6. »Messer in der Tasche.«

Als Gringoire die Bastille verlassen hatte, eilte er die Straße Saint-Antoine mit der Schnelligkeit eines entsprungenen Pferdes hinab. An der Pforte Baudoyer angelangt, ging er gerade auf das steinerne Kreuz los, welches sich in der Mitte dieses Platzes erhob, als ob er in der Dunkelheit die Gestalt eines schwarz gekleideten und in eine Kapuze gehüllten Mannes hätte erkennen können, der auf den Stufen des Kreuzes saß.

»Seid Ihr es, Meister?« fragte Gringoire.

Die schwarze Gestalt erhob sich.

»Tod und Hölle! Ihr macht mich rasend, Gringoire. Der Wächter auf dem Thurme von Saint-Gervais hat soeben halb zwei Uhr Morgens abgerufen.«

»Oh!« versetzte Gringoire, »das ist nicht meine Schuld, sondern diejenige der Nachtwache und des Königs. Ich bin eben mit heiler Haut davongekommen! Es will mir immer nicht gelingen, gehangen zu werden. Das ist meine Vorherbestimmung.«

»Dir mißglückt alles,« sagte der andere. »Aber laß uns schnell gehen. Hast du das Paßwort?«

»Denkt Euch, Meister, daß ich den König gesehen habe. Ich komme von ihm her. Er trägt eine Hose von Barchent. Das ist ein Abenteuer.«

»Ach! ein Haufen Worte! Was geht mich dein Abenteuer an? Hast du das Paßwort der Bettler?«

»Seid ruhig. Ich habe es: »Messer in der Tasche«.

»Gut. Andernfalls würden wir nicht bis zur Kirche vordringen können. Die Bettler sperren die Straßen. Glücklicherweise scheint es, als ob sie Widerstand gefunden haben. Wir werden vielleicht noch zur rechten Zeit ankommen.«

»Ja, Meister. Aber wie wollen wir in Notre-Dame hineingelangen?«

»Ich habe den Schlüssel zu den Thürmen.«

»Und wie wollen wir wieder herauskommen?«

»Hinter dem Kloster ist eine kleine Thüre, welche nach dem Terrain, und von da nach dem Flusse führt. Ich habe den Schlüssel dazu mitgenommen und heute Morgen einen Kahn dort angebunden.«

»Es ist mir auf hübsche Weise gelungen, dem Galgen zu entgehen!« fuhr Gringoire fort.

»Schnell denn! Wir wollen gehen!« sagte der andere.

Alle Beiden eilten mit schnellen Schritten nach der Altstadt zu.

7. »Châteaupers zu Hülfe!«

Der Leser erinnert sich vielleicht der mißlichen Lage, in welcher wir Quasimodo verlassen haben. Der tapfere Taube hatte, von allen Seiten angegriffen, wenn auch nicht allen Muth, so doch wenigstens alle Hoffnung verloren, zwar nicht sich – denn er dachte nicht an sich –, aber die Zigeunerin retten zu können. Er lief außer sich vor Bestürzung auf der Galerie hin und her. Notre-Dame war der Gefahr ganz nahe, von den Bettlern mit Sturm genommen zu werden. Plötzlich ertönten die benachbarten Straßen von lautem Pferdegalopp, und mit einer langen Fackelreihe brauste eine dichte Reiterkolonne mit verhängtem Zügel und mit gesenkten Lanzen unter den wüthenden Rufen: »Frankreich! Frankreich! Hauet die Kerle zusammen! Châteaupers zu Hülfe! Profoß! Profoß!« wie ein Orkan über den Platz hin. Die bestürzten Bettler kehrten sich rasch um.

Quasimodo, der nichts hörte, sah die entblößten Schwerter, die Fackeln, die Lanzenspitzen, die ganze Reiterschaar, an deren Spitze er den Hauptmann Phöbus erkannte; er sah die Bestürzung der Gauner, den Schrecken bei den einen, die Unruhe bei den besten von ihnen, und er gewann durch diese unerwartete Hülfe wieder so viel Stärke, daß er die Ersten von den Angreifern, die schon die Galerie überstiegen, aus der Kirche zurückwarf. Es waren in der That die Truppen des Königs, welche unvermuthet auf dem Platze erschienen.

Die Bettler benahmen sich tapfer. Sie vertheidigten sich wie Verzweifelte. Von der Straße Saint-Pierre-aux-Boeufs in der Seite, und von der Straße, die zum Vorhofe der Kathedrale führt, von hinten angegriffen, an Notre-Dame gedrängt, die sie noch stürmten und die Quasimodo vertheidigte, zu gleicher Zeit Belagerer und Belagerte, waren sie in der merkwürdigen Lage, in welcher sich nachher, bei der berühmten Belagerung von Turin im Jahre 1640, zwischen dem Prinzen Thomas von Savoyen, welchen er belagerte und dem Marquis von Leganez, der ihn einschloß, der Graf Heinrich d’Harcourt wieder befand: Taurinum obsessor idem et obsessus, 82 wie seine Grabschrift besagt.

Das Handgemenge war entsetzlich. »In das Fleisch des Wolfes schlug der Zahn des Hundes,« wie P. Mathieu sagt. Die Reiter des Königs, in deren Mitte sich Phöbus von Châteaupers heldenmüthig hervorthat, gaben keinen Pardon, und die Schneide ereilte, was der Spitze des Schwertes entging. Die schlecht bewaffneten Bettler schäumten und wehrten sich mit den Zähnen. Männer, Weiber, Kinder stürzten sich auf die Rücken und Brustseiten der Pferde, und klammerten sich da wie Katzen mit den Zähnen und den Nägeln der vier Gliedmaßen fest. Andere trafen mit Fackelschlägen das Gesicht der Bogenschützen. Andere hieben mit eisernen Haken in den Hals der Reiter und rissen sie zu sich hin. Die, welche herabfielen, rissen sie in Stücke. Man bemerkte einen unter ihnen mit einer breiten, leuchtenden Sense, welcher lange Zeit den Pferden die Beine abmähete. Es war entsetzlich. Er sang dazu ein näselndes Lied, hieb unaufhörlich ein und riß seine Sense zurück. Mit jedem Hiebe zog er rings um sich einen großen Kreis abgehauener Glieder. So rückte er in den dichtesten Haufen der Reiterei mit der ruhigen Langsamkeit, dem Kopfwiegen, dem regelmäßigen Keuchen eines Schnitters vor, welcher ein Getreidefeld abmähet. Es war Clopin Trouillefou. Ein Büchsenschuß streckte ihn zu Boden. – Während dem hatten sich die Fenster wieder geöffnet. Die Nachbarn hatten sich, als sie das Kriegsgeschrei der Leute des Königs vernahmen, in das Gefecht gemengt, und aus allen Stockwerken regnete es Kugeln auf die Bettler herab. Der Vorhofplatz zur Kirche war mit einer dichten Rauchwolke angefüllt, aus welcher das Feuer der Musqueten hervorblitzte. Man erkannte hier kaum die Façade von Notre-Dame und das uralte Hôtel-Dieu mit einigen abgezehrten Kranken, welche von der Höhe seines, mit Fenstern besetzten Daches herabschauten.

Endlich wichen die Bettler. Die Ermattung, der Mangel an guten Waffen, der Schrecken dieses Ueberfalles, das Musquetenfeuer aus den Fenstern, der tapfere Vorstoß der Leute des Königs – alles das schlug sie nieder. Sie durchbrachen die Linie der Anstürmenden und begannen nach allen Richtungen hin zu entfliehen, wobei sie einen Berg von Todten zurückließen.

Was Quasimodo betrifft, der nicht einen Augenblick aufgehört hatte, zu kämpfen, so fiel er, als er diese wilde Flucht sah, auf beide Knien nieder und erhob die Hände zum Himmel; dann stürmte er vor Freude trunken davon, und stieg mit der Schnelligkeit eines Vogels zu jener Zelle empor, deren Zugänge er so unerschrocken vertheidigt hatte. Er hatte jetzt nur noch einen Gedanken: es war derjenige, sich vor der auf die Knien niederzuwerfen, die er eben zum zweiten Male gerettet hatte.

Als er in die Zelle eintrat – fand er sie leer.

  1. Lateinisch: Der Belagerer von Turin und darin zugleich Belagerter. Anm. d. Uebers.

1. Der kleine Schuh.

In dem Augenblicke, wo die Bettler auf die Kirche Sturm gelaufen waren, schlief die Esmeralda.

Bald aber hatten der um die Kirche immer mehr wachsende Lärm, und das unruhige Blöken ihrer Ziege, die vor ihr erwacht war, sie aus diesem Schlafe gestört. Sie hatte sich auf ihrem Lager erhoben, hatte gehorcht und sich umgeschaut; dann hatte sie sich, erschreckt von der Helligkeit und dem Geräusche, aus der Zelle gestürzt und war hin gegangen, um nachzusehen. Das Aussehen des Platzes, die Erscheinung, die dort hin- und herflutete, die Verwirrung dieses nächtlichen Sturmes, dieser scheußliche Haufen, der wie ein Schwarm Frösche herumhüpfte und in der Finsternis nur halb zu erkennen war, das Gekreisch dieser heisern Menge, diese einzelnen rothschimmernden Fackeln, welche durch die Nacht hin- und hereilten und sich wie Irrlichter kreuzten, die über die düstre Fläche der Sümpfe streichen – diese ganze Scene machte auf sie den Eindruck eines Kampfes, der zwischen den Gespenstern des Hexensabbaths und den steinernen Ungethümen der Kirche sich entspann. Von Kindheit an mit den abergläubischen Anschauungen des Zigeunerstammes genährt, war ihr erster Gedanke, daß sie die seltsamen, der Nacht angehörigen Wesen bei ihrem teuflischen Treiben überrascht hätte. Nun eilte sie entsetzt davon, um sich in ihre Zelle zu kauern und auf ihrem Lager einen weniger fürchterlichen Traum zu suchen.

Nach und nach waren die ersten Betäubungen des Schreckens verschwunden; an dem unaufhörlich wachsenden Lärme und aus andern Anzeichen der Wirklichkeit hatte sie gemerkt, daß sie nicht von Gespenstern, sondern von menschlichen Wesen umringt sei. Da hatte ihre Angst, ohne sich zu steigern, eine andere Form angenommen. Sie hatte an die Möglichkeit eines Volksaufstandes, um sie ihrer Freistatt zu entreißen, gedacht. Der Gedanke, noch einmal das Leben, die Hoffnung, Phöbus, welchen sie immer mit ihrer Zukunft verbunden sah, wieder zu verlieren; die unendliche Nichtigkeit ihrer Schwäche, die versperrte Aussicht auf Flucht, die Schutzlosigkeit, ihre gänzliche Verlassenheit, ihre Absonderung – diese Gedanken und tausend andere hatten sie zu Boden gedrückt. Sie war auf die Kniee gesunken; den Kopf auf ihr Bett gelehnt, die Hände über ihrem Kopfe gefaltet, hatte sie voll Angst und Schauder, und obgleich sie als Zigeunerin Heidin und Götzendienerin war, angefangen mit Schluchzen den lieben Gott der Christen um Gnade zu bitten und zu Unserer lieben Frau, ihrer Schutzherrin, zu beten. Denn, glaubt man auch an nichts, so giebt es doch Augenblicke im Leben, in welchen man es stets mit der Religion des Tempels hält, den man in seiner Nähe hat.

So lag sie sehr lange im Gebete da, während sie in Wahrheit mehr zitterte, als betete, vor dem Keuchen der sich immer mehr nähernden, wüthenden Menge erstarrte, ohne etwas von dem Ansturme zu begreifen; ohne zu wissen, was man anzettelte, was man that, was man beabsichtigte, aber im Vorgefühle eines schrecklichen Ausganges.

Da, mitten in dieser Todesangst, hört sie neben sich gehen. Sie wendet sich um. Zwei Männer, von denen einer eine Laterne trug, waren soeben in ihre Zelle eingetreten. Sie stieß einen schwachen Schrei aus.

»Fürchtet nichts,« sagte eine Stimme, die ihr nicht unbekannt war, »ich bin es.«

»Wer? Ihr?« fragte sie.

»Peter Gringoire.«

Dieser Name flößte ihr wieder Muth ein. Sie schlug die Augen auf und erkannte in der That den Dichter. Aber bei ihm befand sich eine schwarze und vom Kopfe bis zu den Füßen verhüllte Gestalt, die ihr Stillschweigen auferlegte.

»Ach!« fuhr Gringoire mit vorwurfsvollem Tone fort, »Djali hatte mich eher, als Ihr erkannt.«

Die kleine Ziege hatte in der That nicht gewartet, bis Gringoire sich zu erkennen gab. Kaum war er eingetreten, als sie sich zärtlich an seine Kniee gedrängt hatte, wobei sie den Dichter mit Liebkosungen und weißen Haaren bedeckte; denn sie befand sich in der Härung. Gringoire beschenkte sie wieder mit Liebkosungen.

»Wer ist da bei Euch?« sprach die Zigeunerin mit leiser Stimme.

»Seid ruhig,« antwortete Gringoire. »Es ist einer von meinen Freunden.«

Darauf setzte der Philosoph seine Laterne auf den Boden, kauerte sich auf der Diele nieder und rief, Djali in seine Arme schließend, mit Entzücken aus: »Oh! es ist ein anmuthiges Thier, zweifelsohne bedeutender wegen ihrer Sauberkeit, als wegen ihrer Größe, aber gewitzt, scharfsinnig und gelehrt wie ein Grammatiker. Wir wollen sehen, meine Djali, hast du nichts von deinen hübschen Kunststücken vergessen?« Wie macht’s Meister Jacob Charmolue? …«

Der schwarze Mann ließ ihn nicht zu Ende kommen. Er näherte sich Gringoire und stieß ihn barsch gegen die Schulter. Gringoire stand auf.

»Es ist wahr,« sagte er, »ich vergaß, daß wir es eilig haben … Dennoch ist kein Grund vorhanden, lieber Meister, die Leute auf diese Weise rasend zu machen … Mein liebes schönes Kind, Euer Leben ist in Gefahr und auch dasjenige Djalis. Man will Euch wieder gefangen nehmen. Wir sind Euere Freunde, und wir kommen, um Euch zu retten. Folgt uns.«

»Ist es wahr?« rief sie außer Fassung aus.

»Ja, sehr wahr. Kommt schnell!«

»Ich will gern,« stammelte sie. »Aber warum spricht Euer Freund nicht?«

»Ach!« sagte Gringoire, »das kommt daher, daß sein Vater und seine Mutter phantastische Leute waren, die ihm eine schweigsame Gemüthsverfassung gegeben haben.«

Mit dieser Erklärung mußte sie sich zufrieden geben. Gringoire nahm sie bei der Hand; sein Begleiter ergriff die Laterne und ging voraus. Die Furcht machte das junge Mädchen bestürzt. Sie ließ sich wegführen. Die Ziege folgte ihnen springend, und war so fröhlich, Gringoire wieder zu sehen, daß sie ihn alle Augenblicke zum Stolpern brachte, weil sie mit ihren Hörnern zwischen seine Beine gerieth.

»So ist das Leben,« sagte der Philosoph jedesmal, wenn er beinahe gefallen war; »es sind oft unsere besten Freunde, welche uns zu Falle bringen!«

Sie stiegen eiligst die Treppe der Thürme hinab, durchschritten die Kirche, die voll Finsternis und öde war und vom Lärme fürchterlich wiederhallte, was einen schrecklichen Gegensatz bildete, und traten durch die Rothe Pforte in den Hof des Klosters ein. Das Kloster war verlassen, die Stiftsherren waren nach dem bischöflichen Palaste entflohen, um da gemeinschaftlich zu beten; der Hof war leer, einige aufgescheuchte Klosterdiener duckten sich verstört in die dunkeln Ecken. Die drei richteten ihre Schritte nach der Thüre, welche von diesem Hofe auf das Terrain führte. Der schwarze Mann öffnete sie mit einem Schlüssel, den er bei sich hatte. Unsere Leser wissen, daß das Terrain eine lange, nach der Altstadt hin von Mauern eingeschlossene Landzunge war, die dem Domkapitel von Notre-Dame gehörte und die Insel im Osten, hinter der Kirche, abgrenzte. Sie fanden diesen eingeschlossenen Platz gänzlich verlassen. Hier war schon weniger von dem Tumulte in der Luft zu hören; der Lärm vom Sturme der Bettler schlug hier dumpfer und nicht so kreischend an ihr Ohr. Der frische Luftzug, welcher dem Laufe des Flusses folgte, schüttelte die Blätter des einzigen Baumes, der an der Spitze des Terrains stand, mit einem schon bemerklichen Rauschen. Indessen waren sie der Gefahr noch sehr nahe. Die ihnen am nächsten liegenden Gebäude waren die bischöfliche Residenz und die Kirche. Drinnen in der Wohnung des Bischofs herrschte ersichtlich eine große Verwirrung. Ihre dunkle Masse war ganz von Lichtern erhellt, die dort von Fenster zu Fenster huschten, ähnlich, wie wenn man Papier verbrannt hat, nun ein dunkler Aschenbau übrig bleibt, in dem die muntern Fünkchen tausend wunderbare Läufe machen. Daneben glichen die riesigen Thürme von Notre-Dame, wenn man sie so von hinten mit dem langen Schiffe sah, über welches sie sich erhoben, und wie sie über den rothen und weithinleuchtenden Schein, der den Vorhof füllte, in das Dunkel emporragten, zwei gigantischen Feuerböcken eines Cyklopenherdes.

Was man von Paris nach allen Seiten hin sah, erzitterte vor dem Auge, wie ein mit Licht gemischter Schatten. Rembrandt hat solchen Hintergrund in seinen Gemälden.

Der Mann mit der Laterne ging gerade auf die Spitze des Terrains los. Dort, am äußersten Rande des Wassers, befanden sich die morschen Trümmer eines Pfahlzaunes aus Lattengitterwerk, um die ein niedriger Weinstock einige dürre Zweige schlang, die wie die Finger einer geöffneten Hand vorgestreckt waren. Dahinter, im Schatten, den dieser Zaun verursachte, lag ein kleiner Kahn versteckt. Der Mann gab Gringoire und seiner Begleiterin ein Zeichen hineinzusteigen. Die Ziege folgte ihnen dahin. Der Mann stieg zuletzt auch hinein; dann schnitt er den Strick des Kahnes durch, stieß mit einem langen Hakenstocke vom Lande ab, ergriff die zwei Ruder und setzte sich an das Vordertheil des Kahnes, wo er mit Aufgebot aller seiner Kräfte nach der Mitte des Stromes zu ruderte. Die Seine ist an dieser Stelle sehr reißend, und es kostete ihm ziemliche Mühe, von der Spitze der Insel wegzukommen.

Gringoires erste Sorge, als er in den Kahn gestiegen, war, die Ziege auf seine Kniee zu legen. Er nahm am Hintertheile Platz, und das junge Mädchen, welcher der Unbekannte eine unbeschreibliche Unruhe einflößte, setzte sich gleichfalls nieder und drängte sich an den Dichter heran.

Als unser Philosoph den Kahn sich in Bewegung setzen fühlte, klatschte er in die Hände und küßte Djali zwischen die Hörner.

»Oh!« sagte er, »jetzt sind wir alle vier gerettet.« Er fügte mit der Miene eines tiefen Denkers hinzu: »Bisweilen ist man dem Glücke, bisweilen der List für den glücklichen Ausgang großer Unternehmungen Dank schuldig.« Der Jahn bewegte sich langsam nach dem rechten Ufer hin. Das junge Mädchen beobachtete mit einer geheimen Furcht den Unbekannten. Dieser hatte sorgfältig das Licht seiner Blendlaterne verhüllt. Man sah ihn in der Dunkelheit auf dem Vordertheile des Kahnes wie ein Gespenst. Die immer noch herabgelassene Kapuze wurde für ihn zu einer Art Maske; und jedesmal, wenn er beim Rudern seine Arme ausstreckte, an denen lange schwarze Aermel herabhingen, hätte man sie für zwei große Fledermausflügel halten mögen. Uebrigens hatte er noch nicht ein Wort gesprochen, keinen Laut von sich gegeben. In dem Kahne hörte man kein anderes Geräusch, als die Hin- und Herbewegung der Ruder, welches sich in das Geplätscher der tausend Wasserkräuselungen längs des Kahnes mischte.

»Bei meiner Seele!« rief Gringoire plötzlich, »wir sind ja munter und fröhlich wie Ohreulen! Wir beobachten ein Stillschweigen wie Pythagoräer oder wie Fische! Beim allmächtigen Gott! meine Freunde, ich wünschte wohl, daß jemand mit mir sich unterhielte … Die menschliche Stimme ist für das menschliche Ohr eine Musik. Ich bin es nicht, der das behauptet, sondern Didymus von Alexandria, und es sind berühmte Worte … Gewiß, Didymus von Alexandria ist kein mittelmäßiger Philosoph … Ein Wort, mein schönes Kind! sagt mir, ich bitte Euch, ein Wort … Dabei fällt mir ein – Ihr hattet sonst einen schnurrigen, sonderbaren kleinen Zug um den Mund, macht Ihr den immer noch? Wißt Ihr, mein Herzchen, daß das Parlament volle Rechtsgewalt über die Asylorte hat, und daß Ihr große Gefahr liefet in eurem Zellchen in Notre-Dame? Ach! der kleine Vogel Kolibri baut sein Nest in den Rachen des Krokodils … Meister, seht doch, wie der Mond wieder heraustritt … Wenn man uns nur nicht bemerkt! Wir thun ein löbliches Etwas, indem wir das Jüngferchen retten, und doch würde man uns im Namen des Königs hängen, wenn man uns erwischte. Leider! können die menschlichen Handlungen von zwei Seiten angegriffen werden. Man brandmarkt an mir, was man an jenem krönt. Mancher bewundert Cäsar, welcher Catilina tadelt. Ist es nicht so, lieber Meister? Was sagt Ihr zu dieser Philosophie? Ich, für meine Person, ich habe die Philosophie des Instinkts, der Natur, ut apes geometriam83 Wahrhaftig, niemand antwortet mir! Was habt ihr doch alle Beide für verdrießliche Launen! Ich muß ganz allein sprechen. Das nennen wir in der Tragödie einen Monolog … Beim allmächtigen Gotte! … Ich theile Euch mit, daß ich eben Ludwig den Elften gesehen, und daß ich seitdem diesen Schwur behalten habe … »Beim allmächtigen Gotte« also! In der Altstadt erheben sie immer noch ein fürchterliches Geheul … Das ist ein häßlicher, boshafter, alter König. Er ist ganz mit Pelzwerk bedeckt. Er schuldet mir immer noch das Geld für mein Hochzeitsgedicht, und allerhöchstens hat er mich heute Abend nicht hängen lassen, was mir sehr ungelegen gewesen sein würde … Er ist filzig gegen die Leute von Verdienst. Er sollte doch die vier Bücher Salvians von Cöln »Adversus avaritiam« 84 lesen. In der That! er ist ein engherziger König in seinen Beziehungen zu den Gelehrten, und begeht dabei höchst barbarische Grausamkeiten. Er ist ein auf dem Volke liegender Schwamm, der das Geld einsaugt. Seine Sparsamkeit ist die Milzsucht, welche aus der Abzehrung aller andern Gliedmaßen anschwillt. Daher werden die Klagen über die Schwere der Zeit zu Murren über den Fürsten. Unter diesem milden und frommen Herrn krachen die Galgen von Gehängten, die Henkerblöcke faulen vom Blute, die Gefängnisse bersten wie zu volle Bäuche. Dieser König hat eine Hand, mit der er nimmt, und eine, mit der er hängt. Er ist der Anwalt der Frau Salzsteuer und des Herrn Galgen. Die Vornehmen werden ihrer Würden beraubt und die Geringen unaufhörlich mit neuen Lasten überhäuft. Er ist ein ungeheuerer Fürst. Ich liebe diesen Monarchen nicht. Und Ihr, theuerer Meister?«

Der schwarze Mann ließ den geschwätzigen Dichter seine boshaften Bemerkungen machen. Er kämpfte unausgesetzt gegen die heftige und geschlossene Strömung, welche den Vordertheil der Stadt von dem Hintertheile der Insel Notre-Dame trennt, und die wir jetzt die Insel des Heiligen Ludwig benennen.

»Da fällt mir ein, Meister!« begann Gringoire plötzlich wieder, »hat Euere Hochwürden in dem Augenblicke, wo wir mitten durch die wüthenden Bettler auf den Vorhof gelangten, jenen armen kleinen Teufel bemerkt, dem Euer Tauber eben das Gehirn am Treppengeländer zur Königsgalerie zerschmetterte? Ich bin kurzsichtig und habe ihn nicht zu erkennen vermocht. Wißt Ihr, wer es sein kann?«

Der Unbekannte antwortete mit keinem Worte. Aber er hörte plötzlich mit Rudern auf, seine Arme fielen wie gebrochen am Leibe herunter, sein Kopf fiel auf die Brust, und die Esmeralda hörte ihn krampfhaft schluchzen. Sie zuckte jetzt zusammen; sie hatte schon Seufzer, wie diese da gehört.

Das sich selbst überlassene Fahrzeug folgte nun einige Augenblicke dem Strome. Aber der schwarze Mann raffte sich wieder zusammen, nahm die Ruder wieder, und begann dem Strome entgegen zu steuern. Er segelte zum zweiten Male an der Spitze der Notre-Dameinsel vorüber und lenkte nach dem Landungsplatze der Heukähne zu.

»Ach!« sagte Gringoire, »sehet da unten das Haus Barbeau … Haltet, Meister, betrachtet jene Gruppe schwarzer Dächer, welche so sonderbare Winkel bilden, da, unter dieser Menge tiefhängender, zerrissener, durcheinandergezogener und grauer Wolken, hinter denen der Mond ganz zerdrückt und hingezogen ist, wie die Dotter eines Eies, dessen Schale zerbrochen worden … Das ist ein schönes Haus. Drin befindet sich eine Kapelle, die mit einer kleinen Wölbung voll reich gemeißelter Ausschmückungen gekrönt ist. Darüber könnt Ihr auch den sehr zart durchbrochenen Thurm sehen. Es ist auch ein Lustgarten dabei, welcher einen Weiher, ein Vogelhaus, ein Echo, eine Mailspielbahn, einen Irrgarten, ein Haus für die wilden Thiere, und eine Menge buschiger Baumgänge enthält, die der Venus sehr angenehm sind. Auch kann man noch einen schelmischen Baum dort sehen, welchen man »den Buhler« nennt, weil er den Lüsten einer berüchtigten Prinzessin und eines galanten und schöngeistigen Konnetabel von Frankreich mit seinem Schatten gedient hat … Ach! wir armen Philosophen, wir sind in den Augen eines Konnetabel das, was ein Kohl- oder Radieschenbeet für den Garten des Louvre ist. Was thut’s indessen? Das menschliche Leben ist für die Großen wie für uns aus Gutem und Bösem gemischt. Der Schmerz steht immer neben der Freude, der Spondäus bei dem Daktylus … Lieber Meister, ich muß Euch diese Geschichte des Hauses Barbeau erzählen. Es endigt auf eine tragische Weise. Sie ereignete sich im Jahre 1319, unter der Regierung Heinrichs des Fünften, des längsten aller Könige von Frankreichs. Die Moral der Geschichte ist, daß die Versuchungen des Fleisches gefährlich und boshaft sind. Wir sollen unsern Blick nicht zu oft auf das Weib unseres Nachbars werfen, so geschmeichelt unsere Sinne auch bei ihrer Schönheit sein mögen. Die Unzucht ist ein sehr frecher Gedanke. Der Ehebruch ist eine Neugierde nach dem Liebesgenusse eines andern … Hört nur! wie sich der Lärm da unten verdoppelt!«

In der That wuchs der Tumult rings um Notre-Dame. Sie horchten. Man hörte ziemlich deutlich Siegesgeschrei. Plötzlich verbreiteten sich Hunderte von Fackeln, welche Helme bewaffneter Männer erglänzen ließen, über die Kirche in allen Stockwerken, über die Thürme, die Galerien, über die Strebebogen. Diese Fackeln schienen nach Etwas zu suchen; und bald gelangten die entfernten Schreie deutlich vernehmbar zu den Flüchtlingen: »Die Zigeunerin! die Hexe! zum Tode mit der Zigeunerin!«

Die Unglückliche ließ das Haupt auf ihre Hände sinken, und der Unbekannte begann mit wüthender Anstrengung nach dem Ufer hin zu rudern. Während dem überlegte unser Philosoph. Er preßte die Ziege in seine Arme und rückte ganz sacht von der Zigeunerin weg, die sich immer mehr an ihn drängte, als den einzigen Schutz und Schirm, der ihr noch blieb.

