Schwertfisch den Wallfisch, das Buch wird das Gebäude vernichten!«

In demselben Augenblicke, wo der Doctor Jacob seinem Begleiter ganz leise den ständigen Refrain »Er ist ein Narr« wiederholte, erklang die Abendglocke des Klosters. Diesmal antwortete der Begleiter auf die Worte des Archidiaconus: »Ich glaube, ja.«

Die Stunde war da, von welcher an kein Fremder länger im Kloster verweilen konnte. Die beiden Besucher zogen sich zurück.

»Meister,« sprach der Gevatter Tourangeau, indem er sich vom Archidiaconus verabschiedete, »ich liebe die Gelehrten und großen Geister, und ich habe eine besondere Hochachtung für Euch. Kommet morgen in den ParIamentspalast und fraget nach dem Abte des heiligen Martin von Tours.«

Der Archidiaconus kehrte bestürzt in sein Gemach zurück, begriff endlich, welche Persönlichkeit der Gevatter Tourangeau war, und erinnerte sich an jene Schriftstelle im Archive des heiligen Martin von Tours: »Abbas beati Martini, scilicet rex Franciae, est canonicus de consuetudine et habet parvam praebendam, quam habet Sanctus Venantius, et debet seder in sede thesaurarii.« 105

Man versicherte, daß der Archidiaconus seit dieser Zeit häufige Zusammenkünfte mit Ludwig dem Elften hatte, so oft Seine Majestät nach Paris kam, und daß das Ansehen des Dom Claude dasjenige Olivier Le-Daims in Schatten stellte, ebenso dasjenige Jacob Coictiers, der dann, seiner Gewohnheit gemäß, den König deshalb sehr grob behandelte.

  1. [Lateinisch: Ueber Vorherbestimmung und Willensfreiheit. Anm. d. Uebers.]
  2. [Das im Deutschen nicht wiederzugebende Wortspiel besteht in der Theilung des Wortes abricotier in zwei Worte: à l'abricotier, »Zum Aprikosenbaum« (Hauswahrzeichen) und: à l'abri cotier, »Im lehnzinspflichtigen Schutze«. Anm. d. Uebers.]
  3. [ Griechisch: Der Starrkrampf mit Zusammenziehung des Körpers nach vorn.]
  4. [ Griechisch:: Der Rückenkrampf. Anm. d. Uebers.]
  5. [ Lateinisch: Ich glaube an Gott.]
  6. [ Lateinisch: Unsern Herrn. Anm. d. Uebers.]
  7. [Im Alterthume durch ihre Sterndeuter bekannte Orte. Anm. d. Uebers.]
  8. [Lateinisch: Du irrst, Freund Claude. Anm. d. Uebers.]
  9. [Griechisch: die Taube. Anm. d. Uebers.]
  10. [ Lateinisch: Der Abt des heiligen Martin, nämlich der König von Frankreich, ist Domherr nach Herkommen, hat die kleine Chorpfründe, welche der heilige Venantius inne hat, und soll in der Behausung des Schatzmeisters wohnen. Anm. d. Uebers.]

2. Paris aus der Vogelschau.

Wir haben es soeben versucht, diese wunderbare Kirche Notre-Dame zu Paris für den Leser neu herzustellen. Wir haben in Kürze die meisten Schönheiten angegeben, welche sie im fünfzehnten Jahrhunderte besaß, und die ihr heute fehlen; aber wir haben die Hauptsache vergessen: nämlich den Anblick von Paris zu schildern, welchen man damals von der Höhe seiner Thürme herab genoß.

In Wahrheit gab es, wenn man nach langem Umhertasten auf der finstern Wendeltreppe, welche senkrecht die dicke Mauer der Thürme durchbricht, endlich unvermuthet auf einer der beiden licht- und luftumflossenen Plattformen hervortauchte, kaum ein schöneres Bild als das, welches sich von allen Seiten auf einmal unter den Augen entrollte; ein Schauspiel »eigener Art«, von dem sich diejenigen unserer Leser leicht eine Vorstellung machen können, welche so glücklich gewesen sind, eine ganz gothische, vollständige, gleichartige Stadt zu sehen, wie es deren noch einige giebt, z. B. Nürnberg in Baiern, Vittoria in Spanien; oder selbst kleinere Muster, vorausgesetzt, daß sie wohl erhalten sind, wie Vitré in der Bretagne, Nordhausen in Preußen.

Das Paris von vor dreihundertundfünfzig Jahren, das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts war schon eine Riesenstadt. Wir täuschen uns gewöhnlich, wir Pariser, hinsichtlich der Bodenfläche, welche wir seitdem eingenommen zu haben glauben« Paris ist seit Ludwig dem Elften um nicht viel mehr, denn um ein Dritthell gewachsen; gewiß aber hat es weit mehr an Schönheit verloren, als es an Größe gewonnen hat.

Paris ist, wie man weiß, auf jener alten Insel der Altstadt entstanden, welche die Gestalt einer Wiege hat. Der Strand dieser Insel war seine erste Einfriedigung, die Seine sein erster Graben. Paris blieb mehrere Jahrhunderte auf die Insel beschränkt, hatte zwei Brücken: eine nach Norden, die andere nach Süden zu, und zwei Brückenköpfe, welche zugleich seine Thore und seine Festungswerke waren: Groß-Chatelet auf der rechten, Klein-Chatelet auf der linken Seite. Dann, seit den Königen aus der ersten Generation, überschritt Paris, dem es zu enge auf seiner Insel wurde, und das sich hier nicht mehr drehen und wenden konnte, den Fluß, Hierauf begann über Groß- und Klein-Châtelet hinaus, von beiden Ufern der Seine aus, eine erste Einfriedigung von Mauern und Thürmen in das Land hinein zu dringen. Von dieser alten Schutzmauer gab es im letzten Jahrhunderte noch einige Reste; heute existirt nur noch die Erinnerung daran und hier und da ein Ueberbleibsel, wie das Thor Baudets oder Baudoyer, lateinisch: porta Bagauda. Nach und nach überflutet, beuagt, verzehrt und vertilgt die Häuserwoge, die stetig vom Herzen der Stadt nach außen gedrängt wird, diese Umfassungsmauer. Philipp August giebt ihr einen neuen Damm; er schließt Paris in eine Kreiskette von dicken, hohen Und festen Thürmen ein. Länger als ein Jahrhundert hindurch drängen die Häuser sich aneinander, häufen sich und heben ihr Niveau in diesem Becken wie Wasser in einem Behälter. Sie beginnen tiefgehend zu werden, setzen Stockwerke über Stockwerke, übersteigen einander, sprudeln in die Höhe wie comprimirte Flüssigkeit, und jedes bestrebt sich, das Haupt über seine Nachbarn zu heben, um ein wenig frische Luft zu haben. Die Straße kreuzt und verengt sich mehr und mehr; jeder Platz füllt sich und verschwindet. Schließlich springen die Häuser über die Mauer Philipp Augusts hinaus, zerstreuen sich lustig in der Ebene, wie Flüchtlinge ohne Ordnung und Symmetrie. Hier thun sie sich zu Quartieren zusammen, umgeben sich im Gefilde mit Gärten und machen sich’s bequem. In dieser Weise erweitert sich die Stadt seit 1367 derartig in die Vororte hinein, daß eine neue Einfassung nöthig wird, vornehmlich am linken Ufer: Karl der Fünfte baute sie. Aber eine Stadt, wie Paris, ist im anhaltenden Wachsthume. Nur solche Städte werden Hauptstädte. Sie sind Filter, in welche alle geographischen, politischen, sittlichen und intellectuellen Strömungen eines Landes, alle Triebe eines Volkes einmünden; Brunnen der Civilisation so zu sagen, aber auch Kloaken, wo Handel und Gewerbefleiß, Intelligenz und Bevölkerung, alles was Saft, was Leben, was Seele an einem Volke ist, zusammenfließt und ohne Aufhören sich aufhäuft, Tropfen um Tropfen, Jahrhundert um Jahrhundert. Die Mauer Karls des Fünften hat jedoch dasselbe Geschick, wie diejenige Philipp Augusts. Seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts wird sie überschritten, überholt, und die Vorstadt eilt weiter. Im sechzehnten Jahrhunderte scheint es, als ob Paris augenscheinlich zurückwiche und sich mehr und mehr in die alte Stadt hineinzöge, so sehr rückt draußen schon eine neue Stadt zusammen. Seit dem fünfzehnten Jahrhunderte also, um hier zu verweilen, hatte Paris schon die drei concentrischen Mauerkreise verbraucht, welche seit der Zeit Julians des Apostaten, so zu sagen, als Keime in Groß- und Klein-Chatelet enthalten waren. Die mächtige Stadt hatte, ähnlich einem Kinde, welches wächst und die vorjährigen Kleidungsstücke zerplatzt, seine vier Mauergürtel bersten lassen. Unter Ludwig dem Elften sah man stellenweise in diesem Häusermeere einige Gruppen von Thurmruinen der alten Umfassungsmauern, die wie Hügelspitzen bei einer Ueberschwemmung, wie Inselgruppen des alten Paris, das im neuen versinkt, hervorragten.

Seitdem hat Paris zum Unglück für unsere Augen sich noch verändert; aber es hat nur eine Ringmauer mehr überschritten: diejenige Ludwigs des Fünfzehnten, jene Schmutz- und Kothmauer, die würdig des Königs, der sie gebaut, und werth des Dichter ist, der sie besungen hat:

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Im fünfzehnten Jahrhunderte war Paris noch in drei ganz unterschiedene und abgesonderte Städte getheilt, jede mit ihrer Physiognomie und Eigenthümlichkeit, mit ihren Sitten, ihren Gewohnheiten, ihren Privilegien und mit ihrer Geschichte: die Altstadt ( la Cité), Südstadt ( l'Universitè) und Nordstadt ( la Ville). Die Altstadt, welche die Insel bedeckte, war die älteste, die kleinste, die Mutter der beiden andern und eingepreßt zwischen ihnen – man möge den Vergleich gestatten – wie eine kleine Alte zwischen zwei großen, schönen Mädchen. Die Südstadt oder das Universitätsviertel bedeckte das linke Ufer der Seine von La Tournelle 59 bis zum Nesle-Thurme, 60 zwei Punkte, von denen der eine der Weinhalle, der andere der Münzstätte im heutigen Paris entsprechen. Ihre Ringmauer schweifte bogenförmig ziemlich weit in die Gegend hinaus, wo Julian seine Thermen 61 erbaut hatte. Der Hügel der heiligen Genoveva war mit eingeschlossen. Der äußerste Punkt dieser Mauerkrümmung war das Papstthor, d. h. ohngefähr die jetzige Baustelle des Panthéons. Die Nordstadt, welche den größten der drei Stadttheile von Paris ausmachte, nahm das rechte Ufer ein. Ihr Flußdamm, der jedoch buchtig oder an mehreren Stellen unterbrochen war, lief längs der Seine hin vom Thurm Billy bis zum Holzthurme, d. h. von der Stelle, wo heute der Vorrathsspeicher steht, bis zum Platze, wo die Tuilerien sich befinden. Diese vier Punkte, wo die Seine die Ringmauer der Hauptstadt durchschnitt: La Tournelle und der Nesle-Thurm zur Linken, der Thurm Billy und der Holzthurm zur Rechten, hießen vorzugsweise »die vier Thürme von Paris.« Die Nordstadt erstreckte sich noch tiefer in die Ländereien hinein, als die Südstadt. Der äußerste Punkt der Ringmauer der Nordstadt (derjenigen Karls des Fünften) lag bei den Thoren Saint-Denis und Saint-Martin, die heute noch an derselben Stelle sind.

Wie wir soeben bemerkt haben, war jede dieser drei großen Abtheilungen von Paris eine Stadt, aber eine zu besondere Stadt, um als vollständig gelten zu können; eine Stadt, welche jeder der beiden andern nicht entrathen konnte. Auch gewährten die drei jede für sich ein völlig gesondertes Aussehen. In der Altstadt waren die Kirchen im Ueberflusse, in der Nordstadt die Paläste, in der Südstadt die Lehranstalten. Um die untergeordneten Eigentümlichkeiten des alten Paris, z. B. die Scherereien des Wegeamtsrechtes hier zu übergehen, wollen wir im allgemeinen und nur durch Herausgreifen des Ganzen und Gewichtigen aus dem Chaos der städtischen Rechtspflege erzählen, daß die Insel dem Bischöfe, das rechte Seineufer dem Vorsteher der Kaufmannsgilde oder dem Stadtvogte, das linke dem Universitätsrector unterstellt war. Der Oberrichter von Paris, ein königlicher, nicht Municipal-Beamter, wachte über das Ganze. In der Altstadt lag Notre-Dame, in der Nordstadt der Louvre und das Rathhaus, die Sorbonne 62 in der Südstadt. In der Nordstadt lagen die Kaufhallen, das Krankenhaus ( Hotel Dieu) war in der Altstadt, die Studentenwiese 63 in der Südstadt. Jedes Verbrechen, das die Studenten am linken Ufer begingen, wurde auf der Insel im Justizpalaste abgeurtheilt und am linken Ufer, in Monfaucon, gesühnt, im Falle der Rector, sofern sich die Universität stark und der König schwach fühlte, nicht Einsprache erhob; denn es war ein Vorrecht der Studenten, in ihrem Bezirke gehangen zu werden. (Die meisten dieser Privilegien – um das im Vorbeigehen zu bemerken – und von denen es werthvollere giebt, als das eben genannte, waren den Königen durch Aufstände und Meutereien abgenöthigt worden. Es ist der uralte Hergang: der König giebt nur das zu, was das Volk ihm abpreßt. Es existirt eine alte Urkunde, welche, in Betreff der Treue, dies naiv so ausspricht: » Civibus fidelitas in reges, quae tamenn aliquoties seditionibus interrupta, multa peperit privilagia64

Im fünfzehnten Jahrhunderte bespülte die Seine fünf Inseln im Stadtgebiete von Paris: die Insel Louviers, wo damals Bäume standen und heute sich nichts weiter als Gehölz befindet; die Kuhinsel und die Insel Notre-Dame, beide wüst bis auf eine elende Hütte, beide Lehen des Bischofs von Paris (im siebzehnten Jahrhunderte hat man aus diesen beiden Inseln eine einzige gemacht und bebaut, die nun Insel des heiligen Ludwig heißt); endlich diejenige der Altstadt, und an ihrer Spitze die kleine Insel des Kuhfährmannes, die seitdem unter dem Fundamente des Pont-Neuf verschwunden ist. Die Altstadt besaß damals fünf Brücken, drei auf der rechten Seite: die Notre-Dame-Brücke und die Wechslerbrücke, beide von Stein, die Müllerbrücke aus Holz; zwei auf der linken Seite: die Kleine Brücke von Stein, die Sanct-Michaelbrücke aus Holz, sämmtliche mit Häusern besetzt. Die Südstadt hatte sechs, von Philipp August erbaute Thore, nämlich vom Parlamentsgericht angefangen: das Thor Sanct-Victor, das Frauenhausthor, das Papstthor, das Sanct-Jacobsthor, das Sanct-Michaelthor, das Thor Saint-Germain. Die Nordstadt hatte gleichfalls sechs von Karl dem Fünften erbaute Thore, nämlich vom Billy-Thurme begonnen: das Thor Saint-Antoine, das Templerthor, das Thor Saint-Merlin, das Thor Saint-Denis, das Monmartrethor und das Thor Saint-Honoré. Alle diese Thore waren stark und schön dabei, ohne durch letzteres die Festigkeit zu beeinträchtigen. Ein breiter und tiefer, bei winterlichem Hochwasser stark flutender Graben, den die Seine mit Wasser versorgte, bespülte den Fuß der Mauern rings um ganz Paris herum. Nachts wurden die Thore geschlossen, der Fluß an beiden Außenpunkten der Stadt mit mächtigen eisernen Ketten gesperrt, und Paris schlief ruhig.

Aus der Vogelschau gesehen boten diese drei Stadttheile: Altstadt, Universitätsviertel und Nordstadt, jeder für sich dem Auge ein unentwirrbares Netz von sonderbar durch einander geschlungenen Straßen dar. Doch erkannte man auf den ersten Blick, daß diese drei Bruchstücke von Stadt ein einziges Ganze bildeten. Man sah sofort drei lange, parallele Straßen, die ohne Unterbrechung und Störung, fast in gerader Linie, auf einmal die drei Stadttheile von einem Ende bis zum andern durchschnitten, sie vom Süden zum Norden und die Seine entlang laufend verbanden, vereinigten, ineinanderzogen und -gossen, und ohne Aufenthalt die Bevölkerung von dieser in die Mauern von jener hinüberfluteten und dadurch aus den dreien eine einzige herstellten. Die erste dieser beiden Straßen lief vom Thore Sanct-Jacob bis zum Thore Sanct-Martin; sie hieß Sanct-Jacobsstraße in der Südstadt, Judenstraße in der Altstadt und Sanct-Martinsstraße in der Nordstadt; sie überschritt den Fluß zweimal: als Kleine Brücke und als Notre-Damebrücke. Die zweite dieser Straßen, welche La-Harpestraße auf dem linken Ufer, Faßbinderstraße auf der Insel, Sanct-Denisstraße auf dem rechten Ufer hieß, und als Sanct-Michelsbrücke über einen Arm der Seine, als Wechslerbrücke über den andern lief, zog sich vom Sanct-Michaelthore im Universitätsviertel bis zur Sanct-Denisbrücke in der Nordstadt hin. Beide Straßen waren, trotz so vieler verschiedenartiger Namen, doch immer nur zwei Straßen, aber die Haupt- und Stammstraßen, die zwei Pulsadern von Paris. Sämmtliche übrigen Verkehrsadern der dreiteiligen Stadt mündeten hier aus oder ein.

Unabhängig von diesen zwei diametralen Hauptstraßen, die ganz Paris in seiner Breite durchschnitten und der Hauptstadt völlig gemeinsam waren, hatten die Nord- und Südstadt jede ihre besondere Hauptstraße, welche in der Richtung ihrer Länge parallel mit der Seine liefen und gelegentlich die zwei »Hauptverkehrsadern« im rechten Winkel kreuzten. Demzufolge ging man in der Nordstadt vom Thore Saint-Antoine in gerader Linie bis zum Thore Saint-Honoré hinab; in der Südstadt vom Sanct-Victorthore bis zum Thore Saint-Germain. Diese zwei großen Straßen, die sich mit den beiden ersten kreuzten, bildeten die Unterlage, über welche das nach allen Seiten hin verschlungene, dichte und labyrinthische Straßennetz von Paris sich erstreckte. In dem unentwirrbaren Umrisse dieses Straßennetzes unterschied man übrigens bei aufmerksamer Betrachtung zwei Bündel breiter Straßen, die wie zwei Getreidegarben, von denen eine in der Süd-, die andere in der Nordstadt sich ausbreitete, von Brücke zu Brücke sich entfaltend hinliefen.

Etwas von diesem geometrischen Grundrisse ist noch heute zu erkennen.

Welchen Anblick bot dieses Ganze nun, aus der Höhe der Thürme von Notre-Dame gesehen, im Jahre 1482?

Das zu schildern wollen wir versuchen.

Für den Beschauer, welcher athemlos auf dieser Höhe ankam, bot sich dem Blicke zuerst eine verwirrende Menge von Dächern, Schornsteinen, Straßen, Brücken, Plätzen, Thurmspitzen und Thürmen dar. Alles fiel ihm auf einmal in die Augen: die abgestumpfte Zinne, das spitzzulaufende Dach, das auf den Mauerwinkeln schwebende Thürmchen, die steinerne Pyramide aus dem elften, der Schieferobelisk aus dem fünfzehnten Jahrhunderte, der runde und kahle Wartthurm, der viereckige, verzierte Kirchthurm, Großes und Kleines, Schwerfälliges und Zierliches, Der Blick verlor sich auf lange und vollständig in diesem Labyrinthe, wo jedes von seiner Originalität und Berechtigung, von seiner Eigenthümlichkeit und Schönheit zeugte, alles Kunst athmete, vom geringsten Hause an mit gemalter und von Steinmetzarbeit verzierter Vorderseite, mit Holzwerk auf der Außenseite, mit herausgerückter Pforte, mit überhängenden Stockwerken bis zum königlichen Louvre, der damals eine Colonnade von Thürmen besaß. Aber da lagen die Hauptmassen, die man unterschied, sobald das Auge sich in diesen Gebäudewogen zurechtzufinden begann.

Zuerst die der Altstadt. Die Häuserinsel der Altstadt ist, wie Sauvel sagt, der bei seinem sonst schwülstigen Stile zeitweilig recht glücklich in der Darstellungsweise ist, – »die Häuserinsel der Altstadt ist wie ein großes Schiff geformt, das im Schlamme aufgefahren ist und im Stromlauf der Seine festsitzt«. Wir haben eben erzählt, daß dieses »Schiff« zwischen beiden Flußufern im fünfzehnten Jahrhunderte von fünf Brücken geentert war. Diese Schiffsgestalt ist auch den Heraldikern aufgefallen; denn daher, und nicht von der Belagerung der Stadt durch die Normannen, stammt, zufolge Favyns und Pasquiers, das Schiff, welches das alte Wappen von Paris kennzeichnet. Für den, welcher es zu erklären weiß, ist die Wappenkunde bald eine Berechnung, bald eine Sprache. Die ganze Geschichte der zweiten Hälfte des Mittelalters ist in der Wappenkunde niedergeschrieben, ähnlich wie die Geschichte ihrer ersten Hälfte in der Symbolik der romanischen Kirchenbauwerke. Es sind die Hieroglyphen der Feudalherrschaft nach denen der Kirchenherrschaft.

Die Altstadt zeigte sich also zuerst dem Beschauer mit der Hinterfront nach Osten und der Vorderfront nach Westen. Nach der letztern hingewandt sah man eine endlose Reihe von alten Dächern vor sich, über denen, ähnlich dem Rücken eines Elephanten, der seinen Thurm trägt, die bleigedeckte Kuppel der Heiligen Kapelle mächtig sich rundete. Nur hier erschien dieser Kuppelbau als der kühnste, freieste, kunstvollste und zackenreichste Thurm, der jemals den Himmel durch seinen durchbrochenen Kegel sehen ließ. Ziemlich nahe vor Notre-Dame mündeten drei Straßen in den Vorhof, einen schönen Platz voll altertümlicher Häuser, ein. Auf der Südseite dieses Platzes neigte sich die furchenreiche und düstere Façade des Hôtel-Dieu; sein Dach schien mit Beulen und Warzen bedeckt zu sein. Dann erhoben sich rechts und links, nach Morgen und Abend zu, in dem doch so engen Umkreise der Altstadt, die Thürme seiner einundzwanzig Kirchen jeden Alters, jeder Gestalt, jeder Größe vom niedrigen und wurmstichigen, im romanischen Stile gehaltenen Glockenturme von Saint-Denis-du-Pas ( carcer Glaucini) an, bis zu den schlanken Spitzen von Saint-Pierre-aux-Boeufs und Saint-Landry. Hinter Notre-Dame im Norden zeigten sich das Kloster mit seinen gothischen Galerien, im Süden die halbromanisch gehaltene Residenz des Bischofs, im Osten die wüste Spitze des Terrains. Ferner unterschied das Auge in diesem Meere von Häusern mit ihren hohen Fenstergiebeln von durchbrochenem Steine, welche damals selbst die äußersten Dachfenster der Paläste krönten, das Schloß, welches unter Karl dem Sechsten von der Stadt dem Juvenal-des-Ursins geschenkt worden war; ein Stück weiter davon die Theerdachhütten des Gemüsemarktes; 65 weiter noch das neue Chorhaus von Saint-Germain-le-Vieux, welches 1458 durch ein Ende der Rue-aux-Fabves erweitert wurde; dann sah man über freie Plätze hinweg einen Scheideweg, der vom Volke gesperrt wurde; einen an der Straßenecke errichteten Pranger; ein hübsches Stück Straßenpflaster, das Philipp August hatte herstellen lassen, jenes prächtige Plattenpflaster, welches in der Mitte der Bahn für die Pferde gelegt worden war und im sechzehnten Jahrhunderte leider durch die elende Sandaufschüttung, »Pflaster der Ligue« genannt, ersetzt wurde; dann einen öden Hinterhof mit einem jener durchsichtigen Treppenthürmchen, wie man sie im fünfzehnten Jahrhunderte baute, und wie man noch einen in der Rue-des-Bourdonnais sieht. Endlich, rechts von der heiligen Kapelle, gen Westen, streckte der Justizpalast am Ufer des Wassers seine Thurmgruppe in die Luft. Der Hochwald der königlichen Gärten, welche die westliche Spitze der Altstadt bedeckten, verbargen den Fährmannswerder. Was den Strom betrifft, so bemerkte man ihn von der Höhe der Notre-Damethürme kaum auf beiden Seiten der Altstadt: die Seine verschwand unter den Brücken, diese unter den Häusern.

Und wenn der Blick über diese Brücken hinaus flog, deren Hausdächer dem Auge moosig erschienen und vor der Zeit von den Wasserdünsten mit Schimmel überzogen waren, dann links nach der Südstadt sich zuwandte, so war das nächste Bauwerk, auf das er fiel, ein Haufen niedriger und umfangreicher Thürme: Klein-Châtelet, dessen gähnende Thorhalle an das Ende der Kleinen Brücke stieß; wenn dann der Blick des Beschauers das Ufer von Osten nach Westen, von La-Tournelle bis zum Nesle-Thurme überflog, traf er auf eine lange Häuserreihe mit geschnitztem Balkenwerke, buntfarbigen Fenstern, mit Stockwerken, die in die Straße heraustraten – ein unbegrenztes Zickzack von Bürgerhäusern, das häufig von der Mündung einer Straße, zeitweilig auch von der Front oder der Hinterseite eines großen steinernen Palastgebäudes unterbrochen wurde, das sich mit seinen Höfen und Gärten, Flügeln und Seitengebäuden mitten in diesem zusammengepreßten und dichten Häuserknäuel wie ein vornehmer Herr in einer Rotte Bauern spreizte. Fünf bis sechs dieser Palastgebäude standen am Quai, und zwar vom Lothringerhause an, das mit den Bernhardinern den großen Nachbarbezirk von La-Tournelle theilte, bis zum Palaste Nesle, dessen Hauptthurm das Terrain der Stadt Paris abgrenzte, und dessen spitze Dächer gewohnt waren, drei Monate des Jahres hindurch ihre dunkeln Giebelfelder von der rothglühenden Scheibe der Abendsonne vergoldet zu sehen.

Diese Seite der Seine zeigte übrigens von beiden den geringsten Handelsverkehr; die Studenten verursachten hier mehr Lärm und Gedränge, als die Gewerbetreibenden, und einen Quai gab es eigentlich nur von der Sanct-Michaelbrücke bis zum Nesle-Thurme. Der übrige Theil des Seineufers war theils nackter Strand, wie jenseits des Bernhardinerklosters, theils eine Häuserreihe, deren Grundmauern im Wasser standen, wie zwischen den beiden Brücken.

Großen Lärm verursachten hier die Wäscherinnen; sie schrien, schwatzten, sangen vom Morgen bis zum Abende am Ufer hin und klopften tüchtig die Wäsche, wie in unsern Tagen. Und diese Art Fröhlichkeit ist nicht die geringste in Paris.

