8. Nutzen der Fenster, die nach dem Flusse hinausgehen.

Claude Frollo (denn wir setzen voraus, daß der Leser, welcher verständiger als Phöbus ist, bei diesem ganzen Abenteuer keinen andern gespenstigen Mönch gesehen hat, als den Archidiaconus), Claude Frollo tastete einige Augenblicke in dem finstern Verstecke umher, in das ihn der Hauptmann eingeriegelt hatte. Es war einer von jenen Winkeln, wie solche manchmal die Baumeister am Einigungspunkte zwischen Dach und Stützmauer übrig behalten. Der senkrechte Durchschnitt dieses Loches, wie es Phöbus so treffend bezeichnet hatte, hätte ein Dreieck gegeben. Uebrigens war weder ein Fenster noch eine Luke vorhanden, und die Neigung des Daches verhinderte, daß man aufrecht darin stehen konnte. Claude kauerte sich also in den Staub und in den Gypsschutt, der unter ihm zerdrückt wurde, nieder; sein Kopf glühte, und während er rings um sich mit den Händen hin- und hertastete, fand er ein Stück zerbrochenes Glas am Boden, welches er an seine heiße Stirne drückte, und dessen Kühle ihm ein wenig Linderung gewährte.

Was ging in diesem Augenblicke in der düstern Seele des Archidiaconus vor? Er und Gott allein konnten das wissen. Nach welcher unseligen Reihenfolge ordnete er die Esmeralda, Phöbus, Jacob Charmolue, seinen jungen, so sehr geliebten und von ihm auf der Straße zurückgelassenen Bruder, sein Priestergewand als Archidiaconus, vielleicht seinen guten Namen, der im Hause der Falourdel zurückblieb, – kurz alle diese Bilder, alle diese Ereignisse in seinen Gedanken? Aber gewiß ist, daß diese Gedanken in seinem Geiste eine fürchterliche Verbindung bildeten.

Er wartete eine Viertelstunde lang; es kam ihm vor, als ob er ein Jahrhundert durchwacht hätte. Plötzlich hörte er die Stufen der hölzernen Treppe knacken; jemand stieg herauf. Die Fallthüre öffnete sich wieder; ein Licht kam zum Vorschein. In der wurmstichigen Thüre seines Gelasses befand sich eine ziemlich weite Spalte; er drückte sein Gesicht daran. Auf diese Weise konnte er alles sehen, was sich im benachbarten Zimmer zutrug. Die Alte mit dem Katzengesichte stieg, ihre Lampe in der Hand, zuerst aus der Fallthür heraus, dann Phöbus, der sich seinen Schnurrbart in die Höhe strich, und dann eine dritte Person: die Esmeralda, diese schöne und reizende Gestalt. Der Priester sah sie wie eine blendende Erscheinung aus dem Boden heraufsteigen. Claude zitterte, eine Wolke lagerte sich auf seine Augen, seine Pulsadern schlugen mit Macht, alles rauschte und drehte sich um ihn; er sah und hörte nichts mehr.

Als er wieder zu sich kam, waren Phöbus und die Esmeralda allein; sie saßen auf dem hölzernen Kasten neben der Lampe, welche diese jugendlichen Gestalten und ein elendes Bett im Hintergrunde der Dachkammer in die Augen des Archidiaconus springen ließ.

Neben dem Bette war ein Fenster, dessen zertrümmerte Butzenscheiben, die einem vom Regen zerrissenen Spinnennetze glichen, durch ihre zerbrochenen Rundungen ein Stück Himmel und den Mond erblicken ließen, der in der Ferne auf einem Daunenkissen von zarten Wolken ruhte.

Das junge Mädchen war schamroth, außer Fassung und zitterte. Ihre langen, gesenkten Wimpern beschatteten die Purpurwangen. Der Offizier, auf den sie ihre Augen nicht zu erheben wagte, strahlte vor Verlangen. Mechanisch und mit einer reizenden Geberde von Verlegenheit zeichnete sie mit der Spitze des Fingers unzusammenhängende Linien auf die Bank und blickte auf ihren Finger nieder. Ihren Fuß sah man nicht; die kleine Ziege hatte sich darauf gekauert. Der Hauptmann war sehr artig gekleidet: um den Hals und die Handgelenke trug er Puffen von Goldlitze, für die damalige Zeit eine große Zierde.

Nur mit Mühe vermochte Dom Claude zu hören, was sie sich sagten, so heftig rollte sein Blut, das ihm in den Schläfen kochte.

(Es ist ein ziemlich alltägliches Etwas um eine verliebte Plauderei. Sie ist ein beständiges »Ich liebe dich«, – eine wohlklingende Redensart, die sehr nackt und fade für diejenigen klingt, welche sie gleichgiltig anhören: es müßte denn sein, daß sie mit etwas »Schmuckwerk« verziert ist; aber Claude hörte nicht als Gleichgiltiger zu.)

»Ach!« sagte das junge Mädchen, ohne die Augen aufzuschlagen, »verachtet mich nicht, gnädiger Herr Phöbus. Ich fühle, daß das, was ich gethan habe, unrecht ist.«

»Euch verachten, schönes Kind!« entgegnete der Offizier mit einer Miene überlegener und vornehmer Galanterie, »Euch verachten, beim Haupte Gottes! und warum?«

»Daß ich Euch gefolgt bin.«

»In dieser Hinsicht, meine Schöne, verstehen wir uns nicht. Ich müßte Euch nicht verachten, sondern Euch hassen.«

Das junge Mädchen sah ihn erschrocken an: »Mich hassen! Was habe ich denn gethan?«

»Dafür, daß Ihr Euch so sehr habt bitten lassen.«

»Wehe!« sprach sie … »ich bin einem Gelübde untreu geworden. Ich kann meine Eltern nicht wieder sehen … das Amulet wird seine Kraft verlieren. Aber was thut das? Was bedarf ich jetzt eines Vaters und einer Mutter?«

Während sie so sprach, heftete sie ihre großen schwarzen, von Freude und Zärtlichkeit feuchten Augen auf den Hauptmann.

»Soll der Teufel mich holen, wenn ich Euch verstehe!« rief Phöbus.

Die Esmeralda schwieg einen Augenblick, dann rollte eine Thräne aus ihren Augen, ein Seufzer entrang sich ihren Lippen, und sie sprach: »Ach! gnädiger Herr, ich liebe Euch.« Um das junge Mädchen verbreitete sich ein solcher Duft von Reinheit, ein derartiger Zauber von Keuschheit, daß Phöbus sich in ihrer Nähe nicht ganz behaglich fühlte. Doch ermuthigte ihn dieses Wort. »Ihr liebt mich!« sagte er mit leidenschaftlicher Aufwallung und legte seinen Arm um den Leib der Zigeunerin. Er wartete nur auf diese Gelegenheit.

Der Priester sah es und prüfte mit der Fingerspitze die Spitze eines Dolches, welchen er in seinem Busen versteckt trug.

»Phöbus,« fuhr die Zigeunerin fort, während sie sanft die pressenden Hände des Hauptmanns von ihrem Gürtel losmachte, »Ihr seid gut, Ihr seid edelmüthig, Ihr seid schön; Ihr habt mich gerettet, mich, die ich nur ein armes, unter die Zigeuner gerathenes Kind bin. Lange Zeit träume ich von einem Offiziere, der mir das Leben rettet. Von Euch träumte ich, ehe ich Euch kannte, mein Phöbus; mein Traum zeigte mir eine schöne Uniform, wie Ihr sie habt, ein stolzes Aussehen, einen Degen; Ihr heißt Phöbus, das ist ein schöner Name; ich liebe Euern Namen, ich liebe Euern Degen. Ziehet doch Euern Degen, damit ich ihn sehe.«

»O Kind,« sagte der Hauptmann, und er zog lächelnd seinen Schläger aus der Scheide.

Die Zigeunerin betrachtete den Griff, die Klinge, prüfte mit reizender Neugierde den Namenszug am Stichblatte, und küßte den Degen, wobei sie zu ihm sprach: »Du bist der Degen eines Tapfern. Ich liebe meinen Hauptmann.«

Phöbus benutzte diese Gelegenheit wenigstens, um einen Kuß auf ihren schönen, niedergeneigten Nacken zu drücken, worüber das junge Mädchen, rothgeworden wie eine Kirsche, in die Höhe fuhr. Der Priester knirschte darüber die Zähne in seinem dunkeln Loche.

»Phöbus,« begann die Zigeunerin wieder, »erlaubt mir, daß ich zu Euch rede. Gehet doch ein wenig auf und ab, auf daß ich Euch, in Eurer ganzen Größe sehe, und daß ich Eure Sporen klirren höre. Wie schön Ihr seid!«

Der Hauptmann stand auf, um sich ihr gefällig zu erweisen, und murmelte ihr mit einem selbstgefälligen Lächeln zu: »Aber was seid Ihr für ein Kind! Doch da wir davon reden, Liebchen, habt Ihr mich denn im Paradewaffenrocke gesehen?«

»Leider nein!« antwortete sie.

»Der ist erst prächtig!«

Phöbus setzte sich wieder neben sie nieder, aber viel näher, als vorher.

»Hört mich an, meine Süße …«

Die Zigeunerin gab ihm mit ihrer niedlichen Hand ein paar leise Schläge auf den Mund, wobei ihre ganze Kindlichkeit voll Muthwillen, Anmuth und Frohsinn zu Tage trat.

»Nein, nein, ich will Euch nicht anhören. Liebt Ihr mich? Ich will, daß Ihr mir sagt, ob Ihr mich liebt.«

»Ob ich dich liebe, Engel meines Lebens!« rief der Hauptmann aus und sank halb vor ihr auf die Knie nieder. »Mein Leib, mein Blut, meine Seele – alles gehört dir, alles ist nur für dich. Ich liebe dich und habe niemanden, als dich allein geliebt.«

Der Hauptmann hatte diese Redensart in mancher ähnlichen Lage so viele Male wiederholt, daß er sie in einem Athemzuge, ohne einen einzigen Gedächtnisfehler zu machen, vortrug. Bei dieser leidenschaftlichen Liebeserklärung sandte die Zigeunerin zur schmutzigen Decke, die hier den Himmel vertrat, einen Blick voll himmlischen Glückes empor. »Ach!« flüsterte sie, »das ist der Augenblick, wo man sterben sollte!«

Phöbus fand »den Augenblick« für geeignet, um ihr einen neuen Kuß zu rauben, welcher den unglücklichen Archidiaconus in seinem Winkel von neuem marterte.

»Sterben!« rief der Hauptmann aus. »Was sagt Ihr da doch, schöner Engel? Jetzt ist die Gelegenheit, zu leben, oder Jupiter ist nur ein Possenreißer! Sterben beim Beginn einer so süßen Angelegenheit! Beim Horn des Stieres, welcher Scherz! … So ist’s nicht gemeint … Höret mich an, meine theure Similar … Esmenarda … Verzeihung! Aber Ihr habt einen so seltsamen sarazenischen Namen, daß ich mich nicht herausfinden kann. Er ist ein Gestrüpp, in dem ich stets hängen bleibe.«

»Mein Gott,« sagte das arme Mädchen, »ich, ich hielt diesen Namen wegen seiner Seltsamkeit für hübsch! Aber da er Euch mißfällt, möchte ich lieber Goton heißen.«

»Ach! härmen wir uns nicht wegen so Unbedeutenden, meine Süße; es ist ein Name, an den man sich gewöhnen muß, und damit genug. Wenn ich ihn einmal auswendig weiß, wird es schon von selbst gehen. Hört mich also, meine theure Similas: ich bete Euch bis zum Wahnsinne an. Ich liebe Euch wahrhaftig, daß es ein Wunder ist. Ich kenne eine Kleine, die darüber vor Wuth berstet …«

Das eifersüchtige Mädchen unterbrach ihn: »Wen denn?«

»Was, mein Gott, thut das uns?« sagte Phöbus; »liebt Ihr mich?«

»Ach! …« sagte sie.

»Nun gut! Das ist die Hauptsache. Ihr sollt sehen, wie auch ich Euch liebe. Mag mich der große Teufel Neptunus aufspießen, wenn ich Euch nicht zum glücklichsten Geschöpfe der Welt mache. Wir wollen irgendwo ein hübsches kleines Häuschen miethen. Ich will meine Bogenschützen unter Eurem Fenster paradiren lassen. Sie sind alle beritten und bieten denjenigen des Hauptmanns Mignon Trotz. Ich habe Hellebardiere, Armbrustschützen und Artilleristen mit Handfeldschlangen. Ich will Euch zu den großen Schaugeprängen der Pariser im Speicher von Rully führen. Achtzigtausend bewaffnete Leute, dreißigtausend blanke Harnische, Koller oder Panzerhemden, die siebenundsechzig Banner der Gewerke, die Standarten des Parlaments, der Rechnungskammer, der Generalschatzkammer, der Münzgehilfen, – mit einem Worte: ein verteufelter Prunk. Ich werde Euch auch die Löwen im königlichen Schlosse zeigen, welche Rothwild sind. Alle Frauenzimmer sehen so etwas gern.«

Seit einigen Minuten träumte das junge Mädchen, in liebliche Gedanken versunken, beim Klange seiner Stimme, ohne auf den Sinn seiner Worte zu achten.

»O! Ihr sollt glücklich sein!« fuhr der Hauptmann fort, und zu gleicher Zeit löste er leise den Gürtel der Zigeunerin.

»Was thut Ihr denn?« sagte sie erregt. Diese Gewalttätigkeit hatte sie aus ihrer Träumerei gerissen.

»Nichts,« antwortete Phöbus; »ich sagte nur, daß Ihr diesen närrischen und gassenmäßigen Anzug aufgeben müßtet, wenn Ihr bei mir bleiben wollt.«

»Wenn ich bei dir sein werde, mein Phöbus!« sagte das junge Mädchen zärtlich.

Sie wurde nachdenklich und schwieg.

Der Hauptmann, durch ihre Sanftmuth dreist gemacht, faßte sie um den Leib, ohne daß sie widerstand, begann dann ganz leise das Mieder des armen Mädchens aufzuschnüren und zog das Busentuch so tief herunter, daß der keuchende Priester die schöne nackte, runde und braune Schulter der Zigeunerin aus der Spitzenhülle hervortreten sah, wie den Mond, der im Nebel am Horizonte sich erhebt.

Das junge Mädchen ließ Phöbus gewähren. Sie schien es nicht zu merken. Das Auge des dreisten Hauptmanns funkelte. Plötzlich wandte sie sich nach ihm hin:

»Phöbus,« sagte sie mit einem Ausdrucke unendlicher Liebe, »unterweise mich in deiner Religion.«

»In meiner Religion?« rief der Hauptmann und brach in ein Gelächter aus. »Ich Euch in meiner Religion unterweisen? Donner und Wetter! Was wollt Ihr mit meiner Religion anfangen?«

»Um uns zu heirathen,« antwortete sie.

Das Gesicht des Hauptmanns nahm einen Ausdruck an, in dem sich Ueberraschung, Verachtung, Gleichgiltigkeit und zügellose Leidenschaft vermischten.

»Ach was!« sagte er, »heirathet man sich denn?«

Die Zigeunerin wurde blaß und ließ traurig ihr Haupt auf den Busen sinken.

»Schönes Liebchen,« fuhr Phöbus zärtlich fort, »was sollen diese Thorheiten bedeuten? Es ist etwas Wichtiges um eine Heirath! Hat man sich etwa nicht so innig lieb, wenn man nicht mit lateinischen Brocken in der Bude eines Priesters um sich geworfen hat?«

Während er das mit innigstem Tone sprach, drängte er sich ganz nahe an die Zigeunerin heran; seine liebkosenden Hände hatten sich wieder um diesen zarten und schmiegsamen Leib geschlungen; sein Auge glühte immer mehr und mehr, und alles kündete an, daß Herr Phöbus sich offenbar einem jener Augenblicke näherte, in welchem Jupiter selbst so viele Thorheiten begeht, daß der gute Homer sich genöthigt sieht, eine Wolke zu seiner Hilfe herbeizurufen.

Dom Claude jedoch sah alles. Die Thüre war aus ganz verfaulten Faßdauben gemacht, die seinem Raubvogelblicke zwischen ihren Fugen freien Durchblick gestatteten. Dieser dunkelfarbige, breitschultrige Priester, der bis dahin zur strengen Keuschheit des Klosters verdammt gewesen war, schauerte und kochte bei dieser nächtlichen Liebes- und Wollustscene. Das junge und schöne Mädchen, das in ihrem Seelenaufruhr diesem feurigen Jünglinge ergeben war, verwandelte das Blut seiner Adern in geschmolzenes Blei. In seinem Innern gingen die seltsamsten Bewegungen vor sich; sein Auge heftete sich mit wollüstiger Eifersucht an jede dieser losgenestelten Nadeln. Wer in diesem Augenblicke das Antlitz des Unglücklichen hätte sehen können, das an die wurmstichigen Thürpfosten gepreßt war, hätte geglaubt, ein Tigergesicht zu schauen, das aus der Tiefe eines Käfigs heraus einen Schakal erblickt, der eine Gazelle verschlingt. Sein Auge blitzte wie eine Flamme durch die Spalten der Thüre.

Auf einmal zog Phöbus mit heftiger Bewegung das Busentuch von den Schultern der Zigeunerin. Das arme Kind, welches bleich und nachdenkend geblieben war, erwachte wie aus einem Traume; sie entfernte sich hastig von dem unternehmenden Offiziere, warf einen Blick auf ihren Busen und die entblößten Schultern, und kreuzte roth, verwirrt und stumm vor Scham ihre beiden Arme über der Brust, um sie zu bedecken. Stumm und bewegungslos, wie sie war, und ohne die Röthe, welche auf ihren Wangen flammte, hätte man sie für eine Bildsäule der Schamhaftigkeit halten können. Ihre Augen blieben am Boden geheftet.

Die Zudringlichkeit des Hauptmanns hatte zugleich das geheimnisvolle Amulet entblößt, das sie um den Hals trug.

»Was ist das?« fragte er, diesen Vorwand ergreifend, um sich dem schönen Geschöpfe, das er soeben verscheucht hatte, wieder zu nähern.

»Rühret nicht daran!« entgegnete sie lebhaft, »es ist mein Beschützer. Es wird mich meine Familie wiederfinden lassen, wenn ich dessen würdig bleibe. Ach! laßt mich in Frieden, Herr Hauptmann! Meine Mutter! meine arme Mutter! Meine Mutter, wo bist du? Komm mir zu Hilfe! Gnade, Herr Phöbus! gebt mir mein Busentuch wieder!«

Phöbus trat zurück und sagte mit kaltem Tone:

»O, Jungfer! nun sehe ich wohl, daß Ihr mich nicht liebt!«

»Ich ihn nicht lieben!« rief das arme unglückliche Kind, und zu gleicher Zeit hing sie sich an den Hauptmann, welchen sie neben sich niederzog. »Ich dich nicht lieben, mein Phöbus! Was sprichst du da, böser Mann, um mir das Herz zu zerreißen? Ach! komm! nimm mich hin, nimm alles! Mache mit mir, was du willst, ich bin dein. Was mache ich mir aus dem Amulete? was aus meiner Mutter? Du bist meine Mutter, da ich dich ja liebe! Phöbus, mein heißgeliebter Phöbus, siehst du mich? Ich bin es, sieh mich an; es ist jene Kleine, welche du doch nicht von dir stoßen wirst; die da kommt, die selbst kommt, um dich zu suchen. Meine Seele, mein Leben, mein Leib, meine Person, – alles das ist ein Ding, das dir gehört, mein Hauptmann. Gut denn, nein! heirathen wir uns nicht; es ist dir zuwider; und dann, was bin ich denn, ich? Ein elendes Mädchen aus dem Rinnsteine, während daß du, mein Phöbus, ein Edelmann bist. Wahrhaftig, es wäre spaßhaft! eine Tänzerin einen Offizier heirathen! – Ich war thöricht. Nein, Phöbus, nein; ich will deine Geliebte sein, dein Zeitvertreib, dein Vergnügen, wann du es wünschest; ein Mädchen, das dir gehören will. Ich bin nur dazu geschaffen, beschimpft, verachtet, entehrt zu werden: aber was thut’s? wenn ich geliebt bin! Ich will die stolzeste und die glücklichste aller Frauen sein. Und wenn ich alt oder häßlich werde, Phöbus, wenn ich nicht mehr gut bin, deine Liebe zu genießen, gnädiger Herr: dann werdet Ihr mich noch um Euch dulden, um Euch zu dienen. Andere werden Euch dann Schärpen sticken; ich, die Magd, will dafür Sorge tragen. Ihr werdet mir erlauben, Eure Sporen zu putzen, Euren Waffenrock zu bürsten, Eure Reiterstiefeln vom Staube zu reinigen. Nicht wahr, mein Phöbus, Ihr werdet dieses Mitleid für mich haben? Bis dahin nimm mich hin! Siehst du, Phöbus, alles das gehört dir, liebe mich nur! Wir Zigeunerinnen, wir bedürfen nichts als dessen: Luft und Liebe.«

Bei diesen Worten schlang sie ihre Arme um den Hals des Offiziers; sie blickte ihn von oben bis unten an, flehend und mit einem süßen, ganz in Thränen erstickten Lächeln. Ihr zarter Busen drängte sich an das Tuchwamms und die scharfen Stickereien. Sie wand ihren schönen, halbnackten Leib auf seinen Knien. Der berauschte Hauptmann drückte seine glühenden Lippen auf diese schönen afrikanischen Schultern. Das junge Mädchen bebte, die Augen zur Decke erhoben, nach hinten übergesunken und am ganzen Leibe zitternd, unter seinem Kusse.

Auf einmal sah sie über Phöbus‘ Kopfe einen andern Kopf: ein fahles, gelbes, verzerrtes Gesicht mit dem Blicke eines Verdammten; bei diesem Gesichte zeigte sich eine Hand, welche einen Dolch hielt. Es war das Gesicht und die Hand des Priesters; er hatte die Thüre erbrochen und war da. Phöbus konnte ihn nicht sehen. Das junge Mädchen war regungslos, erstarrt, sprachlos bei der furchtbaren Erscheinung: wie eine Taube, welche den Kopf in dem Augenblicke erheben will, wo der Falke mit seinen starren Augen in ihr Nest schaut.

Sie konnte nicht einmal einen Schrei ausstoßen. Sie sah, wie der Dolch auf Phöbus niedersank und sich rauchend wieder hob.

»Verflucht!« stöhnte der Hauptmann und sank nieder.

Sie fiel in Ohnmacht.

In dem Augenblicke, wo ihre Augen sich schlossen, wo jede Empfindung in ihr hinschwand, glaubte sie zu empfinden, daß ein feuriger Druck, ein glühenderer Kuß, als das rothe Eisen des Henkers, sich auf ihre Lippen preßte.

Als sie ihre Besinnung wieder gewann, war sie von Soldaten der Wache umgeben; man trug den Hauptmann in seinem Blute schwimmend davon; der Priester war verschwunden; das Fenster im Hintergrunde des Zimmers, welches auf den Fluß hinausging, stand ganz weit offen; man hob einen Mantel auf, welcher, wie man vermuthete, dem Offizier gehörte, und sie vernahm die Worte um sich her:

»Das ist eine Hexe, die einen Hauptmann erdolcht hat.«

2. La creatura bella bianco vestita. 85 (Dante)

Als Quasimodo sah, daß die Zelle leer war, daß die Zigeunerin sich nicht mehr dort befand, daß, während er sie vertheidigte, man sie entführt hatte, fuhr er sich mit beiden Händen in die Haare, und rannte vor Ueberraschung und Schmerz hin und her; dann fing er an durch die ganze Kirche zu laufen, suchte seine Zigeunerin, stieß seltsame Schreie in allen Mauerwinkeln aus und streute seine rothen Haare auf dem Boden herum. Es war gerade der Augenblick, wo die Häscher des Königs siegreich in die Kirche eindrangen, welche ja ebenfalls die Zigeunerin suchten. Quasimodo half ihnen hierbei, ohne daß der arme Taube ihre unseligen Absichten ahnte; denn er glaubte, die Bettler wären die Feinde der Zigeunerin. Er führte selbst Tristan l’Hermite in alle nur denkbaren Schlupfwinkel, öffnete ihm die geheimen Thüren, die Doppelböden der Altäre, die Hintergemächer der Sakristeien. Wenn die Unglückliche sich noch dort befunden hätte, so wäre er es gewesen, der sie ausgeliefert hätte. Als Tristan, da er nichts fand, des Suchens müde geworden war, – er, der nicht leicht ermüdete – fuhr Quasimodo ganz allein fort, zu suchen. Er machte zwanzig Mal, hundert Mal den Weg durch die Kirche nach der Länge und Breite, von Oben nach Unten, stieg hinauf und herunter, lief, rief, schrie, witterte und spürte herum, suchte und steckte seinen Kopf in alle Löcher und leuchtete verzweifelt und wahnwitzig mit einer Fackel in alle Gewölbe. Ein männliches Thier, das sein Weibchen verloren hat, ist nicht verstörter und schreit nicht so sehr. Endlich, als er sicher, ganz sicher war, daß sie nicht mehr da, daß es mit ihr aus wäre, daß man sie ihm geraubt hatte, stieg er langsam die Treppe zu den Thürmen empor, – diese Treppe, welche er mit so viel Eifer und Siegesgewißheit an dem Tage hinaufgestürmt war, als er sie gerettet hatte. Er ging noch einmal durch dieselben Plätze, das Haupt gesenkt, stumm, ohne Thränen und fast ohne Athem. Die Kirche war von neuem öde und in ihre Stille zurückgesunken. Die Häscher hatten sie verlassen, um die Hetze auf die Hexe in der Altstadt anzustellen. Quasimodo, der allein in dieser weiten Notre-Damekirche zurückgeblieben war, die den Augenblick zuvor so bestürmt und lärmerfüllt gewesen, schlug den Weg zur Zelle ein, wo die Zigeunerin so viele Wochen unter seiner Obhut geschlafen hatte. Indem er sich ihr näherte, stellte er sich vor, daß er sie dort vielleicht finden könnte. Als er bei der Biegung der Galerie, welche über das Dach der Seitenschiffe führt, das enge Zimmerchen mit seinem Fensterchen und Thürchen bemerkte, das unter einem großen Schwibbogen wie ein Vogelnest unter einem Zweige versteckt war, sank dem armen Menschen der Muth, und er lehnte sich an einen Pfeiler, um nicht umzusinken. Er bildete sich ein, daß sie vielleicht dorthin zurückgekehrt wäre, daß ein guter Geist sie ohne Zweifel dahin zurückgeführt hätte; daß dieses Kämmerchen zu ruhig, zu sicher und zu reizend wäre, als daß sie nicht mehr dort sein könnte, und er wagte nicht einen Schritt weiter zu gehen, aus Furcht seine Täuschung zu zerstören. »Ja,« sprach er bei sich, »sie schläft vielleicht oder betet. Wir wollen sie nicht stören.« Zuletzt nahm er seinen Muth zusammen, ging auf den Fußspitzen heran, blickte hinein, trat ein. Leer! Die Zelle blieb immer leer. Der unglückliche Taube ging in langsamen Schritten darin herum, hob das Bett in die Höhe und blickte darunter, als ob sie zwischen der Diele und dem Polster versteckt sein könnte, dann schüttelte er den Kopf und stand stumpfsinnig da. Plötzlich zertrat er wüthend mit dem Fuße die Fackel, und ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Seufzer auszustoßen, stürzte er sich im vollen Laufe mit dem Kopfe gegen die Wand und sank ohnmächtig auf dem Boden zusammen.

Als er wieder zu sich kam, warf er sich auf das Bett, wälzte sich darauf herum und küßte wahnsinnig den noch warmen Platz, wo das junge Mädchen geschlafen hatte; er blieb hier einige Minuten bewegungslos liegen, als ob er da die Seele aushauchen wollte; dann erhob er sich in Schweiß gebadet, keuchend und sinnverwirrt wieder, und begann mit der schrecklichen Regelmäßigkeit des Klöppels seiner Glocken den Kopf gegen die Wände zu rennen, in der Entschlossenheit eines Menschen, der ihn daran zerschellen will. Schließlich fiel er zum zweiten Male erschöpft nieder; er schleppte sich auf den Knien aus der Zelle heraus, und kauerte der Thüre gegenüber in der Stellung dumpfen Staunens nieder. So verharrte er länger, als eine Stunde, ohne eine Bewegung zu machen, das Auge auf die verlassene Zelle gerichtet, düsterer und nachdenklicher, als eine Mutter, die zwischen einer leeren Wiege und einem vollen Sarge sitzt. Er brachte kein Wort vor, nur schüttelte ein Schluchzen in langen Zwischenräumen heftig seinen ganzen Körper, aber ein Schluchzen ohne Thränen, wie jene Blitze im Sommer, die keinen Donner verursachen.

Es ist offenbar, daß er jetzt, während er im Grunde seines trostlosen Herzens nachgrübelte, wer wohl der unvermuthete Räuber der Zigeunerin sein könnte, an den Archidiakonus dachte. Er erinnerte sich, daß Dom Claude allein einen Schlüssel zu der Treppe hatte, welche nach der Zelle führte; er dachte an dessen nächtliche Anschläge auf das junge Mädchen; an den ersten, bei welchem ihm Quasimodo behilflich gewesen war, an den zweiten, welchen er verhindert hatte. Er rief sich tausend einzelne Umstände zurück und zweifelte bald nicht mehr daran, daß der Archidiakonus ihm die Zigeunerin entrissen hätte. Jedoch war seine Ehrfurcht vor dem Priester so groß, die Erkenntlichkeit, die Ergebenheit, die Liebe zu diesem Manne hatten so tiefe Wurzeln in seinem Herzen, daß sie selbst in diesem Augenblicke den Krallen der Eifersucht und der Verzweiflung Widerstand leisteten.

Er dachte daran, daß der Archidiakonus das gethan hätte, und die Wuth nach Blut und Tod, die er gegen jeden andern empfunden haben würde, verwandelte sich von dem Augenblicke an, wo es sich um Claude Frollo handelte, bei dem armen Tauben in wachsenden Schmerz.

In dem Augenblicke, wo sein Gedanke sich so an den Archidiakonus klammerte, sah er, als das Morgengrauen die Strebepfeiler erhellte, im obern Stockwerke von Notre-Dame, an der Biegung, welche der Balustradenrand macht, der sich um den Chor dreht, eine Gestalt, welche dahinwandelte. Diese Gestalt kam auf ihn zu. Er erkannte sie. Es war der Archidiakonus. Claude ging langsamen und schweren Schrittes heran. Er sah im Gehen nicht vor sich herab – er wendete sich nach dem nördlichen Thurme zu – sondern sein Gesicht war zur Seite, nach dem rechten Ufer der Seine hin gekehrt, und er hielt das Haupt hoch, als ob er sich bemüht hätte, etwas über die Dächer hinweg zu sehen. Die Eule zeigt oft diese seitwärts gerichtete Haltung. Sie fliegt nach einem Punkte zu und sieht dabei nach einem andern hin. Der Priester ging also über Quasimodos Kopfe hin, ohne ihn zu sehen.

Der Taube, welchen diese plötzliche Erscheinung versteinert hatte, sah ihn unter dem Eingange der Treppe zum nördlichen Thurme verschwinden.

Der Leser weiß, daß dieser Thurm derjenige ist, von dem man das Stadthaus sieht. Quasimodo erhob sich und folgte dem Archidiakonus.

Quasimodo stieg die Treppe zum Thurme empor, um in Erfahrung zu bringen, weshalb der Priester da hinaufstieg. Uebrigens wußte, der arme Glöckner Quasimodo selbst nicht, was er thun, was er sagen sollte, was er wollte. Er war wutherfüllt und zugleich voll Furcht. Der Archidiakonus und die Zigeunerin traten in seinem Herzen einander gegenüber.

Als er auf der Spitze des Thurmes angelangt war, untersuchte er, ehe er aus dem Dunkel der Treppe hervor- und auf die Plattform hinaustrat, vorsichtig, wo der Priester sich befand. Der Archidiakonus kehrte ihm den Rücken zu. Hier befindet sich ein durchbrochenes Geländer, welches den Glockenthurm umgiebt. Der Priester, dessen Augen auf die Stadt herabblickten, hatte die Brust gegen diejenige der vier Geländerseiten gestemmt, welche nach der Notre-Damebrücke zu gerichtet ist.

Quasimodo, der leise wie ein Wolf hinter ihm herschlich, wollte sehen, was er so scharf beobachtete. Die Aufmerksamkeit des Priesters war derartig von andern Dingen in Anspruch genommen, daß er gar nicht hörte, daß der Taube neben ihm herging. Es ist ein großartiges und bezauberndes Schauspiel, welches Paris, und vornehmlich das Paris von damals, von der Höhe der Notre-Damethürme aus gesehen, dem Auge im glänzenden Schimmer eines Sommermorgens bietet. An jenem Tage mochte man sich im Monat Juli befinden. Der Himmel war vollkommen rein. Einige letzte Sterne erblichen an ihm an verschiednen Punkten, und unter ihnen stand ein sehr glänzender an der hellsten Stelle des östlichen Himmels. Die Sonne war im Begriffe, sich über den Horizont zu erheben. Paris begann sich zu regen. Ein sehr helles und reines Licht ließ alle Umrisse, welche die zahllosen Häuser der Stadt dem Auge bieten, lebhaft hervortreten. Der riesige Schatten der Thürme zog sich von Dach zu Dach, von einem Ende der großen Stadt zum andern. In einigen Stadtvierteln ertönte schon der Lärm und das Gewirr von menschlichen Stimmen durcheinander. Hier erklang ein Glockenschlag, dort ein Hammerschlag, da unten das verworrene Gerassel eines rollenden Wagens. Schon wogten hier und da einige Rauchwolken über jene ganze Dächerfläche wie durch die Risse eines ungeheuern Solfatara. Der Fluß, welcher sein Wasser unter den Bogen so vieler Brücken, an der Spitze so vieler Inseln hinwirbelte, war von Silberfurchen gekräuselt. Ringsum in der Stadt, außerhalb der Wälle verlor das Auge sich in einem großen Kranze flockiger Nebeldünste, durch welche man undeutlich die endlose Linie der Ebenen und die zierliche Erhebung der Hügelreihen erkannte. Allerlei Geräusch ergoß sich in Wogen über diese halberwachte Stadt. Nach Sonnenaufgang hin jagte der Morgenwind einige weiße Streifen über den Himmel, die von dem Nebelgewande der Hügel losgerissen waren.

Auf dem Vorhofe von Notre-Dame zeigten sich mehrere Mütterchen, die ihren Milchtopf in der Hand hatten, einander erstaunt die sonderbare Verunstaltung der großen Kirchenthüre, und zwei zwischen den Spalten der Sandsteine geronnene Bleiströme. Das war alles, was von dem nächtlichen Aufruhre übrig war. Der von Quasimodo angezündete Holzstoß zwischen den Thürmen war niedergebrannt. Tristan hatte den Platz bereits abräumen und die Todten in die Seine werfen lassen. Die Könige wie Ludwig der Elfte tragen Sorge, das Pflaster nach einer Metzelei schnell reinigen zu lassen.