Sicherlich befand sich Gringoire in einer grausamen Verlegenheit. Er dachte daran, daß »nach dem bestehenden Gesetze« auch die Ziege, wenn sie wieder eingefangen würde, gehangen werden würde; daß es doch sehr Schade sein würde um die arme Djali! Daß er zu viel hätte an zwei Verurtheilten, die sich so an ihn geklammert hätten; daß schließlich sein Gefährte nichts lieber wünschte, als sich der Zigeunerin anzunehmen. Es entstand ein heftiger Kampf zwischen seinen Gedanken, in welchem er, wie Zeus in der Iliade, abwechselnd die Zigeunerin und die Ziege nach ihrem Werthe abwog; und er betrachtete sie eine nach der andern mit thränenfeuchten Augen, während er zwischen den Zähnen sprach: »Ich kann euch doch nicht alle Beide retten.«

Ein Stoß unterrichtete sie endlich, daß der Kahn jetzt ans Land stieß. Das schreckliche Getöse erfüllte noch immer die Altstadt. Der Unbekannte erhob sich, trat an die Zigeunerin heran und wollte sie am Arme ergreifen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Sie stieß ihn zurück und hing sich an Gringoires Aermel, der seinerseits, als mit der Ziege beschäftigt, sie fast von sich abwehrte. Nun sprang sie allein aus dem Kahne heraus ans Land. Sie war so verwirrt, daß sie nicht wußte, was sie that, noch wohin sie ging. So blieb sie einen Augenblick betäubt stehen und sah, wie das Wasser dahin floß. Als sie nach und nach wieder zu sich kam, war sie allein mit dem Unbekannten an der Landungsstelle. Es schien, daß Gringoire sich den Augenblick der Landung zu Nutze gemacht hatte, um mit der Ziege in dem Häuserviertel der Straße Grenier-sur-l’Eau zu verschwinden.

Die arme Zigeunerin schauderte, als sie sich mit diesem Manne allein sah. Sie wollte sprechen, schreien, Gringoire rufen; die Zunge in ihrem Munde war gelähmt, und kein Ton kam über ihre Lippen. Plötzlich fühlte sie die Hand des Unbekannten auf der ihrigen. Es war eine kalte und starke Hand. Ihre Zähne schlugen an einander, und sie wurde blasser, als der Strahl des Mondes, welcher sie beschien. Der Mann sprach kein Wort. Er begann mit starken Schritten nach dem Grèveplatze zu hinaufzugehen, indem er sie an der Hand festhielt. In diesem Augenblicke fühlte sie, daß das Schicksal eine unwiderstehliche Macht ist. Sie besaß keine Spannkraft mehr, sie ließ sich fortschleppen, lief, während daß der Unbekannte fortschritt. Der Flußdamm ging an dieser Stelle bergan; ihr schien es indessen, als ob sie einen Abhang hinabstieg.

Sie blickte sich nach allen Seiten um. Nicht ein lebendes Wesen war zu sehen. Der Flußdamm war völlig öde. Sie hörte kein Geräusch; sie merkte den Lärm von Menschen nur in der tobenden und feuergerötheten Altstadt, von der sie nur durch einen Arm der Seine getrennt war, und von woher ihr Name, untermischt mit Todesschreien, an ihr Ohr schlug. Das übrige Paris lag in großen, dunkeln Massen rings um sie ausgebreitet da.

Inzwischen zog sie der Unbekannte immer mit demselben Schweigen und derselben Eile mit sich fort. Sie fand in ihrem Gedächtnisse keinen der Orte wieder, durch die sie jetzt dahineilte. Als sie an einem erleuchteten Fenster vorbeikam, überwand sie sich, sträubte sie sich plötzlich und schrie: »Hilfe!«

Der Bürger, welchem das Fenster gehörte, öffnete es, erschien an demselben im Hemde mit seiner Lampe, sah mit stumpfsinniger Miene auf den Flußdamm hinaus, sprach einige Worte, welche sie nicht verstand und schloß den innern Fensterladen wieder. Das war der letzte Hoffnungsschimmer, welcher erlosch.

Der schwarze Mann ließ keine Silbe vernehmen; er hielt sie fest, und fing an, schneller zu gehen. Sie leistete keinen Widerstand mehr und folgte ihm erschöpft. Von Zeit zu Zeit sammelte sie wieder ein wenig Kraft und sprach mit einer, von den Stößen des holprigen Pflasters und von der Athemlosigkeit des Laufes oft unterbrochenen Stimme: »Wer seid Ihr? Wer seid Ihr?« Er antwortete gar nicht.

So gelangten sie, immer längs des Flußdammes hineilend, an einen ziemlich großen Platz. Der Mond beleuchtete ihn ein wenig. Es war der Grèveplatz. Man bemerkte in der Mitte eine Art schwarzen Kreuzes ragen: es war der Galgen. Sie erkannte das alles wieder, und sah nun, wo sie sich befand. Der Mann blieb stehen, wandte sich nach ihr um, und schlug seine Kaputze zurück. »Ach!« stammelte sie versteinert, »ich wußte wohl, daß er es abermals war!«

Es war der Priester. Er sah wie sein Schatten aus. Das war die Wirkung des Mondlichtes. Es scheint, daß man in solchem Lichte nur die Schreckbilder der Dinge sieht.

»Höre zu,« sagte er zu ihr, und sie schauderte bei dem Tone dieser furchtbaren Stimme, die sie seit langem nicht gehört hatte. Er fuhr fort. Er sprach in solchen kurzen, keuchenden Satzgefügen, welche in ihrem ruckweisen Hervorquellen tiefes inneres Leben verriethen. »Höre an. Wir sind jetzt hier. Ich will mit dir reden. Das ist der Grèveplatz. Hier ist ein entscheidender Augenblick. Das Verhängnis überliefert uns einander. Ich will über dein Leben, du sollst über meine Seele entscheiden. Hier ist ein Ort und eine Nacht, jenseits welcher man nichts sieht. Höre mich also an. Ich will dir sagen … Zuerst rede mir nicht von deinem Phöbus. (Während er das sagte, ging er hin und her, wie ein Mensch, der nicht an einer Stelle ausdauern kann, und zog sie hinter sich her.) Sprich mir nicht von ihm. Siehst du, wenn du diesen Namen aussprichst, weiß ich nicht, was ich thun werde; aber es wird etwas Gräßliches geschehen.«

Als er so gesprochen, stand er wieder bewegungslos da, wie ein Körper, der seinen Schwerpunkt wieder findet; aber seine Worte verriethen noch eben soviel Unruhe. Seine Stimme wurde immer dumpfer.

»Wende deinen Kopf nur nicht so ab. Höre mich an. Es ist eine ernsthafte Angelegenheit. Zunächst vernimm, was sich ereignet hat … Man soll über alles das nicht lachen, schwöre ich dir … Was sagte ich denn eigentlich? Erinnere mich daran! Ach, ja! … Es liegt ein Parlamentsbeschluß vor, welcher dich dem Blutgerüste überliefert. Ich habe dich eben aus ihren Händen entrissen. Aber da sind sie, die dich verfolgen. Sieh hin.«

Er streckte den Arm nach der Altstadt hin aus. Die Nachsuchungen schienen in der That da drüben fortzudauern. Das verworrene Getöse kam näher; der Thurm auf dem Hause des Wachoffizieres, das dem Grèveplatze gegenüber lag, war voll Lärm und Licht; und man sah auf dem gegenüberliegenden Flußdamme Soldaten mit Fackeln und unter den Rufen: »Die Zigeunerin! wo ist die Zigeunerin! zum Tode mit ihr! zum Tode!« vorbeilaufen.

»Du siehst wohl, daß sie dich verfolgen, und daß ich nichts Unwahres behaupte. Ich – ich liebe dich … Oeffne den Mund nicht; sprich lieber nicht mit mir, wenn du mir sagen willst, daß du mich hassest. Ich bin entschlossen, das nicht mehr zu hören … Ich habe dich soeben gerettet … Laß mich zuerst zu Ende kommen … Ich kann dich gänzlich retten. Ich habe alles vorbereitet. Es liegt an dir, es zu wollen. So wie du willst, werde ich es vermögen.«

Er unterbrach sich gewaltsam. »Nein, das – das sollst du nicht sagen.«

Und eilends, und während er sie miteilen ließ – denn er ließ sie nicht los – ging er gerade auf den Galgen zu, zeigte mit dem Finger auf ihn hin und sagte mit eisigem Tone: »Wähle zwischen uns beiden.« Sie riß sich aus seinen Händen los, fiel am Fuße des Galgens nieder und umarmte dieses Todesgerüst; dann wandte sie ihr schönes Haupt halb zurück und blickte über ihre Schulter nach dem Priester hin. Man hätte sie für eine Heilige Jungfrau am Fuße des Kreuzes halten können. Der Priester war ohne Bewegung stehen geblieben; den Finger immer noch nach dem Galgen hin erhoben, verharrte er in seiner Stellung, wie eine Bildsäule.

Endlich sagte die Zigeunerin zu ihm:

»Er flößt mir noch weniger Entsetzen ein, als du.«

Da ließ er langsam seinen Arm niedersinken und blickte mit tiefer, schmerzlicher Niedergeschlagenheit zu Boden.

»Wenn diese Steine reden könnten,« murmelte er, »ja, sie würden sprechen, daß hier ein sehr unglücklicher Mensch steht.«

Er nahm wieder das Wort. Das junge Mädchen, die von ihren langen Haaren umflossen, vor dem Galgen auf den Knien lag, ließ ihn sprechen, ohne ihn zu unterbrechen. Er hatte jetzt einen klagenden und sanften Ton angenommen, der einen schmerzlichen Gegensatz zu der stolzen Herbheit seiner Züge bildete.

»Ich, ja, ich liebe Euch. Ach! das ist doch gewißlich wahr. Es geht doch nichts über dieses Feuer, welches mir das Herz verbrennt! Wehe! junges Mädchen, Nacht und Tag, ja, Nacht und Tag; verdient das kein Mitleiden? Es ist eine Liebe für Nacht und Tag, sage ich Euch, es ist eine Folter … Oh! ich leide zu viel, mein armes Kind! … Das ist ein Umstand, der des Mitleidens werth ist. versichere ich Euch. Ihr sehet, daß ich sanft mit Euch spreche. Ich möchte doch, daß Ihr nicht mehr diesen Abscheu vor mir hättet … Zuletzt, wenn ein Mann ein Weib liebt, so ist das nicht seine Schuld! … Oh! mein Gott! … Wie! niemals werdet Ihr mir also verzeihen? Ihr wollt mich immer hassen? Es ist also entschieden! Das gerade macht mich schlecht, seht Ihr? und mir selbst entsetzlich! … Ihr seht mich nicht einmal an! Ihr denkt an etwas Anderes; vielleicht, während ich hier stehe und zitternd an der Schranke unserer beider Ewigkeit mit Euch rede! Vor allem – sprecht nicht mit mir von dem Offiziere! … Was! … ich sollte mich zu Euern Knien niederwerfen; wie! ich sollte Euere Füße nicht – das möchtet Ihr nicht – sondern die Erde küssen, welche unter Euern Füßen ist; was! ich sollte wie ein Kind schluchzen; ich sollte aus meiner Brust nicht Worte, sondern mein Herz und meine Eingeweide herausreißen, um Euch zu sagen, daß ich Euch liebe: – alles würde vergeblich sein, alles! … Und dennoch ist Euere Seele nur voll Empfindung und Güte. Ihr strahlt die herrlichste Sanftmuth aus; Ihr seid ganz und gar anmuthig, gut, mitleidig und entzückend. Leider! habt Ihr für mich allein nur Bosheit! Oh! welches Mißgeschick!«

Er verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Das junge Mädchen hörte ihn weinen. Es war das erste Mal. Während er so von Schluchzen geschüttelt dastand, war er elender und erschien hilfeflehender, als wenn er auf die Knien gesunken wäre. So weinte er eine geraume Zeit.

»Genug!« fuhr er fort, als diese ersten Thränen vorüber waren, »ich finde keine Worte. Ich hatte doch so schön ausgedacht, was ich Euch sagen wollte. Jetzt zittere und bete ich, werde im entscheidenden Augenblicke schwach, ich empfinde etwas Allgewaltiges, das uns umgiebt, und ich stammele. Oh! ich werde zu Boden niedersinken, wenn Ihr kein Mitleid mit mir, keines mit Euch empfindet. Verdammet uns nicht alle Beide. Wenn Ihr wüßtet, wie sehr ich Euch liebe! Wo ist ein Herz wie das meinige! Ach! wie groß ist die Abtrünnigkeit von jeder Tugend! wie groß der verzweifelte Verrath an mir selbst! Als Gelehrter verhöhne ich die Wissenschaft, als Edelmann verunglimpfe ich meinen Namen; als Priester mache ich mein Meßbuch zu einem Kopfkissen der Wollust, speie in das Antlitz meines Gottes! Und das alles für dich, Zauberin! um deiner Hölle würdiger zu werden! Und du willst von dem Verdammten nichts wissen! Ach! könnte ich dir alles sagen! Noch mehr, etwas Schrecklicheres, ach! Schrecklicheres! …«

Während er diese letzen Worte sprach, wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich ganz verwirrt. Er schwieg einen Augenblick; dann fuhr er, als ob er mit sich selbst spräche, mit starker Stimme fort:

»Kain, was hast du mit deinem Bruder angefangen?«

Wieder entstand eine Pause, und er fuhr dann fort:

»Was ich mit ihm angefangen habe, Herr des Himmels? Ich habe ihn aufgenommen, habe ihn erzogen, ihn ernährt, ihn geliebt, habe ihn abgöttisch geliebt, und habe ihn gemordet! Ja, Herr des Himmels, du weißt, daß man ihm eben vor meinen Augen das Haupt an dem Steine deines Hauses zerschmettert hat; und das meinetwegen, dieses Weibes wegen, ihretwegen …«

Sein Blick war irre. Seine Stimme erlosch nach und nach; er wiederholte noch mehrere Male mechanisch, in ziemlich langen Pausen, wie eine Glocke, die ihre letzte Schwingung verlängert: »Ihretwegen … ihretwegen …« Dann sprach seine Zunge keinen verständlichen Ton mehr, seine Lippen bewegten sich indessen noch immer. Plötzlich brach er in sich zusammen, wie ein einstürzender Gegenstand und blieb ohne Bewegung, das Haupt auf den Knien, am Boden liegen. Eine Streifung des jungen Mädchens, welche ihren Fuß unter ihm hervorzog, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er fuhr langsam mit der Hand über seine eingefallenen Wangen und betrachtete einige Augenblicke betroffen seine Finger, welche feucht waren: »Was!« murmelte er, »ich habe geweint!«

Und er wandte sich plötzlich mit dem Ausdrucke unaussprechlicher Angst zur Zigeunerin hin:

»Wehe! Ihr habt mich weinen gesehen und seid kalt dabei geblieben? Kind, weißt du, daß diese Thränen Lavaströme sind? Ist es denn also wahr? An dem Menschen, welchen man haßt, rührt uns nichts? du könntest mich sterben sehen, und du würdest lachen. Ach! ich will dich nicht sterben sehen! Ein Wort! ein einziges Wort der Verzeihung! Sage mir nicht, daß du mich lieb hast, sage mir nur, daß du nichts dagegen hast; das soll genügen; ich werde dich retten. Wenn nicht … Ach! die Stunde eilt. Ich bitte dich inständig bei allem, was heilig ist, warte nicht, bis ich wieder zu Stein geworden bin, wie dieser Galgen, der dich auch beansprucht! Bedenke, daß ich unser Beider Schicksal in meiner Hand halte, daß ich unsinnig bin, es fürchterlich ist, daß ich alles hinstürzen lassen kann, und daß sich unter uns ein unergründlicher Abgrund befindet, Unglückliche, wohinein mein Sturz den deinigen die Ewigkeit hindurch nach sich ziehen wird! Ein gütiges Wort! sprich ein Wort! nur ein Wort!«

Sie öffnete den Mund, um ihm zu antworten. Er stürzte sich vor ihr auf die Kniee nieder, um mit Anbetung das vielleicht gerührte Wort zu vernehmen, welches über ihre Lippen kommen wollte. Sie sagte zu ihm:

»Ihr seid ein Mörder!«

Der Priester riß sie wüthend in seine Arme und begann in ein entsetzliches Gelächter auszubrechen.

»Gut denn, ja! Mörder!« sagte er, »und ich werde dich besitzen. Du willst mich nicht als Sklaven, du sollst mich zum Herrn haben. Ich will dich besitzen. Ich habe ein Versteck, wohin ich dich schleppen will. Du wirst mir folgen, du wirst mir wohl folgen müssen, oder ich überliefere dich dem Henker! du mußt sterben, meine Schöne, oder mir gehören! dem Priester gehören! dem Abtrünnigen, dem Mörder gehören! Von heute Nacht an, hörst du es? Wohlan denn! zur Lust! wohlan, küsse mich, Närrchen! Das Grab oder mein Bett!«

Sein Auge funkelte vor wollüstiger Gier und vor Wuth. Sein geiler Mund röthete den Hals des jungen Mädchens. Sie sträubte sich in seinen Armen. Er bedeckte sie mit schäumenden Küssen.

»Beiße mich nicht, Ungethüm!« schrie sie. »Ach! über den widerwärtigen, schändlichen Mönch! Laß mich los! Ich werde dir deine eklen, grauen Haare ausraufen und sie dir bündelweise ins Gesicht werfen!«

Er wurde roth und wieder blaß vor Zorn, dann ließ er sie los und betrachtete sie mit finsteren Blicken. Sie glaubte über den Priester gesiegt zu haben und fuhr fort:

»Ich sage dir, daß ich meinem Phöbus angehöre, daß Phöbus es ist, den ich liebe, daß Phöbus schön ist. Du, Priester, du bist alt, bist häßlich. Hebe dich weg!«

Er stieß einen heftigen Schrei aus, wie der Unglückliche, an den man ein glühendes Eisen legt. »Stirb denn!« sprach er mit Zähneknirschen. Sie sah seinen fürchterlichen Blick und wollte fliehen. Er packte sie wieder, schüttelte sie, warf sie zur Erde nieder und ging in eiligen Schritten auf die Ecke des Rolandsthurmes los, während er sie an ihren schönen Händen hinter sich her über den Boden schleifte. Hier angelangt, wandte er sich an sie:

»Zum letzten Male, willst du mein sein?«

Sie antwortete mit Nachdruck:

»Nein.«

Jetzt rief er mit lauter Stimme:

»Gudule! Gudule! Hier ist die Zigeunerin! räche dich!«

Das junge Mädchen fühlte, wie sie plötzlich am Ellbogen ergriffen wurde. Sie blickte auf. Es war ein fleischloser Arm, welcher aus einer Luke in der Mauer herauslangte und sie wie eine eiserne Hand festhielt.

»Halt fest!« rief der Priester; »es ist die entwischte Zigeunerin. Laß sie nicht los. Ich will die Gerichtsdiener holen. Du sollst sie hängen sehen.«

Ein dumpfes Lachen antwortete aus dem Innern der Mauer auf diese blutdürstigen Worte. »Ha! ha! ha!« Die Zigeunerin sah, wie sich der Priester eiligst in der Richtung der Notre-Damebrücke entfernte. Man hörte einen Reitertrupp auf dieser Seite.

Das junge Mädchen hatte die boshafte Klausnerin erkannt. Keuchend vor Entsetzen versuchte sie sich loszumachen. Sie wand sich, sie sprang vor Todesangst und Verzweiflung nach rechts und links, aber die Nonne hielt sie mit unerhörter Kraft fest. Die knochigen und magern Finger, die sie preßten, krampften sich um ihr Fleisch zusammen und schlossen sich fest herum. Man hätte glauben sollen, daß diese Hand an ihren Arm genietet sei. Es war mehr als eine Kette, mehr als eine Klammer oder eiserner Ring – es war eine geschickte und lebendige Zange, welche aus einer Mauer herausfuhr. Erschöpft sank sie an der Mauer nieder, und nun bemächtigte sich ihrer die Todesfurcht. Sie dachte an die Schönheit des Lebens, an die Jugend, an den Anblick des Himmels, an die Erscheinungen der Natur, an die Liebe, an Phöbus, an alles, was dahin floh und an alles, was ihr nahe trat, an den Priester, welcher sie angab, an den Henker, welcher kommen würde, an den Galgen, welcher dort stand. Da fühlte sie, wie ihr das Entsetzen bis in die Wurzeln der Haare stieg, und sie hörte das grausige Lachen der Klausnerin, die ganz leise zu ihr sprach: »Ha! ha! ha! du wirst gehangen werden!«

Sie wandte sich todesmatt nach der Luke hin und sah das fahle Gesicht der Büßerin durch die Gitterstäbe hindurch.

»Was habe ich Euch gethan?« sagte sie fast leblos.

Die Klausnerin antwortete nicht; sie begann in einem singenden, erregten und spöttischen Tone zu murmeln:

»Tochter Aegyptens! Tochter Aegyptens! Tochter Aegyptens!«

Die unglückliche Esmeralda ließ ihr Antlitz unter ihrem Haar verschwinden, und begriff, daß sie es nicht mit einem menschlichen Wesen zu thun hätte.

Plötzlich rief die Klausnerin, als ob diese Frage der Zigeunerin die ganze Zeit gebraucht hätte, um zu ihrem Bewußtsein zu gelangen:

»Was du mir zu Leide gethan? fragst du! Oh! was du mir angethan hast, Zigeunerin! – Gut denn! höre … Ich hatte ein Kind, ja ich! Siehst du? Ich hatte ein Kind! ein Kind, sage ich dir! … Ein reizendes kleines Mädchen! … Meine Agnes« fuhr sie verwirrt fort und küßte dabei etwas in der Dunkelheit … »Nun gut! siehst du, Tochter Aegyptens? Man hat mir mein Kind genommen, man hat mir mein Kind gestohlen; ja, man hat mir mein Kind gestohlen. Jetzt weißt du, was du mir Leids gethan hast.«

Das junge Mädchen antwortete wie das Lamm in der Fabel:

»Ach Gott! ich war damals vielleicht noch nicht geboren!«

»Oh! doch!« fuhr die Klausnerin fort, »du mußtest geboren sein. Du warst dabei. Sie würde in deinem Alter sein! Also! … Das sind nun fünfzehn Jahre her, daß ich hier bin; fünfzehn Jahre, daß ich dulde; fünfzehn Jahre, daß ich bete; fünfzehn Jahre, daß ich mit meinem Kopfe gegen die vier Mauern renne … Ich sage dir, es sind Zigeunerinnen, die mir es gestohlen haben, hörst du es? und die es mit ihren Zähnen gefressen haben … Hast du ein Herz? Denke dir, was ein Kind ist, das da spielt; ein Kind, welches an der Brust liegt; ein Kind, das schlummert. Es ist so unschuldig! … Nun also! das, das ist es, was man mir genommen, was man mir gemordet hat! Der liebe Gott weiß es ja! Heute ist die Reihe an mir; ich will Zigeunerfleisch essen … Oh! wie gern würde ich dich anbeißen, wenn mich die Gitterstäbe nicht verhinderten! Ich habe einen zu dicken Kopf! … Die arme Kleine! während daß sie schlief! Und wenn sie sie geweckt hätten, während sie sie raubten, sie würde vergeblich geschrien haben: – ich war nicht da! Ach! ihr Zigeunermütter, ihr habt meine Tochter gefressen! Kommt, und seht jetzt die eurige.«

Nun fing sie wieder an zu lachen oder mit den Zähnen zu knirschen – beides blieb sich in diesem wüthenden Gesichte gleich. Der Tag begann zu grauen. Ein Dämmerschein beleuchtete undeutlich diese Scene, und der Galgen wurde immer sichtbarer auf dem Platze. Von der andern Seite her, aus der Gegend der Notre-Damebrücke, glaubte die arme Verurtheilte den Lärm des Reitertrupps herankommen zu hören.

»Gute Frau!« rief sie mit gefalteten Händen, auf beide Knien gesunken, mit fliegendem Haar, entsetzt und vor Schrecken wahnsinnig, »gute Frau, habt Erbarmen. Sie kommen. Ich habe Euch nichts zu Leide gethan. Wollt Ihr mich auf diese schreckliche Art vor Euern Augen sterben sehen? Ihr seid mitleidig, ich bin dessen sicher. Es ist zu fürchterlich. Laßt mich Rettung suchen. Laßt mich los! Erbarmen! Ich will nicht so sterben!«

»Gieb mir mein Kind zurück!« sagte die Klausnerin.

»Gnade! Gnade!«

»Gieb mir mein Kind zurück!«

»Laßt mich los, im Namen des Himmels!«

»Gieb mir mein Kind zurück!«

Jetzt auf einmal sank das junge Mädchen erschöpft, gebrochen, schon mit dem gläsernen Blicke jemands, der im Grabe liegt, zu Boden.

»Ach Gott!« stammelte sie, »Ihr sucht Euer Kind, und ich, ich suche meine Eltern.«

»Gieb mir meine kleine Agnes zurück!« fuhr Gudule fort. »Du weißt nicht, wo sie ist? Dann stirb! … Ich will dir erzählen. Ich war ein Freudenmädchen, ich hatte ein Kind, man hat mir mein Kind genommen … Es sind die Zigeunerinnen gewesen. Du siehst wohl, daß du sterben mußt. Wenn deine Mutter, die Zigeunerin, kommen wird, um dich zurückzufordern, so will ich zu ihr sagen: »Mutter, blicke nach jenem Galgen! … Oder aber gieb mein Kind zurück … Weißt du, wo sie ist, meine kleine Tochter? Halt, daß ich dir etwas zeige. Da ist ihr Schuh – alles, was mir von ihr geblieben ist. Weißt du, wo der andere ist? Wenn du es weißt, sage es mir, und wenn er selbst am andern Ende der Welt sich befindet, auf den Knien hinrutschend will ich ihn holen.«

Bei diesen Worten hielt sie mit ihrem andern Arme, den sie aus der Luke herausgestreckt hatte, der Zigeunerin den kleinen gestickten Schuh hin. Es war schon ziemlich hell, um seine Form und Farben unterscheiden zu können.

»Zeigt mir diesen Schuh,« sprach die Zigeunerin zitternd. »Gott! Gott!« Und zu gleicher Zeit öffnete sie mit der Hand, welche sie frei hatte, leicht das kleine, mit grünen Glassteinen verzierte Säckchen, welches sie am Halse trug.

»Genug! genug!« murmelte Gudule, »durchsuche dein Teufelsamulet!« Plötzlich unterbrach sie sich, zitterte am ganzen Leibe und rief mit einer Stimme, die aus der tiefsten Tiefe des Herzens kam:

»Meine Tochter!«

Die Zigeunerin hatte eben einen kleinen Schuh aus dem Säckchen gezogen, der dem andern zum Verwechseln ähnlich sah. An diesem kleinen Schuhe war ein Pergamentstreifen befestigt, auf welchem folgender Knüttelreim geschrieben stand:

Wenn du mein Ebenbild entdeckt,
Der Mutterarm dir entgegen sich streckt.

In weniger Zeit, als ein Blitz dauert, hatte die Klausnerin die beiden Schuhe verglichen, die Aufschrift des Pergamentstreifens gelesen und ihr von einer himmlischen Regung strahlendes Gesicht an die Gitterstäbe der Luke gepreßt:

»Meine Tochter! meine Tochter!« rief sie.

»Meine Mutter!« antwortete die Zigeunerin.

Hier unterlassen wir, die Scene auszumalen.

Die Mauer und die eisernen Gitterstäbe befanden sich zwischen ihnen beiden.

»Ach! die Mauer!« rief die Klausnerin.

»Oh! sie zu sehen und nicht umarmen zu können! Deine Hand! Deine Hand!«

Das junge Mädchen streckte ihren Arm durch die Luke; die Klausnerin warf sich über diese Hand her, preßte ihre Lippen darauf, und blieb, in diesem Kusse versunken, darüber geneigt, ohne ein anderes Lebenszeichen mehr von sich zu geben, als ein Schluchzen, welches von Zeit zu Zeit ihren Leib durchzuckte. Während dem vergoß sie schweigend, in der Dunkelheit ihrer Zelle, Ströme von Thränen gleich einem nächtlichen Regengusse. Die arme Mutter leerte in Fluten über dieser angebeteten Hand den dunkeln und tiefen Thränenquell, der in ihr quoll, und aus dem ihr ganzer Schmerz seit fünfzehn Jahren tropfenweise hervorgequollen war.

Plötzlich richtete sie sich wieder in die Höhe, strich ihre langen, grauen Haare von der Stirn, und ohne ein Wort zu sagen, fing sie an, mit ihren beiden Händen an den Gitterstäben ihrer Zelle wüthender als eine Löwin zu rütteln. Die Stäbe hielten aus. Jetzt holte sie aus einem Winkel ihrer Zelle einen schweren Stein, der ihr als Kopfkissen diente, und schleuderte ihn mit solcher Macht gegen dieselben, daß einer von den Eisenstäben unter heftigem Funkensprühen zerbrach. Ein zweiter Schlag zertrümmerte vollständig das alte eiserne Kreuz, welches die Luke versperrte. Dann zerbrach und entfernte sie mit ihren beiden Händen völlig die verrosteten Stumpfe der Gitterstäbe. Es giebt Augenblicke, in denen die Hände eines Weibes übermenschliche Stärke besitzen.

Als die Bahn gebrochen war, und dazu bedurfte es weniger als einer Minute, faßte sie ihre Tochter um die Mitte des Leibes und zog sie in ihre Zelle hinein. »Komm! damit ich dich aus dem Abgrunde des Verderbens herauslange!« murmelte sie.

Als ihre Tochter sich in der Zelle befand, setzte sie sie sanft auf den Boden nieder, nahm sie dann wieder auf, trug sie in ihren Armen, als ob sie immer noch ihre kleine Agnes wäre, und ging in der engen Zelle berauscht, wie rasend sich geberdend, fröhlich, schreiend, singend und ihre Tochter küssend hin und her; sprach mit ihr, brach in Gelächter aus und vergoß Thränen – alles durch einander und in leidenschaftlichem Ausbruche.

