Zweites Kapitel.

Tom streicht einen Zaun.

Zweites Kapitel.

Der Sonnabend Morgen tagte, die ganze sommerliche Welt draußen war sonnig und klar, sprudelnd von Leben und Bewegung. In jedem Herzen schien’s zu klingen und zu singen, und wenn das Herz jung war, trat der Klang unversehens auf die Lippen. Freude und Lust malte sich in jedem Antlitz, jeder Schritt war beflügelt. Die Akazien blühten und erfüllten mit ihrem köstlichen Duft rings alle Lüfte.

Tom erschien auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Tünche und einem langstieligen Pinsel. Er stand vor dem Zaun, besah sich das zukünftige Feld seiner Tätigkeit und es war ihm, als schwände mit einem Schlage alle Freude aus der Natur. Eine tiefe Schwermut bemächtigte sich seines ahnungsvollen Geistes. Dreißig Meter lang und neun Fuß hoch war der unglückliche Zaun! Das Leben schien ihm öde, das Dasein eine Last. Seufzend tauchte er den Pinsel ein und fuhr damit über die oberste Planke, wiederholte das Manöver einmal und noch einmal. Dann verglich er die unbedeutende übertünchte Strecke mit der Riesenausdehnung des noch ungetünchten Zaunes und ließ sich entmutigt auf ein paar knorrigen Baumwurzeln nieder. Jim, der kleine Nigger, trat singend und springend aus dem Hoftor mit einem Holzeimer in der Hand. Wasser an der Dorfpumpe holen zu müssen, war Tom bis jetzt immer gründlich verhaßt gewesen, in diesem Augenblick dünkte es ihn die höchste Wonne. Er erinnerte sich, daß man dort immer Gesellschaft traf; Weiße, Mulatten und Niggerjungen und Mädchen waren da stets zu finden, die warteten, bis die Reihe an sie kam und sich inzwischen ausruhten, mit allerlei handelten oder tauschten, sich zankten, rauften, prügelten und dergleichen Kurzweil trieben. Auch durfte man Jim mit seinem Eimer Wasser nie vor Ablauf einer Stunde zurückerwarten, obgleich die Pumpe kaum einige hundert Schritte vom Haus entfernt war und selbst dann mußte gewöhnlich noch nach ihm geschickt werden. Ruft also Tom:

»Hör‘, Jim, ich will das Wasser holen, streich‘ du hier ein bißchen an.«

Jim schüttelte den Dickkopf und sagte:

»Nix das können, junge Herr Tom, Alte Tante sagen, Jim sollen nix tun andres als Wasser holen, sollen ja nix anstreichen. Sie sagen, junge Herr Tom wohl werden fragen Jim, ob er wollen anstreichen, aber er nix sollen es tun – ja nix sollen es tun.«

»Ach was, Jim, laß dir nichts weismachen, so redet sie immer. Her mit dem Eimer, ich bin gleich wieder da. Sie merkt’s noch gar nicht.«

»Jim sein so bange, er’s nix wollen tun. Alte Tante sagen, sie ihm reißen Kopf ab, wenn er’s tun.«

»Sie! O Herr Jemine, die kann ja gar niemand ordentlich durchhauen, – die fährt einem ja nur mit der Hand über den Kopf, als ob sie streicheln wollte, und ich möcht‘ wissen, wer sich daraus was macht. Ja, schwatzen tut sie von durchhauen und allem, aber schwatzen tut nicht weh, – das heißt, solang sie nicht weint dazu. Jim, da, ich schenk dir auch ’ne große Murmel, – da und noch ’nen Gummi dazu!«

Jim schwankte.

»’nen Gummi, Jim, und was für ein Stück, sieh mal her!«

»O, du meine alles! Sein das prachtvoll Stück Gummi. Aber, junge Herr Tom, Jim sein so ganz furchtbar bange vor alte Tante!«

Jim aber war auch nur ein schwacher Mensch, – diese Versuchung erwies sich als zu stark für ihn. Er stellte seinen Eimer hin und streckte die Hand nach dem verlockenden Gummi aus. Im nächsten Moment flog er jedoch, laut aufheulend, samt seinem Eimer die Straße hinunter, Tom tünchte mit Todesverachtung drauflos und Tante Polly zog sich stolz vom Schlachtfeld zurück, Pantoffel in der Hand, Triumph im Auge.

Toms Eifer hielt nicht lange an. Ihm fiel all das Schöne ein, das er für diesen Tag geplant, und sein Kummer wuchs immer mehr. Bald würden sie vorüber schwärmen, die glücklichen Jungen, die heute frei waren, auf die Berge, in den Wald, zum Fluß, überall hin, wo’s schön und herrlich war. Und wie würden sie ihn höhnen und auslachen und verspotten, daß er dableiben und arbeiten mußte, – schon der Gedanke allein brannte ihn wie Feuer. Er leerte seine Taschen und musterte seine weltlichen Güter, – alte Federn, Glas- und Steinkugeln, Marken und sonst allerlei Kram. Da war wohl genug, um sich dafür einen Arbeitstausch zu verschaffen, aber keineswegs genug, um sich auch nur eine knappe halbe Stunde voller Freiheit zu erkaufen. Seufzend wanderten die beschränkten Mittel wieder in die Tasche zurück und Tom mußte wohl oder übel die Idee fahren lassen, einen oder den andern der Jungen zur Beihilfe zu bestechen. In diesem dunkeln, hoffnungslosen Moment kam ihm eine Eingebung! Eine große, eine herrliche Eingebung! Er nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich still und emsig an die Arbeit. Da tauchte Ben Rogers in der Entfernung auf, Ben Rogers, dessen Spott er von allen gerade am meisten gefürchtet hatte. Ben’s Gang, als er so daherkam, war ein springender, hüpfender kurzer Trab, Beweis genug, daß sein Herz leicht und seine Erwartungen hochgespannt waren. Er biß lustig in einen Apfel und ließ dazu in kurzen Zwischenpausen ein langes, melodisches Geheul ertönen, dem allemal ein tiefes gezogenes ding–dong–dang, ding–dong–dang folgte. Er stellte nämlich einen Dampfer vor. Als er sich Tom näherte, gab er Halbdampf, hielt sich in der Mitte der Straße, wandte sich stark nach Steuerbord und glitt drauf in stolzem Bogen dem Ufer zu, mit allem Aufwand von Pomp und Umständlichkeit, denn er stellte nichts Geringeres vor als den »Großen Missouri« mit neun Fuß Tiefgang. Er war Schiff, Kapitän, Mannschaft, Dampfmaschine, Glocke, alles in allem, stand also auf seiner eigenen Schiffsbrücke, erteilte Befehle und führte sie aus.