Außerhalb der Balustrade des Thurmes, gerade unter dem Punkte, wo der Priester sich hingestellt hatte, befand sich eine jener steinernen, phantastisch geformten Dachrinnen, welche die gothischen Bauwerke zieren, und in einer Spalte dieser Rinne standen zwei hübsche, blühende Levkojen, welche vom Lufthauche bewegt und wie lebend erscheinend, sich schelmische Grüße zusandten. Ueber den Thürmen hoch oben, weit in der Tiefe des Himmels, hörte man das Zwitschern kleiner Vögel.

Aber der Priester hörte und sah nichts von alledem. Er war einer von den Menschen, für welche es keine Morgenröthen, keine Vögel, keine Blumen giebt. In diesem unendlichen Gesichtskreise, welcher so viele Anblicke rings um ihn gewährte, war seine Betrachtung nur auf einen einzigen Punkt hingezogen. Quasimodo brannte vor Verlangen ihn zu fragen, was er mit der Zigeunerin angefangen hätte; aber der Archidiakonus schien in diesem Augenblicke fern von der Welt zu sein. Er befand sich offenbar in einem dieser stürmischen Augenblicke des Lebens, wo man es nicht merken würde, wenn die Erde zusammenbräche. Die Augen unveränderlich auf eine bestimmte Stelle gerichtet, verharrte er unbeweglich und sprachlos; und dieses Schweigen und diese Regungslosigkeit hatten etwas so Furchtbares, daß der wilde Glöckner davor zurückschrak und nicht wagte, sich an ihn zu machen. Es gab noch eine Art, den Archidiakonus auszuforschen: er folgte nur der Richtung seines Augenstrahles, und auf diese Weise fiel der Blick des unglücklichen Tauben aus den Grèveplatz.

Er sah also das, wonach der Priester hinblickte. Die Leiter war nahe an dem stehenden Galgen aufgerichtet. Es befanden sich einige Leute und viele Soldaten auf dem Platze. Ein Mann schleppte über den Boden einen weißen Gegenstand fort, an den sich etwas Schwarzes angeklammert hatte. Dieser Mann hielt am Fuße des Galgens an. Nun ereignete sich etwas, das Quasimodo nicht sehen konnte. Nicht etwa, weil sein einziges Auge seine weite Sehkraft nicht bewährt hätte, sondern weil ein Haufe Soldaten in der Nähe war, der alles zu erkennen verhinderte. Überdieß ging in diesem Augenblicke die Sonne auf, und ein solcher Lichtstrom ergoß sich über den Horizont, daß man hätte glauben mögen, alle hervorragenden Spitzen von Paris: Thurmspitzen, Schornsteine, Giebel ständen auf einmal in Flammen.

Während dem schickte der Mann sich an, die Leiter zu besteigen. Jetzt erkannte ihn Quasimodo wieder deutlich. Er trug ein Weib auf seiner Schulter: ein junges in Weiß gekleidetes Mädchen; dieses junge Mädchen hatte eine Schlinge um den Hals. Quasimodo erkannte sie. Sie war es.

Der Mann kam so an der Spitze der Leiter an. Dort befestigte er die Schlinge. Jetzt warf sich der Priester, um besser sehen zu können, an dem Geländer auf die Knien nieder.

Plötzlich stieß der Mann die Leiter heftig mit der Ferse zurück, und Quasimodo, der seit einigen Augenblicken nicht mehr athmete, sah am Ende des Strickes, zwei Klafterlängen über dem Boden, das unglückliche Kind mit dem Manne schaukeln, der seine Füße auf dessen Schultern gesetzt hatte. Der Strick machte mehrere Drehungen um sich selbst, und Quasimodo sah die schrecklichen Zuckungen, die durch den Körper der Zigeunerin liefen. Der Priester seinerseits betrachtete mit vorgestrecktem Halse und aus dem Kopfe getretenen Augen die furchtbare Gruppe des Mannes und des jungen Mädchens: – der Spinne und der Fliege!

In dem Augenblicke, wo das Entsetzlichste sich zutrug, fuhr ein Satansgelächter, ein Gelächter, welches man nur haben kann, wenn man kein Mensch mehr ist, über das bleifarbige Gesicht des Priesters. Quasimodo hörte dieses Gelächter nicht, aber er sah es. Der Glöckner trat einige Schritte hinter den Archidiakonus; dann stürzte er sich plötzlich voll Wuth auf ihn und stieß ihn mit seinen mächtigen Händen rücklings in die Tiefe, über welche Dom Claude sich hinabgebogen hatte.

»Verflucht!« schrie der Priester, und stürzte hinab.

Die Dachrinne, über welcher er sich befand, hielt ihn in seinem Falle auf. Er klammerte sich mit verzweifelten Händen an sie fest; und im Augenblicke, wo er den Mund öffnete, um einen zweiten Schrei auszustoßen, sah er am Kranze des Geländers, über seinem Kopfe, das furchtbare Rächerantlitz Quasimodos erscheinen. Da versagte ihm das Wort.

Der Abgrund lag unter ihm. Eine Tiefe von mehr, als zweihundert Fuß, und das Straßenpflaster dazu. In dieser schrecklichen Lage sprach der Archidiakonus nicht ein Wort, stieß keine Klage aus. Nur wand er sich mit unerhörten Anstrengungen auf der Dachrinne, um wieder nach oben zu gelangen; aber seine Hände hatten an dem Granite keinen Halt, seine Füße streiften die geschwärzte Mauer, ohne sich in sie einbohren zu können. Leute, welche auf die Thürme von Notre-Dame gestiegen sind, wissen, daß unmittelbar unter der Balustrade eine steinerne Ausbauchung sich befindet. Gerade auf dieser einspringenden Ecke erschöpfte der elende Archidiakonus seine Kraft. Er hatte es nicht mit einer senkrechten Wand, sondern mit einer Mauer, die unter ihm zurückwich, zu thun.

Quasimodo hätte, um ihn vom Abgrunde zurückzuziehen, nur nöthig gehabt, ihm die Hand hinzureichen; aber er sah ihn gar nicht einmal an. Er blickte nach dem Grèveplatze, nach dem Galgen, nach der Zigeunerin hinab. Der Taube hatte sich an der Stelle, wo den Augenblick vorher der Archidiakonus gestanden hatte, auf die Balustrade gelehnt, und hier stand er bewegungslos und stumm, wie ein vom Blitz erschlagener Mann, wandte den Blick nicht von dem einzigen Gegenstande, der für ihn in diesem Augenblicke in der Welt vorhanden gewesen war, und ein langer Thränenstrom rollte schweigend aus diesem Auge, das bis jetzt nur erst eine einzige Thräne vergossen hatte. Inzwischen keuchte der Archidiakonus in seiner fürchterlichen Lage. Seine kahle Stirn troff von Schweiß, seine Nägel bluteten an dem Steine, und seine Kniee schunden sich an der Mauer. Er hörte, wie sein Priesterrock, mit dem er an der Dachrinne hängen geblieben war, mit jeder Erschütterung, die er verursachte, krachte und weiter aufriß. Um das Maß seines Unglückes voll zu machen, endigte diese Dachrinne in einem bleiernen Rohre, das sich unter der Last seines Körpers bog. Der Archidiakonus fühlte, wie dieses Rohr langsam nachgab. Der Unglückliche sagte sich, daß wenn seine Hände vor Anstrengung ermüdet, sein Gewand zerrissen, dieses Bleirohr niedergebogen sein würden, er fallen müßte; und das Entsetzen schüttelte ihn bis in die Eingeweide. Bisweilen betrachtete er mit verwirrtem Blicke eine Art schmaler Platte, die ohngefähr zehn Fuß tiefer von den Unebenheiten der Steinzierathen gebildet wurde, und er bat den Himmel im Grunde seines geängstigten Herzens, daß es ihm vergönnt sein möge, sein Leben auf diesem Raume von zwei Fuß im Gevierte beschließen zu dürfen: sollte es auch hundert Jahre dauern. Ein Mal blickte er unter sich aus den Platz, in den Abgrund; er wandte den Kopf zurück, schloß die Augen und alle Haare standen ihm zu Berge.

Es war etwas Furchtbares um das Schweigen dieser beiden Männer. Quasimodo weinte und blickte auf den Grèveplatz, während der Archidiakonus einige Fuß von ihm entfernt in dieser schrecklichen Weise mit dem Tode rang. Als der Archidiakonus sah, daß alle seine Anstrengungen nur dazu dienten, den zerbrechlichen Stützpunkt, der ihm blieb, zu erschüttern, hatte er den Entschluß gefaßt, sich nicht mehr zu bewegen. So schwebte er dort, hielt die Dachrinne umfaßt, athmete kaum, rührte sich nicht, und zeigte keine anderen Bewegungen, als das mechanische Zucken des Leibes, welches man erleidet, wenn man im Traume glaubt, sich fallen zu fühlen. Seine starren Augen waren in krankhafter und erschrockener Weise aufgerissen. Nach und nach indessen verlor er an Raum: seine Finger glitten an der Dachrinne hin; er fühlte immer mehr und mehr die Schwäche seiner Arme und die Schwere seines Körpers. Die Krümmung der Bleiröhre, die ihn stützte, neigte sich in jedem Augenblicke um einen Grad dem Abgrunde zu. Er sah unter sich – ein fürchterlicher Anblick – das Dach von Saint-Jean-le-Roud, so klein wie ein in zwei Hälften zusammengefaltetes Kartenblatt. Er betrachtete die gefühllosen Bildhauerarbeiten des Thurmes eine nach der andern, die wie er über dem Abgrunde schwebten, aber ohne Furcht für sich selbst und ohne Mitleiden für ihn. Alles um ihn war von Stein: vor seinen Augen die Ungeheuer mit offenem Rachen; unten, ganz in der Tiefe, auf dem Platze, das Straßenpflaster; über seinem Haupte: Quasimodo, der Thränen vergoß.

Auf dem Vorhofe standen einige Gruppen neugieriger Leute, die gleichmüthig zu errathen suchten, wer der Narr sein könnte, der sich auf eine so seltsame Weise die Zeit vertriebe. Der Priester hörte, wie sie zu einander sagten, denn ihre helle und grelle Stimme gelangte bis zu ihm: »Aber er wird sich den Hals brechen!«

Quasimodo weinte noch immer.

Der vor Wuth und Entsetzen schäumende Archidiakonus begriff endliche daß alles nutzlos war. Er sammelte dennoch alle Kraft, die ihm geblieben war, zu einer letzten Anstrengung. Er steifte sich auf die Dachrinne, stieß die Mauer mit den beiden Knien ab, klammerte sich mit beiden Händen in eine Spalte der Steine, und er hätte es vielleicht erreicht, mit einem Fuße wieder in die Höhe zu klettern: aber diese Bewegung brachte plötzlich die Mündung des Bleirohres, auf welches er sich stützte, zum Weichen. Im selben Augenblicke riß das Gewand auseinander. Jetzt, da er alles unter sich wanken fühlte, als er nur noch seine starren und kraftlos werdenden Hände hatte, die etwas festhielten, schloß der Unglückliche die Augen und ließ die Dachrinne los. Er fiel in die Tiefe. Quasimodo sah, wie er hinabstürzte. –

Ein Sturz von solcher Höhe geschieht selten in senkrechter Richtung. Der in die Tiefe stürzende Archidiakonus fiel erst mit dem Kopfe nach unten und beide Hände von sich gestreckt; dann beschrieb er mehrere Umdrehungen um sich selbst; der Luftzug trieb ihn auf das Dach eines Hauses, wo der Unglückliche die erste Zerschmetterung erlitt. Als er dort anlangte war er jedoch nicht todt. Der Glöckner sah, wie er noch versuchte, sich mit den Nägeln an die Zinne anzuklammern; aber die Fläche war zu steil, und er besaß keine Kraft mehr. Er glitt schnell über das Dach herab wie ein Ziegel, der sich loslöst, und schlug endlich auf das Pflaster auf. Da blieb er regungslos liegen.

Quasimodo hob nun sein Auge wieder auf die Zigeunerin; ihren am Galgen hängenden Körper sah er in der Ferne, unter ihrem weißen Gewande, in den letzten Schauern des Todeskampfes zucken; dann senkte er den Blick wieder auf den Archidiakonus, der ohne eine menschliche Form mehr, am Fuße des Thurmes ausgestreckt lag, und er sprach mit einem Schluchzen, das aus der Tiefe seiner Brust drang: »Ach! Alles, was ich geliebt habe!«

  1. Italienisch: Das schöne weiß gekleidete Geschöpf. Anm. d. Uebers.

3. Die Glocken.

Seit dem Morgen am Pranger hatten die Nachbarn von Notre-Dame zu bemerken geglaubt, daß die Läutewuth Quasimodo’s sich sehr abgekühlt hatte. Vordem gab es Geläute bei jedem Anlasse: lange Morgenständchen, die von den Primen 6 bis zu den Vesperschlüssen dauerten, Geläute mit allen Glocken zu einem Hochamte, reiche Tonleitergänge mit den kleinen Glocken bei einer Trauung, einer Taufe, so daß die Luft mit einer Tonreihe von allerlei lieblichen Klängen gleichsam erfüllt war. Die alte Kirche, die bis in die Grundfesten bebte und tönte, befand sich in einem immerwährenden Glockenjubel. Man fühlte hier beständig die Gegenwart eines lärmenden und eigensinnigen Geistes, welcher mit all den metallenen Zungen sang. Jetzt schien dieser Geist verschwunden, die Kathedrale schien traurig zu sein, und bewährte gern ihr Schweigen; die Feste und Beerdigungen erhielten ihr einfaches, trockenes und kahles Geläute, und wie es die Kirchenordnung verlangte, nichts weiter; von dem zwiefachen Lärme, den eine Kirche verursacht: die Orgel im Innern, die Glocke draußen, war nur die Orgel geblieben. Man hätte behaupten mögen, es wäre nichts Musikalisches mehr in den Thürmen. Dennoch befand sich Quasimodo immer noch in ihnen; was war also in ihm vorgegangen? Lebten vielleicht Scham und Verzweiflung vom Prangerstehen her noch im Innern seines Herzen fort? Sausten die Peitschenhiebe des Foltermeisters endlos in seiner Seele nach? Hatte die Trauer über eine solche Behandlung alles in ihm ausgetilgt, selbst seine Leidenschaft für die Glocken? Oder aber, hatte »Marie«, die große Glocke, eine Nebenbuhlerin im Herzen des Glöckners von Notre-Dame, und wurde sie und ihre vierzehn Schwestern über etwas Liebenswürdigerem und Schönerem vernachlässigt?

In diesem gnadenbringenden Jahre vierzehnhundertzweiundachtzig fiel das Fest der Verkündigung Mariä gerade auf den fünfundzwanzigsten März, einen Dienstag. An jenem Tage war die Luft so rein und mild, daß Quasimodo etwas Liebe zu seinen Glocken zurückkehren fühlte. Er stieg also auf den nördlichen Thurm, während unten der Kirchendiener ganz weit die Thüren der Kirche öffnete, die damals aus ungeheuern Flügeln von dickem, mit Leder überzogenem Holze bestanden, mit Nägeln aus vergoldetem Eisen beschlagen und von »sehr kunstvoll gearbeiteten« Schnitzereien umrahmt waren.

Als Quasimodo in der obern Glockenstube angekommen war, betrachtete er mit betrübtem Kopfschütteln die sechs Glocken, als ob er über etwas Fremdartiges jammerte, das sich in seinem Herzen zwischen sie und ihn gedrängt hätte. Aber als er sie in Schwingung versetzt hatte, als er diese Glockenreihe unter seiner Hand sich bewegen fühlte; als er sah – denn er hörte es ja nicht – wie der bebende Octavengang, einem von Zweig zu Zweig hüpfenden Vogel gleich, auf dieser Tonleiter auf- und ablief; als der Musikteufel, dieser Dämon, welcher eine blitzende Garbe von Fugen, Trillern und gebrochenen Accorden ausstreut, sich des armen Tauben bemächtigt hatte, – da wurde er wieder glücklich, er vergaß alles, und sein Herz, das sich weitete, ließ sein Antlitz aufleuchten.

Er eilte hin und her, er schlug in die Hände, lief von einem Seile zum andern, er feuerte die sechs Sänger mit Mund und Hand an, wie ein Kapellmeister, der verständige Musiker anspornt.

»Auf,« sagte er, »auf, Gabriele, schleudere deine ganze Tonkraft auf den Platz hinab, heute ist Festtag … Thibauld, keine Faulheit, du lässest nach; auf, auf denn! Bist du etwa eingerostet, Faulenzer? … Recht so! schnell! schnell! Man darf den Klöppel nicht sehen. Mache sie alle taub, wie mich … So ist’s recht, Thibauld, brav! … Wilhelm! Wilhelm! Du bist der größte und Pasquier ist der kleinste, aber Pasquier springt am besten. Wir wollen wetten, daß die, welche zuhören, ihn besser hören als dich … Gut! Hut! meine Gabriele, laut! immer lauter! He! was macht ihr denn alle beide da oben, ihr Spatzen? Ich sehe euch ja nicht den geringsten Lärm veranstalten… Was soll das mit den metallenen Mäulern da, die da aussehen, als ob sie gähnten, wo sie singen sollen? Auf! an die Arbeit! es ist Maria Verkündigung. Es ist schönes Wetter, da muß es auch ein schönes Geläute geben … Armer Wilhelm! ich sehe, du bist ganz außer Athem, mein dicker Bursche!«

Er war ganz und gar damit beschäftigt, seine Glocken anzuspornen, die alle sechs um die Wette tanzten und ihre glänzenden Rücken wie ein lärmender Zug spanischer Maulthiere schüttelten, welche durch die Zurufe des Treibers hier und da angefeuert werden. Plötzlich, als er seinen Blick zwischen den breiten Schieferschuppen hindurchfallen ließ, welche die senkrechte Mauer des Thurmes bis zu einer gewissen Höhe bedecken, sah er auf dem Platze ein junges, sonderbar herausgeputztes Mädchen, welches stehen blieb, auf dem Boden einen kleinen Teppich ausbreitete, auf welchem eine kleine Ziege sich niederlegte, und eine Gruppe Zuschauer, die sich im Kreise herum aufstellten. Dieser Anblick änderte plötzlich den Gang seiner Gedanken und kühlte seinen Musikenthusiasmus ab, wie ein Luftzug fließendes Harz erstarren läßt. Er hielt ein, wandte dem Glockenstuhle den Rücken zu, kauerte sich hinter dem Schieferwetterdache nieder und heftete jenen träumerischen, zärtlichen und milden Blick auf die Tänzerin, der schon einmal den Archidiaconus in Erstaunen versetzt hatte. Dabei verstummten die vergessenen Glocken alle auf einmal, zum Mißvergnügen der Liebhaber des Geläutes, welche die Glocken im guten Glauben von der Wechslerbrücke her angehört hatten und bestürzt davongingen, einem Hunde gleich, welchem man einen Knochen gewiesen hat und dem man einen Stein giebt.

  1. Prime: das erste Stundengebet in der katholischen Liturgie. Anm. d. Uebers.

3. Heirath des Phöbus.

Um die Abendzeit des nämlichen Tages, als die Gerichtsbeamten des Bisthums erschienen, um den zerrissenen Leichnam des Archidiakonus vom Pflaster des Vorhofes aufzuheben, war Quasimodo aus Notre-Dame verschwunden.

Ueber dieses Ereignis schwirrten viele Gerüchte durch Paris. Man zweifelte nicht daran, daß der Tag gekommen wäre, wo, zufolge ihres Vertrages, Quasimodo, d. h. der Teufel, den Claude Frollo, d. h. den Zauberer, holen mußte. Man nahm an, daß, als er sich der Seele bemächtigte, er den Körper zerschmettert hätte: wie die Affen, welche die Schale zerbrechen, um eine Nuß zu verspeisen. Deshalb wurde der Archidiakonus auch nicht in geweihter Erde bestattet.

Ludwig der Elfte starb das Jahr darauf, im Monat August 1483.

Was Peter Gringoire betrifft, so gelang es ihm, die Ziege zu retten, und er hatte Erfolge in der Trauerspieldichtung. Es scheint, daß, nachdem er den Versuch mit der Sterndeutern, der Philosophie, der Baukunst, der Alchymie, mit allen Thorheiten gemacht hatte, er von ihnen zum Trauerspieldichten zurückkehrte, was das Tollste von allen Tollheiten ist. Das nannte er nämlich »ein tragisches Ende genommen haben.« Folgendes sind die Worte, die man in Bezug auf seine Theatertriumphe seit 1483 in den Rechnungen des königlichen Haushaltes liest: »An Johann Marchand und Peter Gringoire, den Zimmermann und den Dichter, welche das Mysterium gefertigt und gedichtet haben, das im Châtelet zu Paris beim Einzuge des Herrn Legaten ausgeführt wurde, geordnet nach den Rollen, besagte gekleidet und vorgestellt, so wie es in dem genannten Mysterium gefordert wurde; und ingleichen die Bühnengerüste, die dazu nöthig, angefertigt zu haben; und für dessen Aufstellung: hundert Livres.«

Auch Phöbus von Châteaupers nahm ein tragisches Ende – er verheirathete sich.

4. Heirath des Quasimodo.

Wir haben soeben erzählt, daß Quasimodo am Todestage der Zigeunerin und des Archidiakonus aus Notre-Dame verschwunden war. Man sah ihn in der That nicht wieder, und man wußte nicht, was aus ihm geworden war.

In der Nacht, welche auf die Hinrichtung der Zigeunerin folgte, hatten die Henkersknechte ihren Leichnam vom Galgen abgenommen und ihn, dem Gebrauche gemäß, in die Gruft von Montfaucon gebracht.

Montfaucon war, wie Sauval sagt, »der älteste und prächtigste Galgen des Königreichs.« Zwischen den Vorstädten Le-Temple und Saint-Martin, ungefähr einhundertundsechzig Klafterlängen von den Mauern von Paris, einige Armbrustschüsse von La-Courtille, sah man aus dem Gipfel einer sanften, niedrigen Anhöhe, die hoch genug war, um einige Meilen in der Umgegend gesehen zu werden, ein Gebäude von seltsamer Gestalt, welches so ziemlich einem keltischen Druidentempel glich, und wo auch Menschenopfer dargebracht wurden.

Man denke sich auf dem Gipfel eines Kalkhügels ein großes Rechteck aus Mauerwerk, fünfzehn Fuß hoch, dreißig Fuß breit und vierzig Fuß lang, mit einer Thür, einer Rampe nach außen, und einer Plattform; auf dieser Plattform sechzehn ungeheuere, aufrecht stehende Säulen aus unbehauenem Steine von dreißig Fuß Höhe, die an drei der vier Seiten des Steinbaues, welcher sie trug, in Säulenordnung aufgestellt, und unter sich an ihrer Spitze durch starke Balken verbunden waren, an denen von Zwischenraum zu Zwischenraum Ketten herabhingen; an allen diesen Ketten Menschengerippe; in der Nähe in der Ebene ein steinernes Kreuz und zwei Galgen zweiten Ranges, die rings um das Hauptjoch Schößlinge zu treiben schienen; über dem allen, am Himmel, ein beständiges Geschwirr von Raben – und man kennt Montfaucon.

Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war der furchtbare Galgen, der vom Jahre 1328 herdatirte, schon sehr verfallen; die Balken waren wurmstichig, die Ketten verrostet, die Pfeiler mit Schimmel bedeckt; die Grundschichten aus behauenem Steine waren aus ihren Fugen gewichen, und das Gras wucherte auf der Plattform, wo kein menschlicher Fuß mehr wandelte. Es gab keinen schrecklichen Anblick in der Ferne, als denjenigen dieses Bauwerkes, vor allem des Nachts, wenn ein schwaches Mondlicht auf diese bleichen Schädel fiel, oder wenn der Nachtwind Ketten und Gerippe an einander schlug, und das alles sich im Dunkel bewegte. Die Gegenwart jenes Galgens reichte hin, um die ganze Umgegend in eine unheimliche Stätte zu verwandeln.

Die steinerne Mauermasse, welche dem verhaßten Bauwerke als Grundlage diente, war hohl. Man hatte dort eine weite Gruft angelegt, die mit einem alten, zerbrochenen Eisengitter verschlossen war, und wohinein man nicht allein die menschlichen Ueberreste warf, die von den Ketten von Montfaucon herabfielen, sondern auch die Körper der Unglücklichen, die an den übrigen stehenden Galgen von Paris hingerichtet worden waren. In dieses tiefe Beinhaus, wo so viel menschlicher Staub und so viele Verbrechen zusammen vermodert sind, sind nach und nach unzählige Unschuldige gekommen, um ihre Gebeine zur Ruhe zu bringen – von Enguerrand von Marigni an, der Montfaucon einweihete und ein Gerechter war, bis zum Admiral von Coligny, der den Schluß davon machte, und der auch ein Gerechter war.

Was nun das geheimnisvolle Verschwinden Quasimodos betrifft, so ist Folgendes alles, was wir haben entdecken können.

Ohngefähr zwei oder anderthalb Jahre nach den Begebenheiten, welche diese Erzählung beschließen, als man in der Gruft von Montfaueon den Leichnam Oliviers-le-Daim aufsuchen wollte, der zwei Tage zuvor gehangen worden war, und dem Karl der Achte die Gnade gewährte, zu Saint-Laurent in besserer Gesellschaft beerdigt zu werden, fand man unter all den scheußlichen Gerippen zwei Skelette, von denen das eine das andere in sonderbarer Weise umarmt hielt. Das eine dieser beiden Skelette, welches dasjenige einer Frau war, hatte noch einige Kleiderfetzen eines Stoffes an sich, der weiß gewesen war, und man sah um seinen Hals eine Kette von Adrezarachperlen mit einem kleinen Säckchen aus Seidenstoff, das mit grünen Glassteinen verziert, und das offen und leer war. Diese Gegenstände hatten so wenig Werth, daß der Henker zweifelsohne kein Verlangen danach getragen hatte. Das andere, welches dieses eng umarmt hielt, war ein männliches Skelett. Man machte die Bemerkung, daß seine Wirbelsäule gekrümmt war, der Kopf zwischen den Schulterblättern saß, und ein Bein kürzer als das andere war. Es zeigte überdies keinen Bruch der Wirbelsäule am Genick; und es lag zu Tage, daß er nicht gehangen worden war. Der Mann, welchem es angehört hatte, war also hierher gekommen, und er war hier gestorben. Als man es von dem Skelette, welches es umfaßt hielt, losmachen wollte, zerfiel es in Staub.

 

Ende des zweiten und letzten Bandes.

4. ΑΝΑΤΚΗ. 7

An einem schönen Morgen des nämlichen Monats März, ich glaube, es war am neunundzwanzigsten, einem Sonnabende, am Tage des heiligen Eustache, bemerkte unser junger Freund, der Student Johann Frollo du Moulin, als er sich eben ankleidete, daß die Taschen, die seine Börse enthielten, nicht den leisesten Metallklang von sich gaben. »Arme Börse,« sprach er, indem er sie aus der Hosentasche zog, »was! nicht der geringste Pariser Heller mehr drin! wie haben dich doch die Würfel, Bierkannen und Venus 8 grausamerweise ausgebeutelt! Wie bist du nun leer, runzlig und schlaff! Du gleichst dem Schlunde einer Furie! Ich bitte euch, Herr Cicero und Herr Seneca, deren ganz verschrumpfte Exemplare ich verstreut auf dem Boden liegen sehe, was nützt es mir, besser als ein Münzmeister oder ein Jude von der Wechslerbrücke zu wissen, daß ein goldener Kronthaler fünfunddreißig Unzen, jede zu fünfundzwanzig Sous acht Pariser Heller gilt, und daß ein Kreuzthaler sechsunddreißig Unzen, zu sechsundzwanzig Sous und sechs Heller Tours’sche Münze das Stück macht, wenn ich nicht einen erbärmlichen schwarzen Heller an eine Doppel-Sechse zu wagen habe! Ach! Consul Cicero! das ist doch keine Calamität, aus der man sich mit Umschreibungen, mit einem » quemadmodum« 9 oder »verum enim vero« 10 herauszieht!«

Er kleidete sich mürrisch an. Ein Gedanke war ihm gekommen, während er sich die Schuhe zuschnallte; aber er wies ihn anfangs von sich; jedoch kam er wieder; und er zog seine Weste verkehrt an, was offenbar das Zeichen eines heftigen, inneren Kampfes ist. Schließlich warf er seine Mütze zur Erde und rief: »Desto schlimmer! es mag kommen, wie es wolle. Ich will zu meinem Bruder gehen! Ich werde da zu einer Strafpredigt kommen, aber auch einen Thaler erwischen.«

Dann zog er schleunigst sein pelzverbrämtes Wamms an, raffte seine Mütze auf und ging verzweifelt davon.

Er ging die Rue-de-la-Harpe nach der Altstadt hinab. Als er an der Rue-de-la-Huchette vorbeikam, begann der Duft jener bewunderungswürdigen Bratspieße, die sich hier beständig drehen, sein Geruchsorgan zu kitzeln, und er warf einen verliebten Blick in die cyklopische Garküche hinein, die eines Tages dem Franziskaner Calatagironne jenen pathetischen Ausruf entlockte: » Veramente, queste rotisserie sono cosa stupenda11 Aber Johann besaß nichts, womit er frühstücken konnte, und er verschwand mit einem tiefen Seufzer unter dem Thore von Klein-Châtelet, diesem ungeheuern Doppel-Kleeblatte von massiven Thürmen, das den Zugang zur Altstadt hütete.

Er nahm sich nicht einmal die Zeit, im Vorbeigehen, wie es Sitte war, einen Stein nach dem Standbilde jenes elenden Périnet Leclerc zu werfen, welcher unter Karl dem Sechsten Paris an die Engländer verrathen hatte, ein Verbrechen, welches sein Bildnis, dessen Fläche von Steinwürfen zerschellt und mit Koth besudelt war, drei Jahrhunderte lang, wie an einem ewigen Pranger, an der Ecke der Rue-de-la-Harpe und der Rue-de-Buci hat büßen müssen.

Als Johann de Molendino die Kleine Brücke überschritten und die Rue Neuve-Sainte-Genevieve durchwandert hatte, befand er sich vor Notre-Dame. Nun packte ihn wieder die Unentschlossenheit, und er spazierte einige Augenblicke um die Bildsäule des Herrn Legris herum, wobei er sich beklommen die Worte wiederholte: »Die Strafpredigt ist dir gewiß, der Thaler ist zweifelhaft!«

Er hielt einen Kirchendiener an, der aus dem Kloster kam. »Wo ist der Herr Archidiaconus von Josas?«

»Ich glaube, daß er sich in seinem Thurmverstecke befindet,« sagte der Diener, »und ich rathe Euch nicht, ihn da zu stören, wenn Ihr nicht etwa von Seiten jemands, wie des Papstes oder unseres gnädigen Herrn, des Königs, kommt.«

Johann schlug die Hände zusammen. »Ei! der Teufel! das ist ja eine prächtige Gelegenheit, das berüchtigte kleine Zaubergemach kennen zu lernen!«

Von diesem Gedanken getrieben, verschwand er entschlossen in der kleinen, dunkeln Pforte, und begann die Wendeltreppe des heiligen Aegidius, welche nach den obern Stockwerken des Thurmes führt, hinaufzusteigen. »Ich will mich überzeugen!« sprach er unterwegs zu sich. »Bei den Schmerzen der heiligen Jungfrau! es muß doch ein sonderbares Etwas mit dieser Zelle sein, die mein ehrwürdiger Bruder verbirgt wie seine Scham! Man behauptet, er heize hier riesige Herde und lasse den Stein der Weisen bei mächtigem Feuer sieden. Bei Gott! ich sorge mich um den Stein der Weisen so viel, wie um einen Kieselstein, und möchte auf seinem Herde lieber einen Ostereierkuchen mit Speck, als den größten Stein der Weisen von der Welt finden!«

Als er auf der Säulchengalerie angelangt war, verschnaufte er einen Augenblick, und fluchte zahllose Karren voll Teufel auf die endlose Treppe herab; dann setzte er seinen Aufgang durch die enge Thüre des nördlichen Thurmes fort, die jetzt dem Publikum verboten ist. Als er nach einigen Augenblicken an der Glockenstube vorübergekommen war, traf er auf einen kleinen Treppenabsatz, welcher in eine Seitenvertiefung führte; und unter der Wölbung auf eine niedrige Spitzbogenthüre, deren eine, gegenüber in die Zirkelmauer der Treppe gebrochene Schießscharte, ihm das ungeheure Schloß und den mächtigen Eisenbeschlag zu bemerken gestattete. Alle die Personen, die heute neugierig sein könnten, diese Thür zu besichtigen, vermögen sie an folgender Inschrift zu erkennen, die in hellen Buchstaben auf die dunkle Mauer eingegraben ist: »Ich bete Coralie an, 1823. Unterzeichnet: Ugène.« (»Unterzeichnet« steht im Wortlaute.)

»O!« sagte der Student, »hier ist es sicherlich.«

Der Schlüssel stak im Schlosse. Die Thüre war nur angelehnt; er machte sie sacht auf und steckte den Kopf durch die Oeffnung.

Der Leser wird gewiß schon das bewundernswürdige Werk Rembrandts, dieses Shakespeares der Malerei, durchgeblättert haben. Unter den vielen bewunderungswürdigen Stichen ist namentlich ein Blatt, das, wie man vermuthet, den Doctor Faust vorstellt, und das man ohne geblendet zu werden, nicht betrachten kann. Es stellt eine düstere Zelle vor; in der Mitte steht ein mit scheußlichen Gegenständen (Todtenköpfen, Planetengloben, Retorten, Compassen, hieroglyphenbeschriebenen Pergamenten) bedeckter Tisch. Der Doctor befindet sich vor diesem Tische, in seinen großen Ueberrock gehüllt, das Haupt bis zu den Brauen mit der Pelzmütze bedeckt. Man sieht von ihm nur die Hälfte des Leibes. Er hat sich, halb aus seinem ungeheuern Lehnstuhle erhoben; die runzeligen Hände stützen sich auf den Tisch, und er betrachtet mit Neugierde und Schrecken einen großen, leuchtenden, aus magischen Buchstaben geformten Kreis, der auf der Mauer im Hintergrunde wie das Sonnenspectrum in dem dunkeln Zimmer glänzt. Diese kabbalistische Sonne scheint vor dem Auge zu flimmern und erfüllt die matterleuchtete Zelle mit ihrem geheimnisvollen Scheine. Es ist schrecklich und schön zugleich.