»Meine Tochter! meine Tochter!« sprach sie. »Ich habe meine Tochter! Da ist sie! Der liebe Gott hat sie mir wiedergegeben. Nun ihr – kommt alle her! Ist jemand hier, der sehen will, daß ich meine Tochter habe? Herr Jesus, wie schön sie ist! Du hast mich fünfzehn Jahre warten lassen, mein lieber Gott, aber nur, um sie mir so schön zurückzugeben … Die Zigeunerinnen hatten sie also nicht gegessen! Wer hatte das behauptet! Meine kleine Tochter! meine kleine Tochter! küsse mich. O diese guten Zigeunerinnen! Ich liebe die Zigeunerinnen! – Du bist es wirklich. Das also ist der Grund, warum mir jedesmal das Herz hüpfte, wenn du vorbeigingst. Ich aber hielt es für Haß! Vergieb mir, meine Agnes, vergieb mir! Du hast mich für sehr boshaft gehalten, nicht wahr? Ich liebe dich … dein kleines Mal am Halse, hast du es immer noch? Laß sehen. Sie hat es immer noch. Oh! du bist schön. Ich bin es, der dir diese großen Augen da gegeben hat, Jungfer. Küsse mich. Ich liebe dich. Das ist mir nun sehr gleichgültig, daß andere Mütter Kinder haben; was schere ich mich jetzt um sie. Sie brauchen nur zu kommen. Hier ist meins. Seht da seinen Hals, seine Augen, sein Haar, seine Hand. Suchet mir etwas Schöneres, als das! Oh! ich stehe Euch dafür, daß sie Liebhaber finden wird, die da! Ich habe fünfzehn Jahre lang geweint. Meine ganze Schönheit ist vergangen, und sie hat sie geerbt. Küsse mich!«

Sie führte mit ihr zahllose andere närrische Unterhaltungen, deren Ausdruck die ganze Anmuth bildete, brachte die Kleider des armen Kindes so in Unordnung, daß diese darüber roth wurde, glättete ihr das Seidenhaar mit der Hand, küßte ihr den Fuß, die Kniee, die Stirn, die Augen, und gerieth über alles außer sich vor Entzücken. Das junge Mädchen ließ sie gewähren, während sie manchmal ganz leise und mit unendlicher Anmuth wiederholte: »Meine Mutter!«

»Siehst du, mein Töchterchen,« fuhr die Klausnerin fort, wobei sie alle ihre Worte mit Küssen unterbrach, »siehst du! ich will dich recht lieb haben. Wir wollen von hier weg gehen. Wir werden recht glücklich werden. In Reims, in unserer Heimat, habe ich etwas geerbt. Du weißt, Reims? Du, ach nein, du weißt das nicht; du warst zu klein! Wenn du wüßtest, wie hübsch du mit vier Monaten warst! Füßchen, die man der Seltenheit wegen zu sehen aus Epernay herkam, das sieben Stunden entfernt ist! Wir werden ein Feld und Haus besitzen. Ich will dich in mein Bett legen. Mein Gott! mein Gott! wer hätte das glauben sollen? Ich habe meine Tochter wieder!«

»O meine Mutter!« sagte das junge Mädchen, die endlich die Kraft fand, in ihrer Gemüthserregung zu sprechen, »die Zigeunerin hat es mir wohl gesagt. Es war eine gute Zigeunerin unter unsern Leuten, die im vergangenen Jahre gestorben ist, und die sich immer um mich wie eine Amme gekümmert hat. Die ist es, die mir das Säckchen um den Hals gehängt hat. Sie pflegte mir immer zu sagen: ›Kleine, bewahre ja dies Kleinod. Es ist ein Schatz. Es wird dich deine Mutter wiederfinden lassen. Du trägst deine Mutter an deinem Halse.‹ Sie hatte es vorhergesagt, die Zigeunerin!«

Die Nonne schloß ihre Tochter von neuem in ihre Arme.

»Komm, laß dich küssen! Du erzähltest das hübsch. Wenn wir in unserer Heimat sein werden, wollen wir einem Jesuskinde in der Kirche die kleinen Schuhe anziehen. Wir sind das wohl der guten heiligen Jungfrau schuldig. Mein Gott! was du für eine hübsche Stimme hast! Als du eben mit mir sprachst, war das eine Musik! Oh! mein Gott und Herr! ich habe mein Kind wieder gefunden! Aber ist diese Geschichte da wohl glaublich? Man stirbt an nichts, denn ich bin nicht vor Freude gestorben.«

Und dann fing sie wieder an in die Hände zu klatschen und zu lachen und zu rufen: »Wir wollen glücklich werden!«

In diesem Augenblicke hallte die Zelle von einem Waffengeklirre und Pferdegalopp wieder, die von der Notre-Damebrücke herzukommen und sich mehr und mehr auf dem Flußdamme zu nähern schienen. Die Zigeunerin warf sich voll Todesangst in die Arme der Büßerin.

»Rettet mich! rettet mich! meine Mutter! Das sind sie, die herankommen!«

Die Klausnerin wurde blaß. ^

»O Himmel! was sagst du da? Ich hatte vergessen! Man verfolgt dich! Was hast du denn gethan?«

»Ich weiß nicht,« antwortete das unglückliche Kind, »aber ich bin verurtheilt, zu sterben.«

»Sterben!« sagte Gudule wankend wie von einem Blitzstrahle getroffen. »Sterben!« wiederholte sie langsam und sah ihre Tochter mit einem starren Blicke an.

»Ja, meine Mutter,« versetzte das junge Mädchen entsetzt, »sie wollen mich tödten. Horch, wie man kommt, mich zu greifen. Jener Galgen ist für mich! Rettet mich! rettet mich! Sie kommen schon! Rettet mich!«

Die Klausnerin stand mehrere Augenblicke starr wie ein versteinertes Bildnis da; dann schüttelte sie zum Zeichen des Zweifels den Kopf, dann brach sie plötzlich in ein lautes Gelächter aus, aber in ihr fürchterliches Lachen, das ihr wieder gekommen war. »Ho! ho! nein! es ist ein Traum, den du mir da erzählst. Ah, ja! ich sollte sie verloren haben, das sollte fünfzehn Jahre gedauert haben! und dann sollte ich sie wiederfinden, und das sollte eine Minute dauern! Und man sollte sie mir wiedernehmen! und jetzt gerade, wo sie schön ist, wo sie groß ist, wo sie mit mir spricht, wo sie mich liebt; und jetzt gerade sollten sie kommen, mir sie aufzufressen, vor meinen eigenen Augen – ich, die ich die Mutter bin? Oh, nein! Das sind Dinge, die nicht möglich sind. Der liebe Gott giebt so etwas nicht zu!«

Hier schien der Reitertrupp Halt zu machen, und man hörte eine Stimme in der Ferne, welche rief: »Hierher, Herr Tristan! Der Priester sagte, daß wir sie im Rattenloche finden werden.« Das Pferdegetrappel fing von neuem an.

Die Klausnerin richtete sich mit einem verzweifelten Schrei hoch auf.

»Rette dich! rette dich! mein Kind! Es fällt mir alles wieder ein. Du hast Recht. Es ist dein Tod! Entsetzen! Flucht! Rette dich!«

Sie steckte den Kopf in die Luke und zog ihn schnell wieder zurück.

»Bleibe,« sagte sie mit leisem, kurzem und traurigem Tone, während sie krampfhaft die Hand der Zigeunerin umklammerte, die mehr todt als lebend war. »Bleibe! athme nicht! Ueberall sind Soldaten. Du kannst nicht hinauskommen. Es ist zu hell.«

Ihre Augen waren trocken und glühend. Sie verharrte einen Augenblick im tiefen Schweigen; sie ging nur in großen Schritten in der Zelle umher, und blieb zuweilen stehen, um sich ganze Büschel ihrer grauen Haare auszuraufen, die sie dann mit den Zähnen zernagte.

Plötzlich sagte sie:

»Sie kommen heran. Ich will mit ihnen sprechen. Verstecke dich in diesem Winkel. Sie werden dich nicht sehen. Ich will ihnen sagen, du seiest entwischt, ich hätte dich, meiner Treu! losgelassen.«

Sie setzte ihre Tochter, die sie immer noch trug, in einem Winkel der Zelle nieder, den man von draußen nicht sehen konnte. Sie drückte sie nieder, setzte sie sorgfältig zurecht, sodaß weder ihr Fuß noch ihre Hand aus der Dunkelheit hervorragten, band ihr die schwarzen Haare los; welche sie über ihr weißes Kleid ausbreitete, um es zu verdecken, stellte ihren Krug und ihren Stein, die einzigen Geräthschaften, welche sie besaß, vor sie hin, in der Meinung, daß dieser Krug und Stein sie verbergen würden. Und als das beendigt war, ließ sie sich, ruhiger geworden, auf die Kniee nieder und betete. Der Tag, welcher erst graute, ließ noch viel Finsternis im Rattenloche zurück.

In diesem Augenblicke erklang die Stimme des Priesters, diese höllische Stimme, ganz dicht bei der Zelle; er rief:

»Hierher, Hauptmann Phöbus von Châteaupers!«

Bei diesem Namen, dieser Stimme machte die Esmeralda, welche in ihrer Ecke kauerte, eine Bewegung.

»Rühre dich nicht,« sagte Gudule.

Sie endigte kaum, als ein Getümmel von Männern, Degen und Pferden sich rings um die Zelle verbreitete. Die Mutter erhob sich sehr schnell und stellte sich vor ihrer Luke auf, um sie zu versperren.

Sie sah einen großen Haufen bewaffneter Männer zu Fuß und zu Pferde, die auf dem Grèveplatz in Reih und Glied aufgestellt waren. Derjenige, welcher sie befehligte, setzte den Fuß auf die Erde und kam auf sie zu.

»Alte,« sagte dieser Mann, der einen grausamen Gesichtsausdruck hatte, »wir suchen eine Hexe, die wir hängen wollen; man hat uns gesagt, daß du sie bei dir hättest.«

Die arme Mutter nahm die gleichgültigste Miene an, die sie vermochte, und antwortete:

»Ich weiß nicht recht, was Ihr sagen wollt.«

Der andere versetzte:

»Bei Gottes Haupte! was schwatzte denn dieser tolle Narr von Archidiakonus? Wo ist er?«

»Gnädiger Herr,« sagte ein Soldat, »er ist verschwunden.«

»Wohlan, alte Närrin,« nahm der Befehlshaber wieder das Wort, »lüge mir nichts vor. Man hat dir eine Hexe zu bewachen gegeben. Was hast du mit ihr angefangen?«

Die Klausnerin wollte nicht alles läugnen, aus Furcht Argwohn zu erwecken, und antwortete in einem aufrichtigen und mürrischen Tone:

»Wenn Ihr von einem großen, jungen Mädchen sprecht, welches man mir vorhin in die Hände gegeben, so muß ich Euch sagen, daß sie mich gebissen hat, und daß ich sie losgelassen habe. Nun wißt Ihr es. Laßt mich in Ruhe.«

Der Befehlshaber machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Lüge mir nur nichts vor, altes Gespenst,« versetzte er. »Ich heiße Tristan l’Hermite und bin des Königs Gevatter. Tristan l’Hermite, hörst du?« Er fügte hinzu, während er rings um sich einen Blick auf den Grèveplatz warf: »Das ist ein Name, der hier Widerhall findet.«

»Und wenn Ihr Satan l’Hermite wäret,« entgegnete Gudule, die wieder Hoffnung schöpfte, »so würde ich Euch nichts anderes zu sagen haben und keine Furcht vor Euch zeigen.«

»Beim Haupte Gottes!« sagte Tristan, »das nenne ich mir eine Gevatterin! Ah! die Hexendirne hat sich gerettet! Und wohin hat sie die Flucht ergriffen?«

Gudule antwortete in sorglosem Tone:

»Durch die Rue-du-Mouton, glaube ich.«

Tristan wandte den Kopf zurück und gab seinem Trupp ein Zeichen, sich zum Abmarsch bereit zu machen. Die Klausnerin athmete auf.

»Gnädiger Herr,« sagte plötzlich ein Bogenschütze, »fraget doch die alte Zauberin, warum die Gitterstäbe ihres Lukenfensters so herausgebrochen sind.«

Diese Frage ließ die Todesangst wieder in das Herz der unglückseligen Mutter zurückkehren. Dennoch verlor sie nicht alle Geistesgegenwart.

»Sie sind immer so gewesen,« stotterte sie.

»Ach was!« versetzte der Bogenschütze, »noch gestern bildeten sie ein schönes schwarzes Kreuz, das Andacht einflößte.«

Tristan warf einen Seitenblick auf die Klausnerin.

»Ich glaube die Gevatterin geräth in Verwirrung!«

Die Unglückliche fühlte, daß alles von ihrer Fassung abhinge, und, den Tod in der Seele, fing sie höhnisch zu lachen an. Alte Weiber haben eine Stärke darin.

»Unsinn!« sagte sie, »dieser Mensch ist betrunken. Es ist länger, als ein Jahr her, daß das Hintertheil eines mit Steinen beladenen Karrens in meine Luke gestoßen und das Gitter darin zerbrochen hat. Wie habe ich deswegen den Fuhrmann ausgescholten!«

»Es ist wahr,« sagte ein anderer Häscher, »ich war dabei.«

Ueberall finden sich stets Leute, welche alles gesehen haben. Diese unerhoffte Zeugenaussage des Häschers belebte die Klausnerin wieder, für welche dieses Verhör den Gang über einen Abgrund auf der Schneide eines Messers bedeutete.

Aber sie war zu einem fortwährenden Wechsel zwischen Hoffnung und Schrecken verurtheilt.

»Wenn das ein Karren gethan hat,« nahm der erste Soldat wieder das Wort, »so müßten die Stücke der Stäbe nach innen gestoßen worden sein, während sie nach außen zu herausgeschlagen sind.«

»Ei! ei!« sagte Tristan zu dem Soldaten, »du Nase wie ein Untersuchungsrichter im Châtelet. Antwortet auf das, was er sagt, Alte.«

»Mein Gott!« rief sie zum Aeußersten gebracht, und mit einer wider ihren Willen von Thränen erstickten Stimme, »ich schwöre Euch zu, gnädiger Herr, daß nur ein Wagen diese Gitterstäbe zerbrochen hat. Ihr höret, daß dieser Mann es gesehen hat. Und dann, was hat denn das mit Euerer Zigeunerin zu thun?«

»Hm!« brummte Tristan vor sich hin.

»Zum Teufel!« nahm der Soldat, von dem Lobe des Profoß geschmeichelt, wieder das Wort, »die Brüche des Eisens sind ganz frisch!«

Tristan schüttelte den Kopf. Sie erblaßte.

»Wie lange Zeit ist es her, sagt Ihr, mit diesem Karren?«

»Vier Wochen, vierzehn Tage vielleicht, gnädiger Herr, ich – ich weiß nicht mehr.«

»Sie hat zuerst gesagt, länger als ein Jahr,« bemerkte der Soldat.

»Wahrhaftig, das sind faule Fische!« sagte der Profoß.

»Gnädiger Herr,« rief sie immer an die Luke gelehnt und zitternd, daß der Argwohn jene antreiben könnte, den Kopf herein zu stecken und in die Zelle zu blicken, »gnädiger Herr, ich schwöre Euch, daß gewiß ein Wagen dieses Gitter zerbrochen hat. Ich schwöre es Euch bei den Engeln des Paradieses. Wenn es nicht ein Wagen gethan hat, so will ich ewig verdammt sein, und ich verläugne Gott!«

»Du legst sehr viel Feuer in diesen Schwur!« sagte Tristan mit seinem Glaubensrichterblicke.

Das arme Weib fühlte, wie ihre Zuversicht mehr und mehr hinschwand. Sie war nahe daran, Ungeschicklichkeiten zu begehen, und sie begriff mit Entsetzen, daß sie nicht das sagte, was sie hätte sagen müssen.

Jetzt kam ein anderer Soldat herbei und rief:

»Gnädiger Herr, die alte Zauberin lügt. Die Hexe hat sich nicht durch die Rue-du-Mouton gerettet. Die Kette der Straße ist die ganze Nacht gespannt gewesen, und der Kettenwächter hat niemanden hindurchgehen gesehen.«

Tristan, dessen Gesichtsausdruck von Minute zu Minute Unheil verkündender wurde, forderte sie zur Entgegnung auf:

»Was hast du hierauf zu erwiedern?«

Sie versuchte abermals, diesem neuen Einwurfe die Spitze zu bieten.

»Daß ich nicht weiß, gnädiger Herr; daß ich mich habe täuschen können. Ich glaube, sie ist in der That über das Wasser entkommen.«

»Das ist die entgegengesetzte Seite,« sagte der Profoß. »Doch hat es keine große Wahrscheinlichkeit, daß sie in die Altstadt hat zurückkehren wollen, wo man sie verfolgte. Du lügst, Alte!«

»Und dann,« fügte der erste Soldat hinzu, »ist weder auf dieser Seite des Wassers, noch auf der andern ein Kahn zu sehen.«

»Sie wird hindurchgeschwommen sein,« antwortete die Klausnerin, die das Terrain Schritt für Schritt vertheidigte.

»Schwimmen denn die Frauenzimmer?« sagte der Soldat.

»Beim Haupte Gottes! Alte, du lügst! du lügst!« versetzte Tristan zornig.

»Ich habe große Lust, jene Hexe da laufen zu lassen, und dich in Person mitzunehmen. Eine Viertelstunde Folter wird dir vielleicht die Wahrheit aus der Kehle holen. Wohlan! du kannst uns folgen.«

Sie nahm diese Worte mit Begierde auf.

»Wie Ihr wollt, gnädiger Herr. Greift zu! greift zu! Die Folter! Ich bin es zufrieden. Führt mich weg. Schnell! schnell! Wir wollen sofort davongehen …« »Während der Zeit da,« dachte sie, »kann meine Tochter sich retten.«

»Gottes Tod!« sprach der Profoß, »welche Begierde nach der Folterbank. Ich werde aus dieser Närrin nicht klug.«

Ein alter Sergeant von der Nachtwache, mit grauem Kopfe, trat aus den Gliedern heraus und wandte sich an den Profoß:

»Närrin in der That, gnädiger Herr. Wenn sie die Zigeunerin freigelassen hat, so ist das nicht ihre Schuld, denn sie hat die Zigeunerinnen nicht gern. Es sind nun fünfzehn Jahre, daß ich die Nachtrunde mache, und daß ich sie mit endlosen Verwünschungen die Zigeunerweiber verfluchen höre. Wenn diejenige, auf welche wir fahnden, wie ich glaube, die kleine Tänzerin mit der Ziege ist, so verabscheuet sie diese vor allen andern.«

Gudule machte eine Bewegung und sagte:

»Jene vornehmlich.«

Das einstimmige Zeugnis der Leute von der Nachtwache bestätigte in den Augen des Profoß die Worte des alten Sergeanten. Tristan l’Hermite, der die Hoffnung aufgab, etwas aus der Klausnerin herauszubringen, kehrte ihr den Rücken zu, und sie sah mit unaussprechlicher Angst, wie er langsam auf sein Pferd losschritt.

»Genug,« sagte er zwischen den Zähnen, »vorwärts! Wir wollen uns wieder auf die Suche machen! Ich will kein Auge zuthun, bevor die Zigeunerin nicht gehangen ist.«

Indessen zögerte er noch eine Zeitlang, ehe er sein Pferd bestieg. Gudule zuckte zwischen Leben und Tod, als sie ihn den Platz ringsherum mit jener unruhigen Miene eines Jagdhundes betrachten sah, welcher in seiner Nähe das Lager des Wildes spürt und Widerstreben zeigt, sich zu entfernen. Endlich schüttelte er den Kopf und sprang in den Sattel. Das so fürchterlich gepreßte Herz Gudules erweiterte sich, und sie sprach mit leiser Stimme, während sie einen Blick auf ihre Tochter warf, welche sie, solange jene da waren, nicht anzublicken gewagt hatte: »Gerettet!«

Das arme Kind war diese ganze Zeit hindurch ohne zu athmen, ohne sich zu rühren und mit dem Gedanken an. den vor ihr stehenden Tod, in ihrer Ecke geblieben. Sie hatte nichts von jener Scene zwischen Gudule und Tristan überhört, und jede der Todesqualen ihrer Mutter hatte in ihrem Herzen Nachhall gefunden. Sie hatte das ununterbrochene Knacken des Fadens vernommen, der sie über dem Abgrunde in der Schwebe hielt; zwanzig Mal hatte sie geglaubt, ihn reißen zu sehen, und jetzt endlich begann sie auszuathmen und den Fuß auf dem festen Boden zu fühlen. – In diesem Augenblicke hörte sie eine Stimme, welche zum Profoß sagte:

»Donner und Wetter! Herr Profoß, meine Sache als Kriegsmann ist es nicht, Hexen zu hängen. Das Volksgesindel ist niedergemacht. Ich überlasse Euch, das Uebrige ganz allein zu besorgen. Ihr werdet es billigen, daß ich zu meiner Compagnie zurückkehre, weil sie ohne Hauptmann ist.«

Diese Stimme war diejenige des Phöbus von Châteaupers. Was in ihr vorging ist unaussprechlich. Er war also hier, ihr Freund, ihr Beschützer, ihre Hilfe, ihre Zuflucht, ihr Phöbus! Sie erhob sich, und ehe ihre Mutter sie daran hatte verhindern können, hatte sie sich an die Luke geworfen und rief:

»Phöbus! zu mir, mein Phöbus!«

Phöbus war nicht mehr da. Er war soeben im Galopp um die Ecke der Rue-de-la-Coutellerie gesprengt. Aber Tristan war noch nicht abgezogen.

Die Klausnerin stürzte sich mit einem Wuthschrei auf ihre Tochter. Sie riß sie ungestüm nach hinten zurück, wobei sie ihr die Nägel in den Hals bohrte. Eine Mutter, die zur Tigerin wird, nimmt es dabei nicht so genau. Aber es war zu spät. Tristan hatte gesehen.

»Ih! ih!« rief er mit einem Lachen, das alle seine Zähne bloßlegte und sein Gesicht dem Rachen eines Wolfes ähnlich machte, »zwei Mäuse in der Mausefalle!«

»Ich vermuthete es,« sagte der Soldat.

Tristan schlug ihn auf die Schulter:

»Du bist eine gute Katze! … Frisch!« fügte er hinzu, »wo ist Henriet Cousin?«

Ein Mann, der weder die Kleidung noch den Gesichtsausdruck eines Soldaten hatte, trat aus ihren Reihen heraus. Er trug einen halb grauen, halb braunen Anzug, glatt anliegende Haare, lederne Aermel und ein Bündel Stricke in seiner plumpen Hand. Dieser Mensch begleitete immer Tristan, der wieder stets in Ludwigs des Elften Gesellschaft sich befand.

»Freund,« sagte Tristan l’Hermite, »ich vermuthe, daß die Hexe, die wir suchen, dort steckt. Du sollst mir sie hängen. Hast du deine Leiter?«

»Dort im Schuppen des Säulenhauses befindet sich eine« antwortete der Mann.

»Sollen wir die Sache an jenem Hochgerichte da abmachen?« fuhr er fort, indem er auf den steinernen Galgen zeigte.

»Ja.«

»Oh! he!« versetzte der Mensch mit einem lauten, noch bestialischeren Gelächter, als dasjenige des Profoß war, »da werden wir keinen weiten Weg zu machen haben.«

»Beeile dich!« sagte Tristan, »du kannst nachher lachen.«

Die Klausnerin indessen hatte, seitdem Tristan ihre Tochter gesehen und jede Hoffnung geschwunden war, noch nicht ein Wort gesprochen. Sie hatte die arme Zigeunerin halb todt in den Winkel der Höhle geworfen, und sich wieder an die Luke gestellt, nachdem sie ihre beiden Hände wie zwei Krallen in die Ecke des Gesimses gestützt. In dieser Stellung sah man sie, wie sie ihren Blick, der wieder wild und irrsinnig geworden war, über alle die Soldaten schweifen ließ. In dem Augenblicke, wo sich Henriet Cousin der Zelle näherte, zeigte sie ihm ein so wildes Gesicht, daß er zurückfuhr.

»Gnädiger Herr,« sagte er zum Profoß zurückkehrend, »welche soll ich festnehmen?«

»Die Junge.«

»Um so besser. Denn die Alte scheint unbequem.«

»Die arme kleine Tänzerin mit der Ziege!« sagte der alte Sergeant von der Wache.

Henriet Cousin näherte sich der Luke wieder. Der Blick der Mutter war so, daß er seine Augen niederschlug. Er sagte ziemlich furchtsam:

»Gute Frau …«

Sie unterbrach ihn mit sehr leiser, vor Wuth zitternder Stimme:

»Was wünschest du?«

»Von Euch nichts,« sagte er, »von der andern.«

»Welche andere?«

»Die Junge.«

Sie begann den Kopf zu schütteln und rief:

»Niemand ist hier! Niemand ist hier! Niemand ist hier!«

»Doch!« entgegnete der Henker, »Ihr wißt es wohl. Laßt mich die Junge ergreifen. Euch will ich nichts zu Leide thun, nicht Euch.«

Sie sagte mit einem sonderbaren Hohnlachen:

»Ah! mir willst du nichts zu Leide thun, mir nicht?«

»Ueberlaßt mir die andere, gute Frau; der Herr Profoß will es so.«

Sie wiederholte mit aberwitziger Miene:

»Hier ist niemand.«

»Und ich behaupte: Doch!« entgegnete der Henker; »wir haben alle gesehen, daß Ihr zwei waret.«

»Sieh lieber herein!« sagte die Klausnerin hohnlachend. »Stecke deinen Kopf durch die Luke.«

Der Henker betrachtete die Nägel der Mutter, und wagte es nicht.

»Beeile dich!« rief Tristan, der eben seinen Trupp um das Rattenloch aufgestellt hatte, und der zu Pferde neben dem Galgen hielt.

Henriet kam noch einmal und ganz verlegen zum Profoß zurück. Er hatte seinen Strick auf die Erde niedergelegt, und drehte mit linkischer Geberde seinen Hut in den Händen.

»Gnädiger Herr,« fragte er, »auf welchem Wege soll ich hineingelangen?

»Durch die Thüre.«

»Es ist keine da.«

»Durch das Fenster.«

»Das ist zu eng.«

»Mache es weiter,« sagte Tristan zornig. »Hast du keine Spitzhacken?«

Aus der Tiefe ihrer Höhle sah die Mutter, die immer noch in Erwartung war, zu. Sie hoffte nichts mehr, sie wußte nicht mehr, was sie wollte; aber sie wollte nicht zugeben, daß man ihr die Tochter nähme. Henriet Cousin holte den Kasten mit Henkerhandwerkszeug aus dem Schuppen des Säulenhauses. Er zog auch die Doppelleiter daraus hervor, welche er sogleich an den Galgen anlegte. Fünf oder sechs Leute des Profoß bewaffneten sich mit Hacken und Brecheisen, und Tristan schlug mit ihnen die Richtung nach dem Lukenfenster ein.

»Alte,« sagte der Profoß im strengen Tone, »liefere uns dieses Mädchen gutwillig aus.«

Sie sah ihn an, wie wenn man jemanden nicht versteht.

»Beim Haupte Gottes,« nahm Tristan wieder das Wort, »was hast du denn davon, diese Hexe zu hindern, sich hängen zu lassen, wie es dem Könige gefällt?«

Die Elende begann ihr wildes Lachen aufzuschlagen.

»Was ich davon habe? Es ist meine Tochter.«

Der Ton, mit dem sie dieses Wort sprach, ließ sogar Henriet Cousin selbst erschaudern.

»Das thut mir Leid,« versetzte der Profoß, »allein es ist des Königs Wille.«

Während sie ihr schreckliches Lachen verdoppelte, rief sie:

»Was in aller Welt geht mich dein König an? Ich sage dir, daß es meine Tochter ist!«

»Brecht die Mauer durch,« sagte Tristan.

Um eine hinlänglich große Oeffnung zu machen, genügte es, eine Lage Steine unterhalb der Luke loszubrechen. Als die Mutter hörte, wie die Hacken und Brechstangen ihre Festung untergruben, stieß sie einen fürchterlichen Schrei aus; dann begann sie mit erschreckender Schnelligkeit rings in ihrer Zelle herumzugehen, eine Gewohnheit wilder Thiere, welche der Käfig ihr gegeben hatte. Sie sprach nichts mehr, aber ihre Augen flammten. Die Soldaten waren in der Tiefe ihres Herzens erstarrt. Plötzlich griff sie nach ihrem Steine, lachte auf und warf ihn mit beiden Händen auf die Arbeiter. Der schlecht geworfene Stein (denn ihre Hände zitterten) traf niemanden, und rollte zwischen die Füße von Tristans Pferde. Sie knirrschte mit den Zähnen.

Während dem wurde es heller Tag, wiewohl die Sonne noch nicht aufgegangen war; ein schönes rosiges Roth glänzte an den alten, baufälligen Schornsteinen des Säulenhauses. Es war die Stunde, wo die im ersten Morgenroth schimmernden Fenster auf den Dächern der großen Stadt sich fröhlich öffneten. Einige Landleute, einige Obsthändler, welche auf ihren Eseln nach den Markthallen ritten, begannen über den Grèveplatz zu ziehen; sie machten einen Augenblick vor dieser Soldatengruppe, die rings um das Rattenloch aufgestellt war, Halt, betrachteten dieselben mit erstaunter Miene und zogen weiter.