Das Universitätsviertel war für das Auge ein Block. Es bildete von einem Ende bis zum andern ein gleichartiges und geschlossenes Ganze. Diese Tausende von dichtgedrängten, winkligen, aneinander klebenden, beinahe alle nach einer geometrischen Grundregel errichteten Dächer machten, aus der Höhe gesehen, den Eindruck einer Krystallisirung, die aus demselben Stoffe entstanden war. Das regellose Straßennetz zerriß diese Häusermasse nicht in so ungleiche Stücke. Die zweiundvierzig Hörsäle waren hier in ziemlich gleichmäßiger Weise vertheilt, und es gab deren hier überall. Die mannigfaltigen und interessanten Firste dieser schönen Gebäude waren das Erzeugnis der nämlichen Kunstrichtung, wie die schlichten Dächer, welche sie überragten, und im Grunde nichts weiter, als eine Wiederholung derselben geometrischen Figur in Quadrat- oder Kubikform. Sie variirten nämlich die Einheitlichkeit, ohne sie zu verwirren, bereicherten, ohne zu überladen; denn die Geometrie ist eine Harmonie. Einige schöne Hôtels erhoben hier und da ihre prächtigen Formen über die malerischen Dachstockwerke auf dem linken Flußufer: z.B. das Haus Nevers, das römische Haus, das Reimser Haus, die verschwunden sind, der Palast Cluny, welcher zum Troste jedes Künstlers noch vorhanden ist, und dessen Thurm man so thörichterweise vor einigen Jahren seines Helmes beraubt hat. Neben Cluny, diesem Palastbaue im romanischen Stile mit schönen Rundbogenformen, lagen die Thermen des Kaisers Julian. Dann befanden sich hier eine Menge Abteien von bescheidenerem Glanze und ernsterer Größe, die jedoch nicht weniger schön und vornehm, als die Palastbauten waren. Diejenigen, welche zuerst die Aufmerksamkeit erregten, waren die Berhardinerabtei mit ihren drei Thürmen; Sanct-Genoveva, deren heute noch vorhandener, vierkantiger Thurm das Verschwundene um so mehr bedauern läßt; dann die Sorbonne, halb Hörsaal halb Kloster, von dem das bewunderungswürdige Mittelschiff noch vorhanden ist; das schöne, vierflügelige Kloster der Mathuriner; 66 ferner dessen Nachbar: das Kloster des heiligen Benedict, in dessen Mauern man zwischen der siebenten und achten Auflage dieses Buches ein Theater zu eröffnen Veranlassung genommen hat; die Abtei der Franziskaner mit ihren drei ungeheuern, nebeneinander gestellten Giebeln; die der Augustinermönche, deren zierliche Zinne, nah dem Nesle-Thurme, das zweite reich durchbrochene Thurmgebäude, vom Westen aus gerechnet, auf dieser Seite von Paris bildete. Die Studiengebäude, die in Wirklichkeit ein Bindeglied zwischen Kloster und der Welt draußen bilden, hielten in ihrem anmuthigen Ernste, mit ihrer nicht so leichten Bildhauerarbeit, wie derjenigen der Palastbauten, und in ihrem weniger strengen Baustile, als dem der Klöster, die Mitte zwischen Bürgerhäusern und Abteien in der Gebäudereihe inne. Unglücklicherweise ist fast nichts mehr von diesen Baudenkmälern übrig, an denen die Gothik mit so viel Sicherheit Ueberfluß und Sparsamkeit verbunden hat. Die Kirchen (und sie waren glänzend und zahlreich im Universitätsviertel vorhanden, und gruppirten sich hier außerdem in allen Stilen der Baukunst von dem Rundbogen des heiligen Julian an bis zu den Spitzbogen des heiligen Severin), die Kirchen, sage ich, beherrschten das Ganze; und als eine weitere Harmonie in dieser einheitlichen Gesammtheit durchbrachen sie alle Augenblicke das vielfältige Zackenwerk von Spitzthurmzinnen, durchbrochenen Thürmen und frei aufsteigenden Helmen, deren Fluchtlinie auch nichts anderes, als eine prächtige Ueberfülle von spitzwinkligen Dächern war.

Der Boden des Universitätsviertels war hügelig. Der Sanct-Genovevaberg bildete hier im Südwesten einen mächtigen Zug, und es war, von der Höhe der Kirche Notre-Dame aus, interessant anzusehen, wie diese Menge enger und krummer Straßen (heute das »Lateinische Viertel«), diese Häuserklumpen, welche, nach allen Seiten von der Spitze des Höhenzuges ausliefen, sich regellos und fast senkrecht von den Bergseiten zum Flußufer hinabsenkten, wobei es den Anschein hatte, als ob einige hinunterstürzten, andere wieder in die Höhe kletterten, und alle sich aneinander klammerten. Ein fortwährendes Fluten zahlloser schwarzer Punkte, welche auf dem Pflaster durcheinander wogten, verursachte ein Drunter und Drüber vor den Blicken: es war die Bevölkerung der Stadt, die von der Höhe und in der Ferne gesehen, sich so ausnahm.

Endlich erblickte man in den Lücken zwischen diesen zahllosen Dächern, Zinnen und Häuservorsprüngen, welche die äußerste Fluchtlinie des Universitätsviertels in so eigenthümlicher Weise bogen, krümmten und unterbrachen, von Strecke zu Strecke ein mächtiges Stück moosige Mauer, einen dicken runden Thurm, ein Stadtthor mit Zinnen, welches die Festungsmauer bezeichnete: – es war die Mauer Philipp Augusts. Drüber hinaus grünten die Wiesen, liefen die Heerstraßen fort, an deren Seiten sich noch einige Vorstadthäuser hinzogen, die aber um so seltener wurden, je mehr sie sich entfernten. Einige dieser Vorstädte waren von Bedeutung: da war zunächst, seitwärts von La-Tournelle hin, der Flecken Saint-Victor mit seiner Bogenbrücke über die Bièvre, mit seiner Abtei, wo man die Grabschrift Ludwigs des Dicken ( epitaphium Ludovici Grossi) las, seiner Kirche mit dem achteckigen Thurme, der von vier Eckthürmchen aus dem elften Jahrhunderte flankirt wurde (man kann einen diesem ähnlichen in Etampes sehen; er ist noch nicht niedergerissen); dann der Flecken Saint-Marceau, der schon drei Kirchen und ein Kloster hatte; dann, wenn man die Bièvremühle mit ihren vier weißen Mauern links liegen ließ, kam man m die Vorstadt Sanct-Jacob mit dem schönen Kreuze aus gemeißeltem Steine am Kreuzwege; erblickte die hübsche Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas, die, damals im gothischen Stile erbaut, reizende Verzierungen aufwies; dann Saint-Magloire mit dem schönen Mittelschiffe aus dem vierzehnten Jahrhunderte, welches Napoleon in einen Heuboden verwandelte; endlich Notre-Dame-des-Champs, wo sich byzantinische Mosaiken befanden. Hatte man schließlich das Kloster der Karthäuser, ein reiches Bauwerk aus dem Jahrhunderte unseres Justizpalastes mit kleinen Beetgärten und den wenig besuchten Ruinen von Vauvert, im freien Felde liegen lassen, so fiel das Auge im Westen auf die drei im romanischen Stile gehaltenen Thürme von Saint-Germain-des-Prés. Der Flecken Saint-Germain, welcher schon eine große Gemeinde vorstellte, bildete fünfzehn bis zwanzig Hinterstraßen; der spitze Saint-Sulpicethurm bezeichnete eins der Enden des Fleckens. Ganz nahe unterschied man den vierseitigen Bereich des Marktplatzes von Saint-Germain, wo sich heute noch der Marktplatz befindet; dann den Pranger des Abtes, einen kleinen, hübschen runden Thurm, der durch ein kegelförmiges Bleidach entsprechend gekrönt wurde. Weiter davon lagen die Ziegelscheune, die Backhausstraße, welche nach dem Bezirksbackhause führte, dann die Mühle auf ihrem Hügel, schließlich das Spital, ein abseits gelegenes, kaum beachtetes Hauschen. Was aber den Blick vornehmlich auf sich zog und lange auf diesen Punkt fesselte, war die Abtei selbst. Unzweifelhaft ist, daß dieses Kloster, das nicht nur als Kirche, sondern auch als Lehnsherrschaft ein hohes Ansehen genoß, mit seinem Abteipalaste, in dem eine Nacht zu schlafen die Bischöfe von Paris sich glücklich schätzten, mit seinem Refectorium, dem der Baumeister das Ansehen, die Schönheit und die prachtvolle Rosette eines Münsters verliehen hatte, mit der hübschen Kapelle der heiligen Jungfrau, dem monumentalen Schlafsaale, den riesigen Gärten, mit seinem Fallgatter, seiner Zugbrücke, mit dem Kranze von Schießscharten, die dem Auge die ringsum grünenden Wiesen zeigten, mit seinen Hofräumen, in denen Gewappnete und goldstrotzende Chorgewänder durch einander schimmerten – dieses alles, das sich um drei hohe, im Rundbogenstile gebaute und auf gothischem Chore ruhende Thürme gruppirte, – dies alles, sage ich, machte unzweifelhaft am Horizonte ein prächtiges Bild.

Wenn man endlich, nach langer Betrachtung der Südstadt, sich dem linken Seineufer, der Altstadt, zuwandte, so nahm das Schauspiel plötzlich einen ganz andern Charakter an. Die Altstadt, in Wahrheit viel größer als das Universitätsviertel, war auch weit weniger ein Ganzes. Beim ersten Anblick sah man sie in mehrere, sonderbar getrennte Massen sich scheiden. Zunächst im Osten, in dem Theile der Stadt, welcher noch heutigen Tages seinen Namen von dem Moraste führt, in den Camulogenus den Cäsar hineinführte, befand sich ein Haufen palastartiger Gebäude. Diese Häusermasse erstreckte sich bis ans Ufer der Seine. Vier fast zusammenhängende Paläste: Iouy, Sens, Barbeau und das Haus der Königin, spiegelten ihre, von schlanken Thürmchen durchbrochenen Schieferdächer in der Seine. Diese vier Gebäude bedeckten die Strecke von der Straße Des-Nonaindières an bis zur Cölestinerabtei, deren Thurm sich zierlich über die Fluchtlinie ihrer Giebel und Zinnen erhob. Einige alte Hütten, die sich grünschimmernd vor diesen prächtigen Bauwerken zum Wasser hinneigten, wehrten dem Auge nicht, die schöngezierten Ecken ihrer Fanden, ihre großen, breiten Fensteröffnungen mit Steinkreuzen, ihre spitzbogigen und Statuen tragenden Thürhallen, ihre scharfkantigen, durchweg sauber behauenen Mauern und das ganze zierliche Tausenderlei der Baukunst zu schauen, das vornehmlich der gothischen Kunst den Anstrich giebt, als ob sie jeden Augenblick ihre Formverbindungen von frischem anfangen wolle. Hinter diesen Palastgebäuden lief nach allen Richtungen, theils getheilt, verpallisadirt und wie eine Citadelle mit Schießscharten versehen, theils wie eine Karthause hinter hohen Bäumen versteckt, die gewaltige und vielgestaltige Umfassungsmauer des bewunderungswürdigen Hôtels Saint-Pol hin, in dem die Könige von Frankreich zweiundzwanzig Prinzen vom Range des Dauphin und des Herzogs von Burgund nebst Dienerschaft und Gefolge mit aller Pracht beherbergen konnten, ohne die großen Barone, auch den Kaiser, wenn er Paris besuchte, und die Löwen mitzurechnen, welche besondere Unterkunft im königlichen Schlosse fanden. Es sei hier gleich bemerkt, daß eine fürstliche Wohnung zu damaliger Zeit aus nicht weniger denn elf Räumen, vom Prunkzimmer an bis zur Hauskapelle gerechnet, bestand, ganz zu geschweigen von den Corridoren, Badezimmern, Schwitzbädern und sonstigen »überflüssigen Räumlichkeiten«, mit denen jedes fürstliche Appartement versehen war; abgesehen von den besonderen Gärten jedes königlichen Gastes; nicht zu vergessen die Küchen, Vorratskammern, Anrichtezimmer, großen Speisesäle des Hauses, die Hinterhöfe, in denen sich, mit der Bäckerei und Hofkellerei, zweiundzwanzig Arbeitsräume befanden; ohne der Spielplätze aller Art für Lauf-, Ball- und Ringspiel, der Geflügelhäuser, Fisch- und Thierbehälter, der Pferde- und Kuhställe, der Bibliothekzimmer, der Rüstkammern und Gießereien Erwähnung zu thun. So war damals ein Königspalast, ein Louvre, ein Palast Saint-Pol beschaffen – eine kleine Stadt in der Altstadt. Von dem Thurme aus, wo wir uns befinden, betrachtet, gewährte der Palast Saint-Pol, wiewohl er hinter den vier großen Gebäuden, die wir soeben erwähnt haben, fast halb versteckt lag, einen noch sehr bedeutenden und wunderbaren Anblick. Man erkannte, trotz der geschickten Verbindung, welche Karl der Fünfte zwischen dem Hauptgebäude und seinem Palaste mittelst Glas- und Säulchengalerien hergestellt hatte, ganz deutlich drei einzelne Paläste in ihm: nämlich das Palais Petit-Musc mit der durchbrochenen Steinbalustrade, die das Dach so zierlich säumte; die Residenz des Abtes von Saint-Maur, welche mit ihrem großen Thurme, ihren Vertheidigungserkern, Schießscharten, den eisernen Bollwerken, mit dem Wappenschilde des Abtes über dem sächsischen Thore zwischen den Schränkbalken der Zugbrücke das Ansehen eines festen Schlosses hatte; endlich das Palais des Grafen von Etampes, dessen Wartthurm mit dem verfallenen Dache sich dem Auge so schartig wie ein Hahnenkamm darstellte. Hier und da sah man drei bis vier alte Eichen, die, gleich ungeheuern Blumenkohlköpfen, ein dichtes Ganzes bildeten; das Hin- und Hersegeln der Schwäne in den krystallenen Wogen der Fischteiche, die zwischen Dunkel und Licht sich hinstreckten; eine Reihe von Höfen, deren malerische Endseiten man erkannte; dann das Löwenhaus mit niedrigen Spitzbogen, die auf kurzen sächsischen Pfeilern ruhten, mit den eisernen Gittern und dem fortwährenden Gebrülle der Löwen; quer durch das Ganze hindurch den schuppenartig gedeckten Thurm der Ave-Maria-Kirche; zur Linken das Wohnhaus des Oberrichters von Paris mit seinen vier zierlich durchbrochenen Thürmchen auf den Ecken; endlich in der Mitte, im Hintergrunde, den eigentlichen Palast Saint-Pol mit den zahlreichen Façaden, den seit Karls des Fünften Zeit ununterbrochen folgenden Ausschmückungen, mit den bastardartigen Auswüchsen, durch die ihn die Phantasie der Baumeister seit zwei Jahrhunderten überladen hatte, mit allen Chorbauten seiner Kapellen, allen Zinnen seiner Galerien, den zahllosen Wetterfahnen nach allen vier Winden und mit den beiden hohen, dicht aneinanderstoßenden Thürmen, deren kegelförmiges, am Rande mit Schießscharten rings eingefaßtes Dach ihnen das Ansehen von spitzen Hüten gab, deren Krempe aufwärts gebogen ist.

Richtete sich das Auge dann weiter auf die Galerien dieses Palastamphitheaters, das sich weithin über den Boden erstreckte, so traf es, nachdem der Blick ein tiefes, das Häusermeer der Altstadt durchziehendes Thal überflogen hatte, welches den Lauf der Straße Saint-Antoine bezeichnete, auf das Haus Angoúlême, einen Ungeheuern Bau aus verschiedenen Zeitperioden, in dem sich ganz neue und glänzend helle Theile zeigten, welche sich in diesem Ganzen kaum anders, denn ein rother Flicklappen auf einem blauen Wamms ausnahmen. Das merkwürdig spitze und hohe Dach des neuen Palastbaues jedoch, das von Wasserrinnen in getriebener Arbeit übersäet und mit Bleiplatten gedeckt war, über die sich in tausendfachen phantastischen Arabesken funkelnde Zieraten aus vergoldetem Kupfer schlängelten – dieses sonderbar damascirte Dach, sage ich, erhob sich voll Anmuth mitten aus den dunkeln Ruinen des alterthümlichen Bauwerkes, dessen alte dicke Thürme durch die Zeit wie Tonnen ausgebaucht, in sich selbst vor Alter zusammensinkend und von oben bis unten geborsten, dicken, vollgepfropften Bäuchen glichen. Dahinter erhob sich der Thurmspitzenwald der Parlamentsgerichtsgebäude. Einen ähnlichen Anblick gab es in der ganzen Welt nicht: weder Chambord 67 noch die Alhambra boten etwas Zauberhafteres, Luftigeres, Wunderbareres, als diesen Wald von Thurmspitzen, Eckthürmchen, Kaminen, Wetterfahnen, von Spiral- und Schneckenformen, Lichtschlotthürmchen, die mit dem Locheisen ausgestanzt schienen, von Pavillons, von Spindelkuppeln, oder, wie man sie damals nannte, von »Thürmchen«, die alle an Gestalt, Höhe und Stellung verschieden waren. Man hätte das Ganze ein riesenhaftes Schachbrett nennen können.

Rechts von den Parlamentsgerichtsgebäuden sehen wir jene Verbindung ungeheurer, düsterschwarzer Thürme, die sich einer an den andern drängen und gleichermaßen von einem Zirkelgraben eingeschnürt sind; jenen weit mehr von Schießscharten als von Fenstern durchbrochenen Vertheidigungsthurm, jene beständig erhobene Zugbrücke, jenes immer geschlossene Fallgatter: – es ist die Bastille. Diese Sorte schwarzer Schlünde dort, die zwischen den Zinnen hervorspringen und man von weitem für Dachrinnen halten könnte, sind Kanonen. In ihrem Bereiche, am Fuße des furchtbaren Gebäudes, da liegt, versteckt zwischen seinen beiden Thürmen, das Thor Saint-Antoine.

Jenseits des Parlamentsgerichtes, bis zur Mauer Karls des Fünften hin, breitete sich mit reichen Rasen- und Blumenbeeten ein Sammetteppich von Gartenanlagen und königlichen Parks aus, in deren Mitte man an seinem Labyrinthe von Bäumen und Alleen den berühmten Garten Dädalus erkannte, den Ludwig der Elfte dem Doctor Coictier geschenkt hatte. Die Sternwarte des Doctors erhob sich über die Irrgänge des Gartens wie eine hohe, einzeln stehende Säule, die ein kleines Haus als Capital hatte. In diesem Studirzimmer haben sich schreckliche Sterndeutergeschichten zugetragen.

Hier liegt heutzutage die Place Royale. Wie bereits gesagt worden ist, füllte das Palastviertel, von dem wir dem Leser eine Idee damit zu geben versucht haben, daß wir wenigstens der hervorstechendsten Punkte Erwähnung thaten, den Winkel, welchen die Mauer Karls des Fünften mit der Seine im Osten bildete. Das Centrum der Nordstadt war mit einem Haufen von Bürgerhäusern besetzt. Hier mündeten in Wahrheit die drei Brücken der Altstadt auf das rechte Seineufer, und Brückenplätze lassen eher Häuser als Paläste entstehen. Dieser Haufen von Bürgerwohnungen, die wie die Wabenzellen in einem Bienenstocke aneinander klebten, hatte auch seine Schönheiten. Mit den Hausdächern einer Hauptstadt ist es, wie mit den Wogen des Meeres: beide sind großartig. Zunächst die Straßen. In ihrer Durchkreuzung und ihrem Gewirre bildeten sie, im Ganzen gesehen, Hunderte von allerliebsten Figuren; rings um die Markthallen herum boten sie das Bild eines Sternes mit zahllosen Strahlen. Die Straßen Saint-Denis und Saint-Martin stiegen mit ihren unzähligen Abzweigungen wie zwei mächtige Bäume, die ihre Zweige verschränken, nach einander in die Höhe, und dann schlängelten sich die Straßen de-la-Plâtrerie, de-la-Berrerie, de-la-Tixeranderie u.s.w. als gewundene Linien über das Ganze hinweg. Auch fanden sich schöne Gebäude, welche über das versteinerte Gewoge dieses Giebelmeeres hervorragten. Am Kopfe der Wechslerbrücke, hinter welcher man die Seine unter den Rädern der Müllerbrücke schäumen sah, lag das Châtelet, nun kein römisches Castell mehr, wie zu Julian des Abtrünnigen 68 Zeit, sondern ein Thurm aus der Feudalperiode des dreizehnten Jahrhunderts und aus solch hartem Steine erbaut, daß die Spitzhacke nicht ein faustgroßes Stück in drei Stunden von ihm loszuschlagen vermochte. Ferner erblickte man den prächtigen, viereckigen Thurm von Saint-Jacques-de-la-Boucherie, dessen Ecken sich ganz in Steinmetzarbeiten abrundeten, und der sich damals schon bewunderungswürdig ausnahm, wiewohl er im fünfzehnten Jahrhunderte noch nicht beendet war. (Es fehlten ihm besonders diese vier Ungethüme, welche noch heutigen Tages auf seinen Dachwinkeln ruhend, das Aussehen von vier Sphinxen haben, die dem neuen Paris das Geheimnis des alten zu errathen geben. Rault, der Bildhauer, stellte sie erst 1526 dorthin, und er erhielt zwanzig Franken für seine Arbeit). Weiter fand sich da das Säulenhaus, das sich nach jenem Grèveplatz öffnete, von dem wir dem Leser eine Vorstellung gegeben haben; dann die Kirche Sanct-Gervais, die seitdem durch ein Portal im »guten Stile« verhunzt worden ist; ferner Saint-Méry, dessen alte Spitzbogenwölbungen noch fast romanische Rundbogen zeigten; auch Sanct-Johannes, dessen prachtvoller Spitzthurm sprichwörtlich war; dazu kamen noch zwanzig andere Baudenkmäler, die etwas Besseres verdienten, als ihre Schönheitswunder in diesem Chaos von schwarzen, engen und langgezogenen Straßen zu verstecken. Hierzu denke man sich die Kruzifixe aus gemeißeltem Stein, die an den Straßenkreuzungen zahlreicher verschwendet waren, als die Galgen; dann den Kirchhof Des-Innocents, dessen architektonische Umfassungsmauer man über die Dächer hinweg in der Ferne bemerkte; weiter den Pranger der Markthallen, dessen Zinne man zwischen zwei Schornsteinen der Straße de-la-Cossonnerie hindurch erblickte; dann die Treppe zur Croix-du-Trahoir, die an ihrer Straßenecke immer schwarz von Bevölkerung war; die kreisförmig laufenden Mauern der Getreidehalle; weiter die Reste der alten Einfassungsmauer Philipp Augusts, die man, als in die Häuser eingebaut, noch hier und da unterschied; Thürme, die vom Epheu gesprengt waren; eingestürzte Pforten; Flächen von verfallenen und niedergerissenen Mauern; endlich den Quai mit seinen tausend Marktbuden und blutigen Schindergruben; schließlich die mit Kähnen bedeckte Seine vom Heulandungsplatze an bis zum Bischofsgerichtshause – und man wird eine blasse Idee von dem erhalten, was im Jahre 1482 das innere Rechteck der Altstadt von Paris vorstellte.

Außer diesen beiden Stadtvierteln: dem der Paläste und dem der Bürgerhäuser, erschien als dritter Punkt in dem Bilde, welches die Altstadt darbot, ein langer Gürtel von Abteien, der diesen Stadttheil fast in seinem ganzen Umkreise von Osten bis zum Westen umspannte, und im Rücken der Befestigungsmauer, welche Paris einschloß, diesem eine zweite, innere, aus Klöstern und Kapellen bestehende Umfriedigung gab. So befand sich unmittelbar neben dem Parke des Parlamentsgerichts, zwischen der Straße Saint-Antoine und der alten Templerstraße, das Kloster der Heiligen Katharina mit seinen ungeheuern Gartenanlagen, die nur durch die Festungsmauer von Paris abgegrenzt wurden. Zwischen der alten und neuen Templerstraße lag der Tempel, eine finstere Gruppe hoher Thürme, die mitten in einem umwallten Platze isolirt in die Höhe stiegen. Zwischen der neuen Templerstraße und der Straße Saint-Martin lag inmitten seiner Gärten die Abtei Saint-Martin, eine Prächtige und feste Kirche, deren Bastionenwall, deren Krone von Glockentürmen hinsichtlich ihrer Stärke und Pracht nur denen von Saint-Germain-des-Prés nachstanden. Zwischen den beiden Straßen Saint-Martin und Saint-Denis breitete sich der Bezirk des Dreifaltigkeitsklosters aus, endlich zwischen der Straße Saint-Denis und der Straße Montorgueil derjenige des Klosters Filles-Dieu. Seitwärts davon unterschied man die niedrigen Dächer und die verfallene Umfassungsmauer des Wunderhofes. Er war das einzige profane Glied, welches sich in diese heilige Kette von Klöstern einreihte.

Als vierter Gesichtspunkt endlich, der augenfällig aus der Häusergruppe des rechten Seineufers heraustrat und den westlichen Winkel der Stadtmauer und das Flußufer stromab ausfüllte, zeigte sich ein neuer Knäuel von Palästen und dichtgedrängten Hotels um den Louvre herum. Der alte Louvre Philipp Augusts, jenes riesengroße Gebäude, dessen ungeheurer Mittelthurm dreiundzwanzig Hauptthürme, die kleinen Thürme gar nicht gerechnet, um sich vereinigte, – dieses Gebäude, sage ich, erschien von weitem wie eingekeilt in die gothischen Dachstockwerke der Palais d’Alençon und Petit-Bourbon. Diese Hyder von Thürmen, diese Riesenwächterin von Paris mit ihren vierundzwanzig stets erhobenen Köpfen, ihren Ungeheuern, mit Blei- oder Schieferplatten gedeckten Dachfirsten, die ganz im metallischen Glänze schimmerten, schlossen in überraschender Weise das Bild der Nordstadt nach Westen ab.

Um es noch einmal zu wiederholen: eine ungeheuere Masse von Bürgerhäusern – die Römer bezeichneten das mit insula – nach rechts und links von zwei Palastgevierten in den Seiten gedeckt und auf der einen Seite vom Louvre, auf der andern vom Parlamentsgerichte gekrönt, im Norden von einer langen Reihe Abteien und bebauten Feldern begrenzt, und das Ganze für das Auge versteckt oder im bunten Gemisch; über diesen Tausenden von Gebäuden, deren Ziegel- und Schieferdächer so lange und bizarre Reihen bildeten, die buntfarbigen, kunstvoll gedeckten Glockenthürme der vierundvierzig Kirchen des linken Seineufers ragend; zahllose Straßen mitten hindurch oder als Grenze, auf einer Seite die Einfriedigung aus hohen, mit viereckigen Thürmen besetzten Mauern (im Universitätsviertel waren die Thürme rund); auf der andern Seite die überbrückte und von zahllosen hinsegelnden Kähnen durchschnittene Seine – das war die Nordstadt im fünfzehnten Jahrhunderte.