Etwas der Zelle Fausts ziemlich Aehnliches bot sich dem Auge Johanns dar, als er seinen Kopf durch die halbgeöffnete Thür zu stecken gewagt hatte. Es war gleichfalls ein düsteres und kaum erleuchtetes Gemach. Auch hier befanden sich ein großer Lehnstuhl und ein großer Tisch, Compasse, Destillirkolben, an der Decke hängende Thierskelette, auf dem Boden ein rollender Himmelsglobus, Pferdeköpfe im bunten Gemisch mit Glasflaschen, in denen Blattgold flimmerte, Todtenköpfe, welche auf Pergamentblättern ruhten, die über und über mit Figuren und Schriftzeichen besäet waren, dicke Handschriften, welche ganz geöffnet und ohne Rücksicht auf die geknickten Pergamentecken, übereinander lagen, kurz – aller Kehricht der Wissenschaft, und überall auf diesem Wirrwarr Staub und Spinneweben; aber nirgends fand sich der Kreis aus leuchtenden Buchstaben, kein Doctor in Verzückung, der die flammende Erscheinung betrachtete, so wie der Adler nach seiner Sonne blickt …

Dennoch war die Zelle durchaus nicht einsam. Ein Mann saß in dem Lehnstuhle und auf den Tisch gebeugt. Johann, welchem er den Rücken zukehrte, konnte nur seine Schultern und das Hintertheil des Kopfes sehen; aber es war nicht schwer, diesen Kahlkopf zu erkennen, dem die Natur eine unvergängliche Tonsur gegeben hatte, als ob sie durch dieses äußerliche Sinnbild die unwiderlegliche kirchliche Bestimmung des Archidiaconus hätte andeuten wollen.

Johann erkannte nun seinen Bruder; aber die Thür hatte sich so leise geöffnet, daß nichts den Dom Claude von seiner Gegenwart benachrichtigt hatte. Der neugierige Student benutzte dies, um einige Augenblicke die Zelle mit Muße auszukundschaften. Ein breiter Kochofen, den er anfänglich nicht bemerkt hatte, befand sich links vom Stuhle unter dem Fenster. Der Lichtstrahl, der durch diese Oeffnung hereinfiel, drang durch das runde Gewebe einer Spinne, welche ihre seine Rosette geschmackvoll im Bogen des Dachfensters angebracht hatte, und in deren Mitte das webekundige Thier, als das Centrum dieses Spitzenrades, unbeweglich saß. Auf dem Ofen waren allerlei Arten von Gefäßen, Steingutkruken, Glasretorten, Destillirkolben mit Kohle bunt durcheinander aufgestellt. Seufzend bemerkte Johann, daß sich keine Bratpfanne darunter befand. »Es ist kalt – das Küchengeschirr!« dachte er.

Uebrigens war kein Feuer im Ofen, und es schien sogar, daß man seit langem keins darin angezündet hatte. Eine gläserne Maske, welche Johann unter den Geräthschaften für Alchymie beobachtete, und die ohne Zweifel dazu diente, das Gesicht des Archidiaconus, wenn er irgend eine fürchterliche Substanz zubereitete, zu schützen, lag mit Staub bedeckt und anscheinend vergessen in einer Ecke. Daneben lag ein ebenso staubiger Blasebalg, und seine obere Fläche trug folgende in kupfernen Buchstaben eingelegte Inschrift: »Spira, Spera.« 12

Andere Inschriften fanden sich, nach Sitte der Alchymisten, in großer Zahl an die Wände geschrieben; einige mit Tinte gezogen, andere mit einem metallenen Griffel eingegraben: übrigens gothische, hebräische, griechische und lateinische Schriftzüge in bunter Reihe durcheinander durch; die Inschriften aufs Gerathewohl hingeschrieben, diese über jene weg, so daß die neuesten die ältern unleserlich machten, und alle sich durcheinander wirrten, wie die Zweige eines Gestrüppes, oder wie die Lanzen bei einem Handgemenge. Es war in der That ein ziemlich wirres Gemisch aus allen philosophischen Systemen, von allerlei Einfällen, von allerlei Weisheitssprüchen der Menschheit. Hier und da stand ein solcher Ausspruch, der über alle andern, wie eine Fahne unter Lanzenspitzen hervorglänzte. Gewöhnlich war es ein kurzer lateinischer oder griechischer Denkspruch, wie solche das Mittelalter so trefflich ausdrückte: »Unde? inde? – Homo homini monstrum. – Astra, castra, nomen, numen. – Μέγα βιβλιον, μέγα χαχόν – Sapere aude. – Fiat ubi vult etc.; 13 manchmal ein Wort, das augenscheinlich jeden Sinnes entblößt war, wie: Αναγχοφαγια – was vielleicht eine bittere Anspielung auf die Klosterherrschaft enthielt; bisweilen endlich einen einfachen Lehrsatz aus der Kirchenzucht, der in einen regelrechten Hexameter gekleidet war, wie folgenden: »Coelestem dominum terrestrem dicito domnum.« 14 Hier und da fanden sich auch hebräische Stellen, von denen Johann, der schon ein schwacher Grieche war, nichts verstand; und das Ganze wurde in jedem Augenblicke von Sternen, Menschen- oder Thierfiguren, von sich schneidenden Dreiecken durchkreuzt, was alles nicht wenig dazu beitrug, die besudelte Zellenwand einem Blatte Papier ähnlich zu machen, auf welchem ein Affe eine tintengefüllte Feder hätte herumspazieren lassen. Das ganze Zellchen gewährte übrigens den Anblick vollständiger Vernachlässigung und gänzlichen Verfalles; und der schlechte Zustand der Gerätschaften ließ vermuthen, daß der Besitzer schon ziemlich lange durch andere Beschäftigungen von seinen Arbeiten abgehalten war. Dieser Besitzer nun, welcher über ein dickes, mit seltsamen Malereien geschmücktes Manuscript gebückt war, schien von einem Gedanken gequält zu werden, welcher sich unaufhörlich in seine Betrachtungen einzumischen bestrebte. So wenigstens urtheilte Johann, als er ihn, nach langen, sinnenden Pausen, wie einen Menschen, der im tiefen Traume laut spricht, ausrufen hörte:

»Ja, Menu 15 sagte es und Zoroaster 16 lehrte es! Die Sonne entsteht aus Feuer, der Mond aus der Sonne; das Feuer ist die Seele des großen Alls; seine Grundsubstanztheilchen ziehen und rieseln unaufhaltsam in endlosen Strömungen durch die Welt! An den Punkten wo diese Strömungen sich am Himmel schneiden, erzeugen sie das Licht; an ihrem Schneidepunkte auf der Erde bringen sie das Gold hervor … Licht, Gold – beide sind dasselbe! Feuer im festen Zustande … Der Unterschied zwischen Sichtbarem und Greifbarem, zwischen Flüssigem und Festem bei einer und derselben Substanz, zwischen Wasserdampf und Eis, nichts weiter … Das sind durchaus keine Träumereien … das ist das allgemeine Gesetz in der Natur … Aber wie fängt man es an, um das Geheimnis dieses Naturgesetzes in die Wissenschaft herüberzuziehen? Was! dieses Licht, welches über meine Hand flutet, ist Gold? Es handelt sich nur darum, diese nämlichen, nach einem bestimmten Gesetze verbreiteten Substanztheilchen nach einem bestimmten andern Gesetze zu verdichten… Wie das anfangen? – Einige haben ausgedacht, einen Sonnenstrahl zu vergraben, Averrhoes 17 … ja, Averrhoes ist’s … Averrhoes hat einen solchen unter dem ersten Pfeiler, links vom Hochaltare des Koran, in der großen Moschee zu Cordova vergraben; aber man darf die Höhle erst in achttausend Jahren öffnen, um zu sehen, ob das Unternehmen gelungen ist.«

»Zum Teufel,« sagte Johann für sich, »das ist eine lange Zeit, auf einen Thaler zu warten.«

»… Andere haben gedacht,« fuhr der Archidiaconus fort, »daß es besser wäre, mit einem Lichtstrahle des Sirius zu operiren. Aber es ist sehr schwer, diesen Strahl rein zu bekommen, wegen der gleichzeitigen Nähe anderer Sterne, deren Strahlen sich mit ihm zu vereinigen pflegen. Flamel ist der Meinung, daß es einfacher wäre mit dem Erdfeuer zu operiren … Flamel! welch ein Name voll Vorherbestimmung. Flamma! 18 … Ja, das Feuer! das ist alles … der Diamant ist in der Kohle enthalten, das Gold befindet sich im Feuer. Aber wie soll man es herausziehen? … Magistri behauptet, daß es gewisse Frauennamen von so süßem und geheimnisvollem Zauber gäbe, daß es schon hinreiche, sie während der Operation auszusprechen … Wir wollen lesen, was Menu darüber sagt; »Wo die Frauen geehrt werden, da sind die Gottheiten erfreut; wo sie verachtet werden, da ist es unnütz, zu Gott zu beten. – Der Mund eines Weibes ist immer rein; er ist ein fließendes Wasser, ist ein Sonnenstrahl. – Der Name einer Frau muß angenehm, lieblich sein, die Phantasie anregen; muß auf lange Vocale endigen und Segensworten gleichen.« … »Ja, der Weise hat recht; in der That: Maria, Sophia, die Esmeral– … Hölle und Verdammnis! immer derselbe Gedanke!«

Und er machte das Buch heftig zu. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, als ob er einen Gedanken verjagen wollte, von dem er gequält wurde; dann nahm er vom Tische einen Nagel und einen kleinen Hammer, dessen Stiel sonderbar mit kabalistischen Zeichen bemalt war.

»Seit einiger Zeit,« sprach er mit bitterem Lächeln, »scheitere ich bei allen meinen Experimenten! Die fixe Idee beherrscht mich und ermattet mein Gehirn, wie ein feuriges Kleeblatt. Ich habe nicht einmal das Geheimnis des Cassiodorus 19 entdecken können, dessen Lampe ohne Docht und ohne Oel brannte. Und das ist doch eine so einfache Sache!«

»Daß dich die Pest –!« brummte Johann in den Bart.

»… So ist also,« fuhr der Priester fort, »ein einziger erbärmlicher Gedanke im Stande, einen Menschen schwach und albern zu machen! O! wie würde Claude Pernelle über mich lachen, sie, die den Nicolaus Flamel nicht einen Augenblick von der Fortsetzung seines großen Werkes abzuziehen vermocht hat! Was? Ich halte in meiner Hand den magischen Hammer des Zechieles! Bei jedem Schlage, den der furchtbare Rabbi aus der Tiefe seiner Zelle mit dem Hammer auf den Nagel that, versank derjenige seiner Feinde, den er verflucht hatte, und wäre er zweitausend Meilen weit entfernt gewesen, eine Elle tief in die Erde, die ihn verschlang. Der König von Frankreich selbst sank, als er unvorsichtigerweise an die Thüre des Wunderthäters klopfte, bis an die Knien in den Boden seiner Stadt Paris hinein … Das hat sich vor drei Jahrhunderten zugetragen … Nun gut! ich besitze den Hammer und den Nagel, und beides sind in meinen Händen keine fürchterlicheren Werkzeuge, als ein Hammer in den Händen eines Grobschmiedes. Und doch bedarf es blos das magische Wort wiederzufinden, welches Zechieles aussprach, wenn er auf seinen Nagel schlug.«

»Possen!« dachte Johann.

… Wollen sehen, wollen’s versuchen!« fuhr der Archidiaconus lebhaft fort. »Wenn es mir gelingt, so werde ich einen blauen Funken aus dem Nagelkopfe herausspringen sehen … Emen-Hetan! Emen-Hetan! … Das ist’s nicht… Sigeani! Sigeani! … Möge der Nagel das Grab unter demjenigen öffnen, der den Namen Phöbus trägt! … Verflucht! immer noch und ewig derselbe Gedanke!« Und zornig warf er den Hammer von sich. Dann ließ er sich so in den Lehnstuhl und über den Tisch gebeugt nieder, daß Johann ihn hinter dem ungeheuern Bücherhaufen ans dem Gesichte verlor. Einige Minuten lang sah er nichts mehr von ihm, als seine krampfhaft über dem Buche geballte Faust. Plötzlich stand Dom Claude auf, ergriff einen Zirkel und schnitt schweigend das griechische Wort:

ÁÍÁÔÊÇ

in großen Buchstaben in die Wand ein.

»Mein Bruder ist ein Narr,« sagte Johann für sich; »es wäre viel einfacher gewesen, »Fatum« 20 zu schreiben; nicht jeder ist verpflichtet, Griechisch zu verstehen.«

Der Archidiaconus setzte sich jetzt wieder in seinen Lehnstuhl, stützte den Kopf in beide Hände, wie ein Kranker zu thun pflegt, dessen Kopf schwer und glühend ist.

Der Student beobachtete seinen Bruder mit Erstaunen. Er freilich, der seinem Herzen freien Lauf ließ, der keinem Gesetze in der Welt, als dem wahren Naturgesetze, Folge leistete, er, der den Leidenschaften nach seinen Neigungen die Zügel schießen ließ, und bei dem der See großer Gemüthsbewegungen immer trocken war, weil er ihm jeden Morgen in freigebiger Weise neue Abzugsgräben öffnete – er begriff ihn nicht; er wußte nicht, mit welcher Raserei dieses Meer der menschlichen Leidenschaften wogt und schäumt, wenn man ihm jeden Abfluß versperrt, wie es anschwillt, wie es steigt, wie es über das Ufer tritt, wie es das Herz aushöhlt, wie es in innerem Schluchzen und dumpfen Zuckungen berstet, bis daß es seine Dämme zerrissen und sein Bett gesprengt hat. Die strenge und eisige Hülle Claude Frollo’s, diese kalte Außenseite schroffer und unnahbarer Tugend, hatte Johann immer getäuscht. Der fröhliche Student hatte niemals daran gedacht, daß kochende, rasende Lava tief unter dem schneeigen Gipfel des Aetna verborgen liegt.

Wir wissen nicht, ob er sich sofort von diesen Gedanken Rechenschaft gab; aber so leichtsinnig er auch war, so begriff er doch, daß er etwas gesehen hatte, was er nicht hätte sehen sollen; daß er die Seele seines ältern Bruders soeben in einer ihrer geheimsten Regungen überrascht hatte, und daß Claude dies nicht merken durfte. Wie er sah, daß der Archidiaconus in seine anfängliche Regungslosigkeit zurückgesunken war, zog er seinen Kopf ganz leise zurück und machte hinter der Thüre ein Geräusch von Tritten, wie jemand, der ankommt und seine Ankunft meldet.

»Herein!« rief der Archidiaconus aus dem Innern der Zelle; »ich erwartete Euch. Ich habe absichtlich den Schlüssel in der Thüre stecken lassen; tretet ein, Meister Jacob.«

Der Student trat dreist ein. Der Archidiaconus, den ein solcher Besuch an einem solchen Orte sehr in Verlegenheit setzte, erschrak in seinem Lehnstuhle. »Was!! Ihr seid es, Johann?«

»Es ist immerhin einer, dessen Namen mit J anfängt,« sagte der Student mit rothem, dreisten und fröhlichen Gesichte.

Das Antlitz Dom Claude’s hatte seinen strengen Ausdruck angenommen.

»Was habt Ihr hier zu schaffen?«

»Bruder,« antwortete der Student, der sich bemühte, eine sittsame, klägliche und bescheidene Miene anzunehmen, und seine Mütze mit einem Ausdrucke der Unschuld zwischen den Händen drehte, »ich wollte Euch bitten …«

»Um was?«

»Um ein wenig moralische Belehrung, die ich sehr nöthig habe.« Johann wagte nicht laut hinzuzusetzen: »Und um ein wenig Geld, das ich noch nöthiger habe.« Dieser letzte Theil seines Satzes blieb unausgesprochen.

»Junger Herr,« sagte der Archidiaconus mit kaltem Tone, »ich bin sehr unzufrieden mit Euch.«

»O weh!« seufzte der Student.

Dom Claude rückte mit seinem Lehnstuhle etwas herum und blickte Johann scharf an. »Es ist mir lieb, daß ich Euch sehe.«

Das war ein fürchterlicher Eingang. Johann machte sich auf einen heftigen Stoß gefaßt.

»Johann, es gehen mir täglich Beschwerden über Euch zu. Was ist das mit jener Schlägerei, bei der Ihr einen kleinen Vicomte Albert von Ramonchamp mit Stockhieben zugerichtet habt? …«

»O!« sagte Johann, »hat guten Grund! Ein erbärmlicher Page, der sich damit belustigte, die Studenten dadurch zu besudeln, daß er sein Pferd in den Koth traben ließ!«

»Was ist das dann,« fuhr der Archidiaconus fort, »mit Mahiet Fargel, dessen Rock Ihr zerrissen habt? Tunicam dechiraverunt, 21 besagt die Beschwerde.«

»Ach was! ein schäbiges Mützchen von Montaigu! Ist’s nicht so?«

»Die Beschwerde sagt » tunicam« und nicht » cappettam«. 22 Versteht Ihr Latein?«

Johann antwortete nicht.

»Ja,« fuhr der Priester fort und schüttelte den Kopf, »da haben wir’s, wie die Studien und die Wissenschaften jetzt beschaffen sind! Latein versteht man kaum noch, das Syrische ist unbekannt, das Griechische dermaßen verhaßt, daß es bei den ersten Gelehrten nicht für Unwissenheit gilt, ein griechisches Wort, ohne es zu lesen, zu überspringen, und daß man spricht: » Graecum est, non legitur23

Der Student schlug mit Entschlossenheit die Augen auf. »Herr Bruder, gestattet Ihr, daß ich Euch auf gut Französisch jenes griechische Wort erkläre, das da an die Mauer geschrieben ist?«

»Welches Wort?«

»ΑΝΑΤΚΗ«

Ein flüchtiges Roth überzog die faltigen Wangen des Archidiaconus gleich einem Rauchstoße, der äußerlich die inneren Erschütterungen eines Vulkanes ankündigt. Der Student bemerkte es kaum.

»Nun wohl, Johann!« stotterte der ältere Bruder mit Mühe, »was will dieses Wort sagen?«.

» Das Verhängnis

Dom Claude wurde bleich, und der Student fuhr in Sorglosigkeit fort: »Und jenes Wort, welches darunter steht, von der nämlichen Hand hineingekratzt: Αναγνεια bedeutet »Unlauterkeit«. Ihr sehet, daß man sein Griechisch versteht.«

Der Archidiaconus blieb stumm. Diese Lection im Griechischen hatte ihn nachdenklich gemacht. Der kleine Johann, der alle Kniffe eines nichtsnutzigen Burschen besaß, hielt den Augenblick für günstig, um sein Anliegen zu wagen. Er nahm daher einen äußerst sanften Ton an, und begann:

»Mein lieber Bruder, habt Ihr einen derartigen Haß auf mich, daß Ihr mir wegen ein Paar böser Ohrfeigen und Faustschlägen, die im offenen Kampfe an, Gott weiß, welche Buben und Fratzengesichter, quibusdam marmosetis, ausgetheilt wurden, ein böses Gesicht macht? Ihr seht, lieber Bruder Claude, daß man sein Latein versteht.«

Aber diese ganze schmeichelnde Gleißnerei machte auf den strengen großen Bruder durchaus nicht die gewohnte Wirkung. Cerberus 24 biß nicht in den Honigkuchen. Die Stirn des Archidiaconus entrunzelte sich nicht um eine Falte.

»Wo wollt Ihr damit hin?« sagte er im trockenen Tone.

»Nun gut, zur Sache! mein Anliegen ist das!« antwortete muthig Johann, »ich brauche Geld.«

Bei dieser dreisten Erklärung nahm die Physiognomie des Archidiaconus plötzlich einen schulmeisterlichen und väterlichen Ausdruck an.

»Ihr wißt, Herr Johann, daß unser Lehnsgut zu Tirechappe, wenn man den Grundzins und die Einkünfte von den einundzwanzig Häusern in Bausch und Bogen anschlägt, nur neununddreißig Livres, elf Sols und sechs Heller Pariser Geld einbringt. Das ist zwar um die Hälfte mehr, als zur Zeit der Gebrüder Paclet, aber es ist nicht viel.«

»Ich brauche Geld,« sagte Johann mit stoischer Ruhe.

»Ihr wißt, daß das geistliche Gericht entschieden hat, unsere einundzwanzig Häuser hängen als völliges Lehen vom Bisthume ab, und wir könnten den Lehnseid nur dadurch loskaufen, wenn wir dem ehrwürdigen Bischofe zwei Mark vergoldetes Silber im Werthe von sechs Livres Pariser Geld zahlen. Nun, diese zwei Mark habe ich noch nicht zusammenbringen können. Ihr wißt es.«

»Ich weiß, daß ich Geld brauche,« wiederholte Johann zum dritten Male.

»Und was wollt Ihr damit machen?«

Diese Frage ließ einen Hoffnungsschimmer in Johanns Augen erglänzen. Er nahm seine schmeichelnde und süßliche Miene wieder an.

»Glaubt mir, theurer Bruder Claude, ich werde mich in keiner schlechten Absicht an Euch wenden. Es handelt sich nicht darum, mir mit Euern Unzen in den Weinschenken einen schönen Tag zu machen, und in den Straßen von Paris mit meinem Lakeien, cum meo laquasio, auf goldbrokatener Pferdedecke spazieren zu reiten. Nein, Bruder, es handelt sich um ein gutes Werk.«

»Was für ein gutes Werk?« fragte Claude etwas überrascht.

»Da sind zwei meiner Freunde, welche für das Kind einer armen Witwe vom Kloster ein Wickelzeug kaufen wollen. Es ist ein Werk der Barmherzigkeit. Das wird drei Gulden kosten, und ich möchte das Meinige dazu beitragen.«

»Wie heißen Eure beiden Freunde?«

»Peter l’Assommeur und Baptist Croque-Oison.«

»Hm!« sagte der Archidiaconus; »das sind Namen, die zu einem guten Werke passen, wie eine Donnerbüchse auf einen Hochaltar.«

Sicherlich hatte Johann die zwei Freundesnamen sehr schlecht gewählt. Er fühlte das zu spät.

»Und dann,« fuhr der scharfsinnige Claude fort, »was ist das denn für ein Kinderzeug, welches drei Gulden kosten soll, und noch dazu für das Kind einer Klosterwitwe. Seit wann haben die Klosterwitwen Kinder im Wickelbette?«

Johann begann noch einmal im vertraulichen Tone:

»Nun gut, ja! ich brauche Geld, um heute Abend Isabeau-la-Thierrye im Val-d’Amour zu besuchen!«

»Elender Wüstling!« rief der Priester.

»Αναγνεια!« sagte Johann.

Dieses Citat, welches der Student vielleicht aus Bosheit der Wand der Zelle entlehnte, machte auf den Priester einen merkwürdigen Eindruck. Er biß sich in die Lippen, und sein Zorn erlosch in Schamröthe. »Verlaßt mich,« sagte er drauf zu Johann. »Ich erwarte jemanden.«

Der Student wagte noch eine Anstrengung.

»Bruder Claude, gebt mir wenigstens eine Kleinigkeit, um essen zu können.«

»Wie weit seid Ihr mit den Decretalien Gratians?« fragte Dom Claude.

»Ich habe meine Hefte verloren.«

»Wie weit seid Ihr mit den lateinischen Humanitätsstudien?«

»Man hat mir mein Exemplar des Horatius gestohlen.«

»Wo steht Ihr im Aristoteles?«

»Meiner Treu! Bruder, wer ist doch jener Kirchenvater, der da sagt, die Irrthümer der Ketzer hätten zu allen Zeiten das Buschwerk der Aristotelischen Metaphysik als Schlupfwinkel benutzt? Aristotelisches Heu! Ich will mir nicht meine Religion an seiner Metaphysik zerfetzen lassen.«

»Junger Mensch,« fuhr der Archidiaconus fort, »beim letzten Einzuge des Königs befand sich ein junger Edelmann, mit Namen Philipp von Comines, der auf der Schabracke seines Pferdes die gestickte Devise trug, die ich Eurem Nachdenken empfehle: »Qui non laborat, non manducet.« 25

Der Scholar schwieg einen Augenblick, den Finger am Ohre, das Auge an den Boden geheftet, und mit erzürnter Miene. Plötzlich kehrte er sich mit der lebhaften Geschwindigkeit einer Bachstelze nach Claude hin.

»Also, lieber Bruder, Ihr verweigert mir einen Pariser Sou, um mir ein Stück Brot bei einem Bäcker zu kaufen?«

»Qui non laborat, non manducet.«

Nach dieser Antwort des unbeugsamen Archidiaconus verbarg Johann das Gesicht in seinen Händen, wie ein schluchzendes Weib, und schrie mit dem Ausdrucke der Verzweiflung: »Οτοτοτοτοτοτοτο«

»Was soll das denn heißen, Bursche?« fragte Claude, von dieser Albernheit überrascht.

»Nun wohl, was!« sagte der Student, und er richtete auf Claude wieder die frechen Augen, in die er eben seine Fäuste gedrückt hatte, um ihnen die Röthung von Thränen zu geben.

»Das ist griechisch! Es ist ein Anapäst des Aeschylus, welcher auf das Vollkommenste den Schmerz ausdrückt.«

Und hierbei brach er in ein so närrisches und heftiges Lachen aus, daß er auch dem Archidiaconus ein Lächeln abnöthigte. Es war in der That Claude’s Schuld: warum hatte er diesen Buben so sehr verzogen?

»Ach! lieber Bruder Claude,« fuhr Johann, von diesem Lächeln ermuthigt, fort, »sehet einmal meine durchlöcherten Halbstiefeln an. Giebt es einen tragischern Cothurn in der Welt, als Stiefeln, deren Sohlen die Zunge herausstecken?«

Der Archidiaconus hatte plötzlich seinen ursprünglichen Ernst wieder gefunden.

»Ich werde Euch neue Stiefeln schicken, aber kein Geld.«

»Nur einen armen kleinen Sou, Bruder,« fuhr demüthig bittend Johann fort. »Ich werde den Gratian auswendig lernen; ich will gern an Gott glauben; ich will ein wahrer Pythagoras an Wissen und an Tugend sein. Aber einen kleinen Sou, wenn ich bitten darf! Wollt Ihr, daß mich der Hunger mit seinem Rachen verschlingt, der da klaffend vor mir steht, und schwärzer, stinkender und tiefer ist, als ein Tartarus, oder als die Nase eines Mönches?«

Dom Claude schüttelte sein runzliges Haupt.

»Qui non laborat …«

Johann ließ ihn nicht zu Ende kommen.

»Nun gut,« schrie er, »zum Teufel! Es lebe die Freude! Ich will mich in Schenken herumtreiben, mich prügeln, will Krüge zerschlagen und die Mädchen besuchen!«

Und dabei warf er seine Mütze gegen die Mauer und ließ seine Finger wie Castagnetten schnalzen.

Der Archidiaconus sah ihn mit finsterer Miene an.

»Johann, Ihr habt gar keine Seele.«

»In diesem Falle fehlt mir, nach Epikur, etwas, das aus einem namenlosen Etwas gemacht ist.«

»Johann, Ihr müßt ernstlich daran denken, Euch zu bessern.«

»Ach so!« rief der Student und sah bald seinen Bruder, bald die Retorten auf dem Herde an, »hier ist alles gehörnt, die Gedanken, wie die Flaschen!«

»Johann, Ihr seid an einem sehr schlüpfrigen Abhange. Wißt Ihr, wohin Ihr gehet?«

»In die Kneipe,« sagte Johann.

»Die Kneipe führt zum Pranger.«

»Das ist eine Laterne, wie alle andern; und mit dieser hätte vielleicht Diogenes seinen Menschen gefunden.«

»Vom Pranger führt der Weg zum Galgen.«

»Der Galgen ist eine Wage, an deren einem Ende ein Mensch, am andern die ganze Erde hängt. Es ist schön, der Mensch zu sein.«

»Der Galgen führt zur Hölle.«

»Das ist ein großes Feuer.«

»Johann, Johann, das Ende wird bös sein.«

»Dafür wird der Anfang gut gewesen sein.«

In diesem Augenblicke ließ sich das Geräusch von Schritten auf der Treppe hören.

»Still!« sagte der Archidiaconus und legte den Finger an den Mund, »das ist Meister Jacob. Höret, Johann,« fügte er mit leiser Stimme hinzu: »hütet Euch jemals von dem zu sprechen, was Ihr hier gesehen und gehört haben werdet. Verbergt Euch schnell unter diesem Ofen und rührt Euch nicht.«

Der Student duckte sich unter den Ofen; da fiel ihm ein fruchtbringender Gedanke ein. »Ganz recht, Bruder Claude, einen Gulden, damit ich still liegen kann.«

»Schweigt! ich verspreche ihn Euch.«

»Ihr müßt mir ihn geben.«

»So nimm denn!« sagte der Archidiaconus und warf ihm zornig seinen Geldbeutel zu. Johann kroch wieder unter den Ofen, und die Thüre öffnete sich.

  1. Griechisch: Verhängnis.
  2. Lateinisch: Die Göttin der (sinnlichen) Liebe.
  3. Lateinisch: Wie auch.
  4. Lateinisch: Doch, aber. Anm. d. Uebers.
  5. Italienisch: Wahrhaftig, diese Garküche ist eine staunenswerthe Sache! Anm. d. Uebers.
  6. Lateinisch: Blase, hoffe. Anm. d. Uebers.
  7. Lateinisch: Woher? daher? – Der Mensch ist für den Menschen ein Ungethüm. – Die Sterne, eine Festung; der Namen, eine Wundermacht. – Ein dickes Buch, ein großes Uebel (griechisch). – Wage weise zu sein. – Er weht, wo er will u. s. w.
  8. Lateinisch: Den himmlischen Herrn nenne deinen irdischen Gebieter. Anm. d. Uebers.
  9. Indischer Gesetzgeber.
  10. Reformator der Religion der Perser (im sechsten oder siebenten Jahrhunderte v. Chr. Geb.).
  11. Name eines arabischen Arztes und Philosophen († 1225). Anm. d. Uebers.
  12. Lateinisch: Die Flamme, das Feuer.
  13. Name eines lateinischen Geschichtsschreibers (um 570 nach Chr. Geb.). Anm. d. Uebers.
  14. Lateinisch: Verhängnis. Anm. d Uebers.
  15. Lateinisch: Das Gewand haben sie ihm zerrissen.
  16. Lateinisch: Kappe, Mütze.
  17. Lateinisch: Es ist griechisch, wird nicht gelesen. Anm. d. Uebers.
  18. Lateinisch: Der Höllenhund bei den Alten. Anm. d. Uebers.
  19. Lateinisch: Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Anm. d. Uebers.

5. Die beiden schwarzgekleideten Männer.

Die Person, welche eintrat, trug ein schwarzes Gewand und zeigte eine finstre Miene. Was beim ersten Blicke unserem Freunde Johann auffiel (der, wie man wohl denken kann, sich in seinem Winkel so eingerichtet hatte, um alles nach Belieben sehen und hören zu können), war die tiefe Trauer, welche in der Kleidung und im Antlitze des neuen Ankömmlings sich zeigte. Und dennoch war eine gewisse Freundlichkeit über dieses Gesicht ausgegossen; aber es war die Freundlichkeit einer Katze oder eines Richters, – kurz eine süßliche Freundlichkeit. Er war ganz grau, runzlig, streifte an die sechziger Jahre, zwinkerte mit den Augen, hatte weiße Augenbrauen, eine hängende Unterlippe und große Hände. Als Johann sah, daß es nur eine solche Persönlichkeit war, d. h. zweifelsohne ein Arzt oder ein Gerichtsbeamter, und daß dieser Mensch eine vom Munde weit entfernt stehende Nase im Gesichte hatte – das Zeichen der Dummheit –, so zog er sich in den Winkel seines Loches mit dem hoffnungslosen Gefühle zurück, daß er eine unbegrenzte Zeit in so unbequemer Lage und in so schlechter Gesellschaft zuzubringen haben würde.

Der Archidiaconus indessen hatte sich wegen dieser Persönlichkeit nicht einmal vom Stuhle erhoben. Durch ein Zeichen hatte er ihm angedeutet, sich auf einem Fußschemel neben der Thüre niederzulassen, und nach einigen Augenblicken des Schweigens, das ein vorausgegangenes Nachsinnen zu verlängern schien, hatte er ihm mit einem gewissen Gönnertone gesagt: »Guten Tag, Meister Jacob.«

»Ich grüße Euch, Meister,« hatte der schwarze Mann geantwortet.

Es lag in der Art und Weise, mit der von der einen Seite das »Meister Jacob«, und vorzugsweise von der andern das »Meister« ausgesprochen wurde, ein Unterschied, wie zwischen »gnädiger Herr« und »Herr«, wie zwischen »domine« und »domne«. Es war augenscheinlich die Anrede zwischen Lehrer und Schüler.

»Nun!« fuhr der Archidiaconus nach einem neuen Schweigen fort, das Meister Jacob nicht zu unterbrechen wagte, »gelingt es Euch?«

»Ach, theurer Meister,« sagte der andere mit einem trüben Lächeln, »ich blase immer zu. Asche, soviel als ich will. Aber kein Funken Gold.«

Dom Claude machte eine Geberde der Ungeduld. »Ich rede nicht davon mit Euch, Meister Jacob Charmolue, sondern vom Processe Eures Zauberers. Nicht wahr, Ihr nanntet ihn Mark Cenaine? Den Schaffner am Rechnungshofe? Gesteht er seine Zauberei ein? Ist Euch die Untersuchung geglückt?«

»Leider, nein!« antwortete Meister Jacob immer mit seinem trüben Lächeln; »wir haben nicht diesen Trost. Dieser Mensch ist ein Kieselstein; wir können ihn auf dem Ferkelmarkte sieden lassen, ehe er etwas gesteht. Indessen sparen wir nichts, um hinter die Wahrheit zu kommen; er ist schon ganz von der Folter verrenkt; wir haben schon alle Mittel aufgeboten, wie der alte Komiker Plautus sagt:

»Advorsum stimulos, laminas, crucesque, compedesque.
Nervos, catenas, carceres, numellas, pedicas, boia.«
26

27

Nichts hilft hier; dieser Mensch ist schrecklich. Mein Latein ist an ihm zu Ende.«

»Ihr habt nichts Neues in seinem Hause gefunden?«

»O doch,« sagte Meister Jacob, während er seine Tasche am Gürtel durchsuchte, »dieses Pergament. Es befinden sich Worte darauf, die wir nicht verstehen. Der Herr Criminalanwalt Philipp Lheulier versteht doch ein bißchen Hebräisch, das er im Processe des Juden aus der Straße Kantersten in Brüssel gelernt hat.«

Bei diesen Worten entrollte Meister Jacob ein Pergament. »Gebt her,« sagte der Archidiaconus. Und während er die Augen auf das Blatt richtete, rief er aus: »Die reine Zauberei, Meister Jacob! »Emen-Hetan!« das ist der Ruf der Nachtgeister, wenn sie zum Hexensabbath kommen. »Per ipsum, et cum ipso, et in ipso!« 28 Das ist das Gebot, welches den Teufel wieder in der Hölle festmacht. »Hax, pax, max!« das stammt aus der Heilkunde. Eine Formel gegen den Biß toller Hunde. Meister Jacob! Ihr seid königlicher Procurator beim Kirchengerichtshofe: dieses Pergament ist abscheulich!«

»Wir wollen den Mann wieder auf die Folter legen. Hier ist auch,« fügte Meister Jacob hinzu, während er von neuem in seiner Gürteltasche suchte, »etwas, was wir bei Mark Cenaine gefunden haben.«

Es war ein Gefäß von der Familie derer, welche den Herd Dom Claude’s bedeckten. »Ah!« sagte der Archidiaconus, »ein alchymistischer Schmelztiegel.«

»Ich will Euch gestehen,« fuhr Meister Jacob mit seinem schüchternen und linkischen Lächeln fort, »daß ich ihn auf dem Ofen probirt habe, aber es ist mir nicht besser gegangen, als mit dem meinigen.«

Der Archidiaconus fing an, das Gefäß zu prüfen. »Was hat er auf seinem Tiegel eingegraben? »Och! och!« das Wort, das die Flöhe vertreibt. Dieser Mark Cenaine ist ein Dummkopf! Ich glaube es wohl, daß Ihr damit kein Gold machen werdet! Es taugt gerade nur, es im Sommer in Euern Alkoven zu stellen, und zu weiter nichts!«

»Da wir gerade bei den Irrthümern stehen,« sagte der königliche Procurator, »so habe ich eben, ehe ich heraufkam, das Portal unten genau untersucht. Ist Euer Hochwürden ganz sicher, daß der Anfang des Schaffens der Natur dort nach dem Hôtel Dieu hin abgebildet ist, und daß unter den sieben nackten Figuren, welche an den Sockeln von Notre-Dame sich befinden, diejenige, welche Flügel an den Fersen hat, Merkur ist?«

»Ja,« antwortete der Priester; »denn Augustin Nypho schreibt es: jener italienische Doctor, welcher einen bärtigen Dämon besaß, der ihm alles offenbarte. Uebrigens wollen wir hinuntersteigen, und ich will Euch das am Gegenstande erläutern.«

»Dank, lieber Meister,« sprach Charmolue und neigte sich bis zur Erde … »Doch halt, ich vergaß! Wann soll ich die kleine Zauberin festnehmen lassen?«

»Welche Zauberin?«

»Jene Zigeunerin, die Ihr doch kennt, und die alle Tage auf dem Vorhofe tanzt, trotz des Verbotes des Officials! Sie hat eine besessene Ziege, welche Teufelshörner trägt, welche liest, schreibt, welche Mathematik versteht wie Picatrix, was alles schon hinreichen würde, jede Zigeunerin an den Galgen zu bringen. Der Proceß ist ganz bestimmt, er wird bald gemacht sein, nur zu! Ein reizendes Geschöpf, diese Tänzerin, bei meiner Seele! Die schönsten schwarzen Augen! Zwei ägyptische Karfunkel! Wann machen wir den Anfang?«

Der Archidiaconus war todtenblaß geworden.