Die Klausnerin hatte sich neben ihrer Tochter niedergesetzt, deckte sie mit ihrem Körper von vorn, und hörte mit starrem Blicke auf das arme Kind, welches sich nicht rührte und mit leiser Stimme nur das eine Wort: »Phöbus! Phöbus!« murmelte. In dem Maße, wie die Arbeit der Zerstörer fortzuschreiten schien, wich die Mutter unwillkürlich zurück und preßte das junge Mädchen mehr und mehr gegen die Mauer. Plötzlich sah die Klausnerin den Stein sich fortbewegen (denn sie paßte auf und ließ ihn nicht aus dem Auge), und sie hörte die Stimme Tristans, welcher die Arbeiter anfeuerte. Jetzt erwachte sie aus der Niedergeschlagenheit, in die sie seit einigen Augenblicken gesunken war, und sie schrie laut auf; und während die Worte ihrem Munde entflohen, zerriß ihre Stimme bald wie eine Säge das Ohr, bald stammelte sie, als ob alle Flüche sich auf ihren Lippen zusammengedrängt hätten, um auf einmal hervorzubrechen.

»Ho! ho! ho! Aber das ist schrecklich! Ihr seid Räuber! Kommt ihr wirklich, um mir meine Tochter zu entreißen? Ich sage euch ja, es ist meine Tochter! Oh! ihr Feiglinge! Oh! ihr Henkersknechte! ihr elenden Mordbuben! Hilfe! Hilfe! Feuer! Aber wollen sie mir wirklich mein Kind so entreißen? Wer ist denn der, den man den lieben Gott nennt?«

Darauf wandte sie sich wuthschäumend, mit verstörtem Blicke, wie ein Panther auf allen Vieren und mit zu Berge stehenden Haaren an Tristan:

»Komm einmal her, mir mein Kind zu nehmen! Verstehst du wirklich nicht, was ich, das Weib dir sagte, daß das meine Tochter ist? Weißt du, was das ist: ein Kind, das man besitzt? He! Luchs, hast du niemals bei deiner Wölfin gelegen? Hast du niemals ein Junges von ihr gehabt? Und wenn du Kleine hast, wenn sie heulen, hast du nichts im Leibe, was das bewegt?«

»Werft den Stein nieder,« sagte Tristan, »er hält nicht mehr.«

Die Brechstangen hoben den mächtigen Stein in die Höhe. Er war, wie wir schon gesagt haben, die letzte Schutzwehr der Mutter. Sie warf sich darüber her; sie wollte ihn festhalten; sie kratzte mit ihren Nägeln in den Stein, aber der schwere Block, der von sechs Männern in Bewegung gesetzt wurde, entschlüpfte ihrer Hand und glitt langsam an den eisernen Brechstangen entlang zur Erde herab.

Als die Mutter sah, daß der Zugang geöffnet war, stürzte sie quer vor der Oeffnung nieder, verbarrikadirte die Bresche mit ihrem Körper, rang die Arme, stieß den Kopf gegen den Fußboden, und schrie mit einer vor Ermattung so heiseren Stimme, daß man sie kaum hörte:

»Hilfe! Feuer! Feuer!«

»Ergreift jetzt das Mädchen,« sagte Tristan noch immer empfindungslos.

Die Mutter sah die Soldaten in einer so fürchterlichen Weise an, daß diese mehr Lust verspürten zurückzuweichen, als hineinzudringen.

»Ich dächte gar,« fuhr der Profoß fort. »Henriet Cousin, thue deine Pflicht!«

Niemand hob einen Fuß.

Der Profoß fluchte:

»Beim Haupte Christi! meine Krieger! Furcht vor einem Weibe!«

»Gnädiger Herr,« sagte Henriet, »Ihr nennt das ein Weib?«

»Sie hat eine Löwenmähne!« sagte ein anderer.

»Vorwärts,« wiederholte der Profoß, »das Loch ist breit genug. Dringt drei Mann hoch hinein, wie in die Bresche bei Pontoise. Wir wollen ein Ende machen, beim Tode Muhameds! Den Ersten, der weicht, haue ich in Stücke!«

Die Soldaten, die zwischen den Profoß und die Mutter gestellt, von beiden Seiten bedroht waren, schwankten einen Augenblick, dann gingen sie entschlossen auf das Rattenloch los.

Als die Klausnerin das sah, richtete sie sich plötzlich auf ihren Knien auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht, und ließ darauf ihre magern und wundgeriebenen Hände auf ihre Schenkel niedersinken. Jetzt rollten dicke Thränen eine nach der andern aus ihren Augen; sie flossen in einer Falte über ihre Backen herab, wie ein Sturzbach in dem Bette, das er sich ausgehöhlt hat. Zugleich begann sie zu sprechen, aber mit einer so flehenden, so sanften, so demüthigen und eindringlichen Stimme, daß in Tristans Umgebung mehr als ein alter Haudegen, der Menschenfleisch verschlungen haben würde, sich die Augen trocknete.

»Gnädige Herren! meine Herren Häscher, ein Wort! Es ist etwas, was ich euch erzählen muß. Das ist meine Tochter, seht ihr? Meine theuere kleine Tochter, die ich verloren hatte! Höret mich an. Es ist eine Geschichte. Stellt euch vor, daß ich die Herren Häscher sehr gut kenne. Sie sind immer gütig gegen mich zu der Zeit gewesen, als die kleinen Knaben mit Steinen nach mir warfen, weil ich ein Liebesleben führte. Seht ihr? ihr werdet mir mein Kind lassen, wenn ihr das wißt! Ich bin ein armes Freudenmädchen. Die Zigeunerinnen haben sie mir gestohlen. Selbst ihren Schuh habe ich fünfzehn Jahre lang aufgehoben. Sehet, da ist er, solch einen Fuß hatte sie. In Reims, die Chantefleurie! In der Straße Folle-Peine! Ihr habt sie vielleicht gekannt. Das war ich. In euerer Jugend, damals war eine schöne Zeit, man verlebte schöne Augenblicke. Ihr werdet Mitleid mit mir haben, nicht wahr, gnädige Herren? Die Zigeunerinnen haben sie mir gestohlen; sie haben sie mir fünfzehn Jahre lang verheimlicht. Ich hielt sie für todt. Stellt euch vor, meine lieben Freunde, daß ich sie für todt hielt. Ich habe fünfzehn Jahre hier verlebt in diesem Keller, den Winter ohne Feuer. Es ist hart, das. Der arme liebe kleine Schuh! Ich habe so lange geschrien, bis der liebe Gott mich erhört hat. Heute Nacht hat er mir meine Tochter wiedergegeben. Es ist ein Wunder des lieben Gottes. Sie war nicht todt. Ihr werdet sie mir nicht nehmen, ich bin dessen sicher. Wenn ich es noch wäre, wollte ich nichts einwenden; aber sie, ein Kind von sechzehn Jahren! Lasset ihr Zeit, die Sonne zu sehen! … Was hat sie euch gethan? Gar nichts. Ich auch nicht. Wenn ihr wüßtet, daß ich nur sie habe, daß ich alt bin, daß es ein Segen ist, den mir die Heilige Jungfrau schickt! Und dann seid ihr alle ja so gut! Ihr wußtet nicht, daß es meine Tochter ist; jetzt wißt ihr es. Ach! ich habe sie lieb! Gewaltiger Herr Profoß, ich möchte lieber ein Loch in meinem Herzen haben, als eine Schramme an ihrem Finger sehen! Ihr habt das Aussehen eines gütigen Herrn! Was ich Euch da sage, erklärt Euch die Sache, nicht wahr? Oh! wenn Ihr eine Mutter gehabt habt, gnädiger Herr! Ihr seid der Hauptmann, laßt mir mein Kind! Bedenket, daß ich Euch auf den Knien bitte, wie man zu Jesu Christo betet! Ich verlange von niemandem etwas; ich bin von Reims, gnädige Herren; ich habe ein kleines Feld von meinem Onkel Mahiet Pradon. Ich bin keine Bettlerin, ich mag nichts, aber ich will mein Kind! Ach! ich will mein Kind behalten! Der liebe Gott, welcher der Herr über Alles ist, hat es mir nicht umsonst wiedergegeben! Der König! Ihr sagt, der König! Das wird ihm doch nicht viel Vergnügen machen, daß man meine kleine Tochter tödtet! Und dann ist der König gütig! Es ist meine Tochter! es ist meine Tochter, meine eigene! Sie gehört nicht dem Könige! sie gehört nicht euch! Ich will fort von hier! Wir wollen beide fort von hier! Mit einem Worte: zwei Frauen, welche fortziehen, von denen eine die Mutter, die andere die Tochter ist, die läßt man ziehen! Laßt uns ziehen! Wir sind von Reims. Ach! ihr seid sehr gütig! Meine Herren Häscher, ich habe euch alle lieb. Ihr könnt mir meine liebe Kleine nicht nehmen, das ist unmöglich! Nicht wahr, das ist durchaus unmöglich! Mein Kind! mein Kind!«

Wir wollen es nicht versuchen, eine Vorstellung zu geben von ihrer Geberde, von dem Ausdrucke ihrer Worte, von den Thränen, die sie beim Sprechen schluckte, von den gefalteten und gerungenen Händen, von dem herzzerreißenden Lachen, von den nassen Blicken, von dem Wimmern und den Seufzern, von dem kläglichen und ergreifenden Geschrei, das sie in ihre unmäßigen, wahnwitzigen und zusammenhangslosen Worte mengte. Als sie schwieg, runzelte Tristan l’Hermite die Stirn, um eine Thräne zu verbergen, die in sein Tigerauge trat. Er überwand jedoch diese Schwäche, und sagte in kurzem Tone:

»Der König will es.«

Dann neigte er sich zu Henriet Cousins Ohre und sagte ganz leise:

»Mach schnell ein Ende!« Der furchtbare Profoß fühlte vielleicht, daß es auch ihm schwach ums Herz wurde.

Der Henker und Häscher drangen in die Zelle ein. Die Mutter leistete gar keinen Widerstand; sie schleppte sich nur nach ihrer Tochter hin, und warf sich mit Ungestüm über sie her. Die Zigeunerin sah die Soldaten hereintreten. Das Entsetzen vor dem Tode belebte sie wieder:

»Meine Mutter!« rief sie mit einem Tone fürchterlicher Seelenangst, »meine Mutter! sie kommen! vertheidige mich!«

»Ja, meine Liebe, ich vertheidige dich!« antwortete die Mutter mit tonloser Stimme; und während sie sie fest in ihre Arme preßte, bedeckte sie sie mit Küssen. Alle beide, Mutter und Tochter, die so auf dem Boden lagen, boten einen erbarmungswürdigen Anblick.

Henriet Cousin faßte das junge Mädchen unter ihren schönen Schultern mitten um den Leib. Als sie diese Hand spürte, stieß sie ein »Wehe!« aus und fiel in Ohnmacht. Der Henker, welcher eine dicke Thräne nach der andern auf sie herabfließen ließ, wollte sie in seinen Armen wegtragen. Er versuchte die Mutter loszureißen, die ihre beiden Hände gleichsam um den Gürtel ihrer Tochter ineinandergeknotet hatte; aber sie hatte sich so außerordentlich an ihr Kind festgeklammert, daß es unmöglich war, sie davon zu trennen. Henriet Cousin zerrte das junge Mädchen nun aus der Zelle heraus und die Mutter hinter ihr her. Die Mutter hatte ihre Augen gleichfalls geschlossen.

In diesem Augenblicke hob sich die Sonne über den Horizont, und auf dem Platze war schon ein ziemlich zahlreicher Volkshaufen versammelt, der in der Entfernung mit ansah, was man so über den Boden weg nach dem Galgen hin schleppte. Denn das war die Art und Weise des Profoßes Tristan bei öffentlichen Hinrichtungen. Er hatte die fixe Idee, die neugierigen Gaffer fernzuhalten.

An den Fenstern war niemand zu erblicken. Man sah nur in der Ferne, an demjenigen auf der Höhe der Notre-Damethürme, welches die Aussicht auf den Grèveplatz eröffnet, zwei dunkel am lichten Morgenhimmel sich abhebende Männer, welche zuzusehen schienen.

Henriet Cousin hielt mit dem, was er hinter sich herzerrte, am Fuße der verhängnisvollen Leiter an, und fast athemlos – so sehr hatte der Vorgang ihn in Mitleid versetzt – schlang er den Strick um den entzückenden Hals des jungen Mädchens. Das unglückselige Kind empfand die fürchterliche Umschlingung des hanfenen Strickes. Sie schlug die Augenlider auf und sah den dürren Arm des steinernen Galgens über ihrem Kopfe ausgestreckt. Sie wurde da von einem Schauder geschüttelt und schrie mit lauter und herzzerreißender Stimme: »Nein! nein! ich will nicht!« Die Mutter, deren Kopf in den Kleidern ihrer Tochter vergraben und versteckt war, sprach kein Wort; man sah nur ihren ganzen Körper beben und hörte sie ihre Küsse an ihrem Kinde verdoppeln. Der Henker benutzte diesen Augenblick, um schnell die Arme loszumachen, mit denen sie die Verurtheilte umklammert hielt. War es Erschöpfung oder war es Verzweiflung, sie ließ ihn machen. Dann nahm er das junge Mädchen auf seine Schulter, von der das reizende Wesen gebrochen über seinen breiten Kopf zurücksank. Nun setzte er den Fuß auf die Leiter, um hinaufzusteigen.

In diesem Augenblicke öffnete die auf dem Boden hockende Mutter plötzlich die Augen. Ohne einen Schrei auszustoßen, richtete sie sich mit einem fürchterlichen Gesichtsausdrucke auf; dann stürzte sie sich, wie ein Thier auf seine Beute, auf die Hand des Henkers und biß hinein. Das war wie ein Blitzstrahl. Der Henker heulte vor Schmerz auf. Man eilte herbei und riß mit Mühe seine blutende Hand aus den Zähnen, der Mutter heraus. Sie beharrte in tiefem Schweigen. – Man stieß sie ziemlich heftig zurück, und beobachtete, wie ihr Kopf schwer auf den Boden niederschlug; man richtete sie wieder auf, sie ließ sich von neuem niedersinken. Sie war nämlich todt.

Der Henker, welcher das junge Mädchen nicht losgelassen hatte, begann die Leiter hinaufzusteigen.

  1. Lateinisch: Wie die Bienen die Geometrie. Anm. d. Uebers.
  2. Lateinisch: Gegen die Habsucht. Anm. d. Uebers.

6. Fortsetzung der Geschichte vom Schlüssel zur Rothen Pforte.

In dieser Nacht war die Esmeralda in ihrem Zimmerchen ganz selbstvergessen, voll Hoffnung und süßer Gedanken eingeschlafen. Sie schlief seit einer geraumen Zeit und träumte wie immer von Phöbus, als es ihr schien, als ob sie Geräusch in ihrer Nähe höre. Sie hatte einen leichten und unruhigen Schlaf, einen Vogelschlaf; das geringste Geräusch weckte sie auf. Sie öffnete die Augen. Die Nacht war sehr dunkel. Jedoch bemerkte sie am Dachfenster ein Gesicht, welches sie betrachtete; eine Lampe, welche dabei war, beleuchtete diese Erscheinung. In dem Augenblicke, wo sich dieses Gesicht von der Esmeralda bemerkt sah, löschte es die Lampe aus. Nichts desto weniger hatte das junge Mädchen Zeit gehabt, es zu erkennen: ihre Augenlider schlossen sich vor Schrecken.

»Ach!« sagte sie mit erloschener Stimme, »der Priester!«

Ihr ganzes vergangenes Unglück trat ihr wie mit einem Blitzstrahle vor die Seele. Sie fiel starr auf ihr Lager zurück.

Einen Augenblick darauf fühlte sie der Länge ihres Körpers nach eine Berührung, welche sie dermaßen entsetzte, daß sie, munter geworden, sich wüthend aufrichtete.

Der Priester war eben zu ihr ins Bett geschlüpft. Er umschlang sie mit beiden Armen.

Sie wollte schreien und konnte es nicht.

»Hinweg mit dir, Ungeheuer! Hinweg, Meuchelmörder!« rief sie mit vor Zorn und Entsetzen zitternder und matter Stimme.

»Erbarmen! Erbarmen!« murmelte der Priester und preßte seine Lippen auf ihre Schultern.

Sie faßte mit beiden Händen seinen kahlen Kopf an dem Haarreste und bemühte sich, seine Küsse abzuwenden, als ob es Bisse wären.

»Erbarmen!« wiederholte der Unglückliche. »Wenn du wüßtest, wie groß meine Liebe zu dir ist! Es ist Feuer, geschmolzenes Blei, es sind tausend Dolche in meinem Herzen!«

Und er hielt ihre beiden Arme mit übermenschlicher Gewalt fest. Erschreckt sagte sie zu ihm:

»Laß mich los oder ich speie dir ins Gesicht!«

Er ließ sie los.

»Beschimpfe mich, schlage mich, sei zornig auf mich, mache was du willst! Aber habe Mitleid! Liebe mich!«

Jetzt schlug sie mit kindischer Wuth auf ihn los. Sie streckte ihre schönen Hände aus, um ihm das Gesicht zu zerkratzen.

»Hinweg, Satan!«

»Liebe mich! liebe mich! Erbarmen!« rief der arme Mönch, indem er sich auf sie wälzte und ihre Schläge mit Liebkosungen vergalt.

Plötzlich fühlte sie, daß er stärker wurde als sie.

»Ich will zu Ende kommen!« sagte er und knirschte mit den Zähnen.

Sie war überwältigt, zuckend, gebrochen in seinen Armen, ganz in seiner Willensmacht. Sie fühlte eine unzüchtige Hand an ihr herumtasten. Sie machte eine letzte Anstrengung und begann zu rufen: »Hilfe! her zu mir! Ein Vampir! ein Vampir!«

Niemand kam. Djali allein war aufgeweckt und blökte ängstlich.

»Schweig!« sagte der Priester keuchend.

Während die Zigeunerin sich so sträubte, stieß ihre Hand, welche am Boden herumtappte, plötzlich an etwas Kaltes und Metallisches. Es war die Pfeife Quasimodo’s. Sie ergriff sie mit freudigem Schreck, führte sie an ihre Lippen und pfiff darauf mit aller Kraft, die ihr noch geblieben war. Die Pfeife gab einen hellen, scharfen und durchdringenden Ton von sich.

»Was ist das?« fragte der Priester.

Fast im selben Augenblicke fühlte er sich von einem starken Arme in die Höhe gehoben. Die Zelle war dunkel; er konnte nicht deutlich erkennen, wer ihn so emporhielt; aber er hörte Zähne vor Wuth klappern, und es war bei aller Dunkelheit gerade noch so viel Licht vorhanden, um über seinem Kopfe eine breite Messerklinge funkeln zu sehen.

Der Priester glaubte Quasimodo’s Gestalt zu erkennen. Er vermuthete, daß nur er es sein könnte. Er erinnerte sich, beim Eintreten in das Gemach über ein Bündel gestolpert zu sein, das draußen quer vor der Thüre hingebreitet lag. Indessen da der neue Ankömmling nicht ein Wort vorbrachte, so wußte er nicht, was er denken sollte. Er stürzte sich auf den Arm, der das Messer hielt und schrie: »Quasimodo!« Er vergaß in diesem gefährlichen Augenblicke, daß Quasimodo taub war.

In einem Augenblicke war der Priester zu Boden geworfen und fühlte, wie ein bleischweres Knie sich auf seine Brust stemmte. Am eckigen Drucke dieses Knies erkannte er Quasimodo; aber was thun? Wie seinerseits von diesem erkannt werden? Die Nacht machte den Tauben auch blind.

Er war verloren. Das junge Mädchen, mitleidslos, wie eine gereizte Tigerin, schlug sich nicht ins Mittel, um ihn zu retten. Das Messer näherte sich seinem Kopfe; der Augenblick war bedenklich. Plötzlich schien sein Gegner von einem Zaudern ergriffen.

»Kein Blut in ihrer Nähe!« sagte er mit dumpfer Stimme.

Es war in der That die Stimme Quasimodo’s.

Nun fühlte der Priester die mächtige Hand, welche ihn am Fuße aus der Zelle herauszog; draußen sollte er also sterben. Zum Glücke für ihn war der Mond eben seit einigen Augenblicken aufgegangen.

Als sie die Thüre des Gemaches überschritten hatten, fiel sein bleicher Strahl auf die Gestalt des Priesters. Quasimodo sah ihm ins Gesicht, ein Zittern ergriff ihn, er ließ den Priester los und fuhr zurück.

Die Zigeunerin, welche auf die Schwelle ihrer Zelle getreten war, sah mit Ueberraschung, wie sich die Rollen plötzlich vertauschten. Jetzt war es der Priester, welcher drohte, und Quasimodo, welcher bat.

Der Priester, welcher den Tauben mit zornigen und tadelnden Geberden niederschmetterte, gab ihm in heftiger Weise ein Zeichen, sich zu entfernen. Der Taube ließ den Kopf sinken; dann warf er sich vor der Thür der Zigeunerin auf die Knien.

»Gnädiger Herr,« sagte er mit ernstem und ergebenem Tone, »nun möget Ihr thun, was Euch gefällt; aber tödtet mich zuvor.«

Bei diesen Worten reichte er dem Priester sein Messer hin. Außer sich stürzte sich der Priester darauf zu. Aber das junge Mädchen war flinker, als er; sie riß das Messer aus Quasimodo’s Händen und brach in ein wüthendes Gelächter aus.

»Komm her!« rief sie dem Priester zu.

Sie hielt die Klinge hoch. Der Priester blieb unschlüssig. Sie hätte sicher zugestoßen.

»Du magst nicht wagen, näher zu kommen, Feigling!« rief sie ihm zu. Dann fuhr sie mit unbarmherzigem Ausdrucke, und wohl wissend, daß sie das Herz des Priesters mit tausend glühenden Eisen zerreißen müßte, fort: »Ach, ich weiß wohl, daß Phöbus nicht todt ist!«

Der Priester warf Quasimodo mit einem Fußtritte zur Erde nieder und verschwand dann, vor Wuth schaudernd, unter der Wölbung der Treppe.

Als er verschwunden war, raffte Quasimodo die Pfeife auf, welche die Zigeunerin eben gerettet hatte.

»Sie rostet,« sagte er und gab sie ihr zurück; dann ließ er sie allein.

Das junge Mädchen, das durch diesen heftigen Auftritt in tiefster Seele erschüttert war, fiel erschöpft auf ihr Lager nieder und fing an, laut schluchzend zu weinen. Ihr Horizont bedeckte sich wieder mit düstrem Gewölk.

Der Priester seinerseits war tappend in seine Zelle zurückgekehrt.

Das Ende vom Ganzen war: Dom Claude war eifersüchtig auf Quasimodo! Er wiederholte mit nachdenklicher Miene sein verhängnisvolles Wort: »Niemand soll sie besitzen!«

1. Gringoire hat mancherlei gute Gedanken im Verfolge der Bernhardinerstraße.

Seitdem Peter Gringoire gesehen hatte, welches Ende dieser ganze Vorfall nehmen würde, und daß Strick, Galgen und andere Unannehmlichkeiten den Hauptpersonen dieser Komödie bevorstehen müßten, hatte er keine Sorge mehr getragen, sich hineinzumischen. Die Landstreicher, unter denen er, in Erwägung, daß es am Ende die beste Gesellschaft von Paris wäre, ausgeharrt hatte, – die Landstreicher also hatten nicht aufgehört, an der Zigeunerin Antheil zu nehmen. Er hatte das ganz natürlich an Leuten gefunden, die, wie sie, keine andere Aussicht, als Charmolue und Torterue hatten, und die, wie er, nicht in den Regionen der Phantasie auf den Flügeln des Pegasus sich tummelten. Er hatte aus ihren Reden erfahren, daß seine, beim zerbrochenen Topfe angetraute, Gattin sich in die Kirche Notre-Dame geflüchtet hätte, und er war sehr froh darüber. Aber er gerieth nicht einmal in die Versuchung, sie dort zu besuchen. Er dachte manchmal an die kleine Ziege, das war aber auch alles. Uebrigens machte er, um leben zu können, am Tage Kraftkunststücke, und des Nachts arbeitete er an einer Denkschrift gegen den Bischof von Paris; denn er hatte noch nicht vergessen, wie er von dessen Mühlrädern durch und durch naß geworden war, und bewahrte ihm deshalb einen alten Groll. Auch beschäftigte er sich damit, das schöne Werk von Baudry-le-Rouge, des Bischofs von Noyon und Tournay: » de Cupa Petrarum« mit Anmerkungen zu versehen, welches ihm eine heftige Neigung für die Baukunst eingeflößt hatte, eine Neigung, welche in seinem Herzen die Leidenschaft für den mystischen Unsinn verdrängt hatte, von der sie übrigens nur eine natürliche Folge war, da ja eine innige Verwandtschaft zwischen der Alchymie und der Freimaurerei stattfindet. Gringoire war von der Liebe zu einer Idee zur Liebe für die Gestaltung dieser Idee übergegangen.

Eines Tages war er in der Nähe von Saint-Germain-l’Auxerrois, an der Ecke eines Gebäudes, welches man das »Bischofsgericht« nannte, stehen geblieben, und welches einem andern, das »Königsgericht« genannt, gegenüber stand. Zu diesem Bischofsgerichte gehörte eine hübsche Kapelle aus dem vierzehnten Jahrhunderte, deren Chorseite nach der Straße zu lag. Gringoire untersuchte andächtig die äußern Bildhauerarbeiten daran. Er befand sich in einem jener Augenblicke selbstsüchtigen, ausschließlichen und höchsten Genusses, wo der Künstler in der Welt nichts als die Kunst und die Kunst in der Welt sieht. Plötzlich fühlte er, daß sich eine Hand schwer auf seine Schulter legte. Er drehte sich um. Da stand sein alter Freund, sein alter Lehrer, der Herr Archidiaconus vor ihm.

Er stand bestürzt da. Seit langem hatte er den Archidiaconus nicht gesehen, und Dom Claude war einer jener feierlichen und leidenschaftlichen Menschen, deren Begegnung stets das Gleichgewicht eines skeptischen Weltweisen stört.

Der Archidiaconus beobachtete einige Augenblicke lang Stillschweigen, während dessen Gringoire Muße hatte, ihn zu beobachten. Er fand Dom Claude sehr verändert: blaß wie einen Wintermorgen, hohläugig, das Haar fast ganz gebleicht. Endlich brach der Priester das Schweigen, indem er mit ruhigem, aber eisigem Tone sagte:

»Wie geht’s Euch, Meister Peter?«

»Mit meiner Gesundheit?« antwortete Gringoire. »Ei nun! man kann dies und jenes von ihr sagen. Bei alledem ist sie im Ganzen gut. Ich genieße von keiner Sache zu viel. Ihr wißt, Meister, das Geheimnis sich wohl zu befinden, » id est,« nach Hippokrates, » cibi, potus, somni, venus, omnia moderata sint61

»Ihr habt also keinen Kummer, Meister Peter?« fragte der Archidiaconus und sah Gringoire scharf an.

»Meiner Treu, nein!«

»Und was treibt Ihr denn jetzt?«

»Ihr seht es, lieber Meister. Ich untersuche den Schnitt dieser Steine und die Art und Weise, in der dieses Basrelief ausgearbeitet ist.«

Der Priester begann zu lächeln, aber mit jenem bittern Lächeln, welches nur einen Mundwinkel verzieht.

»Und daran habt Ihr Gefallen?«

»Es ist mein Paradies!« rief Gringoire aus. Und indem er sich auf die Bildhauerarbeiten mit der verzückten Miene eines Menschen neigte, der lebende Erscheinungen erklärt, sagte er: »Findet Ihr, zum Beispiel, diese Verwandlung in halb erhabener Arbeit nicht mit vieler Geschicklichkeit, Zartheit und Geduld ausgeführt? Betrachtet dieses Säulchen. Um welchen Säulenkopf herum habt Ihr wohl zartere und vom Meißel mit mehr Liebe gearbeitete Blätter gesehen? Hier sind drei Haut-Reliefs von Jean Maillevin. Es sind nicht die schönsten Arbeiten dieses großen Genies. Nichtsdestoweniger machen die Naivetät und Lieblichkeit der Gesichter, die Heiterkeit der Stellungen und Gewandungen, und diese unaussprechliche Lieblichkeit, welche sich mit allen seinen Fehlern verbindet, diese Figuren höchst anmuthig und sehr zierlich, vielleicht sogar beides zu sehr. Findet Ihr nicht, daß dies unterhaltend ist?«

»Ganz gewiß!« sagte der Priester.

»Und wenn Ihr das Innere der Kapelle sähet!« fuhr der Dichter mit seiner geschwätzigen Begeisterung fort. »Ueberall Sculpturen. Sie ist ganz dick belaubt davon, wie der Herzkern eines Kohlkopfes. Der Chor hat eine sehr erhabene und so eigenartige Form, daß ich nichts derartiges anderswo gesehen habe!«

Dom Claude unterbrach ihn:

»Ihr seid also glücklich?«

Gringoire antwortete mit Feuer:

»Auf Ehre, ja! Ich habe zuerst Weiber, dann Thiere geliebt. Jetzt liebe ich Steine. Das ist alles ebenso ergötzlich, als Thiere und Weiber, und vor allen ist es nicht so treulos.«

Der Priester legte seine Hand auf die Stirn. Es war das eine gewöhnliche Geberde von ihm.