Jenseits der Mauern drängten sich einige Vororte an die Thore, jedoch in geringerer Anzahl und mehr vereinzelt, als diejenigen vor dem Universitätsviertel. Hinter der Bastille lagen zusammengekauert zwanzig Hütten um die merkwürdigen Steinmetzarbeiten von Croix-Faubin und um die Strebepfeiler der Abtei Saint-Antoine-des-Champs; ferner Popincourt in Getreidefeldern versteckt; dann La Courtille, ein freundliches Dorf voll Wirthshäuser; der Flecken Saint-Laurent mit seiner Kirche, deren Glockenturm sich von fern den Spitzthürmen des Thores Saint-Martin anzuschließen schien; weiter erblickte man den Vorort Saint-Denis mit dem großen Bezirke von Saint-Ladre; vor dem Thore Montmartre den Flecken Grange-Batelière von weißen Mauern eingeschlossen; hinter ihm Montmartre mit seinen Kreidebergen, das damals fast ebenso viel Kirchen als Mühlen besaß, und das nur die Mühlen bewahrt hat; denn die bürgerliche Gesellschaft trägt heute nur mehr nach dem leiblichen Brote Verlangen. Endlich sah man jenseits des Louvre, in den Auen, den Vorort Saint-Honoré sich hinziehen, der damals schon sehr beträchtlich war; dann die grünenden Gefilde von Petite-Bretagne und Marché-aux-Pourceaux sich erstrecken, in dessen Mitte sich der fürchterliche Glühofen erhob, in welchem die Falschmünzer gesotten wurden. Zwischen den Ortschaften La-Courtille und Saint-Laurent hatte das Auge auf der Spitze einer über einsame Gefilde sich hinziehenden Anhöhe schon eine Art Bauwerk gesehen, welches in der Ferne einer verfallenen Säulenhalle glich, die auf schadhafter Grundmauer sich erhob, – doch war es weder ein Parthenon, noch ein Tempel des olympischen Zeus: – es war Montfaucon. 69

Wenn nun aber bei Aufzählung so vieler Baudenkmäler – von denen übrigens hier nur ein Ueberblick gegeben sein sollte – das Gesammtbild des alten Paris im Geiste des Lesers, und in dem Maße, wie wir es entrollten, nicht verwischt worden ist, so wollen wir es in wenigen Worten noch einmal wiederholen. In der Mitte liegt die Insel der Altstadt, welche in ihrer Gestalt einer Riesenschildkröte gleicht und die schuppigen Ziegelsteinbrücken wie Beine unter ihrem grauen Dächerrückenpanzer hervortreten läßt. Zur Linken sehen wir das aus einem einzigen Steinblocke bestehende, feste, dichte, vollgepfropfte Rechteck der Südstadt; zur Rechten den weiten Halbkreis der Nordstadt, weit mehr ein Gemenge von Gärten und Baudenkmälern. Die drei Häuserblöcke: Altstadt, Südviertel und Nordviertel, sind von zahllosen Straßen durchadert. Mitten hindurch in ihrer ganzen Länge die Seine, »die nahrungspendende Seine«, wie sie Pater Du Breul nennt, und in ihrem Laufe von Inseln, Brücken und Fahrzeugen gesperrt. Rings herum eine immense Ebene, zusammengeflickt aus tausenderlei verschiedenen Feldern und übersäet mit schönen Dörfern; zur Linken Issy, Vanves, Baugirard, Montrouge und Gentilly mit seinem runden und seinem viereckigen Thurme u. s. w.; zur Rechten zwanzig andere Ortschaften von Conflans an bis zu Ville-l’Eveque. Am Horizonte erblickt das Auge eine Hügelkette, die wie der Rand eines Wasserbeckens im Kreise sich herumzieht. In der Ferne, nach Osten zu, sieht man schließlich Vincennes und seine sieben viereckigen Thürme; südlich Bicetre mit seinen spitzen Thürmchen; nördlich Saint-Denis und seine ragende Thurmspitze; zuletzt im Westen Saint-Cloud mit seiner Warte. Das ist das Paris, auf welches die Dohlenschwärme im Jahre 1482 von den Dächern der Kirche Notre-Dame herabsahen.

Und von dieser Stadt hat dennoch Voltaire behauptet, daß sie »vor der Zeit Ludwigs des Vierzehnten nur vier bedeutende Baudenkmäler besessen habe«, nämlich: das Kuppeldach der Sorbonne, Val-de-Grace, den neuen Bau des Louvre und ich weiß nicht mehr das vierte, wenn ich mich recht erinnere, das Palais Luxembourg. Glücklicherweise hat Voltaire bei alledem seinen »Candide« geschaffen und ist trotzdem unter allen Männern, die in der langen Kette des menschlichen Daseins einander gefolgt sind, derjenige, welcher das diabolische Lachen der Ironie am meisten besessen hat. Das beweist übrigens, daß man ein herrliches Genie sein und eine Kunst nicht verstehen kann, für die man keine Empfindung hat. Glaubte Molière nicht einem Raphael und Michel Angelo viel Ehre dadurch zu erweisen, daß er sie »diese Mignards 70 ihres Zeitalters« nannte?

Doch wir wollen zu Paris und zum fünfzehnten Jahrhunderte zurückkehren.

Damals war Paris nicht nur eine schöne Stadt, es war auch eine Stadt von einheitlichem Charakter, ein Product der mittelalterlichen Baukunst und Geschichte, eine steinerne Chronik. Es war eine Stadt, die erst aus zwei Schichten gestaltet war: der romanischen und der frühgothischen; denn die römische Schicht war längst nicht mehr zu finden, mit Ausnahme an den Bädern Kaiser Julians, an denen sie noch aus der dicken Deckschicht des Mittelalters hervorbrach. Was die keltische Schicht betraf, so fanden sich selbst beim Brunnengraben keine Ueberreste mehr von ihr vor.

Fünfzig Jahre darauf, als die Renaissance mit dieser strengen und doch so vielgestaltigen Einheit den phantastisch-blendenden Reichthum ihrer Formensysteme, den kühnen Schwung ihrer romanischen Rundbogenformen, griechischen Säulenordnungen und spätgothischen Bogenspannungen, ihre anmuthige und doch so ideale Sculptur, die eigenthümliche Neigung für Arabesken und Laubverzierungen, den heidnischen Baustil im Zeitalter eines Luther zu verbinden begann, da war Paris vielleicht noch prächtiger, wenn auch nicht so harmonisch für Auge und Sinn. Aber dieser prächtige Zeitpunkt ging bald vorüber: die Renaissance wurde vorherrschend; sie begnügte sich nicht mehr damit, Bauwerke aufzuführen, sie wollte solche auch niederwerfen; wahr ist, daß sie Platz gebrauchte. Deshalb konnte Paris nur vorübergehend seinen gothischen Charakter bewahren. Kaum hatte man die Kirche Samt-Jacques-de-la-Boucherie vollendet, als auch die Schleifung des alten Louvre begann.

Seitdem hat die gewaltige Stadt angefangen, sich von Tag zu Tag zu verändern. Das Paris im gothischen Stile, unter welchem das romanische Paris verschwand, ist seinerseits vertilgt worden: aber wer kann sagen, was für ein Paris an seine Stelle getreten ist?

Das Paris aus der Zeit Katharinens von Medici erkennt man an den Tuilerien; 71 das Paris aus Heinrichs des Zweiten Zeit am Rathhause: Beides Gebäude in einem noch großartigen Stile; das Paris aus der Zeit Heinrichs des Vierten ersieht man an der Place Royale, an den backsteinernen Fronten mit Hartsteinecken und Schieferdächern – an den dreifarbigen Häusern; das Paris Ludwigs des Dreizehnten an Val-de-Grace mit seiner erdrückten und untersetzten Bauart, den korbhenkelartigen Wölbungen, die, ich weiß nicht, so was Bauchiges in der Säulenform und Buckliges in der Kuppeldachung haben; ferner das Paris Ludwigs des Vierzehnten im großen, reichen, goldstrotzenden und frostigen Invalidenhause; das Paris Ludwigs des Fünfzehnten in der Kirche Saint-Sulpice mit ihren Schneckenspiralen, Bänderknoten, Wolkenformen, Fadennudelverzierungen und Cichorienkrautputz – alles in Stein gemeißelt; das Paris Ludwigs des Sechzehnten im Panthéon, der schlecht copirten Sanct-Peterskirche in Rom (das Gebäude hat sich schief gesackt, und die Linienformen haben das nicht besser gemacht); weiter das Paris der Republik erkennt man im Gebäude der Arzneischule, einem traurigen Mischmasch aus griechischem und römischen Stile, das dem Colosseum oder dem Parthenon ähnelt, wie die Verfassung des Jahres III den Gesetzen des Minos, – in der Architektur nennt man diesen Stil »den Messidor-Stil«; 72 das Paris Napoleons erkennt man an der Place Vendôme: dieses ist erhaben – eine bronzene Säule, die aus Kanonen hergestellt ist; das Paris der Restauration endlich an der Börse, einer blendend weißen Säulenhalle, die einen völlig glatten Fries trägt, – das Ganze ein Viereck, welches zwanzig Millionen gekostet hat.

An jedes dieser eigenartigen Baudenkmäler schließt sich, zufolge einer Gleichförmigkeit des Stiles, der Form und der Stellung, eine bestimmte Häusermenge an, die in verschiedenen Stadtvierteln zerstreut liegen und welche das Auge des Kenners leicht unterscheidet oder nach ihrem Alter bestimmt. Wer zu sehen versteht, findet den Geist eines Jahrhunderts und die Physiognomie eines Königs selbst in der Form eines Thürklopfers wieder.

Das jetzige Paris hat demnach keinen allgemeinen Stilcharakter. Es ist eine Mustersammlung aus mehreren Jahrhunderten, und die schönsten dieser Muster sind verschwunden. Die Hauptstadt vergrößert sich nur in der Häuserzahl, und in was für Häusern! Wenn es mit Paris so fortgeht, wird es sich alle fünfzig Jahre erneuern. Daher verschwindet die historische Bedeutung seiner Bauweise täglich. Die Baudenkmäler werden hier immer seltener, und es scheint, daß man zusieht, wie sie, in der Häusermenge verschwindend, nach und nach verschlungen werden. Unsere Väter besaßen ein Paris aus Stein, unsere Kinder werden eins aus Gyps bekommen.

Was die neuern Baudenkmäler des gegenwärtigen Paris betrifft, so wollen wir uns gern bescheiden, ein Wort darüber zu verlieren. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß wir ihnen nicht die Bewunderung zollten, die sich schickt. Die Sanct-Genoveva-Kirche Soufflots ist jedenfalls die schönste Christstolle, die man jemals in Stein hergestellt hat. Der Palast der Ehrenlegion ist gleichfalls ein sehr bemerkenswertes Kunstwerk der Pastetenbäckerei. Die Kuppel der Getreidemarkthalle sieht wie eine englische Jockeimutze auf einer hohen Leiter aus. Die Thürme von Saint-Sulpice sind zwei riesige Clarinetten, und das ist so gut eine Form, wie jede andere: der Telegraph in seinem schiefen Zickzack bildet eine angenehme Abwechslung auf ihren Dächern. Saint-Roch besitzt ein Portal, das sich hinsichtlich der Pracht nur mit dem von Sanct-Thomas von Aquino vergleichen läßt. Jenes nennt auch eine Schädelstätte mit Statuen in einer Kellergruft und eine Monstranz aus vergoldetem Holze sein Eigenthum. Völlig wunderbare Dinge sind da noch zu nennen. Der Lichtschlotthurm im Labyrinthe des botanischen Gartens ist auch sehr genial ausgedacht. Was den Börsenpalast betrifft, welcher griechische Formen in seiner Säulenhalle, romanische in der Rundbogenform seiner Eingänge und Fenster, solche aus der Renaissance in seiner großen Korbhenkelwölbung aufweist, so ist dieser doch unzweifelhaft ein sehr regelrechtes und in wirklich reinem Stile gehaltenes Baudenkmal: Beweis dafür, daß es von einer Attika 73 gekrönt ist, wie man solche nicht in Athen sah – eine hübsche schnurgerade Linie, die hier und da zierlich von Ofenschloten unterbrochen ist. Vergegenwärtigen wir uns nun, daß, wenn es als Regel gilt, daß die Bauart eines Gebäudes seiner Bestimmung in der Weise entspricht, wie der Zweck obigen Bauwerkes sich beim bloßen Anblicke von selbst enthüllt, so braucht man sich nicht allzusehr über ein Gebäude zu wundern, das ebensowohl ein Königspalast wie ein Volksrepräsentantenhaus, Rathhaus, Gymnasium, eine Reitschule, Akademie, ein Lagerhaus, Gerichtshof, Museum, eine Kaserne, ein Mausoleum, ein Tempel oder ein Theater sein kann. Indessen ist es ein Börsengebäude. Ein Baudenkmal muß außerdem dem Klima angepaßt sein. Dieses ist augenscheinlich und im Hinblick auf unsern kalten und regnerischen Himmel aufgeführt. Es hat nach Art der orientalischen Häuser ein fast plattes Dach, weshalb es geschieht, daß man im Winter, wenn’s schneit, das Dach fegt; und es ist ja sicher, daß ein Dach errichtet wird, um gefegt zu werden. Was jenen Zweck betrifft, von dem wir soeben gesprochen haben, so erfüllt es ihn in merkwürdiger Weise: es ist Börsengebäude in Frankreich, wie es Tempel in Griechenland gewesen wäre. Wahr ist, daß der Baumeister Mühe genug gehabt hat, das Zifferblatt der Uhr zu verbergen, welches die Reinheit der schönen Linien an der Façade beeinträchtigt hätte; aber als Ersatz hat man ja jene Säulenhalle dafür, die rings um das Gebäude sich herumzieht und unter welcher man an hohen kirchlichen Festtagen sich in würdiger Weise das Geheimnis der Börsensensale und Waarenmäkler deutlich machen kann.

Wir haben hier also ohne jeden Zweifel sehr prächtige Baudenkmäler. Bringen wir die Fülle schöner, unterhaltender und mannigfaltiger Straßen, wie die Rue de Rivoli, damit in Verbindung, so zweifle ich nicht, daß Paris, aus einem aufsteigenden Ballon gesehen, dem Auge jenen Reichthum an Linien, jenen Ueberfluß an Einzelnheiten, jene Mannigfaltigkeit an Bildern, jenes eigentümlich Großartige in der Einfachheit und Ueberraschende in der Schönheit bietet, welches ein Damenbrett kennzeichnet.

So bewunderungswürdig Euch das heutige Paris bei alledem erscheinen mag, so ruft Euch das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts zurück, bauet es im Geiste wieder auf, blickt am Tage durch jene überraschende Reihe von Thurmspitzen, Kirch- und Glockenthürmen; gießet mitten in der ungeheuern Stadt die Seine mit ihren breiten, grünen und gelblichen Lachen aus, die dadurch schillernder als eine Schlangenhaut erscheint; theilt sie an der Spitze der Inseln; kräuselt sie unter den Bogen der Brücken; sondert das gothische Profil dieses alterthümlichen Paris zierlich auf einem azurnen Horizonte ab; lasset seinen Umriß in einem Winternebel, der sich an die zahllosen Schornsteine heftet, wogen; taucht die Stadt in eine tiefe Nacht und betrachtet das sonderbare Spiel von Finsternis und Licht in diesem düstren Häuserlabyrinthe; laßt einen Mondstrahl darauf fallen, der es undeutlich abgrenzt und die großen Thurmknöpfe aus dem Nebel hervortreten läßt; oder wiederholt diesen nächtlichen Schattenriß noch einmal, frischet die Tausende von spitzen Winkeln der Thurmdächer und Häusergiebel mit Schatten auf; lasset ihn auf dem kupferfarbigen Abendhimmel zackiger als eine Haifischkinnlade hervortreten: – und dann vergleichet!

Und wenn Ihr von der alten Stadt einen Eindruck haben wollt, wie ihn Euch die neue nicht mehr zu geben vermag, so steiget am Morgen eines hohen Festes, eines Oster- oder Pfingsttages mit Sonnenaufgang auf irgend einen erhabenen Punkt, von dem aus Ihr die ganze Stadt beherrschen könnt, und vernehmet den Weckruf des Glockengeläutes. Sehet, auf ein vom Himmel kommendes Zeichen, – denn die Sonne giebt es – diese tausend Kirchen auf einmal erbeben. Zuerst sind es vereinzelte Klänge, die von einer Kirche zur andern stiegen, wie wenn sich Musiker Zeichen geben, daß man anfangen will. Dann plötzlich sehet (denn in gewissen Augenblicken scheint auch das Ohr sein Gesicht zu haben), sehet es sich im nämlichen Augenblicke von jedem Thurme wie eine Tonsäule, wie eine Harmoniewolke erheben. Anfangs steigt die Schwingung jeder Glocke gerade, rein und gleichsam von den andern isolirt, zum glänzenden Morgenhimmel empor; dann vereinigen sie sich nach und nach anschwellend, vermischen sie sich mehr und mehr, verbinden sie sich eine mit der andern und verschmelzen zu einem grandiosen Concerte. Jetzt ist es nur noch eine Tonmasse von wohllautenden Schwingungen, die unaufhörlich von den zahllosen Thürmen aufsteigt, die dahinflutet, wogt, hüpft, über die Stadt hinwirbelt und weit über den Horizont hinaus den Kreis seiner betäubenden Schwingungen dahinsendet. Doch ist dieses Meer von Harmonien durchaus kein Chaos. So gewaltig und tief es sein mag, hat es doch seine Durchsichtigkeit nicht verloren: Ihr sehet darin jede Notengruppe für sich einzeln hervorschwirren und aus dem Glockengeläute sich loslösen. Dabei könnt Ihr ein Duett zwischen Baßglocke und Glöckchen vernehmen, das abwechselnd dumpf und kreischend! ertönt; Ihr sehet da die Octavgänge von einem Thurme zum andern schnellen; sehet sie geflügelt, leicht und sausend sich von der Silberglocke emporschwingen, schwerfällig und dumpf aus der hölzernen Glocke herausfallen; Ihr bewundert in ihrer Fülle die reiche Scala, welche unaufhörlich in den sieben Glocken von Saint-Eustache auf- und abläuft; mitten durch ihre Klänge sehet Ihr helle und stürmische Tongänge laufen, welche drei oder vier glänzende Zickzacks bilden und wie Blitzstrahle verschwinden. Da unten die markerschütternde, kreischende Sängerin, das ist die Abtei Sanct-Martin, hier die widerwärtige und mürrische Stimme der Bastille, am andern Ende der mächtige Thurm des Louvre mit seiner Barytonglocke. Das Glockenspiel des königlichen Palastes wirft unablässig nach allen Seiten hin glänzende Triller hinaus, zwischen welche im gleichen Tempo die schweren Schläge der Sturmglocke von Notre-Dame einfallen, ähnlich den Schlägen des Hammers auf den funkensprühenden Ambos. In Zwischenräumen vernehmt Ihr Töne aller Art hindurchklingen, die von den drei Glocken der Kirche Saint-Germain-des-Prés herrühren; dann theilt sich auch von Zeit zu Zeit die Flut grandioser Töne und giebt dem Finale der Ave-Mariakapelle Raum, das wie eine Sternfeuergarbe blitzend hindurchbricht. Unter ihm, in der tiefsten Tiefe des Tönegewoges, unterscheidet Ihr den Gesang im Innern der Kirchen, der durch die Oeffnungen ihrer zitternden Wölbungen dringt. – Wahrlich, es ist das eine Oper, die anzuhören sich der Mühe verlohnt. Gewöhnlich ist es das Getöse, welches aus Paris am Tage hervordringt; das ist die Stadt, welche redet; nachts ist das die Stadt, welche athmet: hier ist es die Stadt, welche singt. Leihet also diesem Glocken-Tutti das Ohr, vertheilet über dieses Ensemble das Gemurmel von einer halben Million Menschen, das beständige Klagelied der Flußwogen, das endlose Rauschen des Windes, das ferne und tiefe Quartett der vier Wälder, die über die Hügel am Horizonte ausgebreitet liegen wie ungeheure Orgelpositive; dämpfet in diesem Ganzen, wie in einem Gemälde durch Halbfärbung, alles das, was an diesem Geläute ringsherum zu rauh und schreiend sein könnte, und dann gestehet, ob Ihr in der Welt etwas Reicheres, Entzückenderes, Glänzenderes und Blendenderes kennt, als dieses Geläute und Glockengetös, als diesen Musikfeuerstrom, als diese zehntausend erzenen Stimmen, die auf einmal in den dreihundert Fuß hohen Steinflöten singen; als diese Stadt, die jetzt nur ein Orchester ist; als diese Symphonie, welche das Getöse eines Sturmes erzeugt!

  1. [Wortspiel: Die Umfriedung von Paris macht Paris unzufrieden.]
  2. [Name des peinlichen Parlamentsgerichtes.]
  3. [Name eines Schlosses an der Seine.]
  4. [Die Bäder des römischen Kaisers Julian, von denen heute noch Ueberreste im Hotel Cluny vorhanden sind. Anm. d. Übers.]
  5. [Name eines Gebäudes mit den Hörsälen der theologischen Facultät.]
  6. [Die Studentenwiese ( Pré aux clercs), jetzt der Platz, wo der Faubourg Saint-Germain liegt, war Fecht- und Tummelplatz der Studenten im alten Paris. Anm. d. Übers.]
  7. [ Lateinisch: Den Bürgern hat die Treue gegen die Könige, die zeitweilig jedoch durch Aufstände gestört wurde, viele Vorrechte verschafft.]
  8. [Im Original: le marché Palus, der Marktplatz im Moore, jetzt le Marais, Name eines Quartiers im heutigen Paris. Anm. d. Uebers.]
  9. [Der Mathuriner-Orden war ein Mönchsorden des zwölften Jahrhunderts, der sich die Loskaufung gefangener Christensklaven zur Aufgabe gestellt hatte. Anm. d. Uebers.]
  10. [Name des bekannten Dorfes (Departement Loir-et-Cher) mit weltberühmtem Schlosse, Stammsitz des bourbonischen Prätendenten Grafen Heinrich V († 1883 zu Frohsdorf). Anm. d. Uebers.]
  11. [Julian der Abtrünnige ( Apostata), römischer Kaiser (361-63 nach Chr. Geb.), trat vom Christenthume wieder zum Heidenthume über. Anm. d. Uebers.]
  12. [Name des berüchtigten Richtplatzes mit zahlreichen steinernen Galgen, an der Stelle eines keltischen Druidentempels. Anm. d. Uebers.]
  13. [Pierre Mignard, seiner Zeit berühmter französischer Maler († 1695), Zeitgenosse Molière’s. Anm. d. Uebers.]
  14. [Wir haben mit einem aus Schmerz und Unwillen gemischten Gefühle gesehen, wie man damit umging, diesen wunderbaren Palast zu erweitern, umzugestalten und immer wieder anzugreifen, das heißt zu vernichten. Die Baumeister unserer Tags haben eins viel zu plumpe Hand, um die zarten Werke der Renaissance berühren zu dürfen. Wir hoffen stetig, daß sie es nicht wagen werden. Im übrigen würde eine solche Verstümmelung heute nicht mehr eine brutale Gewaltthat sein, über die ein betrunkener Vandale erröthen müßte, es wäre ein Act der Verrätherei. Die Tuilerien sind einfach nicht mehr ein Hauptwerk der Kunst des sechzehnten Jahrhunderts, sie sind ein Blatt aus der Geschichte .des neunzehnten Jahrhunderts. Dieser Palast gehört nicht mehr dem Könige, sondern dem Volke. Lassen wir ihn so, wie er ist. Unsere Revolution hat ihn zweimal in der Fronte gezeichnet. An einer seiner beiden Facaden trägt er die Kugeln des 10. August, an der andern die des 20. Juli. Er ist geheiligt.

    Paris, am 7. April 1831. Anm. des Autors zur fünften Auflage.]

  15. [Messidor-Stil hieß zur Zeit der ersten französischen Republik (unter dem Directorinen) die plumpe Nachahmung der Antike in der Baukunst. Anm. d. Uebers.]
  16. [In der Baukunst: der Pfeileraufsatz, wandähnliche Aufbau über dem Gebälk einer Säulenordnung. Anm. d. Uebers.]

1. Gute Herzen

Sechzehn Jahre vor dem Zeitabschnitte, in welchem sich gegenwärtige Geschichte ereignete, war an einem schönen Morgen des Sonntags Quasimodo, nach der Messe in der Kirche Notre-Dame ein lebendes Wesen auf dem Bettgestelle niedergelegt worden, das im Vorhofe, links gegenüber dem »großen Bildnisse« des heiligen Christoph sich befand, welchen die in Stein gemeißelte Figur eines knieenden Ritters, des Herrn Anton Des Essarts, seit 1413 anblickte, als man auf den Gedanken gekommen war, den Heiligen und den Frommen dort hinzustellen. Es war nämlich Gebrauch, auf diesem Bettgestelle die Findelkinder der allgemeinen Mildthätigkeit auszusetzen. Von hier nahm sie weg, wer wollte. Vor dem Bettgestelle befand sich ein kupfernes Becken für die Almosen.

Die Art lebenden Wesens, welches auf diesem Brette am Morgen des Sonntags Quasimodo, im Jahre des Herrn 1467 lag, schien im hohen Grade die Neugierde der ziemlich beträchtlichen Menschenmenge zu erregen, die sich um das Bettgestell herum angesammelt hatte. Die Gruppe war zum großen Theile aus Personen des schönen Geschlechtes gebildet: es waren fast nur alte Weiber. In der ersten Reihe, und ganz auf das Lager niedergeneigt, bemerkte man vier, an deren grauem Kuttenkleide, einer Art Soutane, man errieth, daß sie irgend einer geistlichen Genossenschaft angehörten. Ich sehe durchaus nicht ein, warum die Geschichte die Namen dieser vier verschwiegenen und achtbaren Bürgerfrauen der Nachwelt nicht überliefern sollte. Sie hießen Agnes La-Herme, Johanne de la Tarme, Henriette La-Gaultière und Gauchère La-Violette, alle vier Witwen, alle vier Ordensfrauen der Kapelle Etienne-Haudry, die mit Erlaubnis ihrer Oberin und den Vorschriften Peter d’Ailly’s gemäß ihr Stift verlassen hatten, um die Predigt anhören zu gehen.

Wenn diese guten Nonnen übrigens für den Augenblick die Vorschriften Peter d’Ailly’s beobachteten, so übertraten sie jedoch in der Freude ihres Herzens diejenigen Michaels von Brache und des Cardinals von Pisa, die ihnen so grausam Schweigen auferlegten.

»Was in aller Welt ist denn das, liebe Schwester?« sagte Agnes zu Gauchère, während sie das kleine ausgesetzte Geschöpf betrachtete, welches kreischte und sich, von so viel Blicken in Schrecken versetzt, auf dem Bettgestelle wand.

»Was soll noch aus uns werden,« sagte Johanne, »wenn jetzt solche Kinder wie dieses in die Welt gesetzt werden?«

»Ich verstehe mich nicht auf Kinder,« entgegnete Agnes, »aber es muß eine Sünde sein, dieses da anzusehen.«

»Das ist kein Kind, Agnes.«

»Es ist ein verunglückter Affe,« bemerkte Gauchère.

»Es ist ein Wunder,« entgegnete Henriette La-Gaultière.