»Ich werde Euch das sagen,« stotterte er mit kaum vernehmbarer Stimme; dann fuhr er mit Mühe fort: »Macht Euch nur mit Mark Cenaine zu schaffen.«

»Seid ohne Sorge,« sagte Charmolue lächelnd, »nach meiner Rückkunft will ich ihn wieder auf das lederne Bett schnallen lassen. Er ist aber ein Teufel von Menschen: er ermüdet selbst Pierrat Torterue, der doch stärkere Fäuste hat, als ich. Wie der gute Plautus sagt:

29

Die Folterung auf der Haspel! Das ist das beste, was wir haben. Er soll darauf kommen.«

Dom Claude schien in eine düstere Zerstreutheit versunken zu sein. Er wandte sich nach Charmolue hin.

»Meister Pierrat … Meister Jacob, wollte ich sagen, macht Euch mit Mark Cenaine zu thun!«

»Ja, ja, Dom Claude. Der bedauernswerte Mensch! Es wird ihm ergangen sein, wie den Mummal. Welcher Gedanke aber auch, zu einer Walpurgisnacht zu gehen! Ein Schaffner des Rechnungshofes, der doch den Gesetzlaut Karls des Großen kennen sollte: »Stryga vel masca!« 30 … Was die Kleine betrifft … Esmeralda nennt man sie ja wohl … so werde ich Eure Befehle erwarten … Ach! wenn wir unter dem Portale durchgehen, möget Ihr mir auch erklären, was der Gärtner in Flachgrundmalerei bedeuten soll, den man beim Eintritte in die Kirche sieht. Ist es nicht der Säemann? … He! Meister, woran denkt Ihr denn?«

Dom Claude, der in sich versunken war, hörte nicht mehr auf ihn. Charmolue, welcher der Richtung seines Blickes folgte, sah, daß er unwillkürlich auf das große Spinnennetz gerichtet war, welches das Thurmfenster überzog. In diesem Augenblicke stürzte sich eine leichtsinnige Fliege, welche die Märzensonne aufsuchte, quer in das Gewebe und war gefangen. Bei der Erschütterung ihres Gewebes machte die ungeheure Spinne eine plötzliche Bewegung aus ihrem Sitze in der Mitte heraus, dann stürzte sie sich mit einem Sprunge auf die Fliege, welche sie mit ihren Vorderfühlern in zwei Hälften zusammenpreßte, während ihr scheußlicher Saugrüssel ihr den Kopf durchbohrte. »Arme Fliege!« sagte der königliche Procurator beim Kirchengerichtshofe, und er erhob die Hand, um sie zu retten. Der Archidiaconus, der plötzlich wie aus dem Schlafe ausfuhr, hielt ihm den Arm mit krampfhafter Heftigkeit fest.

»Meister Jacob,« schrie er, »lasset das Verhängnis walten!«

Der Procurator drehte sich bestürzt um; es schien ihm, als ob eine eiserne Zange ihn am Arme gepackt hielt. Das Auge des Priesters war starr, wild, flammend und haftete gebannt an der schrecklichen kleinen Gruppe aus Fliege und Spinne.

»Ach, ja!« fuhr der Priester mit einer Stimme fort, von der man sagen konnte, daß sie aus der Tiefe seiner Seele kam, »das ist das Sinnbild des Alls. Sie fliegt, sie ist fröhlich, sie ist eben zum Leben erwacht, sie sucht den Frühling, die freie Luft, die Freiheit: ach, ja! aber wenn sie sich in die gefährliche Gespinnstrosette stürzt, kommt die Spinne heraus, die schreckliche Spinne! Arme Tänzerin! arme, dem Untergange geweihte Fliege! Meister Jacob, lasset sie gewähren! Es ist das Verhängnis! … Wehe! Claude, du bist die Spinne. Claude, du bist auch die Fliege! … Du flogst zur Wissenschaft, zum Lichte, zur Sonne; du warst nur besorgt, an die freie Luft, zum hellen Lichte der ewigen Wahrheit zu gelangen; aber als du dich zur blendenden Lichtöffnung hinstürztest, die in eine andere Welt führt, in die Welt der Klarheit, der Erkenntnis und des Wissens, – blinde Fliege, unsinniger Doctor, da hast du nicht dieses feine Spinnengewebe gesehen, das vom Schicksale zwischen dem Lichte und dir ausgespannt war; du hast dich blindlings hineingestürzt, armseliger Thor, und jetzt zappelst du mit zerschmettertem Haupte und ausgerissenen Flügeln zwischen den eisernen Klauen des Verhängnisses! … Meister Jacob! Meister Jacob! lasset die Spinne gewähren!«

»Ich versichere Euch,« sagte Charmolue, der ihn ansah, ohne ihn zu verstehen, »daß ich sie nicht berühren werde. Aber laßt meinen Arm los, Meister, wenn ich bitten darf! Ihr habt eine Hand, wie eine Zange.«

Der Archidiaconus hörte ihn nicht an. »O Thörichter!« fuhr er fort, ohne das Thurmfenster aus den Augen zu lassen, »und wenn du es hättest zerreißen können, dieses furchtbare Gewebe, mit deinen Mückenflügeln, so glaubst du, du würdest zum Lichte haben gelangen können! Wehe! jenes Glas, das in weiterer Ferne ist, dieses durchsichtige Hindernis, diese krystallene Mauer, die härter als Erz, und die alle Erdenweisheit von der Wahrheit trennt, – wie hättest du durch sie dringen wollen? O Eitelkeit menschlichen Wissens! Wie viele Weise flattern aus weiten Fernen heran, um sich das Haupt an ihr zu zerschellen! Wie viele philosophische Lehrgebäude stoßen sich, bunt durcheinander summend, an diese durchsichtige, ewige Scheidewand!«

Er schwieg. Diese letzteren Gedanken, die ihn unmerklich von seiner Betrachtung zur Gewißheit zurückgeführt hatten, schienen ihn beruhigt zu haben. Jacob Charmolue ließ ihn völlig zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurückkommen, als er die Frage an ihn richtete: »Nun denn, lieber Meister, wann wollt Ihr mir helfen, Gold zu machen? Ich sehne mich danach, zum Ziele zu kommen.«

Der Archidiaconus hob das Haupt mit einem bittern Lächeln. »Meister Jacob, lest des Michael Psellus »Dialogus de energia et operatione daemonum«. 31 Was wir treiben, ist nicht ganz unschuldig.«

»Sprecht leiser, Meister! Ich ahne es,« sagte Charmolue. »Aber man muß wohl ein wenig Alchymie treiben, wenn man nur königlicher Procurator mit dreißig Thalern Tours’sche Münze jährlich beim Kirchengerichtshofe ist. Laßt uns nur ja leise sprechen.«

In diesem Augenblicke traf das Schmatzen einer kauenden Kinnlade, welches vom Untertheile des Herdes herkam das furchtsame Ohr Charmolue’s.

»Was ist das?« fragte er.

Es war der Student, der in seinem Verstecke sehr beengt und gelangweilt, hier soeben eine alte Brotkruste und ein Stück verschimmelten Käse entdeckt, und sich ohne weiteres daran gemacht hatte, beides zum Troste als Frühstück zu verzehren. Weil er Heißhunger hatte und jeden Bissen schmatzend kaute, so entstand ein hörbares Geräusch, das den Procurator aufmerksam und erschrocken machte.

»Es ist eine meiner Katzen,« entgegnete schnell der Archidiaconus, »die da unten einige Mäuse verzehrt.«

Diese Erklärung beruhigte Charmolue.

»In Wahrheit, Meister,« erwiderte er mit ehrerbietigem Lächeln, »alle großen Philosophen haben ihr Lieblingsthier gehabt. Ihr wißt, was Servius sagt: »Nullus enim locus sine genio est.« 32

Mittlerweile erinnerte Dom Claude, der einen neuen Unfug von Johanns Seiten befürchtete, seinen würdigen Schüler daran, daß sie beide einige Figuren des Portales zu studiren hätten; und alle zwei verließen die Zelle unter lautem »Ach« des Studenten, der ernstlich zu befürchten anfing, daß sein Knie den Abdruck seines Kinnes annehmen möchte.

  1. Lateinisch:
  2. Die Peitsche, Glüheisen, Folter, Fußeisen auch.
    Und Stricke, Ketten, Kerker, Fesseln gegen ihn gebraucht.
  3. Lateinisch: Durch ihn, und mit ihm, und in ihm! Anm. d Uebers.
  4. Lateinisch: Nackt gefesselt wiegst du hundert Pfund, hängst du an den Füßen.
  5. Lateinisch: Eine Hexe oder Gespenst! Anm. d. Uebers.
  6. Lateinisch: Zwiegespräch über die Stärke und Thätigkeit der Geister. Anm. d. Uebers.
  7. Lateinisch: Es ist ja kein Ort ohne seinen Schutzgeist.

3. Es lebe die Fröhlichkeit!

Der Leser hat vielleicht nicht vergessen, daß ein Theil des Wunderhofes von der alten Ringmauer der Stadt eingeschlossen wurde, von der eine hübsche Anzahl Thürme schon zu dieser Zeit in Verfall zu gerathen begannen. Einer dieser Thürme war von den Landstreichern in einen Vergnügungsort verwandelt worden. Es befand sich eine Schenke in dem untern Saale, die übrigen Räume lagen in den obern Stockwerken. Dieser Thurm war der lebhafteste und infolge dessen auch der abschreckendste Sammelpunkt der Landstreichersippe. Es war eine Art ungeheurer Bienenschwarm, der dort Tag und Nacht summte. Nachts, wenn der übrige Bettlerschwarm schlief, wenn kein Fenster in den schmutzigen Häuserfronten des Platzes mehr erleuchtet war, wenn man aus jenen zahllosen Häuschen, von jenen aus Dieben, Dirnen und gestohlenen oder unehelichen Kindern gebildeten Menschenhaufen kein Geschrei mehr ertönen hörte, so erkannte man immer noch den lustigen Thurm an dem Lärme, welcher aus seinem Innern scholl, an dem rothen Lichte, welches zugleich in Kellerlöchern, Fenstern, in den Spalten gesprungener Mauern schimmernd, gewissermaßen aus allen seinen Poren hervorstrahlte.

Der Kellerraum war also die Kneipe. Man stieg durch eine niedrige Thüre und vermittelst einer Treppe, die gerade so schwerfällig war, wie ein klassischer Alexandriner, in sie hinab. Ueber der Thür befand sich, anstatt des Schildes, eine merkwürdige Schmiererei, welche neue Heller und geschlachtete Hühnchen vorstellte, mit dem Wortspiele darunter: »Zu den Glöcknern für die Verstorbenen.«

Eines Abends, in dem Augenblicke, wo das Abendgeläute von allen Glockentürmen von Paris erklang, hätten die Soldaten der Nachtwache, wenn man ihnen erlaubt hätte, den schrecklichen Wunderhof zu betreten, bemerken können, daß in der Herberge der Landstreicher noch mehr Lärm tobte, als gewöhnlich; daß man dort noch mehr zechte und fluchte. Draußen auf dem Platze waren zahllose Gruppen, welche sich mit leiser Stimme unterhielten, wie wenn ein großes Vorhaben angesponnen wird, und hier und da kauerte ein Kerl, welcher eine schlechte Eisenklinge auf dem Pflaster wetzte.

In der Schenke selbst waren der Wein und das Spiel indessen eine so mächtige Ablenkung von den Gedanken, welche an diesem Abende da die Landstreichersippe beschäftigten, daß es schwer gewesen wäre, aus den Reden der Trinker zu errathen, um was es sich handelte. Nur hatten sie eine fröhlichere Miene, als gewöhnlich; und man sah bei ihnen allen irgend eine Waffe zwischen den Schenkeln glänzen: eine Hippe, eine Axt, einen großen Pallasch oder den Haken einer alten Donnerbüchse.

Der Saal von runder Form war sehr groß; aber die Tische waren so eng aneinander gerückt, und die Zecher so zahlreich, daß alles, was die Schenke enthielt: Männer, Weiber, Bänke, Bierkrüge, einige, die tranken, schliefen oder spielten, die Gesunden, die Lahmen bunt durcheinander mit ebenso viel Ordnung und Eintracht zusammengepfercht schienen, wie ein Haufen Austerschalen. Auf den Tischen brannten einige Talgkerzen; aber die wirkliche Beleuchtung der Schenke, die, welche in ihr die Rolle des Kronleuchters in einem Opernsaale ausfüllte, war das Feuer. Diese Höhle war so feucht, daß man in ihr den Kamin niemals, selbst im Hochsommer nicht, kalt werden ließ. Der ungeheure Kamin hatte einen mit Steinmetzarbeit verzierten Rauchfang, war von oben bis unten mit eisernen Feuerböcken und Küchengeräth behangen; darin brannte eines jener großen, von Holz und Torf genährten Feuer, welches nachts in den Dorfstraßen den Glutschein der Schmiedefenster so grell auf die gegenüberliegenden Mauern wirft. Ein großer Hund, welcher ernsthaft in der Asche saß, drehte vor der Glut einen mit Fleischstücken behangenen Bratspieß. Wie groß auch immer die Verwirrung auf den ersten Blick war, so konnte man doch in dieser Menschenmenge drei Hauptgruppen unterscheiden, die sich um drei Personen herum drängten, welche der Leser bereits kennt. Die eine dieser Personen, welche mit allerhand morgenländischem Flitterstaat ausstaffirt war, war Mathias Hungadi Spicali, der Herzog von Aegypten und Böhmen. Der Halunke saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf einem Tische, hatte den Finger erhoben und theilte mit lauter Stimme den zahlreichen Zuhörern, die ihn mit offenem Munde umstanden, von seinem Wissen in der weißen und schwarzen Magie mit. Ein anderer Haufe drängte sich um unsern alten Freund, den heldenmütigen König von Thunes, der bis an die Zähne bewaffnet war. Clopin Trouillefou vertheilte mit sehr ernster Miene und leiser Stimme den Inhalt einer ungeheuern, mit Waffen gefüllten Tonne, die breit vor ihm hingestürzt war, und aus welcher, wie Aepfel und Trauben aus einem Füllhorne, Aexte, Schwerter, Sturmhauben, Panzerhemden, Schilde, Lanzen- und Wurfspießspitzen, Pfeile und Bolzen in Menge herausfielen. Jeder nahm von dem Haufen: der die Pickelhaube, jener den Stoßdegen, ein anderer den Ritterdolch mit dem Kreuzgriffe. Selbst die Kinder bewaffneten sich, und sogar Krüppel fanden sich, welche geharnischt und gepanzert, zwischen den Beinen der Zecher wie große Käfer durchkrochen. Endlich sperrte ein dritter, und zwar der lärmendste, lustigste und zahlreichste Zuhörerkreis, die Bänke und Tische, inmitten welcher eine flötende Stimme, die unter einer wuchtigen Rüstung, vollständig vom Helm bis zu den Sporen, hervorklang, schwatzte und fluchte. Das Individuum, welches sich so eine vollständige Ritterrüstung auf den Leib geladen hatte, verschwand dergestalt unter dem Kriegsgewande, daß man nichts weiter von seiner Person, als eine freche, rothe, aufgestülpte Nase, einen Zopf blonder Haare, einen rothen Mund und dreiste Augen sah. Er trug den Gürtel voll Messer und Dolche, einen großen Degen an der Seite, hielt eine verrostete Armbrust in seiner Linken, und vor ihm stand eine riesige Schleifkanne mit Wein, ganz zu schweigen von einem dicken Mädchen mit bloßen Brüsten, die zu seiner Linken stand. Alle die Mäuler rings um ihn her lachten, fluchten und tranken.

Man denke sich noch zwanzig Nebengruppen dazu: die Aufwärter und Aufwärterinnen, die mit Kannen auf den Köpfen herumliefen, die Spieler, welche sich über die Kugeln, über das Mühlenspiel, über die Würfel, über die Brettsteine, über das leidenschaftliche Stäbchenspiel bückten, die Streitigkeiten in dem einen Winkel, das Schäkern und Küssen im andern, und man wird sich eine Vorstellung von dem Ganzen machen können, über welchem der Schein eines großen flammenden Feuers flackerte, das zahllose riesige und wunderliche Schattenbilder an den Wänden der Schenke tanzen ließ. Was den Lärm betrifft, so glich er dem Innern eines Glockenturmes, wenn alle Glocken läuten.

Die Bratpfanne, in welcher eine Lache Fett schmorte, füllte mit ihrem fortwährenden Knattern die Pausen dieser zahllosen Unterhaltungen aus, welche von einem Ende des Saales zum andern flogen.

Mitten in diesem Lärme, im Hintergrunde der Schenke, auf einer Bank neben dem Kamine, saß ein Philosoph, welcher nachdachte, die Füße in die Asche gesteckt, das Auge auf die Feuerbrände gerichtet. Es war Peter Gringoire.

»Wohlauf, schnell! waffnet euch! in einer Stunde begiebt man sich auf den Marsch!« sprach Clopin Trouillefou zu den ihn umringenden Gaunern.

Ein Mädchen trällerte:

»Guten Abend, lieber Vater, liebe Mutter,
Die Letzten löschen das Feuer.«

Zwei Spieler stritten sich.

»Bube?« rief der am meisten Geröthete, indem er dem andern die Fauste wies, »ich will dir Points im Treff anlegen. Du kannst den Treffbuben beim Kartenspiel unseres gnädigen Herrn des Königs vertreten.«

»Au!« rief ein Normanne, der an seinem näselnden Tone erkenntlich war, »man ist hier wie die Heiligen von Caillouville zusammengedrängt!«

»Kinder,« sagte der Herzog von Aegypten zu seinen Zuhörern, indem er im Falset sprach, »die Hexen in Frankreich eilen ohne Besen, ungesalbt und unberitten, nur mit Hilfe einiger Zauberworte zum Hexentanze. Die Hexen in Italien haben immer einen Bock, der sie an ihren Thüren erwartet. Alle sind verpflichtet, durch den Schornstein davonzufliegen.«

Die Stimme des jungen, von Kopf bis zu Fuß geharnischten Kerls übertönte den verworrenen Lärm.

»Juchhe! Juchhe!« rief er. »Meine ersten Waffenthaten verrichte ich heute! Als Landstreicher! Ich bin Landstreicher, beim Leibe Christi! Schenket mir zu trinken ein! … Meine Freunde, ich heiße Johann Frollo-du-Moulin, und ich bin ein Edelmann. Ich bin der Meinung, daß, wenn Gott ein Kriegsmann wäre, er ein Räuber werden würde. Brüder, wir wollen einen schönen Zug unternehmen. Wir sind tapfre Männer. Eine Kirche zu erstürmen, die Thüren einzuschlagen, das schöne Mädchen herauszureißen, sie aus den Händen der Richter, aus den Händen der Priester zu retten, das Kloster zu schleifen, den Bischof in seinem Bisthume zu verbrennen – das führen wir in kürzerer Zeit aus, als ein Bürgermeister braucht, um einen Löffel voll Suppe zu essen. Unsere Sache ist gerecht, wir wollen Notre-Dame ausplündern, und damit soll alles ausgemacht sein. Wir wollen Quasimodo hängen. Kennt ihr den Quasimodo, ihr Jungfräulein? Habt ihr ihn gesehen, wie er bei der Brummglocke an einem Tage des hohen Pfingstfestes außer Athem gerieth? Beim Hörne Gottes! das ist schön! Man sollte meinen, er wäre der Teufel auf einem Höllenrachen reitend … Meine Freunde, höret mich an, ich bin Landstreicher im Grunde meines Herzens, ich bin Gauner von ganzer Seele, ich bin zum Diebe geboren. Ich bin sehr reich gewesen und habe mein Hab und Gut durchgebracht. Meine Mutter wollte einen Offizier, mein Vater einen Subdiaconus, meine Tante einen Criminalrath, meine Großmutter einen Protonotar des Königs, meine Großtante einen Schatzmeister in kurzem Gewande aus mir machen, ich aber, ich bin ein Landstreicher geworden. Ich habe das meinem Vater gesagt, der mir seinen Fluch ins Gesicht spie, dann meiner Mutter, welche als alte Frau zu weinen und zu geifern begann, wie jenes Scheit auf dem Feuerbocke. Es lebe die Freude! Ich bin ein echter Tollhäusler! Wirthin, mein Liebchen, andern Wein! Ich habe noch Geld zum bezahlen. Ich mag keinen Wein mehr von Surène. Er beizt mir den Schlund. Ich möchte mir, Potz Blitz! ebenso gern die Gurgel mit einem Korbe aushecheln!«

Währenddem gab die Menge ihren Beifall mit lautem Gelächter zu erkennen; und als der Student sah, daß der Tumult sich um ihn verdoppelte, rief er:

»Ach! ein köstlicher Lärm! Populi debacchantis populosa debacchatio64 Nun begann er, das Auge wie in Verzückung getaucht, mit dem Tone eines Kanonikus, der die Vesper anstimmt, zu singen: Quae cantica! quae organa! quae cantilenae! quae melodiae hic sine fine decantantur! sonant melliflua hymnoroum organa, suavissima angelorum melodia, cantica canticorum mira! …« 65 Er unterbrach seinen Gesang:

»Speisewirthin des Teufels, gieb mir etwas zum Abendessen.«

Einen Augenblick hindurch trat fast Ruhe ein, während welcher der Herzog von Aegypten, der seine Zigeuner unterrichtete, seine kreischende Stimme erhob:

»Das Wiesel heißt Aduine, der Fuchs Blaufuß oder Waldläufer, der Wolf Graufuß oder Goldfuß, der Bär der Alte oder der Großvater … Die Kappe eines Gnomen macht unsichtbar und läßt unsichtbare Dinge erblicken … Jede Kröte, welche man tauft, muß in rothen oder schwarzen Sammet gekleidet sein, eine Schelle um den Hals haben und eine an den Füßen. Der Pathe hält den Kopf, die Pathin das Hintertheil. Sidragasum heißt der Teufel, welcher die Macht besitzt, die Mädchen ganz nackt tanzen zu lassen.«

»Bei der heiligen Messe!« rief Johann dazwischen, »ich möchte wohl der Teufel Sidragasum sein.«

Unterdessen fuhren die Landstreicher fort sich zu waffnen, während sie am andern Ende der Schenke mit einander flüsterten.

»Diese arme Esmeralda!« sagte ein Zigeuner … »Sie ist unsere Schwester … Wir müssen sie von da herausholen …«

»Ist sie denn noch immer in Notre-Dame?« nahm ein Handelsmann von jüdischem Aussehen das Wort.

»Ja, bei Gott!«

»Nun gut, Kameraden!« rief der Handelsmann, »in Notre-Dame! Um so besser; denn in der Kapelle der heiligen Féréol und Ferrution befinden sich zwei Bildsäulen: die eine von Johannes dem Täufer, die andere vom heiligen Antonius, ganz aus Gold, welche zusammen siebzehn Mark und fünfzehn Estellins 66 Goldgewicht haben; und die Fußgestelle aus vergoldetem Silber sind siebzehn Mark fünf Unzen schwer. Ich kenne das; ich bin Goldschmied.«

Jetzt trug man Johann sein Abendessen auf. Er rief, während er sich an die Brust des Mädchens an seiner Seite lehnte:

»Beim heiligen Voult-de-Lucques, den das Volk den heiligen Goguelu nennt, ich bin vollkommen glücklich. Da vor mir sehe ich einen Dummkopf, der mich mit dem glatten Gesichte eines Erzherzoges betrachtet. Zu meiner Linken sitzt ein anderer, der so lange Zähne hat, daß sie ihm das Kinn verstecken. Und dann mache ich es, wie der Marschall von Gié bei der Belagerung von Pontoise, ich halte meine Rechte auf eine Brustwarze gestützt… Beim Leibe des Mahomet! du siehst ja aus wie ein Stoffhändler, und du willst dich neben mich setzen! Ich bin adlig, Freund. Der Handel verträgt sich nicht mit dem Adel. Scher‘ dich weg von da … Holla! he! Ihr da, schlagt euch nicht! Wie, Baptist Croque-Oison, du, der eine so schöne Nase hat, will sie gegen die dicken Fäuste dieses Tölpels aufs Spiel setzen! Narr! Non cuiquam datum est habere nasum67 Du bist wahrhaft himmlisch, Jacqueline Rouge-Oreille! es ist schade, daß du keine Haare hast … Holla! ich heiße Johann Frollo, und mein Bruder ist Archidiaconus. Möge ihn der Teufel holen! Alles, was ich euch sage, ist die reine Wahrheit. Als ich Gauner wurde, habe ich mit freudigem Herzen auf die Hälfte eines im Paradiese, gelegenen Hauses verzichtet, welche mir mein Bruder versprochen hat. Dimidiam domum in paradiso. 68 Ich führe die Originalworte an. Ich habe ein Lehengut in der Straße Tirechappe, und alle Weiber sind in mich verliebt, so gewiß, als es wahr ist, daß der Heilige Eligius ein ausgezeichneter Goldschmied war, und daß zu den fünf Handwerken der guten Stadt Paris die Lohgerber, die Weißgerber, die Lederbereiter, die Beutelmacher und die Lederschwitzer gehören, und daß der heilige Laurentius mit Eierschalen verbrannt worden ist. Ich schwöre es euch zu, Kameraden,

Daß ich nicht trinke in einem Jahr
Vom Honigmeth, wenn das nicht wahr!

»Meine Schöne, es ist Mondenschein; sieh doch da unten durch das Kellerloch, wie der Wind die Wolken zerzaust! So mache ich es mit deinem Brusttuche … Ihr Mädchen! schnäuzet die Kinder und die Lichter … Christus und Mahomet! Was esse ich denn da, beim Jupiter? He! alte Vettel! die Haare, welche man nicht auf dem Kopfe deiner Dirnen findet, die findet man in deinen Eierkuchen wieder. Höre, Alte! ich esse die Eierkuchen gern ohne Haare. Möge der Teufel dich plattnasig machen! … Eine schöne Wirtschaft des Beelzebub, wo die Dirnen sich mit den Gabeln kämmen!«

Als er so gesprochen hatte, schmetterte er seinen Teller auf den Boden und begann aus vollem Halse zu singen:

»Traun! ich acht‘.
Bei Christi Tod,
Weder Treue, noch Gebot.
Herd und Haus –
Mach‘ mir nichts draus!
Gott und König –
Gilt mir gleich wenig!

Unterdessen hatte Clopin Trouillefou seine Waffenvertheilung beendigt. Er näherte sich Gringoire, welcher die Beine über einen Feuerbock gestreckt, in tiefes Nachsinnen versunken schien.

»Freund Peter,« sagte der König von Thunes, »zum Teufel, an was denkst du?«

Gringoire drehte sich mit einem schwermüthigen Lächeln nach ihm um.

»Ich habe das Feuer gern, lieber Herr. Nicht aus dem alltäglichen Grunde, weil das Feuer unsere Füße wärmt oder unsere Suppe kocht, sondern weil es Funken giebt. Manchmal verbringe ich ganze Stunden damit, die Funken zu beobachten. Ich entdecke tausenderlei Dinge in diesen Sternen, welche durch den schwarzen Hintergrund des Herdes sprühen. Auch diese Sterne da sind Welten.«

»Der Donner soll mich –, wenn ich dich verstehe!« sagte der Bettler. »Weißt du, wie viel Uhr es ist?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Gringoire.

Clopin trat jetzt an den Herzog von Aegypten heran.

»Kamerad Mathias, die Stunde ist nicht gut gewählt. Man sagt, der König Ludwig der Elfte sei in Paris.«

»Ein Grund mehr, um ihm unsere Schwester aus den Klauen zu reißen,« antwortete der alte Zigeuner.

»Du sprichst wie ein Mann, Mathias,« sagte der König von Thunes. »Uebrigens werden wir leichte Arbeit haben. In der Kirche ist kein Widerstand zu fürchten. Die Domherrn sind Hasenfüße, und wir sind stark an Zahl. Die Herren vom Parlamente werden morgen sehr gefoppt sein, wenn sie sie holen wollen!«

»Bei den Gedärmen des Papstes! ich mag nicht, daß man das hübsche Mädchen aufhängt!«

Clopin verließ die Schenke.

Diese ganze Zeit hindurch rief Johann mit heiser gewordener Stimme:

»Ich trinke, ich esse, ich bin betrunken, ich bin Jupiter! … Ei! Pierre-l’Assommeur, wenn du mich noch einmal so ansiehst, werde ich deine Nase mit Nasenstübern bedenken.«

Gringoire seinerseits, der aus seinen Grübeleien herausgerissen war, fing an, sich die wilde und lärmende Scene, welche ihn umgab, zu betrachten und murmelte zwischen den Zähnen: Luxuriosa res vinum et tumultuosa ebrietas. 69 Ach! wie sehr habe ich recht, nicht zu trinken, und wie treffend sagt der heilige Benedikt: Vinum apostatare facit etiam sapientes70

In diesem Augenblicke trat: Clopin wieder in die Schenke ein und rief mit donnernder Stimme: »Mitternacht!«

Bei diesem Worte, das die Wirkung hervorbrachte, wie das Signal zum Aufsitzen auf ein rastendes Regiment, stürzten alle Bettler, Männer, Weiber und Kinder haufenweise mit großem Waffenlärme und Gerassel zur Schenke hinaus.

Der Mond hatte sich verhüllt.

Der Wunderhof war ganz dunkel. Nirgends bemerkte man ein Licht. Und dennoch war er ganz und gar nicht verlassen. Man unterschied hier einen Haufen Männer und Weiber, welche leise miteinander sprachen. Man hörte sie summen und sah aller Art Waffen in der Dunkelheit blitzen. Clopin stieg auf einen großen Stein.

»An Eure Plätze, Gauner! an Eure Plätze, Aegypten und Galiläa!«

Eine Bewegung entstand in der Dunkelheit. Die ungeheure Menschenmenge schien sich in Colonnen zu ordnen. Nach einigen Minuten erhob der König von Thunes noch einmal die Stimme:

»Jetzt, Schweigen beim Durchzuge durch Paris! Das Paßwort ist: ›Messer in der Tasche!‹ Die Fackeln werden erst bei Notre-Dame angezündet! Marsch!«

Zehn Minuten später flohen die Reiter der Nachtwache entsetzt vor einem langen Zuge schwarzer und schweigender Männer einher, welcher nach der Wechslerbrücke zu, durch die krummen Straßen hinabzog, die nach allen Richtungen hin das feste Hallenviertel der Stadt durchschneiden.

  1. Lateinisch: Welch riesiger Lärm eines tobenden Volkes! Anm. d. Uebers.
  2. Lateinisch: Welche Gesänge! welche Instrumente! welcher Singsang! welche endlose Melodien werden hier gesungen! Es klingen die Hymnen von lieblichen Pfeifen, der Engel süßeste Melodie, der Lieder reichste Lieder! Anm. d. Uebers.
  3. Esterling heißt ein altes Goldschmiedegewicht von 28 4/5 Gran.
  4. Lateinisch: Nicht jedem ist es gestattet, eine Nase zu besitzen.
  5. Lateinisch: Ein halbes Haus im Paradiese. Anm. d. Uebers.
  6. Lateinisch: Der Wein ist ein ausschweifend Ding und giebt einen lärmenden Rausch.
  7. Lateinisch: Den Wein meiden macht auch Weise. Anm. d. Uebers.

4. Der ungeschickte Freund.

In dieser nämlichen Nacht schlief Quasimodo nicht. Er hatte soeben seinen letzten Rundgang in der Kirche gemacht. Er hatte nicht bemerkt, daß in dem Augenblicke, wo er ihre Thüren schloß, der Archidiaconus an ihm vorbeigegangen und einigen Verdruß gezeigt hatte, als er sah, wie er sorgfältig den ungeheuern Eisenbeschlag, der ihren breiten Flügeln die Festigkeit einer Mauer verlieh, mit Riegeln und Vorhängeschlössern sperrte. Dom Claude zeigte eine noch sorgenvollere Miene, als gewöhnlich. Uebrigens mißhandelte er Quasimodo beständig seit dem nächtlichen Vorfalle in der Zelle; aber umsonst behandelte er ihn grob, schlug ihn manchmal sogar: nichts erschütterte die Unterwürfigkeit, die Geduld und opferfähige Gelassenheit des treuen Glöckners. Von Seiten des Archidiaconus ertrug er alles: Schmähungen, Drohungen, Schläge, ohne einen Vorwurf zu murmeln oder eine Klage auszustoßen. Höchstens verfolgte er ihn mit unruhigen Blicken, wenn Dom Claude die Treppe zum Thurme hinaufstieg; aber der Archidiaconus hatte es von freien Stücken unterlassen, sich wieder vor den Augen der Zigeunerin blicken zu lassen.

Diese Nacht also war Quasimodo, nachdem er seinen so schmählich verlassenen Glocken Jacqueline, Marie und Thibaut einen Blick zugeworfen hatte, auf die spitze des nördlichen Thurmes gestiegen und begann von da aus Paris zu betrachten, nachdem er seine wohl verschlossene Blendlaterne auf den Bleiplatten niedergestellt hatte. Die Nacht war, wie wir schon gesagt haben, sehr dunkel. Paris, das in diesem Zeitraume gewissermaßen noch keine Beleuchtung hatte, bot dem Auge einen wirren Haufen schwarzer Massen dar, der hier und da von der weißschimmernden Krümmung der Seine durchschnitten wurde. Quasimodo sah nur noch Licht am Fenster eines Gebäudes in der Ferne, dessen undeutlichen und düsteren Umrisse sich hoch über den Dächern nach dem Thore Saint-Antoine hin abzeichneten. Da fand sich auch jemand, der noch wach war.