»Halt, stoppen! Klinge–linge–ling.« Der Hauptweg war zu Ende und der Dampfer wandte sich langsam dem Seitenweg zu. »Wenden! Klingelingeling!« Steif ließ er die Arme an den Seiten niederfallen. »Wenden, Steuerbord! Klingelingeling! Tschu! tsch – tschu – u – tschu!«

Nun beschrieb der rechte Arm große Kreise, denn er stellte ein vierzig Fuß großes Rad vor. »Zurück, Backbord! Klingelingeling! Tschu–tsch–tschu–u–sch!« Der linke Arm begann nun Kreise zu beschreiben. »Steuerbord stoppen! Lustig, Jungens! Anker auf – nieder! Klingeling! Tsch–tschuu–tschtu! Los! Maschine stoppen! He, Sie da! Scht–sch–tscht!« (Ausströmen des Dampfes.)

Tom tünchte währenddessen und ließ den Dampfer Dampfer sein, Ben starrte ihn einen Augenblick an und grinste dann:

»Hi–hi! Festgenagelt – äh?«

Keine Antwort, Tom schien seinen letzten Strich mit dem Auge eines Künstlers zu prüfen, dann fuhr er zart mit dem Pinsel noch einmal drüber und übersah das Resultat in derselben kritischen Weise wie zuvor. Ben marschierte nun neben ihm auf. Toms Mund wässerte nach dem Apfel, er hielt sich aber tapfer an die Arbeit. Sagt Ben:

»Hallo, alter Junge, Strafarbeit, ja?«

»Ach, du bist’s, Ben, ich hab‘ gar nicht aufgepaßt!«

»Hör du, ich geh schwimmen, willst du vielleicht mit? Aber gelt, du arbeitst lieber, natürlich, du bleibst viel lieber da, gelt?«

Tom maß ihn erstaunt von oben bis unten.

»Was nennst du eigentlich arbeiten?«

»W–was? Ist das keine Arbeit?«

Tom tauchte seinen Pinsel wieder ein und bemerkte gleichgültig:

»Vielleicht – vielleicht auch nicht! Ich weiß nur soviel, daß das dem Tom Sawyer paßt.«

»Na, du willst mir doch nicht weismachen, daß du’s zum Vergnügen tust?«

Der Pinsel strich und strich.

»Zum Vergnügen? Na, seh‘ nicht ein, warum nicht. Kann unsereiner denn alle Tag ’nen Zaun anstreichen?«

Das warf nun ein neues Licht auf die Sache. Ben überlegte und knupperte an seinem Apfel. Tom fuhr sachte mit seinem Pinsel hin und her, trat dann zurück, um die Wirkung zu prüfen, besserte hier und da noch etwas nach, prüfte wieder, alles ohne sich im geringsten um Ben zu kümmern. Dieser verfolgte jede Bewegung, eifriger und eifriger mit steigendem Interesse. Sagt er plötzlich:

»Du, Tom, laß mich ein bißchen streichen!«

Tom überlegte, schien nachgeben zu wollen, gab aber diese Absicht wieder auf: »Nein, nein, das würde nicht gehen, Ben, wahrhaftig nicht. Weißt du, Tante Polly nimmt’s besonders genau mit diesem Zaun, so dicht bei der Straße, siehst du. Ja, wenn’s irgendwo dahinten wär‘, da lag nichts dran, – mir nicht und ihr nicht – so aber! Ja, sie nimmt’s ganz ungeheuer genau mit diesem Zaun, der muß ganz besonders vorsichtig gestrichen werden, – einer von hundert Jungen vielleicht, oder noch weniger, kann’s so machen, wie’s gemacht werden muß.«

»Nein, wirklich? Na, komm, Tom, laß mich’s probieren, nur ein ganz klein bißchen. Ich ließ dich auch dran, Tom, wenn ich’s zu tun hätte!«

»Ben, wahrhaftig, ich tät’s ja gern, aber Tante Polly – Jim hat’s tun wollen und Sid, aber die haben’s beide nicht gedurft. Siehst du nicht, wie ich in der Klemme stecke? Wenn du nun anstreichst und ’s passiert was und der Zaun ist verdorben, dann–«

»Ach, Unsinn, ich will’s schon rechtmachen. Na, gib her, – wart‘, du kriegst auch den Rest von meinem Apfel; ’s ist freilich nur noch der Butzen, aber etwas Fleisch sitzt doch noch drum.«

»Na, denn los! Nein, Ben, doch nicht, ich hab‘ Angst, du –«

»Da hast du noch ’nen ganzen Apfel dazu!« Tom gab nun den Pinsel ab. Widerstreben im Antlitz, Freude im Herzen. Und während der frühere Dampfer »Großer Missouri« im Schweiße seines Angesichts drauflos strich, saß der zurückgetretene Künstler auf einem Fäßchen im Schatten dicht dabei, baumelte mit den Beinen, verschlang seinen Apfel und brütete über dem Gedanken, wie er noch mehr Opfer in sein Netz zöge. An Material dazu war kein Mangel. Jungen kamen in Menge vorüber. Sie kamen, um zu spotten und blieben, um zu tünchen! Als Ben müde war, hatte Tom schon Kontrakt gemacht mit Billy Fischer, der ihm einen fast neuen, nur wenig geflickten Drachen bot. Dann trat Johnny Miller gegen eine tote Ratte ein, die an einer Schnur zum Hin- und Herschwingen befestigt war und so weiter und so weiter, Stunde um Stunde. Und als der Nachmittag zur Hälfte verstrichen, war aus Tom, dem mit Armut geschlagenen Jungen mit leeren Taschen und leeren Händen, ein im Reichtum förmlich schwelgender Glücklicher geworden. Er besaß außer den Dingen, die ich oben angeführt, noch zwölf Steinkugeln, eine freilich schon etwas stark beschädigte Mundharmonika, ein Stück blaues Glas, um die Welt dadurch zu betrachten, ein halbes Blasrohr, einen alten Schlüssel und nichts damit aufzuschließen, ein Stück Kreide, einen halb zerbrochenen Glasstöpsel von einer Wasserflasche, einen Bleisoldaten, ein Stück Seil, sechs Zündhütchen, ein junges Kätzchen mit nur einem Auge, einen alten messingnen Türgriff, ein Hundehalsband ohne Hund, eine Messerklinge, vier Orangenschalen und ein altes, wackeliges Stück Fensterrahmen, Dazu war er lustig und guter Dinge, brauchte sich gar nicht weiter anzustrengen die ganze Zeit über und hatte mehr Gesellschaft beinahe, als ihm lieb war. Der Zaun wurde nicht weniger als dreimal vollständig überpinselt, und wenn die Tünche im Eimer nicht ausgegangen wäre, hätte er zum Schluß noch jeden einzelnen Jungen des Dorfes bankrott gemacht.