»Dann ist es,« erwiderte Agnes, »das dritte seit Sonntag Lätare; denn vor kaum acht Tagen haben wir das Wunder mit dem Pilgerspötter gehabt, der durch Unsere liebe Frau von Aubervilliers göttliche Strafe erlitt; und das war das zweite Wunder im Monate.«

»Es ist ein wahrhaft abscheuliches Ungethüm, dieses angebliche Findelkind,« nahm Johanne das Wort.

»Es brüllt, um einen Cantor taub zu machen,« fuhr Gauchère fort. »So schweige doch, kleiner Schreihals!« »Und noch zu behaupten, daß es Seine Hochwürden der Bischof von Reims ist, der Seiner Hochwürden dem Bischofe von Paris dieses Ungethüm schickt!« fügte La-Gaultière hinzu und schlug die Hände zusammen.

»Ich glaube,« sagte Agnes La-Herme, »es ist ein Vieh, ein thierisches Geschöpf, das ein Jude mit einer Sau gezeugt hat, – kurzum ein Etwas, das nicht Christ ist und das man ins Wasser oder Feuer werfen soll.«

»Ich hoffe doch,« entgegnete La-Gaultière, »daß von niemandem nach ihm gefragt werden wird.«

»O mein Gott!« rief Agnes, »die armen Ammen im Findelhause da unten am Ende des Gäßchens, wenn man den Fluß hinabgeht, ganz dicht neben Seiner Hochwürden dem Herrn Bischofe! Wehe, wenn man ihnen dies kleine Ungethüm zum Stillen brächte! Ich würde lieber einem Vampyre die Brust reichen.«

»Was die noch unschuldig ist, diese arme La-Herme!« entgegnete Johanne; »Ihr seht nicht, liebe Schwester, daß dieses kleine Scheusal mindestens vier Jahre alt ist, und daß es weniger Appetit nach Eurer Brust, als nach einem Bratenwender haben dürfte.«

Und in Wahrheit war es kein Neugeborenes, dieses kleine Scheusal. (Wir würden uns selbst durchaus nicht haben enthalten können, es anders zu nennen.) Es war eine kleine, sehr eckige und mächtig zappelnde Masse, die in einem leinenen, mit dem Namenszuge des Herrn Wilhelm Chartier, damaligen Bischofs von Paris, versehenen Sacke steckte, so daß nur der Kopf herausguckte. Dieser Kopf war ein ziemlich mißgestaltetes Etwas; man sah daran nur einen Wald von rothen Haaren, ein Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge weinte, der Mund schrie und die Zähne schienen nur nach dem Beißen zu verlangen. Das Ganze zappelte im Sacke zum großen Erstaunen der Menge, die unaufhörlich zunahm und sich ringsherum ansammelte.

Frau Aloise von Gondelaurier, eine reiche und adlige Dame, die einen langen Schleier am goldenen Horne ihres Kopfputzes trug und ein hübsches Mädchen von ohngefähr sechs Jahren an der Hand führte, blieb im Vorübergehen vor dem Lager stehen und betrachtete einen Augenblick lang das unglückselige Geschöpf, währen ihre reizende Enkelin Fleur-de-Lys von Gondelaurier, die ganz in Seide und Sammet gekleidet war, mit ihrem niedlichenkleine Finger die an dem hölzernen Lager stets befestigte Tafel, welche die Aufschrift »Findelkinder« trug, buchstabirte.

»In der That,« sagte die Dame, während sie sich mit Abscheu wegwandte, »ich glaubte bis jetzt, daß man hier nur Kinder ausstellte« Sie wandte den Rücken, warf dabei einen Silbergulden in das Becken, welcher unter den Hellern erklang und die Ordensfrauen von der Kapelle Etienne-Handry mit großen Augen aufschauen ließ.

Einen Augenblick darauf ging der Pronotar des Königs, der würdevolle und gelehrte Robert Mistricolle mit einem ungeheuern Meßbuche unter dem einen und seiner Gattin (Frau Guillemette La-Mairesse) an dem andern Arme vorüber, so daß er also seine beiden Führer, den geistlichen und weltlichen zur Seite hatte.

»Findelkind« sagte er, nachdem er den Gegenstand betrachtet hatte, »bist offenbar am Gelände des Flusses Phlegeton 74 gefunden!«

»Man sieht nur ein Auge an ihm,« bemerkte Frau Gullemette; »über dem andern hat es eine Warze.«

»Das ist keine Warze,« warf Herr Robert Mistricolle ein, »das ist ein Ei, welches einen andern ganz ähnlichen Dämon einschließt, der ein anderes kleines Ei trägt, das einen zweiten Teufel enthält und so fort.«

»Woher wißt Ihr das?« fragte Guillemette La-Mairesse.

»Ich weiß es ganz bestimmt,« antwortete der Pronotar.

»Herr Pronotar,« fragte Gauchère, was Prophezeit Ihr von diesem angeblichen Findelkinde?«

»Die größten Unglücksfälle,« antwortete Mistricolle.

»Ach! mein Gott!« rief eine Alte aus der Zuhörerschaft, »obendrein hat voriges Jahr eine große Pest stattgefunden, und man erzählt, daß die Engländer beabsichtigen, bei Harefleur in großen Trupps zu landen.«

»Vielleicht wird das die Königin abhalten, im September nach Paris zu kommen,« versetzte eine andere, »der Handel geht schon so schlecht!«

»Ich bin der Meinung,« rief Johanne de la Tarme, »daß es besser für die Insassen von Paris sein würde, wenn man den kleinen Hexenmeister da lieber auf ein Reisigbündel, als auf ein Bett gelegt hätte.«

»Ein hübsches brennendes Reisigbündel,« fügte die Alte hinzu.

»Das würde weit vernünftiger sein,« sagte Mistricolle.

Seit einigen Augenblicken hatte ein junger Priester die Bemerkungen der Nonnen und die Urtheile des Protonotars angehört. Sein Aussehen war streng, seine Stirn breit, sein Blick stechend und tief. Er theilte schweigend die Menge, betrachtete den »kleinen Hexenmeister« und streckte die Hand über ihn aus. Es war wahrlich Zeit; denn die ganze fromme Versammlung leckte sich schon den Bart nach »dem hübschen brennenden Reisigbündel«.

»Ich nehme dieses Kind an Kindesstatt an,« sprach der Priester.

Er nahm es in seinen Chorrock und trug es davon. Die Umstehenden folgten ihm mit bestürzten Mienen. Einen Augenblick nachher war er durch die Rothe Pforte, welche damals von der Kirche nach dem Kloster führte, verschwunden

Als die erste Ueberraschung gewichen war, neigte sich Johanne de la Tarme zum Ohre La-Gaultières:

»Ich hatte Euch ja gesagt, liebe Schwester, daß dieser junge Geistliche, Herr Claude Frollo, ein Zauberer ist.«

  1. [Name eines Flusses der Unterwelt in der griechischen Mythologie. Anm. d. Uebers.]

2. Claude Frollo.

Claude Frollo war in Wahrheit keine gewöhnliche Persönlichkeit.

Er gehörte zu einer jener mittleren Familien, die man unterschiedslos in der albernen Ausdrucksweise des vorigen Jahrhunderts vornehmen Bürgerstand oder kleinen Adel nannte. Diese Familie hatte von den Brüdern Paclet das Lehen Tirechappe geerbt, welches dem Bischofe von Paris unterstellt war und dessen einundzwanzig Häuser im dreizehnten Jahrhunderte den Gegenstand so vieler Sachwalterkämpfe vor dem Officialgerichte 75 gebildet hatten. Als Besitzer dieses Lehens war Claude Frollo einer der »siebenmal einundzwanzig Lehnsherren«, welche in Paris und seinen Vorstädten Grundzins beanspruchten; und in dieser Eigenschaft hat man zwischen dem Hotel Tancarville, das Meister Franz Le-Rez gehörte, und dem Collegium Tours lange Zeit seinen Namen in dem Archive eingetragen sehen können, das in Saint-Martin-des-Champs in Verwahrung sich befand.

Claude Frollo war von Kindheit an von seinen Eltern zum geistlichen Stande bestimmt worden. Man hatte ihn im Lateinlesen unterrichtet; er war angehalten worden, die Augen niederzuschlagen und leise zu sprechen. Noch ganz Kind hatte ihn sein Vater in das Collegium Torchi im Universitätsviertel eingesperrt. Hier war er über dem Meßbuche und dem Lexikon herangewachsen.

Er war übrigens ein trübsinniges, stilles und ernstes Kind, das eifrig studirte und schnell begriff; er schrie nie laut in den Erholungsstunden, mischte sich kaum in die lärmenden Gelage der Rue du Fouarre, wußte nicht, was man unter »dare alapas et capillos lanicare« 76 verstand und hatte keine Rolle in jener Meuterei vom Jahre 1463 gespielt, welche die Annalisten allen Ernstes unter dem Titel »Sechste Unruhe im Universitätsviertel« aufzeichnen. Es begegnete ihm selten, daß er die armen Schüler von Montaigu wegen der »Kappenmäntelchen«, von denen sie ihren Namen erhielten, oder die Freischüler des Collegiums Dormans wegen ihrer glattgeschorenen Tonsur und wegen ihres dreitheiligen Ueberrockes aus dunkelblauem, hellblauen und violetten Tuche ( »azurini coloris et bruni«), wie die Urkunde des Cardinals Des-Quatre-Couronnes sagte, verspottete. Dagegen war er unablässig in den höhern und niedern Schulen der Straße Saint-Jean-de-Beauvais zu finden. Der erste Student, welchen der Abt von Saint-Pierre-de-Val, sobald er seine Vorlesung über das kanonische Recht begann, immer dem Katheder gegenüber an einer Säule der Schule Sanct-Vendregesile lehnen sah, war Claude Frollo, mit seinem Tintenfaß aus Horn versehen, an der Feder kauend, auf seinem abgeschabten Knie kritzelnd und im Winter in die Finger hauchend. Der erste Hörer, welchen Herr Miles von Isliers, der Doctor des kanonischen Rechtes, jeden Montag Morgen und ganz außer Athem bei der Oeffnung der Thüren der Schule Chef-Saint-Denis ankommen sah, war Claude Frollo. Daher hätte der junge Gelehrte von sechzehn Jahren in der theologischen Geheimlehre einem Kirchenvater, in der kanonischen Theologie einem Conciliumsvater und in der scholastischen Theologie einem Doctor der Sorbonne die Spitze bieten können. Nachdem er mit der Theologie zu Ende war, warf er sich auf das kanonische Recht. Vom »Magister Sententiarum« war er auf die »Capitularien Karls des Großen« gerathen; und nach und nach hatte er in seinem Wissenshunger Decretalien um Decretalien verschlungen: so diejenigen des Theodorus, Bischofs von Hispalis, wie diejenigen des Bouchardus, Bischofs von Worms, und diejenigen von Yves, des Bischofs von Chartres, dann die Decretaliensammlung des Gratian, welche nach den Capitularien Karls des Großen an die Reihe kam; dann die Sammlung Gregors des Neunten, endlich das Sendschreiben »Super specula« von Honorius dem Dritten. Er machte sich jene lange und stürmische Periode des bürgerlichen und kanonischen Rechtes in Ringen und Arbeit im Chaos des Mittelalters klar und vertraut, – jene Periode, welche der Bischof Theodorus im Jahre 618 eröffnet und welche 1227 der Papst Gregor abschließt. Sobald das kanonische Recht verdauet war, warf er sich auf die Medicin, auf die freien Künste. Er studirte Kräuterkunde und Salbenkunde; er wurde erfahren in der Behandlung von Fiebern und Quetschungen, von Verwundungen und Geschwüren. Jacob von Espars hätte ihn als Physicus, Richard Hellain als Chirurg zugelassen. Er durchlief gleichmäßig alle Grade der Licentiatenwürde, der Lehrfähigkeit und der Doctorwürde in den Künsten. Er studirte Sprachen: das Lateinische, Griechische und Hebräische, – ein dreifaches Heiligthum, zu dem damals nur sehr wenige Zutritt hatten. Was das Wissen anbetrifft, so war er von einem wahren Fieber besessen, zu erwerben und Schätze aufzuhäufen. Im Alter von achtzehn Jahren hatte er die vier Facultäten durchlaufen; es schien dem jungen Manne, als ob das Leben nur einen einzigen Zweck hätte: das Wissen.

Es war um diese Zeit ohngefähr, als in Folge des übermäßig heißen Sommers vom Jahre 1466 jene große Pest ausbrach, welche mehr als vierzigtausend Menschen im Gerichtsbezirke von Paris hinwegraffte, und unter anderem auch, wie Johann von Troyes sagt, »Meister Arnoul, den Sterndeuter des Königs, der ein sehr guter Mann war, gescheidt und drollig dazu«. Im Universitätsviertel verbreitete sich das Gerücht, daß die Straße Tirechappe ganz besonders von der Krankheit heimgesucht worden wäre. Dort nun wohnten, inmitten ihres Lehens, die Eltern Claude’s. Der junge Student eilte ganz erschrocken nach dem väterlichen Hause. Als er dort eintrat, waren Vater und Mutter in der Nacht vorher gestorben. Ein ganz kleiner Bruder, der in den Windeln lag, lebte noch und schrie verlassen in seiner Wiege. Das war alles, was dem Claude von seiner Familie übrig blieb; der junge Mann nahm das Kind in seinen Arm und ging nachdenklich von dannen. Bis dahin hatte er nur in seiner Wissenschaft gelebt, er fing nun an im Dasein zu leben.

Dieses Unglück wurde ein Wendepunkt im Leben Claude’s. Verwaist, als der Aelteste und als Haupt seiner Familie in einem Alter von neunzehn Jahren, fühlte er sich schonungslos von den Träumereien der Schule zur Wirklichkeit dieser Welt zurückgerufen. Damals faßte er, von Mitleiden bewegt, leidenschaftliche Liebe und Hingabe für dieses Kind, seinen Bruder: – etwas Sonderbares und Köstliches um eine menschliche Neigung für ihn, der bis jetzt nur Bücher geliebt hatte.

Diese Neigung zeigte sich in einer eigenthümlichen Stärke: in einem so jungen Herzen erschien sie wie eine erste Liebe. Von Kindheit an von seinen Eltern, die er kaum gekannt hatte, getrennt, in ein Kloster gesperrt und hinter seinen Büchern wie festgemauert, begierig vor allem zu studiren und zu lernen, bis dahin ausschließlich auf seinen Geist bedacht, der sich in der Wissenschaft erweiterte, bedacht auf seine Einbildungskraft, die unter den Studien erstarkte, hatte der arme Student noch keine Zeit gehabt, die Stelle zu fühlen, wo sein Herz schlug. Dieser junge, vater- und mutterlose Bruder, dieses kleine Kind, welches ihm plötzlich vom Himmel in die Arme fiel, machte einen neuen Menschen aus ihm. Er erkannte, daß es noch etwas Anderes in der Welt gäbe, als die Forschungen der Sorbonne und die Verse Homers; daß der Mensch der Neigungen bedürfe; daß das Leben ohne Zärtlichkeit und ohne Liebe nur ein gefühlloses, kreischendes und aufreibendes Räderwerk sei. Nur bildete er sich ein, – denn er war im Alter, wo die Täuschungen nur durch andere Täuschungen ersetzt werden – daß die Bande des Blutes und der Familie die allein nothwendigen wären, und daß einen kleinen Bruder zu lieben hinreichend wäre, um ein ganzes Dasein auszufüllen. Er überließ sich also der Liebe zu seinem kleinen Johann mit der Leidenschaft eines schon tiefen, glühenden und festen Gemüthes. Dieses arme, schwache, hübsche, blonde, rothbackige und gelockte Geschöpf, diese Waise ohne andern Beistand als den einer Waise, bewegte ihn bis in den tiefsten Grund der Seele, und als ernster Denker, wie er war, begann er über Johann mit grenzenlosem Mitleiden nachzudenken. Er machte sich Sorge und Kummer um ihn, wie um etwas sehr Gebrechliches, etwas, das ihm sehr ans Herz gelegt war. Er wurde dem Kinde mehr als ein Bruder: er wurde ihm eine Mutter.

Der kleine Johann hatte seine Mutter verloren, als er noch an der Brust lag; Claude that ihn zu einer Amme. Außer dem Lehen von Tirechappe hatte er auch das Lehensgut Le-Moulin von seinem Vater als Erbe erhalten, das zum Quadratthurme Gentilly zu Lehen ging: es war eine Mühle auf einem Hügel beim Schlosse Winchestre (Bicêtre). Hier lebte die Müllerin, welche ein hübsches Kind säugte; es war nicht weit vom Universitätsviertel. Claude brachte ihr selbst seinen kleinen Johann.

Von jetzt an, und da er fühlte, daß er eine Bürde trage, nahm er das Leben sehr ernst. Der Gedanke an seinen kleinen Bruder wurde nicht nur seine Erheiterung, sondern auch der Zweck bei seinen Studien. Er beschloß, sich ganz und voll einer Zukunft zu weihen, für die er vor Gott verantwortlich wurde, niemals eine Gattin, ein anderes Kind zu besitzen als seinen Bruder und dessen Glück und Loos. Er gab sich nun mehr als sonst seinem geistlichen Berufe hin. Sein Verdienst, seine Gelehrsamkeit, sein Stand als unmittelbarer Lehnsmann des Bischofs von Paris öffneten ihm die Pforten der Kirche ganz weit. Im Alter von zwanzig Jahren war er in Folge besonderer Dispensation des Heiligen Stuhles Priester und versah als der jüngste unter den Kaplänen von Notre-Dame den Dienst an dem Altare, der wegen der Messe, die da spät abends gelesen wird, altare pigrorum 77 genannt wird. Dabei, und weil er mehr als vordem sich in seine geliebten Bücher versenkte, die er nur verließ, um auf ein Stündchen nach dem Lehnsgute Le-Moulin zu eilen, hatte ihm diese für sein Alter so seltene Mischung von Gelehrsamkeit und Charakterfestigkeit rasch die Achtung und Bewunderung seines Klosters erworben. Vom Kloster war sein Ruf als Gelehrter ins Volk gedrungen, wo, wie es damals häufig der Fall war, er sich ein wenig in den eines Zauberers verkehrt hatte.

Gerade in dem Augenblicke nun, wo er, am Sonntage Quasimodo, von der Messe zurückkehrte, die für die Spätkommenden an dem für sie bestimmten Altare, neben der ins Schiff führenden Thüre des hohen Chores, rechts, beim Bilde der heiligen Jungfrau, celebrirt wurde, war seine Aufmerksamkeit durch die Gruppe kreischender Weiber erregt worden, die sich um das Lager der Findelkinder zusammengedrängt hatten.

Er hatte sich dem unglücklichen kleinen Geschöpfe genähert, das in jenem Augenblicke gerade so verabscheut und bedrohet war.

Diese drängende Gefahr, diese Häßlichkeit, diese Hilfslosigkeit, der Gedanke an seinen kleinen Bruder, die Idee, die ihm plötzlich durch den Kopf fuhr, daß, wenn er stürbe, er, sein theurer kleiner Johann, wohl auch so erbärmlich auf dem Brette der Findelkinder ausgesetzt werden könnte – alles das war ihm auf einmal zu Herzen gegangen: ein tiefes Mitleid hatte sich in ihm geregt, und er hatte das Kind davongetragen.

Als er das Kind aus dem Sacke herauszog, fand er es in der That sehr mißgestaltet. Der arme kleine Teufel hatte eine große Warze über dem linken Auge, den Kopf an den Schultern, ein krummes Rückgrat, ein hervorragendes, Brustbein, krumme Beine, aber er erschien lebenskräftig; und wiewohl es unmöglich war, zu verstehen, welche Sprache er lallte, so verkündigte sein Schreien doch eine gewisse Stärke und Gesundheit zugleich. Das Mitleiden Claude’s wuchs beim Anblick dieser Häßlichkeit; und er gelobte sich in seinem Herzen, dieses Kind aus Liebe zu seinem Bruder zu erziehen, damit, seien in Zukunft die Fehler des kleinen Johann welche sie wollten, diese an jenem geübte Barmherzigkeit zu seinem Besten ausschlagen möchte. Es war das eine Art Anlage guter Werke, die er auf das Haupt seines jungen Bruders hin bewerkstelligte; es war eine Ladung guter Handlungen, die er für ihn zum voraus ansammeln wollte, für den Fall, daß der kleine Schelm eines Tages mit dieser Münze knapp dran sein sollte, – der einzigen, die als Brückengeld zum Paradiese angenommen wird.

Er taufte sein Adoptivkind und nannte es »Quasimodo«, 78 sei es, daß er damit nun den Tag bezeichnen wollte, an welchem er es gefunden, sei es, daß er mit diesem Namen das arme kleine Geschöpf als im gewissen Grade krüppelhaft und fast noch nicht geformt charakterisiren wollte. In Wahrheit war der einäugige, bucklige, krummbeinige Quasimodo kaum mehr als ein »Ungefähr« von Menschen.

  1. [Geistlicher Gerichtshof.]
  2. [Lateinisch: Ohrfeigen austheilen und raufen. Anm. d. Uebers.]
  3. [Lateinisch: Der Altar der Trägen. Anm. d. Uebers.]
  4. [ Lateinisch: Das Beinahe, Ungefähr. Anm. d. Uebers.]

3. Immanis pecoris custos, immanior ipse. 79

Nun, im Jahre 1482, war Quasimodo herangewachsen. Er war seit mehreren Jahren Glöckner von Notre-Dame, Dank seinem Pflegevater Claude Frollo, welcher Archidiaconus von Josas durch seinen Oberlehnsherrn Louis von Beaumont geworden war, der dagegen 1472, nach Wilhelm Chartiers Tode, durch Vermittlung seines Gönners Olivier Le-Daim, des Barbiers König Ludwigs des Elften von Gottes Gnaden, Bischof von Paris geworden war.

Quasimodo war also Glockenläuter von Notre-Dame.

Mit der Zeit hatte sich ein gewisses inniges Band gebildet, welches den Glöckner mit der Kirche verband. Auf immer von der Welt geschieden durch das zwiefache Mißgeschick seiner unbekannten Herkunft und seiner verkrüppelten Leibesbeschaffenheit, von Kindesbeinen an in diesen unüberschreitbaren Doppelkreis gebannt, hatte sich der arme Unglückliche daran gewöhnt, jenseits der frommen Mauern, die ihn in ihren Schatten aufgenommen, nichts von dieser Welt kennen zu lernen. Notre-Dame war, je nachdem er heranwuchs und sich entwickelte, für ihn nach einander das Ei, Nest, Haus, Vaterland und Weltall geworden.

Und sicher ist, daß zwischen diesem Geschöpfe und dieser Kirche eine Art geheimer und vorher bestehender Harmonie bestand. Als er, noch ganz klein, schlangenartig und sprungweise unter ihren düstern Wölbungen sich hinschlich, so erschien er mit seinem menschlichen Antlitze und seinem thierischen Gliederbau als das leibhafte Reptil dieses feuchten und dunkeln Bodens, auf welchen der Schatten der romanischen Säulenkapitäle in so vielen seltsamen Figuren niederfiel.

Später, als er sich maschinenmäßig zum ersten Male an dem Glockenstrange festhielt, sich daran schaukelte und die Glocke in Bewegung setzte, so machte das auf Claude, seinen Pflegevater, den Eindruck von einem Kinde, dessen Zunge sich löst und das zu sprechen anfängt.

Weil er im Verständnis des Wesens der Kirche sich immer mehr entwickelte, in ihr lebte, dort schlief, sie fast niemals verließ, ihre geheimnisvolle Einwirkung stündlich auf sich wirken ließ, so kam es, daß er ihr allmählich ähnlich wurde, sich ganz in sie versenkte und gewissermaßen einen ergänzenden Theil von ihr zu bilden begann. Die hervortretenden Ecken seines Körpers fügten sich (man gestatte uns dieses Bild) in die zurückweichenden Winkel des Gebäudes, und er erschien nicht nur als ihr Insasse, sondern vielmehr ihr verkörperter Inhalt. Man möchte fast sagen, daß er ihre Gestalt angenommen hätte, wie die Schnecke die Gestalt ihres Hauses annimmt. Sie war seine Behausung, sein Loch, seine Hülle. Zwischen der alten Kirche und ihm fand eine so tiefe und instinktive Übereinstimmung, so große magnetische Wahlverwandtschaft, so viel tatsächliche Ähnlichkeit statt, daß er an ihr in gleicher Weise, wie die Schildkröte an ihrem Gehäuse hing; die furchige Kirche war sein Rückenschild.

Es ist überflüssig, den Leser daran zu erinnern, die Bilder nicht buchstäblich zu verstehen, die wir hier zu gebrauchen gezwungen sind, um diese sonderbare, gleichmäßige, unmittelbare, fast wesengleiche Verbindung zwischen einem Menschen und einer Kirche zu schildern. Ebenso überflüssig ist, es zu sagen, wie sehr er sich mit der ganzen Kathedrale in einem so langen und innigen Zusammenleben vertraut gemacht hatte. Dieses Haus war ihm ganz zu eigen; es gab keine Tiefe, in die Quasimodo nicht gekrochen wäre, keine Höhe, die er nicht erstiegen hätte. Es geschah unzählige Male, daß er die Front der Kirche mit ihren zahlreichen Erhebungen erklomm und sich dabei nur an die Vorsprünge der Steinhauerarbeit klammerte. Die Thürme, an deren Außenfläche man ihn häufig wie eine Eidechse, die an einer senkrechten Mauer hinschlüpft, herumklettern sah, diese zwei so hohen, drohenden und furchtbaren Zwillingsriesen hatten für ihn nichts Entsetzendes, Schreckhaftes, noch Schwindelerregendes. Wenn man sie unter seinen Händen so ruhig, so leicht zu erklimmen sah, hätte man sagen mögen, daß er sie gezähmt hätte. Durch vieles Umherspringen, Klettern und dadurch, daß er sich inmitten der Untiefen der gigantischen Kathedrale herumtummelte, war er in gewisser Hinsicht zum Affen und zur Gemse geworden, oder ähnlich dem Kinde in Calabrien, welches schwimmt, ehe es laufen kann und schon in zarter Jugend mit dem Meere spielt.

Uebrigens schien sich nicht allein sein Körper, sondern auch sein Geist nach der Kathedrale geformt zu haben. In welchem Zustande befand sich diese Seele? Welche Richtung hatte sie angenommen, welche Form hatte sie unter dieser geschlossenen Hülle, in dieser ungeselligen Lebensweise erlangt? Das zu bestimmen würde schwer halten. Quasimodo war einäugig, bucklig und hinkend auf die Welt gekommen. Nur mit großer Mühe und nicht weniger Geduld hatte Claude Frollo es erreicht, ihn sprechen zu lehren. Aber ein Verhängnis hatte das arme Findelkind betroffen. Nachdem er Glöckner von Notre-Dame im vierzehnten Lebensjahre geworden, hatte sich ein neues Gebrechen eingestellt, jenes vollständig zu machen, die Glocken hatten ihm das Trommelfell zersprengt: er war taub geworden. Die einzige Pforte, welche ihm die Natur zur Welt hin ganz offen gelassen hatte, war plötzlich auf immer geschlossen.