Während der Glöckner sein einziges Auge in diesem von Nebel und Nacht verhüllten Gesichtskreise herumschweifen ließ, fühlte er in seinem Innern eine unaussprechliche Unruhe. Seit mehreren Tagen war er auf seiner Hut gewesen. Er sah unaufhörlich Leute von unheimlichem Aussehen die Kirche umschleichen, welche die Freistätte des jungen Mädchens nicht aus den Augen ließen. Er überlegte, daß vielleicht irgend ein heimlicher Anschlag gegen den unglücklichen Flüchtling angezettelt würde. Er stellte sich vor, daß beim Volke ein ebensolcher Haß gegen sie vorhanden sei, wie das gegen ihn der Fall war, und daß sich wahrscheinlicherweise bald etwas ereignen müsse. Daher verblieb er auf seinem Glockenturme auf der Lauer, »in sein Nachdenken versunken«, wie Rabelais sagt, das Auge bald auf die Zelle, bald auf Paris gerichtet, und hielt wie ein guter Hund, mit tausend argwöhnischen Gedanken in seiner Seele, sichere Wache.

Plötzlich, während er die große Stadt mit diesem Auge erforschte, das die Natur, gleichermaßen zum Ersatz, so durchdringend geschaffen hatte, daß es fast die übrigen Sinne ersetzen konnte, welche Quasimodo fehlten, schien es ihm, als ob der Schattenriß des Quai de-la-Vieille-Pelletrie etwas Sonderbares zeigte, als ob an diesem Punkte eine Bewegung vor sich ginge, als ob die in der Nacht von der Helle des Wassers sich abhebende Linie der Brustwehr nicht gerade und ruhig bliebe, wie diejenige der übrigen Quais, sondern als ob sie vor dem Blicke wie die Wogen eines Flusses oder wie die Köpfe einer vorwärts schreitenden Menge hin- und herschwanke. Das schien ihm befremdlich. Er verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Die Bewegung schien nach der Altstadt heranzukommen. Nirgends war ein Licht zu sehen. Sie dauerte einige Zeit auf dem Quai fort, dann verschwand sie nach und nach, wie wenn das, was vorüberzöge, sich nach der Seineinsel zu bewegte; dann hörte die Bewegung ganz auf, und die Quailinie nahm wieder ihre gerade Richtung und Unbeweglichst an.

In dem Augenblicke, wo Quasimodo sich in Vermuthungen erschöpfte, schien es ihm, als ob die Bewegung wieder in der Straße zum Domvorhofe erschiene, welche sich in gerader Linie mit der Façade von Notre-Dame nach der Altstadt hin verlängert. Endlich sah er, so tief die Dunkelheit auch war, eine Spitze des Zuges aus dieser Straße herauskommen, und in einem Augenblicke sich eine Menge über den Platz ergießen, von der man bei der Finsternis nichts weiter erkennen konnte, als daß es ein Menschenhaufe war.

Dieses Schauspiel hatte seine erschreckende Seite. Wahrscheinlich beobachtete dieser eigentümliche Aufzug, dem es so sehr angelegen zu sein schien, sich in tiefe Nacht zu hüllen, ein ebenso tiefes Schweigen. Indessen mußte der Zug doch irgend ein Geräusch verursachen, wäre es auch nur ein solches von Fußtritten. Dieser Lärm jedoch drang nicht einmal zum Ohre unseres Tauben, und diese große Menschenmenge, von der er kaum etwas sah, geschweige denn etwas hörte, und die nichtsdestoweniger voll Aufregung so nahe an ihm vorbeizog, machte aus ihn den Eindruck eines stummen, gespenstigen Haufens von Todten, der in einer Rauchwolke versteckt war. Es schien ihm, als ob er eine Nebelwolke voll Menschen auf sich loskommen, als ob er Schattengestalten im Dunkel sich bewegen sähe.

Jetzt kehrten seine Besorgnisse bei ihm zurück; der Gedanke an ein Unternehmen gegen die Zigeunerin trat vor seine Seele. Er fühlte dunkel, daß er einer gewaltthätigen Rolle entgegenging. In diesem entscheidenden Augenblicke ging er bei sich mit besserer und entschlossenerer Urteilskraft zu Rathe, als man es von einem so schlecht eingerichteten Gehirne hätte erwarten sollen. Sollte er die Zigeunerin aufwecken? sie entschlüpfen lassen? Wohinaus? Die Straßen waren besetzt, die Kirche lag am Flusse. Kein Kahn war zu sehen! kein Ausweg offen! … Es gab nur ein Mittel: sich auf der Schwelle von Notre-Dame tödten zu lassen, wenigstens so lange Widerstand zu leisten, bis Hilfe käme, wenn je welche kommen sollte, und den Schlaf der Esmeralda nicht zu stören. Die Unglückselige würde immerhin früh genug geweckt werden, um in den Tod zu gehen. Als er diesen Entschluß einmal gefaßt hatte, fing er an, »den Feind« mit mehr Ruhe zu beobachten.

Der Haufe schien mit jedem Augenblicke sich auf dem Vorhofe zu vergrößern. Er allein schien der Meinung zu sein, daß er nur sehr wenig Geräusch verursachen müßte, da die Fenster der Straßen und des Platzes geschlossen blieben. Auf einmal glänzte ein Licht, und in einem Augenblicke bewegten sich sieben oder acht brennende Fackeln, deren Flammenbüschel in der Dunkelheit hin- und herfuhren, über den Köpfen. Quasimodo sah jetzt deutlich eine fürchterliche Menge von Männern und Weibern in Lumpen auf dem Domvorhofe sich drängen, die mit Sensen, Piken, Dolchen und Partisanen bewaffnet waren, deren zahllose Spitzen funkelten. Hier und da bildeten schwarze Stellen Ecken in dieser fürchterlichen Kopfzahl. Er erinnerte sich dunkel dieses Pöbelhaufens, und glaubte alle diese Köpfe wiederzuerkennen, die ihn einige Monate früher als Narrenpapst begrüßt hatten. Ein Mann, welcher eine Fackel in einer Hand, in der andern einen Birkenstab hielt, stieg auf einen Eckstein und schien eine Ansprache zu halten. Zu gleicher Zeit machte die seltsame Armee einige Bewegungen, als ob sie rings um die Kirche Aufstellung nähme. Quasimodo packte seine Laterne und stieg auf die Plattform zwischen den Thürmen hinab, um das sonderbare Schauspiel mehr in der Nähe beobachten und auf Vertheidigungsmittel bedacht sein zu können.

Clopin Trouillefou, der vor dem hohen Portale von Notre-Dame angekommen war, hatte in der That seine Truppe in Schlachtordnung aufgestellt. Obgleich er auf gar keinen Widerstand rechnete, so wollte er doch als kluger Feldherr eine Ordnung aufrecht erhalten, die ihm nötigenfalls ermöglichte, einem plötzlichen Angriffe der Nachtwache und der Einunddreißiger von der Polizeiwache Trotz zu bieten. Er hatte seine Truppe derartig aufgestellt, daß man sie, aus der Höhe und von fern gesehen, für das römische Dreieck ans der Schlacht bei Ecnomos, für den Schweinskopf Alexanders, oder für die berühmte Keilstellung Gustav Adolphs hätte halten können. Die Grundlinie dieses Dreieckes stützte sich auf den Hintergrund des Platzes, so daß sie die Straße zum Domvorhofe verrammelte; die eine seiner Seiten beobachtete das Hôtel-Dieu, die andere die Straße Saint-Pierre-aux-Boeufs. Clopin Trouillefou hatte sich mit dem Herzoge von Aegypten, unserem Freunde Johann und den muthigsten Bettlern an die Spitze der Bande gestellt.

Ein Unternehmen, wie dasjenige, welches die Bettler in diesem Augenblicke gegen die Kirche Notre-Dame versuchten, war in den Städten des Mittelalters ganz und gar keine sehr seltene Erscheinung. Das, was wir heutzutage »Polizei« nennen, gab es damals nicht. In den volkreichen Städten, vor allen in den Hauptstädten, war keine einheitliche, bestimmende Centralgewalt vorhanden. Das Lehnswesen hatte diesem großen Gemeinwesen eine wunderliche Einrichtung gegeben. Eine Stadt war eine Vereinigung von tausend Lehnsherrlichkeiten, welche sie in Abtheilungen von allen Formen und Größen theilten. Infolge dessen gab es tausend sich gegenseitig aufhebende Polizeiverordnungen, das heißt: keine Polizeigewalt. In Paris zum Beispiel gab es, unabhängig von den hunderteinundvierzig Lehnsherren, welche richterliche Gewalt beanspruchten, noch fünfundzwanzig, welche Rechtspflege und Lehnsrecht beanspruchten, vom Bischofe von Paris an, der hundertundfünf Straßen innehatte, bis zum Prior von Notre-Dame-des-Champs, welches deren vier besaß. Alle diese Lehnsgerichtsherren erkannten die Oberlehnsherrlichkeit des Königs nur dem Namen nach an: alle besaßen das Recht der Straßenpolizei. Alle waren Herren in ihrem Bezirke. Ludwig der Elfte, dieser unermüdliche Arbeiter, welcher die Niederreißung des Feudalgebäudes so mächtig begonnen hat, die von Richelieu und Ludwig dem Vierzehnten zum Vortheil der Königsmacht fortgesetzt, und von Mirabeau zum Heile des Volkes beendigt wurde, – Ludwig der Elfte hatte es wohl versucht, dieses Netz von Lehnsgewalten, welches Paris bedeckte, zu zerreißen, indem er gewaltthätig zwei oder drei Verordnungen über allgemeine Polizei mitten hineinwarf. So erließ er im Jahre 1465 einen Befehl an die Einwohner, beim Anbruche der Nacht, bei Strafe des Stranges, ihre Fenster mit Lichtern zu erleuchten und ihre Hunde einzusperren; in demselben Jahre einen andern Befehl, des Abends die Straßen mit eisernen Ketten zu sperren, und das Verbot, des Nachts auf den Straßen Dolche oder Angriffswaffen zu tragen. Aber nach kurzer Zeit kamen alle diese Versuche einer Gemeindegesetzgebung außer Gebrauch. Die Bürger ließen die Lichter in ihren Fenstern vom Winde auslöschen und ihre Hunde herumlaufen; die eisernen Ketten wurden nur beim Belagerungszustande ausgespannt; das Verbot, Dolche zu tragen, führte unter andern Aenderungen nur die herbei, daß der Name der Straße Coupe-Gueule in den Namen Coupe-Gorge 71 verwandelt wurde, was ein offenbarer Fortschritt ist. Das alte Gerüst der Lehnsgerichtsbarkeiten blieb stehen; und damit der ungeheure Wust von Amtsbezirken und Lehnsherrlichkeiten, die sich in der Stadt durchkreuzten, im Wege standen, sich verwickelten, einander in die Quere geriethen und die Befugnisse abschnitten, nebst dem unnützen Gestrüpp von Wachen, Unterwachen und Gegenwachen, mitten durch die der Diebstahl, Raub und Aufruhr mit bewaffneter Hand hindurchzogen. Bei dieser Verwirrung waren also solche Handstreiche eines Pöbelhaufens auf einen Palast, ein Schloß, ein Haus in den bevölkertsten Stadtvierteln kein unerhörtes Vorkommnis. In den meisten Fällen mischte sich die Nachbarschaft nur dann in die Angelegenheit, wenn die Plünderung bis an ihre eigenen vier Pfähle kam. Sie verstopften sich die Ohren bei den Musketenschüssen, schlossen ihre Fensterladen, verrammelten ihre Thüren, ließen den Streit sich mit oder ohne Nachtwache beilegen, und am andern Tage erzählte man sich in Paris: »Vergangene Nacht ist Etienne Barbette Gewalt angethan worden. Dem Marschall von Clermont ist man an den Leib gegangen, u. s. w.« Daher hatten nicht allein die königlichen Gebäude: das Louvre, der Palast, die Bastille, die Parlamentsgerichtsgebäude, sondern auch die Wohnsitze der Lehnsherren schlechtweg: Klein-Bourbon, das Hôtel de Sens, das Hôtel d’Angoulème u. s. w. ihre Schießscharten in den Mauern und ihre Lukenerker über den Thoren. Die Kirchen waren durch ihre Heiligkeit geschützt. Einige jedoch, unter deren Zahl Notre-Dame nicht gehörte, waren befestigt. Die Abtey Saint-Germain-des-Prés war mit Zinnen, wie ein Freiherrnsitz versehen, und in ihr war mehr Kupfer noch bei den Bombarden als bei den Glocken verbraucht. Man sah ihre Befestigung noch im Jahre 1610. Heutzutage ist kaum noch ihre Kirche vorhanden.

Kehren wir zu Notre-Dame zurück. Als die ersten Anordnungen getroffen waren (und wir müssen zur Ehre der Bettlermannszucht sagen, daß die Befehle Clopins schweigend und mit einer bewundrungswürdigen Genauigkeit ausgeführt wurden), stieg der würdige Anführer der Bande auf die Brustwehr des Vorhofes und erhob seine rauhe und mürrische Stimme, indem er sich nach Notre-Dame hinwandte und seine Fackel schwang, deren vom Winde bewegtes und jeden Augenblick vom eigenen Rauche verhülltes Licht die geröthete Façade der Kirche den Blicken zeigte und entzog.

»Mit dir, Louis von Beaumont, dem Bischofe von Paris, dem Rathe beim Parlamentsgerichtshofe, rede ich, Clopin Trouillefou, der König der Bettler, der große Fürst, der Herr des Gaunerthums, der Narrenbischof: Unsere Schwester, welche ungerechter Weise wegen Zauberei verurtheilt ist, hat sich in deine Kirche geflüchtet. Du bist ihr Schutz und Schirm schuldig. Nun will der Parlamentsgerichtshof sie dort wieder festnehmen lassen, und du giebst deine Zustimmung hierzu, dergestalt, daß man sie morgen auf dem Grèveplatze hängen will, wenn Gott und die Bettler nicht da wären. Demnach kommen wir zu dir, Bischof. Wenn deine Kirche geheiligt ist, ist unsere Schwester es auch; wenn unsere Schwester es nicht ist, so ist es deine Kirche auch nicht. Deshalb fordern wir dich auf, uns das Mädchen auszuliefern, wenn du deine Kirche retten willst, oder wir selbst wollen das Mädchen herausholen und werden deine Kirche plündern. Das wird gewiß geschehen. Als Unterpfand dessen pflanze ich hier mein Banner auf und Gott sei dir gnädig, Bischof von Paris!«

Unglücklicherweise konnte Quasimodo diese mit einer Art düsterer und wilder Majestät ausgesprochenen Worte nicht hören. Ein Bettler reichte Clopin sein Banner hin, welches er feierlich zwischen zwei Pflastersteinen aufpflanzte. Es war eine Gabel, an deren Zinken ein blutiges Stück Aas hing. Als das geschehen war, wandte der König von Thunes sich um und ließ seine Augen über das Heer schweifen – jene wilde Menge, deren Blicke fast ebenso sehr, wie ihre Piken funkelten. Nach einer kurzen Pause rief er:

»Vorwärts, Kinder! an die Arbeit, ihr Teufel!«

Dreißig robuste Kerle mit vierschrötigen Gliedmaßen und Schmiedegesichtern traten mit Hämmern, Zangen und eisernen Brechstangen auf den Schultern aus den Reihen hervor. Sie schritten auf die Hauptthür der Kirche los, stiegen die stufen hinan, und bald sah man sie unter der Wölbung kauern und die Thüre mit Zangen und Brecheisen bearbeiten. Ein Haufe Bettler folgte ihnen, um ihnen beizustehen oder ihnen zuzusehen. Die elf Stufen des Portales waren von ihnen besetzt.

Die Thür indessen hielt tapfer aus. »Teufel! sie ist hart und starrköpfig!« sagte einer. – »Sie ist alt, und sie hat zähe Knorpel,« sagte ein anderer. – »Muth! Kameraden!« erwiederte Clopin. »Ich wette meinen Kopf gegen einen Pantoffel, daß ihr die Thür geöffnet, das Mädchen entführt und den Hochaltar entkleidet haben werdet, ehe noch ein Kirchendiener munter geworden ist. Horcht! ich glaube, das Schloß giebt nach.«

Clopin wurde durch ein entsetzliches Krachen unterbrochen, das in diesem Augenblicke hinter ihm erscholl. Er wandte sich um. Ein ungeheuerer Balken war soeben vom Himmel gefallen; er hatte ein Dutzend Bettler auf der Kirchentreppe zerschmettert und prallte auf dem Pflaster mit dem Getöse eines Geschützstückes zurück, während er noch hier und da einigen aus dem Bettlerhaufen, der mit Schreckensgeschrei auseinanderstob, die Beine brach. In einem Augenblicke war die eingeschlossene Brustmauer des Vorhofes leer. Die Einbrecher verließen, obgleich sie von den tiefen Bogenwölbungen des Portales geschützt waren, die Thür, und Clopin selbst wich auf ehrerbietige Entfernung von der Kirche zurück.

»Ich bin mit heiler Haut davongekommen!« rief Johann. »Ich habe das Sausen davon gehört, Sapperlot!. Aber Pierre l’Assommeur ist erschlagen!«

Es ist unmöglich zu schildern, welches mit Entsetzen gepaarte Staunen durch diesen Balken auf die Banditen herabfiel.

Einige Minuten lang standen sie mit in die Höhe gerichteten Blicken da und waren über dieses Stück Holz bestürzter, als über zwanzigtausend Bogenschützen des Königs.

»Satan!« murmelte der Herzog von Aegypten, »das riecht mir nach Zauberei!«

»Der Mond wirft uns diesen Balken zu,« sagte der rothe Audry.

»In diesem Falle möchte man behaupten,« erwiederte François Chanteprune, »der Mond sei Busenfreund von unserer lieben Frau, der heiligen Jungfrau!«

»Tausend Päpste!« rief Clopin, »ihr seid alle Dummköpfe!« Aber er wußte selbst nicht, wie er den Sturz des Balkens erklären sollte.

An der Façade selbst nämlich, bis zu deren Spitze der Schein der Fackeln nicht drang, bemerkte man nichts. Der schwere Balken lag mitten auf dem Vorhofe, und man hörte das Wimmern der Unglücklichen, die seinen ersten Stoß empfangen hatten und nun mit zerschmettertem Leibe zusammengebrochen an der Ecke der steinernen Stufen lagen.

Der König von Thunes fand, nachdem das erste Staunen vorüber war, endlich eine Erklärung, welche seinen Gefährten wahrscheinlich erschien.

»Himmel und Hölle! sind es etwa die Domherren, welche sich vertheidigen? Auf denn, zur Plünderung! zur Plünderung!«

»Zur Plünderung!« wiederholte die Meute mit wüthendem Angriffsgeschrei. Und die Armbrüste und Hakenbüchsen gaben eine Salve auf die Façade der Kirche.

Bei diesem Gekrach erwachten die friedfertigen Bewohner der benachbarten Häuser; man sah mehrere Fenster sich öffnen und Nachtmützen und Hände, die Lichter hielten, an den Oeffnungen erscheinen. »Schießt auf die Fenster!« rief Clopin. Sofort schlossen sich die Fenster wieder, und die armen Bürger, die kaum Zeit gehabt hatten, einen bestürzten Blick auf diese von Waffen und Lichtern schimmernde Aufruhrscene zu werfen, krochen, Angstschweiß vergießend, zu ihren Weibern zurück und fragten sich, ob jetzt der Hexensabbath auf dem Vorhofe von Notre-Dame abgehalten würde, oder ob ein Sturm der Burgunder stattfände, wie im Jahre 64. Da dachten die Männer an Plünderung, die Weiber an Nothzüchtigung, und alle zitterten. »Zur Plünderung!« wiederholten die Gauner; aber sie wagten nicht, sich zu nähern. Bald sahen sie die Kirche an, bald betrachteten sie den Balken. Der Balken rührte sich nicht, das Bauwerk bewahrte sein ruhiges und ödes Aussehen; aber etwas verursachte den Bettlern Entsetzen.

»An die Arbeit, frisch, ihr Teufelsgesellen!« rief Trouillefou. »Sprenget die Thüre!« Niemand that einen Schritt vorwärts. »Bart und Bauch!« rief Clopin, »ihr seid Männer, die vor einem Balken Furcht haben!«

Ein alter Landstreicher wandte sich mit dem Worte an ihn: »Hauptmann, der Balken ist es nicht, der uns ärgert, die Thür ist es, die ganz mit eisernen Bändern bedeckt ist. Die Zangen vermögen nichts an ihr.«

»Was müßt ihr denn haben, um sie einzuschlagen?« fragte Clopin.

»Ach! wir müssen einen Sturmbock haben.«

Der König von Thunes eilte muthig auf den furchtbaren Balken zu, und setzte seinen Fuß darauf. »Hier ist einer,« rief er, »die Domherrn sind es, die ihn euch schicken.« Und mit einem spöttischen Gruße nach der Kirche hin, sagte er: »Schönen Dank, ihr Domherren!«

Diese Herausforderung verursachte eine ausgezeichnete Wirkung; der Zauber des Balkens war gebrochen. Die Bettler faßten wieder Muth; bald war der mächtige Balken von zweihundert nervigen Armen wie eine Feder in die Höhe gehoben und warf sich mit Wuth auf die große Thür, die man schon zum Wanken zu bringen versucht hatte. Wer bei dem Halbdunkel, das die spärlichen Fackeln der Bettlerhorde über den Platz verbreiteten, diesen langen Balken so gesehen hätte, wie er von dieser Menschenmenge getragen wurde, welche mit ihm im Sturme auf die Kirche losstürzte, hätte glauben müssen, ein tausendfüßiges Ungeheuer zu erblicken, das mit gesenktem Kopfe den steinernen Riesen angriffe.

Unter dem Stoße des Balkens erklang die halbmetallene Thür wie eine ungeheuere Trommel; sie brach nicht, aber die Kathedrale bebte von unten bis oben, und man hörte die tiefen Gewölbe des Bauwerkes dröhnen. Im nämlichen Augenblicke begann ein Regen von mächtigen Steinen aus der Höhe der Façade auf die Sturmlaufenden herabzufallen. »Teufel!« rief Johann, »schütteln uns etwa gar die Thürme ihre Steingeländer auf die Köpfe?« … Aber die Begeisterung war angeregt, der König von Thunes hatte ein Beispiel gegeben. Es war ganz bestimmt der Bischof, welcher sich vertheidigte, und man stürmte deswegen mit nur um so mehr Wuth gegen die Thüre, ungeachtet der Steinwürfe, welche rechts und links die Köpfe zerschmetterten.

Merkwürdig ist, daß diese Steine alle einer nach dem andern niederfielen; aber sie folgten dicht hinter einander. Die Gauner merkten deren immer zwei auf einmal, einen zwischen die Füße, den andern auf ihre Köpfe niederfallen. Nur wenige von ihnen waren, die keinen Wurf davontrugen, und schon blutete und zuckte eine große Menge Todter und Verwundeter unter den Füßen der Stürmenden, die jetzt in Wuth gerathen, sich unaufhörlich erneuerten. Der lange Balken donnerte unausgesetzt und im regelmäßigen Takte gegen die Thüre, wie der Klöppel einer Glocke; unausgesetzt regnete es Steine herab, und ohne Aufhören krachte die Thür.

Der Leser ist ohne Zweifel gar nicht im Unklaren, zu errathen, daß dieser unerwartete Widerstand, der die Bettler so in Aufregung versetzte, von Quasimodo herrührte.

Der Zufall hatte sich zum Unglücke dem tapfern Tauben dienlich erwiesen.

Als er auf die Plattform zwischen den Thürmen herabgestiegen war, waren die Gedanken in seinem Kopfe noch in Verwirrung. Er war einige Minuten lang die ganze Galerie wie ein Unsinniger hin- und her gelaufen, als er von oben sah, wie die dichte Masse der Bettler bereit war. sich auf die Kirche loszustürzen, und betete zum Teufel oder zu Gott, die Zigeunerin zu retten. Der Gedanke war ihm durch den Kopf geschossen, zum Glockenstuhle nach Süden hin emporzusteigen und Sturm zu läuten; aber ehe er die große Glocke hätte in Schwung bringen können, ehe die mächtige Stimme der Marie einen einzigen Ton hätte hinauszuschicken vermocht, wäre in dieser Zeit die Thüre der Kirche nicht zehn Mal eingeschlagen worden? Es war gerade der Augenblick, wo die Einbrecher mit ihren Schlosserwerkzeugen gegen sie vorrückten. Was da thun?

Plötzlich fiel ihm ein, daß den ganzen Tag über Mauerer damit beschäftigt waren, die Mauer, das Gebälk und die Bedachung des südlichen Thurmes auszubessern. Das war ein Lichtstrahl in seinem Kopfe. Die Mauer bestand aus Steinen, das Dach aus Blei, das Gebälk aus schweren Stämmen. (Dieses ungeheuere Dachgebälk war so dicht gefügt, daß es »der Wald« genannt wurde.)

Quasimodo eilte nach diesem Thurme hin. Die untern Gelasse waren in der That mit Baumaterialien angefüllt. Da lagen Haufen von Bausteinen, zusammengerollte Bleiplatten, Lattenbündel, schwere, mit der Säge bereits zugeschnittene Balken und Berge von Schutt. Es war ein vollständiges Zeughaus.

Die Zeit drängte. Die Pfähle und Hämmer waren unten an der Arbeit. Mit einer Kraft, welche das Gefühl der Gefahr verzehnfachte, hob er einen der Balken, und zwar den schwersten und längsten, auf; er steckte ihn durch eine Luke, dann ergriff er ihn wieder an der Außenseite des Thurmes, ließ ihn über die Ecke der Balustrade, welche die Plattform umkränzt, hinabgleiten und über dem Abgrunde hinuntersausen. Das ungeheuere Holzstück, das bei diesem Sturze von hundert und sechzig Fuß die Mauer schleifte und die Sculpturarbeiten zerschlug, drehte sich mehrere Male um sich selbst wie ein Windmühlenflügel, der allein durch die Luft kreist. Endlich schlug es auf dem Boden auf, ein entsetzliches Geschrei erhob sich, und der schwarze Balken glich beim Zurückprallen vom Pflaster einer springenden Riesenschlange.

Quasimodo sah, daß die Bettler beim Sturze des Balkens wie die Asche, wenn ein Kind in sie hineinbläst, auseinanderstoben. Er machte sich ihr Entsetzen zu Nutze, und während sie ihre abergläubischen Blicke auf die vom Himmel gefallene Masse hefteten und die steinernen Heiligen des Portales mit einer Salve von Pfeilen und Flintenkugeln verstümmelten, häufte Quasimodo in aller Stille Schutt, Quadern, Bruchsteine, ja sogar Säcke mit Maurergeräthe auf dem Rande jener Balustrade auf, von wo der Balken zuvor hinabgeschossen war.

Sobald sie begannen gegen die große Thür zu stürmen, begann auch der Steinhagel auf sie herabzufallen; und es kam ihnen so vor, als ob die Kirche selbst über ihren Köpfen zusammenzustürzen begönne.

Wer Quasimodo in diesem Augenblicke hätte sehen können, wäre erschrocken gewesen. Unabhängig von dem, was an Wurfgeschossen auf dem Geländersimse aufgehäuft war, hatte er einen Haufen Steine auf der Plattform selbst zusammengetragen. Sobald die am äußern Rande angehäuften Bruchsteine verbraucht waren, nahm er den Steinhaufen in Angriff. Jetzt bückte er sich, richtete sich in die Höhe, bückte und erhob sich immer wieder mit unglaublicher Emsigkeit. Sein dicker Gnomenkopf bog sich über das Geländer vor, dann flog ein ungeheurer Stein hinab, dann ein zweiter, dann noch einer. Von Zeit zu Zeit folgte sein Auge einem hübschen Steine, und wenn er jemanden ordentlich getroffen hatte, rief er: »Ho!«

Indessen verloren die Bettler den Muth nicht. Schon mehr als zwanzig Mal hatte die dicke Thür, auf welche sie losstürmten, unter der Wucht ihres hölzernen Sturmbockes, dessen Wirkung durch die Kraft von hundert Menschen vervielfältigt wurde, gebebt. Die Füllungen krachten, die getriebenen Verzierungen flogen in Stücken umher, die Haspen sprangen bei jedem Stoße in ihren Angelringen krachend in die Höhe, die Bohlen gaben nach, und das Holz zerstob, zwischen den eisernen Bändern zermalmt, in Spänen herum. Zum Glücke für Quasimodo war mehr Eisen als Holz an der Thüre. Er merkte jedoch, daß die große Thür wankte. Obgleich er nichts hörte, so dröhnte doch jeder Stoß des Sturmbockes zugleich in den Wölbungen der Kirche und in seinem Innern wieder. Er sah von oben, wie die Bettler, siegesgewiß und racheschnaubend, die Fäuste gegen die dunkle Façade ballten, und im Herzen der Zigeunerin und in seinem eignen beneidete er die Eulen, welche über seinen Kopf in Schwärmen davonflogen, um ihre Fittige. Sein Steinregen genügte nicht, um die Anstürmer zurückzutreiben.

In diesem angstvollen Augenblicke bemerkte er ein wenig unterhalb der Balustrade, von wo aus er die Gauner zerschmetterte, zwei lange steinerne Dachrinnen, welche unmittelbar über der großen Thüre ausmündeten. Die innere Mündung dieser Dachrinnen ging auf den Boden der Plattform. Ein Gedanke fuhr ihm durch den Kopf; er holte ein Reißigbündel aus seiner Läuterkammer, legte auf dieses Bündel eine Menge Lattenbunde und Bleiplatten – jenes Vertheidigungsmaterial, von dem er noch keinen Gebrauch gemacht hatte –, und nachdem er diesen Scheiterhaufen gehörig vor dem Loche der zwei Dachrinnen aufgebaut hatte, zündete er ihn mit seiner Laterne an.

Als während dieser ganzen Zeit keine Steine mehr herabfielen, hatten die Bettler aufgehört, in die Höhe zu sehen. Keuchend wie eine Meute, welche den Keiler in seiner Lache aufstören, drängten sich die Banditen lärmend um die große Thür zusammen, die von dem Sturmbocke übel zugerichtet war, aber noch fest stand. Sie warteten zitternd vor Begierde auf den Hauptstoß, auf den Stoß, unter dem sie zusammenbrechen sollte. Jeder suchte so nahe als möglich an sie heranzukommen, um sich unter den Ersten mit hineinstürzen zu können, wenn der Zugang zu dieser strotzend reichen Kathedrale, zu dieser mächtigen Schatzkammer, in der sich die Schätze von drei Jahrhunderten überall her aufgehäuft hatten, frei sein sollte. Sie erinnerten sich einander mit vor Freude und Begierde gerötheten Gesichtern an die schönen silbernen Kreuze, an die köstlichen golddurchwirkten Chorröcke, die herrlichen, silberstrotzenden Grabdenkmäler, die großartigen Prachtstücke des Chores, an die blendenden Feste, die von Leuchtern schimmernden Weihnachtsfeste, das von der Monstranz funkelnde Osterfest, an alle diese glänzenden Festlichkeiten, bei denen Reliquienkästchen, Leuchter, Hostiengefäße, Sacramentshäuschen, Reliquienschreine die Altäre mit einem Berge von Gold und Diamanten überhäufen. Sicherlich dachten in diesem schönen Augenblicke die Diebe, Schwindsüchtigen, Erzschelme und Abgebrannten viel weniger an die Befreiung der Zigeunerin, als an die Plünderung von Notre-Dame. Wir möchten sogar gern glauben, daß für eine ganze Anzahl unter ihnen die Esmaralda nur ein Vorwand war, wenn Räuber überhaupt Vorwände nöthig hätten.

Plötzlich, in dem Augenblicke, wo sie sich zu einer letzten Anstrengung um den Sturmbock vereinigt hatten, jeder seinen Athem anhielt und seine Muskeln anspannte, um seine ganze Kraft zu einem entscheidenden Stoße aufzuwenden, erhob sich ein Geheul, das noch fürchterlicher, als dasjenige war, das unter dem niederstürzenden Balken losgebrochen und erstorben war, in ihrer Mitte. Diejenigen, welche nicht mitschrieen und diejenigen, welche noch am Leben waren, sahen sich um. Zwei Güße geschmolzenen Bleies fielen von der Höhe des Gebäudes auf die Menge, wo sie am dichtesten war. Dieses Menschengewoge war soeben unter dem siedenden Metalle hingesunken, welches an den zwei Stellen, wo es niederfiel, zwei schwarze und rauchende Löcher gemacht hatte, wie es etwa siedendes Wasser im Schnee verursachen würde. Man erblickte hier Sterbende, die halb verkohlt waren und vor Schmerz aufschrieen. Rings um diese zwei Hauptgüsse fielen Tropfen dieses fürchterlichen Regens nieder, welche sich über die Stürmenden ergossen und wie Flammenbohrer in die Schädel einbohrten. Es war ein gewaltiges Feuer, welches diese Elenden wie ein Hagelwetter durchlöcherte.

Das Geschrei war herzzerreißend. Sie warfen den Balken auf die Leichen und entflohen in völliger Verwirrung, die Muthigsten sowohl wie die Furchtsamsten, und der Vorhof war zum zweiten Male geleert.

Aller Augen hatten sich nach der Höhe der Kirche erhoben. Was sie da sahen, war etwas Ungewöhnliches. Auf dem Gipfel der höchsten Galerie, hoch oben über der Mittelrosette, war eine große Flamme zu sehen, die zwischen den beiden Glockentürmen mit Funkenwirbeln aufstieg, eine große, prasselnde und grimmige Flamme, von welcher der Wind zeitweilig eine Funkenwolke im Rauche davontrug. Unterhalb dieser Flamme unter der dunkeln Balustrade, durch deren Fugen die Glut schimmerte, spieen zwei Dachrinnen wie Rachen von Ungeheuern unaufhörlich jenen glühenden Regen hervor, welcher sein schimmerndes Geplätscher in die Nacht der untern Façade hinabgoß. In dem Maße, als sich die zwei Ströme flüssigen Bleies dem Boden näherten, verbreiterten sie sich zu Garben, wie das Wasser, welches aus den zahllosen Löchern der Gießkanne heraussprudelt. Ueber dieser Flamme sah man die ungeheuern Thürme mit ihren zwei aufsteigenden und grell sich abhebenden Fronten, von denen eine dunkel, die andere ganz roth beleuchtet war, und die bei dem ungeheuern Schatten, den sie am Himmel warfen, noch größer erschienen. Die zahllosen, in Stein gemeiselten Teufels- und Drachenfiguren gewährten einen furchtbaren Anblick. Der zitternde Schein der Flamme zeigte sie dem Auge, als ob sie sich bewegten. Da fanden sich Schlangen, welche zu lachen schienen, Traufrinnen, welche man glaubte kläffen zu hören, Salamander, welche in das Feuer bliesen. Und unter diesen Ungeheuern, welche so von jener Flamme und jenem Getös aus ihrem steinern Schlafe geweckt waren, befand sich eins, welches einherwandelte, und das man von Zeit zu Zeit an der brennenden Seite des Scheiterhaufens, wie eine Fledermaus vor einem Lichte vorüberstreichen sah. Zweifelsohne mußte dieser seltsame Leuchtthurm weit draußen den Holzhauer auf den Hügeln von Bicêtre wecken, der erstaunt sein würde, zu sehen wie der riesige Schatten der Thürme von Notre-Dame auf seinem Haidelande schwanke.