»In Wahrheit?«

»Wisset!« sagte Gringoire, »man hat seltene Genüsse.« Er nahm den Arm des Priesters, welcher sich ihm überließ, und führte ihn in den kleinen Treppenthurm des Bischofsgerichtes. »Das nenne ich mir eine Treppe! Jedesmal, wenn ich sie sehe, bin ich ganz glücklich. Das ist eine Treppe von der einfachsten und in Paris seltensten Art. Alle Stufen sind nach unten abgerundet. Ihre Schönheit und ihre Einfachheit besteht in der Trittbreite aller, die einen Fuß oder nahe daran beträgt; dazu sind sie ineinander geschlungen, eingelocht, gefügt, verkettet und ineinander gearbeitet, und halten auf eine wahrhaft feste und zierliche Weise zusammen.«

»Und Ihr wünscht nichts weiter?«

»Nein.«

»Und bereuet nichts?«

»Weder Reue noch Wunsch. Ich habe mein Leben geordnet.«

»Was die Menschen ordnen,« sagte Claude, »werfen die Umstände über den Haufen.«

»Ich bin ein zweifelsüchtiger Philosoph,« antwortete Gringoire, »und ich halte alles im Gleichgewichte.«

»Und wie erwerbt Ihr Euern Lebensunterhalt?«

»Ich mache hier und da noch Heldengedichte und Trauerspiele; aber was mir am meisten einträgt, das ist der Erwerbszweig, der Euch bekannt ist, mein Lehrer: Pyramiden aus Stühlen auf meinen Zähnen zu tragen.«

»Das Gewerbe ist plump für einen Philosophen.«

»Das gehört auch zum Gleichgewicht,« sagte Gringoire. »Wenn man einen Gedanken hat, so findet man ihn in allem wieder.«

»Ich kenne das,« antwortete der Archidiaconus.

Nach einer Pause fuhr der Priester fort:

»Ihr seid nichtsdestoweniger recht elend.«

»Elend, ja; aber unglücklich nicht.«

In diesem Augenblicke ließ sich ein Pferdegetrappel hören, und unsere zwei sich unterhaltenden Freunde sahen am Ende der Straße eine Compagnie Bogenschützen von der königlichen Leibwache mit aufgerichteten Speeren, den Offizier an der. Spitze, vorüberziehen. Der Aufzug war glänzend, und das Pflaster ertönte unter ihm.

»Wie Ihr jenen Offizier mit Euern Blicken verfolgt!«, sagte Gringoire zum Archidiaconus.

»Weil ich ihn wieder zu erkennen glaube.«

Wie nennt ihr ihn?«

»Ich glaube,« sagte Claude, »daß er Phöbus von Châteaupers heißt.«

»Phöbus! ein merkwürdiger Name! Es giebt noch einen Phöbus, Grafen von Foix. Ich erinnere mich, ein Mädchen gekannt zu haben, die nur bei dem Namen Phöbus schwur.«

»Kommt mit,« sagte der Priester, »ich habe Euch etwas zu sagen.«

Seitdem dieser Soldatentrupp vorübergezogen war, brach eine gewisse Unruhe aus der eisigen Hülle des Archidiaconus hervor. Er begann sich auf den Weg zu machen. Gringoire folgte ihm, gewohnt, ihm zu gehorchen, wie alles, was einmal mit der gewaltigen Natur dieses Mannes in Berührung gekommen war. Schweigend schritten sie so bis zur Bernhardinerstraße, welche ziemlich einsam war. Dom Claude blieb jetzt stehen.

»Was habt Ihr mir mitzutheilen, lieber Meister?« fragte ihn Gringoire.

»Findet Ihr nicht,« antwortete der Archidiaconus mit der Miene tiefen Nachdenkens, »daß das Gewand dieser Reiter, welche wir soeben gesehen haben, schöner ist, als Eures und meins?«

Gringoire schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Meiner Treu! meine gelbe und rothe Joppe ist mir lieber, als jene eisernen und stählernen Schuppenröcke. Ein schönes Vergnügen fürwahr, beim Gehen denselben Lärm zu verursachen, wie die Boutiquen auf dem Trödlerdamme bei einem Erdbeben!«

»Also, Gringoire? Ihr habt niemals diese schönen Burschen in ihren Kriegsröcken beneidet?«

»Neid auf was, Herr Archidiaconus? Etwa auf ihre Stärke, ihre Rüstung, ihre Mannszucht? Besser sind fürwahr die Weltweisheit und die Unabhängigkeit in Lumpen. Ich will lieber ein Fliegenkopf, als ein Löwenschwanz sein.«

»Das ist sonderbar,« sagte der Priester in Gedanken versunken. »Eine schöne Uniform bleibt doch schön.«

Gringoire, der ihn so nachdenklich sah, trat zur Seite, um die Vorhalle eines benachbarten Hauses zu bewundern. Er kam zurück und schlug in die Hände.

»Wenn Ihr weniger für die Waffenröcke der Kriegsleute eingenommen wäret, Herr Archidiaconus, so würde ich Euch bitten, mitzukommen und jenes Thor zu betrachten. Ich habe es immer gesagt, das Haus des Herrn Aubry hat den prachtvollsten Eingang von der Welt.«

»Peter Gringoire,« sagte der Archidiaconus, »was habt Ihr mit der kleinen Zigeunertänzerin angefangen?«

»Der Esmeralda? Ihr ändert sehr plötzlich die Unterhaltung.«

»War sie nicht Eure Frau?«

»Ja, infolge eines zerbrochenen Kruges. Wir hatten uns für vier Jahre … Aber,« fügte Gringoire mit einer halb spaßhaften Miene hinzu, während er den Archidiaconus ansah, »wie? Ihr denkt also noch immer daran?«

»Und Ihr, Ihr denkt nicht mehr daran?«

»Wenig … Ich habe mancherlei andere Dinge! … Mein Gott, wie reizend war die kleine Ziege!«

»Hatte Euch diese Zigeunerin nicht das Leben gerettet?«

»Bei Gott, das ist wahr.«

»Nun denn! was ist aus ihr geworden? Was habt Ihr mit ihr angefangen?«

»Ich kann es Euch nicht sagen. Ich glaube, sie haben sie gehangen.«

»Ihr glaubt?«

»Ich weiß es nicht gewiß. Als ich gesehen habe, daß die Leute sie hängen wollten, habe ich mich vom Spiele zurückgezogen.«

»Ist das alles, was Ihr von ihr wißt?«

»Wartet doch. Man hat mir erzählt, sie hätte sich in die Kirche Notre-Dame geflüchtet und wäre dort in Sicherheit; und ich bin erfreut darüber, und ich habe nicht entdecken können, ob sich die Ziege mit ihr gerettet hat, und das ist alles, was ich davon weiß.«

»Ich will Euch noch mehr wissen lassen,« schrie Dom Claude, und seine bis dahin leise, langsame und fast dumpfe Stimme war donnernd geworden. »Sie hat in der That ihre Zuflucht zur Kirche Notre-Dame genommen. Aber in drei Tagen wird die Gerechtigkeit sie dort wieder ergreifen, und sie wird auf dem Grèveplatze gehangen werden. Es liegt ein Parlamentsbeschluß vor.«

»Das ist traurig,« sagte Gringoire.

Der Priester war im Nu wieder kalt und ruhig geworden.

»Und wer Teufel,« begann der Dichter wieder, »hat sich denn das Vergnügen gemacht, ein Ergänzungsurtheil zu beantragen. Konnte man das Parlament nicht in Frieden lassen? Was macht es, wenn ein armes Mädchen sich hinter den Strebepfeilern von Notre-Dame, neben den Schwalbennestern, in Sicherheit bringt?«

»Es giebt Satane in der Welt,« antwortete der Archidiaconus.

»Das ist verteufelt schlecht eingefädelt,« bemerkte Gringoire.

Der Archidiaconus nahm nach einer Pause wieder das Wort:

»Also sie hat Euch das Leben gerettet?«

»Bei meinen guten Freunden, den Landstreichern. Es fehlte noch ein Haar breit und ich wurde gehangen. Es müßte ihnen heute noch leid thun.«

»Wollt Ihr denn gar nichts für sie thun?«

»Ich wünsche nichts mehr, als das, Dom Claude; aber wenn ich mir eine häßliche Geschichte auf den Hals lade!«

»Was thut’s?«

»Bah! was es thut? Ihr seid sehr gütig, Ihr, lieber Meister! Ich habe zwei große Werke angefangen.«

Der Priester schlug sich vor die Stirne. Ungeachtet der Ruhe, die er erkünstelte, zeigte von Zeit zu Zeit eine heftige Geberde seine innern Zuckungen.

»Wie sie retten?«

Gringoire sagte zu ihm:

»Theurer Meister, ich will Euch antworten: » Il padelt«, was auf türkisch heißt: Gott ist unsere Hoffnung.«

»Wie sie retten?« wiederholte Claude in Nachdenken versunken.

Jetzt schlug sich Gringoire vor die Stirn.

»Höret, lieber Meister, ich besitze Phantasie, ich will Euch Mittel und Wege zu finden suchen. Wie, wenn man den König um Begnadigung bäte?«

»Ludwig den Elften! Um Begnadigung?«

»Warum nicht?«

»Geh und nimm dem Tiger seinen Knochen!«

Gringoire begann nach neuen Lösungen zu suchen.

»Nun gut! Halt! … Wollt Ihr, daß ich an die Matronen eine Bittschrift richte mit der Erklärung, daß das Mädchen schwanger ist?«

Hier sprühte das hohle Auge des Priesters Flammen.

»Schwanger? Bursche! weißt du vielleicht etwas davon?«

Gringoire war entsetzt über sein Aussehen. Er fuhr schnell fort:

»Oh! ich ganz und gar nicht. Unsere Ehe war ein echtes foris maritagium. 62 Ich bin draußen geblieben.

Aber schließlich würde man einen Aufschub damit erlangen.«

»Dummheit! Schande! Schweig‘!«

»Ihr habt unrecht, Euch zu erzürnen,« murmelte Gringoire. »Man erlangt eine Frist: das verursacht niemandem Schaden, und die Matronen, welche arme Frauen sind, gewinnen dabei vierzig Pariser Heller.«

Der Priester hörte nicht auf seine Worte.

»Und doch muß sie von dort fort!« murmelte er. »Das Urtheil wird binnen drei Tagen vollstreckbar! Uebrigens würde gar kein Parlamentsbeschluß gekommen sein … dieser Quasimodo! Die Weiber haben mitunter sehr verdorbene Geschmacksrichtungen!«

Er erhob seine Stimme: »Meister Peter, ich habe reiflich überlegt; es giebt nur ein Rettungsmittel für sie.«

»Welches? Ich, für meine Person, ich sehe keins mehr.«

»Höret zu, Meister Peter, erinnert Euch, daß Ihr dem Mädchen das Leben verdankt. Ich will Euch offen meinen Gedanken sagen. Die Kirche ist Tag und Nacht bewacht; man läßt nur diejenigen wieder heraus, welche man hat hineingehen sehen. Ihr könnt also hineingehen. Ihr werdet hinkommen. Ich werde Euch zu ihr führen. Ihr sollt die Kleider mit ihr vertauschen. Sie wird Euer Wamms, Ihr sollt ihren Rock anziehen.«

»So weit geht die Sache gut,« bemerkte der Philosoph. »Und dann?«

»Und dann? Sie wird in Euern Kleidern herauskommen; Ihr werdet in den ihrigen dortbleiben. Man hängt Euch vielleicht; aber sie wird gerettet werden.«

Gringoire kratzte sich mit sehr ernster Miene hinter dem Ohre.

»Wisset!« sagte er, »das ist fürwahr eine Idee, die mir nicht von allein eingefallen wäre.«

Bei dem unerwarteten Vorschlage Dom Claude’s hatte sich der offene und gutmüthige Gesichtsausdruck des Dichters plötzlich verfinstert, wie eine lachende Landschaft Italiens, wenn auf einmal ein unglücklicher Windstoß einherfährt, der eine Wolke über die Sonne deckt.

»Nun? Gringoire, was sagt Ihr zu diesem Mittel?« »Ich sage, theurer Meister, daß man mich nicht vielleicht hängen, sondern daß es mir ohne Zweifel den Hals kosten wird.«

»Das geht uns nichts an.«

»Den Teufel auch!« sagte Gringoire.

»Sie hat Euch das Leben gerettet. Es ist eine Schuld, die Ihr abtragt.«

»Ich habe deren noch viele andere, die ich nicht bezahle!«

»Meister Peter, Ihr müßt unweigerlich.«

Der Archidiaconus sprach im befehlenden Tone.

»Höret, Dom Claude,« antwortete der Dichter ganz bestürzt. »Ihr haltet an diesem Gedanken fest, und Ihr habt unrecht. Ich sehe nicht ein, warum ich mich an Stelle eines andern soll hängen lassen.«

»Was habt Ihr denn, was Euch so sehr ans Leben fesselt?«

»Oh! tausend Gründe.«

»Welche? wenn ich fragen darf.«

»Welche? Die Luft, den Himmel, den Morgen, den Abend, den Mondschein, meine guten Freunde die Landstreicher, die lustigen Streiche mit den Mädchen, die schönen Baudenkmäler von Paris zu studiren, drei dicke Bücher zu schreiben, davon eins gegen den Bischof und seine Mühlen, und Gott weiß, was noch? Anaxagoras sagte, daß er auf der Welt wäre, um die Sonne zu bewundern. Und dann habe ich das Glück, alle meine Tage, vom Morgen bis zum Abende, mit einem Menschen von Genie zu verleben, nämlich mit mir selbst, und das ist sehr angenehm.«

»Ein Hartkopf, um eine Schelle daraus zu machen!« brummte der Archidiaconus … »Ei! sprich doch, wer hat dir das Leben, das du dir so angenehm machst, erhalten? Wem verdankst du es, daß du diese Luft athmest, diesen Himmel erblickst, daß du deinen Lerchenkopf noch mit Albernheiten und Possen ergötzen kannst! Wo wärest du, ohne sie? Du bringst es also über dich, daß sie stirbt, sie, durch die du das Leben hast? Sie soll sterben, dieses schöne, süße, anbetungswürdige, zum Lichte der Welt nothwendige Geschöpf, die göttlicher ist, als Gott selbst; während du, halb gescheit und halb närrisch, ein leeres Erzeugnis von irgend etwas, eine Art Pflanze, die zu wandeln und zu denken meint – während du das Leben weiterleben willst, das du ihr gestohlen hast, und das eben so nutzlos ist, wie eine Kerze am hellen Mittage? Wohlan! habe ein wenig Mitleid, Gringoire; jetzt sei du großmüthig, denn sie hat damit den Anfang gemacht.«

Der Priester war heftig geworden. Gringoire hörte ihn anfangs mit unentschlossener Miene an, dann wurde er weich, und schnitt endlich eine tragische Grimasse, die sein blasses Gesicht demjenigen eines Neugeborenen ähneln ließ, welches Leibschneiden hat.

»Ihr seid voll Pathos!« sagte er und trocknete eine Thräne. »Nun gut! ich werde es mir überlegen … Es ist eine närrische Idee, die Ihr da gehabt habt … Überhaupt,« fuhr er nach einer Pause fort, »wer weiß! Vielleicht werden sie mich nicht hängen. Nicht immer folgt die Hochzeit auf die Verlobung. Wenn sie mich in jenem Kämmerchen finden sollten, so wunderlich in Weiberrock und Haube herausgeputzt, so werden sie vielleicht in Lachen ausbrechen … Und dann, wenn sie mich hängen, ei nun! der Strick ist eine Todesart, wie jede andere, oder besser gesagt, es ist kein Tod, wie ein anderer. Es ist ein des Weisen würdiger Tod, welcher sein ganzes Leben hindurch geschwankt hat: ein Tod, der nicht Fleisch und nicht Fisch ist, wie der Geist des echten Skeptikers, ein Tod, der ganz die Zweifelsucht und Unschlüssigkeit ausdrückt, der die Mitte zwischen Himmel und Erde hält, der einen in der Schwebe hält. Es ist der Tod eines Philosophen, und ich bin vielleicht vom Schicksale dazu auserwählt. Es ist prächtig zu sterben, wie man gelebt hat.«

Der Priester unterbrach ihn: »Sind wir einig?«

»Was ist der Tod, alles in allem genommen?« fuhr Gringoire mit Überspanntheit fort. »Ein schlechter Augenblick, eine Zollstätte, der Uebergang vom Wenig zum Nichts. Als jemand den Kerkidas von Megalopolis gefragt hatte, ob er gern stürbe: ›Warum nicht?‹ antwortete er; ›denn nach meinem Tode werde ich jene großen Männer: einen Pythagoras unter den Philosophen, Hekatäus unter den Geschichtsschreibern, Homer unter den Dichtern, Olympus unter den Musikern sehen.«

Der Archidiaconus reichte ihm die Hand hin: »Es ist also abgemacht? Ihr werdet morgen kommen?«

Diese Bewegung brachte Gringoire zur Wirklichkeit zurück.

»Ach, meiner Treu, nein!« sagte er im Tone eines Menschen, der aus dem Traume erwacht. »Gehangen werden? Das ist zu albern. Ich mag nicht.«

»Gott befohlen denn!« Und der Archidiaconus fügte, zwischen den Zähnen murmelnd, hinzu: »Ich werde dich wiederfinden!«

»Ich mag nicht, daß dieser Teufel von Menschen mich wiederfinde,« dachte Gringoire; und er lief hinter Dom Claude her. »Wartet doch, Herr Archidiaconus, kein Groll unter alten Freunden! Ihr interessirt Euch für dieses Mädchen, für meine Frau, will ich sagen, das ist gut. Ihr habt eine Kriegslist ausgedacht, um sie heil aus Notre-Dame herauszubringen, aber Euer Mittel ist äußerst unangenehm für mich, den Gringoire … Wenn ich nun dafür ein anderes hätte! … Ich will Euch nun mittheilen, daß mir eben plötzlich, in diesem Augenblicke, ein sehr lichtvoller Gedanke gekommen ist … Wenn ich nun einen rathsamen Einfall hätte, um sie aus dem schlimmen Handel herauszuziehen, ohne daß mein Hals mit der kleinsten Strickschleife in Collision geriethe? Was würdet Ihr dazu sagen? Würde Euch das gar nicht zufrieden stellen? Ist es unbedingt nothwendig, daß ich gehangen werde, damit Ihr zufrieden seid?«

Der Priester riß vor Ungeduld die Knöpfe von seinem Oberkleide ab. »Eine Flut von Worten! … Worin besteht dein Mittel?«

»Ja,« versetzte Gringoire, indem er in sich hineinsprach, und zum Zeichen der Ueberlegung den Zeigefinger an seine Nase legte … »das ist’s!« … Die Landstreicher sind tapfere Burschen … Die Zigeunerhorde liebt sie! … Ein Handstreich … Mit Hilfe der Verwirrung wird man sie leicht entführen können!… Schon morgen Abend … Sie können es nicht besser wünschen.«

»Das Mittel! sprich!« sagte der Priester ihn schüttelnd.

Gringoire wandte sich würdevoll nach ihm um: »Laßt mich doch zufrieden! Ihr seht ja wohl, daß ich eben entwerfe.« Er überlegte noch einige Augenblicke, dann fing er an, bei seinem Gedanken in die Hände zu klatschen, indem er rief: »Bewunderungswürdig! sicherer Erfolg!«

»Das Mittel!« wiederholte Claude zornig.

Gringoire strahlte vor Freude.

»Kommt, ich will es Euch ganz leise sagen. Es ist wahrhaftig eine kühne Gegenlist, die uns alle aus der fatalen Lage herauszieht. Bei Gott! Ihr müßt gestehen, daß ich kein Dummkopf bin!«

Er unterbrach seine Rede:

»Ach so! befindet sich die kleine Ziege bei dem Mädchen?«

»Ja. Daß dich der Teufel hole!«

»Diese würden sie auch gehangen haben, nicht wahr?«

»Was geht mich das an?«

»Ja, sie würden sie gehangen haben. Sie haben ja auch im vergangenen Monate ein Schwein gehangen. Der Henker thut das gern; nachher verzehrt er das Thier. Meine reizende Djali hängen! Armes kleines Lamm!«

»Verflucht!« rief Dom Claude aus. »Der Henker bist du. Welches Rettungsmittel hast du denn ausfindig gemacht, Narr? Soll man dir deine Idee mit der Geburtszange entreißen?«

»Gemach, Meister! Eben sollt Ihr sie erfahren.«

Gringoire neigte sich zum Ohre des Archidiaconus und sprach ganz leise mit ihm, wobei er einen unruhigen Blick von einem Ende der Straße zum andern warf; auf der doch niemand hinging. Als er geendigt hatte, ergriff ihn Dom Claude bei der Hand und sagte kalt zu ihm:

»Es ist gut. Auf morgen also!«

»Auf morgen,« wiederholte Gringoire.

Und während sich der Archidiaconus nach einer Seite entfernte, ging er nach der entgegengesetzten davon, währenddem er mit halber Stimme zu sich sprach: »Das ist ein kühnes Unternehmen, Herr Peter Gringoire. Thut nichts; es ist nicht gesagt, daß, weil man ein geringer Mann ist, man vor einem großen Unternehmen erschrecken soll. Biton trug einen großen Stier auf seinen Schultern; die Bachstelzen, die Grasmücken und Schwarzkehlchen fliegen über den Ocean.«

  1. Lateinisch: Das ist, alles: Speise, Trank, Schlaf, Liebe mit Maß genießen. Anm. d. Uebers.
  2. Lateinisch: Eine Ehe außerhalb des Hauses. Anm. d. Uebers.

2. Werbet ein Landstreicher!

Der Archidiaconus fand, als er nach dem Kloster zurückkehrte, an der Thür seiner Zelle seinen Bruder Johann-du-Moulin, welcher ihn erwartete, und der sich die Langeweile des Wartens damit vertrieben hatte, daß er mit einer Kohle das Profil seines Bruders, mit einer riesigen Nase geschmückt, an die Mauer zeichnete.

Dom Claude beachtete kaum seinen Bruder; er hatte andere Sorgen. Das fröhliche Antlitz des Taugenichts, dessen freudiger Ausdruck so viele Male die düstere Physiognomie des Priesters wieder aufgeheitert hatte, war jetzt ohnmächtig, den Schatten zu zerstreuen, der sich mit jedem Tage dichter über diese verderbte, mephitische und sumpfige Seele senkte.

»Lieber Bruder,« sagte Johann schüchtern, »ich komme, um Euch zu besuchen.«

Der Archidiaeonus wandte kaum die Blicke nach ihm hin. »Weiter!«

»Lieber Bruder,« fuhr der Heuchler fort, »Ihr seid so gütig gegen mich, und Ihr gebt mir so gute Rathschläge, daß ich immer wieder zu Euch zurückkehre.«

»Was weiter?«

»Ach! lieber Bruder, Ihr hattet wohl Recht, als Ihr mir sagtet: ›Johann! Johann! cessat doctorum doctrina, discipulorum disciplina. 63 Johann, werdet vernünftig, Johann, lernt etwas, Johann, bleibt die Nächte nicht aus der Schule weg ohne triftigen Grund und ohne die Erlaubnis des Lehrers. Prügelt Euch nicht mit den Picarden herum ( noli Johannes, verberare Picardos). Verfaulet nicht, wie ein ungelehrter Esel ( quasi asinus illiteratus) auf dem Schulstroh. Johann, laßt Euch nach Belieben des Lehrers bestrafen. Johann, gehet alle Abende zur Kapelle, und singet dort zu Ehren unserer lieben Frau, der ruhmreichen Jungfrau Maria, eine Antiphonie mit Bibelvers und Gebet‹ Wehe! was waren das für ausgezeichnete Rathschläge!«

»Und dann?«

»Lieber Bruder, Ihr sehet einen Schuldigen, einen Verbrecher, einen Elenden, einen ausschweifenden Gesellen, einen abscheulichen Menschen vor Euch! Mein theurer Bruder, Johann hat aus Euern Rathschlägen Stroh und Mist gemacht, um mit den Füßen darauf herumzutreten. Ich bin dafür sehr gestraft, und der liebe Gott ist außerordentlich gerecht. So lange ich Geld hatte, habe ich geschmaust, Thorheiten getrieben und ein lustiges Leben geführt. Ach! wie häßlich und verdrießlich ist ein liederliches Leben, so sehr es einen anfangs anlachte, am Ende! Jetzt besitze ich keinen Weißpfennig mehr; ich habe mein Tischtuch, mein Hemde und mein Handtuch verkauft; aus ist es mit dem lustigen Leben! Die schöne Kerze ist verloschen, und ich habe nur noch den häßlichen Talgdocht, der mir in die Nase stinkt. Die Mädchen machen sich lustig über mich. Ich trinke Wasser. Ich werde von Gewissensbissen und Gläubigern gemartert.«

»Das Ende?« sagte der Archidiaconus.

»Ach! allertheuerster Bruder, ich möchte gern zu einem bessern Lebenswandel zurückkehren. Ich komme voll Zerknirschung zu Euch. Ich empfinde Reue. Ich bekenne es. Ich zerschlage meine Brust mit mächtigen Faustschlägen. Ihr hattet sehr Recht mit Eurem Wunsche, daß ich eines Tages Licenciat und Untermonitor am Collegio Torchi werden sollte. Auf einmal fühle ich jetzt ein glänzendes Talent für diesen Stand in mir. Aber ich habe keine Tinte mehr, ich muß mir wieder welche kaufen; ich habe keine Federn mehr, die muß ich mir wieder besorgen; ich habe kein Papier, keine Bücher mehr, das alles muß ich mir wieder anschaffen. Dafür gebrauche ich nothwendig ein wenig baares Geld, und ich komme zu Euch, lieber Bruder, voller Zerknirschung.«

»Ist das alles?«

»Ja,« sagte der Schüler. Ein wenig Geld.«

»Ich habe keins.«

Da sagte der Student mit ernster und zugleich entschlossener Miene:

»Nun gut! lieber Bruder. Es thut mir leid, Euch sagen zu müssen, daß man mir andererseits sehr schöne Anerbieten und Vorschläge gemacht hat. Ihr wollt mir also kein Geld geben? … Nein? … In diesem Falle gehe ich und werde ein Landstreicher.«

Während er dieses furchtbare Wort aussprach, nahm er eine Ajaxmiene an, weil er sich darauf gefaßt machte, den Blitz auf sein Haupt fallen zu sehen.

Der Archidiaconus sagte in kaltem Tone zu ihm:

»Werdet Landstreicher!«

Johann grüßte ihn mit tiefer Verbeugung und stieg pfeifend die Klostertreppe wieder hinunter.

In dem Augenblicke, wo er im Hofe des Klosters, unter dem Fenster der Zelle seines Bruders vorbeiging, hörte er, wie dieses Fenster sich öffnete; er hob die Nase in die Höhe und sah das strenge Haupt des Archidiaconus durch die Oeffnung herausfahren.

»Scher‘ dich zum Teufel!« rief Dom Claude, »hier ist das letzte Geld, das du von mir bekommen wirst.«

Zu gleicher Zeit warf der Priester seinem Bruder Johann eine Börse zu, die dem Studenten eine dicke Beule an der Stirn verursachte, und mit welcher Johann, erzürnt und zufrieden zugleich, wie ein Hund, den man mit Markknochen werfen würde, davonging.

  1. Lateinisch: Es schwindet die Gelehrsamkeit der Gelehrten und der Eifer der Schüler. Anm. d. Uebers.

5. Der Schlüssel zur Rothen Pforte.

Inzwischen hatte die öffentliche Meinung dem Archidiaconus hinterbracht, auf welche wunderbare Weise die Aegypterin gerettet worden war. Als er das erfuhr, wußte er kaum, was er dabei empfand. Er hatte sich mit Esmeralda’s Tode zufrieden gegeben. So war er ruhig geworden: er hatte den tiefsten Schmerz, der nur denkbar war, ausgekostet. Das menschliche Herz (Dom Claude hatte über solche Dinge nachgedacht) kann nur ein gewisses Maß von Verzweiflung fassen. Wenn der Schwamm vollgesogen ist, so kann das Meer darüber rollen, ohne daß auch nur ein Tropfen mehr hineindringt.

Nun, die Esmeralda war todt; der Schwamm war vollgesogen; damit war alles für Dom Claude auf dieser Erde gesprochen. Aber sie und auch Phöbus am Leben wissen – das waren die Martern, die Schläge, die Wechselwirkungen, welche das Leben wieder begannen. Und Claude war dessen überdrüssig.

Als er diese Nachricht erhalten hatte, schloß er sich in seine Klosterzelle ein. Er erschien weder bei den Stiftsbesprechungen, noch beim Gottesdienste. Er verschloß allen seine Thür, selbst dem Bischofe. In dieser Weise war er mehrere Wochen eingemauert geblieben. Man hielt ihn für krank. Er war es in der That.

Was that er in dieser Abgeschlossenheit? Mit welchen Gedanken schlug sich der Unglückliche herum? Lieferte er seiner fürchterlichen Leidenschaft einen letzten Kampf? Schmiedete er einen letzten Todes- und Vernichtungsplan für sie und ihn?

Sein Johann, sein geliebter Bruder, sein verhätscheltes Kind kam einmal an seine Thüre, klopfte, beschwör ihn, flehte, nannte zehnmal seinen eigenen Namen: – Claude öffnete nicht.