Als sie sich schloß, schnitt sie den einzigen Licht- und Freudestrahl ab, der noch in die Seele Quasimodo’s fiel. Diese Seele versank in eine tiefe Nacht. Die Schwermuth des Unglücklichen wurde unheilbar und völlig, wie seine Häßlichkeit. Außerdem machte ihn seine Taubheit in gewisser Hinsicht stumm. Denn um andern keine Veranlassung zum Lachen zu geben, verdammte er sich von dem Augenblicke an, wo er sich taub fühlte, entschlossen zu einem Stillschweigen, welches er selten und nur dann brach, wenn er allein war. Er fesselte freiwillig diese Zunge, die zu lösen Claude Frollo so viele Mühe gehabt hatte. In Folge davon geschah es, daß, wenn ihn die Nothwendigkeit zum Sprechen zwang, seine Rede schwerfällig, ungeschickt war und einer Thüre glich, deren Angeln verrostet sind.

Wenn wir nun versuchten, durch dieses dicke und harte Aeußere bis in Ouasimodo’s Seele zu dringen; wenn wir die Tiefen dieses übelbeschaffenen Wesens untersuchen könnten, wenn es uns vergönnt wäre, mit einer Leuchte hinter diese undurchsichtigen Theile zu schauen, das düstere Innere dieses unerforschlichen Geschöpfes zu ergründen, seine dunkeln Falten, seine unbegreiflichen Schlupfwinkel aufzuhellen und plötzlich einen hellen Lichtstrahl auf die in der Tiefe dieser Höhle gefesselte Psyche fallen zu lassen, so würden wir diese unglückliche ohne Zweifel in einer ähnlichen elenden, geknickten und verkrüppelten Lage finden, wie jene Gefangenen der Bleidächer in Venedig, welche in einem sehr niedrigen, kurzen Steinkasten liegend und zu zwei Hälften zusammengekrümmt hinaltern.

Es steht fest, daß in einem mißgestalteten Leibe der Geist verkrüppelt. Quasimodo empfand kaum, daß sich in seinem Innern blindlings eine Seele rege, die nach seinem Aeußern geformt war. Die Eindrücke der Gegenstände erlitten eine beträchtliche Strahlenbrechung, ehe sie zu seinem Denkvermögen gelangten. Sein Gehirn war ein sonderbarer Vermittler: die Ideen, welche es durchkreuzten, gingen alle verkehrt daraus hervor. Die Vorstellung, welche von jener mangelhaften Anschauung herrührte, war notwendigerweise eine abweichende und schiefe. Die Folge davon waren zahllose Sinnestäuschungen, zahllose Urtheilsirrungen, zahllose Gedankensprünge, in denen sein theils thörichtes, theils blödsinniges Denken abschweifte.

Die eine Folge jener verhängnisvollen Anschauungsweise war die, den Blick, welchen er auf die Dinge um sich her warf, zu verwirren. Er empfing von ihnen fast keine unvermittelte Vorstellung. Die äußere Welt erschien ihm in einer weiteren Entfernung, als uns.

Die andere Wirkung dieses unglücklichen Seelenzustandes war, daß er boshaft wurde.

Er war in der That boshaft, weil er verwildert war; er war verwildert, weil er mißgestaltet war. In seinem Naturell war gerade so viel Logik, wie in dem unsrigen. Seine außergewöhnlich entwickelte Körperkraft war ein Grund mehr zur Boshaftigkeit: » Malus puer robustus80 sagt Hobbes. Uebrigens muß man ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen: die Boshaftigkeit war ihm vielleicht nicht angeboren. Von seinem ersten Auftreten an unter den Menschen hatte er sich verhöhnt, beschimpft, zurückgestoßen gefühlt, dann gesehen.

Die Worte der Leute hatten für ihn immer eine Verspottung oder eine Verwünschung enthalten. Als er heranwuchs, hatte er nur Haß in seiner Umgebung gefunden. Er hatte ihn verstanden. Er hatte die gewöhnliche Bosheit angenommen. Er hatte die Waffe ergriffen, mit der man ihn verwundet hatte.

Nach alledem zeigte er nur mit Widerwillen sein Antlitz der Menschheit; seine Kirche war seine Welt. Sie war bevölkert mit marmornen Gestalten, Königen, Heiligen, Bischöfen, welche ihm wenigstens nicht ins Gesicht lachten und nur ein stilles, wohlwollendes Mitleid für ihn hatten. Die andern Bildsäulen, die der Teufel und Dämonen, hatten keinen Haß gegen ihn; Quasimodo – war ihnen darin selbst zu ähnlich. Sie verspotteten wohl eher die andern Menschen. Die Heiligen waren seine Freunde und segneten ihn; die Ungeheuer waren es gleichfalls und beschützten ihn. Daher hatte er lange Herzensergießungen mit ihnen. Daher verbrachte er manchmal ganze Stunden, vor einer dieser Bildsäulen niedergekauert, im einsamen Gespräche mit ihr. Wenn jemand unvermuthet dazukam, so entfloh er wie ein Liebhaber, der beim Ständchen überrascht wird.

Und die Kirche war für ihn nicht allein die Gesellschaft, sondern auch das Weltall, ja die ganze Natur. Er träumte von keinen andern Baumgeländern, als den immer in Farbenpracht schimmernden Kirchenfenstern, von keinem andern Schatten, als demjenigen dieses steinernen Laubwerkes, welches, mit Vogelgestalten angefüllt, den Knauf der sächsischen Kapitale umrankt; von keinen andern Gebirgen, als den riesigen Thürmen der Kathedrale, von keinem andern Oceane, als Paris, welches zu ihren Füßen brandete.

Was er aber vor allem in diesem mütterlichen Gebäude liebte, was seine Seele aufweckte und sie die armen Fittiche ausbreiten ließ, die sie in ihrem Innern so traurig zusammengefaltet trug, was ihn manchmal glücklich machte, das waren die Glocken. Er liebte sie, er liebkoste sie, sprach mit ihnen, verstand sie. Vom Glockenspiele auf der Spitze des Kreuzschiffes an bis zur großen Glocke des Vordergiebels waren sie alle Gegenstände seiner Zärtlichkeit. Der Glockenturm des Kreuzschiffes, die zwei Hauptthürme waren für ihn gleichsam drei große Vogelkäfige, deren Sänger, von ihm großgezogen, nur für ihn sangen. Und dabei waren es dieselben Glocken, die ihn taub gemacht hatten; aber Mütter lieben oft das Kind am meisten, das ihnen die größten Leiden verursacht hat.

Freilich war ihre Stimme die einzige, welche er noch hören konnte. In dieser Beziehung war die große Glocke seine Heißgeliebte. Sie war es, der er in dieser Familie von kreischenden Töchtern den Vorzug gab, wenn sie an Festtagen um ihn hin- und hersprang. Diese große Glocke hieß Marie. Sie befand sich allein im südlichen Thurme mit ihrer Schwester Jacqueline, einer Glocke von geringerem Umfange, die in einem kleinern Stuhle ihr zur Seite hing. Diese Jacqueline war so nach dem Namen der Gattin Jean Montagu’s genannt worden, welcher die Glocke der Kirche geschenkt hatte; was aber nicht verhindert hatte, daß er später ohne Kopf in Montfaucon 81 figuriren sollte. Im zweiten Thurme befanden sich sechs andere Glocken, und die sechs kleinsten Glocken endlich hingen auf dem Thurme des Kreuzarmes zusammen mit der hölzernen Glocke, welche man nur vom Nachmittage des Gründonnerstages an bis zum Morgen des Osterheiligabends läutete. Quasimodo hatte also fünfzehn Glocken in seinem Serail, aber die große Marie war seine Favorite.

Man kann sich an den Tagen feierlichen Geläutes keinen Begriff von Quasimodo’s Freude machen. In dem Augenblicke, wo ihm der Archidiaconus die Einwilligung gegeben und zugerufen hatte: »Hinauf«, eilte er die Wendeltreppe zum Thurme schneller hinauf, als ein anderer sie hätte herabsteigen können. Ganz athemlos trat er in das luftige Gelaß der großen Glocke ein; er betrachtete sie einen Augenblick lang mit Andacht und Liebe; dann redete er sie freundlich an, streichelte sie mit der Hand wie ein gutes Pferd, das einen weiten Ritt machen soll. Er beklagte sie wegen der Mühe, die sie haben sollte. Nach diesen ersten Liebkosungen rief er den Gehilfen, die in einem tiefern Stockwerke des Thurmes standen, zu, anzufangen. Diese hingen sich an die Seile, die Gangspille kreischte und die ungeheure Metallkapsel bewegte sich langsam. Quasimodo folgte ihr, am ganzen Körper zitternd, mit seinen Blicken. Der erste Anschlag des Klöppels an die erzene Wand ließ das Gerüst, auf welches er gestiegen war, erzittern. Quasimodo erbebte mit der Glocke.

»Hurtig,« schrie er, in ein unsinniges Gelächter ausbrechend. Währenddem nahm die Bewegung der Baßglocke zu, und in dem Maße, wie sie im immer weiteren Winkel dahinflog, wurde auch Quasimodo’s Auge immer glühender und flammender. Endlich begann der volle Schwung der Glocke; der ganze Thurm zitterte: Holzwerk, Bleidachung, Quadersteine, alles zitterte zugleich von den Grundpfeilern an bis zu den Kreuzblättern des Helmdaches. Quasimodo schäumte jetzt vor Aufregung; er lief, er kam zurück, er zitterte mit dem Thurme von Kopf bis zu Füßen. Die hinstürmende und rasende Glocke zeigte abwechselnd den beiden Thurmwänden ihren metallenen Schlund, aus dem jenes Orkanwehen hervorging, das man vier Meilen weit vernimmt. Quasimodo stellte sich vor diesen weiten Rachen; er kauerte sich nieder, erhob sich wieder beim Rückschlage der Glocke, athmete das betäubende Getös ein, sah bald in die Tiefe auf den Platz hinunter, auf dem es, zweihundert Fuß unter seinen Füßen, von Menschen wimmelte, bald auf die ungeheure erzene Zunge, die ihm von Secunde zu Secunde ins Ohr heulte. Das war für ihn die einzige Sprache, die er hörte, der einzige Laut, der für ihn die allgemeine Stille unterbrach. Hier machte er sich breit wie ein Vogel in den Strahlen der Sonne. Plötzlich packte ihn die Raserei der Glocke; sein Aussehen wurde befremdlich; er erwartete die vorbeifliegende Glocke, wie die Spinne auf die Fliege lauert, und warf sich plötzlich mit Ungestüm auf sie. So über dem Abgrunde schwebend, mit dem schrecklichen Fluge der Glocke hin- und hergeworfen, packte er das eherne Ungeheuer an den Ohrzapfen, drückte es mit seinen beiden Knieen, spornte es mit seinen Hacken und verdoppelte mit dem vollen Stoße und dem ganzen Gewichte seines Leibes die Raserei des Geläutes. Während der Thurm bebte, schrie er und knirschte mit den Zähnen, seine rothen Haare sträubten sich, seine Brust hob sich mit dem Geräusche eines Blasebalgs, sein Auge sprühte Flammen, das Glockenungethüm tobte laut schnaubend unter ihm; und das war jetzt nicht mehr die große Glocke von Notre-Dame und auch nicht Quasimodo: das war ein Traumbild, ein Wirbel, ein Sturm, der Koller eines Pferdes beim Entstehen eines Geräusches, ein Geist, der sich an einen dahinfliegenden Sattelsitz angeklammert, ein sonderbarer Centaur, der halb Mensch, halb Glocke ist, eine Art furchtbarer Astolph auf einem seltsamen, lebenden Hippogryphen von Erz durch die Luft geführt.

Die Anwesenheit dieses außergewöhnlichen Geschöpfes ließ in der ganzen Kirche einen eigentümlichen Lebenshauch sich verbreiten. Es schien, wenigstens um mit dem übertrieben-abergläubischen Vorstellungen der Menge zu reden, als ob eine geheimnisvolle Ausströmung von ihm ausginge, welche alle Steine von Notre-Dame belebte und die tiefen Furchen der alten Kirche zucken ließe. Es war genügend, ihn dort zu wissen, um zu glauben, daß man die Tausende von Statuen der Galerien und der Thore leben und sich bewegen sähe. Und in der That erschien die Kathedrale unter seinen Händen als ein gelehriges und gehorsames Geschöpf; sie war seines Willens gewärtig, um Ihre gewaltige Stimme zu erheben; sie war von Quasimodo« wie von einem Hausgeiste in Besitz genommen und erfüllt. Man hätte sagen können, daß er dem Ungeheuern Gebäude Leben eingehaucht. Er war in der That dort überall, er vervielfältigte sich an allen Punkten des Baudenkmales. Bald sah man mit Schrecken auf der höchsten Höhe eines der Thürme einen wunderlichen Zwerg, welcher kletterte, sich schlängelte, auf allen Vieren kroch, auswärts über dem Abgrunde herabstieg, von Vorsprung zu Vorsprung sprang und das Innere des Leibes einer in Stein gemeißelten Gorgone durchsuchte: es war Quasimodo, welcher Rabennester ausnahm. Bald stieß man in einem finstern Winkel der Kirche auf eine lebende Chimäre, die finster brütend niederkauerte: es war Quasimodo in Nachdenken versunken. Bald bemerkte man unter einem Thurme ein ungeheures Haupt und ein Bündel wirrer Gliedmaßen, welche sich wüthend am Ende eines Seiles schaukelten: es war Quasimodo, der die Vesper oder das Angelus 82 läutete. Oft sah man nachts an dem durchbrochenen, schwachen Geländer, welches die Thürme umkränzt und die Verlängerung des Seitenschiffes hinter dem Chore einfaßt, eine scheußliche Gestalt: auch das war der Bucklige von Notre-Dame. In diesem Augenblicke nahm, wie die Nachbarn erzählten, die ganze Kirche etwas Phantastisches, Uebernatürliches, Schreckliches an; Augen und Mäuler der Figuren öffneten sich hier und da; man hörte die Hunde heulen, die Schlangen- und Drachenfiguren zischen, welche mit vorgerecktem Halse und offenem Rachen Tag und Nacht rings um die ungeheure Kathedrale wachen. Und wenn es in einer Nacht des Weihnachtsfestes war, während die große Glocke zu röcheln schien und die Gläubigen zur lichterglänzenden Mitternachtsmesse rief, hatte die dunkle Façade ein derartiges Aussehen angenommen, daß man hätte glauben mögen, das große Portal verschlänge die Menschenmenge und die Rosette blicke sie wie ein Auge an. Und alles das kam von Quasimodo her. In Aegypten hätte man ihn für den Gott dieses Tempels gehalten; im Mittelalter hielt man ihn für den bösen Geist desselben: er war seine Seele.

Unter diesem Umstande ist Notre-Dame für diejenigen, welche wissen, daß Quasimodo gelebt hat, heute verlassen, entseelt, todt. Man fühlt, daß hier etwas verschwunden ist. Dieser ungeheure Leib ist verlassen; er ist ein Skelett; der Geist ist entwichen, man sieht seinen Platz, aber das ist alles. Sie ist jetzt einem Schädel ähnlich, in dem sich noch die Höhlen für die Augen befinden, aus denen aber kein Blick mehr strahlt.

  1. [Lateinisch: Der Hüter eines Riesenthieres, noch schrecklicher selbst. Anm. d. Uebers.]
  2. [ Lateinisch: Ein boshafter Knabe ist stark. – Thomas Hobbes, englischer Philosoph (1588–1679)« Anm. d. Uebers.]
  3. [Name des mittelalterlichen Richtplatzes in der Nähe von Paris. Anm. d. Autors.]
  4. [ Lateinisch: Der Engelsgruß, Gebet zur heiligen Jungfrau. Anm. d. Uebers.]

1. Der große Saal.

Heute vor dreihundertachtundvierzig Jahren sechs Monaten und neunzehn Tagen erwachten die Pariser unter dem Geläute aller Glocken, welche innerhalb des dreifachen Bereiches der Altstadt, Südstadt oder des Universitätsviertels und der Nordstadt mit lautem Schalle ertönten.

Und dennoch ist der 6. Januar 1482 kein Tag, von dem die Geschichte eine Erinnerung bewahrt hat. Nichts Merkwürdiges war an dem Ereignisse, welches seit dem Morgen die Glocken und die Bürger von Paris so in Bewegung und Erregung versetzte. Weder war es ein Ueberfall der Picarden oder der Burgunder, noch ein glänzender Jagdaufzug, noch ein Studententumult im Weingarten von Laas, noch ein Einzug »unseres allergnädigsten Herrn, des sehr gefürchteten Herrn Königs«, noch auch eine hübsche Aufknüpfung von Spitzbuben und Diebinnen im Gerichtshofe zu Paris. Nein, nicht einmal die im fünfzehnten Jahrhunderte so häufige Ueberraschung durch irgend welche verbrämte und mit Federbüschen geschmückte Gesandtschaft war es. Vor kaum zwei Tagen hatte der letzte derartige Aufzug, nämlich derjenige der flamländischen Gesandten, welche mit Abschließung des Ehebündnisses zwischen dem Dauphin und Margarethen von Flandern beauftragt waren, seinen Einzug in Paris gehalten, zum großen Verdrusse des Herrn Cardinals von Bourbon, welcher, dem Könige zu gefallen, dieser ganzen tölpelhaften Gesellschaft flamländischer Bürgermeister höflich begegnen und sie in seinem Palaste Bourbon mit einem »viel köstlichen Moralitätsspiele, Possen- und Schwankspiele« hatte unterhalten müssen, während ein Platzregen die prächtigen Teppiche vor seinem Thore überschwemmte.

Der 6. Januar, welcher »die ganze Bevölkerung von Paris in Bewegung brachte«, wie Jehan von Troyes erzählt, vereinigte seit undenklicher Zeit ein Doppelfest in sich: das des Königstages und des Narrenfestes.

An diesem Tage mußte es Freudenfeuer auf dem Grèveplatze, Maienaufpflanzung in der Kapelle Braque und geistliches Schauspiel im Justizpalaste geben. Am Abend vorher war es unter Trompetenschall in den Gassen durch des Herrn Oberrichters Leute in ihren Waffenröcken von violettem Camelot, mit großen weißen Kreuzen auf der Brust, ausgerufen worden.

Das Gedränge der Bürger und Bürgerinnen wogte also vom Morgen an, und nachdem Häuser und Verkaufsläden geschlossen waren, von allen Seiten nach einer der drei bezeichneten Stellen hin. Ein jeder hatte Partei genommen: der eine für das Freudenfeuer, der andere für die Maie, der dritte für das geistliche Schauspiel. Zum Ruhme des einfachen, gesunden Menschenverstandes der Pariser Maulaffen muß man sagen, daß der größte Teil der Menge seine Schritte nach dem Freudenfeuer lenkte, welches ganz zum Wetter paßte, oder nach dem Schauspiele, welches in dem wohl verdeckten und geschlossenen Saale des Palastes aufgeführt werden sollte; und daß die Schaulustigen übereingekommen waren, die arme, grüne Maie ganz allein unter dem Januarhimmel auf dem Kirchhofe der Kapelle Braque frieren zu lassen.

Das Volk wogte vornehmlich auf den Zugängen nach dem Justizpalaste, weil man wußte, daß die flamländischen Gesandten, welche vor zwei Tagen eingetroffen waren, sich entschlossen hatten, der Aufführung des Schauspiels und der Wahl des Narrenpapstes beizuwohnen, die gleichfalls im großen Saale stattfinden sollte.

Es war kein leichtes Vorhaben, an diesem Tage in jenen Saal zu gelangen, welcher damals für den größten bedeckten Raum, der in der Welt war, galt (freilich hatte Sauval den großen Saal des Schlosses Montargis noch nicht ausgemessen). Der menschenbedeckte Platz vor dem Palaste bot den Schaulustigen an den Fenstern den Anblick eines Meeres dar, in welches fünf bis sechs Straßen als ebenso viele Strommündungen jeden Augenblick neue Fluten von Köpfen ergossen. Die Wogen dieser unaufhörlich zunehmenden Menge brachen sich an den Ecken der Häuser, welche hier und da, wie ebenso viele Vorgebirge in das unregelmäßige Becken des Platzes hervortraten. In der Mitte der hohen gothischen 2 Façade des Palastes wogte die große Treppe unaufhörlich ein Doppelstrom auf und ab, welcher, nachdem er sich unter dem Zwischenperron gebrochen hatte, in großen Wellen auf seine beiden Seitentreppen hinströmte; ohngefähr, behaupte ich, wie eine Cascade in einen See spie die große Treppe unaufhörlich Menschen auf den Platz. Das Schreien, Lachen, Stampfen dieser Tausende von Füßen verursachte einen großen Lärm und mächtiges Toben. Von Zeit zu Zeit verdoppelten sich dieses Toben und Lärmen, sobald der Strom, welcher die ganze Menschenmasse nach der großen Treppe zu trieb, zurückprallte, durcheinander wogte und wirbelte; oder wenn ein Häscher Rippenstöße vertheilte, oder das Pferd eines Sergeanten vom Gerichtsamte hinten ausschlug, um die Ordnung wieder herzustellen: – eine herrliche Ueberlieferung, welche das Obergerichtsamt an die Landreiter, und die Landreiter an unsere Pariser Gendarmerie vererbt haben.

An den Thüren, in den Fenstern, an den Dachluken, auf den Dächern wimmelte es von Tausenden jener guten, ruhigen, rechtlichen Bürgergestalten, welche den Palast betrachteten, das Gedränge beobachteten und nichts weiter verlangten; denn sehr viele Leute in Paris sind schon zufrieden, Zuschauer von Zuschauern sein zu können, und für manche von uns ist schon eine Mauer, hinter der sich etwas ereignet, eine sehr merkwürdige Sache.

Wenn es uns, den Menschen von 1830, erlaubt wäre, im Gedanken uns unter diese Pariser des fünfzehnten Jahrhunderts zu mischen, und mit ihnen, gedrängt, gestoßen und getreten in den ungeheuern Saal des Palastes einzudringen, welcher am 6. Januar 1482 so beengt war, – dies Schauspiel würde für uns nicht ohne Reiz und Vergnügen sein, und wir würden so viel alterthümliche Gegenstände rings um uns erblicken, daß sie uns ganz neu erscheinen müßten.

Wenn es dem Leser recht ist, wollen wir versuchen, den Eindruck zu schildern, den er beim Eintritt in diesen Saal, mitten unter den Schwarm in Wamms, in Jacke und in Weiberrock mit uns empfangen haben würde.

Schon von vornherein sind unsere Ohren betäubt, unsere Augen geblendet. Ueber unseren Köpfen befindet sich ein doppelbogiges Gewölbe, mit Holzbildschnitzereien vertäfelt, azurblau gemalt und mit goldenen Blumen geschmückt; unter unseren Füßen ein abwechselnd aus weißem und schwarzen Marmor zusammengesetzter Boden. Einige Schritte von uns erhebt sich ein riesiger Pfeiler, dann ein zweiter, dann noch einer: im ganzen sieben Pfeiler in der Länge des Saales, der mitten in seiner Breite die Schwibbogen der Doppelwölbung trägt. Rings um die vier ersten Pfeiler stehen Kramläden, die von Glas und Flittertand glänzen, um die drei Letzten Bänke von Eichenholz, die von den Hosen der Processirenden und den Amtskleidern der Sachwalter abgenutzt und glatt gesessen sind. Ringsum im Saale, längs der hohen Wände, zwischen den Thüren, den Nischen und den Pfeilern befinden sich in unabsehbarer Reihe die Statuen aller Könige Frankreichs seit Pharamund: die schwachen Regenten unter ihnen mit herabhängenden Armen und gesenkten Blicken; die tapferen, schlachtberühmten mit muthig zum Himmel erhobenem Haupte und Händen. In den hohen Rundbogenfenstern aber glänzen tausendfarbige Scheiben; an den breiten Ausgängen des Saales sehen wir reiche Thüren mit schöner Holzschnitzerei; und das Ganze: Gewölbe, Pfeiler, Wände, Simswerk, Täfelung, Thüren und Statuen, ist von oben bis unten mit glänzender Malerei in Blau und Gold bedeckt, welche, als schon ein wenig gedunkelt in dem Zeitraume wo wir sie sehen, im Jahre der Gnade 1549, wo Du Breul sie nach der Überlieferung noch bewunderte, fast ganz unter dem Staube und den Spinneweben verschwunden war. Nun denke man sich diesen ungeheuren Saal in rechteckiger Gestalt erleuchtet von dem matten Lichte eines Januartages, überschwemmt von einer lärmenden und bunten Menge, die längs der Wände hinflutend um die sieben Pfeiler brandet, und man wird einen allgemeinen Eindruck von dem ganzen Gemälde haben, das wir in seinen merkwürdigen Einzelnheiten zu schildern versuchen wollen.

Sicher ist, daß, wenn Ravaillac Heinrich den Vierten überhaupt nicht ermordet hätte, es gar keine Proceßacten Ravaillacs, die in der Kanzlei des Justizpalastes lagen, gegeben haben würde; daß keine Mitschuldigen Interesse daran gehabt hätten, die genannten Acten verschwinden zu lassen; folglich keine Brandstifter erforderlich waren, um, mangels eines bessern Mittels, die Kanzlei anzuzünden, um die Acten zu verbrennen, und den Justizpalast einzuäschern, um die Kanzlei mit Feuer zu vernichten; in Folge wovon es schließlich 1618 keine Feuersbrunst gegeben hätte. Der alte Palast mit seinem alten großen Saale würde noch stehen, und ich könnte zum Leser sprechen: »Geh hin und sieh ihn an«; und wir würden demnach alle beide überhoben sein: ich, eine Beschreibung zu geben, und er, eine mittelmäßige Beschreibung zu lesen. – Diese neue Wahrheit beweist, daß große Ereignisse unberechenbare Folgen haben.

Freilich würde es sehr wohl möglich sein können, sobald Ravaillac keine Mitschuldigen hatte; hernach, daß seine Mitschuldigen, sofern er solche zufällig hatte, beim Brande von 1618 umsonst waren. Es giebt dafür zwei andere sehr annehmbare Erklärungen. Erstens: den großen flammenden Stern von ein Fuß Breite und einer Elle Höhe, der, wie jedermann weiß, am 7. März nach Mitternacht vom Himmel auf den Palast fiel. Zweitens: den vierzeiligen Vers Theophiles:

Der Spaß war wahrlich theuer,
Als in Paris der Dame Recht
Vom zu viel Schlingen wurde schlecht,
Der Palast ganz aufging in Feuer.