Es entstand ein Schweigen des Entsetzens unter den Bettlern, während dem man nur die Nothschreie der in ihrem Kloster eingesperrten Domgeistlichen vernahm, die sich unruhiger benahmen, wie Pferde in einem brennenden Stalle; dann hörte man noch das verstohlene Geräusch von schnell geöffneten und noch schneller geschlossenen Fenstern, die Verwirrung im Innern der Wohnungen des Hôtel-Dieu, den Wind in der Flamme, das letzte Röcheln der Sterbenden und das anhaltende Knattern des Bleiregens auf dem Boden.

Unterdessen hatten sich die angesehensten Bettler unter die Vorhalle des Hauses Gondelaurier zurückgezogen und hielten Rathschlag. Der Herzog von Aegypten, der auf einem Ecksteine saß, betrachtete mit einer Art religiöser Furcht den geisterhaften Scheiterhaufen, der in einer Höhe von zweihundert Fuß dort oben brannte. Clopin Trouillefou biß sich vor Wuth in seine dicken Fäuste.

»Unmöglich, hineinzukommen!« murmelte er zwischen den Zähnen.

»Eine alte gefeite Kirche!« brummte der alte Zigeuner Mathias Hungadi Spikali.

»Bei des Papstes Schnurrbarte!« fuhr ein altersgrauer Kerl fort, der gedient hatte, »das sind fürwahr Kirchendachtraufen, die euch geschmolzenes Blei besser entgegenspeien, als die Erkerluken von Lectoure.«

»Seht ihr jenen Teufel da, der vor dem Feuer hin- und hergeht?« rief der Herzog von Aegypten.

»Bei Gott!« sagte Clopin, »es ist der verdammte Läuter, es ist Ouasimodo.«

Der Zigeuner schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich sage euch, ich, daß es der Geist Sabnak, der große Marquis, der böse Geist der Festungswerke ist. Er hat die Gestalt eines bewaffneten Soldaten, einen Löwenkopf. Manchmal besteigt er ein scheußliches Pferd. Er verwandelt die Menschen in Steine, aus denen er Thürme baut. Er befiehlt über fünfzig Legionen. Er ist es sicher, ich erkenne ihn. Bisweilen ist er in ein schönes, goldgeschmücktes Gewand nach Art der Türken gekleidet.«

»Wo ist Bellevigne-de-l’Etoile?« fragte Clopin.

»Er ist todt,« antwortete ein Bettlerweib.

Der rothe Andry stieß ein einfältiges Lachen aus: »Notre-Dame,« sagte er, »giebt dem Hôtel-Dieu Arbeit.«

»Es giebt also keine Mittel, diese Thüre einzuschlagen?« rief der König von Thunes und stampfte mit dem Fuße auf.

Der Herzog von Aegypten zeigte ihm mit trauriger Geberde die zwei Bäche siedenden Bleies, welche unausgesetzt über die dunkle Façade wie zwei Phosphorstreifen herabrieselten.

»Man hat Kirchen gekannt, die sich so von selbst verteidigten,« bemerkte er seufzend. »Die der Heiligen Sophie in Constantinopel hat vor vierzig Jahren dreimal hintereinander den Halbmond Muhameds durch Schütteln ihrer Kuppeln, welche ihre Häupter sind, zur Erde geworfen. Wilhelm von Paris, der diese hier gebaut hat, war ein Zauberer.«

»Müssen wir also jämmerlich wie Bediente von der Heerstraße abziehen?« sagte Clopin. »Unsere Schwester dort lassen, welche diese Wölfe in Mönchskutten morgen hängen werden!«

»Und die Sakristei, wo ganze Karren voll Gold liegen!« fügte ein Bettler hinzu, dessen Namen wir bedauern nicht zu wissen.

»Beim Barte Muhameds!« rief Trouillefou.

»Versuchen wir es noch einmal,« fuhr der Bettler fort.

Mathias Hungadi schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Wir werden nicht durch die Thüre hineinkommen. Wir müssen eine schwache Stelle in der Rüstung der alten Zauberin auffinden, ein Loch, ein blindes Ausfallthor, irgend eine Ritze.«

»Wer ist dabei?« sagte Clopin, »ich gehe wieder zu ihr hin … Ja so, wo ist denn der kleine Student Johann, der so von Kopf zu Fuß gerüstet ist?«

»Er ist zweifelsohne todt,« antwortete jemand, »man hört ihn nicht mehr lachen.«

Der König von Thunes runzelte die Augenbrauen.

»Um so schlimmer. Es schlug ein tapferes Herz unter diesem Eisenkleide. – Und Meister Peter Gringoire?«

»Hauptmann Clopin,« sagte der rothe Andry, »er hat sich heimlich davongemacht, als wir noch an der Wechslerbrücke waren.«

Clopin stampfte mit dem Fuße.

»Beim Haupte Gottes! er ists, der uns hierher treibt, und er läßt uns mitten in der besten Arbeit sitzen! … Der feige Schwätzer, der einen Pantoffel auf dem Kopfe trägt!«

»Hauptmann Clopin,« sagte der rothe Andry, der in die Straße zum Vorhofe hinabsah, »da ist der kleine Student.«

»Pluto sei gepriesen!« sagte Clopin.

»Aber was Teufel schleppt er hinter sich her?«

Es war in der That Johann, der so schnell herbeieilte, als es ihm sein schweres Paladinsgewand und eine lange Leiter, die er muthig über das Pflaster schleifte, erlaubten; er war athemloser als eine Ameise, die sich vor einen zwanzig Mal längern Grashalm, als sie selbst ist, gespannt hat.

»Sieg! te Deum! 72 schrie der Student.

»Da ist die Leiter der Abläder vom Hafen Saint-Landry.«

Clopin näherte sich ihm.

»Bursche, was zum Teufel, willst du mit dieser Leiter anfangen?«

»Ich habe sie,« antwortete Johann laut keuchend. »Ich wußte, wo sie war … Unter dem Schuppen im Hause des Hafenverwesers. Da ist ein Mädchen, welches ich kenne, und die mich schön, wie einen Cupido 73 findet, Ich habe mich ihrer bedient, um die Leiter zu erlangen; beim Grabe Muhameds! … Das arme Mädchen ist im bloßen Hemde gekommen, um mir zu öffnen.«

»Gut,« sagte Clopin, »aber was willst du mit dieser Leiter beginnen?«

Johann sah ihn mit einem schalkhaften und pfiffigen Blicke an, und ließ seinen Finger wie Castagnetten klappern. Er sah in diesem Augenblicke prächtig aus. Er trug auf seinem Kopfe einen jener überladenen Helme des fünfzehnten Jahrhunderts, welche den Feind mit ihrem ungeheuerlichen Helmstutze in Schrecken jagten. Der seinige war mit zehn eisernen Schnäbeln besetzt, so daß Johann dem homerischen Schiffe Nestors das furchtbare Beiwort δεχέμβολος 74 hätte streitig machen können.

»Was ich damit machen will, erhabener König von Thunes? Sehet Ihr die Reihe von Bildsäulen mit den dummen Gesichtern da oben über den drei Hauptthoren?

»Ja. Nun weiter?«

»Das ist die Galerie der Könige von Frankreich.«

»Was in aller Welt geht das mich an?« sagte Clopin.

»So wartet doch! Am Ende dieser Galerie ist eine Thüre, welche niemals anders, als mit einem Drücker verschlossen wird; und mit dieser Leiter steige ich hinauf und bin dann in der Kirche.«

»Bursche, laß mich zuerst hinaufsteigen.«

»Nein, nein, Kamerad, die Leiter gehört mir. Kommt, Ihr sollt der Zweite sein.«

»Daß dich Beelzebub erdrossele!« sagte der mürrische Clopin; »ich mag hinter niemandem sein.«

»Dann, Clopin, suche dir eine Leiter!« Johann begann über den Platz zu laufen, schleppte seine Leiter hinter sich her und schrie: »Her zu mir, Jungen!«

In einem Augenblicke war die Leiter aufgerichtet und an die Balustrade der untern Galerie, über eines der Seitenportale angelegt. Der Haufe der Bettler stieß ein lautes Beifallsgeschrei aus und drängte sich am Fuße desselben zusammen, um hinaufzusteigen. Aber Johann behauptete sein Recht und setzte zuerst den Fuß auf ihre Sprossen. Der Weg nach der Höhe war ziemlich lang. Die Galerie der Könige von Frankreich erhebt sich heute ohngefähr sechzig Fuß über den Boden. Die elf Stufen der Freitreppe erhöhten sie noch. Johann stieg langsam und von seiner schweren Rüstung ziemlich behindert nach oben, hielt sich mit einer Hand an der Leitersprosse an, in der andern trug er seine Armbrust. Als er sich mitten auf der Leiter befand, warf er einen schwermüthigen Blick auf die armen todten Gauner, mit denen die Treppe bedeckt war. »Ach,« sagte er, »da liegt ein Berg Leichname, welcher des fünften Gesanges des Iliade würdig ist!« Dann stieg er weiter hinauf. Die Bettler folgten ihm. Auf jeder Leitersprosse befand sich einer von ihnen. Beim Anblick dieser Linie geharnischter Rücken, die sich im Dunkeln nach oben zu fortbewegten, hätte man glauben sollen, eine stahlgeschuppte Schlange zu sehen, die sich gegen die Kirche aufrichtete. Johann, welcher den Kopf bildete und pfiff, vervollständigte die Täuschung.

Der Student erreichte endlich den Balcon der Galerie und schwang sich ziemlich gewandt, und unter dem Beifallsgeschrei der ganzen Bettlerzunft, darüber hinweg. Als er so Herr der Kirchenfeste war, stieß er einen Freudenschrei aus; aber plötzlich verstummte er wie versteinert. Er hatte soeben hinter einer Königsstatue Quasimodo bemerkt, der funkelnden Auges in der Finsternis stand.

Ehe ein zweiter Belagerer auf der Galerie hätte Fuß fassen können, sprang der furchtbare Bucklige nach der Spitze der Leiter zu, packte, ohne ein Wort zu sagen, das Ende der beiden Pfosten mit seinen mächtigen Händen, hob sie, entfernte sie von der Mauer, schaukelte die lange, biegsame und von oben bis unten mit Bettlern besetzte Leiter, während ein fürchterliches Angstgeschrei sich erhob, und warf plötzlich mit übermenschlicher Kraft diese Menschenmasse nach dem Platze zurück. Das war ein Moment, wo den Verwegensten das Herz pochte. Die nach hinten geschleuderte Leiter stand einen Augenblick gerade und aufrecht und schien zu zaudern, dann schwankte sie und plötzlich, nachdem sie einen fürchterlichen Kreisbogen von achtzig Fuß im Halbmesser beschrieben, schlug sie mit der Banditenlast rascher auf das Pflaster nieder, als eine Zugbrücke, deren Ketten reißen. Man hörte eine gräßliche Verwünschung, dann schwieg alles, und einige Unglückliche schleppten sich kriechend unter dem Leichenhügel hervor.

Ein Aufschrei des Schmerzes und der Erbitterung folgte unter den Belagerern auf die ersten Siegesrufe. Quasimodo sah, beide Arme auf die Balustrade gestützt, dem Ganzen unempfindlich zu. Er sah aus wie ein alter langhaariger König an seinem Fenster.

Auch Johann Frollo war in einer mißlichen Lage. Er befand sich mit dem fürchterlichen Glöckner in der Galerie allein, von seinen Gefährten durch eine senkrechte Mauer von achtzig Fuß Höhe getrennt. Während Quasimodo mit der Leiter sein Spiel trieb, war der Student zu dem Ausfallthore, das er für offen hielt, hingeeilt. Vergebens: der Taube hatte es, als er in die Galerie eintrat, hinter sich verschlossen. Darauf hatte sich Johann hinter einem steinernen Könige verborgen, wagte nicht zu athmen und sah auf den scheußlichen Buckligen mit einer entsetzten Miene hin, wie jener Mann, der, als er der Frau eines Menageriewärters die Cour machte, und eines Abends zum verliebten Stelldichein ging, sich beim Uebersteigen in der Mauer irrte und plötzlich einem weißen Bären gegenüber stand. In den ersten Augenblicken hatte der Taube keine Acht auf ihn; aber schließlich wandte er den Kopf um und richtete sich plötzlich wieder auf. Er hatte soeben den Studenten bemerkt.

Johann machte sich auf einen furchtbaren Zusammenstoß gefaßt, aber der Taube blieb regungslos stehen; nur hatte er sich nach dem Studenten hingewandt, den er betrachtete.

»Ho! ho!« sagte Johann, »was hast du mich mit diesem einzigen und schwermüthigen Auge so anzusehen?«

Und bei diesen Worten spannte der junge Schelm tückisch seine Armbrust.

»Quasimodo!« rief er, »ich will deinen Beinamen ändern; man soll dich den Blinden nennen.«

Der Schuß ging los. Der befiederte Pfeil zischte und fuhr in den linken Arm des Buckligen hinein. Quasimodo gerieth darüber nicht mehr in Aufregung, als über eine Schramme, die der König Pharamund davon getragen hätte. Er legte die Hand an den Pfeil, riß ihn aus seinem Arme heraus und zerbrach ihn ruhig an seinem dicken Knie; dann ließ er die beiden Stücke, mehr als daß er sie warf, auf den Boden fallen. Aber Johann fand keine Zeit ein zweites Mal zu schießen. Nachdem der Pfeil zerbrochen war, schnob Quasimodo plötzlich auf, sprang wie eine Heuschrecke in die Höhe und stürzte auf den Studenten nieder, dessen Rüstung sich von dem Stoße gegen die Mauer plattdrückte.

Nun erblickte man in diesem Halbdunkel, in dem das Licht der Fackeln hin- und herschwankte, einen schrecklichen Hergang. Quasimodo hatte mit der linken Hand die beiden Arme Johanns gepackt, der sich gar nicht wehrte, so sehr hatte er sich gleich verloren gegeben. Mit der Rechten riß ihm der Taube schweigend und mit einer fürchterlichen Langsamkeit alle Stücke seiner Rüstung, eines nach dem andern: den Degen, die Dolche, den Helm, den Panzer, die Armschienen vom Leibe. Man hätte ihn für einen Affen halten können, der eine Nuß abschält. Quasimodo warf dann Stück für Stück von dem eisernen Gehäuse des Studenten vor seinen Füßen nieder.

Als der Student sich entwaffnet, entkleidet, machtlos und nackt in diesen fürchterlichen Händen befand, machte er keinen Versuch, sich mit dem Tauben zu verständigen, sondern er begann, ihm in frecher Weise ins Gesicht zu lachen, und mit der unerschrockenen Sorglosigkeit eines sechzehnjährigen Burschen das damals volksthümliche Lied anzustimmen:

Was für schöne Kleider hat
Cambrai, die gute Stadt:
Marafin hat sie geplündert.

Er brachte es nicht zu Ende. Man sah Quasimodo aufrecht auf der Brustwehr der Galerie stehen; in einer Hand allein hielt er an den Füßen den Studenten, welchen er über dem Abgrunde wie eine Schleuder kreisen ließ; dann hörte man einen Krach, wie denjenigen einer knöchernen Dose, die gegen eine Mauer rasselt, und man sah etwas niederfallen, was im dritten Theile der Höhe an einem Vorsprunge der Kathedrale hängen blieb. Es war ein todter Körper, welcher zusammengeknickt, mit zerschmetterten Beinen und leerer Hirnschale da herabhing.

Ein Schrei des Entsetzens erhob sich unter den Bettlern.

»Rache!« schrie Clopin. – »Auf zur Plünderung!« antwortete die Menge. – »Sturm! Sturm!« – Alsdann entstand ein fürchterliches Geheul, in welchem sich alle Sprachen, alle Mundarten, alle Aussprachen durcheinander mischten. Der Tod des armen Studenten brachte ein wüthendes Ungestüm in diese Menge. Die Scham packte sie und der Zorn, so lange vor einer Kirche von einem Buckligen in Schach gehalten worden zu sein. Die Wuth fand Leitern, vervielfältigte die Fackeln, und nach Verlauf einiger Minuten sah Quasimodo mit Bestürzung, wie dieses furchtbare Menschengewimmel Notre-Dame von allen Seiten im Sturme erklomm. Diejenigen, welche keine Leitern hatten, bedienten sich mit Knoten versehener Stricke, die, welche keine Stricke besaßen, kletterten an den Zacken der Steinmetzarbeiten in die Höhe. Sie hingen sich einander an ihre Lumpen. Kein Mittel gab es mehr, dieser aufsteigenden Flut fürchterlicher Gestalten Widerstand zu leisten; die Wuth röthete diese wilden Angesichter, von ihren schmutzigen Stirnen floß der Schweiß herab; ihre Augen blitzten, alle diese Fratzen und häßlichen Wesen umringten Quasimodo. Man hätte meinen sollen, daß irgend eine andere Kirche ihre Gorgonen, ihre Hunde, ihre Steingespenster, ihre Dämonen und sonderbarsten Steingebilde zum Sturme auf Notre-Dame abgeschickt hätte. Sie erschienen wie eine Schicht bebender Ungeheuer über den steinernen Ungethümen der Façade.

Unterdessen hatte sich der Platz von tausend Fackeln erhellt. Diese wirre Scene, die bis dahin in der Dunkelheit verborgen geblieben, war plötzlich von Licht überglänzt. Der Vorhof glänzte und warf einen Strahlenschein zum Himmel; der Holzstoß, welcher auf der Plattform angezündet war, brannte noch immer und erleuchtete fernhin die Stadt. Der ungeheuere Schattenriß der zwei Thürme, der sich in der Ferne über den Dächern von Paris zeigte, warf in diese Helligkeit einen breiten Schattenabschnitt. Die Stadt schien in Aufregung gerathen zu sein. In der Ferne heulten Sturmglocken. Die Bettler schrien, keuchten, fluchten und stiegen in die Höhe; und Quasimodo, der sich machtlos gegen so viele Feinde fühlte, für die Zigeunerin zitterte und sah, wie sich die wüthenden Gesichter immer mehr und mehr seiner Galerie näherten, bat den Himmel um ein Wunder und rang voll Verzweiflung die Hände.

  1. Ein Wortwitz: Coupe-Gueule = Schlundabschneider, Coupe-Gorge = Kehlabschneider. Anm. d. Uebers.
  2. Lateinisch: Herr Gott Dich loben wir. Anm. d. Uebers.
  3. Name des kleinen Liebesgottes der Alten.
  4. Griechisch: Mit zehn ehernen Schiffsschnäbeln versehen. Anm. d. Uebers.

5. Die Einsamkeit, in der Herr Ludwig von Frankreich seine Horen betet.

Der Leser hat vielleicht nicht vergessen, daß Quasimodo einen Augenblick zuvor, ehe er die nächtliche Bande der Bettler bemerkte, und als er von seinem Thurme herab Paris überblickte, hier nur ein einziges Licht schimmern sah, welches ein Fenster im höchsten Stockwerke eines hohen und düstern Gebäudes neben dem Thore Saint-Antoine erhellte. Dieses Gebäude war die Bastille. Dieser Lichtschimmer war die Kerze Ludwigs des Elften.

Der König Ludwig der Elfte war in der That seit zwei Tagen in Paris. Er war willens, am zweitnächsten Tage wieder nach seiner Feste Montilz-les-Tours zurückzureisen. Er nahm stets nur kurzen und seltenen Aufenthalt in seiner guten Stadt Paris, weil er hier nicht genug Fallgruben, Galgen und schottische Bogenschützen in seiner Nähe wußte.

An jenem Tage war er gekommen, um sein Nachtlager in der Bastille aufzuschlagen. Das große Zimmer von fünf Klaftern im Geviert, welches er im Louvre besaß, mit dem großen Kamine, der mit zwölf großen Thiergestalten und dreizehn großen Propheten bedeckt war, und sein mächtiges Bett von elf Fuß Breite und zwölf Fuß Länge gefielen ihm wenig. Er verlor sich in allen diesen großen Räumlichkeiten. Dieser gut bürgerliche König zog die Bastille mit einem Kämmerchen und einem Bettchen darin vor. Und dann war die Bastille weit fester als der Louvre.

Dieses »Kämmerchen«, welches sich der König in dem berüchtigten Staatsgefängnis vorbehalten hatte, war noch ziemlich groß und nahm das oberste Stockwerk eines Thürmchens ein, das auf einen großen Schloßthurm aufgesetzt war. Es war ein Gemach von runder Form, mit Matten aus weißem Stroh überkleidet, die Decke mit Balken verschalt, an denen Lilien aus vergoldetem Zinn sich erhoben, zwischen den Balken farbige Füllungen; die Wände waren mit reichem Holzwerke ausgetäfelt, das mit Rosetten von weißem Zinn übersäet und mit Hellgrün aus Goldgelb und feinem Indigo gemalt war.

Es befand sich nur ein Fenster in langer Spitzbogenform darin, das mit Eisendraht und Eisenstäben vergittert und übrigens von schönen gemalten Scheiben mit den Wappen des Königs und der Königin, deren Fassung auf zweiundzwanzig Sou zu stehen kam, verdunkelt war.

Es hatte gleichfalls nur einen Eingang: eine Thür im neuern Geschmack mit flachgewölbtem Bogen, innen mit einem Thürteppiche und außen mit einer jener irländischen, hölzernen Vorhallen, diesen zierlichen Holzbauen merkwürdig gearbeiteter Tischlerkunst geziert, welche man noch in zahlreichen alten Häusern vor hundert und fünfzig Jahren sah. »Obgleich sie die Räume verunzieren und versperren,« sagt Sauval voll Verzweiflung, »so wollen sich unsere Alten dennoch durchaus nicht von ihnen trennen und behalten sie jedermann zum Trotze bei.«

In diesem Zimmer fand man nichts von den Möbeln, welche sich in gewöhnlichen Wohnzimmern vorfinden: weder Bänke, noch Tragstühle, weder Polsterbänke, noch gewöhnliche Fußschemel in Kastengestalt, noch schöne Schemel, die von Füßen und Strebesäulchen getragen werden, das Stück zu vier Sou. Man sah hier nur einen sehr prächtigen Klappstuhl mit Armen: das Holz daran war mit Rosen auf rothem Grunde bemalt, der Sitz aus dunkelrothem Corduanleder, mit langen Seidenfransen geschmückt und mit zahlreichen goldenen Nägeln beschlagen. Die Vereinzelung dieses Stuhles zeigte an, daß nur eine einzige Person das Recht hätte, in diesem Zimmer sich zu setzen. Neben dem Stuhle und ganz dicht am Fenster befand sich ein Tisch, der mit einem Teppiche bedeckt war, in den Vogelgestalten eingewirkt waren. Auf diesem Tische stand ein tintenfleckiges Schreibzeug, einige Pergamente, Federn und ein in Silber getriebener Humpen; ein wenig weiter entfernt ein Kohlenbecken, ein Betpult aus dunkelrothem Sammete, gleichfalls mit goldenen Buckeln beschlagen. Endlich sah man im Hintergrunde ein einfaches Bett aus gelbem und rosenfarbigem Damast ohne Flitterstaat und Tressen, mit Franzenbesatz in wirrer Form. Es ist dies das berühmte Bett, in welchem Ludwig der Elfte die Stunden des Schlafes oder der Schlaflosigkeit verbrachte, und welches man noch vor zweihundert Jahren bei einem Staatsrathe in Augenschein nehmen konnte, wo es von der alten Frau Pilou, die im »Cyrus« 75 unter dem Namen »Aricidia« oder »die lebende Moral« gefeiert wird, gesehen worden ist.

So war das Zimmer beschaffen, welches man »die Einsamkeit, in der Herr Ludwig von Frankreich seine Horen betet«, benannte.

In dem Augenblicke, wo wir den Leser hier eingeführt haben, war es sehr dunkel in diesem Zimmer. Die Abendglocke war vor einer Stunde geläutet worden; es war Nacht, und man sah nur eine einzige flackernde Wachskerze auf dem Tische stehen, welche fünf, verschiedenartig im Zimmer gruppirte Personen beleuchtete.

Der Erste, auf welchen das Licht fiel, war ein prächtig in Beinkleider und Rock aus scharlachrothem, silbergestreiftem Stoff gekleideter Herr, der einen Mantel aus schwarzgemustertem Goldstoff mit geschnürten Buffärmeln um die Schultern trug. Dieser funkelnde Anzug, auf welchem das Licht spielte, schien an allen Falten von Flammen zu schillern. Der Mann, welcher ihn trug, hatte auf der Brust sein in hellen Farben gesticktes Wappen: einen Balken mit einem springenden Damhirsche am Ende. Der Wappenschild war rechts von einem Olivenzweige, links von einem Damhirschgeweih umkränzt. Derselbe Mann trug an seinem Gürtel einen reich gearbeiteten Dolch, dessen dunkelrothes Gefäß in Gestalt eines Helmstutzes getrieben und von einer Grafenkrone gekrönt war. Er hatte ein boshaftes Wesen, eine stolze Miene, und trug den Kopf hoch. Beim ersten Blicke ersah man auf seinem Gesichte den anmaßenden Dünkel, beim zweiten die Hinterlist.

Er stand unbedeckten Hauptes, ein langes Aktenstück in der Hand, hinter dem Armstuhle, auf welchem mit nachlässig zusammengesunkenem Körper, die Kniee eins über das andere geschlagen, mit dem Ellenbogen auf den Tisch gestützt, eine übel gekleidete Person saß. Man denke sich in der That auf dem sehr reichen Sitze von Corduanleder zwei eingebogene Knien, zwei magere Schenkel, welche ärmlich in eine schwarzwollene enganliegende Hose gekleidet waren, einen Rumpf, der in einen Ueberrock aus Barchent mit Pelzfütterung gehüllt war, an der man weniger Haare als Leder sah; endlich, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, einen alten schmutzigen Hut aus dem schlechtesten schwarzen Stoffe, der ringsum mit einer Schnur kleiner bleierner Figuren besetzt war. Das war, nebst einem schmutzigen Käppchen, das kaum ein Haar hervorschauen ließ, alles, was man an der sitzenden Person erkennen konnte. Er hielt sein Haupt dermaßen auf die Brust geneigt, daß man nichts von seinem im Schatten versteckten Gesichte erblicken konnte, außer allein das Ende seiner Nase, auf die ein Lichtstrahl fiel, und die sehr lang sein mußte. Aus der Magerkeit seiner runzeligen Hand schloß man auf einen Greis. Es war Ludwig der Elfte.

In einiger Entfernung hinter ihnen unterhielten sich mit leiser Stimme zwei, nach flamländischem Schnitte gekleidete Männer, welche nicht so sehr im Schatten versteckt waren, daß jemand von denen, welche der Aufführung von Gringoires Schauspiel beigewohnt hatten, in ihnen nicht zwei der vornehmsten flamländischen Gesandten hätte wiederkennen sollen: nämlich Wilhelm Rym, den verschlagenen Pensionair der Stadt Gent, und Jacob Coppenole, den volksthümlichen Strumpfwirker. Man wird sich erinnern, daß diese beiden Männer bei der geheimen Politik Ludwigs des Elften mit im Spiel waren.

Endlich ganz im Hintergrunde des Zimmers, neben der Thüre, stand in der Dunkelheit, bewegungslos wie eine Bildsäule, ein kräftig gebauter Mann mit stämmigen Gliedmaßen im Soldatenharnisch und wappengeschmückten Mantel, dessen vierschrötiges, stirnloses Gesicht mit Augen darin, welche mit den Stirnknochen gleichstanden, mit dem ungeheuern Munde querdurch, und seinen Ohren, die sich unter zwei breiten Wetterdächern von glatten Haaren versteckten, zu gleicher Zeit einem Hunde und einem Tiger ähnelte. Alle waren unbedeckten Hauptes, mit Ausnahme des Königs.

Der Herr, welcher neben dem Könige stand, schien ihm aus einer Art langen Rechnungsberichte vorzulesen, welchen Seine Majestät aufmerksam anzuhören schien. Die beiden Flamländer flüsterten mit einander.

»Kreuz Gottes!« murmelte Coppenole, »ich habe das Stehen satt; giebt es denn keinen Stuhl hier?«

Rym antwortete mit einer verneinenden Geberde, die von einem diskreten Lächeln begleitet war.

»Kreuz Gottes!« begann Coppenole wieder, ganz unglücklich darüber, die Stimme so dämpfen zu müssen, »die Lust wandelt mich an, mich mit untergeschlagenen Beinen auf die Erde zu setzen, wie ich es als Strumpfwirker in meiner Werkstatt mache.«

»Hütet Euch ja, das zu thun! Meister Jacob.«

»Potz tausend! Meister Wilhelm! hier kann man also nur auf seinen Füßen bleiben!«

»Oder auf den Knien,« antwortete Rym.

In diesem Augenblicke erhob sich die Stimme des Königs. Sie schwiegen.

»Fünfzig Sous für die Kleider unserer Bedienten, und zwölf Livres für die Mäntel der Kanzelisten unserer Krone! Ja! verschwendet das Gold tonnenweise! Seid Ihr toll, Olivier?«

Während er so sprach, hatte der Greis das Haupt erhoben. Man sah an seinem Halse die goldenen Muscheln der Kette des Heiligen Michaelordens glänzen. Die Kerze beleuchtete voll sein fleischloses, grämliches Profil. Er riß das Papier aus den Händen des andern.

»Ihr richtet uns zu Grunde!« schrie er, während er seine tiefliegenden Augen über das Heft schweifen ließ. »Was soll das Alles? Wozu gebrauchen wir einen so verschwenderisch eingerichteten Hofstaat? Zwei Hauskapläne mit einem Gehalte von zehn Livres jeder den Monat, und einen Kapelldiener mit hundert Sous! Einen Kammerdiener mit neunzig Livres jährlich! Vier Küchenmeister mit einhundertzwanzig Livres jeder jährlich! Einen Bratenwender, einen Suppenkoch, einen Saucenbereiter, einen Oberkoch, einen Waffenmeister, zwei Schaffnergehilfen, jeder mit zehn Livres monatlich! Zwei Küchenjungen zu acht Livres! Einen Stallknecht und seine zwei Gehilfen zu vierundzwanzig Livres monatlich! Einen Ausläufer, einen Pastetenbäcker, einen Brotbäcker, zwei Fuhrleute, jeder sechzig Livres jährlich! Und den Hufschmied sechsundzwanzig Livres jährlich! Und den Aufseher unserer Schatzkammer zwölfhundert Livres jährlich! Und den Controleur fünfhundert! … Was weiß ich! Das ist Raserei! Die Gehalte unserer Diener setzen Frankreich der Plünderung aus! Alle Schätze des Louvres werden bei einem solchen Verschwendungsfeuer zusammenschmelzen! Wir werden unser Tafelgeschirr dazu verkaufen müssen! Und, im nächsten Jahre, wenn Gott und Unsere liebe Frau (hier lüftete er seinen Hut) uns Leben verleihen, werden wir unsere Arzneitränke aus einem Zinntopfe trinken müssen!«

Während er so sprach warf er einen Blick auf den silbernen Humpen, welcher auf dem Tische funkelte. Er hustete und fuhr dann fort:

»Meister Olivier, die Fürsten, welche über große Landesherrlichkeiten regieren, wie Könige und Kaiser, sollen die Verschwendung nicht in ihren Haushaltungen Wurzel fassen lassen; denn von da aus verbreitet sich das Feuer durch das Reich … Also, Meister Olivier, laß dir das gesagt sein. Unsere Ausgabe vermehrt sich von Jahr zu Jahr. Die Sache mißfällt uns. Wie, beim allmächtigen Gott! bis zum Jahre 79 hat sie die Summe von sechsunddreißigtausend Livres gar nicht überstiegen; im Jahre 80 hat sie dreiundvierzigtausendsechshundertundneunzehn Livres erreicht … ich habe die Zahl im Kopfe … im Jahre 81 sechsundsechzigtausendsechshundertundachtzig Livres; und in diesem Jahre, auf Ehre meines Leibes! wird sie achtzigtausend Livres erreichen! Verdoppelt in vier Jahren! Ungeheuerlich! …«

Er hielt athemlos inne, dann fuhr er zornig fort:

»Ich sehe nur Leute um mich, die sich an meiner Magerkeit mästen! Ihr saugt mir die Thaler aus allen Poren!«

Alle beobachteten Stillschweigen. Es war einer jener Zornausbrüche, die man vorübergehen läßt. Er fuhr fort:

»So verhält es sich auch mit jener lateinischen Bittschrift der Barone und Lehnsherren von Frankreich, in welcher sie verlangen, daß wir das, was sie die großen Kronwürden nennen, wieder herstellen mögen! Bürden in Wahrheit! Würden welche überbürden! Oh! ihr Herren! ihr behauptet, daß wir kein König wären, weil wir » dapifero nullo, buticulario nullo« 76 regieren! Wir werden es euch zeigen, beim alleinigen Gotte! ob wir kein König sind!«

Hier lächelte er im Gefühle seiner Macht; seine böse Laune besänftigte sich darüber, und er wandte sich an die Flamländer:

»Seht Ihr, Gevatter Wilhelm? Der Oberbrotmeister, der Oberkellermeister, der Oberkämmerer, der Oberseneschall wiegen nicht den geringsten Kammerdiener auf … Behaltet das, Gevatter Coppenole … sie dienen zu nichts.

Wenn sie sich so nutzlos in der Nähe des Königs aufhalten, so kommen sie mir vor, wie die vier Evangelisten, welche das Zifferblatt der großen Uhr des Palastes umgeben, und die Philipp Brille eben wieder aufgefrischt hat. Sie sind vergoldet, aber sie zeigen die Stunde nicht an, und der Zeiger kann sie entbehren.«

Er hielt einen Augenblick nachdenklich inne, dann fuhr er, sein altes Haupt schüttelnd, fort:

»Ho! ho! bei Unserer lieben Frau, ich bin nicht Philipp Brille, und ich will die großen Vasallen nicht wieder vergolden … Fahre fort, Olivier.«

Die Person, welche er mit diesem Namen benannte, nahm das Heft wieder aus seinen Händen und begann wieder mit lauter Stimme zu lesen.

»… An Adam Tenon, Beamten bei der Siegelbewahrung des Obergerichtes von Paris: für Silber, Form und Stechung besagter Siegel, welche neu hergestellt worden sind, deshalb weil die vorher benutzten wegen ihrer Alterthümlichkeit und Abnutzung nicht gehörig mehr dienen konnten – zwölf Livres Pariser Münze.«

»An Wilhelm Frère die Summe von vier Livres vier Sous Pariser Münze für seine Bemühungen und als Löhnung für die Fütterung und Unterhaltung der Tauben in den beiden Taubenschlägen des Parlamentsgerichtsgebäudes während der Monate Januar, Februar und März dieses Jahres; und wofür er sechs Sester Gerste gegeben hat.«

»An einen Franziskanermönch, für die Beichte eines Verbrechers, vier Sous Pariser Münze.«

Der König hörte schweigend zu. Von Zeit zu Zeit hustete er; dann setzte er den Becher an seine Lippen und trank einen Schluck, wobei er das Gesicht verzog.