Unserm Tom kam die Welt gar nicht mehr so traurig und öde vor. Ohne es zu wissen, hatte er ein tief in der menschlichen Natur wurzelndes Gesetz entdeckt, die Triebfeder zu vielen, vielen Handlungen. Um das Begehren eines Menschen, sei er nun erwachsen oder nicht, – das Alter macht in dem Fall keinen Unterschied – also, um eines Menschen Begehren nach irgend etwas zu erwecken, braucht man ihm nur das Erlangen dieses »etwas« schwierig erscheinen zu lassen. Wäre Tom ein gewiegter, ein großer Philosoph gewesen, wie zum Beispiel der Schreiber dieses Buches, er hatte daraus gelernt, wie der Begriff von Arbeit einfach darin besteht, daß man etwas tun muß, daß dagegen Vergnügen das ist, was man freiwillig tut. Er würde verstanden haben, warum künstliche Blumen machen oder in einer Tretmühle gehen »Arbeit« heißt, während Kegelschieben im Schweiße des Angesichts oder den Montblanc erklettern lediglich als Vergnügen gilt. Ja, ja, wer erklärt diese Widersprüche in der menschlichen Natur!

Zwanzigstes Kapitel.

Schulprüfungen. – Die Rache.

Zwanzigstes Kapitel.

Die großen Ferien rückten immer näher. Der Lehrer, ernst von Natur, wurde strenger und anspruchsvoller von Tag zu Tag, sollte doch seine Schule Ehre einlegen am verhängnisvollen, großen Tag der Prüfung. Seine Rute und sein Lineal kamen gar nicht mehr zur Ruhe, zum wenigsten bei den kleineren Schülern. Nur die großen Knaben und die jungen Damen von der Sonntagsschule entgingen einer Züchtigung. Und Herrn Dobsons Prügel waren was wert unter Brüdern, denn obgleich er unter seiner Perücke einen vollständig kahlen und glänzenden Schädel barg, so stand er doch noch im kräftigsten Mannesalter und die Stärke seiner Muskeln ließ nichts zu wünschen übrig. Als der große Tag näher und näher rückte, kam alle die Tyrannei, die in ihm schlummerte, ans Tageslicht. Mit grausamer Lust ahndete er die geringsten Versäumnisse und Fehler. Die Folge davon war, daß die Kinder ihre Tage in Schreck und Qual, ihre Nächte mit Schmieden finsterer Rachepläne verbrachten. Sie ließen sich keine Gelegenheit entgehen, dem Lehrer einen Streich zu spielen, der aber blieb immer Meister. Die Strafe, die jedem solchen kleinen Racheakt auf dem Fuße folgte, war so großartig, so niederschmetternd, daß die Jungen den Kampfplatz jedesmal vollständig »geschlagen« verließen. Zuletzt entstand eine Verschwörung und ein Plan wurde ausgeheckt, der den glänzendsten Sieg versprach. Die Verschwörer zogen den Sohn des Anstreichers ins Vertrauen, welcher Lehrling bei seinem Vater war, setzten ihm den Plan auseinander und baten um seine Hilfe. Der hatte nun wieder seine eigenen Gründe, sich dem Racheplan anzuschließen, denn der Lehrer wohnte im Hause des Anstreichers und hatte dem Jungen genügend Ursache zum gründlichsten Hasse gegeben. Die Frau des Lehrers wollte in den nächsten Tagen zu einem Besuche aufs Land gehen und so stand der Ausführung des Planes nichts im Wege. Der Lehrer pflegte sich zur würdigen Vorbereitung bei großen Gelegenheiten aus der Flasche nachhaltig Mut zuzusprechen, und der Anstreicherjunge versprach, am Prüfungsabend, wenn der Lehrer das nötige Studium des »Mutes« erreicht habe und in seinem Stuhle ein Stärkungsschläfchen halte, »die Sache schon besorgen zu wollen«. Knapp zur rechten Zeit wollte er ihn dann schleunigst wecken und in aller Eile zur Schule spedieren.

Als die Zeit erfüllet war, trat denn das große Ereignis ein. Um acht Uhr abends erstrahlte das Schulhaus im Glanz der Kerzen und im Schmuck der Gewinde aus Laub und Blumen. Majestätisch thronte der Lehrer auf seinem Katheder, die schwarze Tafel hinter sich. Auf Bänken zu beiden Seiten saßen die Eltern der Kinder und die Würdenträger der Stadt, vor dem Katheder dehnten sich die Reihen der Schüler, hier die Knaben, die dermaßen gewaschen und herausgeputzt waren, daß man ihnen das Unbehagen ansah; dort die Mädchen, in schneeweißem Musselin, sichtbar durchdrungen von dem erhebenden Bewußtsein, in bloßen Armen, blau und roten Bändern und mit Blumen im Haar zu glänzen. Den Hintergrund bildete »das Volk«.

Die Prüfung begann. Ein winzig kleiner Junge erhob sich und rezitierte mit einem Schafsgesicht:

»Kaum glaubt ihr, daß solch kleiner Wicht,
Wie ich, es wagt und zu euch spricht usw.«

wobei er seinen Vortrag mit den peinlich genauen, stoßweisen Bewegungen einer Maschine begleitete, noch dazu einer Maschine, die etwas aus der Ordnung geraten zu sein schien. Doch stolperte er sicher, wenn auch zu Tode geängstigt, bis zum Schluß hindurch, klappte den Oberkörper verbeugend nach unten, bekam einen wahren Beifallssturm von dem dankbaren Publikum und zog sich aufatmend zurück.