Er verbrachte ganze Tage, das Gesicht gegen die Scheiben seines Fensters gepreßt. Von diesem im Kloster befindlichen Fenster aus konnte er die Freistatt der Esmeralda sehen; oft erblickte er sie selbst mit ihrer Ziege, manchmal auch mit Quasimodo. Er bemerkte die kleinen Aufmerksamkeiten des häßlichen Tauben, seine aufmerksamen Geberden, seine höfliche und unterwürfige Haltung gegen die Zigeunerin. Er erinnerte sich, denn er hatte ein gutes Gedächtnis – und das Gedächtnis ist die Folter der Eifersüchtigen – er erinnerte sich also des eigenthümlichen Blickes, den der Glöckner eines Abends auf die Tänzerin warf. Er fragte sich, welchen Beweggrund Quasimodo hätte haben können, sie zu retten. Er war Zeuge von tausend kleinen Vorfällen zwischen der Zigeunerin und dem Tauben, dessen Geberdensprache ihm, von weitem gesehen und von seiner Leidenschaft erklärt, sehr zärtlich vorkam. Er mißtraute den seltsamen Neigungen der Frauen. Dann fühlte er dunkel, daß eine Eifersucht in ihm erwache, die er niemals vermuthet hatte, eine Eifersucht, die ihn vor Scham und Unwillen erröthen machte. »Der Hauptmann mag noch hingehen, aber dieser!« Dieser Gedanke marterte ihn.

Seine Nächte waren schrecklich. Seitdem er wußte, daß die Zigeunerin am Leben war, waren die frostigen Gespenster – und Grabesgedanken verschwunden, und das Fleisch begann wieder ihn zu stacheln. Er warf sich in dem Gefühle, das braune junge Mädchen so nahe bei sich zu haben, ruhelos auf dem Lager umher.

Jede Nacht vergegenwärtigte ihm seine rasende Einbildungskraft die Esmeralda in allen den Körperstellungen, welche sein Blut am heftigsten zum Sieden gebracht hatten. Er sah sie unter dem erdolchten Hauptmanne, mit geschlossenen Augen, ihren schönen Busen vom Blute des Phöbus bedeckt in dem wonnevollen Augenblicke hingestreckt, wo der Archidiaconus auf ihre blassen Lippen jenen Kuß gedrückt hatte, dessen Glut die Unglückliche, wiewohl halb todt, gefühlt hatte. Er sah sie wieder, wie sie von den rohen Fäusten der Folterknechte entkleidet wurde; wie sie ihren kleinen Fuß entblößen und in den mit eisernen Schrauben verschränkten Folterstiefel einzwängen ließ: er sah ihr zartes rundes Bein, ihr weißes und biegsames Knie. Er sah dieses Elfenbeinknie noch einmal, wie es aus dem fürchterlichen Marterinstrumente Torterue’s hervorglänzte. Er stellte sich schließlich das junge Mädchen im Hemde vor, mit dem Strick um den Hals, mit nackten Schultern, nackten Füßen, fast ganz nackt, wie er sie am letzten Tage gesehen hatte. Diese wollüstigen Bilder brachten seine Hände zum ballen und ließen einen Schauder über seine Rückgratwirbel rieseln.

In einer Nacht besonders erhitzten diese Bilder sein frisches Priesterblut so heftig, daß er in sein Kopfkissen biß, aus seinem Bett sprangt einen Chorrock über sein Hemd warf, und mit der Lampe in der Hand, halb nackt, verstört und glühenden Blickes seine Zelle verließ.

Er wußte, wo der Schlüssel zur Rothen Pforte, die das Kloster mit der Kirche verband, zu finden war; und er hatte, wie man weiß, immer einen Schlüssel zur Treppe der beiden Thürme bei sich.

2. Priester und Philosoph sind zweierlei.

Der Priester, welchen die jungen Mädchen, hoch oben auf dem nördlichen Thurme, zum Platze unten herabgeneigt und aufmerksam dem Tanze der Zigeunerin zuschauend bemerkt hatten, war in der That der Archidiaconus Claude Frollo.

Unsere Leser haben die geheimnisvolle Zelle nicht vergessen, die sich der Archidiaconus in diesem Thurme vorbehalten hatte. (Aller Wahrscheinlichkeit nach, um es beiläufig zu erwähnen, ist es dieselbe, deren Inneres man noch heute durch eine kleine, viereckige Oeffnung erkennen kann, die sich in Mannshöhe auf der Ostseite über der Plattform öffnet, von wo sich die Thürme in die Luft erheben: gegenwärtig eine nackte, leere und verfallene Höhle, deren schlecht getünchte Mauern zur Stunde hier und da mit einigen häßlichen, gelben Zeichnungen geschmückt sind, welche Kirchenfaçaden vorstellen. Ich vermuthe, daß dieses Loch gemeinschaftlich von Fledermäusen und Spinnen bewohnt, und daß infolge dessen hier gegen die Fliegen ein zwiefacher Vernichtungskrieg geführt wird.)

Alle Tage, eine Stunde vor Sonnenuntergang, stieg der Archidiaconus die Thurmtreppe empor und schloß sich in dieser Zelle, wo er manchmal ganze Nächte verbrachte, ein. An jenem Tage, in dem Augenblicke, wo er vor der niedrigen Thür des Schlupfwinkels angekommen war und den kunstvollen, kleinen Schlüssel, den er immer in einer an seiner Seite hängenden Tasche bei sich trug, ins Schloß steckte, war ein Tamburin– und Castagnettengeräusch zu seinem Ohre gedrungen. Dieses Geräusch kam von dem Platze des Domhofes. Die Zelle hatte, wie wir schon bemerkt haben, nur eine Oeffnung, die aufs Dach der Kirche hinausging. Claude Frollo hatte schnell den Schlüssel wieder herausgezogen und gleich darauf befand er sich auf der Höhe des Thurm es in der finstern und beobachtenden Stellung, in welcher ihn die jungen Mädchen erblickt hatten.

Da stand er, ernst, bewegungslos in einen Blick und einen Gedanken versunken. Ganz Paris lag zu seinen Füßen mit den tausend Spitzdächern seiner Gebäude und dem Gesichtskreise sanft aufsteigender Hügel ringsumher, mit seinem unter Brücken sich hinschlängelnden Flusse, seiner in den Straßen wogenden Bevölkerung, seinen Rauchwolken, der hügelartigen Kette von Dächern, welche mit immer dichter werdenden Ringen Notre-Dame einschließt. Aber in dieser weiten Stadt sah der Archidiaconus nur auf einen Punkt da unten: auf den Domhofsplatz; in dieser wogenden Menge sah er nur eine Gestalt: die der Zigeunerin. Es wäre schwer gewesen, zu sagen, welcher Art dieser Blick war, und woher die Glut kam, die aus ihm hervorloderte. Es war ein starrer Blick, und doch voll Unruhe und Aufruhr; und bei der völligen Unbeweglichkeit seines ganzen Körpers, der nur zeitweilig von einem mechanischen Schauder, wie ein Baum im Winde, geschüttelt wurde; bei der Steifheit seiner Arme, die mehr Stein zu sein schienen, als das Geländer, worauf sie sich stützten; beim Anblick des versteinerten Lächelns, welches sein Gesicht verzerrte, hätte man glauben sollen, es wäre an Claude Frollo nichts weiter lebendig, als die Augen.

Die Zigeunerin tanzte; sie ließ das Tamburin auf der Spitze ihres Fingers kreisen und warf es in die Lust, während sie behende, leicht, fröhlich und ohne das Gewicht des furchtbaren Blickes zu fühlen, der von oben auf ihr Haupt fiel, provençalische Sarabanden 1 tanzte.

Die Menge wogte um sie her; von Zeit zu Zeit ließ ein Mann, der mit einer gelb–rothen Jacke herausgeputzt war, den Kreis ordnen; dann trat er zurück, setzte sich wenige Schritte von der Tänzerin auf einen Stuhl und nahm den Kopf der Ziege auf seine Knien. Dieser Mensch schien der Begleiter der Zigeunerin zu sein. Claude Frollo vermochte von der Höhe, wo er sich befand, seine Züge nicht zu erkennen. Von dem Augenblicke an, wo der Archidiaconus diesen Unbekannten bemerkt hatte, schien sich seine Aufmerksamkeit zwischen ihm und der Tänzerin zu theilen, und sein Blick wurde immer düsterer. Plötzlich wandte er sich weg, ein Zittern durchlief seinen Körper. »Wer ist dieser Mann?« murmelte er zwischen den Zähnen, »ich hatte sie doch stets allein gesehen!«

Dann verschwand er wieder unter der gewundenen Wölbung der Wendeltreppe und stieg hinab. Als er vor der halbgeöffneten Thür der Glockenstube vorbeiging, sah er etwas, das ihn stutzig machte: er bemerkte Quasimodo, der in eine Oeffnung der schiefergedeckten Schutzdächer, welche ungeheuern Jalousien gleichen, gebückt war, und daß er auf den Platz hinabschaute. Er war in eine so tiefe Betrachtung versunken, daß er auf das Vorübergehen seines Adoptivvaters nicht Acht hatte. Sein wildes Auge hatte einen eigentümlichen Ausdruck: es war ein entzückter und sanfter Blick.

»Das ist doch seltsam!« murmelte Claude. »Ist es die Zigeunerin, nach der er so hinsieht?« Er stieg weiter hinab. Nach Verlauf weniger Minuten trat der sorgenvolle Archidiaconus durch die Pforte unten am Thurme auf den Platz hinaus.

»Was ist denn aus der Zigeunerin geworden?« sagte er, indem er sich unter die Gruppe der Zuschauer mischte, welche das Tamburin herbeigelockt hatte.

»Ich weiß nicht,« antwortete einer seiner Nachbarn, »sie ist eben erst verschwunden. Ich glaube, sie ist in das Haus gegenüber gegangen, wohin man sie gerufen hat, um einen Fandango 2 zu tanzen.«

Anstatt der Zigeunerin sah der Archidiaconus auf dem nämlichen Teppiche, dessen Arabesken eben erst unter der phantastischen Bewegung ihres Tanzes ineinander schwammen, nur noch den rothen und gelben Mann, der, einige Heller für sich zu gewinnen, mit eingestemmten Armen, zurückgebogenem Kopfe, rothem Gesichte und vorgestrecktem Halse, einen Stuhl zwischen den Zähnen, im Kreise herumging. Auf diesem Stuhle hatte er eine Katze festgebunden, welche ihm eine Nachbarin geliehen hatte, und die ganz erbärmlich maute.

»Bei der heiligen Jungfrau!« rief der Archidiaconus in dem Augenblicke, wo der Gaukler, dicke Schweißtropfen vergießend, mit seiner Stuhl– und Katzenpyramide an ihm vorüberging, »was macht Meister Peter Gringoire da?«

Die scharfe Stimme des Archidiaconus verursachte dem armen Teufel einen solchen Schrecken, daß er mit seinem Kunstwerke das Gleichgewicht verlor, und daß Stuhl und Katze durcheinander und unter gewaltigem Lärme der Umstehenden, aus deren Köpfe fielen.

Wahrscheinlich hätte Meister Peter Gringoire (er war es nämlich) eine fatale Rechnung mit der Nachbarin der Katze und allen geschundenen und zerkratzten Gesichtern ringsumher auszugleichen gehabt, wenn er sich nicht schleunigst die Verwirrung zu nutze gemacht hätte, um in die Kirche zu flüchten, wohin ihm zu folgen Claude Frollo ein Zeichen gegeben hatte.

Die Kathedrale war schon finster und öde; die Seitenschiffe lagen in Dunkelheit gehüllt da; die Lampen in den Kapellen begannen wie Sterne zu leuchten, so nächtig wurden die Wölbungen. Nur die große Rosette der Vorderseite, deren tausendfaches Farbenspiel von einem horizontalen Sonnenstrahl durchleuchtet war, glänzte wie ein Diamantenstern in der Dunkelheit, und warf ihr schimmerndes Abbild auf die Gegenseite des Schiffes zurück. Als sie einige Schritte gethan hatten, lehnte sich Pom Claude an einen Pfeiler und sah Gringoire starr an. Doch fürchtete Gringoire diesen Blick nicht; er schämte sich aber, von einem würdigen und gelehrten Manne in diesem Possenreißercostüme überrascht worden zu sein. Der Blick des Priesters hatte nichts Spöttisches und Ironisches; er war ernst, ruhig und durchdringend.

Der Archidiaconus brach das Schweigen zuerst.

»Tretet näher, Meister Peter. Ihr sollt mir über viele Dinge Aufklärung geben. Zuerst sagt mir, wie kommt es, daß man Euch seit nahezu zwei Monaten nicht gesehen hat und jetzt in diesem schönen Costüme, wahrhaftig! halb gelb, halb roth wie einen Apfel von Caudebee auf den Gassen wiederfindet?«

»Gestrenger Herr,« sagte Gringoire mit kläglicher Stimme, »es ist in der That ein wunderbarer Aufputz, und Ihr seht mich darum beschämter, als eine Katze, der ein Flaschenkürbiß auf den Kopf gebunden wurde. Es ist recht übel von mir gethan, ich fühle es, die Herren Scharwächter in die Lage zu bringen, den Rücken eines pythagoreischen Philosophen, der sich unter dieser Jacke verbirgt, mit Stockprügeln regaliren zu müssen. Aber was wollt Ihr, mein verehrungswürdiger Meister? Die Schuld daran liegt an meinem alten Wamms, das mich feige zu Winters Anfang, unter dem Vorwande im Stich gelassen hat, daß es in Lumpen zerfiele und notwendigerweise im Korbe des Lumpensammlers ein Ruheplätzchen finden müsse. Was anfangen? Die Civilisation ist noch nicht auf dem Punkte angekommen, um ganz nackt herumspazieren zu können, wie der alte Diogenes wollte. Nehmt dazu, daß ein sehr kalter Wind wehte, und daß man wahrlich nicht versuchen kann, im Monat Januar diesen neuen Schritt auf dem Wege zur Humanität erfolgreich unternehmen zu lassen. Dieses Kleid bot sich mir dar, ich habe zugegriffen und meinen alten schwarzen Kittel aufgegeben, der für einen Hermesjünger, wie ich bin, viel zu wenig hermetisch verschlossen war. Darum seht Ihr mich im Komödiantengewande, wie den heiligen Genest. Freilich ist’s eine Abschweifung; aber Apollo hat ja beim Admet die Schafe gehütet.«

»Ihr treibt da ein schönes Handwerk!« entgegnete der Archidiaconus.

»Ich gebe zu, mein theurer Meister, daß es besser ist, zu philosophiren und Verse zu machen, das Feuer im Ofen anzublasen oder es vom Himmel zu empfangen, als Katzen auf dem Straßenpflaster herumzutragen. Deshalb war ich, als Ihr mich angeredet habt, auch so dumm, wie ein Esel vor einem Bratenwender. Aber bedenkt, gestrenger Herr, man muß alle Tage zu leben haben, und die schönsten Alexandriner sind zwischen den Zähnen nicht so viel Werth, als ein Stück Käse von Brie. Nun habe ich auf die Frau Prinzessin Margarethe von Flandern das berühmte Hochzeitsgedicht gemacht, das Ihr kennt; aber die Stadt bezahlt’s mir nicht, unter dem Vorwande, es sei nicht viel Werth: als ob man für vier Thaler eine Sophokleische Tragödie liefern könnte! Ich war also nahe daran, Hungers zu sterben. Glücklicherweise fand ich mich ziemlich kräftig hinsichtlich meines Gebisses; ich sagte zu diesem Gebiß: »Mache Kraftstücke und Kunststücke im Balanciren; nähre dich selbst. Ale te ipsam.« 3 Ein Haufe Bettler, die meine Freunde geworden sind, haben mir zwanzigerlei herkulische Kunststücke gelehrt, und jetzt gebe ich alle Abende meinen Zähnen das Brot, das sie am Tage im Schweiße des Angesichts verdient Haben. Bei alledem, concedo: räume ich ein, daß das ein elender Gebrauch meiner geistigen Eigenschaften, und der Mensch nicht geschaffen ist, sein Leben mit Tamburinschlagen und mit Stühleanbeißen hinzubringen. Aber, verehrungswürdiger Meister, es ist nicht genug, daß man sein Leben hinbringt, man muß es auch verdienen.«

Dom Claude hörte schweigend zu. Plötzlich nahm sein tiefliegendes Auge einen solch scharfen und durchdringenden Ausdruck an, daß sich Gringoire gewissermaßen bis in die Tiefe der Seele von diesem Blicke erforscht fühlte.

»Sehr gut, Meister Peter; aber wie kommt es denn, daß Ihr Euch jetzt in der Gesellschaft dieser ägyptischen Tänzerin befindet?«

»Meiner Treu!« sagte Gringoire, »deshalb, weil sie mein Weib ist, und ich ihr Mann bin.«

Das düstre Auge des Priesters erglühte.

»Könntest du das gethan haben, Elender?« schrie er und packte wüthend Gringoire’s Arm; »könntest du so von Gott verlassen gewesen sein, deine Hand an dieses Mädchen zu legen?«

»So wahr ich Theil am Paradiese habe, ehrwürdiger Herr,« antwortete Gringoire an allen Gliedern zitternd, »ich schwöre Euch zu, daß ich sie niemals berührt habe, wenn das der Punkt ist, der Euch beunruhigt.«

»Aber was sprichst du denn von Mann und von Frau?« sagte der Priester.

Gringoire beeilte sich, ihm das in aller Kürze zu erzählen, was der Leser bereits weiß: sein Abenteuer im Wunderhofe und seine Verheirathung vermittelst des zerbrochenen Kruges. Uebrigens schien es, daß diese Heirath noch keine Folgen gehabt hatte, und daß ihn die Zigeunerin jeden Abend um seine Hochzeitsnacht brachte, wie am ersten Tage. »Das ist bitter,« sagte er schließlich, »aber es hängt damit zusammen, daß ich das Unglück gehabt habe, eine Jungfer zu heirathen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte der Archidiaconus, welcher sich bei dieser Erzählung allmählich beruhigt hatte.

»Das ist ziemlich schwer auseinander zu setzen,« entgegnete der Dichter. »Es ist ein Aberglaube dabei. Meine Frau ist, wie mir ein alter Spitzbube gesagt hat, den man bei uns den Herzog von Aegypten nennt, ein Findelkind, oder was dasselbe ist, ein uneheliches Kind. Sie trägt am Halse ein Amuletts welches – sagt man – sie eines Tages ihre Eltern wiederfinden lassen wird, das aber seine Kraft einbüßt, wenn sie ihre Tugend verlöre. Daher kommt es, daß wir beide sehr tugendhaft bleiben.«

»Also,« entgegnete Claude, dessen Stirn sich immer mehr entwölkte, »Ihr glaubt, Meister Peter, daß diesem Geschöpfe noch kein Mann zu nahe gekommen ist?«

»Meint Ihr, Dom Claude, daß ein Mann etwas gegen den Aberglauben vermag? Sie hat den im Kopfe. Ich glaube, daß diese Nonnensprödigkeit, die sich unter den so schnell vertraulichen Zigeunermädchen fest behauptet, gewiß eine Seltenheit ist. Aber sie hat dreierlei, um sich zu schirmen: einmal den Herzog von Aegypten, der sie in seinen Schutz genommen hat und vielleicht darauf rechnet, sie an irgend einen feisten Abt zu verschachern; dann ihre ganze Bande, die sie, wie wir die heilige Jungfrau, ganz besonders verehrt, und endlich einen gewissen niedlichen Dolch, den das entschlossene Weib, allen Befehlen des Profosses zum Trotz, immer bei sich trägt, und den man ihr in die Hände treibt, wenn man sie um den Leib fassen will. Sie ist eine muthige Wespe, der Tausend!«

Der Archidiaconus quälte Gringoire mit Fragen.

Die Esmeralda war, nach Gringoire’s Urtheile, ein harmloses, reizendes und bis auf den ihr eigentümlichen Mund hübsches Geschöpf; ein naives und fröhliches Mädchen, das mit allem unbekannt und von allem enthusiasmirt war; das selbst nicht einmal im Traume, den Unterschied der Frau im Verhältnis zum Manne kannte; einem Traumbilde ähnlich; vernarrt hauptsächlich in Tanz, geräuschvolles Leben und vornehmes Wesen; ein bienenartiges Weib mit unsichtbaren Flügeln an den Füßen, das im Strudel dahinlebte. Sie verdankte dieses Naturell dem unruhigen Leben, welches sie immer geführt hatte. Gringoire hatte in Erfahrung gebracht, daß sie als kleines Kind Spanien und Catalonien, sogar Sizilien durchwandert war; er glaubte auch, daß sie mit der Zigeunerkarawane, zu der sie gehörte, in das Königreich Algier weggeführt worden war: eine Landschaft, die in Achaja liegt, welches Achaja einerseits an Klein-Albanien und an Griechenland, anderseits an das sicilianische Meer grenzt, wo die Straße nach Konstantinopel führt. Die Zigeuner, erzählte Gringoire, wären Vasallen des Königs von Algier, in seiner Eigenschaft als Herr der weißen Mauern. Sicher wäre die Esmeralda sehr jung über Ungarn nach Frankreich gekommen. Aus allen diesen Ländern hätte das junge Mädchen Bruchstücke seltsamer Sprachen, Gesänge und merkwürdige Gedanken mitgebracht, die aus ihrer Sprache etwas ebenso Buntscheckiges machten, wie ihr Costüm halb parisisch, halb afrikanisch wäre. Uebrigens liebten sie die Leute der Stadtviertel, welche sie besuche, wegen ihrer Fröhlichkeit, ihrer Anmuth und lebendigen Weise ebenso, wie wegen ihrer Tänze und Gesänge. In der ganzen Stadt glaubte sie sich nur von zwei Personen gehaßt, von denen sie auch oft mit Schrecken spräche: von der Nonne im Rolandsthurme, einer häßlichen Klosterschwester, welche einen gewissen Groll auf die Zigeunerinnen hätte und die arme Tänzerin jedesmal verfluche, wenn sie vor ihrem Fenster vorüberginge; dann von einem Priester, der sie niemals träfe, ohne ihr Blicke und Worte zuzusenden, die ihr Furcht verursachten. Dieser letzte Umstand verwirrte den Archidiaconus sehr, ohne daß Gringoire diese Bestürzung recht bemerkte, dermaßen hatten zwei Monate genügt, den sorglosen Dichter alle die Einzelnheiten jenes Abends vergessen zu lassen, an dem er das Zusammentreffen mit der Zigeunerin gehabt hatte, und der Archidiaconus bei dem allen zugegen gewesen war. – Uebrigens fürchtete die kleine Tänzerin nichts; sie wahrsagte nicht, was sie vor jenen Hexenprocessen schützte, die so häufig gegen die Zigeunerinnen angestellt wurden. Und überdies vertrat Gringoire Bruderstelle, wenn es als Ehemann nicht ging. Ueberhaupt ertrug der Philosoph diese Art platonischer Ehe sehr geduldig. Er hatte doch immer ein Nachtlager und sein Brot. Jeden Morgen verließ er die Gaunerbande, meistens mit der Zigeunerin; er war ihr behilflich, wenn sie an den Straßenecken ihre Heller und Weißpfennige einerntete; jeden Abend kehrte er mit ihr unter dasselbe Dach zurück, ließ sie sich in ihr Kämmerchen einriegeln und verfiel in den Schlaf des Gerechten: alles in allem genommen eine sehr angenehme Existenz, und für Sinnen und Träume wie geschaffen. Und dann war, in seiner Seele und Gewissen, der Philosoph nicht ganz sicher, ob er rasend in die Zigeunerin verliebt sei. Er liebte ihre Ziege fast ebenso sehr. Das sei ein allerliebstes, sanftes, kluges, geistvolles Thier, eine gelehrte Ziege. – Nichts war im Mittelalter gewöhnlicher, als diese dressirten Thiere, die man gewaltig anstaunte, und die oft ihre Lehrmeister auf den Scheiterhaufen führten. Jedoch wären die Hexereien der Ziege mit den vergoldeten Füßen sehr unschuldige Schelmereien. Gringoire erklärte sie dem Archidiaconus, den diese einzelnen Umstände sehr zu interessiren schienen. Es genüge in den meisten Fällen, der Ziege das Tamburin in der oder jener Weise‘ hinzuhalten, um das gewünschte Kunststück bei ihr zu erreichen. Sie wäre dazu von der Zigeunerin abgerichtet worden, die zu diesen Pfiffen ein so seltenes Talent besäße, daß zwei Monate genügt hätten, um der Ziege beizubringen, aus beweglichen Buchstaben das Wort »Phöbus« zusammenzusetzen.

»Phöbus!« sagte der Priester; »warum Phöbus?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Gringoire. »Vielleicht ist es ein Wort, welches sie mit irgend einer geheimen und übernatürlichen Kraft für begabt hält. Sie wiederholt es oft mit leiser Stimme, wenn sie sich allein glaubt.«

»Seid Ihr dessen gewiß,« entgegnete Claude mit seinem forschenden Blicke, »daß es nur ein Wort, daß es kein Name ist?«

»Wessen Name?« sagte der Dichter.

»Was weiß ich?« sagte der Priester.

»Ich denke mir das so, ehrwürdiger Herr. Diese Zigeuner sind ein wenig abergläubisch und beten die Sonne an; daher jenes ›Phöbus‹.«

»Das scheint mir nicht so einleuchtend, als Euch, Meister Peter.«

»Uebrigens thut das nichts. Möge sie ihr Phöbus nach Belieben murmeln. Sicher ist, daß Djali mich beinahe ebenso lieb hat, als sie.«

»Wer ist diese Djali?«

»Es ist die Ziege.«

Der Archidiaconus legte seine Hand ans Kinn und schien einen Augenblick nachzudenken. Plötzlich wandte er sich heftig an Gringoire.

»Und du schwörst mir zu, daß du sie nicht berührt hast?«

»Wen?« fragte Gringoire; »die Ziege?«

»Nein, dieses Weib.«

»Mein Weib? Niemals, ich schwöre es.«

»Und du bist oft allein mit ihr?«

»Alle Abende, eine volle Stunde.«

Dom Claude runzelte die Augenbrauen.

»O! Ach! Solus cum sola non cogitabuntur orare Pater noster4

»Bei meiner Seele, ich könnte das » Pater« und das » Ave Maria« und das » Credo in Deum patrem omniptentem« 5 hersagen, ohne daß sie mir mehr Aufmerksamkeit erweisen würde, als eine Henne einer Kirche.«

»Schwöre mir bei dem Leibe deiner Mutter,« wiederholte der Archidiaconus mit Ungestüm, »daß du dieses Geschöpf nicht mit der Spitze des Fingers berührt hast.«

»Ich könnte ebenso gut bei dem Haupte meines Vaters schwören, denn beides steht in mehr als einem Verhältnis zu einander. Aber, ehrwürdiger Herr, erlaubt mir meinerseits eine Frage.«

»Redet, Herr.«

»Was geht das Euch an?«

Das bleiche Gesicht des Archidiaconus wurde roth, wie die Wange eines jungen Mädchens. Er verharrte einen Augenblick ohne Antwort; dann sprach er mit sichtlicher Verlegenheit:

»Höret, Meister Peter Gringoire. Ihr seid noch nicht in Verdammnis gerathen, so viel ich weiß. Ich interessire mich für Euch und will Euch wohl. Doch die geringste Berührung mit diesem Dämon von Zigeunerin würde Euch zum Vasallen des Satans machen. Ihr wißt, daß es immer der Körper ist, der die Seele ins Verderben stürzt. Wehe Euch, wenn Ihr diesem Weibe zu nahe tretet. Nun wißt Ihr alles.«

»Ich habe es einmal versucht,« sprach Gringoire und kratzte sich hinter dem Ohre; »es war am ersten Tage, aber ich habe mich gestochen.«

»Ihr habt die Frechheit gehabt, Meister Peter?« Und die Stirn des Priesters umwölkte sich.

»Ein andermal,« führ der Dichter schmunzelnd fort, »habe ich, ehe ich mich niederlegte, durch ihr Schlüsselloch gesehen, und habe wohl das holdeste Weib im Hemde erblickt, das jemals den Gurt eines Bettes unter ihrem nackten Fuße hat knacken lassen.«

»Geh zum Teufel!« schrie der Priester mit fürchterlichem Blicke und verschwand, während er den erstaunten Gringoire an den Schultern vorwärts stieß, mit weiten Schritten unter den nächtlichen Säulenhallen der Kathedrale.

  1. Sarabande: ein altspanischer Volkstanz mit Gesangs– und Castagnettenbegleitung. Anm. d. Uebers.
  2. Name eines altspanischen Nationaltanzes mit nach und nach schneller werdendem Tempo. Anm. d. Uebers.
  3. Lateinisch: Nähre dich selbst. Anm. d. Uebers.
  4. Lateinisch: Wenn Mann und Weib allein sind, werden sie nicht daran denken, das Vaterunser zu beten. Anm. d. Uebers.
  5. Lateinisch: Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater. Anm. d. Uebers.