»In diesem Jahre haben auf Befehl des Gerichtsamtes, an den Straßenecken von Paris, unter Trompetenschall, sechsundfünfzig öffentliche Verkündigungen stattgefunden. Rechnung noch zu berichtigen.«

»Für Aufgraben und Nachsuchen an gewissen Orten sowohl in Paris als anderswo nach Geld, welches, dem Gerücht zufolge, da vergraben sein sollte, wo aber nichts gefunden worden war, fünfundvierzig Livres Pariser Münze.«

»Einen Thaler vergraben, um einen Sou herauszuscharren!« sagte der König.

»Für die Instandsetzung von sechs Fensterfüllungen mit weißem Glas, im Gebäude des Parlamentsgerichtshofes, an der Stelle, wo der eiserne Käfig steht, dreizehn Sous. – Laut Befehl des Königs für Anfertigung und Lieferung des Fensters zu den wilden Thieren, von vier Wappenschilden mit dem Wappen des genannten Herrn, ganz herum mit Rosensimsen eingefaßt, sechs Livres. – Für zwei neue Aermel an das alte Wamms des Königs, zwanzig Sous. – Für eine Büchse Fett, um die Stiefeln des Königs zu schmieren, fünfzehn Heller. – Einen Stall erneuert, um die schwarzen Schweine des Königs unterzubringen, dreißig Livres Pariser Münze. – Mehrere Verschläge, Bretter, Fallthüren angefertigt, um die Löwen bei Saint-Paul einzusperren.«

»Das nenne ich mir Bestien, die sehr kostspielig sind,« sagte Ludwig der Elfte. »Thut nichts; es ist schickliche Prachtliebe eines Königs. Da ist ein großer, rothgelber Löwe, den ich wegen seiner artigen Manieren gern habe … Habt Ihr ihn gesehen, Meister Wilhelm? Fürsten müssen von diesen bewunderungswürdigen Thieren besitzen. Bei uns Königen müssen unsere Hunde Löwen, und unsere Katzen Tiger sein. Das Großartige paßt zu den Kronen. Zur Zeit des Heiden Jupiters, wenn das Volk den Kirchen hundert Ochsen und hundert Schafe darbrachte, gaben die Kaiser hundert Löwen und hundert Adler. Das war wild und sehr schön. Die Könige von Frankreich haben immer solches Gebrüll um ihren Thron gehabt. Nichtsdestoweniger wird man mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich noch weniger Geld darauf verschwendet habe, als sie, und daß ich eine geringer Begierde nach Löwen, Bären, Elephanten und Leoparden besitze … Nur weiter, Olivier. Das wollten wir unsern flamländischen Freunden zu wissen thun.«

Wilhelm Rym verneigte sich tief, während Coppenole mit seiner Miene ganz das Aussehen eines jener Bären hatte, von denen seine Majestät sprach. Der König achtete nicht darauf. Er hatte eben die Lippen aus dem Becher benetzt und spie den Schluck wieder aus, indem er sagte: »Pfui! der unangenehme Trank!« Derjenige, welcher las, fuhr fort:

»Für die Beköstigung eines Landstreichers, welcher seit einem halben Jahre in der Zelle des Schindangers hinter Schloß und Riegel sitzt, bis man weiß, was mit ihm geschehen soll, – sechs Livres vier Sous.«

»Was heißt das?« unterbrach ihn der König; »das ernähren, was man hängen soll! Beim allmächtigen Gott! ich will nicht einen Sou mehr für diese Beköstigung hergeben … Olivier, verständigt Euch über diesen Punkt mit Herrn von Estouteville, und noch heute Abend trefft mir die Zurüstung zur Vermählung des Biedermannes mit einem Galgen … Fahret fort.«

Olivier machte bei dem Posten des »Landstreichers« ein Zeichen mit dem Daumen und ging weiter.

»An Henriet Cousin, den Meister Vollstrecker der peinlichen Urtheile des Criminalgerichtes zu Paris, die Summe von sechzig Sou Pariser Münze, welche ihm vom gestrengen Herrn Oberrichter von Paris ausgesetzt und zugesprochen worden ist, auf Verordnung genannten Herrn Oberrichters für Ankauf eines großen, breiten Richtschwertes, das dazu dient, die Personen, welche nach Urtheil und Recht für ihre Vergehen verurtheilt sind, hinzurichten und zu enthaupten; ingleichen für Beschaffung eines Futterales und alles dessen, was dazu gehört; desgleichen für Instandsetzung und Herrichtung des alten Richtschwertes, welches bei der Urteilsvollstreckung des Herrn Ludwig von Luxemburg zerbrochen und schartig geworden war, wie mehr als sattsam ersehen werden kann …«

Der König unterbrach ihn. »Genug; ich bewillige die Summe von ganzem Herzen. Das sind Ausgaben, wo ich nicht darauf sehe. Dergleichen Geld hat mich niemals gereuet … Fahret fort.«

»Für Herstellung eines neuen, großen Käfigs …«

»Ah!« sagte der König, indem er mit seinen beiden Händen die Armlehnen seines Stuhles angriff, »ich wußte ja doch, daß ich in irgend einer Angelegenheit in diese Bastille gekommen war … Wartet, Meister Olivier. Ich will den Käfig selbst in Augenschein nehmen. Ihr könnt mir die Kosten vorlesen, während ich ihn untersuchen will … Meine Herren Flamländer, kommt und sehet das an; es ist merkwürdig.«

Er erhob sich jetzt, stützte sich auf den Arm seines Vorlesers, gab dem anscheinend Stummen, welcher vor der Thür stand, ein Zeichen voranzugehen, den beiden Flamländern ein solches, ihm zu folgen, und schritt aus dem Zimmer hinaus. Die Begleitung des Königs ergänzte sich an der Thür des Gemaches mit bewaffneten, in Eisen starrenden Männern und kleinen Pagen, welche Wachsfackeln trugen. Sie schritt eine Zeit lang im Innern des düstern Zwingthurmes dahin, der von Treppen und Corridoren bis in die Mauerndicke durchbrochen war. Der Hauptmann der Bastille ging an der Spitze und ließ die Thüren vor dem alten kranken und gebückt hinschreitenden Könige öffnen, der beim Gehen hustete.

Bei jeder Pforte mußten alle Köpfe sich neigen, mit Ausnahme desjenigen des vom Alter gebeugten Greises. »Hm!« murmelte er zwischen seinen Kinnladen, denn er hatte keine Zähne mehr, »wir sind schon völlig bereit für die Pforte des Grabes – nahe an der niedrigen Pforte, die man nur gebückt überschreitet.«

Endlich, nachdem man durch eine letzte Thür geschritten war, die so mit Schlössern verrammelt, daß man eine Viertelstunde gebrauchte, um sie zu öffnen, traten sie in einen hohen und weiten, gothisch gewölbten Saal ein, in dessen Mitte man beim Scheine der Fackeln einen großen massiven Würfel aus Mauerwerk, Eisen und Holz erkannte. Das Innere war hohl. Es war einer dieser berüchtigten Käfige für Staatsgefangene, welche man »die Töchterchen des Königs« nannte. In den Seitenwänden befanden sich zwei oder drei kleine Fenster, die so reich mit dicken Eisenbalken vergittert waren, daß man das Glas derselben nicht sah. Die Thür war eine große flache Steinplatte, wie auf Gräbern, – eine von den Pforten, die allein zum Eintritte dienen. Nur war hier der Todte ein lebendes Wesen. Der König fing an, langsam um das kleine Bauwerk herumzuschreiten, wobei er es sorgfältig untersuchte während daß Meister Olivier, der ihm folgte, ganz laut den Rechnungsbericht herlas:

»Für Herstellung eines neuen großen Käfigs aus Holz von dicken Balken, Blöcken und Schwellen, im Durchmesser von neun Fuß in der Länge zu acht in der Breite, und sieben Fuß in der Höhe zwischen beiden Böden, geglättet und ausgeschlagen mit dicken Eisenplatten, welcher Käfig in einem Gemache aufgestellt worden ist, welches in einem der Basteithürme von Saint-Antoine sich befindet und in welchen Käfig auf Befehl des Königs, unseres gnädigen Herrn, ein Gefangner geworfen ist und festgehalten wird, welcher vor diesem einen alten, baufälligen und morschen Käfig bewohnte. – Sind zu diesem neuen Käfige sechsundneunzig Schichtbalken und zweiundfünfzig aufrecht stehende Balken, zehn Schwellen von drei Klaftern Länge verbraucht worden; und sind neunzehn Zimmerleute zwanzig Tage lang beschäftigt gewesen, um all das genannte Holzwerk im Basteihofe zu behauen, auszuarbeiten und zuzuschneiden …«

»Ziemlich schönes eichenes Kernholz,« sagte der König, während er mit der Faust an das Gebälk klopfte.

»… In diesem Käfig,« fuhr der andere fort, »sind hineingegangen: zweihundertundzwanzig dicke Eisenplatten von neun und von acht Fuß, der Rest von durchschnittlicher Länge, mit den, zu genannten Platten dienenden Reifen, Krispen und Strebebändern; das ganze genannte Eisen im Gewichte von dreitausendsiebenhundertundfünfunddreißig Pfund; außerdem acht große Haspen von Eisen, die dazu dienen, den besagten Käfig festzumachen, nebst Krampen und Nägeln, zusammen zweihundertachtzehn Pfund Eisen schwer, nicht mitgerechnet das Eisen zu den Fenstergittern in dem Gemache, wo der Käfig aufgestellt worden ist, die Eisenstäbe an der Thür des Gemaches und andere Dinge …«

»Das ist ja sehr viel Eisen,« sagte der König, »um die Flüchtigkeit eines Geistes im Zaum zu halten!«

»… Das Ganze kommt auf dreihundertsiebzehn Livres fünf Sous und sieben Heller zu stehen.«

»Beim allmächtigen Gotte!« rief der König aus.

Bei diesem Schwure, der der Lieblingsschwur Ludwigs des Elften war, schien es, als ob jemand im Innern des Käfigs erwachte; man hörte Ketten, welche auf dessen Boden mit Gerassel hinschleiften, und es erhob sich eine schwache Stimme, welche aus dem Grabe herauszudringen schien: »Sire! Sire! Gnade!« Man konnte denjenigen nicht sehen, der so sprach.

»Dreihundertsiebzehn Livres fünf Sous sieben Heller!« wiederholte Ludwig der Elfte.

Die klägliche Stimme, welche aus dem Käfig erklungen war, hatte alle Umstehenden starr gemacht, selbst den Meister Olivier. Der König allein zeigte eine Miene, als ob er sie nicht gehört hätte. Auf seinen Befehl begann Olivier wieder seine Vorlesung, und Seine Majestät setzte kaltblütig die Besichtigung des Käfigs fort.

»… Außer diesem ist an einen Maurer, welcher die Löcher zum Einsetzen des Gitterwerkes der Fenster, und den Fußboden des Gemaches, wo der Käfig sich befindet, gemacht hat, weil der Fußboden diesen Käfig wegen seiner Schwere nicht hätte tragen können, siebenundzwanzig Livres vierzehn Sous Pariser Münze gezahlt worden …«

Die Stimme begann wieder zu ächzen. »Gnade! Sire! Ich schwöre Euch, es ist der Herr Cardinal von Angers, welcher die Verrätherei begangen hat, und nicht ich.«

»Der Maurer ist unverschämt!« sagte der König. »Fahre fort, Olivier.« Und Olivier fuhr fort:

»An einen Tischler für Fenster, Bettstellen, einen durchlöcherten Sessel und andere Dinge, zwanzig Livres zwei Sous Pariser Geld …«

Die Stimme fuhr gleichfalls fort:

»Ach! Sire! Wollt Ihr mich nicht erhören? Ich betheuere Euch, daß ich es nicht war, der die Sache dem Herzoge von Guyenne geschrieben hat, sondern der Herr Cardinal Balue!«

»Der Tischler ist theuer,« bemerkte der König …« »Ist das alles?«

»Nein, Sire … An einen Glaser für die Fenster des genannten Gemaches, sechsundvierzig Sous acht Heller Pariser Münze.«

»Habt Erbarmen, Sire! Ist es denn nicht genug, daß man alle meine Güter meinen Richtern, mein Tafelgeräth dem Herrn von Torcy, meine Bibliothek dem Meister Pierre Doriolle, meine Teppiche dem Gouverneur von Roussillon gegeben hat? Ich bin unschuldig. Es sind nun vierzehn Jahre, daß ich in einem eisernen Käfige zittere. Habt Erbarmen, Sire! Ihr werdet es im Himmel wiederfinden.«

»Meister Olivier,« sagte der König, »die ganze Summe?«

»– Dreihundertsiebenundsechzig Livres acht Sous drei Heller Pariser Münze.«

»Bei Unserer lieben Frau!« rief der König. »Das ist ein schändlicher Käfig!«

Er riß das Heft aus den Händen Meister Oliviers und begann selbst an seinen Fingern nachzurechnen, wobei er abwechselnd das Papier und den Käfig prüfte. Während dem hörte man den Gefangenen schluchzen. Das war entsetzlich in der Kerkernacht und die Gesichter sahen sich erblassend einander an.

»Vierzehn Jahre, Sire! Vierzehn Jahre sind es! seit dem Monat April 1469. Im Namen der heiligen Mutter Gottes, Sire, hört mich an! Ihr habt Euch diese ganze Zeit hindurch an der Wärme der Sonne erfreut. Ich Elender, soll ich denn niemals wieder das Tageslicht erblicken? Gnade, Sire! Seid barmherzig. Die Milde ist eine schöne Tugend des Königs, welche die Ausbrüche des Zornes aufhält. Glaubt Eure Majestät, daß es in der Stunde des Todes eine große Befriedigung für einen König ist, keine Beleidigung ungestraft gelassen zu haben? Uebrigens, Sire, habe ich Eure Majestät gar nicht verrathen; das hat der Herr von Angers gethan. Und ich trage am Fuße eine sehr schwere Kette und eine große eiserne Kugel daran, viel schwerer als es billig ist. Wohlan! Sire! habt Erbarmen mit mir!«

»Olivier,« sagte der König, wobei er den Kopf mißbilligend schüttelte, »ich bemerke, daß man mir das Mudfaß Gyps mit zwanzig Sous anrechnet, während es doch nur zwölfe kostet. Ihr werdet diese Rechnung berichtigen.«

Er kehrte dem Käfig den Rücken zu, und schickte sich an, das Gemach zu verlassen. Der unglückliche Gefangene vermuthete bei der Entfernung der Fackellichter und des Geräusches, daß der König davonginge.

»Sire! Sire!« schrie er voll Verzweiflung. Die Thür schloß sich wieder. Er sah nichts mehr und hörte nur noch die rauhe Stimme des Schließers, welcher ihm das Lied in die Ohren sang:

Meister Jean Balue
Bisthum und Macht
Schwanden Euch dahin!
Herr von Verdun
Habt’s auch nicht gedacht –
Schlagt’s Euch aus dein Sinn!

Der König stieg schweigend wieder nach seinem einsamen Zimmer hinauf, und seine Begleitung folgte ihm, entsetzt von dem letzten Wimmern des Gefangenen. Plötzlich wandte sich Seine Majestät zum Hauptmann der Bastille um.

»Wie ist mir denn,« sagte sie, »war nicht jemand in jenem Käfige?«

»Bei Gott, Sire!« antwortete der Hauptmann, über diese Frage aufs höchste erstaunt.

»Und wer denn?«

»Der Herr Bischof von Verdun.«

Der König wußte das besser, als irgend jemand. Aber es war das eine fixe Idee von ihm.

»Ah!« sagte er mit unbefangener Miene, als ob er zum ersten Male daran dächte, »Wilhelm von Harancourt, der Freund des Herrn Cardinals Balue. Ein munterer Kerl von Bischof!«

Nach Verlauf einiger Augenblicke hatte sich die Thür des Geheimzimmers wieder geöffnet, dann wieder hinter den fünf Personen geschlossen, welche der Leser im Anfange dieses Kapitels dort gesehen hat, und welche hier ihre Plätze und Stellungen wieder eingenommen und ihre Unterhaltungen mit leiser Stimme wieder begonnen hatten.

Während der Abwesenheit des Königs hatte man auf seinem Tische einige Depeschen niedergelegt, deren Siegel er selbst erbrach. Dann fing er an, sie geschwind eine nach der andern durchzulesen, gab dem »Meister Olivier«, welcher bei ihm das Amt eines Ministers zu bekleiden schien, ein Zeichen, eine Feder zu nehmen, und begann, ohne ihm den Inhalt der Depeschen mitzutheilen, ihm mit leiser Stimme die Antworten darauf zu dictiren, die dieser, in ziemlich unbequemer Stellung vor dem Tische kniend, niederschrieb.

Wilhelm Rym spielte den Beobachter.

Der König sprach so leise, daß die Flamländer von seinem Dictate nichts vernahmen, als hier und da einige abgerissene und kaum verständliche Fetzen, z. B.:

»… Die ergiebigen Plätze durch den Handel, die unergiebigen durch Fabriken zu heben … – den Herren aus England unsere vier Bombarden: London, Brabant, Bourg-en-Bresse, Saint-Omer zeigen … Die Artillerie ist die Ursache, daß der Krieg jetzt besonnener geführt wird … – An Herrn von Bressuire, unsern Freund … – Die Heere werden nicht ohne Steuern unterhalten … u. s. w.«

Einmal erhob er seine Stimme:

»Beim allmächtigen Gotte! Der Herr König von Sicilien siegelt seine Briefe mit gelbem Wachse, wie ein König von Frankreich. Wir thun vielleicht Unrecht daran, es ihm zu gestatten. Mein schöner Cousin von Burgund verlieh kein Wappen auf rothem Felde. Die Macht der Häuser wird durch die Unverletzlichkeit der Vorrechte festgestellt. Schreibt das auf, Gevatter Olivier.«

Ein zweites Mal sagte er:

»Oh! oh! eine dicke Botschaft! Was fordert unser Bruder, der Kaiser, von uns?«

Und während er das Sendschreiben mit den Augen durchlief, unterbrach er seine Lecture mit Ausrufungen: »Wahrlich! die Deutschen sind so stark und mächtig, daß es kaum zu glauben ist … Aber wir wollen das alte Sprichwort nicht vergessen: die schönste Grafschaft ist Flandern; das schönste Herzogthum ist Mailand; das schönste Königreich ist Frankreich … Nicht wahr, meine Herrn Flamländer?«

Dieses Mal verneigte sich Coppenole mit Wilhelm Rym. Der Patriotismus des Strumpfwirkers war geschmeichelt. Eine letzte Depesche verursachte Ludwig dem Elften ein Runzeln der Augenbrauen.

»Was ist das?« rief er aus. »Klagen und Beschwerdeschriften über unsere Besatzungstruppen in der Picardie! Olivier, schreibt eilends an den Herrn Marschall von Roualt … daß die Mannszucht nachläßt … daß die abcommandirte Reiterei, die Adligen vom Bann, die Freischützen, die Schweizer den Landleuten zahllose Uebel verursachen … daß der Kriegsmann, nicht zufrieden mit den Vortheilen, die er im Hause der Bauern findet, sie mit schweren Stock- und Hellebardenschlägen zwingt, in der Stadt Wein, Fisch, Spezereiwaaren und andere überflüssige Dinge zu holen … daß der Herr König das in Erfahrung gebracht hat … daß wir unser Volk vor Benachtheiligungen, Räubereien und Plünderungen bewahrt wissen wollen … daß dies unser Wille ist, bei Unserer lieben Frau! … daß es uns außerdem nicht gefällt, daß irgend ein Musikant, Barbier oder Kriegsknecht wie ein Fürst in Sammet, Seidenstoff und mit goldenen Ringen an den Fingern einherstolzirt … daß diese Eitelkeiten Gott verhaßt sind … daß wir, der wir ein Edelmann sind, uns mit einem Tuchwammse, die Pariser Elle zu sechzehn Sous, begnügen … daß auch sie, die Herren Troßbuben, sich recht wohl soweit demüthigen können … Entbietet und verfügt das … An Herrn von Roualt, unsern Freund … Punktum.«

Er dictirte diesen Brief mit lauter Stimme, mit einem festen Tone, und ruckweise. Im Augenblicke, wo er zu Ende war, öffnete sich die Thür und ließ eine neue Person herein, die sich ganz athemlos und mit dem Rufe ins Zimmer stürzte:

»Sire! Sire! es findet ein Volksaufstand in Paris statt!«

Das ernste Gesicht Ludwigs des Elften zog sich zusammen; aber das, was sichtbar in seiner Erregung war, flog wie ein Blitz vorüber. Er mäßigte sich und sagte mit ruhigem Ernste:

»Gevatter Jacob, Ihr tretet sehr ungestüm herein.«

»Sire! Sire! es ist ein Aufruhr!« wiederholte der Gevatter Jacob ganz außer sich.

Der König, welcher sich erhoben hatte, ergriff ihn heftig am Arme und sagte ihm so, daß es nur von ihm allein gehört wurde, mit gesteigertem Zorne und einem Seitenblicke auf die Flamländer: »Schweig! oder sprich leise.«

Der Neuangekommene begriff und fing an, ihm ganz leise einen sehr erregten Bericht abzustatten, den der König mit Ruhe anhörte, während dem Wilhelm Rym seinem Genossen Coppenole auf das Gesicht und Gewand des Neuangekommenen, seine pelzverbrämte Kapuze ( caputia fourrata), seinen kurzen Beamtenmantel ( epitogia curta), sein schwarzes Sammetgewand aufmerksam machte, welches einen Präsidenten des Rechnungshofes ankündete. Kaum hatte diese Person dem Könige einige Auseinandersetzungen gegeben, als Ludwig der Elfte in ein Gelächter ausbrach und rief:

»In Wahrheit! sprecht nur ganz laut, Gevatter Coictier! Was braucht Ihr so leise zu reden? Unsere liebe Frau weiß, daß wir keine Heimlichkeiten vor unsern guten Freunden aus Flandern haben.«

»Aber, Sire …«

»Sprecht ganz laut!«

Der Gevatter Coictier blieb stumm vor Ueberraschung.

»Also,« wiederholte der König … »sprecht, Herr … in unserer guten Stadt Paris findet eine Bürgerbewegung statt?«

»Ja, Sire.«

»Und welche, sagt Ihr, gegen den Herrn Vogt des Justizpalastes gerichtet ist?«

»Es hat den Anschein,« sagte »der Gevatter«, der noch stotterte und über den plötzlichen und unerklärlichen Wechsel, der in den Gedanken des Königs eben vorgegangen war, ganz verdutzt war.

Ludwig der Elfte nahm wieder das Wort:

»Wo ist die Nachtwache dem Haufen begegnet?«

»Auf dem Wege von dem großen Bettlerquartiere bis zur Wechslerbrücke. Ich selbst bin ihnen begegnet, wie ich hierher ging, um den Befehlen Euerer Majestät zu gehorchen. Ich habe einige von ihnen schreien gehört: Nieder mit dem Vogte des Palastes!«

»Und was für Beschwerden haben sie gegen den Vogt?«

»Oh!« sagte der Gevatter Jacob, »weil er ihr Lehnsherr ist.«

»Wahrhaftig!«

»Ja! Sire. Es sind Lumpen vom Wunderhofe. Sehet, sie beklagen sich schon lange über den Vogt, dessen Lehnsleute sie sind. Sie wollen ihn weder als Gerichtspfleger noch als Wegeherrn anerkennen.«

»Jawohl!« versetzte der König mit einem Lächeln der Genugthuung, welches er sich vergebens bemühte zu verbergen.

»In allen ihren Bittschriften beim Parlament,« fuhr der Gevatter Jacob fort, »behaupten sie nur zwei Herren zu haben: Euere Majestät und ihren Gott, welches, glaube ich, der Teufel ist.«

»Ei! ei!« sagte der König.

Er rieb sich die Hände und lachte, mit jenem innerlichen Lachen, welches aus dem Gesichte wiederstrahlt; er konnte seine Freude nicht verhehlen, obgleich er einige Augenblicke versuchte, eine gleichgültige Miene anzunehmen. Niemand wurde daraus klug, selbst Meister Olivier nicht. Er verharrte einen Augenblick in Schweigen, mit einer nachdenklichen, aber zufriedenen Miene.

»Sind sie in großer Zahl?« fragte er plötzlich.

»Ja, gewiß, Sire,« antwortete der Gevatter Jacob.

»Wieviele?«

»Wenigstens sechstausend.«

Der König konnte sich nicht enthalten, zu sagen: »Gut!« Er fuhr fort:

»Sind sie bewaffnet?«

»Mit Sensen, Piken, Hakenbüchsen, Karsten, mit aller Art gewaltigen Waffen.«

Der König schien keineswegs von dieser Herzählung beunruhigt zu sein. Der Gevatter Jacob glaubte hinzufügen zu müssen:

»Wenn Euere Majestät dem Vogte nicht schleunig Hilfe schickt, ist er verloren.«

»Wir werden welche schicken,« sagte der König mit einer erzwungen ernsten Miene. »Es ist gut. Sicherlich werden wir welche schicken. Der Herr Vogt ist unser Freund. Sechstausend! Das sind verwegene Schelme. Die Dreistigkeit ist verwunderlich, und wir sind darüber sehr heftig erzürnt. Aber wir haben wenig Leute um uns in dieser Nacht … Es wird morgen früh noch Zeit sein.«

Der Gevatter Jacob rief:

»Sofort, Sire! Das Amtshaus wird zwanzig Mal in der Zeit geplündert, das Herrenhaus erstürmt, der Vogt gehangen sein. Um Gottes willen, Sire! schickt vor morgen früh Hilfe.«

Der König sah ihm ins Gesicht.

»Ich habe Euch gesagt morgen früh.«

Es war einer von jenen Blicken, auf welche es keine Widerrede giebt.

Nach einer Pause erhob Ludwig der Elfte von neuem die Stimme:

»Mein Gevatter Jacob, Ihr müßt das wissen. Welches war …« Er begann noch einmal: »Welches ist der Lehnsgerichtssprengel des Vogtes?«

»Sire, der Vogt des Palastes hat die Rue de la Calandre bis zur Rue de l’Herberie, den Sankt-Michaelsplatz und die Gegenden der Stadt, welche gemeinhin »An den Mauern« genannt werden, dicht neben der Kirche Notre-Dame-des-Champs (hier lüftete Ludwig der Elfte den Rand seines Hutes), welche Hôtels zur Zahl Dreizehn gehören; ferner den Wunderhof, dann das Siechenhaus, das Weichbild genannt, dann die ganze Dammstraße, welche bei diesem Siechenhause beginnt und an der Pforte Saint-Jacques endigt. Ueber diese verschiednen Oertlichkeiten hat er die Straßenpolizei, hohe, mittlere und niedrige Gerechtigkeitspflege, ist unumschränkter Herr.«

»Potztausend!« sagte der König, indem er sich mit der rechten Hand hinter dem linken Ohre kratzte, »das macht ein gutes Ende von meiner Stadt aus! Oh! der Herr Vogt war König über alles das!«

Dieses Mal verbesserte er sich nicht. Er fuhr in Nachdenken versunken, und als ob er mit sich selbst spräche, fort: »Recht schön, Herr Vogt, Ihr hattet da ein artiges Stück von unserem Paris zwischen den Zähnen.«

Plötzlich brach er los: »Beim allmächtigen Gott! wer in aller Welt sind diese Leute, die sich anmaßen, Wegeherren, Gerichtsherren, Lehnsherren und Herren in unserem Reiche zu sein? Die ihr Zollhaus an jeder Feldecke besitzen; ihr Gericht und ihren Henker an jeder Straßenecke unter meinem Volke haben? so daß, wie der Grieche an so viele Götter glaubte, als er Quellen hatte, und der Perser an so viele, als er Sterne sah, – daß, sage ich, der Franzose sich so viele Könige herzählt, als er, bei Gott! Galgen sieht! Das ist ein übel Ding, und die Verwirrung dabei mißfällt mir. Ich möchte wohl wissen, ob es der Gefallen Gottes ist, daß es in Paris einen andern Wegeherren, als den König, ein anderes Gericht, als das Parlament, einen andern Herrscher, als uns in diesem Reiche giebt! Beim Glauben an meine Seele! Es wird doch der Tag kommen müssen, wo es in Frankreich nur einen König, nur einen Herren, nur einen Richter, nur einen Scharfrichter geben wird, wie es im Paradiese nur einen Gott giebt!«

Er lüftete noch einmal seine Mütze und fuhr, immer noch in Gedanken versunken, mit der Miene und dem Tone eines Jägers fort, der seine Meute hetzt und losläßt: »Gut! mein Volk! Tapfer! zerreiße diese falschen Herren! Thu deine Arbeit! Frisch! munter! Plündere sie, hänge sie, raube sie aus! … Ah! Ihr wollt Könige sein, ihr gnädigen Herren! Drauf! mein Volk! Drauf!«

Hier unterbrach er sich plötzlich, biß sich in die Lippen, als ob er seinen halb entwischten Gedanken wieder fangen wollte, heftete sein durchdringendes Auge abwechselnd auf jede der fünf Personen, welche ihn umgaben, und faßte plötzlich seinen Hut mit beiden Händen, und während er ihn von vorn anblickte, sagte er zu ihm: »Oh! ich würde dich verbrennen, wenn du wüßtest, was sich in meinem Kopfe befindet.«

Dann, während er von neuem den aufmerksamen und unruhigen Blick des Fuchses, der schleichend in seinen Bau zurückkehrt, um sich schweifen ließ, sagte er:

»Es thut nichts! wir wollen dem Herrn Vogt zu Hilfe kommen. Zum Unglück haben wir nur wenige Truppen hier in diesem Augenblicke gegen so viel Volk. Man muß bis morgen warten. Man wird die Ordnung wieder in der Stadt herstellen und frisch jeden hängen, der ergriffen werden wird.«

»Da fällt mir ein, Sire!« sagte der Gevatter Coictier, »ich habe das in der ersten Verwirrung vergessen, – die Wache hat zwei Nachzügler von der Bande ergriffen. Wenn Euere Majestät diese Menschen sehen will, sie sind da.«

»Ob ich sie sehen will!« rief der König. »Wie! beim allmächtigen Gott! Du vergißt so etwas! … Lauf schnell, du, Olivier! hole sie!«

Meister Olivier ging hinaus und kehrte einen Augenblick nachher mit den zwei Gefangenen, welche von Bogenschützen der Leibwache umringt waren, zurück. Der Erste hatte ein dickes, dummes Gesicht, auf welchem Trunkenheit und Staunen sichtbar waren. Er war in Lumpen gehüllt und ging mit gekrümmten Knien und schleppenden Füßen einher. Der Zweite war eine bleiche und lächelnde Erscheinung, welche der Leser bereits kennt.

Der König betrachtete sie einen Augenblick, ohne ein Wort zu sagen; dann wandte er sich plötzlich an den Ersten:

»Wie heißt du?«

»Gieffroy Pincebourde.«

»Dein Gewerbe?«

»Bettler.«

»Was wolltest du bei diesem verdammlichen Aufstande beginnen?«

Der Vagabund betrachtete den König, wobei er mit stumpfsinniger Miene seine Arme hin- und herschlenkerte. Er war einer von jenen übel gebildeten Köpfen, bei denen der Verstand ohngefähr ebenso gut dran ist, wie das Licht unter einem Lichtlöscher.

»Ich weiß nicht,« sagte er. »Man ging, ich ging mit.«

»Wolltet ihr nicht schmählicher Weise Euern Herrn, den Vogt des Palastes angreifen und ausplündern?«

»Ich weiß, daß man bei jemandem etwas nehmen wollte. Das ist alles.«

Ein Soldat zeigte dem Könige eine Hippe, welche man bei dem Bettler gefunden hatte.

»Erkennst du diese Waffe wieder?« fragte der König.

»Ja, es ist meine Hippe; ich bin Winzer.«

»Und erkennst du diesen Menschen als deinen Gefährten an?« fragte Ludwig der Elfte weiter, während er auf den andern Gefangenen hinwies.

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Es ist genug,« sagte der König. Darauf gab er der stummen Person, die bewegungslos an der Thür stand und auf welche wir den Leser schon aufmerksam gemacht haben, ein Zeichen mit dem Finger. »Gevatter Tristan, das ist ein Mann für Euch.«

Tristan l’Hermite verneigte sich. Er gab mit leiser Stimme zwei Bogenschützen einen Befehl, welche den armen Landstreicher hinausführten.

Während dem hatte sich der König dem zweiten Gefangenen genähert, welcher vor Angst große Tropfen schwitzte.

»Dein Name?«

»Sire, Peter Gringoire.«

»Dein Gewerbe?«

»Philosoph, Sire!«

»Wie unterstehst du dich, Schurke, unsern Freund, den Herrn Vogt des Palastes anzugreifen, und was hast du über diesen Volksaufstand mitzutheilen?«

»Sire, ich war nicht dabei.«

»Wohlan! liederlicher Schurke, bist du nicht von der Nachtwache in dieser schlechten Gesellschaft ertappt worden?«

»Nein, Sire; es ist ein Mißverständnis. Es ist ein unglücklicher Zufall. Ich mache Trauerspiele. Sire, ich bitte Euere Majestät flehentlich, mich anzuhören. Ich bin Dichter. Es ist die schwermüthige Gewohnheit von Leuten meines Berufes, Nachts durch die Straßen zu wandern. Ich ging heute Abend da durch. Es ist bloßer Zufall. Man hat mich ungerechter Weise festgenommen; ich bin unschuldig an diesem Bürgeraufruhre. Euere Majestät sieht, daß mich der Gauner nicht als seines Gleichen erkannt hat. Ich beschwöre Euere Majestät …«

»Schweige!« sagte der König zwischen zwei Schlucken seines Arzneitrankes. »Du zersprengst uns den Kopf.«

Tristan l’Hermite trat vor, und mit dem Finger auf Gringoire zeigend, sagte er:

»Sire, kann man diesen da auch hängen?«

Es war das erste Wort, welches er vorbrachte.

»Bah!« antwortete der König nachlässig, »ich sehe dabei keine Nachtheile.«

»Ich für meine Person sehe viele dabei!« sagte Gringoire.