Ein kleines, verschüchtertes Mädchen lispelte ihr:

»Ein kleines Lämmchen, weiß wie Schnee,
Ging einstens auf die Weide,«

machte einen mitleiderregenden Knix, erhielt ihren Anteil an Applaus und setzte sich glühend rot und glückselig wieder hin.

Tom Sawyer trat nun vor, voll stolzer aber trügerischer Zuversicht, und begann mit donnerndem Pathos und verzückten Gebärden die berühmte Ode an die »Freiheit« zu deklamieren. Aber wehe! In der Mitte etwa angelangt, – verließ ihn just das Gedächtnis, das »Lampenfieber« ergriff ihn, seine Knie zitterten, er drohte zusammenzusinken oder zu ersticken. Wohl hatte er des Hauses Mitleid für sich, aber auch des Hauses Schweigen. Finster blickte der Lehrer, drohend zog er die Stirne in Falten; dies machte das Unheil vollständig. Tom stammelte, stotterte noch eine Weile, gab’s dann auf und zog sich zurück, jeder Zoll ein geschlagener Held! Ein schwacher Beifallsversuch, der sich erheben wollte, wurde im Keime erstickt.

Jetzt folgten:

»Auf brennendem Deck der Knabe stand.«

Dann:

»Hernieder kam einst Assurs Macht«

und andere dergleichen deklamatorische Kleinodien. Nun kamen Leseübungen und ein regelrechtes Kreuzfeuer in der Kunst des Buchstabierens. Die magere Lateinklasse bestand ihre Sache mit Ehren. Dann nahte der Hauptakt des ganzen Abends, – der Vortrag von selbstgefertigten Aufsätzen und Gedichten der »jungen Damen«. Der Reihe nach trat jede an den Rand der Estrade, räusperte sich, erhob ihr von einem zierlichen Band umschlungenes Manuskript und begann zu lesen mit dem nötigen Aufwand von Ausdruck und Gefühl. Die Themata waren dieselben, wie sie ihre Mütter, Großmütter und zweifellos alle weiblichen Vorfahren der Familie bis zurück zu den Kreuzzügen schon bearbeitet hatten: »Freundschaft« – »Erinnerungen früherer Tage« – »Die Religion in der Geschichte« – »Das Land der Träume« – »Die Vorteile der Kultur« – »Vergleiche und Verschiedenheiten der politischen Regierungsformen« – »Melancholie« – »Kindliche Liebe« – »Herzenswünsche« – usw. usw.

Die meisten dieser Ergüsse zeichneten sich durch eine starke Vorliebe für das Gefühlvolle aus. Die großartigste Verschwendung erhabener Ausdrücke und Redewendungen war ebenfalls ein gemeinsamer Zug, ebenso das gewaltsame Herbeiziehen allgemein bekannter und beliebter Phrasen und Zitate. Den Schluß bildete hier wie dort unweigerlich eine möglichst stark aufgetragene moralische Nutzanwendung. Einerlei, was der behandelte Gegenstand gewesen, mit kühnem Sprung lief das Ende ohne Unterschied in eine äußerst erbauliche Betrachtung aus, die sich nicht ohne Rührung anhören ließ und einen schmeichelhaften Rückschluß auf die Tugenden der schönen Mahnerin gestattete.

Der erste Aufsatz, der vorgetragen wurde, betitelte sich: » Dies also ist das Leben?« Vielleicht hat der Leser Geduld genug, einen Auszug hieraus anzuhören.

»Trunkenen Auges, mit wonnebebendem Herzen schaut der jugendliche Geist den zu erwartenden Freuden des Lebens entgegen. Geschäftig malt ihm die Einbildungskraft rosenfarbene Bilder der Wonne vor. Im Geiste sieht sich die jugendliche Schöne als »Dame von Welt«, inmitten des wogenden, festlichen Getriebes, scherzend, lachend, umkost, umworben, gefeiert »schauend und geschaut!« Ihre anmutige Gestalt gleitet in wehenden, weißen Gewändern auf den Wellen des wirbelnden Tanzes dahin, ihr Auge strahlt am hellsten, ihr Schritt ist der elastischste in der ganzen heiteren Gesellschaft. Unter solch gaukelnden, lockenden Phantasiegebilden schwindet schnell die Zeit und die ersehnte Stunde erscheint, die Stunde, welche Einlaß bringen soll in jene elysische Welt, die solche Wonneträume zu wecken vermag. Wie zauberisch erscheint dem geblendeten Auge alles und jedes! Jede neue Szene ist reizender, lockender als die vorhergegangene. Doch kurze Zeit nur währt der Rausch! Bald zeigt es sich, daß unter der glänzenden Außenseite Hohlheit sich birgt. Die Schmeichelei, die einst die Seele fesselte, verletzt nun das Ohr mit schrillem Klang, der Ballsaal verliert seine Reize. Mit zerrütteter Gesundheit, verbitterten Herzens wendet sich das »Kind der Welt« ab, die Überzeugung tief im Busen bergend, daß irdische Freuden das Verlangen der unsterblichen Seele nicht zu befriedigen imstande sind!«

Und so weiter.

Ein beifälliges Gemurmel unterbrach von Zeit zu Zeit den Vortrag. Ein: »wie schön!« »gut gesagt!« oder »wie wahr!« ließ sich deutlich unterscheiden, und nachdem das Ding mit einer besonders erhebenden Schlußbetrachtung geendet, wurde der Beifall ordentlich enthusiastisch.

Dann erhob sich ein schlankes, melancholisch aussehendes Mädchen, dessen Gesicht jene interessante Blässe zeigte, die von Pillen und schlechter Verdauung herrührt, und las ein »Gedicht« vor. Folgende Verse desselben mögen genügen:

Lebewohl einer Missouri-Maid an Alabama.

Leb‘ wohl, Alabama, dich liebe ich,
Und doch muß lassen, muß meiden ich dich.
Es naget die Trauer am Herzen mein,
In heißer Sehnsucht gedenk ich dein.

Wie hab ich die blum’gen Wälder durchstreift,
Längs den Ufern deiner Gewässer geschweift,
Dem Murmeln der Wellen träumend gelauscht
In Aurorens Strahl mich wonnig berauscht.