5. Die Mutter.

Ich glaube nicht, daß es in der Welt etwas Lieblicheres giebt, als die Gedanken, welche beim Anblicke eines kleinen Schuhes ihres Kindes im Herzen einer Mutter erwachen: vornehmlich wenn es ein Festtagsschuh, etwa für die Sonntage oder für die Taufe ist; ein Schuh, der bis unter die Sohle mit Stickereien bedeckt ist; ein Schuh, mit dem das Kind noch nicht einen Schritt gemacht hat. Dieser Schuh aber ist so reizend und klein, er kann so unmöglich seinen Marsch machen, daß es der Mutter so vorkommt, als ob sie ihr Kind sähe. Sie lacht ihn an, sie küßt ihn, sie spricht mit ihm; sie fragt sich, ob es in Wahrheit möglich ist, daß ein Fuß so klein sei und, wäre das Kind etwa abwesend, so bedarf es nur des kleinen Schuhes, um ihr das süße, zarte Geschöpf vor die Augen zu zaubern. Sie glaubt es zu sehen, sie sieht es, wie es leibt und lebt: munter, fröhlich, mit seinen zarten Händchen, seinem runden Kopfe, seinen reinen Lippen, seinen heitern Augen, in denen das Weiße blau schimmert. Ist es Winter, so ist es da; es kriecht auf dem Teppiche, es klettert mühsam aus eine Fußbank, und die Mutter zittert, daß es dem Feuer zu nahe kommt. Ist es Sommer, so schleicht es im Hofe, im Garten herum, zupft das Gras zwischen den Pflastersteinen heraus, betrachtet unbefangen die großen Hunde, die großen Pferde, ganz ohne Furcht; spielt mit den Muscheln, mit den Blumen, und bringt den Gärtner zum Schelten, wenn er Sand auf den Rabatten und Erde in den Wegen findet. Alles lacht, alles glänzt, alles spielt um es herum, wie es selbst thut, – sogar der Lufthauch und der Sonnenstrahl, die um die Wette in seinen närrischen Haarlocken spielen. Der Schuh zeigt alles das der Mutter und läßt ihr das Herz, wie Feuer eine Wachskugel, schmelzen.

Aber wenn das Kind abhanden gekommen ist, so werden diese tausend Bilder der Freude, des Entzückens, der Zärtlichkeit, die sich um den kleinen, gestickten Schuh zusammendrängen, zu ebenso viel entsetzlichen Dingen. Der reizende, gestickte Schuh ist dann nichts weiter, als ein Marterwerkzeug, das ewig das Herz der Mutter zermalmt. Es ist ja stets dieselbe Herzensfaser, welche zittert, die stärkste und empfindlichste Fiber; aber an Stelle eines Engels, der sie liebkost, ist es ein Teufel, welcher sie peinigt.

Eines Morgens, während die Maisonne an einem dieser tiefblauen Himmel emporstieg, wie ihn Garofolo liebt, um seine Kreuzabnahmen darauf zu malen, hörte die Büßerin im Rolandsthurme einen Lärm von Wagenrädern, Pferden und eisernen Gerätschaften auf dem Grèveplatze. Sie erwachte darüber kurze Zeit aus ihrer Betäubung, knotete ihre Haare über den Ohren zusammen, um sie gegen das Geräusch zu verschließen, und begann wieder den leblosen Gegenstand zu betrachten, den sie, nun seit fünfzehn Jahren auf den Knien liegend, anbetete. Dieser kleine Schuh war, wie wir schon gesagt haben, für sie die Welt. Ihr Denkvermögen war in ihm eingeschlossen und sollte erst mit dem Tode davon ablassen. Was sie an herben Verwünschungen, rührenden Klagen, Gebeten und Seufzern beim Anblicke dieses niedlichen, rothseidenen Schuhes zum Himmel emporgeschleudert, hatte die dunkle Höhle des Rolandsthurmes allein erfahren. Niemals waren mehr hoffnungslose Thränen um einen niedlichern und reizendern Gegenstand vergossen worden. An diesem Morgen jedoch schien ihr Schmerz noch heftiger, als gewöhnlich, hervorzubrechen, und man hörte von draußen mit lauter, einförmiger und herzzerreißender Stimme jammern.

»O meine Tochter,« sprach sie, »meine Tochter! mein armes, liebes, kleines Kind: ich soll dich also nicht mehr sehen! Es ist also vorbei! Immer scheint es mir, als ob es gestern geschehen sei! Mein Gott! mein Gott! um sie mir so schnell wieder zu entreißen, wäre es besser gewesen, du hättest sie mir gar nicht gegeben. Weißt du denn nicht, daß unsere Kinder mit unserem Leibe zusammenhängen, und daß eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, nicht mehr an Gott glaubt? … Ach! wie elend bin ich nun, daß ich an jenem Tage das Haus verließ! … Herr! Herr! weil du sie mir so entrissen hast, hast du mich niemals mit ihr gesehen, wenn ich sie ganz entzückt an meiner Glut belebte, wenn sie, an meiner Brust liegend, mich anlachte, wenn ich ihre kleinen Füße über meine Brust hin bis zu meinen Lippen hinaufsteigen ließ? Ach! wenn du das gesehen hättest, mein Gott, würdest du Mitleid mit meiner Freude gehabt haben; würdest mir nicht die einzige Liebe genommen haben, die mir im Herzen zurückblieb! War ich denn eine so elende Creatur, Herr, daß du mich nicht ansehen mochtest, ehe du mich verdammtest? … Wehe! wehe! da ist der Schuh; der Fuß dazu – wo ist er? Wo ist das Uebrige? Wo ist das Kind? Meine Tochter, meine Tochter! Was haben sie mit dir gemacht? Herr, gieb sie mir wieder! Meine Knien sind wund durch ein fünfzehnjähriges Gebet zu dir, mein Gott! Ist das noch nicht genug? Gieb sie mir wieder, für einen Tag, eine Stunde, eine Minute; für eine Minute, Herr! und dann wirf mich für die Ewigkeit dem Teufel hin! Ach! wenn ich wüßte, wo ein Saum deines Kleides schleppt, ich wollte mich mit meinen beiden Händen daranklammern, und du solltest mir wohl mein Kind wiedergeben! Hier ist ihr kleiner Schuh, – hast du damit kein Erbarmen, Herr? Kannst du eine arme Mutter zu dieser Marter fünfzehn Jahre lang verdammen? Süße Jungfrau! süße Jungfrau im Himmel droben! mein eigenes Jesuskind hat man mir genommen, hat man mir gestohlen, hat man auf einer Haide gefressen; man hat sein Blut getrunken, seine Gebeine zermalmt! Heilige Jungfrau, habe Erbarmen mit mir! Meine Tochter muß ich haben! Was hilft es mir denn, daß es im Paradiese ist? Ich will nichts von deinem Engel wissen, ich will mein Kind! Ich bin eine Löwin, ich will meine kleine Löwin haben … Ach, ich will mich auf der Erde wälzen, ich will den Stein mit meiner Stirn zerschmettern, will mich verdammen und will dich verfluchen, Herr! wenn du mir mein Kind vorenthältst! Du siehst ja, daß ich ganz zerfleischte Hände habe, Herr! Hat denn der liebe Gott kein Erbarmen? … Ach, gieb mir nur Salz und schwarzes Brot, im Falle ich meine Tochter bekomme, und ich mich an ihr, wie an einer Sonne, erwärmen kann! Ach! Gott mein Herr, ich bin nur eine gemeine Sünderin, aber meine Tochter machte mich fromm und gut. Ich war voll Frömmigkeit aus Liebe zu ihr; und durch ihr Lächeln, mein Gott, blickte ich zu dir, wie durch eine Oeffnung des Himmels … Ach! könnte ich nur einmal, noch einmal, ein einziges Mal diesen Schuh an ihr reizendes, rosiges Füßchen stecken, und ich will sterben, süße Jungfrau und dich segnen! … Ach! fünfzehn Jahre! Sie würde jetzt groß sein! … Unglückliches Kind! wie? es ist also doch wahr: ich soll sie nicht mehr wiedersehen, nicht einmal im Himmel! Denn, ich werde nicht dahin kommen, ich. O welches Elends zu sagen, daß das ihr Schuh ist, und sonst nichts weiter!«

Die Unglückliche hatte sich auf diesen Schuh, ihren Trost und ihre Verzweiflung so viele Jahre hindurch, niedergeworfen, und ihr Herz zerriß vor Jammer, wie am ersten Tage. Denn für eine Mutter, welche ihr Kind verloren hat, bleibt das immer der erste Tag. Dieser Schmerz bleibt ja immer neu. Die Trauergewänder können sich wohl abtragen und verbleichen, das Herz bleibt immer in Trauer.

In diesem Augenblicke zogen frische und fröhliche Kinderstimmen an der Zelle vorüber. Jedesmal, wenn Kinder ihr in die Augen fielen, oder deren Lärm ihr Ohr traf, stürzte die arme Mutter in den finstersten Winkel ihres Grabes, und man hätte behaupten mögen, daß sie ihr Haupt in die Mauer zu verstecken versuchte, um sie nur nicht zu hören. Diesmal richtete sie sich im Gegentheil plötzlich in die Höhe und horchte begierig. Einer der kleinen Knaben hatte eben gesagt:

»Heute wird man eine Zigeunerin hängen.«

Mit dem raschen Sprunge jener Spinne, die wir beim Zittern ihres Netzes sich auf eine Fliege haben stürzen sehen, eilte sie an ihre Luke, die, wie man weiß, auf den Grèveplatz hinausging. In der That war eine Leiter an dem ständigen Galgen aufgerichtet, und der Henker war damit beschäftigt, die vom Regen verrosteten Ketten wieder in Ordnung zu bringen. Ringsherum standen einige Leute als Zuschauer. Der muntere Kinderhaufen war schon in der Ferne. Die Nonne suchte mit den Augen nach einem Vorübergehenden, den sie befragen könnte. Sie wurde dicht neben ihrer Zelle, einen Priester gewahr, der sich anscheinend damit beschäftigte, in dem öffentlichen Gebetbuche zu lesen, der aber viel weniger mit dem »eisenvergitterten Andachtsbuche«, als mit dem Galgen beschäftigt war, auf den er von Zeit zu Zeit einen düstern und wilden Blick warf. Sie erkannte den Herrn Archidiaconus von Josas, einen heiligen Mann.

»Mein Vater,« fragte sie, »wen will man da hängen?«

Der Priester sah sie an und antwortete nicht; sie wiederholte ihre Frage. Da sagte er:

»Ich weiß es nicht.«

»Es waren Kinder hier, die da sagten, daß es eine Zigeunerin wäre,« fuhr die Büßerin fort.

»Ich glaube, es ist dem so,« sagte der Priester.

Da brach Paquette la Chantefleurie in ein Hyänenlachen aus.

»Meine Schwester,« sagte der Archidiaconus, »Ihr haßt also wohl die Zigeunerinnen?«

»Ob ich sie hasse!« rief die Büßerin aus; »es sind Hexen, Kinderräuberinnen! Sie haben meine kleine Tochter gefressen, mein Kind, mein einziges Kind! Ich habe kein Herz mehr, sie haben es mir aufgezehrt!«

Sie war schrecklich anzusehen. Der Priester betrachtete sie kaltblütig.

»Vor allem ist es eine von ihnen, die ich hasse, und die ich verflucht habe,« fuhr sie fort; »es ist eine junge, so alt, wie meine Tochter sein würde, wenn ihre Mutter mein Kind nicht gefressen hätte. Jedesmal, wenn diese junge Viper vor meiner Zelle vorbeigeht, bringt sie mir das Blut zum kochen.«

»Nun gut! meine Schwester, freuet Euch,« sagte der Priester eisig wie eine Grabbildsäule, »sie ist es, die Ihr sterben sehen sollt.«

Sein Kopf sank auf seine Brust nieder, und er entfernte sich langsam.

Die Büßerin rang sich die Arme vor Freude. »Ich habe es ihr prophezeit, daß sie da hinaufsteigen würde! Schönen Dank, Priester!« rief sie ihm nach.

Und nun begann sie in großen Schritten hinter den Gitterstäben ihrer Luke auf- und abzugehen, während ihr Haar flog, ihr Auge flammte und sie mit der Schulter an die Mauer stieß. Ihr fahles Antlitz aber hatte den Ausdruck einer Wölfin im Käfig angenommen, die seit langem hungert und merkt, daß die Stunde der Fütterung herankommt.

6. Drei verschieden gebildete Menschenherzen.

Phöbus indessen war nicht gestorben. Menschen dieses Schlages haben ein zähes Leben. Als Meister Philipp Lheulier, der peinliche Anwalt des Königs, zur armen Esmeralda gesagt hatte: »Er liegt im Sterben«, so war das aus Irrthum oder aus Scherz geschehen. Als der Archidiaconus der Verurtheilten wiederholt gesagt hatte: »Er ist todt«, so wußte er tatsächlich nichts davon, glaubte es aber, rechnete darauf, zweifelte nicht daran, hoffte es ganz gewiß. Es wäre für ihn doch gar zu hart gewesen, dem Weibe, welches er liebte, gute Nachrichten über seinen Nebenbuhler zu hinterbringen. Jeder Mann an seiner Stelle hätte ebenso gehandelt.

Nicht etwa, als ob die Verwundung des Phöbus nicht gefährlich gewesen wäre, aber sie war es nicht in dem Maße gewesen, wie der Archidiaconus sich schmeichelte. Der Heilkünstler, zu welchem die Soldaten der Wache ihn im ersten Augenblicke getragen, hatte acht Tage lang für sein Leben gefürchtet, und er hatte ihm das sogar auf Lateinisch gesagt. Gleichwohl hatte seine Jugend wieder die Oberhand gewonnen; und, was ungeachtet Vermuthungen und Krankheitszeichen häufig vorkommt: die Natur hatte sich gefallen, trotz des Arztes den Kranken zu retten. Während er noch auf dem Krankenbette beim Heilkünstler lag, hatte er sich dem Verhöre Philipp Lheuliers und der Untersuchungsrichter des geistlichen Gerichtes unterzogen, was ihn sehr gelangweilt hatte. Daher hatte er an einem schönen Morgen, als er sich besser fühlte, dem Pillendreher seine goldenen Sporen als Zahlung überlassen, und hatte sich davongemacht. Das hatte übrigens bei der Einleitung des Processes keine Störung verursacht. Die Gerechtigkeitspflege von damals beunruhigte sich sehr wenig über die Deutlichkeit und Reinlichkeit eines Criminalprocesses. Wenn der Angeklagte nur gehangen wurde, so war ihr das vollkommen genügend. Nun, die Richter hatten hinreichende Beweise gegen die Esmeralda. Sie hatten den Phöbus für todt gehalten, und damit war alles gesagt worden.

Phöbus seinerseits hatte keine große Flucht unternommen. Er war ganz einfach bei seiner Compagnie wieder eingetroffen, die zu Queue-en-Brie, in der Provinz Ile-de-France, einige Stationen von Paris, in Garnison lag.

Nach allem behagte es ihm ganz und gar nicht, in diesem Processe zu erscheinen. Er fühlte dunkel, daß er darin eine lächerliche Rolle spielen würde. Im Grunde wußte er nicht hinlänglich, was er über die ganze Angelegenheit denken sollte. Als Weltkind und abergläubischer Mensch, wie jeder Soldat, der nichts als Soldat ist, war er, wenn er sich über dieses Abenteuer befragte, nicht eins mit sich hinsichtlich der Ziege; ferner über die befremdliche Art, mit der er mit Esmeralden zusammengetroffen war; über die nicht minder sonderbare Weise, mit der sie ihm ihre Liebe hatte errathen lassen; über ihren Stand als Zigeunerin; endlich hinsichtlich des gespenstigen Mönches. Er sah in dieser Geschichte viel mehr Zauberei, als Liebe; aller Wahrscheinlichkeit nach eine Hexe; vielleicht den Teufel selbst; zuletzt eine Komödie, oder um die Sprache von damals zu reden, ein höchst unangenehmes Schauspiel, in dem er eine sehr unbeholfene Rolle, nämlich die des Geprügelten und Gefoppten, spielte. Der Hauptmann war darüber ganz beschämt; er fühlte die Art Scham, die der berühmte Fabeldichter La Fontaine so treffend gekennzeichnet hat:

»Beschämt ganz wie ein Fuchs, den ein Huhn hätt‘ überrascht.«

Er hoffte übrigens, daß die Angelegenheit nicht ruchbar werden würde; daß sein Name, bei seiner Abwesenheit, kaum dabei genannt werden, und in jedem Falle nicht über den Verhandlungssaal im Tournelle hinaus erschallen würde. In diesem Punkte täuschte er sich auch wirklich nicht; es gab damals überhaupt noch keine »Gerichtszeitungen«, und weil kaum eine Woche vorüberging, ohne daß in einem der zahllosen Criminalgerichte von Paris nicht ein Falschmünzer zum Lebendiggesottenwerden, oder eine Hexe zum Galgen, oder ein Ketzer zum Scheiterhaufen verurtheilt worden wäre, so war man dermaßen daran gewöhnt, zu sehen, wie die alte, feudale Themis 49 auf allen Kreuzwegen in nackten Armen und aufgestreiften Aermeln ihr Geschäft mit Gabeln, auf Leitern und an Prangern verrichte, daß man kaum noch Acht darauf gab. Die schöne Welt jener Zeit wußte kaum den Namen des armen Sünders, der an der Straßenecke vorüberging; und höchstens ergötzte sich der große Haufe an diesem krassen Schauspiele. Eine Hinrichtung war ein gewöhnlicher Vorfall auf dem öffentlichen Platze, gerade wie die Glutpfanne eines Pastetenbäckers oder das Schlachthaus eines Schinders. Der Henker war nichts weiter als eine Art Schlächter, nur ein bißchen bewanderter, als ein anderer.

Phöbus beruhigte seinen Geist also ziemlich bald über die Zauberin Esmeralda, oder Similar, wie er zu sagen pflegte; über den Dolchstich der Zigeunerin oder des gespenstigen Mönchs (es lag wenig daran), und über den Ausgang des Processes. Aber sobald als sein Herz nach dieser Seite hin frei war, kehrte das Bild von Fleur-de-Lys dahin zurück. Das Herz des Hauptmanns Phöbus hatte, wie die damalige Physik, Schrecken vor der Leere.

Uebrigens gab es keinen abgeschmackteren Aufenthaltsort, als Queue-en-Brie. Es war ein Dorf, von Hufschmieden und Kuhhirtinnen mit rauhen Händen bewohnt; eine lange Reihe kleiner Häuser und Strohhütten, welche die lange Landstraße von beiden Seiten eine halbe Meile hin einfassen, – mit einem Worte: am Weltende.

Fleur-de-Lys war seine vorletzte Liebe: ein hübsches Mädchen mit einer allerliebsten Mitgift; eines schönen Morgens also langte der verliebte Cavalier, nachdem er vollständig genesen war, und wohl vermuthen konnte, daß die Angelegenheit mit der Zigeunerin vorbei und vergessen sein dürfte, hoch zu Rosse vor der Thüre des Hauses Gondelaurier an. Er achtete nicht auf eine ziemlich zahlreich versammelte Menschenmenge, welche sich auf dem Platze des Vorhofes, vor dem Haupteingange von Notre-Dame, drängte; es fiel ihm ein, daß man im Monat Mai war; er vermuthete irgend einen festlichen Aufzug, eine Pfingstfeierlichkeit, ein Fest, band sein Pferd an den Pfortenring der Vorhalle und stieg wohlgemuth in die Wohnung seiner schönen Braut hinauf.

Sie war allein mit ihrer Mutter.

Fleur-de-Lys hatte immer noch die Scene mit der Hexe, ihre Ziege, ihr verwünschtes Alphabet und die lange Abwesenheit des Phöbus auf dem Herzen. Als sie daher ihren Hauptmann eintreten sah, fand sie ein so gutes Aussehen, einen so neuen Waffenrock, ein so glänzendes Wehrgehenk und ein so verliebtes Aussehen an ihm, daß sie vor Lust erröthete. Das edle Fräulein war gleichfalls liebreizender, denn jemals. Ihre prächtigen blonden Haare waren zum Entzücken geflochten, sie war ganz in jenes Himmelblau gekleidet, welches die Blondinen so gut kleidet: eine Koketterie, in die sie Colombe eingeweiht hatte; und ihr Auge schwamm in jener Liebessehnsucht, die ihnen noch besser steht.

Phöbus, welcher, was Schönheit anlangt, außer den plumpen Greten von Queue-en-Brie nichts gesehen hatte, war von Fleur-de-Lys berauscht, und das gab unserem Offiziere ein so dienstfertiges und liebenswürdiges Benehmen, daß sie sofort versöhnt war. Frau von Gondelaurier selbst, die immer, wie eine Mutter pflegt, in ihrem großen Lehnstuhle saß, hatte nicht die Kraft, mit ihm zu schmollen. Was Fleur-de-Lys‘ Vorwürfe betraf, so erstarben sie unter zärtlichen Liebkosungen. Das junge Mädchen saß am Fenster und stickte immer noch an ihrer Grotte des Neptun. Der Hauptmann hatte sich auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, und sie richtete mit halber Stimme ihre zärtlichen Vorwürfe an ihn.

»Was in aller Welt habt Ihr denn seit zwei langen Monaten angefangen, Ihr böser Mann?«

»Ich schwöre Euch,« antwortete Phöbus, der durch diese Frage ein wenig in Verlegenheit gerathen war, »daß Ihr schön seid, um einen Erzbischof in Schwärmerei zu versetzen.«

Sie konnte sich nicht enthalten, zu lächeln.

»Es ist gut, ist gut, mein Herr. Lasset das mit meiner Schönheit und antwortet mir. Das muß eine rechte Schönheit sein, wahrhaftig!«

»Nun gut! theure Base, ich bin nach meiner Garnison abberufen worden.«

»Und wo ist denn das, wenn ich fragen darf? Und warum seid Ihr nicht vorgesprochen, um Abschied zu nehmen?«

»In Queue-en-Brie.«

Phöbus war froh, daß die erste Frage ihm half, sich um die zweite herumzudrücken.

»Aber das ist ja ganz in der Nähe, Herr Hauptmann. Wie kommt das, daß Ihr mich nicht ein einziges Mal besucht habt?«

Jetzt wurde Phöbus ziemlich ernstlich verlegen.

»Weil … der Dienst … und außerdem, liebenswürdige Cousine, bin ich krank gewesen.«

»Krank!?« entgegnete sie erschrocken.

»Ja … verwundet.«

»Verwundet!?«

Das arme Kind war ganz außer Fassung gerathen.

»Oh! erschreckt deshalb nicht,« sagte Phöbus kalt, »es hat nichts auf sich. Ein Streit, ein Degenstich; doch, was kümmert das Euch?«

»Was mich das kümmert?« rief Fleur-de-Lys, während sie ihre schönen Augen thränengefüllt aufschlug. »Ach! Ihr sagt mir nicht, was Ihr damit beabsichtigt, wenn Ihr so sprecht. Was hat das mit diesem Degenstiche für eine Bewandtnis? Ich will alles wissen.«

»Nun gut! theure Schöne, ich habe Streit mit Mahé Fédy gehabt, Ihr wißt ja? dem Lieutenant aus Saint-Germain-en-Laye; wir haben uns jeder ein wenig die Haut zerfetzt. Das ist alles.«

Der verlegene Hauptmann wußte nur zu wohl, daß eine Ehrensache den Mann stets in den Augen einer Frau an Achtung gewinnen läßt. In Wahrheit sah ihm Fleur-de-Lys, vor Scheu, Vergnügen und Bewunderung ganz erregt, ins Gesicht. Sie war indessen noch nicht vollkommen wieder beruhigt.

»Wenn Ihr nur vollkommen wieder hergestellt seid, mein Phöbus!« sagte sie. »Ich kenne Euren Mahé Fédy nicht, aber er ist ein abscheulicher Mensch. Und woher kam denn dieser Streit?«

Hier begann Phöbus, dessen Einbildungskraft nur sehr mittelmäßig im Erfinden war, nicht mehr zu wissen, wie er sich aus seiner Heldenthat herausziehen sollte.

»Ach! was weiß ich? … ein Nichts, ein Pferd, ein übereiltes Wort! … Schöne Base,« rief er, um den Gesprächsstoff zu wechseln, »was bedeutet denn der Lärm da auf dem Vorhofe?«

Er näherte sich dem Fenster.

»Ach! mein Gott, schöne Base, sehet einmal die große Menge Volks auf dem Platze!«

»Ich weiß nicht,« sagte Fleur-de-Lys; »es scheint, daß es sich um eine Hexe handelt, die heute morgen vor der Kirche öffentlich Buße thut und nachher gehangen werden soll.«

Der Hauptmann glaubte die Angelegenheit mit der Esmeralda so völlig abgethan, daß er durch die Worte Fleur-de-Lys‘ nur ganz wenig in Bewegung gerieth. Er that indeß noch eine oder die andere Frage.

»Wie heißt diese Hexe?«

»Ich weiß nicht,« antwortete sie.

»Und was sagt man, daß sie begangen hat?«

Sie zuckte noch einmal ihre weißen Schultern.

»Ich weiß nicht.«

»Oh, mein lieber Herr Jesus!« sagte die Mutter, »es giebt jetzt so viele Hexen, daß man sie verbrennt, glaube ich, ohne ihre Namen zu wissen. Es würde sich ebenso verlohnen, als ob man den Namen jeder Wolke am Himmel wissen wollte. Ueberhaupt kann man ruhig sein. Der liebe Gott führt sein Register.« Hier erhob sich die ehrenwerthe Dame und trat ans Fenster. »Herr des Himmels!« sagte sie, »Ihr habt recht, Phöbus. Das ist ein großer Haufen Volks. Einige von ihnen, Gott sei gepriesen! stehen sogar auf den Dächern … Wißt Ihr, Phöbus? das erinnert mich an meine Jugend; an den Einzug Karls des Siebenten, wo auch so viel Menschen auf den Straßen waren … Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahre. Wenn ich mit Euch davon spreche, nicht wahr? so macht das auf Euch den Eindruck von etwas Altem, auf mich aber den von etwas Jugendlichem … Oh! das war ein weit hübscheres Volk, als das jetzige. Es standen sogar einige von ihnen auf den Vertheidigungserkern des Thores Saint-Antoine. Der König hatte die Königin hinter sich auf dem Pferde, und nach Ihren Hoheiten kamen alle Damen, die gleichfalls hinter ihren Herren auf den Pferden saßen. Ich erinnere mich, daß man gewaltig lachte, als neben Amanyon von Garlande, der ein Mann von sehr kurzer Statur war, der Herr von Matefelon, ein Ritter von riesenhafter Erscheinung, ritt, welcher die Engländer haufenweise getödtet hatte. Das war sehr schön. Ein Zug aller Edelleute von Frankreich mit ihren Oriflammen, 50 welche in die Augen leuchteten, folgte. Es waren einige mit dem Fähnlein und andere mit dem Banner dabei. Was weiß ich? der Herr von Calan mit dem Fähnlein, Johann von Châteaumorant mit dem Banner, der Herr von Coucy mit dem Banner, und dieser reicher gekleidet, als irgend einer der andern, mit Ausnahme des Herzogs von Bourbon … Ach! was ist es doch für ein traurig Ding, denken zu müssen, daß alles das dagewesen und nichts mehr davon vorhanden ist!«

Die beiden Liebesleute hörten nicht auf die ehrwürdige Witwe hin. Phöbus war zurückgetreten und hatte sich wieder auf die Lehne des Stuhles seiner Braut gestützt, und hier einen reizenden Platz gefunden, von wo aus sein frivoles Auge sich in alle Oeffnungen von Fleur-de-Lys‘ Busentuch versenken konnte. Dieses Halstuch öffnete sich gerade so recht und zeigte ihm so köstliche Dinge, ließ ihm auch so viele andere errathen, daß Phöbus von dieser sammetweichen Haut ganz geblendet, zu sich sprach: »Wie kann man etwas anderes, als eine Hellfarbige lieben?« Alle beide verharrten in Schweigen. Das junge Mädchen richtete von Zeit zu Zeit entzückte und sanfte Blicke auf ihn, und in ihre Haare mischte sich ein Strahl der Frühlingssonne.

»Phöbus,« sagte Fleur-de-Lys plötzlich mit leiser Stimme, »wir sollen uns in einem Vierteljahre heirathen; schwört mir, daß Ihr niemals ein anderes Weib geliebt, als mich.«

»Ich schwöre es Euch, schöner Engel!« antwortete Phöbus, und sein leidenschaftlicher Blick verband sich, um Fleur-de-Lys zu überzeugen, mit dem aufrichtigen Tone seiner Stimme. Er glaubte in diesem Augenblicke vielleicht an seine eigenen Worte.

Währenddem hatte die gute Mutter, erfreut, die Verlobten in so vollkommenem Einverständnisse zu sehen, das Zimmer eben verlassen, um einige häusliche Kleinigkeiten zu besorgen. Phöbus merkte das, und diese Einsamkeit machte den unternehmenden Hauptmann so kühn, daß ihm sehr seltsame Gedanken in den Kopf stiegen. Fleur-de-Lys liebte ihn; er war ihr Verlobter; sie war allein mit ihm; seine alte Neigung für sie war nicht nur in ihrer ganzen Frische, sondern auch in all ihrer Glut wieder erwacht; nach alledem war es ja kein großes Verbrechen, sein Getreide ein wenig grün zu verspeisen; ich weiß nicht, ob diese Gedanken ihm durch den Kopf gingen; aber so viel ist gewiß, daß Fleur-de-Lys auf einmal über den Ausdruck seines Blickes erschrocken war. Sie sah um sich und erblickte ihre Mutter nicht mehr.

»Mein Gott!« sagte sie erröthend und unruhig, »mir ist sehr heiß!«

»Ich glaube in der That,« antwortete Phöbus, »daß es nicht weit vom Mittag ist. Die Sonne wird lästig. Es bleibt nichts übrig, als die Vorhänge zu schließen.«

»Nein, nein,« rief die arme Kleine, »im Gegentheil habe ich frische Luft nöthig.«

Und wie eine Hindin, die das Schnauben der Meute merkt, erhob sie sich, lief zum Fenster, öffnete es und eilte auf den Balkon.

Phöbus, dem das ziemlich ärgerlich war, folgte ihr.