Unser Philosoph war in diesem Augenblicke grüner, als eine Olive. Er sah an der kalten und gleichgültigen Miene des Königs, daß Rettung nur noch in etwas sehr Rührendem zu finden war, und er stürzte sich zu den Füßen Ludwigs des Elften, indem er mit verzweifeltem Geberdenspiele ausrief:

»Sire! Euere Majestät wird geruhen, mich anzuhören. Sire! brechet nicht in ein Unwetter über etwas so Weniges, als ich bin, los. Der mächtige Blitzstrahl Gottes schlägt in keine Salatstaude. Sire! Ihr seid ein erhabener, überaus mächtiger Monarch: habt Mitleid mit einem armen, ehrlichen Manne, welcher unfähiger sein würde, einen Aufstand anzuschüren, als ein Eiszapfen vermag, einen Funken von sich zu geben! Allergnädigster, mächtigster Herr, die Milde ist eine Löwen- und eine Königstugend. Ach! die Härte erbittert nur die Gemüther; die heftigen Stöße des Nordwindes können den Wanderer nicht veranlassen, seinen Mantel im Stiche zu lassen; die Sonne, welche nach und nach ihre Strahlen herabsendet, erhitzt ihn dermaßen, daß sie ihn zwingt, sich bis aufs Hemde zu entkleiden. Sire! Ihr seid die Sonne. Ich betheuere es, Euch, mein unumschränkter Herr und König, ich bin kein verwilderter Bettler- und Räubergenosse. Der Aufruhr und die Räubereien gehören nicht zum Zubehöre Apollos. Ich werde mich am wenigsten in diese Schwärme stürzen, die in Aufruhrlärm losbrechen. Ich bin ein treuer Diener Euerer Majestät. Dieselbe Eifersucht, welche der Ehemann für die Ehre seines Weibes besitzt, das Gefühl, welches der Sohn für die Liebe des Vaters hegt, ein guter Diener muß sie für den Ruhm seines Königs besitzen; er muß für den Eifer um sein Haus, für die Ausbreitung seines Dienstes sich aufopfern. Jede andere Leidenschaft, welche ihn hinreißen würde, könnte nur Wahnwitz sein. Das, Sire, sind meine Staatsgrundsätze. Demnach haltet mich nicht für einen Meuterer und Plünderer wegen meines, an den Aermeln abgenutzten Kleides. Wenn Ihr, Sire, mir Gnade erweiset, will ich es durch Gebete bei Nacht und Tag für Euch zu Gott auch an den Knien abnutzen. Leider bin ich nicht übermäßig reich, es ist wahr. Ich bin sogar ein wenig arm; aber deshalb nicht lasterhaft. Meine Schuld ist das nicht. Jedermann weiß, daß die großen Reichthümer nicht von den schönen Wissenschaften herrühren, und daß die, welche sich auf gute Bücher am besten verstehen, nicht immer ein tüchtiges Ofenfeuer im Winter haben. Der Advocatenstand allein nimmt alles Korn für sich und läßt den übrigen gelehrten Gewerben das Stroh übrig. Es giebt vierzig sehr treffliche Sprichwörter über den durchlöcherten Mantel der Philosophen. Ach, Sire! die Milde ist das einzige Licht, welches das Innere einer großen Seele erleuchten kann. Die Milde trägt allen andern Tugenden die Fackel voran. Ohne sie sind sie Blinde, welche Gott im Finstern tappend suchen. Die Barmherzigkeit, welche dasselbe wie die Milde ist, erzeugt die Liebe der Unterthanen, welche für die Person, des Fürsten die mächtigste Wache bildet. Was macht das für Euch aus, für Euere Majestät, deren Antlitz hoch erhaben ist, ob ein armer Mensch mehr auf der Erde ist, ein armer unschuldiger Philosoph, welcher mit leerem Geldbeutel, der an seinem hohlen Bauche klappert, in der Finsternis des Unglückes im Schlamme herumknetet. Uebrigens, Sire, bin ich ein Gelehrter. Die großen Könige setzen sich eine Perle in ihre Krone, wenn sie die Wissenschaften beschützen. Herkules verschmähte nicht den Titel des Musagetes. 77 Mathias Corvinus begünstigte den Johann von Monroyal, die Zierde der Mathematiker. Aber das ist eine schlimme Art die Wissenschaften zu beschützen, wenn man die Gelehrten hängt. Welcher Schandfleck für Alexander, wenn er hätte den Aristoteles hängen lassen! Ein solcher Zug würde kein kleines Fleckchen auf dem Antlitze seines Ruhmes sein, um es zu verschönern, sondern vielmehr ein böses Geschwür, um es zu entstellen. Sire! ich habe ein sehr zweckmäßiges Hochzeitsgedicht auf das Fräulein von Flandern und den erhabensten Herrn Dauphin gemacht. Das ist doch nicht die Sache eines Rädelsführers des Aufruhres. Euere Majestät sieht, daß ich kein verkommenes Genie bin, daß ich vortreffliche Studien gemacht habe, und daß ich viel natürliche Beredsamkeit besitze. Uebet Gnade an mir, Sire. Wenn Ihr das thut, werdet Ihr Unserer lieben Frau eine brave Handlung erweisen, und ich schwöre Euch, daß ich über die Vorstellung, gehangen zu werden, sehr in Schrecken gerathen bin!«

Bei diesen Worten küßte der untröstliche Gringoire die Pantoffeln des Königs, und Wilhelm Rym sagte ganz leise zu Coppenole: »Er thut wohl daran, auf der Erde zu kriechen. Den Königen geht es wie dem Jupiter von Creta; sie haben nur an den Füßen Ohren.« Aber ohne sich mit Jupiter von Creta zu befassen, antwortete der Strumpfwirker mit einem plumpen Lächeln, das Auge auf Gringoire gerichtet: »Oh, wie hübsch das ist! Ich glaube den Kanzler Hugonet zu hören, wie er mich um Gnade bat.« Als Gringoire endlich, ganz außer Athem anhielt, erhob er zitternd sein Haupt nach dem Könige, der mit den Nägeln einen Schmutzfleck wegkratzte, den seine Beinkleider am Knie hatten; dann fing Seine Majestät an, aus dem Becher Arzneitrank zu trinken. Uebrigens sprach sie kein Wort, und dieses Schweigen marterte Gringoire. Der König sah ihn endlich an: »Das ist ein schrecklicher Schreihals!« sagte er. Dann wandte er sich nach Tristan l’Hermite hin. »Bah! laßt ihn laufen!«

Gringoire fiel, vor Freude ganz erschrocken auf den Hintern.

»In Freiheit!« brummte Tristan. »Euere Majestät wünscht nicht, daß man ihn ein wenig im Käfige einsperre?«

»Gevatter,« versetzte Ludwig der Elfte, »glaubst du, daß wir etwa für solche Vögel Käfige bauen lassen, welche dreihundertsiebenundsechzig Livres acht Sou und drei Heller kosten? Laßt mir den liederlichen Schuft sofort los (Ludwig der Elfte liebte dieses Wort, welches mit »beim allmächtigen Gotte« den Hintergrund seiner Fröhlichkeit bildete) und werft ihn mit ein paar Rippenstößen hinaus.«

»Ach!« rief Gringoire, »was ist das für ein großer König!«

Und aus Furcht vor einem Gegenbefehle stürzte er nach der Thüre hin, welche Tristan ihm mit ziemlich schlechtem Danke wieder öffnete. Die Soldaten gingen mit ihm hinaus, während sie ihn mit mächtigen Faustschlägen vor sich her trieben, was Gringoire als wahrer stoischer Philosoph ertrug.

Die gute Laune des Königs blickte überall hervor, seitdem ihm der Aufruhr gegen den Vogt mitgetheilt worden war. Diese ungewohnte Milde war kein geringes Anzeichen dafür. Tristan l’Hermite sah in seiner Ecke wie ein verdrießlicher Bullenbeißer aus, der etwas gesehen, aber nichts erschnappt hat.

Der König indessen trommelte lustig auf den Armlehnen seines Stuhles den Marsch von Pont-Audemer. Er war ein Fürst von versteckter Gemüthsart, der aber viel besser verstand, seine Sorgen als seine Freuden zu verbergen. Diese äußerlichen Freudenbezeigungen bei jeder guten Nachricht gingen bisweilen sehr weit: so gelobte er bei dem Tode Karls des Kühnen dem heiligen Martin zu Tours silberne Geländer; bei seiner Thronbesteigung vergaß er sogar das Leichenbegängnis seines Vaters anzuordnen.

»Ei! Sire!« rief plötzlich Jacob Coictier, »was ist aus dem heftigen Krankheitsanfall geworden, wegen dessen mich Euere Majestät hatte entbieten lassen?«

»Oh!« sagte der König, »ich leide wahrlich sehr, mein Gevatter, ich habe Ohrensausen und in der Brust glühende Rachen, welche mich zerfleischen.«

Coictier ergriff die Hand des Königs und begann ihm mit geeigneter Miene den Puls zu fühlen.

»Sehet einmal an, Coppenole,« sagte Rym mit leiser Stimme. »Da sitzt er zwischen Coictier und Tristan. Das ist sein ganzer Hofstaat. Ein Arzt für ihn, und ein Henker für die andern.«

Coictier nahm, während er den Puls des Königs befühlte, eine immer unruhigere Miene an. Ludwig der Elfte betrachtete ihn mit einer gewissen Aengstlichkeit. Coictier wurde zusehends düsterer. Der brave Mann hatte kein anderes Pachtgut, als den schlechten Gesundheitszustand des Königs. Er beutete ihn nach besten Kräften aus.

»Oh! oh!« murmelte er, »das ist bedenklich, in der That.«

»Nicht wahr?« sagte der König voll Unruhe.

»Pulsus creber, anhelans, crepitans, irregularis,« 78 fuhr der Arzt fort.

»Beim allmächtigen Gotte!«

»Ehe drei Tage um sind, kann dieser Zustand seinen Mann hinwegraffen.«

»Bei Unserer lieben Frau!« rief der König. »Und das Heilmittel, Gevatter?«

»Ich denke darüber nach, Sire.«

Er ließ Ludwig dem Elften die Zunge zeigen, schüttele bedenklich mit dem Kopfe, schnitt eine Grimasse, und mitten unter diesen Zierereien sagte er plötzlich:

»Wahrlich, Sire, ich muß Euch erzählen, daß eine Einnehmerstelle bei den Steuerkassen erledigt ist, und daß ich einen Neffen habe.«

»Ich gebe meine Einnehmerstelle deinem Neffen, Gevatter Jacob,« sagte der König, »aber ziehe mir dies Feuer aus der Brust.«

»Da Euere Majestät so gnädig gesinnt ist,« fuhr der Arzt fort, »wird sie mir die Bitte nicht abschlagen, mich ein wenig beim Bau meines Hauses in der Rue-Saint-André-des-Arcs zu unterstützen.«

»So, so!« sagte der König.

»Ich bin mit meinem Gelde zu Ende,« fuhr der Doctor fort, »und es würde wahrhaftig Schade sein, wenn das Haus kein Dach bekäme; nicht wegen des Hauses, welches einfach und ganz bürgerlich ist, sondern wegen der Malereien Johann Fourbaults, welche das Getäfel verschönern. Da sieht man eine Diana in der Luft schweben, welche fliegt, aber so vortrefflich, so zart, so geschmackvoll, von so edler Haltung, das Haupt so herrlich geschmückt und von einer Mondsichel gekrönt, das Fleisch so zart, daß sie diejenigen in Versuchung führt, welche sie zu begierig betrachten. Es befindet sich auch noch eine Ceres dort. Es ist ebenfalls eine sehr schöne Gottheit. Sie sitzt auf Getreidegarben, und ihr Haupt ist mit einer reizenden Aehrenguirlande geschmückt, in welche Bocksbart und andere Blumen geflochten sind. Man kann nichts Verliebteres sehen, als ihre Augen, nichts Runderes als ihre Beine, nichts Edleres als ihre Miene, nichts schöner im Faltenwurfe, als ihr Untergewand. Es ist eine der unschuldigsten und vollendetsten Schönheiten, welche der Pinsel hervorgebracht hat.«

»Quälgeist!« murmelte Ludwig der Elfte, »wohinaus willst du damit?«

»Ich gebrauche ein Dach über diese Malereien, Sire, und obgleich dieses Dach nur ein unbedeutender Gegenstand ist, so habe ich doch kein Geld mehr.«

»Wieviel kostet es, dein Dach?«

»Aber … ein Dach aus vergoldetem Kupfer mit mythologischen Figuren, zweitausend Livres höchstens.«

»Ach! der Mörder!« rief der König. »Er reißt mir keinen Zahn aus, der für ihn nicht ein Diamant wäre.«

»Bekomme ich mein Dach?« sagte Coictier.

»Ja! und scher dich zum Teufel, aber mach mich gesund.«

Jacob Coictier verneigte sich tief und sagte:

»Sire! nur ein zurücktreibendes Mittel wird Euch retten. Wir wollen Euch das große Verbandmittel auf die Nieren auflegen, das aus Wachssalbe, armenischem Thon, Eiweiß, Oel und Essig besteht. Ihr werdet mit Euerem Arzneitranke fortfahren, und wir bürgen für Euere Majestät.«

Ein brennendes Licht zieht nicht blos eine einzige Mücke an. Meister Olivier, der den König so freigiebig sah und den Augenblick für günstig hielt, trat auch heran:

»Sire …«

»Was soll’s, noch?« sagte Ludwig der Elfte.

»Sire, Euere Majestät weiß, daß Meister Simon Radin gestorben ist?«

»Nun weiter?«

»Daß er königlicher Rath beim Gerichtshofe des Schatzamtes war.«

»Nun?«

»Sire, seine Stelle ist unbesetzt.«

Während er so sprach, hatte das hochmüthige Gesicht Meister Oliviers den hochfahrenden Ausdruck mit einem demüthigen vertauscht. Das ist der einzige Wechsel, welcher im Gesicht eines Hofschranzen vorzugehen pflegt. Der König sah ihm fest ins Gesicht und sagte mit trockenem Tone:

»Ich verstehe.«

Er fuhr fort:

»Meister Olivier, der Marschall von Boucicaut pflegte zu sagen: »Schenkung steht nur beim Könige, und fischen kann man nur im Meere.« Ich sehe, daß Ihr der Meinung des Herrn von Boucicaut seid. Jetzt hört folgendes, wir haben ein gutes Gedächtnis. Im Jahre 68 haben wir Euch zu unserem Kammerdiener gemacht; im Jahre 69 zum Castelan der Brücke von Saint-Cloud mit hundert Livres Gehalt in Toursscher Münze (Ihr wolltet sie in Pariser Gelde). Im November 73 haben wir Euch durch eine, zu Gergeaule ausgefertigte Urkunde zum Vogte des Gehölzes von Vincennes, an Stelle des Stallmeisters Gilbert Acle, eingesetzt; im Jahre 75 zum Forstmeister des Waldes zu Rouvray-lez-Saint-Cloud, an die Stelle Jacob Le-Maire’s; im Jahre 78 haben wir allergnädigst, durch offene Urkunde, die mit grünem Wachse an doppelten Siegelhaltern gesiegelt ist, für Euch und Euere Frau eine Rente von zehn Livres Pariser Münze auf den Standplatz für die Kaufleute gelegt, welcher an der Schule Saint-Germain belegen ist; im Jahre 79 haben wir Euch zum Forstmeister des Waldes von Senart, an Stelle jenes armen Johann Daiz, gemacht; dann zum Hauptmann des Schlosses Loches; dann zum Oberbefehlshaber von Saint-Quentin; dann zum Hauptmann der Brücke von Maulan, nach welcher Ihr Euch Graf nennen laßt. Von den fünf Sous Strafe, welche jeder Barbier bezahlt, der an einem Festtage barbiert, kommen drei Sous auf Euch, und wir erhalten den Rest. Wir haben auch geruht, Euern Namen Le-Mauvais, 79 der Euerer Miene zu sehr entsprach, abzuändern. Im Jahre 74 haben wir Euch, zur großen Unzufriedenheit unseres Adels, mit einem tausendfarbigen Wappen beliehen, das Euch eine wahre Pfauenbrust giebt. Beim allmächtigen Gotte! seid Ihr nicht übersatt. Ist der Fischzug nicht schön und wunderbar genug? Und fürchtet Ihr nicht, daß ein Lachs mehr Euern Kahn zum Sinken bringt? Der Stolz wird Euch zu Grunde richten, Gevatter. Der Stolz ist immer von Untergang und Schmach verfolgt. Erwäget das und schweigt.«

Diese mit Strenge gesprochenen Worte ließen die Unverschämtheit wiederum in Meister Oliviers Gesichtsausdrucke erscheinen.

»Gut,« murmelte er fast ganz laut, »man sieht wohl, daß der König heute krank ist; er giebt dem Arzte alles.«

Ludwig der Elfte, der weit entfernt war, sich über dieses herausfordernde Betragen zu erzürnen, fuhr mit einer gewissen Sanftmuth fort:

»Halt, ich vergaß noch, daß ich Euch zum Gesandten bei der Prinzessin Marie in Gent gemacht habe … Ja, meine Herren,« fügte der König hinzu, indem er sich an die Flamländer wandte, »dieser ist Gesandter gewesen … Dabei, Gevatter,« fuhr er, sich an Meister Olivier wendend, fort, »wollen wir uns nicht erzürnen; wir sind alte Freunde. Doch es ist schon sehr spät. Wir haben unsere Arbeit beendet. Barbiert mich.«

Unsere Leser haben ohne Zweifel schon längst in »Meister Olivier« jenen schrecklichen Figaro erkannt, welchen die Vorsehung, diese große Dramenschöpferin, so kunstgerecht in die lange und blutige Komödie Ludwigs des Elften verflochten hat. Wir wollen es hier nicht unternehmen, diese sonderbare Erscheinung darzustellen. Dieser Barbier des Königs hatte drei Namen. Am Hofe nannte man ihn höflicher Weise Olivier Le-Daim; 80 im Volke Olivier den Teufel. Er hieß mit seinem wahren Namen Olivier Le-Mauvais.

Olivier Le-Mauvais also stand regungslos da, schmollte mit dem Könige, und sah Jacob Coictier von der Seite an.

»Ja, ja! der Arzt!« sagte er zwischen den Zähnen.

»Nun! ja, der Arzt!« entgegnete Ludwig der Elfte mit seltsamer Gutmüthigkeit; »der Arzt hat mehr Einfluß als du. Das ist ganz einfach: er hat Gewalt über uns an unserem ganzen Körper, und du hältst uns nur am Kinne fest. Geh, mein armer Barbier, das wird sich wiederfinden. Was würdest du denn sagen, und was würde aus deinem Dienste werden, wenn ich ein König wäre, wie König Chilperich, dessen gewöhnliche Gebärde es war, seinen Bart mit einer Hand zu halten? … Wohlan, Gevatter, versieh dein Amt, rasiere mich. Hole, was du dazu nöthig hast.«

Olivier, welcher sah, daß der König den Entschluß zu spotten gefaßt hatte, und daß es nicht einmal ein Mittel gab, ihn aufzubringen, ging murrend hinaus, um seine Befehle zu vollziehen.

Der König erhob sich, trat ans Fenster, und indem er es plötzlich mit ungewöhnlicher Erregung öffnete, rief er die Hände zusammenschlagend aus:

»Ach! ja! sehet da einen Glutschein am Himmel. Es ist der Vogt, welcher brennt. Es kann nicht anders sein. Oh! mein gutes Volk! Nun weiß ich doch, daß du mir endlich hilfst, die Lehnsherrlichkeiten niederzuwerfen!«

Dann wandte er sich an die Flamländer:

»Meine Herren, tretet her und seht das. Ist das nicht ein Brand, der den Himmel röthet?«

Die beiden Genter traten heran.

»Ein gewaltiger Brand,« sagte Wilhelm Rym.

»Ho!« fügte Coppenole hinzu, dessen Augen plötzlich aufleuchteten, »das erinnert mich an den Brand des Hauses des Herrn von Hymbercourt. Da unten muß ein mächtiger Aufruhr stattfinden.«

»Ihr glaubt Meister Coppenole?« Und das Angesicht Ludwigs des Elften nahm einen fast ebenso fröhlichen Ausdruck an, als dasjenige des Strumpfwirkers. »Nicht wahr, es wird schwer halten, dem Widerstand zu leisten?«

»Kreuz Gottes! Sire! Euere Majestät wird darüber sehr viele Compagnien Kriegsvolk aufs Spiel setzen können.«

»Ach! ich! das ist etwas Anderes.« fuhr der König fort. »Wenn ich wollte …« Der Strumpfwirker erwiederte dreist:

»Wenn dieser Aufruhr das ist, was ich vermuthe, so dürftet Ihr vergeblich wollen, Sire.«

»Gevatter,« sagte Ludwig der Elfte, »mit zwei Compagnien meiner Leibtruppe und einer Feldschlangensalve hat man leichten Handel mit einem Pöbelhaufen von Bauern.«

Der Strumpfwirker schien, ungeachtet aller Winke, die ihm Wilhelm Rym gab, verwegen genug, dem Könige die Spitze zu bieten.

»Sire, die Schweizer waren auch Bauern. Der Herr Herzog von Burgund war ein stolzer Edelmann, und er verspottete diese Kanaille. In der Schlacht bei Granson, Sire, schrie er: »Kanoniere, Feuer auf dieses Bauernpack!« Und er schwur beim heiligen Georg. Aber der Stadtschultheiß Scharnachtal stürzte sich mit seiner Keule und seinem Volke auf diesen schönen Herzog, und bei dem Zusammenstoße mit den Bauern in Ochsenhäuten zersplitterte das glänzende Heer der Burgunder wie Glas vor einem Steinwurfe. Da befanden sich sehr viele Ritter unter den von den Schuften Erschlagenen; und man fand den Herrn von Château-Guyon, den stolzesten Edelmann Burgunds, unter seinem großen Grauschimmel todt in einem kleinen Morastloche.«

»Freund,« versetzte der König, »Ihr sprecht von einer Schlacht. Es handelt sich hier um eine Empörung. Und ich will damit zu Ende kommen, wenn es mir belieben wird, die Augenbrauen zu runzeln.«

Der andere versetzte gleichgültig:

»Das ist möglich, Sire. In diesem Falle ist die Stunde des Volkes noch nicht gekommen.«

Wilhelm Rym glaubte vermitteln zu müssen.

»Meister Coppenole, Ihr sprecht zu einem mächtigen Könige.«

»Ich weiß es,« antwortete der Strumpfwirker würdevoll.

»Laßt ihn reden, Herr Rym, mein Freund,« sagte der König; »ich liebe diese freimüthige Sprache. Mein Vater Karl der Siebente sagte oft, die Wahrheit wäre krank. Ich für meine Person glaubte sogar, sie wäre todt und hätte gar keinen Bekenner mehr gefunden. Meister Coppenole belehrt mich eines Besseren.«

Dann legte er vertraulich seine Hand auf die Schulter Coppenoles und fuhr fort:

»Ihr sagtet also, Meister Jacob …«

»Ich sagte, Sire, daß Ihr vielleicht Recht habt, daß die Stunde des Volkes in Euerem Reiche noch nicht gekommen sei.«

Ludwig der Elfte sah ihn mit seinem durchdringenden Blicke an.

»Und wann wird diese Stunde kommen, Meister?«

»Ihr werdet sie schlagen hören.«

»Auf welcher Uhr, wenn es Euch gefällig ist?«

Coppenole veranlagte in seiner ruhigen und bäuerischen Haltung den König, ans Fenster zu treten.

»Höret mich an, Sire! Hier seht Ihr einen Zwingthurm, eine Sturmglocke, Kanonen, Bürger, Soldaten. Wenn die Sturmglocke einst heulen wird, wenn die Kanonen brüllen werden, wenn der Zwingthurm mit lautem Krachen zusammenstürzen wird, wenn Bürger und Soldaten schreien und sich unter einander morden werden, dann wird die Stunde schlagen.«

Ludwig des Elften Gesicht wurde düster und nachdenklich. Er blieb einen Augenblick in Schweigen versunken; dann schlug er sanft, wie man die Hüfte eines Schlachtrosses klopft, mit der Hand an die dicke Mauer des Thurmes.

»Oh! nein!« sagte er. »Nicht wahr, du wirst nicht so leicht zusammenstürzen, meine gute Bastille?«

Dann wandte er sich mit heftiger Wendung an den kühnen Flamländer:

»Habt Ihr jemals einen Aufruhr erlebt, Meister Jacob?«

»Ich habe einen angestiftet,« sagte der Strumpfwirker.

»Wie fingt Ihr das an,« sagte der König, »um eine Empörung zu erregen?«

»Ah!« antwortete Coppenole, »das ist nicht sehr schwierig. Es giebt hundert Wege. Nothwendig ist zunächst, daß Unzufriedenheit in der Stadt herrscht. Der Fall ist nicht selten. Und dann der Charakter der Einwohner. Diejenigen Gents sind zur Empörung geneigt. Die lieben stets den Sohn des Fürsten, niemals diesen selbst. Nun gut! Eines Morgens, will ich annehmen, tritt man in mein Gewölbe; man sagt mir: »Vater Coppenole, da ist dies, da ist das, das Fräulein von Flandern will ihre Minister in Sicherheit bringen, der Oberamtmann verdoppelt den Zoll auf Sämerei, oder etwas Anderes.« Was man will. Ich, ich lasse meine Arbeit liegen, ich trete aus meinem Strumpfwirkerladen heraus, ich gehe in die Straße, und ich rufe: »Auf zum Sturme!« Immer liegt wohl ein eingeschlagenes Faß da. Ich steige hinauf, und ich spreche ganz laut die ersten besten Worte, was ich auf dem Herzen habe; und wenn man zum Volke gehört, Sire, hat man immer etwas auf dem Herzen. Nun rottet man sich zusammen, man schreit, man läutet die Sturmglocke, man bewaffnet die Bürger mit den den Soldaten abgenommenen Waffen, die Leute vom Markte vereinigen sich damit, und man geht darauf los. Und das wird immer so sein, so lange es Herren in den Lehnsherrschaften, Bürger in den Städten und Bauern auf dem Lande geben wird.«

»Und gegen wen empört Ihr Euch so?« fragte der König. »Gegen Eure Vögte? Gegen Euere Lehnsherren?«

»Manchmal, je nachdem. Auch gegen den Herzog mitunter.«

Ludwig der Elfte setzte sich wieder nieder, und sagte lächelnd:

»Ah! hier haben sie es nur mit den Vögten zu thun.«

In diesem Augenblicke trat Olivier Le-Daim wieder ein. Er war von zwei Pagen begleitet, welche des Königs Gewänder trugen; was aber Ludwig den Elften überraschte, war der Umstand, daß er außerdem vom Oberrichter von Paris und vom Befehlshaber der Nachtwache begleitet war, welche beide bestürzt zu sein schienen. Der rachsüchtige Barbier hatte gleichfalls eine bestürzte, aber dabei auch zufriedene Miene. Er nahm das Wort zuerst.

»Sire, ich bitte Euere Majestät um Verzeihung für die unglücksschwere Nachricht, welche ich Ihr bringe.«

Der König, der sich schnell umdrehte, zerfetzte mit den Beinen seines Stuhles die Strohmatte des Fußbodens.

»Was hast du zu sagen?«

»Sire,« versetzte Olivier Le-Daim mit der boshaften Miene eines Menschen, der sich freut, einen niederschmetternden Eindruck hervorbringen zu können, »nicht gegen den Vogt des Palastes ist dieser Volksaufruhr gerichtet.«

»Und gegen wen denn?«

»Gegen Euch, Sire.«

Der alte König hob sich kerzengerade wie ein junger Mann in die Höhe.

»Erkläre dich, Olivier! erkläre dich! Und halte ja deinen Kopf fest, Gevatter; denn ich schwöre dir beim Kreuze von Saint-Lo, daß, wenn du uns in dieser Stunde belügst, das Schwert, das den Hals des Herrn von Luxemburg durchschnitten hat, nicht so schartig ist, daß es nicht auch noch den deinigen durchschneidet!«

Der Schwur war furchtbar; Ludwig der Elfte hatte nur zweimal in seinem Leben beim Kreuze von Saint-Lo geschworen. Olivier öffnete den Mund, um zu antworten:

»Sire …«

»Wirf dich auf die Kniee!« unterbrach ihn der König heftig. »Tristan wachet über diesen Menschen!«

Olivier warf sich auf die Kniee und sagte kalt:

»Sire, eine Hexe ist von Eurem Parlamentsgerichtshofe zum Tode verurtheilt worden. Sie hat sich nach Notre-Dame geflüchtet. Das Volk will sich ihrer dort wieder mit offener Gewalt bemächtigen. Der Herr Oberrichter und der Herr Ritter von der Nachtwache, welche vom Aufruhre herkommen, sind hier, um mich Lügen zu strafen, wenn das nicht die Wahrheit ist. Notre-Dame ist’s, welche das Volk belagert.«

»Wie!« sagte der König mit leiser Stimme, ganz blaß und vor Zorn heftig zitternd. »Notre-Dame! Sie belagern Unsere liebe Frau, meine gnädige Gebieterin, in ihrer Kathedrale! … Steh auf, Olivier. Du hast Recht. Ich gebe dir die Stelle Simon Radins. Du hast Recht … Ich bin es, den man angreift. Die Hexe steht unter dem Schutze der Kirche, die Kirche unter meinem Schutze. Und ich für meine Person glaubte, daß es sich um den Vogt handelte! Gegen mich geht es!«

Nun begann er, von der Wuth verjüngt, große Schritte zu machen. Er lachte nicht mehr, er war furchtbar, ging hin und her; der Fuchs hatte sich in eine Hyäne verwandelt. Er schien erstickt, so daß er nicht sprechen konnte; seine Lippen zitterten, und seine fleischlosen Fäuste ballten sich. Plötzlich richtete er das Haupt in die Höhe, sein hohler Blick erschien voll Feuer, und seine Stimme erklang wie eine Trompete. »Leg Hand an, Tristan! leg Hand an diese Schurken! Geh, Tristan mein Freund! morde! morde!«

Als dieser Ausbruch vorüber war, setzte er sich wieder nieder und sagte mit kalter und vergrößerter Wuth:

»Hierher, Tristan! … Bei uns in dieser Bastille liegen fünfzig Lanzen des Vicomte von Gif, die dreihundert Pferde ausmachen: Ihr werdet sie mitnehmen. Auch liegt hier von unserer Leibwache die Compagnie Bogenschützen des Herrn von Châteaupers: Ihr werdet sie mitnehmen. Ihr seid Profoß der Reiterofficiere, Ihr habt die Leute Eueres Profoßamtes: Ihr werdet sie mitnehmen. Im Palast Saint-Pol werdet Ihr vierzig Bogenschützen von der neuen Wache des Herrn Dauphin finden: nehmt sie mit. Und mit allem dem eilt Ihr schnell nach Notre-Dame … Ah! Ihr Herrn Einwohner von Paris, Ihr werft Euch also quer auf die Krone von Frankreich, auf die Heiligkeit von Notre-Dame und den Frieden dieses Staates! … Vertilge! Tristan, vertilge! Und daß keiner von ihnen davonkomme, außer für Montfaucon.« 81

Tristan verneigte sich.

»Es ist gut, Sire.«

Er fügte nach einer Pause hinzu:

»Und was soll ich mit der Hexe anfangen?«

Diese Frage brachte den König zum Nachdenken.

»Ach!« sagte er, »die Hexe! … Herr von Estouteville, was wollte eigentlich das Volk mit ihr anfangen?«

»Sire,« antwortete der Oberrichter von Paris, »ich denke mir, daß, weil das Volk sie doch aus ihrer Freistatt in Notre-Dame herausreißen will, diese Straflosigkeit es verletzt und sie drum hängen will.«

Der König schien reiflich zu überlegen; dann wandte er sich an Tristan l’Hermite:

»Nun gut! lieber Gevatter, vertilge das Volk und hänge die Hexe.«

»Das heißt,« sagte Rym ganz leise zu Coppenole, »das Volk bestrafen für sein Wollen, und das, was es will, selbst thun.«

»Genug, Sire,« antwortete Tristan. »Wenn die Hexe sich noch in Notre-Dame befindet, soll man sie hier, ungeachtet des Asylrechtes, festnehmen?«

»Beim allmächtigen Gotte, das Asylrecht!« sagte der König, während er sich hinter dem Ohre kratzte. »Dennoch muß das Weibsbild gehangen werden.«

Wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen warf sich der König jetzt von seinem Stuhle auf die Kniee nieder, nahm seinen Hut ab, legte ihn auf den Sitz und betrachtete andächtig eines der bleiernen Amulete, welche den Hut umkränzten: »Ach!« sprach er mit gefalteten Händen, »Unsere liebe Frau von Paris, meine gnädige Beschützerin, vergebt mir. Ich will es nur dies Mal thun. Ich muß diese Verbrecherin strafen. Ich versichere Euch, theuere Jungfrau, meine süße Gebieterin, daß es eine Hexe ist, die Eures freundlichen Schutzes nicht würdig ist. Ihr wisset, Liebe Frau, daß sehr viele sehr fromme Fürsten dies Vorrecht der Kirchen übertreten haben zur Ehre Gottes und aus Notwendigkeit für den Staat. Der heilige Hugo, der Bischof von England, hat dem Könige Eduard erlaubt, sich eines Zauberers in seiner Kirche zu bemächtigen. Der heilige Ludwig von Frankreich, mein Gebieter, hat zu demselben Zwecke die Schwelle der Kirche des Heiligen Paul überschritten, und Herr Alphons, der Sohn des Königs von Jerusalem, sogar diejenige des Heiligen Grabes. Vergebt mir also dieses Mal, Unsere liebe Frau von Paris. Ich will es nicht wieder thun, und ich will Euch eine schöne silberne Bildsäule schenken, gleich wie diejenige, welche ich im vergangenen Jahre Unserer lieben Frau von Ecouys gegeben habe. Amen.«

Er machte ein Zeichen des Kreuzes, erhob sich wieder, setzte den Hut auf und sagte zu Tristan:

»Säumet nicht, lieber Gevatter. Nehmt den Herrn von Châteaupers mit Euch. Laßt die Sturmglocke läuten. Ihr werdet das Volk zerschmettern, werdet die Hexe hängen. Abgemacht. Und ich wünsche, daß die Hetzjagd der Hinrichtung von Euch angestellt werde. Ihr werdet mir Bericht davon abstatten … Wohlan, Olivier, ich will diese Nacht nicht zu Bett gehen. Barbiere mich.«

Tristan l’Hermite verneigte sich und ging hinaus. Darauf verabschiedete der König mit einer Handbewegung Rym und Coppenole:

»Behüte euch Gott, meine Herren Flamländer, liebe Freunde. Pfleget ein wenig der Ruhe. Die Nacht rückt vor, und wir sind dem Morgen näher, als dem Abende.«

Alle Beide zogen sich zurück, und als sie unter der Begleitung des Hauptmanns der Bastille ihre Gemächer gewonnen hatten, sagte Coppenole zu Wilhelm Rym:

»Hm! ich habe genug an diesem hustenden Könige! Ich habe Karl von Burgund betrunken gesehen; er war nicht so boshaft als der kranke Ludwig der Elfte.«

»Meister Jacob,« antwortete Rym, »das kommt davon, weil der Wein die Könige nicht so blutgierig macht, wie der Arzneitrank.«

  1. » Le grand Cyrus« Roman der Frau von Scudery. Anm. d Uebers.
  2. Lateinisch: Ohne Truchseß und ohne Mundschenken. Anm. d. Uebers.
  3. Griechisch: Anführer der Musen. Anm. d. Uebers.
  4. Lateinisch: Pulsschlag häufig, stark springend und unregelmäßig. Anm. d. Uebers.
  5. Le mauvais = der Bösewicht. Anm. d. Uebers.
  6. Olivier Damhirsch. Anm. d. Uebers.
  7. Im Mittelalter Name eines berüchtigten Galgens in der Nähe von Paris. Anm. d. Uebers.