Nicht scheu verberg ich mein übervoll Herz,
Erröt nicht, zu zeigen den brennenden Schmerz.
Er gilt ja nicht Fremden im fernen Land,
Den Freunden, den Lieben nur, die ich gekannt.

Sie waren mein Trost mir, mein ganzes Glück;
Alabamas Täler ersehn ich zurück.
Ach, nun ich’s verloren, erkenn ich’s zu spät:
Dort wurzelt mein Leben, mein Herz – zu spät!

Zunächst erschien eine schwarzäugige und schwarzhaarige junge Dame auf dem Podium, machte eine wirkungsvolle Kunstpause, nahm eine tragische Haltung an und begann gemessenen, ausdrucksvollen Tones vorzulesen:

Eine Vision.

Dunkel und stürmisch war die Nacht. Am Himmelszelte oben flimmerte nicht ein einziger Stern, nur das dumpfe Dröhnen des Donners vibrierte beständig im geängstigt lauschenden Ohre, während grelle Blitze in entfesselter Wildheit die wolkigen Himmelskammern durchrasten und der Macht zu spotten schienen, die der große Franklin sich über sie angemaßt. Selbst die stürmischen Winde kamen einmütig hervor aus ihrer geheimnisvollen Hohle und schnaubten und tosten einher, als wollten sie durch ihre Gegenwart die tolle Szene noch toller machen. Zu eben solcher Stunde, gleich dunkel, gleich trostlos und entsetzensvoll, schrie einst mein ganzes Sein nach dem Balsam menschlichen Mitgefühls. Umsonst! Da plötzlich:

»Erschien sie, die mein Trost, mein Führer und mein Rat,
Mein Glück im Gram, mein All an meine Seite trat.«

Sie schwebte daher, wie eines jener glänzenden, anmutbeschwingten Wesen, mit denen Jugend und Romantik sich die sonnigen Fluren ihres Eden bevölkern, eine Königin der Schönheit, nur mit ihrer eignen, unvergleichlichen Lieblichkeit angetan und geschmückt. So leise war ihr Schritt, keinen Laut rief er hervor und nur der magische Wonneschauer, der mein ganzes Sein bei ihrer sanften Berührung durchrieselte, verriet mir ihre Gegenwart, sonst wäre sie entschwebt gleich andern, sich dem Auge nicht selbstbewußt aufdrängenden Schönheiten, unbemerkt und ungesucht. Gleich eisigen Tränen auf dem Gewande des Dezembers lag eine eigentümliche Traurigkeit auf den geliebten Zügen, als sie, ernst auf die draußen kämpfenden Elemente hinweisend, mich die beiden durch dieselben dargestellten Wesen betrachten hieß.

Dieser nächtliche Gespensterspuk füllte zehn Seiten des Manuskripts und endete in einer Predigt von solch niederschmetternder, hoffnungraubender Wirkung auf alle Nichtgläubigen, daß der Aufsatz den ersten Preis gewann und einstimmig für die beste Leistung des Abends erklärt wurde. Der Bürgermeister des Städtchens überreichte der glückstrahlenden Verfasserin in feierlicher Ansprache den Preis, indem er sagte, es sei bei weitem »das Beredteste, Pathetischste«, was er je gehört, ja daß der große Daniel Webster selber hätte stolz drauf sein dürfen.

Beiläufig mag noch bemerkt werden, daß die Zahl der Aufsätze, in denen das Wort »wunderbar« mit Vorliebe angewendet und der menschlichen Erfahrung als »einer Seite im Buche des Lebens« erwähnt wurde, den üblichen Durchschnitt erreichte.

Nun erhob sich der Lehrer, der durch den Erfolg des Abends so sanftmütig und weich geworden war, daß sein Wesen beinahe an Liebenswürdigkeit streifte, schob seinen Stuhl zurück, wandte dem Publikum den Rücken und begann auf der schwarzen Tafel eine Karte von Amerika zu entwerfen, um die Geographieübungen daran vornehmen zu können. Seine unstete Hand aber wollte ihm nicht parieren bei der Sache, ein unterdrücktes Gekicher lief durch das Haus. Er wußte, was es bedeutete und nahm alle Kraft zusammen, um sich mit Ehren herauszuziehen. Er fuhr mit dem Schwamm über die mißlungenen Linien und machte sich geduldig aufs neue dran, nur um sie mehr und mehr zu verrenken, und das Gekicher wurde immer deutlicher. Mit Macht und ganzer Aufmerksamkeit warf er sich nun auf sein Werk, entschlossen, sich durch die augenscheinliche Heiterkeit nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Er fühlte, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren; er glaubte nun endlich im richtigen Fahrwasser zu sein und doch dauerte das Gekicher fort, ja es nahm sogar noch zu. Und Grund genug dazu war vorhanden. Im oberen Stock befand sich eine Dachkammer, in deren Fußboden eine Klappe angebracht war, unter der just eben der Lehrer stand. Durch diese Klappe nun erschien eine Katze, die an einem um die Hinterbeine geschlungenen Seile hing und der man um Kopf und Maul einen dicken Lappen gewickelt hatte, um sie am Schreien zu hindern. Als sie so langsam niedersank, krümmte sie sich nach oben und versuchte sich mit den Pfoten am Seil festzuklammern, umsonst! Sie griff mit den Pfoten nur in die unfaßbare, haltlose Luft. Das Gekicher schwoll und schwoll. Die Katze war jetzt nur noch sechs Zoll von dem Haupte des ahnungslosen Lehrers entfernt. Sie sank tiefer und tiefer; noch eine Spanne und nun schlug sie die verzweifelten Krallen in die Perücke des schulmeisterlichen Hauptes, klammerte sich fest an dem willkommenen Halte und wurde im selben Moment zurückgezogen zur Klappe, die Siegestrophäe fest in den räuberischen Klauen! Des Schulmeisters kahler Schädel aber erstrahlte in ungeahnter, zauberischer Pracht, – der Sohn des Anstreichers hatte denselben vergoldet!

Dies bereitete der Festlichkeit ein jähes Ende. Die Jungen waren gerächt – die Ferien da!