Der Platz des Vorhofes von Notre-Dame, nach welchem, wie man weiß, der Balkon hinausging, bot in diesem Augenblicke ein unheimliches und sonderbares Schauspiel dar, welches bei der furchtsamen Fleur-de-Lys rasch die Natur des Schreckens ändern ließ.

Eine ungeheure Menge, die in allen angrenzenden Straßen hin- und herwogte, bedeckte den eigentlich sogenannten Platz. Die kleine Mauer in Brusthöhe, welche den Vorhof umgab, würde nicht genügt haben, ihn frei zu halten, wenn sie nicht verdoppelt worden wäre von einer dichten Reihe von Polizeidienern der Einunddreißiger und der Büchsenschützen mit der Feldbüchse in der Faust. Dank diesem Verhaue von Piken und Arkebusen war der Vorhof leer. Der Zugang dazu wurde durch einen Haufen Hellebardiere in den Farben des Bischofs bewacht. Die großen Thüren der Kirche waren geschlossen, was im Gegensatze zu den zahllosen Fenstern des Platzes stand, welche, bis zu den Giebeln hinauf geöffnet, tausende von Köpfen zeigten, die ohngefähr wie Kugelhaufen in einem Artillerieparke übereinander geschichtet waren.

Das Aeußere dieses Menschenhaufens war grau, schmutzig und abschreckend. Das Schauspiel, welches er erwartete, gehörte offenbar zu denjenigen, die das Vorrecht haben, alles was an unreinen Elementen in der Bevölkerung vorhanden ist, herbeizuziehen und anzulocken. Nichts war abscheulicher, als der Lärm, der aus dem Gewoge dieser gelben Kappen und schmutzigen Kopfhaare sich erhob. In diesem Gedränge vernahm man mehr Gelächter als Geschrei, mehr Weiber als Männer.

Von Zeit zu Zeit drang eine scharfe und zitternde Stimme durch das allgemeine Geräusch.

*

»Heda! Mahiet Baliffre! Will man sie denn da hängen?«

»Einfaltspinsel! hier muß sie Kirchenbuße im Hemde thun! Der liebe Gott will ihr hier Latein ins Gesicht husten. Das geschieht hier immer, am Mittage. Wenn du den Galgen sehen willst, schere dich zum Grèveplatze.«

»Ich will nachher hingehen.«

*

»Sagt mir doch, La-Boucambry, ist es wahr, daß sie einen Beichtvater ausgeschlagen hat?«

»Wahrscheinlich ja, La-Bechaigne.«

»Seht Ihr, die Heidin?!«

*

»Herr, das ist Herkommen so. Der Amtmann des Justizpalastes ist verpflichtet, den völlig abgeurteilten Missethäter zur Hinrichtung an den Oberrichter beim Châtelet auszuliefern, wenn jener ein Laie ist; ist es ein Geistlicher, an den Gerichtsbeamten des Bischofssitzes.«

»Ich danke Euch, Herr.«

*

»Ach, mein Gott!« sagte Fleur-de-Lys, »das arme Geschöpf!«

Dieser Gedanke erfüllte den Blick, den sie über die Volksmasse schweifen ließ, mit Schmerz. Der Hauptmann, der viel zu sehr mit ihr, als mit jenem Volkshaufen beschäftigt war, zerrte von hinten an ihrem Gürtel. Sie wandte sich mit einem bittenden und lächelnden Blicke um.

»Ich bitte Euch, laßt mich, Phöbus! Wenn meine Mutter zurückkäme, würde sie Eure Hand erblicken!«

In diesem Augenblicke schlug es langsam zwölf an der Uhr von Notre-Dame. Ein freudiges Gemurmel lief durch die Menge. Das letzte Zittern des zwölften Schlages war kaum verklungen, als alle Köpfe wie die Wogen von einem Windstoße in Bewegung geriethen, und ein ungeheures Geschrei von der Straße, aus den Fenstern und von den Dächern sich erhob:

»Da ist sie!«

Fleur-de-Lys hielt, um nicht zu sehen, ihre beiden Hände vor die Augen.

»Meine Süße,« sagte Phöbus, »wollt Ihr wieder hereintreten?«

»Nein,« antwortete sie; und dieselben Augen, welche sie eben aus Furcht geschlossen hatte, öffnete sie wieder aus Neugierde.

Ein Karren, der von einem schweren, normannischen Gabelpferde gezogen und ganz von Reiterei in violetten Uniformen mit weißen Kreuzen umringt war, rollte soeben durch die Straße Saint-Pierre-aux-Boeufs auf den Platz. Die Diener der Wache machten ihm mit mächtigen Ruthenhieben unter dem Volkshaufen Platz. Neben dem Karren ritten einige Gerichts- und Polizeibeamte, die an ihrer schwarzen Tracht und an der linkischen Weise, mit der sie sich im Sattel hielten, kenntlich waren. Meister Jacob Charmolue stolzirte an ihrer Spitze einher. Auf dem verhängnisvollen Wagen saß ein junges Mädchen mit auf den Rücken gebundenen Händen, ohne einen Geistlichen an ihrer Seite. Sie war im Hemde; ihre langen schwarzen Haare (es war damals Gebrauch, sie erst am Fuße des Galgens abzuschneiden) fielen aufgelöst über ihre Brust und die halbentblößten Schultern herab.

Quer durch diesen wallenden Haarschmuck, der mehr als das Gefieder eines Raben glänzte, sah man einen dicken grauen und knotigen Strick sich drehen und winden, der ihre zarten Schulterknochen wund rieb, und sich um den reizenden Hals des armen Mädchens, wie ein Regenwurm um eine Blume, schlang. Unter diesem Stricke glänzte ein kleines, mit grünen Glasperlen verziertes Amulet, das ihr ohne Zweifel deshalb gelassen worden war, weil man denen, die zum Tode gehen, nichts mehr zu verweigern pflegt. Die Zuschauer, welche an den Fenstern standen, konnten auf dem Boden des Karrens ihre nackten Füße sehen, die sie, wie mit einem letzten weiblichen Instinkte, unter sich zu verbergen trachtete. Zu ihren Füßen lag eine kleine Ziege, die geknebelt war. Die Verurtheilte hielt mit ihren Zähnen das schlecht anschließende Hemd fest. Man hätte glauben sollen, daß sie in ihrem Unglücke sich noch darüber am unglücklichsten fühlte, daß sie fast nackt den Blicken aller preisgegeben war. Ach! für solche schaudervolle Lagen ist das Schamgefühl nicht geschaffen.

»Jesus!« sagte Fleur-de-Lys erregt zum Hauptmanne. »Sehet doch her, schöner Vetter, es ist die abscheuliche Zigeunerin mit der Ziege.«

Bei diesen Worten wandte sie sich nach Phöbus um. Dieser hatte die Augen starr auf den Karren gerichtet. Er war sehr blaß.

»Welche Zigeunerin mit der Ziege?« fragte er stotternd.

»Wie?« fuhr Fleur-de-Lys fort; »Ihr solltet Euch nicht mehr erinnern? …«

Phöbus unterbrach sie.

»Ich weiß nicht, was Ihr damit sagen wollt.«

Er machte einen Schritt, um ins Zimmer zurückzugehen; aber Fleur-de-Lys, deren unlängst von dieser Zigeunerin so heftig erregte Eifersucht eben wieder erwacht war, – Fleur-de-Lys warf ihm einen durchdringenden Blick voll Mißtrauen zu. Sie erinnerte sich in diesem Augenblicke dunkel, von einem Hauptmanne sprechen gehört zu haben, der in den Proceß dieser Hexe hineingezogen worden.

»Was habt Ihr?« sagte sie zu Phöbus; »man sollte glauben, daß Euch dieses Weib in Verwirrung gebracht habe.«

Phöbus zwang sich zu einem Hohngelächter.

»Mich? Nicht im geringsten! Ah! ganz gewiß!«

»Dann bleibt hier bei mir,« versetzte sie befehlerisch, »wir wollen bis zum Ende zusehen.«

Der Unglücksvogel von Hauptmann mußte wohl bleiben. Was ihn ein wenig beruhigte, war der Umstand, daß die Verurtheilte ihren Blick nicht vom Boden ihres Karrens erhob. Es war die Esmeralda – leider nur zu gewiß! Auf dieser letzten Stufe der Schande und des Unglücks war sie noch immer schön; ihre großen schwarzen Augen erschienen bei der Abmagerung ihrer Wangen noch größer; ihr bleiches Antlitz war rein und erhaben. Sie glich dem, was sie früher gewesen war, wie eine heilige Jungfrau Masaccio’s einer Jungfrau Raphaels gleicht: sie war schwächer, feiner, magerer geworden.

Uebrigens war nichts in ihrem Wesen, das nicht, so zu sagen, gewankt hätte, und das sie, mit Ausnahme ihrer Schamhaftigkeit, nicht dem Zufalle überlassen hätte: so vollständig war sie von Betäubung und durch Verzweiflung geknickt. Ihr Leib schlotterte bei allen Stößen des Karrens wie etwas Todtes oder Zerrissenes; ihr Blick war trüb und irrsinnig. Man sah in ihrem Auge noch eine Thräne, aber sie war unbeweglich und gleichsam wie gefroren.

Unterdessen war der fürchterliche Zug unter Freudenschreien und neugierigem Zusammendrängen der Menge durch dieselbe hindurchgelangt. Als wahrheitliebender Erzähler müssen wir gleichwohl berichten, daß viele, sogar von den Hartherzigsten, als sie sie so schön und niedergeschmettert sahen, vom Mitleide bewegt wurden. Der Karren war in den Vorhof hineingefahren. – Vor dem mittleren Portale hielt er an. Die Bedeckung stellte sich zu beiden Seiten in Schlachtordnung auf. Die Menge wurde todtenstill, und mitten in dieser Stille voll Feierlichkeit und Bangigkeit öffneten sich die beiden Flügel des großen Thores wie von allein in ihren knarrenden Angeln mit einem gellenden Geräusche. Da sah man, ihrer ganzen Länge nach, die tiefe, düstre Kirche, schwarz ausgeschlagen, kaum von einigen Kerzen erleuchtet, die auf dem Hauptaltare in der Ferne flimmerten, weit geöffnet wie einen Grabesschlund inmitten des lichtschimmernden Platzes. Ganz im Hintergrunde, im Dunkel des Chores, erblickte man ein gigantisches silbernes Kreuz, welches auf einem schwarzen Tuche, das von der Wölbung auf den Boden herabfiel, sich in die Höhe streckte. Das ganze Schiff war öde. Nur in den weit hinten gelegenen Chorstühlen sah man undeutlich einige Priesterköpfe sich bewegen, und im Augenblicke, wo das große Thor sich öffnete, entquoll der Kirche ein ernster, lauter und eintöniger Gesang, der gleichsam stoßweise über das Haupt der Verurtheilten Bruchstücke von Trauerpsalmen ausgoß:

» … Non timebo millia populi circumdatis me: exsurge Domine; salvum me fac, Deus!«

» … Salvum me fac,Deus, quoniam intraverunt aquae usque ad animam meam.«

» … Infixus sum in limo profundi; et non est substantia.« 51

Zu gleicher Zeit stimmte eine andere, vom Chore gesonderte Stimme auf der Stufe des Hochaltars das schwermüthige Offertorium an:

»… Qui verbun meum audit, et credit ei, qui misit me,
habet vitam aeternam et in judicium non venit, sed transit a morte in vitam.«
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Dieser Gesang, den einige in der Dunkelheit verlorene Greise aus der Ferne über dieses schöne, von Jugend und Lebenslust erfüllte, von der warmen Frühlingslust umkoste, und von Sonnenschein überstrahlte Wesen ertönen ließen, war die Todtenmesse.

Das Volk hörte andächtig zu.

Die Unglückselige, die alle Fassung verloren hatte, schien ihren Blick und ihr Bewußtsein in die dunkele Tiefe der Kirche zu versenken. Ihre bleichen Lippen bewegten sich, als ob sie beteten; und als der Henkersknecht sich ihr näherte, um ihr beim Herabsteigen vom Karren behilflich zu sein, hörte er, wie sie mit leiser Stimme das Wort »Phöbus« wiederholte. Man band ihr die Hände los, ließ sie in Begleitung ihrer Ziege, die gleichfalls ihrer Fesseln entledigt war, und die vor Freude, sich frei zu fühlen, blökte, herabsteigen, und ließ sie dann barfuß über das holprige Pflaster bis zur untersten Stufe des Portales hingehen. Der Strick, welchen sie um den Hals trug, schleifte hinter ihr her. Man hätte ihn mit einer Schlange vergleichen können, die sie verfolgte.

Da brach der Gesang in der Kirche ab. Ein großes goldenes Kreuz und eine Reihe Kerzen setzten sich im dunkeln Hintergrunde des Schiffes in Bewegung. Man hörte die Hellebarden der buntgekleideten Domwächter erklirren; und einige Augenblicke darauf schritt ein langer Zug von Priestern in Meßgewändern und Diaconen in ihren Dalmatiken langsam und psalmodirend auf die Verurtheilte los, und stellte sich vor ihrem Gesichte und den Blicken der Volksmenge im Halbkreise auf. Aber ihr Auge hing an demjenigen, der an der Spitze des Zuges, unmittelbar hinter dem Kreuzträger, einherschritt. »Oh!« sagte sie ganz leise und schaudernd, »das ist er wieder! der Priester!«

Es war in der That der Archidiaconus. Zu seiner Linken hatte er den Unterkantor, zu seiner Rechten den Kantor, der mit seinem Amtsstabe ausgerüstet war. Den Kopf nach hinten gerichtet, die Augen starr und weit offen, schritt er vorwärts, während er mit lauter Stimme sang:

» De ventre inferi clamavi, et exaudisti vocem meam.«
»Et projecisti me in profundum in corde maris, et flumen circumdedit me.
« 53

Im Augenblicke, wo er im hellen Tageslichte unter dem gothischen Portale, eingehüllt in einen weiten Chorrock aus Silberstoff, erschien, wurde er so blaß, daß mehr als einer aus der Volksmenge dachte, es wäre einer der marmornen Bischöfe, welche auf den Grabsteinen des Chores auf den Knien liegen, der sich erhoben hätte, um diejenige an der Schwelle des Grabes zu empfangen, die zum Tode gehen sollte. Sie, die ebenso blaß war und ebenso sehr einer Bildsäule glich, sie hatte kaum gemerkt, daß man ihr eine schwere, gelbe, brennende Wachskerze in die Hand gesteckt; hatte die kreischende Stimme des Gerichtsschreibers nicht gehört, der ihr den verhängnisvollen Inhalt der Kirchenbuße vorlas; als ihr geheißen worden war, »Amen« zu sagen, hatte sie »Amen« geantwortet. Um ihr etwas Leben und Kraft wiederzugeben, mußte sie erst sehen, wie der Priester ihren Wächtern ein Zeichen gab, sich zu entfernen, und wie er allein an sie herantrat.

Da fühlte sie, wie das Blut in ihrem Haupte kochte, und wie ein letzter Rest von Empörung in ihrem schon erstarrten und todten Herzen aufflammte.

Der Archidiaconus näherte sich ihr langsamen Schrittes; sie sah, wie selbst im letzten Augenblicke sein von Wollust, Eifersucht und Verlangen funkelndes Auge über ihren nackten Leib hinglitt. Dann sprach er mit lauter Stimme zu ihr: »Junges Mädchen, habt Ihr Gott um Vergebung Eurer Fehler und Vergehen gebeten?« – Er neigte sich zu ihrem Ohre hin und fuhr fort (die Zuschauer glaubten, daß er ihre letzte Beichte empfinge): »Willst du mich? Ich vermag dich noch zu retten!«

Sie sah ihn starr an: »Hebe dich weg, Satan, oder ich zeige dich an.«

Er begann ein fürchterliches Lachen auszustoßen. »Man wird dir keinen Glauben schenken … Du wirst nichts erreichen, als zum Verbrechen eine Beschimpfung hinzuzufügen … Antworte schnell! Willst du mich?«

»Was hast du mit meinem Phöbus gemacht?«

»Er ist todt!« sagte der Priester.

In diesem Augenblicke richtete der nichtswürdige Archidiaconus unwillkürlich seinen Kopf in die Höhe und sah am andern Ende des Platzes, auf dem Balkone des Hauses Gondelaurier, den Hauptmann neben Fleur-de-Lys stehen. Er wankte, fuhr mit der Hand über die Augen, sah noch einmal hin, murmelte einen Fluch, und alle Züge seines Gesichtes zogen sich krampfhaft zusammen.

»Wohlan denn! stirb du!« sprach er durch die Zähne.

»Niemand soll dich besitzen.« Dann hob er die Hand über die Zigeunerin und rief mit einer Grabesstimme: » I nunc, anima anceps et sit tibi Deus misericors54

Das war die furchtbare Formel, mit der man diese düstren Ceremonien zu beschließen pflegte. Es war das Zeichen, mit dem der Priester sich an den Henker wandte.

Das Volk warf sich auf die Knien.

» Kyrie Eleison55 sprachen die Priester, die unter der Wölbung des Portales stehen geblieben waren.

» Kyrie Eleison,« wiederholte die Menge mit einem Gemurmel, das wie das Rauschen eines bewegten Meeres über die Köpfe hinlief.

»Amen!« sagte der Archidiaconus.

Er kehrte der Verurtheilten den Rücken zu, sein Kopf sank wieder auf die Brust herab, seine Hände legten sich kreuzweise ineinander; er vereinigte sich wieder mit dem Zuge der Priester, und einen Augenblick nachher sah man ihn mit dem Kreuze, den Kerzen und den Chorröcken unter den dunkeln Bogenwölbungen der Kathedrale verschwinden; seine klangvolle Stimme aber erstarb allmählich im Chore, welcher die hoffnungslose Liedstrophe anstimmte:

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Zu gleicher Zeit verursachte der zeitweilige Klang der eisenbeschlagenen Hellebardenschäfte der Domwächter, der nach und nach unter den Zwischensäulen des Schiffes erstarb, die Wirkung eines Uhrhammers, welcher die letzte Stunde der zum Tode Verurtheilten schlug.

Unterdessen waren die Thüren von Notre-Dame offen geblieben, so daß man die leere, einsame Kirche im Trauergewande ohne Kerzenglanz und Menschenstimmen erblicken konnte.

Die Verurtheilte verharrte unbeweglich, und in der Erwartung, was man über sie beschließen würde, an ihrem Platze. Einer der stabtragenden Gerichtsdiener mußte Meister Charmolue davon benachrichtigen, der während dieser Scene sich damit beschäftigt hatte, das Basrelief des Hauptportales zu studiren, das, nach dem Urtheile einiger das Opfer Abrahams, nach dem anderer das Verfahren, den Stein der Weisen zu suchen, darstellt, indem die Sonne durch den Engel, das Feuer durch das Reisigbund, der Alchymist durch Abraham repräsentirt werden.

Es kostete ziemliche Mühe, ihn von dieser Betrachtung loszureißen; aber endlich wandte er sich um; und auf ein Zeichen, das er gab, näherten sich zwei in Gelb gekleidete Männer, die Knechte des Henkers, der Zigeunerin, um ihr wieder die Hände zu binden.

Die Unglückliche wurde im Augenblicke, wo sie den verhängnisvollen Wagen wieder besteigen und sich nach ihrem letzten Aufenthaltsorte auf den Weg begeben sollte, vielleicht vom herzzerreißendsten Schmerze ihres Lebens gepackt. Sie richtete ihre gerötheten und trocknen Augen zum Himmel, zur Sonne, zu den Silberwolken empor, die hier und da von tiefblauen Dreiecken und Trapezen zertheilt waren; dann schlug sie sie nieder, blickte um sich, zur Erde, auf die Menge, nach den Häusern hinüber … Plötzlich, während ihr der gelbe Mann die Ellbogen zusammenband, stieß sie einen furchtbaren Schrei, einen Freudenschrei, aus. Auf diesem Balkone, da unten, im Winkel des Platzes, hatte sie ihn, ihn, ihren Freund, ihren Herrn, Phöbus, den zweiten Anfang ihres Lebens, bemerkt! Der Richter hatte gelogen! Der Priester hatte gelogen! Das war er wohl, sie konnte nicht daran zweifeln; da stand er, schön, lebhaft, in seine schimmernde Uniform gekleidet, den Federbusch auf dem Kopfe, den Degen an der Seite.

»Phöbus!« rief sie, »mein Phöbus!« Und sie wollte ihre vor Liebe und Wonne bebenden Arme nach ihm ausstrecken, aber sie waren gefesselt.

Da sah sie, wie der Hauptmann die Augenbrauen runzelte, wie ein schönes junges Mädchen, das sich an ihn lehnte, ihn mit höhnischem Munde und gereizten Blicken anschaute; wie dann Phöbus einige Worte sprach, die nicht bis zu ihr drangen, und wie alle beide plötzlich hinter dem Fenster des Balkones verschwanden, und dasselbe geschlossen wurde.

»Phöbus!« rief sie ganz außer sich, »hältst du es für wahr? …

Ein furchtbarer Gedanke war eben in ihr wach geworden. Sie erinnerte sich, daß sie wegen Meuchelmordes an der Person des Phöbus von Châteaupers war verurtheilt worden.

Bis hierher hatte sie alles erduldet. Aber dieser letzte Schlag war zu furchtbar. Sie fiel leblos auf das Pflaster nieder.

»Wohlan denn!« sagte Charmolue, »traget sie in den Karren, und laßt uns ein Ende machen!« – –

Niemand hatte bis dahin in der Galerie der Königsstatuen, welche unmittelbar über den Wölbungen des Portales ausgehauen ist, einen seltsamen Zuschauer bemerkt, der bisher alles mit einer solchen Gefühllosigkeit, einem so vorgereckten Halse, einem so mißgestalteten Gesicht beobachtet hatte, daß man, ohne seine halb rothe und halb violette Kleidung, ihn für eines jener steinernen Ungeheuer hätte halten können, durch deren Rachen die langen Dachrinnen der Kathedrale seit sechshundert Jahren ihr Wasser ergießen. Dieser Zuschauer hatte nichts von alledem aus dem Auge gelassen, was seit Mittag vor dem Portale von Notre-Dame sich ereignet hatte. Und gleich in den ersten Augenblicken hatte er, ohne daß jemand daran dachte, ihn zu beobachten, an eine der Säulchen der Galerie ein dickes, mit Knoten versehenes Seil festgebunden, dessen Ende unten auf der Vortreppe schleifte. Nachdem das gethan war, hatte er begonnen, ruhig zuzusehen, und manchmal zu pfeifen, wenn eine Amsel vor ihm vorbeiflog. Plötzlich in dem Augenblicke, wo die Knechte des Henkers sich anschickten, den phlegmatischen Befehl Charmolue’s auszuführen, schwang er sich auf das Geländer der Galerie, faßte das Seil mit den Füßen, den Knien und den Händen; dann sah man, wie er, gleich einem Regentropfen, der an einer Fensterscheibe herabrollt, an der Façade hinunterglitt, mit der Schnelligkeit einer Katze, die vom Dache gefallen ist, auf die Henker zulief, sie mit zwei mächtigen Fausthieben zu Boden warf, die Zigeunerin mit einer Hand, wie ein Kind seine Puppe, aufraffte, und mit einem einzigen Satze bis in die Kirche hineinsprang, wobei er das junge Mädchen über seinen Kopf hob und mit fürchterlicher Stimme schrie: »Asyl!«

Das geschah mit einer solchen Schnelligkeit, daß, wenn es Nacht gewesen wäre, man alles bei dem Scheine eines einzigen Blitzes hätte sehen können.

»Asyl! Asyl!« wiederholte der Volkshaufen, und das Klatschen von zehntausend Händen ließ das einzige Auge Quasimodo’s vor Freude und Stolz funkeln.

Diese Erschütterung bewirkte, daß die Verurtheilte wieder zu sich kam. Sie schlug ihre Augenlider auf, sah Quasimodo an, dann schloß sie sie wieder, als ob sie vor ihrem Erretter erschrocken wäre.

Charmolue stand betäubt da, ebenso die Henker und die ganze Bedeckung. In der That war die Verurtheilte im Bereiche von Notre-Dame unverletzlich. Die Kathedrale war ein Zufluchtsort. Jede menschliche Gerichtsbarkeit hörte jenseit ihrer Schwelle auf.

Quasimodo war unter dem großen Portale stehen geblieben. Seine mächtigen Füße erschienen auf dem steinernen Boden der Kirche gerade so dauerhaft, wie die schweren romanischen Pfeiler. Sein dicker, haariger Kopf verschwand zwischen seinen Schultern wie derjenige der Löwen, die auch eine Mähne und keinen Hals haben. Er hielt das junge, über und über zitternde Mädchen schwebend zwischen seinen schwieligen Händen wie ein weißes Gewand; aber er trug sie mit so viel Vorsicht, daß es schien, als ob er sie zu zerbrechen oder ihr zu schaden fürchtete. Man hätte meinen sollen, daß er fühlte, sie wäre ein zartes, kostbares und köstliches Etwas, das für andere Hände, als die seinigen, geschaffen sei. Auf Augenblicke machte er den Eindruck, als ob er sie nicht zu berühren wage, selbst nicht mit dem Athem. Dann plötzlich drückte er sie mit Inbrunst in seine Arme, an seine eckige Brust, wie sein Gut, wie seinen Schatz, wie es die Mutter mit diesem Kinde gethan haben würde. Sein Gnomenauge, das sich auf sie senkte, überströmte sie mit Zärtlichkeit, mit Schmerz und mit Mitleid, und hob sich dann plötzlich voll funkelnden Glanzes. Da lachten und weinten die Frauen, die Menge rannte vor Begeisterung hin und her; denn in diesem Augenblicke besaß Quasimodo in Wahrheit auch seine eigenartige Schönheit. Er war wirklich schön: diese Waise, dieses Findelkind, dieser Ausgestoßene; er fühlte sich erhaben und stark, er sah dieser Gesellschaft, aus der er verbannt worden war, und in der er sich so mächtig ins Mittel schlug, ins Gesicht: dieser menschlichen Gerechtigkeit, der er ihre Beute entrissen hatte, allen diesen Tigern, die mit leeren Backen kauen mußten, diesen Bütteln, diesen Richtern, diesen Henkern, dieser ganzen königlichen Gewalt, die er, der Niedrigste, eben mit der Kraft Gottes gebrochen hatte, bot er Trotz.

Und überdies war es etwas Rührendes, daß dieser Beistand eines so mißgestalteten Wesens auf ein so unglückseliges gefallen, daß eine zum Tode Verurtheilte von einem Quasimodo gerettet worden war. Es waren die beiden höchsten Leiden der Natur und der Gesellschaft, die sich berührten und einander halfen.

Nach einigen Minuten des Triumphes war Quasimodo jedoch plötzlich mit seiner Bürde in der Kirche verschwunden. Das Volk, das in jede Heldenthat verliebt ist, suchte ihn mit den Augen in dem düstern Schiffe und bedauerte, daß er sich so schnell seinen Beifallsäußerungen entzogen hatte. Plötzlich sah man ihn an einem der äußersten Punkte der Galerie der Könige Frankreichs wieder auftauchen; er durchschritt sie, wie ein Unsinniger davonlaufend, und während er seine Eroberung in seinen Armen hochhielt, schrie er: »Asyl!« – Die Menge brach von neuem in Beifallsgeschrei aus. Nachdem er die Galerie durcheilt hatte, verschwand er wieder in das Innere der Kirche. Einen Augenblick darauf zeigte er sich von neuem auf der obern Plattform, immer mit der Zigeunerin in seinen Armen, immer wie ein Toller rennend und immer rufend: »Asyl!« Und die Menge klatschte Beifall. Endlich sah man seine Erscheinung zum dritten Male auf der Spitze des Glockenturmes; von da aus schien er stolzerfüllt der ganzen Stadt diejenige zu zeigen, welche er gerettet hatte, und seine donnernde Stimme, diese Stimme, die man so selten, und die er selbst niemals hörte, wiederholte dreimal mit einem bis in die Wolken dringenden Freudenjubel: »Asyl! Asyl! Asyl!«

»Juchhe! Juchhe!« schrie das Volk seinerseits, und dieses ungeheure Beifallgeschrei versetzte am andern Seineufer die Volksmenge auf dem Grèveplatze und die Büßerin, die das Auge auf den Galgen gerichtet immer noch wartete, in Erstaunen.

  1. Die Göttin der Gerechtigkeit bei den Alten. Anm. d. Uebers.
  2. Name kleiner rothseidener Fahnen der alten französischen Könige. Anm. d. Uebers.
  3. Lateinisch: Nicht werde ich die Schaaren des mich umringenden Volks fürchten: erhebe dich, Herr, rette mich, mein Gott!

    … Rette mich, Herr mein Gott, weil die Wogen meine Seele berührt haben.

    … Ich liege in der Tiefe des Abgrundes, und ist kein Halt unter meinen Füßen.

  4. Lateinisch: Wer mein Wort hört, und glaubt an den, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und geht nicht ins Gericht, sondern kommt vom Tode zum Leben. Anm. d. Uebers.
  5. Lateinisch: Aus der Tiefe der Hölle habe ich gerufen, und du hast meine Stimme erhöret.
    Und du hast mich in den Abgrund des Meeres geworfen, und der Strom hat mich umringt. Anm. d. Uebers.
  6. Lateinisch: Gehe nun hin, rathlose Seele, und Gott sei dir gnädig.
  7. Griechisch: Herr, erbarme dich.
  8. Lateinisch: Alle deine Gewässer und Ströme werden über mich hinfahren. Anm. d. Uebers.