Was man von dieser dreifachen politischen, natürlichen und poetischen Erklärung des Brandes des Justizpalastes im Jahre 1618 auch denken mag, die unglücklicherweise feststehende Thatsache ist der Brand. Heute ist nur noch sehr wenig vorhanden, Dank diesem Unglücke, Dank vornehmlich den verschiedenen Wiederherstellungsversuchen im Laufe der Zeit, welche vollends zu Grunde gerichtet haben, was er verschont hatte; es ist nur noch sehr wenig von diesem ersten Aufenthaltsorte der französischen Könige, von diesem ursprünglichen Palastbaue des Louvre übrig, der schon zu Philipps des Schönen Zeit so alt war, daß man hier nach den Spuren der prächtigen Bauten forschte, die vom König Robert aufgeführt und von Helgaldus beschrieben worden sind. Fast alles ist verschwunden. Was ist aus dem Zimmer der Kanzlei geworden, wo der heilige Ludwig »seine Ehe vollzog«? Was aus dem Garten, wo er Recht sprach, »angethan mit einem Camelotrocke, mit einem grobwollenen Obergewande ohne Aermel, und mit einem Mantel darüber von schwarzem Sandal, auf Teppichen liegend mit Joinville«? Wo ist das Zimmer des Kaisers Sigismund? Dasjenige Karls des Vierten? Dasjenige Johanns ohne Land? Wo ist die Treppe, von welcher Karl der Sechste sein Gnadenedict verkündete? Die Steinplatte, wo Marcel, in Gegenwart des Dauphins, den Robert von Clermont und den Marchal von Champagne erwürgte? Das Pförtchen, wo die Bullen des Gegenpapstes Benedikt zerrissen wurden, und aus welchem diejenigen mit Spottchorröcken und Bischofsmützen angethan heraustraten, welche sie überbracht hatten, und welche öffentliche Buße durch ganz Paris thaten? Und wo der große Saal mit seiner Vergoldung, seinem Azurblau, seinen Spitzbogen, seinen Statuen, seinen Pfeilern; wo sein ungeheures Gewölbe, das von Steinmetzarbeiten ganz überzogen war? Und das vergoldete Zimmer? Und der steinerne Löwe, der an der Thür stand, mit gesenktem Kopfe, den Schwanz zwischen den Beinen, wie die Löwen an Salomo’s Throne, in der demüthigen Stellung, welche sich für die Stärke vor der Gerechtigkeit schickt? Und wo die schönen Thüren, und die farbenprächtigen Fenster? Wo die getriebenen Eisenbeschläge, welche Biscornette abschreckten? Und die zierlichen Schreinerarbeiten Du Hancys?… Was hat die Zeit, was haben die Menschen aus diesen Wunderwerken gemacht? Was hat man uns für alles das gegeben; für jene ganze Geschichte unserer Vorfahren, für jene ganze gothische Kunst? Die plumpen Halbwölbungen des Herrn de Brosse, dieses ungeschickten Baumeisters des Portals von Saint-Gervais – das hat man uns für die Kunst gegeben; und was die Geschichte betrifft, so haben wir die geschwätzigen Erinnerungen der dicken Schandsäule, die noch völlig wiederhallt von dem Altweibergewäsch der Leute wie Patru. 3 Das hat keine Bedeutung. – Wir wollen zu dem wirklichen großen Saale in dem wirklichen alten Palaste zurückkehren.

Die beiden Endseiten dieses gigantischen Rechtecks waren gleichfalls nicht frei: die eine war von der berühmten Marmorplatte aus einem Stücke eingenommen, welche so lang, breit und dick war, wie man sie niemals gesehen hat, erzählen die alten Grundbuchacten in einem Stile, der die Begierde Gargantua’s, »eines ähnlichen Marmorblockes in der Welt« gereizt haben würde; an der andern Seite befand sich die Kapelle, in welcher Ludwig der Elfte, auf den Knien vor der heiligen Jungfrau liegend, sich in Marmor hatte abkonterfeien lassen, und wohin er, unbekümmert, daß zwei Nischen in der Reihe der königlichen Standbilder leer würden, diejenigen Karls des Großen und des heiligen Ludwig hatte bringen lassen, – zwei Heilige, von denen er glaubte, daß sie als Könige von Frankreich im Himmel großes Ansehn hätten. Diese noch neue, kaum seit sechs Jahren fertige Kapelle war ganz im reizenden Geschmacke jener feinen Bauart und wunderbaren Meisel- und Grabstichelarbeit ausgeführt, die in Frankreich das Ende der gothischen Bauperiode kennzeichnet, und bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in den zauberischen Phantasiespielen der Renaissance fortdauert. Die kleine, durchbrochene Rosette über dem Portale besonders war ein Meisterwerk von Zartheit und Anmuth: man hätte sie für einen Stern aus Spitzen halten mögen.

Mitten im Saale, der großen Thür gegenüber, war eine mit Goldbrokat bedeckte Erhöhung, die bis an die Mauer reichte, errichtet worden, und auf ihr durch ein Fenster aus dem Gange zu dem sogenannten goldenen Zimmer, ein besonderer Eingang für die flamländischen Gesandten und andere hohe Personen hergestellt, die zur Aufführung des Schauspieles geladen worden waren.

Dieses Schauspiel mußte dem Herkommen gemäß auf der Marmorplatte aufgeführt werden. Am Morgen war sie dazu hergerichtet worden; die große Marmorfläche, die von den Absätzen der Parlamentsschreiber ganz zerritzt war, trug ein ziemlich hohes Balkengerüst, dessen Oberfläche, vom ganzen Saale aus sichtbar, als Theater dienen sollte, während sein mit Teppichen ringsum verhängtes Innere für die Personen des Stückes als Ankleidezimmer herhalten mußte. Eine Leiter, die offenherzig außerhalb angebracht war, sollte die Communication zwischen Scene und Ankleidezimmer unterhalten, und ihre steilen Sprossen den auf- und abtretenden Personen herleihen. Da gab es keine so plötzliche Erscheinung, keine Entwicklung im Schauspiel, keinen Theatereffect, der nicht gezwungen gewesen wäre, auf der Leiter hinaufzuklettern. – O du unschuldige, theuere Einfalt in Kunst und Maschinerien!

Vier Diener des Gerichtsvogtes, die gewöhnlichen Aufseher aller Volksbelustigungen sowohl an den Festtagen, als an den Hinrichtungstagen, standen an den vier Ecken der Marmorplatte. Erst mittags, beim zwölften Glockenschlage auf der großen Palastuhr sollte das Stück beginnen. Das war freilich recht spät für eine Theateraufführung; aber man hatte auf die Zeit der Gesandtschaft Rücksicht zu nehmen.

Nun wartete diese ganze Menge schon seit dem Morgen. Eine gute Anzahl dieser neugierigen Spießbürger fror seit Tagesanbruch vor der großen Treppe des Palastes; ja, einige versicherten, die ganze Nacht dem Thore gegenüber zugebracht zu haben, um sicher zuerst den Saal zu betreten. Die Menge wurde jeden Augenblick dichter, und wie ein Gewässer, das sein Bett verläßt, fing sie an längs der Wände in die Höhe zu steigen, um die Säulen herum anzuschwellen, an den Täfelungen, Karnießen, Fensterbrettern, an allen Vorsprüngen der Architektur und an allen Erhöhungen der Bildhauerarbeit hinaufzusteigen. Dazu der Zwang, die Ungeduld, die Langeweile, die Zügellosigkeit eines frechen Narrenfestes, die Streitigkeiten, welche bei jeder Gelegenheit wegen eines spitzen Ellenbogens, eines eisenbeschlagenen Schuhes ausbrachen, das ermüdend lange Warten, – alles das gaben schon lange vor der Zeit, in welcher die Gesandtschaften anlangen sollten, dem Geschrei dieses eingeschlossenen, eingepferchten, gequetschten, erstickten Volkes einen scharfen und bittern Ausdruck. Man hörte nur Klagen oder Verwünschungen gegen die Flamländer, gegen den Oberbürgermeister, den Cardinal von Bourbon, den Palastvogt, gegen Madame Margarethe von Oestreich, gegen die Polizisten, über Kälte, Hitze und schlechtes Wetter, gegen den Bischof von Paris, gegen den Narrenpapst, gegen die Pfeiler und Statuen, gegen diese verschlossene Thür und jenes offene Fenster, – alles das zur großen Belustigung der unter der Volksmenge zerstreuten Studenten- und Bedientenrudel, welche diese Unzufriedenheit durch ihre boshaften Neckereien erhöhten, und die allgemeine Mißstimmung, so zu sagen, mit Nadelstichen reizten.

Unter anderen befand sich ein Haufe dieser lustigen Teufel, welche die Scheiben eines Fensters eingestoßen und sich keck auf das Gesims gesetzt hatten, und von wo aus sie ihre Blicke und Spöttereien abwechselnd bald nach innen, bald nach außen, auf die Menge im Saale und auf die des Platzes hinschickten. An ihren äffenden Geberden, an ihrem lauten Gelächter, an den spöttischen Zurufen, welche sie von einem Ende des Saales bis zum andern mit ihren Kameraden wechselten, konnte man leicht erkennen, daß diese jungen Gelehrten nicht die Langeweile und die Ermüdung der übrigen Anwesenden theilten, sondern daß sie recht gut verstanden, bei dem, was unter ihren Augen vorging, zu ihrem Privatvergnügen ein Schauspiel zu genießen, welches sie das andere geduldig erwarten ließ.

»Bei meiner Seele, Ihr seid’s, Johannes Frollo de Molendino!« rief einer von ihnen einer Art kleinem blonden Teufel mit hübschem und schalkhaften Gesichte zu, der sich an das Laubwerk eines Säulenknaufes angeklammert hatte, »Ihr heißt ganz richtig Mühlenhannes, denn Eure zwei Arme und Beine sehen ganz wie vier Flügel aus, die im Winde tanzen. Seit wie lange seid Ihr hier?«

»Bei der Gnade des Teufels,« antwortete Johannes Frollo, »seit mehr als vier Stunden, und ich hoffe mit Recht, daß sie mir dereinst auf meine Fegefeuerzeit angerechnet werden. Ich habe um Sieben die acht Sänger des Königs von Sicilien die erste Strophe des Hochamts in der heiligen Kapelle anstimmen hören.«

»Schöne Sänger das!« versetzte der andere, »und die eine noch spitzere Stimme haben, als ihre Mütze. Ehe der König dem heiligen Herrn Johannes eine Messe stiftete, hätte er sich erst erkundigen sollen, ob der heilige Herr Johannes lateinischen Psalmengesang mit provençalischem Accent vertragen kann.«

»Blos um die verdammten Sänger des Königs von Sicilien anzubringen, hat er das gethan,« rief ärgerlich ein altes Weib in der Menge unter dem Fenster. »Ich frage Euch nur! tausend Livres Pariser Münze für eine Messe! Und außerdem die Pachtung des Seefisches in den Markthallen von Paris auch noch!«

»Ruhig, Alte!« versetzte ein dicker ernsthafter Mann, welcher sich neben dem Fischweibe die Nase zuhielt, »er mußte wohl eine Messe stiften. Möchtet Ihr etwa, daß der König wieder krank würde?«

»Brav gesprochen, Herr Gilles Lecornu, Meister Hofkürschner!« rief der kleine Student, der am Säulenknaufe sich angeklammert hatte.

Ein lautes Gelächter aller Studenten bewillkommnete den unglücklichen 4 Namen des armen Hofkürschners.

»Lecornu! Gilles Lecornu!« riefen die einen.

»Cornutus et hirsutus,« 5 entgegnete ein anderer.

»Ei gewiß,« fuhr der Kleine oben auf dem Säulenknaufe fort. »Was ist da zu lachen? Ein Ehrenmann, der Gilles Lecornu, der Bruder des Meisters Johann Lecornu, des Profoß im königlichen Palaste, der Sohn vom Meister Mahiet Lecornu, dem Oberwaldhüter im Gehölz von Vincennes, – alles Bürger von Paris, alle verheirathet vom Vater bis zum Sohne!«

Die Ausgelassenheit verdoppelte sich. Der dicke Kürschner bemühte sich, ohne ein Wort zu sprechen, den Blicken sich zu entziehen, die überallher auf ihn gerichtet waren; – aber vergebens schwitzte und keuchte er: wie ein Keil, der ins Holz getrieben wird, dienten die Anstrengungen, die er machte, nur dazu, sein breites, aufgedunsenes, vor Zorn und Aerger purpurrotes Gesicht noch fester zwischen die Schultern seiner Nachbarn einzuklemmen. Endlich kam ihm einer von diesen, welche kurz, dick und ansehnlich wie er waren, zu Hilfe.

»Abscheulich! Schuljungen, die so mit einem Bürger sprechen! Zu meiner Zeit hätte man sie mit Ruthen ausgepeitscht, und dann hätte man sie verbrannt.«

Die ganze Bande brach nun los.

»Holla he! wer liest da einem den Text? Wer ist der Unglücksrabe?«

»Warte, ich kenne ihn,« sagte ein anderer, »es ist Meister Andry Musnier.«

»Jawohl, es ist einer von den vier geschworenen Universitätsbuchhändlern,« sagte ein anderer.

»Alles ist vierfach in dieser Bude,« schrie ein dritter, »die vier Nationen, die vier Facultäten, die vier Feste, die vier Procuratoren, die vier Wahlmänner, die vier Buchhändler.«

»Nun wohl,« entgegnete Johann Frollo, »man muß ihnen auch den Teufel vervierfachen.«

»Musnier, wir werden deine Bücher verbrennen.«

»Musnier, wir werden deinen Diener prügeln.«

»Musnier, wir werden deine Frau zerdrücken.«

»Die gute, dicke Frau Oudarde.«

»Die so frisch und so lustig ist, als wäre sie Witwe.«

»Möge der Teufel euch holen!« brummte Meister Andry Musnier.

»Meister Andry,« fing Johann wieder an, welcher immer noch an seinem Säulenknaufe hing, »sei stille, oder ich falle dir auf den Kopf!«

Meister Andry hob die Augen auf, schien einen Augenblick die Höhe des Pfeilers, die Schwere des Burschen zu taxiren, multiplicirte in Gedanken diese Schwere mit dem Quadrate der Geschwindigkeit, und schwieg.

Johann, Herr des Schlachtfeldes, fuhr triumphirend fort:

»Ja, das würde ich thun, obgleich ich der Bruder eines Archidiaconus bin!«

»Schöne Herren, unsere Leute von der Universität! nicht einmal an einem Tage, wie dem heutigen, unsere Privilegien in Ruhe zu lassen! Kurz, in der Nordstadt giebt’s Maifest und Freudenfeuer, in der Altstadt Schauspiel, Narrenpapst und flamländische Gesandte, und im Universitätsviertel – nichts!«

»Und doch ist der Maubertsplatz groß genug!« entgegnete einer von den Burschen, die auf dem Fensterbrette campirten.

»Nieder mit dem Rector, mit den Wahlmännern, mit den Procuratoren!« rief Johann.

»Diesen Abend wird man im Champ-Gaillard ein Freudenfeuer machen müssen,« fuhr der andere fort, »mit den Büchern Meister Andry’s.«

»Und mit den Pulten der Schreiber,« sagte sein Nachbar.

»Und den Stöcken der Pedelle!«

»Und den Spucknäpfen der Decane!«

»Und den Aktenschränken der Procuratoren!«

»Und den Kasten der Wahlmänner!«

»Und den Fußschemeln des Rectors!«

»Nieder!« rief der kleine Johann mit falscher Baßstimme, »nieder mit Meister Andry, mit den Pedellen und Schreibern, nieder mit den Theologen, Medicinern und Decretisten; mit den Procuratoren, den Wahlmännern und mit dem Rector!«

»Das ist ja das Weltende!« murmelte Meister Andry, indem er sich die Ohren verstopfte.

»Ei seht da, der Rector! Da geht er auf dem Platze,« rief einer von denen im Fenster. Die Folge war, daß sich alles nach dem Platze wandte.

»Ist das wirklich unser ehrwürdiger Rector, Meister Thibaut?« fragte Johann Frollo du Moulin, der an einem Pfeiler im Innern hängend, nicht sehen konnte, was draußen vorging.

»Ja, ja,« antworteten alle andern, »gewiß, er ist es, Meister Thibaut, der Rector.«

Es war in der That der Rector mit allen Würdenträgern der Universität, welche in feierlichem Zuge der Gesandtschaft entgegengingen, und in diesem Augenblicke den Platz des Palastes überschritten. Die in das Fenster gedrängten Studenten empfingen sie beim Vorübergehen mit Spottreden und ironischem Beifallsgeschrei. Der Rector, welcher dem Zuge voranschritt, erhielt die erste Salve; sie war stark.

»Guten Tag, Herr Rector! Holla! ei! Guten Tag denn!«

»Wie kommt es, daß er hier ist, der alte Spieler? Er hat also seine Würfel verlassen?«

»Wie er auf seinem Maulesel einhertrottet! der hat weniger lange Ohren, als er.«

»Holla, he! Guten Tag, Herr Rector Thibaut! Tybalde aleator! 6 Alter Esel, alter Spieler!«

»Gott schütze Euch! Habt Ihr vergangene Nacht oft Doppel-Sechs geworfen?«

»O! seht einmal das hinfällige, bleifarbige, matte Gesicht, mit den Spuren der Spielwuth darin!«

»Wo geht es jetzt hin, Thibaut, Tybalde ad clades, 7 weil Ihr der Universität den Rücken zugekehrt habt und nach der Stadt trabt?«

»Zweifelsohne will er eine Wohnung in der Straße Thibautodé 8 suchen,« schrie Johann du Moulin.

Die ganze Bande wiederholte den faulen Witz mit donnerndem Geschrei und wüthenden Händeklatschen.

»Ihr wollt Euch in der Straße Thibautodé Wohnung suchen, nicht wahr, Herr Rector, Ihr Spielcumpan des Teufels?«

Dann kamen die andern Würdenträger an die Reihe.

»Nieder mit den Pedellen! nieder mit den Stabträgern!«

»Sage mir doch, Robin Poussepain, wer ist denn jener dort?«

»Das ist Gilbert von Suilly, Gilbertus de Soliaco, der Kanzler des Collegiums Autun.«

»Da hast du meinen Schuh: wirf ihn diesem an den Kopf; du hast einen bequemeren Platz als ich.«

» Saturnalitias mittimus ecce nuces9

»Nieder mit den sechs Theologen in ihren weißen Chorhemden!«

»Das dort sind die Theologen? – Ich dachte, es wären die sechs weißen Gänse, welche Sanct Genoveva der Stadt für das Lehngut von Roogny geweiht hat.«

»Nieder mit den Medicinern!«

»Fort mit den schwerfälligen und abgeschmackten Redeübungen!«

»Da fliegt dir meine Mütze an den Kopf, Kanzler von Sanct Genoveva! Du hast mir Unrecht gethan.«

»Jawohl! er hat meine Stelle in der normannischen Landsmannschaft dem kleinen Ascanio Falzaspada gegeben, der zur Provinz Bourges gehört, weil er ein Italiener ist.«

»Das ist eine Ungerechtigkeit,« sagten alle Studenten. »Nieder mit dem Kanzler von Sanct Genoveva!«

»Ho he! Meister Joachim von Ladehors! Ho he! Ludwig Dahuille! Ho he! Lambert Hoctement!«

»Hole der Teufel den Procurator der deutschen Landsmannschaft!«

»Und die Kapläne der heiligen Kapelle in ihren grauen Pelzmänteln, cum tunicis grisis

» Seu de pellibus grisis fourratis!« 10

»Holla, seht, die Meister der freien Künste! Die ganzen schönen Schwarz- und Rothmäntel!«

»Die bilden einen schönen Schweif für den Rector!«

»Man möchte ihn für einen Dogen von Venedig halten, der sich mit dem Meere vermählen will.«

»Sind das die Canonici von Sanct Genoveva, Johann?«

»Zum Teufel mit den Canonicis!«

»Abt Claude Choart! Doctor Claude Choart! sucht Ihr Marie la Giffarde?«

»Sie wohnt in der Straße Glatigny.«

»Sie macht dem Hurenkönige das Bett.«

»Sie zahlt ihre vier Heller; quator denarios.«

»Aut unum bombum!«

»Soll sie Euch hinter die Ohren bezahlen?«

»Kameraden! Meister Simon Sanguin, der Wahlmann der Picarden, der seine Frau hinter sich auf dem Pferd hat!«

» Post equitem sedet atra cura« 11

»Muthig, Meister Simon!«

»Guten Tag, Herr Wahlmann!«

»Gute Nacht, Frau Wählerin!«

»Sind die doch glücklich, alles sehen zu können,« seufzte Johannes de Molendino, der immer noch am Blätterwerke seines Säulenknaufes hing.

Währenddem neigte sich Meister Andry Musnier, der geschworene Universitätsbuchhändler, zum Ohre des Hofkürschners, Meister Gilles Lecornu.

»Ich sage Euch, Herr, es ist das Ende der Welt da. Man hat wohl niemals solche Zügellosigkeiten der Studentenschaft gesehen! Das kommt aber von den verfluchten Erfindungen dieses Jahrhunderts, die noch alles verderben: von den Geschützen, Feldschlangen und Donnerbüchsen, und vor allem vom Buchdruck, dieser zweiten deutschen Pest. Giebt’s keine Manuscripte mehr, giebt’s keine Bücher mehr! Der Buchdruck vernichtet den Buchhandel. Das Ende der Welt ist nahe.«

»Ich merke es auch recht am Überhandnehmen der Sammetstoffe,« sagte der Pelzhändler.

In demselben Augenblicke schlug es Zwölf.

»Ah!…« machte der ganze Haufe mit einem Munde.

Die Studenten schwiegen. Nun entstand eine große Verwirrung, eine geräuschvolle Bewegung der Füße und der Köpfe, ein starkes, allgemeines Gehuste und Geschneuze; jeder stellte sich zurecht, richtete sich in die Höhe. Nun tiefes Schweigen; alle Hälse blieben gereckt, alle Mäuler offen, alle Blicke nach der Marmortafel gerichtet … nichts war dort zu sehen. Die vier Diener des Vogtes waren immer noch da, starr und unbeweglich, wie vier bemalte Statuen. Alle Augen wandten sich nach der, für die flamländischen Gesandten bestimmten Tribüne. Die Thür blieb geschlossen, und die Tribüne leer. Diese Menschenmasse erwartete nun seit der Frühe dreierlei: die Mittagsstunde, die flandrische Gesandtschaft, das geistliche Schauspiel. Der Mittag allein war da, auf die Minute. Das war für diesmal zu viel!

Man wartete eine, zwei, drei, fünf Minuten, eine Viertelstunde: nichts kam. Die Tribüne blieb leer, das Theater stumm. Da folgte der Ungeduld der Zorn auf dem Fuße nach. Gereizte Worte flogen umher, allerdings noch mit leiser Stimme. »Das Schauspiel! das Schauspiel!« murmelte man dumpf. Die Köpfe erhitzten sich. Eine Wetterwolke, die nur erst noch grollte, zog über die Häupter dieser Menge hin und her.

Johann du Moulin war es, der ihr den ersten Funken entlockte.

»Das Schauspiel, und zum Teufel mit den Flamländern!« schrie er aus Leibeskräften, indem er sich wie eine Schlange um seinen Säulenknauf wand.

Die Menge klatschte in die Hände.

»Das Schauspiel,« wiederholte sie, »und mit Flandern zu allen Teufeln!«

»Wir müssen das Stück auf der Stelle haben,« fuhr der Student fort, »oder ich bin der Ansicht, wir hängen den Palastvogt, als Ersatz für Lustspiel und Schauspiel.«

»Wohl gesprochen,« schrie das Volk, »und laßt uns mit den Gerichtsdienern das Hängen beginnen.«

Rauschender Beifall folgte. Die vier armen Teufel fingen an blaß zu werden und sich gegenseitig anzusehen. Die Menge drang auf sie ein, und sie sahen schon das schwache Holzgeländer, das sie von ihr trennte, sich biegen und unter dem Drängen der Menge zusammenbrechen. Der Augenblick war kritisch.

»Drauf! drauf!« schrie man von allen Seiten.

In diesem Augenblicke hob sich der Teppich des Ankleidezimmers, welches wir oben beschrieben haben, und ließ eine Person herein, deren bloßer Anblick die Menge plötzlich zum Stehen brachte, und wie mit einem Zauberschlage ihren Zorn in Neugierde verwandelte.

»Still! still!«

Die Person trat, ziemlich bestürzt und an allen Gliedern zitternd, an den Rand der Marmorplatte unter vielen Verbeugungen, die, je näher sie kam, zu förmlichen Kniebeugungen wurden.

Indessen war die Ruhe nach und nach wieder hergestellt. Nur jenes leise Geräusch blieb übrig, das selbst noch beim Schweigen der Menge vernommen wird.

»Meine Herren Bürger,« sagte die Person, »und meine werthen Bürgerinnen, wir sollen die Ehre haben, ein sehr schönes Schauspiel mit Namen: »Das gerechte Urtheil unserer lieben Jungfrau Maria« vor Seiner Eminenz dem Herrn Cardinal vortragen und aufführen. Ich selbst gebe den Jupiter. Seine Eminenz begleitet in diesem Augenblicke die sehr ehrenwerthe Gesandtschaft des Herrn Herzogs von Oesterreich; diese ist gegenwärtig noch an der Pforte Baudets aufgehalten, um die Begrüßungsrede des Herrn Universitätsrectors anzuhören. Sobald der hochwürdigste Herr Cardinal angekommen sein wirb, wollen wir anfangen.«

Sicherlich bedurfte es nichts weniger, als der Dazwischenkunft Jupiters, um die vier unglücklichen Diener des Palastvogtes vom Verderben zu retten. Wenn wir das Glück hätten, diese sehr glaubwürdige Geschichte erfunden zu haben, und folglich vor unserer Dame, der Kritik, dafür verantwortlich zu sein, so könnte man sich in diesem Augenblicke uns gegenüber nicht auf die klassische Vorschrift berufen: » Nec deus intersit.« 12

Uebrigens war das Costüm des Herrn Jupiter sehr schön, und hatte nicht wenig dazu beigetragen, die Menge zu beruhigen, deren ganze Aufmerksamkeit er auf sich zog. Herr Jupiter war in ein Panzerhemd aus schwarzem Sammet, der mit vergoldeten Nägeln beschlagen war, gekleidet; er trug einen Helm mit vergoldeten Silberknöpfen auf dem Kopfe; und wäre der rothe und lange Bart, welcher die Hälfte seines Gesichts bedeckte, wäre die Rolle vergoldeter Pappe nicht gewesen, die er, mit eisernen Haken übersäet und starrend von Flittergoldstreifen, in der Hand trug, und in welchem geübte Augen leicht den Blitzstrahl erkennen konnten; wären die fleischfarbenen, nach griechischer Weise bebänderten Beine nicht gewesen, er hätte wegen der Ernsthaftigkeit seiner Haltung mit einem bretonischen Bogenschützen vom Corps des Herrn von Berry den Vergleich aushalten können.

  1. [Das Wort »gothisch« ist in dem Sinne, in welchem man es gewöhnlich gebraucht, völlig falsch, aber ebenso geheiligt. Wir acceptiren es also, und gebrauchen es, wie alle Welt, um die Baukunst der zweiten Hälfte des Mittelalters zu kennzeichnen: diejenige nämlich, bei welcher der Spitzbogen die Grundlage bildet, und welche auf die Baukunst der ersten Periode folgt, bei welcher der Rundbogen das Princip ist. Anm. d. Verfassers.]
  2. [Patru, Olivier, französischer Schriftsteller und Advocat (1604-81).]
  3. [Lecornu = der Gehörnte (oder der Hahnrei).]
  4. [ Lateinisch: der Gehörnte und Struppige.]
  5. [ Lateinisch: Thibaut, du Spieler!]
  6. [Lateinisch: Thibaut, zu Verlusten.]
  7. [Thibautodé: ein Wortwitz = Thibaut aux dés: Thibaut bei den Würfeln. Anm. d. Uebers.]
  8. [ Lateinisch (in freier Übersetzung): Heute giebt’s faule Aepfel an den Kopf.]
  9. [ Lateinisch: Oder in ihren grauen, pelzgefütterten Mänteln. Anm. d. Uebers.]
  10. [ Lateinisch: Hinter dem Reiter sitzt die finstre Sorge. Anm. d. Uebers.]
  11. [ Lateinisch: Kein Gott soll die Hand im Spiele haben. Anm. d. Uebers.]