*

Anmerkung. Die oben angeführten sog. »Aufsätze« sind ohne Veränderung einem Buche entnommen, das den Titel führt: »Prosa und Poesie von einer Dame des Westens.« Als genaue Studien nach dem bekannten »Schulmädchen-Muster« sind sie infolgedessen weit glücklichere Beispiele, als bloße Nachbildungen hätten sein können.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Ferien. – Eine Gerichtsverhandlung.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Tom fand, daß die ersehnten Ferien schon achte Tage nach dem Beginn sich in endloser, öder Weite vor ihm zu dehnen begannen. Er wußte kaum, was er mit sich anfangen sollte in dieser langen, langen Zeit. Becky Thatcher war mit ihren Eltern auf ihr Landgut gereist, um die Wochen der Freiheit dort zu verbringen, und hatte den letzten Lichtstrahl in dieser endlosen Nacht der Langeweile mit sich genommen. Ein paar Kindergesellschaften dienten nur dazu, die klaffende Lücke von Beckys Abwesenheit um so fühlbarer zu machen. Eine mitleidige Masernepidemie erbarmte sich der gelangweilten Jugend, bot aber in ihrem milden Charakter nicht einmal die Aussicht, daß man zur Abwechslung hier und da um das gefährdete Leben irgendeines Kameraden zittern konnte. Auch sie verlief langweilig und eintönig wie alles andere.

Endlich kam Leben in die schläfrige Atmosphäre. Der Mordprozeß kam vor Gericht und wurde sofort zum Thema jeglichen Stadtgespräches. Er benahm Tom alle Ruhe. Jede neue Erwähnung der Mordtat sandte ihm einen Schauder zum Herzen. Sein böses Gewissen und seine Angst ließen ihn in jeder darauf bezüglichen Bemerkung einen »Fühler« wittern, den man ausgestreckt, um ihn zu sondieren. Freilich erschien es ihm bei näherer Überlegung gar nicht möglich, daß man in ihm einen Mitwisser der Tat vermuten könne, gleichwohl war ihm nicht wohl bei der Sache; fortwährend überlief es ihn, bald heiß, bald kalt. An einsamem Ort nahm er Huck beiseite, um sich mit diesem zu besprechen. Welche Erleichterung mußte es gewähren, das Siegel auf den Lippen nur für eine kleine Weile zu lösen, die Hälfte der Bürde auf die Schultern eines Mitfühlenden, eines Leidensgefährten zu wälzen. Außerdem lag Tom daran, sich Gewißheit über Hucks unverbrüchliches Schweigen zu verschaffen.

»Huck, hast du jemals irgendeinem Menschen davon erzählt?«

»Von was?«

»Du weißt schon selber.«

»Ach so! Na, natürlich nicht.«

»Kein Wort?«

»Nicht ein einziges Wörtchen, nee, weiß Gott! Was fragst?«

»Na ich – ich hatte Angst.«

»Weißt’s ja doch selber, Tom Sawyer, wir zwei wären kalt nach drei Tagen, wenn das heraus käme!«

Tom fühlte sich etwas beruhigter. Nach einer Pause:

»Huck, gelt, ’s kann dich keiner zwingen, was zu sagen, oder?«

»Mich zwingen! Na, wenn ich Lust hätte, daß mich der Indianerhund ersäufte, ja, dann wär’s möglich, daß ich’s sage – sonst nicht!«

»Na, dann ist’s gut! Ich denk, wir sind sicher, so lang wir reinen Mund halten. Laß uns aber noch mal schwören. Ich mein, ’s ist sicherer!«

»Meinethalben.«

Und wieder schwuren die Jungen einen grausig feierlichen Eid.

»Worüber schwatzen sie gerade hauptsächlich in der Stadt, Huck? Ich hab alles durcheinander gehört!«

»Schwatzen? Ei, Muff Potter, Muff Potter und nichts als Muff Potter, immer und ewig. Mir treibt’s den kalten Schweiß aus, wenn ich nur den Namen höre. Am liebsten steckt ich mir Baumwolle in die Löffel!«

»Gerad so geht’s bei mir, gerad so! Ich glaub, der ist verloren. Dauert er dich nicht auch manchmal?«

»Ei immer, beinahe immerzu. Viel wert ist er ja nicht, aber er hat doch keinem was zuleid getan. Stibitzt wohl mal ’nen Fisch, um Geld für Schnaps zu kriegen und sich zu besaufen, und bummelt den ganzen Tag herum, aber – Herr Gott, – das tut ja jeder – wenigstens beinah jeder. Aber er ist doch ein guter Kerl. Einmal hat er mir ’nen halben Fisch gegeben und sich selber an der anderen Hälfte hungrig gegessen, und oft und oft hat er mir geholfen, wenn ich irgendwo in der Patsche saß.«

»Und mir hat er Drachen geflickt, Huck, und Angelhaken an der Leine festgemacht. Weiß Gott, ich wollt, wir könnten ihn freimachen! Ich gäb was drum!«

»Du lieber Himmel, das würde doch nicht viel helfen, Tom, den hätten sie gleich wieder fest!«

»Das ist ja wahr, aber ich kann’s gar nicht mit anhören, wenn sie so über ihn losziehen, als wär er der leibhaftige Gottseibeiuns, und er’s doch gar nicht getan hat.«

»So geht’s mir grad, Tom, Herrgott, da schwatzen sie daher, als sei er der blutdürstigste Hund im Land und nur aus Versehen nicht schon längst irgendwo aufgeknüpft.«

»Ja, weiß Gott, ich hab sogar gehört, wie einer sagte, wenn sie den freiließen, dann sollte er sofort gelyncht werden. Oh, du meine Güte!«

»Und das täten sie auch, so wahr ich hier steh!«

Lange noch schwatzten die Jungen so zusammen, aber Trost brachte es ihnen nicht. Mittlerweile brach die Dämmerung ein und sie befanden sich plötzlich vor dem kleinen, einsamen Gefängnis, in der uneingestandenen Hoffnung, ein gütiges Geschick könne irgendeine Wendung zum Bessern herbeiführen, wodurch sie von ihrer Qual befreit würden. Es geschah aber nichts. Die Engel und alle guten Geister schienen ihre Hände von dem unglücklichen Gefangenen abgezogen zu haben.

Wie oftmals zuvor schon traten die Jungen zu dem kleinen Gitter heran und reichten Potter Tabak und Feuerzeug hindurch. Der lag am Boden und Wächter waren keine da.

Seine rührende Dankbarkeit hatte ihnen zuvor schon tief ins Herz geschnitten und tat’s diesmal mehr als je. Als feige, elende Verräter der schlimmsten Art aber fühlten sie sich, wie Potter sagte:

»Ihr seid ungeheuer gut gewesen gegen mich, Jungens, – besser als irgendwer in der Stadt, Und ich gedenk’s euch, weiß Gott, ich tu’s. Oft sag ich zu mir selber: Hast doch all deiner Lebtag den Jungen nur Gutes getan, hast den Schlingeln die Drachen geflickt und die besten Fischplätze gewiesen, aber nee, Dankbarkeit gibt’s nicht, alle haben den alten Muff vergessen, der jetzt so tief in der Tinte sitzt, alle – nur der Tom nicht und der Huck nicht, die haben ihn nicht vergessen, sag ich, und der alte Muff, der vergißt sie auch nicht. Seht, Jungens, ich hab ja was Furchtbares getan, so betrunken und verrückt wie ich war, nur so kann ich’s mir erklären, jetzt soll ich baumeln dafür und geschieht mir schon recht. Es geschieht mir recht, sag ich, und ’s wird wohl auch das beste für mich sein, glaub ich. Na, wollen’s gut sein lassen, nicht weiter davon schwatzen. Möcht nicht, daß euch schwer ums Herz wird, weil ihr so gut gegen mich gewesen seid. Was ich nur sagen wollt, Jungens, betrinkt euch nie, wenn ihr groß seid, dann müßt ihr auch niemals hier sitzen in dem schrecklichen Loch. Wie, stellt euch doch mal ’n bißchen so her, ’s ist ein Gottestrost, freundliche Gesichter zu sehen, wenn man so in der Patsche sitzt, und ich seh weiter keine als euere. Gute, freundliche Gesichter – gute, lieber Gesichter! Stellt euch doch mal so, steig mal einer auf den anderen, daß ich euch auch berühren kann, – so! So ist’s recht! Nun gebt mir die Hände, so, eure kleinen Pfoten können ja durchs Gitter durch, meine Tatzen sind zu breit dazu. Kleine Hände – kleine, schwache Hände, haben dem alten Muff Potter ’ne Masse Gutes getan und würden’s noch mehr tun, wenn sie könnten, gelt, Jungens? So, und nun trollt euch, sonst wird der alte Muff weich wie ein Waschlappen und das taugt nichts.«

Tom schlich sich elend und zerschlagen nach Hause und seine nächtlichen Träume waren aller Schrecken voll. Am folgenden Tag und den Tag darnach trieb er sich um den Gerichtssaal herum. Es zog ihn fast unwiderstehlich hinein, und er mußte sich mit aller Macht bezwingen, draußen zu bleiben. Huck ging es geradeso. Sie mieden einander nun geflissentlich. Sie liefen von Zeit zu Zeit hinweg, um sich alsbald von derselben unheimlichen Anziehungskraft zurückgetrieben zu sehen. Tom spitzte die Ohren, sobald eine Gruppe Neugieriger den Saal verließ, hörte aber nur Schlimmes und Schlimmeres, die Kette der Beweise schloß sich von Minute zu Minute eherner und unerbittlicher um den armen Potter. Am Schluß der zweiten Tagessitzung hieß es, daß des Indianer-Joe Aussage fest und unerschütterlich gleich einer Mauer stünde, und darüber, wie das Verdikt der Geschworenen ausfiele, könne kaum noch ein Zweifel bestehen.

An diesem Abend trieb sich Tom noch sehr spät draußen herum, kam durchs Fenster heim und befand sich in einem Zustand furchtbarster Aufregung. Stundenlang wälzte er sich auf seinem Lager, ehe er einschlafen konnte.

Des anderen Morgens strömte die ganze Stadt dem Gerichtssaal zu, denn heute war ja der große Tag, an dem die Entscheidung fallen sollte. Beide Geschlechter waren gleich zahlreich vertreten unter der dicht gedrängten Zuhörerschaft. Nach langer Pause des Wartens traten die Geschworenen in den Saal und nahmen ihre Plätze ein. Kurz darnach brachte man Potter herein, bleich, hohlwangig, in Ketten. Verschüchtert und hoffnungslos saß er da, während all die neugierigen Augen ihn erbarmungslos anstarrten. Ebenso fiel der Indianer-Joe auf, der stumpfsinnig dreinstierte, wie gewöhnlich. Eine neue Pause folgte, dann erschien der Richter, und der Scherif verkündete den Beginn der Verhandlung. Das übliche Köpfezusammenstecken und Geflüster der Advokaten und das Rascheln und Zurechtkramen der Papiere folgte. Alles dies, in Verbindung mit den daraus entstehenden Verzögerungen, bildete eine ebenso eindrucksvolle als unheimliche Einleitung zu dem folgenden Drama.

Nunmehr wurde ein Zeuge aufgerufen, welcher aussagte, daß er Muff Potter in frühester Morgenstunde des Tages, der die Entdeckung der Mordtat brachte, gesehen habe, wie sich derselbe am Bache wusch und sich sofort heimlich davonschlich, als er sich beobachtet sah. Nach einigen weiteren Fragen überwies der Staatsanwalt den Zeugen der beklagten Partei: »Der Herr Verteidiger hat das Wort.«

Für einen Moment erhob der Angeklagte die Augen, senkte sie aber sofort nieder, als sein Verteidiger sagte:

»Ich verzichte darauf.«

Der nächste Zeuge beschwor, daß man das Messer in der Nähe der Leiche gefunden. Wieder wies der Staatsanwalt den Zeugen dem Verteidiger zu, und abermals verzichtete dieser auf jede Frage.

Ein dritter Zeuge gab an, das Messer in dem Besitz Potters gesehen zu haben. Der Staatsanwalt überweist denselben zum drittenmal an den Verteidiger:

»Der Herr Verteidiger hat das Wort.«

Und zum drittenmal erwiderte dieser ruhig und kalt:

»Ich verzichte!«

Eine leise Unruhe begann sich im Publikum bemerkbar zu machen. Wollte dieser Verteidiger denn das Leben seines Klienten ohne jeglichen Versuch zur Rettung preisgeben?