4. Der Hund und sein Herr.

Dennoch gab es ein menschliches Wesen, welches Quasimodo von seiner Tücke und seinem Hasse gegen die übrigen Menschen ausgeschlossen hatte und das er ebenso sehr, vielleicht noch mehr, als seine Kathedrale liebte: das war Claude Frollo.

Die Sache war ganz einfach. Claude Frollo hatte ihn bei sich aufgenommen, ihn an Kindesstatt angenommen, ernährt und erzogen. Als kleines Kind hatte er die Gewohnheit, sich zwischen die Beine Claude Frollo’s zu flüchten, wenn Hunde und Kinder auf ihn Jagd machten. Claude Frollo hatte ihn sprechen, lesen und schreiben gelehrt. Endlich hatte ihn Claude Frollo zum Glockenläuter gemacht. Nun aber dem Quasimodo die große Glocke zum Bündnis zu geben, das hieß Julia dem Romeo geben.

Daher war Quasimodo’s Erkenntlichkeit eine tiefe, leidenschaftliche und grenzenlose; und wiewohl das Antlitz seines Pflegevaters oft finster und kalt, wiewohl seine Rede gewöhnlich kurz, hart und befehlerisch war, so hatte sich diese Erkenntlichkeit doch niemals auch nur einen Augenblick verläugnet. Der Archidiaconus hatte in Quasimodo den unterwürfigsten Sklaven, den gelehrigsten Diener, die wachsamste Dogge. Als der arme Glockenläuter taub geworden war, hatte sich zwischen ihm und Claude Frollo eine Zeichensprache gebildet, die geheimnisvoll war und nur von ihnen beiden verstanden wurde. In Folge davon war der Archidiaconus das einzige menschliche Wesen, mit dem Quasimodo im Verkehre geblieben war. Er stand demnach nur mit zwei Dingen dieser Welt in Verbindung: mit Notre-Dame und mit Claude Frollo. Nichts war mit der Herrschaft des Archidiaconus über den Glöckner, und nichts mit der Hingabe des Glöckners für den Archidiaconus zu vergleichen. Es hätte nur eines Zeichens von Seiten Claude’s und nur des Einfalles bedurft, daß es ihm Vergnügen mache – und Quasimodo hätte sich von der Höhe der Notre-Damethürme in die Tiefe gestürzt. Es war ein merkwürdiges Etwas um diese ganze physische Kraft, die bei Quasimodo zu einer so außergewöhnlichen Entwickelung gekommen und von ihm blind zur Verfügung eines andern gestellt war. Es lag dabei ohne Zweifel kindliche Hingabe und die Anhänglichkeit des Dieners an den Herrn zu Grunde, jedenfalls aber auch die Bezauberung eines Geistes durch einen andern. Es war ein elendes, linkisches und ungelenkes Geschöpf, welches mit gesenktem Haupte und stehenden Blicken vor einem erhabenen und tiefen, mächtigen und überlegenen Geiste dastand. Endlich, und vor allem, war es Erkenntlichkeit, eine Erkenntlichkeit, welche bis zur äußersten Grenze getrieben war, so daß wir sie mit nichts zu vergleichen wissen. Gehörte diese Tugend nun nicht zu denen, von welchen sich die schönsten Beispiele unter den Menschen finden? Wir müssen demnach sagen, daß Quasimodo den Archidiaconus liebte, wie nur jemals ein Hund, je ein Pferd, je ein Elephant seinen Herrn geliebt hat.

6. Der zerbrochene Krug.

Nachdem er eine Zeit lang aus allen Leibeskräften gelaufen war, ohne zu wissen wohin, mit dem Kopfe an manche Straßenecke angerannt, über manchen Rinnstein gesprungen war, manches Gäßchen, manche Sackgasse und manchen Kreuzweg durchschritten hatte, Flucht und Durchgang durch alle Windungen der alten Hallenstraße gesucht, in seiner panischen Furcht alles das erspähet, was das schöne Urkundenlatein »tota, via, cheminum et viaria« 39 nennt, blieb unser Dichter plötzlich stehn, zuerst aus Athemlosigkeit, dann von einem Dilemma, welches soeben in seinem dann von einem Dilemma, welches soeben in seinem Geiste aufgestiegen war, gewissermaßen am Kragen festgehalten. »Es scheint, mir, Meister Peter Gringoire,« sagte er zu sich selbst, wobei er den Finger auf die Stirn setzte, »daß Ihr da wie ein Kopfloser rennt. Die kleinen Taugenichtse haben nicht weniger Furcht vor Euch, als Ihr vor ihnen gehabt. Es scheint mir, sage ich Euch, daß Ihr das Getöse ihrer Holzschuhe gehört habt, welches sich nach Süden verlor, während Ihr nach Norden floht. Nun ist von zwei Fällen einer gewiß: sie haben entweder die Flucht ergriffen, und dann ist der Strohsack, den sie in ihrem Schrecken vergessen haben müssen, gerade das gastliche Lager, nach welchem Ihr seit heute Morgen gelaufen seid, und welches Euch die heilige Jungfrau wunderbarerweise geschickt hat, um Euch dafür zu entschädigen, daß Ihr zu ihrer Ehre ein mit Aufzügen und Mummereien ausgestattetes Schauspiel gemacht habt; oder die Knaben haben die Flucht nicht ergriffen, und in diesem Falle haben sie Brand an den Strohsack gelegt, und das ist gerade das treffliche Feuer, welches Ihr nöthig habt, um Euch zu ergötzen, zu trocknen und wieder zu wärmen. In beiden Fällen, sei es ein gutes Feuer oder gutes Lager, ist der Strohsack ein Geschenk des Himmels. Die gesegnete Jungfrau Maria an der Ecke der Straße Mauconseil hat vielleicht den Johann Moubon deshalb sterben lassen; und es ist eine Thorheit von Euch, so in toller Flucht davonzulaufen, wie ein Picarde vor einem Franzosen und hinter Euch zu lassen, was Ihr vorn suchet; und Ihr seid ein Narr!« –

Darauf kehrte er auf demselben Wege zurück und bemühte sich, während er nach der Himmelsgegend ausschaute und mit Nase und Ohr herumspionirte, den köstlichen Strohsack wiederzufinden, doch vergebens. Nichts als Häuserdurchschnitte, Sackgassen, Straßenmündungen waren es, zwischen denen er zaudernd stand und beständig überlegte, und in diesem Wirrsal dunkler Gäßchen mehr behindert und aufgehalten, als er selbst im Irrgange des Parlamentsgerichtspalastes gewesen wäre. Endlich verlor er die Geduld und rief feierlich aus: »Verdammt seien die Gassen! Der Teufel hat sie nach dem Bilde seiner Ofengabel gemacht!«

Dieser Fluch erleichterte sein Herz ein wenig, und ein gewisser röthlicher Schimmer, den er in diesem Augenblicke am Ende einer langen und engen Gasse bemerkte, weckte schließlich seine Lebensgeister wieder. »Gott sei gelobt!« sagte er, »da unten ist’s! Das ist mein Strohsack, der brennt!« Und sich mit dem Steuermanne vergleichend, welcher nachts umschlägt, setzte er fromm hinzu: » Salve, salve, maris stella!« 40 Richtete er dieses Litanei-Fragment an die heilige Jungfrau oder an den Strohsack? Wir wissen es nicht sicher.

Kaum hatte er einige Schritte in der langen Straße gethan, welche sich senkte, nicht gepflastert war und immer kothiger und abschüssiger wurde, als er etwas recht Sonderbares bemerkte. Sie war nicht öde: hier und da krochen einzelne und unförmliche Klumpen der Länge der Straße nach, und richteten sich nach dem Schimmer hin, welcher am Ende derselben zitterte, gleich jenen plumpen Insecten, die nachts von Grashalm zu Grashalm auf das Feuer eines Hirten zukriechen. Nichts macht den Menschen waghalsiger, als eine leere Tasche. Gringoire ging darauf los und hatte bald dasjenige dieser Gespenster eingeholt, welches sich am langsamsten hinter den andern dreinbewegte. Als er näher herankam, sah er, daß es nichts anderes als ein elender Krüppel war, welcher auf seinen beiden Händen fortkroch, wie eine verwundete Weberspinne, welche nur noch zwei Beine hat. In dem Augenblicke als er an dieser Art Spinne mit Menschengesicht vorbeikam, erhob sie ihre klägliche Stimme: »La buona mancia, signor! la buona mancia!« 41

»Hole dich der Teufel!« sagte Gringoire, »und mich dazu, wenn ich verstehe, was du sagen willst!«

Und er ging weiter.

Er holte einen andern dieser wandelnden Klumpen ein und betrachtete ihn. Es war. ein Lahmer, hinkend und einarmig zugleich, und zwar derartig, daß die verwickelte Zusammenfügung von Krücken und Holzbeinen, auf welche er sich stützte, ihm das Ansehen eines wandelnden Mauergerüstes gaben. Gringoire, welcher die edlen und klassischen Vergleiche liebte, verglich ihn in Gedanken mit dem lebenden Dreifuß des Vulkan.

Dieser lebende Dreifuß grüßte ihn im Vorbeigehen, wobei er seinen Hut wie ein Barbierbecken unter Gringoire’s Kinn hielt und ihm in die Ohren schrie: »Señor caballero, para comprar un pedazo de pan!« 42

»Es scheint,« sagte Gringoire, »daß der auch spricht; aber es ist eine rohe Sprache, und er ist glücklicher als ich, wenn er sie versteht.«

Dann griff er sich, infolge eines plötzlichen Ideentausches, an die Stirn: »Da fällt mir ein– was der Teufel wollten die heute Morgen mit ihrer ›Esmeralda‹ sagen?«

Er wollte seine Schritte verdoppeln, aber zum dritten Male versperrte ihm wieder etwas den Weg. Dieses Etwas, oder vielmehr dieser Jemand, war ein kleiner Blinder mit jüdischem, bärtigen Gesichte, welcher den Ort rings um sich her mit einem Stocke betastete und von einem großen Hunde gezogen, ihm mit ungarischem Accente zunäselte: »Facitote caritatem!« 43

»Gott sei Dank!« sagte Peter Gringoire, »da ist doch endlich jemand, der eine christliche Sprache spricht. Ich muß wohl recht wie Almosengeben aussehen, daß man mich bei dem sich meine Börse befindet, so um ein Almosen bittet«

»Mein Freund (erwandte sich an den Blinden), ich habe vergangene Woche mein letztes Hemd verkauft; das heißt, weil Ihr nur die Sprache Cicero’s versteht: Vendidi hebdomade nuper transita meam ultimam chemisam«

Nach diesen Worten kehrte er dem Blinden den Rücken zu und setzte seinen Weg fort. Aber der Blinde begann zu gleicher Zeit, wie er, seine Schritte zu verdoppeln; und auch der Lahme und der Krüppel machten sich ihrerseits mit großer Hast und lautem Napf- und Krückengeklapper auf dem Pflaster hinter ihm her. Dann schrien alle drei zugleich hinter dem armen Gringoire her, jeder sein Lamento.

» Caritatem!« 44 heulte der Blinde.

» La buona mancia!« heulte der Krüppel

Und der Lahme vollendete den Singsang, indem er wiederholte:

» Un pedazo de pan

Gringoire hielt sich die Ohren zu: »O Thurm zu Babel!« rief er.

Er fing an zu laufen. Der Blinde, der Lahme, der Krüppel jagten hinter ihm her. Und je weiter er in die Straße hineindrang, vermehrten sich Krüppel, Blinde, Lahme um ihn her, und Einarmige, Einäugige, Aussätzige mit ihren Wunden kamen aus den Häusern, aus den kleinen Straßen nebenan, aus den Kellerthüren, heulend, brüllend, kreischend, alle humpelnd, ungern, nach dem Lichte zu eilend und im Kothe sich wälzend wie Schnecken nach dem Regen.

Gringoire, immer von seinen drei Verfolgern begleitet, wußte nicht recht, was daraus werden sollte, und lief bestürzt mitten unter den andern, stieß die Lahmen bei Seite, stolperte über die Krüppel, die Füße in den Haufen der Hinkenden verwickelt, wie jener englische Kapitän, der in einen Haufen Seekrabben hineingerieth.

Er kam auf den Gedanken, den Versuch zu machen, wieder umzukehren. Aber es war zu spät. Das ganze Heer hatte sich hinter ihm geschlossen, und seine drei Bettler hielten ihn fest. Er ging also vorwärts, zugleich von dieser unwiderstehlichen Flut, von der Furcht und von einem Schwindel getrieben, der ihm alles ringsum wie einen entsetzlichen Traum darstellte.

Endlich erreichte er das Ende der Straße. Sie mündete auf einen ungeheuern Platz, wo zahllose zerstreute Lichter im wankenden Nachtnebel zitterten. Gringoire warf sich dorthin, in der Hoffnung, durch die Schnelligkeit seiner Beine den drei gebrechlichen Gespenstern zu entgehen, die sich an ihn geklammert hatten.

»Onde vas, hombre?« 45 schrie der Lahme, indem er dabei seine Krücken wegwarf und mit den zwei gesundesten Beinen, die jemals einen festen Schritt über das Pariser Pflaster gemacht haben, hinter ihm herlief.

Währenddessen deckte der Krüppel, der kerzengerade auf seinen Beinen stand, Gringoire seinen großen eisernen Napf über den Kopf, und der Blinde sah ihm mit flammenden Augen in das Gesicht.

»Wo bin ich?« sagte der entsetzte Dichter.

»Im Wunderhofe,« 46 erwiderte ein viertes Gespenst, welches sich zu ihnen gesellt hatte.

»Bei meiner Seele,« entgegnete Gringoire, »ich sehe wohl, daß die Blinden sehen und die Lahmen gehen; aber wo ist der Heiland?«

Sie antworteten mit lautem, unheimlichen Gelächter.

Der arme Dichter warf die Blicke um sich her. Er war in der That in diesem furchtbaren Wunderhofe, wohin niemals ein rechtschaffener Mensch zu solcher Stunde gedrungen war; im Zauberkreise, wo die Diener des Obergerichtes und Polizeisergeanten, welche sich hineinwagten, spurlos verschwanden; in der Stadt der Diebe; im Schandflecke des Antlitzes von Paris; in der Kloake, wo diese Woge von Lastern, Bettler- und Vagabundenthum, wie sie immer in den Straßen der Hauptstädte überschäumt, am Morgen herausströmte und abends pesthauchend zurückfloß; es war der ungeheuerliche Bienenstock, wohin abends alle Drohnen der menschlichen Gesellschaft mit ihrer Beute heimkehrten; das verfängliche Spital, wo der Zigeuner, der entsprungene Mönch, der verdorbene Student, die Taugenichtse aller Nationen: Spanier, Italiener, Deutsche, aller Glaubensbekenntnisse: Juden, Christen, Muhamedaner, Heiden, mit falschen Wunden Bedeckte, am Tage Bettler, sich nachts in Raubmörder verwandelten; – mit einem Worte: es war das ungeheure Garderobezimmer, wo sich in jener Zeit alle Darsteller des ewigen Schauspieles an- und auskleideten, welches Diebstahl, Prostitution und Mord auf dem Pflaster von Paris aufführen.

Es war ein großer, unregelmäßiger und schlecht gepflasterter Platz, wie alle Plätze des alten Paris. Hier und da leuchteten Feuer, um welche herum seltsame Gruppen wimmelten. Alles ging, kam, schrie. Man hörte helles Lachen, Kindergeschrei, Frauenstimmen. Die dunkeln Hände und Köpfe dieser Menge warfen auf dem leuchtenden Hintergründe ihre Schatten in tausendfachen, bizarren Bewegungen. Manchmal konnte man auf dem Boden, wo der Glanz des Feuers mit großen, undeutlichen Schatten vermengt zitterte, einen Hund vorbeilaufen sehen, der einem Menschen glich, und umgekehrt. Alle Rassen und Gattungsunterschiede schienen sich an diesem Orte, wie bei einem Hexensabbath, zu verwischen. Männer, Frauen, Thiere, Alter, Geschlecht, Gesundheit, Krankheiten, – alles schien bei diesem Volke Gemeingut zu sein; alles lief mit einander, vermischt, durcheinander geworfen, übereinander hockend; jeder nahm an allem theil.

Der schwankende und dürftige Schimmer der Feuer gestattete Gringoire, trotz seiner Aufregung, rings um den ungeheuern Platz einen häßlichen Kranz alter Häuser zu erkennen, deren zerfressene, zusammengesunkene, niedrige Vorderseiten jede von ein oder zwei erleuchteten Luken durchbrochen waren, und die ihm im Schatten der Nacht wie ungeheure Köpfe alter Weiber erschienen, welche, im Kreise herumstehend, fürchterlich und griesgrämisch und mit blinzelnden Augen auf den Hexensabbath herabsehen.

Es war gleichsam eine neue, unbekannte, unerhörte, mißgestaltete, kriechende, wimmelnde und phantastische Welt.

Gringoire, in steigender Bestürzung, von den drei Bettlern wie von drei Zangen festgehalten, betäubt von einer Menge anderer Gesichter, welche rings um ihn schäumten, und schrien, – der unglückliche Gringoire versuchte seine Geistesgegenwart zu sammeln, um sich zu erinnern, ob man einen Sonnabend hätte. Aber seine Anstrengungen waren vergeblich; sein Gedächtnisfaden und sein Gedankengang waren unterbrochen; und zweifelnd an allem, ungewiß in dem, was er sah und hörte, legte er sich die unlösliche Frage vor: »Wenn ich bin, existirt auch das da? Wenn das wirklich ist, bin ich es auch?«

In diesem Augenblicke erscholl in dem tosenden Haufen, welcher ihn umgab, ein deutlicher Ruf: »Laßt uns ihn zum Könige bringen! zum Könige mit ihm!«

»Heilige Jungfrau!« murmelte Gringoire, »der hiesige König, das muß ein Bock sein!«

»Zum Könige! zum Könige!« wiederholten alle Stimmen.

Man zog ihn fort. Jeder wollte die Kralle an ihn legen. Aber die drei Bettler ließen ihn nicht los und entrissen ihn den andern mit dem Geschrei: »Er gehört uns!«

Das schon schlechte Wamms des Dichters ging bei dieser Rauferei gänzlich in Stücke.

Als er über den fürchterlichen Platz schritt, schwand sein Taumel. Nach einigen Schritten war ihm das Gefühl der Wirklichkeit wiedergekommen. Die Atmosphäre des Ortes begann es ihm wiederzugeben. Anfangs war aus seinem Dichterkopfe, oder vielleicht und um es geradeheraus ganz prosaisch zu sagen, aus seinem leeren Magen ein Dunst, eine Benebelung so zu sagen, emporgestiegen, welche sich zwischen ihn und die Dinge rings herum verbreitete, und ihm diese nur im unzusammenhängenden Traumbilde, in jener flüchtigen Unbestimmtheit hatte erkennen lassen, welche alle Umrisse schwanken macht, alle Gestalten verzerrt, die Gegenstände sich in ungeheuern Gruppen zusammenballen läßt, die Wirklichkeit in Traumbilder verwandelt, aus Menschen Gespenster macht. Allmählich wich diese Sinnestäuschung einer bestimmten und nüchternen Erkenntnis. Die Wirklichkeit erschien um ihn her, stach ihm in die Augen, stieß an seine Füße und vernichtete nach und nach alle die fürchterlichen Phantasiegebilde, von denen er sich umringt geglaubt hatte. Er mußte schließlich merken, daß er nicht im Styx, wohl aber im Kothe wadete; daß er nicht von bösen Geistern, sondern von Dieben vorwärtsgestoßen wurde; daß es sich hier nicht um seine Seele, sondern ganz einfach um sein Leben handeln würde, (weil es ihm an jenem kostbaren Vermittler fehlte, der sich so wirksam zwischen den Banditen und den ehrlichen Menschen stellt: der Börse). Kurzum, als er sich die Orgie etwas näher und mit mehr Kaltblütigkeit ansah, entpuppte sich der Hexensabbath als eine gewöhnliche Spelunke.

Das Wunderschloß war in der That nichts anderes, als eine Spelunke, aber eine Diebesschenke, die ebenso vom Blute, wie vom Weine geröthet war.

Das Schauspiel, welches sich Gringoire’s Augen darbot, als ihn seine zerlumpte Bedeckung schließlich am Ziele seines Marsches ablieferte, war nicht geeignet, ihn wieder an Dichtung denken zu lassen, nicht einmal an die der Hölle. Es war mehr denn je die prosaische gemeine Wirklichkeit einer Schenke. Wenn wir uns nicht im fünfzehnten Jahrhunderte befänden, möchte man behaupten, Gringoire wäre aus demjenigen Michel Angelo’s in dasjenige Callots gerathen.

Um ein großes Feuer, das auf einer mächtigen, runden Steinplatte brannte, und dessen Flammen durch die erglühten Stäbe eines augenblicklich leeren Dreifußes schlugen, waren einige wurmstichige Tische hier und da, aufs Gerathewohl aufgestellt, ohne daß der geringste Feldmessergehilfe es für nöthig gehalten hätte, ihre gleichen Seiten zusammenzupassen, oder dafür Sorge zu tragen, daß sie wenigstens nicht an zu ungleichen Ecken aneinander stießen. Auf diesen Tischen blinkten mehrere von Wein und Bier triefende Krüge, und um diese herum saßen viele bacchantische Gesichter, die vom Wein und Feuer geröthet waren. Hier saß ein dickbauchiger Kerl mit jovialem Gesichte, der ein stattliches volles Freudenmädchen stürmisch umarmte; dort wickelte eine Art falscher Soldat – ein Schlaumeier, wie man es in der Gaunersprache nannte – pfeifend die Binden von seiner falschen Wunde und machte sein gesundes und starkes Knie, welches seit dem Morgen in zahllose Verbände eingeschnürt war, wieder gelenke. Als Gegenstück machte ein Siecher mit Schöllkraut und Ochsenblut sein »Gottesbein« für den nächsten Tag fertig. Zwei Tische weiter buchstabirte ein Pilger in vollständigem Pilgerkleide das Klagelied auf die Himmelskönigin, ohne die Eintönigkeit und das Näseln dabei zu vergessen. An einem andern Platze nahm ein junger Strauchdieb Unterricht in der Epilepsie bei einem alten Bettler, der Krämpfe zu heucheln verstand, und der ihn in der Kunst unterwies, mit einem zerkauten Stück Seife Schaum am Munde hervorzubringen. Daneben machte sich ein Wassersüchtiger von seiner Geschwulst frei, und veranlaßte vier oder fünf Diebesweiber, die sich an demselben Tische um ein am Abende gestohlenes Kind zankten, sich die Nase zuzuhalten. Alles das waren Umstände, die zweihundert Jahre später, wie Sauvel sagt, »dem Hofe so spaßhaft erschienen, daß sie dem Könige zum Zeitvertreibe und als Scene im königlichen Ballet „Die Nacht“ dienten, das in vier Abtheilungen auf dem Theater Petit-Bourbon getanzt wurde«. »Niemals,« fügt ein Augenzeuge von 1653 hinzu, »sind die plötzlichen Verwandlungen des Wunderhofes mit mehr Glück dargestellt worden. Benserade bereitete uns in recht niedlichen Versen darauf vor.«

Lautes Lachen und unzüchtige Lieder erschollen von allen Seiten. Jeder wurde anmaßend, machte boshafte Bemerkungen und fluchte, ohne auf seinen Nachbar zu hören. Die Krüge erklangen, Streit erhob sich beim Anstoßen mit denselben, und die schartigen Humpen zerrissen die Lumpen der Zänker.

Ein großer Hund, der auf seinem Hintertheil saß, stierte ins Feuer. Kinder fehlten gleichfalls nicht bei dieser Orgie. Der gestohlene Knabe weinte und schrie. Ein anderer dicker Bursche von vier Jahren saß mit herabhängenden Beinen auf einer zu hohen Bank hinter einem Tische, der ihm bis ans Kinn reichte, und sprach kein Wort. Ein dritter knetete emsig mit dem Finger den schmelzenden Talg, welcher von einem Lichte auf den Tisch herabtropfte. Ein Kleiner schließlich kauerte im Schmutz, fast ganz von einem Kessel verdeckt, an dem er mit einem Steine schabte und einen Ton hervorbrachte, um einen Stradivarius in Ohnmacht fallen zu lassen.

Ein Faß stand neben dem Feuer, und ein Bettler saß auf demselben. Es war der König auf seinem Throne.

Die drei, welche Gringoire festhielten, führten ihn vor dieses Faß, und augenblickliche Stille trat in der wüsten Versammlung ein; nur das Kind am Kessel spielte weiter.

Gringoire wagte weder zu athmen, noch die Augen aufzuschlagen.

Hombre, quita tu sombrero! 47 sagte einer der drei Strolche, welche ihn hielten; und bevor er verstanden hatte, was er sagen wollte, hatte ihm der andere schon den Hut vom Kopfe gerissen. Freilich war der Hut nur eine miserable Krempe, aber immer noch gut genug gegen Sonnenbrand und Regen. Gringoire seufzte.

Jetzt richtete der König von der Höhe seines Fasses das Wort an ihn.

»Wer ist dieser Halunke?«

Gringoire erschrak. Diese Worte, wiewohl im drohenden Tone ausgesprochen, erinnerten ihn an eine andere Stimme, welche ja heute Morgen seinem Schauspiele den ersten Schlag dadurch versetzt hatte, daß sie mit näselndem Tone in die Zuhörerschaft hineinrief: »Ein Almosen, ich bitte Euch!« Er hob den Kopf. Es war in der That Clopin Trouillefou.

Clopin Trouillefon, mit seinen königlichen Insignien bekleidet, hatte keinen Lumpen mehr oder weniger an sich. Die Wunde am Arme war schon verschwunden. In der Hand hielt er eine jener Riemenpeitschen aus weißem Leder, wie sie damals de Straßenpolizisten gebrauchten, um die Menge in Ordnung zu halten, und die man »neunschwänzige Katzen« nannte. Auf dem Kopfe trug er eine Art gereiften, oben geschlossenen Kopfputz; aber es war schwer zu erkennen, ob es einen Fallhut oder eine Königskrone vorstellen sollte, so sehr gleichen sich ja die beiden Gegenstände.

Indessen hatte Gringoire, ohne zu wissen warum, wieder einige Hoffnung geschöpft, als er im Könige des Wunderhofes seinen verwünschten Bettler aus dem großen Saale erkannte.

»Meister … « stotterte er. »Gnädiger Herr … Sire … Wie soll ich Euch nennen?« sprach er endlich, als er auf dem Höhepunkte seiner Gefühlssteigerung angelangt war und nicht vorwärts noch rückwärts mehr wußte.

»Gnädiger Herr, Seine Majestät oder Kamerad, nenne mich, wie du willst. Aber beeile dich! Was hast du zu deiner Vertheidigung zu sagen?«

Zu deiner Vertheidigung? dachte Gringoire, das gefällt mir nicht. Stotternd entgegnete er: »Ich bin derjenige, welcher heute Morgen …«

»Bei des Teufels Klauen!« unterbrach ihn Clopin, »deinen Namen, Halunke, und nichts weiter! Höre» Du stehst vor drei mächtigen Herrschern: vor mir, Clopin Trouillefou, dem Könige von Thunes, dem Nachfolger des großen Coësre, dem obersten Lehnsherrn des Königreichs Rothwälschland; vor Mathias Hungadi Spicali, dem Herzoge von Aegypten und Böhmen, dem alten Gelben, den du da mit einem Lappen um den Kopf siehst; vor Wilhelm Ronsseau, dem Kaiser von Galiläa, jenem Dicken, der nicht auf uns hört, und der eine Hure liebkost. Wir sind deine Richter. Du bist in das Königreich Rothwälschland eingedrungen, ohne ein Gauner zu sein; du hast die Rechte unserer Stadt verletzt. Du mußt bestraft werden, wofern du nicht Spieler, Bettler oder Abgebrannter, das heißt im Rothwälsch ehrlicher Leute, Dieb, Bettler oder Vagabund bist. Bist du etwas Derartiges? Rechtfertige dich; nenne deine Titel!«

»Leider!« sagte Gringoire, »habe ich nicht die Ehre. Ich bin der Verfasser …«

»Das genügt,« entgegnete Trouillefou, ohne ihn ausreden zu lassen. »Du sollst gehangen werden. Das ist ganz einfach, ihr Herren ehrlichen Spießbürger! Wie ihr die Unsrigen bei euch behandelt, so behandeln wir die Eurigen bei uns. Das Gesetz, welches ihr für die Landstreicher schafft, schaffen die Landstreicher für euch. Es ist eure Schuld, wenn es boshaft ist. Man muß von Zeit zu Zeit die Fratze eines ehrlichen Kerls in der Hanfcravatte sehen, das macht das Ding ehrenhaft. Wohlan, mein Freund, theile frisch deine Lumpen unter diese Fräulein. Ich lasse dich hängen, um die Landstreicher zu belustigen, und du magst ihnen deine Börse geben, damit sie auf dein Wohl trinken. Wenn du noch Alfanzereien machen willst, da unten im hölzernen Mörser steckt ein recht hübscher steinerner Herrgott, den wir in Saint Pierre-aur-Boeufs gestohlen haben. Du hast vier Minuten Zeit, um ihm deine Seele an den Kopf zu werfen.«

Die Ansprache war fürchterlich.

»Wohlgesprochen, bei meiner Seele! Clopin Trouillefou predigt wie der heilige Vater, der Papst,« rief der Kaiser von Galiläa und zerbrach seinen Krug, um den Tisch mit den Scherben zu stützen.

»Gnädigste Herren Kaiser und Könige,« sprach Gringoire kaltblütig (denn ich weiß nicht, wie er die Festigkeit wiedergewonnen hatte, und er sprach entschlossen), »ihr denkt nicht daran; ich heiße Peter Gringoire, ich bin der Dichter, von dem man heute Morgen ein Schauspiel im großen Saale des Palastes aufgeführt hat.«

»Ah! du bist’s, Meister!« sagte Clopin. »Ich war dort, beim Haupte Gottes! Nun gut! Kamerad, ist das ein Grund, weil du uns heute Morgen gelangweilt hast, daß du heute Abend nicht gehangen wirst?«

»Ich werde Mühe haben, mich aus der Schlinge zu ziehen,« dachte Gringoire. Doch machte er noch einen Versuch. »Ich sehe nicht ein,« sagte er, »warum die Dichter nicht unter die Landstreicher gerechnet werden sollen. Vagabund – war Aesop; Bettler – war Homer; Dieb – war Mercurius …«

Clopin unterbrach ihn: »Ich glaube, du willst uns mit deinem Gewäsch nachdenklich machen. Laß dich hängen, bei Gott! und mach‘ nicht so viel Umstände!«

»Verzeihung, gnädigster Herr König von Thunes,« entgegnete Gringoire, der Schritt für Schritt um das Terrain kämpfte. »Es ist der Mühe werth … einen Augenblick! … Hört mich an … ihr werdet mich nicht verdammen, ohne mich anzuhören …«

Seine unglückliche Rede wurde in der That von dem Lärm übertönt, der sich rings um ihn erhob. Der kleine Junge kratzte mit mehr Ungestüm, als vorher, auf dem Kessel, und zum Ueberfluß hatte ein altes Weib soeben eine Pfanne voll Schmalz auf den Dreifuß gesetzt, welches über dem Feuer mit einem Getöse prazelte, ähnlich dem Kreischen eines Kinderschwarmes, der hinter einer Maske herjagt. Währenddessen schien Clopin Trouillefou einen Augenblick mit dem Herzog von Aegypten und mit dem Kaiser von Galiläa zu berathen, welcher vollständig betrunken war. Dann rief er laut: »Ruhig jetzt!« Und weil der Kessel und die Bratpfanne nicht aufhörten, sondern ihr Duett fortsetzten, sprang er von der Tonne herab, gab dem Kessel einen Fußtritt, daß er zehn Schritte weit mit dem Knaben wegflog, ebenso einen Fußtritt der Pfanne, so daß das ganze Fett sich in das Feuer ergoß, und stieg wieder würdevoll auf seinen Thron hinauf, ohne sich um das erstickte Weinen des Kindes, noch um das Murren der Alten zu kümmern, deren Abendessen als schöne, helllodernde Flamme in die Luft verflog.

Trouillefou gab ein Zeichen, und der Herzog, und der Kaiser, und die Erzdiebe und die Gauner stellten sich rings um ihn in Form eines Hufeisens auf, dessen Mitte Gringoire, den man immer noch schonungslos festhielt, einnahm. Es war ein Halbkreis von Lumpen und Fetzen, von Flitter, von Gabeln und Hacken, von taumelnden Gestalten, von nackten starken Armen, von schmutzigen, verlebten und thierischen Gesichtern. Mitten in dieser Tafelrunde von Schurkenthum ragte Clopin Trouillefou als Doge dieses Senates, als König dieser Pairschaft; als Papst dieses Conclaves theils wegen der Höhe seines Fasses, dann aber durch einen gewissen hochmüthigen, wilden und furchtbaren Ausdruck, der ihm im Auge funkelte und in seinem wilden Antlitz den thierischen Zug der Gaunerabkunft milderte. Man hätte ihn mit einem Eber unter Schweinen vergleichen mögen.

»Höre,« sagte er zu Gringoire und streichelte das mißgestaltete Kinn mit seiner schwieligen Hand, »ich sehe nicht ein, warum du nicht gehangen werden sollst. Allerdings hat es den Anschein, als ob dir das zuwider wäre; und das ist ganz natürlich: ihr Spießbürger seid nicht daran gewöhnt. Ihr macht euch von der Sache eine hohe Vorstellung. Nun aber sind wir dir nicht übel gesinnt. Es giebt ein Mittel, dir für den Augenblick aus der Verlegenheit zu helfen. Willst du einer der Unsrigen sein?«

Man kann sich den Eindruck denken, den dieser Vorschlag auf Gringoire machte, welcher sein Leben verloren gegeben hatte und davon abzulassen begann. Er klammerte sich mit allen Kräften wieder daran.

»Ich will es, gewiß, gern,« sagte er.

»Du bist bereit,« fuhr Clopin fort, »dich unter die Genossen des kleinen Dolches aufnehmen zu lassen?«

»Des kleinen Dolches, gewiß,« antwortete Gringoire.

»Du betrachtest dich als Glied der edlen Fechtbrüderschaft?« fuhr der König von Thunes fort.

»Der edlen Fechtbrüderschaft.«

»Als Unterthan des Königreichs Rothwälschland?«

»Des Königreichs Rothwälschland.«

»Als Landstreicher?«

»Als Landstreicher.«

»Im Herzen?«

»Im Herzen.«

»Ich muß dir bemerken,« fuhr der König fort, »daß du nichtsdestoweniger gehangen werden wirst.«

»Teufel!« sagte der Dichter.

»Nur,« fuhr Clopin unerschütterlich fort, »wirst du später gehangen werden, mit mehr Feierlichkeit, auf Kosten der guten Stadt Paris, an einem schönen steinernen Galgen und von ehrbaren Leuten. Das ist ein Trost.«

»Wie Ihr meint,« antwortete Gringoire.

»Es sind dabei noch andere Vortheile. In der Eigenschaft als Fechtbruder brauchst du dich weder um Straßenschmutz, noch Arme, noch Beleuchtung zu sorgen, wozu die Bürger von Paris doch verpflichtet sind.«

»So sei es,« sprach der Dichter. »Ich bin einverstanden. Ich bin Landstreicher, Gauner, Fechtbruder, kleiner Dolch, alles, was Ihr nur wollt; ich war das alles schon vorher, Herr König von Thunes, denn ich bin Philosoph; et omnia in philosophia, omnes in philosoho continentur, 48 wie Ihr wißt.«

Der König von Thunes runzelte die Stirn.

»Für wen hältst du mich, Freund? Was für ungarisches Judenrothwälsch krähst du uns da vor? Ich verstehe kein Hebräisch« .Zum Räuber braucht man nicht Jude zu sein. Ich selbst stehle nicht mehr, darüber bin ich erhaben; ich morde. Gurgelabschneider? ja; Beutelschneider? nein!«

Gringoire versuchte eine Entschuldigung in diese schnell gesprochenen Worte, welche der zornige König immer schneller herausstieß, einfließen zu lassen.

»Ich bitte um Verzeihung, gnädigster Herr. Das ist kein Hebräisch, es ist Latein.«

»Ich sage dir,« versetzte Clopin ungestüm, »daß ich kein Jude bin, und daß ich dich hängen lassen werde, Judenwanst! so wie den kleinen Schacherer aus Judäa da, der neben dir steht, und den ich hoffentlich noch eines Tages auf einen Ladentisch annageln sehe, wie ein Stück falsches Geld, so sieht er aus!«

Indem er das sagte, zeigte er mit dem Finger auf den kleinen bärtigen, ungarischen Juden, der sich mit seinem » Facitote caritatem« 49 an Gringoire gemacht hatte, und der, ohne eine andere Sprache zu verstehen, mit Erstaunen sah, wie sich die üble Laune des Königs von Thunes über ihn ergoß.

Endlich beruhigte sich der gestrenge Herr Clopin.

»Halunke,« sagte er zu unserem Dichter, »du willst also ein Landstreicher sein?«

»Zweifelsohne,« entgegnete der Dichter.

»Das Wollen ist aber noch nicht alles,« sagte der mürrische Clopin; »der gute Wille bringt kein Fettauge mehr auf die Suppe, und genügt nur, um ins Paradies zu kommen; nun aber sind Paradies und Galgenstrick zweierlei. Um in die Diebesgilde aufgenommen zu werden, mußt du beweisen, daß du zu irgend etwas tauglich bist, und deshalb mußt du der Gliederpuppe die Taschen ausleeren.«

»Ich will die Taschen leeren,« sagte Gringoire, »ganz wie Euch belieben wird.«

Clopin gab ein Zeichen. Einige Gauner verließen den Halbkreis und kehrten einen Augenblick darauf zurück. Sie brachten zwei Holzpfosten herbei, die am untern Ende mit gezimmerten Schragen versehen waren, so daß sie leicht auf dem Boden festgemacht werden konnten; am obern Ende der beiden Pfosten paßten sie einen Querbalken ein, und das Ganze bildete einen recht hübschen tragbaren Galgen, den Gringoire die Genugthuung hatte, in einem Momente vor seinen Augen aufgerichtet zu sehen. Nichts fehlte daran, selbst nicht der Strick, der unter dem Querbalken anmuthig hin- und herschwankte.

»Was soll damit werden,« fragte sich Gringoire mit einer gewissen Unruhe. Ein Schellengeklingel, das er im selbigen Augenblicke hörte, setzte seiner Beklemmung ein Ziel. Es war eine Gliederpuppe, welche die Gauner mit dem Stricke am Halse aufknüpften, eine Art Vogelscheuche, roth aufgeputzt und dermaßen mit Schellen und Glöckchen überladen, daß man dreißig castilianische Maulesel damit hätte behängen können. Diese unzähligen Glöckchen tönten eine Zeit lang beim Baumeln des Strickes, verstummten aber nach und nach und schwiegen endlich ganz, als die Gliederpuppe infolge jenes Pendelschwingungsgesetzes, welches Wasser- und Sanduhren verdrängt hat, zum Stillstand gebracht worden war.

Jetzt bezeichnete Clopin dem Gringoire einen alten wackligen Fußschemel, der unter die Gliederpuppe gestellt war.

»Steige da hinauf!«

»Alle Teufel!« entgegnete Gringoire, »ich breche mir den Hals. Euer Schemel hinkt wie ein Distichon des Martial; er hat ein Hexameter- und ein Pentameterbein.«

»Steige hinauf!« wiederholte Clopin.

Gringoire stieg auf den Schemel; aber erst nach mehreren Balancirungen mit dem Kopfe und den Armen gelang es ihm, seinen Schwerpunkt wieder zu finden.

»Jetzt,« fuhr der König von Thunes fort, »schlage den rechten Fuß um das linke Bein, und hebe dich auf der linken Fußspitze in die Höhe.«

»Gnädigster Herr,« sagte Gringoire, »Ihr besteht also fest darauf, daß ich mir ein Glied breche?«

Clopin schüttelte unmuthig den Kopf.

»Höre, Freund, du sprichst zu viel. Vernimm in zwei Worten, worum es sich handelt. Du richtest dich auf der Fußspitze in die Höhe, wie ich dir sage; auf diese Weise wirst du der Puppe bis an die Tasche reichen; du wirst sie durchsuchen; du wirst eine Börse herausziehen, die darin ist; und wenn du alles das thust, ohne daß man den Ton eines Glöckchens hört, dann ist’s gut; du wirst ein Landstreicher sein. Wir werden dann nichts weiter zu thun haben, als dich acht Tage lang tüchtig durchzuprügeln.«

»Alle Teufel! ich werde es nicht vermögen,« sagte Gringoire. »Und wenn ich die Glöckchen erklingen mache?«

»Dann wirst du gehangen werden. Verstehst du?«

»Ich verstehe ganz und gar nicht,« antwortete Gringoire.

»Höre noch einmal. Du sollst die Puppe durchsuchen und ihr die Börse nehmen; wenn eine einzige Glocke bei der Verrichtung erklingt, wirst du gehangen. Verstehst du das?«

»Wohl, ich verstehe,« sagte Gringoire. »Und dann?«

»Wenn es dir gelingt, die Börse wegzunehmen, ohne daß man die Schellen hört, so bist du Gauner, und du wirst acht Tage lang hinter einander mächtig durchgeprügelt werden. Jetzt verstehst du ohne Zweifel?«

»Nein, gnädigster Herr, ich verstehe immer noch nicht. Wo ist da ein Vortheil für mich? Gehangen in dem einen Falle, geprügelt im andern.«

»Und Landstreicher,« entgegnete Clopin, »und Gauner, ist das nichts? Es ist in deinem Interesse, wenn wir dich prügeln, damit du gegen Prügel abgehärtet wirst.«

»Danke vielmals,« antwortete der Dichter.

»Frisch, beeile dich,« sagte der König und trat mit dem Fuße auf das Faß, daß es wie eine türkische Trommel erklang. »Durchsuche die Puppe und mache ein Ende damit. Ich mache dich zum letzten Male aufmerksam, daß, wenn ich eine einzige Schelle vernehme, du die Stelle der Puppe einnehmen wirst.«

Die Gaunerbande gab den Worten Clopins Beifall und drängte sich mit so mitleidlosem Gelächter im Kreise um den Galgen herum, daß Gringoire einsah, seine Lage verursache ihnen so große Lust, daß er das Schlimmste von ihnen zu erwarten habe. Es blieb ihm somit nichts mehr zu hoffen, außer der unsichern Hoffnung, bei dem fürchterlichen Vorhaben, das ihm auferlegt war, glücklich zu sein; er entschloß sich zu dem Wagnis, nachdem er zuvor ein heißes Gebet an die Puppe gerichtet, die er ausplündern sollte, und die wohl leichter zu rühren gewesen wäre, als die Herzen der Gauner. Diese unzähligen Glöckchen mit ihren kleinen kupfernen Zungen erschienen ihm wie ebensoviele offene Viperrachen, bereit zu beißen und zu zischen.

»Ach,« sagte er ganz leise, »ist es möglich, daß mein Leben von der geringsten Bewegung einer dieser kleinen Schellen abhängt? – »O,« fügte er mit gefalteten Händen hinzu, »Glöckchen, läutet nicht, Schellchen, tönt nicht!«

Er versuchte noch eine letzte Einwirkung auf Trouillefou.

»Und wenn nun ein plötzlicher Windstoß kommt?« fragte er ihn.

»Du wirst gehangen werden,« entgegnete dieser ohne Zögern.

Als er sah, daß keine Frist, kein Aufschub, keine Ausflucht möglich, faßte er sich kühn ein Herz; er schlug den rechten Fuß um den linken, richtete sich auf diesem in die Höhe und streckte den Arm aus … aber in dem Augenblicke, wo er die Puppe berührte, begann sein Körper, der nur einen Fuß als Stütze hatte, auf dem dreibeinigen Schemel zu wanken; er wollte sich unwillkürlich an die Puppe anlehnen, verlor das Gleichgewicht und fiel in seiner ganzen Länge auf die Erde, völlig betäubt von dem verhängnisvollen Klingen der tausend Glöckchen der Puppe, die, dem Stoße seiner Hand nachgebend, erst eine Drehung um sich selbst beschrieb, dann zwischen den beiden Pfosten majestätisch hin- und herschwankte.

»Verdammt!« schrie er niederfallend und lag wie todt mit dem Gesichte auf der Erde.

Zugleich hörte er das fürchterliche Geläute über seinem Haupte, und das teuflische Gelächter der Gauner, nicht weniger die Stimme Trouillefou’s, welcher rief: »Hebt mir den Kerl auf und hängt ihn ohne Schonung.«

Gringoire stand auf. Man hatte die Puppe schon abgenommen, um ihm Platz zu machen.

Die Diebe ließen ihn auf den Schemel steigen. Clopin kam auf ihn zu, legte ihm den Strick um den Hals und schlug ihn auf die Schulter: »Adieu, mein Freund. Du kannst jetzt nicht mehr entwischen, selbst wenn du mit den Gedärmen des Papstes verdautest.«

Das Wort »Gnade« erstarb auf den Lippen Gringoire’s. Er richtete seine Blicke rings um sich her; aber keine Hoffnung war zu erwarten: alle lachten.

»Bellevigne de l’Etoile,« sagte der König von Thunes zu einem baumlangen Gauner, welcher aus der Menge heraustrat, »klettere auf den Balken.«

Bellevigne de l’Etoile kletterte hurtig auf den Querbalken hinauf, und nach Verlauf einer Minute sah Gringoire, der seine Augen emporhob, ihn mit Entsetzen über seinem Kopfe auf dem Balken hocken.

»Jetzt,« fuhr Clopin Trouillefou fort, »sobald ich in die Hände klatsche, wirst du, Andry le Rouge, den Schemel mit einem Knieschub umwerfen; du, Franz Chante-Prune, wirst dich an die Beine des Halunken hängen; und du, Bellevigne, wirst dich auf seine Schultern werfen, aber alle drei zugleich, hört ihr?«

Gringoire schauderte.

»Seid ihr so weit?« sprach Clopin Tronillefou zu den drei Gaunern, die bereit waren, sich auf Gringoire zu stürzen. Der arme Sünder lebte in einem Augenblicke fürchterlicher Erwartung, während Clopin gleichgültig mit der Fußspitze einige Weinholzranken, welche die Flamme nicht erreicht hatte, in das Feuer stieß. »Seid ihr so weit?« wiederholte er und öffnete die Hände zum Klatschen. Eine Secunde noch, und es war geschehen. Aber er hielt inne, wie von einem plötzlichen Einfalle gepackt. »Einen Augenblick,« sagte er, »ich vergaß! … Es ist Sitte, daß wir keinen Mann hängen, ohne vorher zu fragen, ob eine Frau da ist, die ihn zum Manne will. Kamerad, das ist deine letzte Hilfe! Du mußt dich zu einer Landstreicherin entschließen oder zum Strange.«

Dieses Zigeunergesetz, so wunderlich es dem Leser erscheinen mag, steht heute noch ausführlich in der altenglischen Gesetzgebung beschrieben. Man sehe darüber: » Buringtons Observations«.

Gringoire athmete neu auf. Das war das zweite Mal, daß er, seit einer halben Stunde, ins Leben zurückkehrte. Doch wagte er nicht, allzusehr darauf zu bauen.

»Holla!« rief Clopin, der wieder auf sein Faß gestiegen war, »holla! Weiber, Frauenzimmerchen, ist unter euch Landstreicherinnen eine, von der Hexe bis zu ihrer Katze, die diesen Halunken will? Holla, Colette-la-Charonne! Elisabeth Trouvain! Simone Iodouyne! Marie Piédebou! Thonne-la-Longue! Bérarde Fanouel! Michaele Genaille! Claudine Rougeoreille! Mathurine Girorou! Holla! Isabeau-la-Thierryel! Kommt und seht! Ein Mann umsonst! Wer will ihn?«

Gringoire war ohne Zweifel in dieser elenden Verfassung wenig anziehend. Die Landstreicherinnen zeigten sich diesem Vorschlage nur wenig geneigt. Der Unglückliche hörte sie antworten: »Nein! Nein! Hängt ihn, es wird allen Vergnügen bereiten.« Drei indessen traten aus dem Haufen heraus und beschnoberten ihn. Die eine war ein vierschrötiges Frauenzimmer mit breitem Gesicht. Sie untersuchte aufmerksam das elende Wamms des Philosophen. Der Kittel war abgenutzt und durchlöcherter, als eine Pfanne zum Kastanienbraten. Das Mädchen verzog das Gesicht. »Ein alter Lappen!« brummte sie; dann wandte sie sich an Gringoire: »Laß deinen Mantel sehen!«

»Ich habe ihn verloren,« sagte Gringoire.

»Deinen Hut?«

»Man hat ihn mir genommen.«

»Deine Schuhe?«

»Sie haben fast keine Sohlen mehr.«

»Deine Börse?«

»Ach!« stotterte Gringoire, »ich habe nicht einen Pariser Heller mehr!«

»Laß dich hängen, ich danke!« entgegnete die Landstreicherin und kehrte ihm den Rücken zu.

Die andere, alt, schwarz, runzlig, widerlich und von einer Häßlichkeit, die im Wunderhofe Aufsehen erregte, betrachtete Gringoire von allen Seiten. Er erschrak fast davor, daß sie ihn nehmen könnte. Doch murmelte sie zwischen den Zähnen: »Er ist zu dürr« und ging fort.

Die dritte war ein junges, ziemlich frisches und nicht allzu häßliches Mädchen. »Rettet mich!« sagte der arme Teufel mit leiser Stimme zu ihr. Sie sah ihn einen Augenblick mitleidig an, dann schlug sie die Augen nieder, machte eine Falte in ihrem Rocke und stand unentschlossen. Er folgte mit den Augen allen ihren Bewegungen; es war der letzte Hoffnungsschimmer. »Nein,« sagte das junge Frauenzimmer schließlich, »nein! Wilhelm Longuejoue würde mich schlagen.« Sie kehrte zur Menge zurück.

»Kamerad,« sagte Clopin, »du hast Unglück.« Dann richtete er sich auf seinem Fasse in die Höhe: »Will ihn niemand?« rief er, indem er zur allgemeinen Belustigung die Stimme eines Auctionators nachahmte, »will ihn niemand? zum ersten – zweiten – dritten Male!« Dabei drehte er sich mit einem Kopfnicken nach dem Galgen um: »Fort mit Schaden!«

Bellevigne de l’Etoile, Andry le Rouge und Franz Chante-Prune näherten sich Gringoire.

In diesem Augenblicke erhob sich ein Geschrei unter den Gaunern: »Die Esmeralda! Die Esmeralda!«

Gringoire fuhr zusammen und drehte sich nach der Seite um, wo das Geschrei herkam. Die Menge theilte sich und ließ eine heitere, glänzende Gestalt herein. Es war die Zigeunerin.

»Die Esmeralda!« wiederholte Gringoire, der trotz seiner Erregung von der unerwarteten Weise bestürzt war, mit der das zauberhafte Wort alle Erinnerungen dieses Tages verknüpfte.

Dieses seltsame Geschöpf schien sogar im Wunderhofe die Herrschaft mit ihrer Anmuth und Schönheit auszuüben. Gauner und Diebinnen traten bei ihrem Eintritte ruhig auf die Seite, und ihre thierischen Gesichter erheiterten sich bei ihrem Anblicke.

Sie näherte sich mit schnellem Schritte dem Delinquenten. Ihre niedliche Djali folgte ihr. Gringoire war mehr todt, als lebend. Sie betrachtete ihn einen Augenblick schweigend.

»Ihr wollt diesen Mann hängen?« sagte sie düster zu Clopin.

»Ja, Schwester,« entgegnete der König von Thunes, »wofern du ihn nicht zum Manne nimmst.«

Sie machte mit der Unterlippe ihre reizende schnippische Bewegung.

»Ich nehme ihn,« sagte sie.

Gringoire glaubte in diesem Augenblicke fast, daß er seit dem Morgen nur geträumt habe, und daß, was jetzt geschah, die Fortsetzung dieses Traumes sei.

Der plötzliche Wechsel, wiewohl angenehm, war in der That heftig.

Man knüpfte die Schlinge los und ließ den Dichter vom Schemel herabsteigen. Er mußte sich niedersetzen, so heftig war die Gemüthsbewegung.

Der Herzog von Aegypten brachte, ohne ein Wort zu sprechen, einen irdenen Krug herbei. Die Zigeunerin reichte ihn Gringoire hin. »Werft ihn zur Erde,« sagte sie zu ihm.

Der Krug zerbrach in vier Stücke.

»Bruder,« sagte hierauf der Herzog von Aegypten und legte Beiden die Hände aufs Haupt, »sie ist dein Weib; Schwester, er ist dein Gatte. Auf vier Jahre. Gehet.«

  1. [Lateinisch: Jeden Weg, Steg und alle Straßen. Anm. d. Uebers.]
  2. [ Lateinisch: Sei gegrüßt, gegrüßt mir, Stern des Meeres! (Anfang eines lateinischen Hymnus auf die Mutter Gottes) (Anm. d. Uebers.)]
  3. [Italienisch: Ein gutes Trinkgeld, Herr! ein gutes Trinkgeld!]
  4. [Spanisch: Gnädiger Herr, gebt mir etwas zu einem Stück Brot!]
  5. [Lateinisch: Gebt ein Almosen! Anm. d. Uebers]
  6. [Lateinisch: Ein Almosen! Anm. d. Übers.]
  7. [ Spanisch: Mensch, wohin gehst du?]
  8. [Der »Wunderhof« war im mittelalterlichen Paris eine Freistätte der Gauner und Bettler, wo die Lahmen gehend, die Blinden sehend waren. Anm. d. Uebers.]
  9. [ Spanisch: Mensch, nimm den Hut ab! Anm. d. Uebers.]
  10. [ Lateinisch: Und alles steckt in der Philosophie, und alle sind im Philosophen enthalten.]
  11. [ Lateinisch: Gebt ein Almosen! Anm. d. Uebers.]