Mehrere Zeugen sagten aus, wie sich Potter unverkennbar schuldbewußt benommen, da man ihn zum Schauplatz der Tat gebracht. Auch sie konnten den Zeugenstand ohne weiteres Kreuzverhör verlassen.

Jede Einzelheit der äußerst gravierenden Vorfälle, die an jenem denkwürdigen Morgen auf dem Friedhofe stattgefunden und deren sich jeder Anwesende erinnerte, wurde von glaubwürdigen Zeugen erhärtet, nicht einen dieser Zeugen aber unterwarf Potters Verteidiger auch nur dem kleinsten Verhör. Die Verblüffung und Unzufriedenheit des Publikums hierüber gab sich in lautem Murren kund, was von seiten des Vorsitzenden einen Tadel und einen Verweis zur Folge hatte. Jetzt nahm der Staatsanwalt das Wort:

»Durch den Eid ehrenwerter Männer erhärtet, deren einfaches Wort über jeden Verdacht erhaben ist, sehen wir uns gezwungen, das Verbrechen, um das es sich hier handelt, dem unglücklichen Beklagten zur Last zu legen. Wir halten den Fall hiermit für erwiesen.«

Ein Stöhnen entrang sich des armen Potters gequälter Brust, er schlug die Hände vors Gesicht und wiegte den Oberkörper hin und her, im Übermaß des Schmerzes. Tiefes, lautloses, peinliches Schweigen herrschte im Hause. Manch hartes Mannesherz war bewegt, und der Frauen Mitleid bezeugte sich in Strömen von Tränen. Endlich ergriff der Verteidiger das Wort:

»Meine Herren Richter und Geschworenen, – Bei Beginn dieser Verhandlung gaben wir unsere Absicht kund, zugunsten unseres Klienten geltend zu machen, daß er die furchtbare Tat in dem Zustand eines durch Übermaß geistiger Getränke herbeigeführten sinnlosen Deliriums beging, ein Zustand, der an sich schon jede Verantwortung ausschließen sollte. Wir haben diese Absicht aufgegeben, wir werden uns hierauf nicht weiter berufen.«

Sich zum Gerichtsdiener wendend rief er dann:

»Man führe Thomas Sawyer vor!«

Verwundertes Staunen zeigte sich auf jedem Antlitz, dasjenige Potters nicht ausgenommen. Jedes Auge haftete in steigendem Interesse an Tom, als dieser sich nun erhob und dem Zeugenstand zuschritt. Verwirrt genug sah der Knabe aus und war dabei augenscheinlich in höchster Angst. Das Verhör begann:

»Thomas Sawyer, wo befanden Sie sich am siebzehnten Juni, um die Mitternachtsstunde?«

Tom streifte flüchtig mit seinem Blick die eiserne Stirn des Indianer-Joe, und die Zunge versagte ihm den Dienst. Atemlos lauschte die Menge, die Worte wollten nicht kommen. Nach ein paar Augenblicken jedoch raffte sich der Junge zusammen, es gelang ihm, Gewalt über seine Stimme zu bekommen, soweit wenigstens, daß er einem Teil des Hauses verständlich wurde:

»Auf dem Friedhofe.« »Ein wenig lauter, bitte. Nur keine Angst! Sie waren also –«

»Auf dem Friedhofe.«

Ein verächtliches Lächeln zuckte über das Gesicht des Indianer-Joe.

»Befanden Sie sich irgendwo in der Nähe vom Grabe des alten William?«

»Ja, Herr Anwalt.«

»Könnten Sie nicht ein klein wenig lauter reden? Wie nahe ungefähr waren Sie wohl?«

»So nahe, wie ich hier bei Ihnen stehe.«

»Hielten Sie sich versteckt oder nicht?«

»Ich war versteckt.«

»Wo?«

»Hinter den Ulmen, die dort dicht beim Grabe stehen.«

Der Indianer-Joe fuhr fast unmerklich zusammen.

»War noch sonst jemand mit Ihnen?«

»Ja, ich war dorthin gegangen mit –«

»Halt, einen Augenblick. Wir wollen den Namen noch nicht hören, darauf kommen wir später zurück. Hatten Sie etwas mitgebracht?«

Tom zögerte und sah verwirrt vor sich nieder.

»Heraus damit, mein Junge, nur nicht ängstlich. Die Wahrheit zu reden ist immer ehrenhaft. Also, was hattest du bei dir?«

Unbewußt war der Frager von dem förmlichen Ton eines öffentlichen Inquirenten in den aufmunternden, väterlichen verfallen, der unserem Helden gegenüber weit mehr am Platze war, Dadurch ermutigt, stammelte dieser zögernd:

»Nur – nur – nur ’ne tote Katze!«

Ein leises Gekicher ließ sich vernehmen, dem sofort Einhalt geboten wurde.

»Wir werden uns späterhin erlauben, das betreffende Gerippe den Herren Geschworenen als Beweis vorzulegen. Und jetzt, mein Sohn, erzähl du mir alles, was du gesehen hast, erzähl’s ganz schön auf deine Art, verbirg uns nichts, vergiß nichts und vor allem fürcht dich nicht.«

Tom begann – stotternd, zögernd im Anfang, da er sich aber mit seinem Thema erwärmte, flossen ihm die Worte leichter und leichter. Nach ein paar Momenten erstarb jedes andere Geräusch im ganzen weiten Saale, nur der Laut der klaren, hellen Knabenstimme war hörbar. Jedes Auge war auf den Jungen gerichtet, offenen Mundes, mit verhaltenem Atem folgte man seinen Worten, Richter, Geschworene, Publikum schienen der Welt entrückt, so gefesselt waren sie von der drastischen Schilderung der grausigen Tat. Die atemlose Erregung der Versammlung hatte ihren Höhepunkt erreicht, als der Junge sagte: »Und wie der Doktor mit dem Brett auf den Muff Potter einhieb und der umfiel, da sprang der Indianer-Joe mit dem Messer auf und –«

Krach! Rasch wie der Blitz war der Indianer-Joe mit einem Sprung emporgeschnellt, dem Fenster zugestürzt, die ihm im Weg Stehenden zur Seite schleudernd, und ehe man zur Besinnung kam, hatte er sich hindurchgeschwungen und – war verschwunden!

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Entzücken und Grauen.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Wiederum war Tom zum strahlenden Helden der Stadt geworden, – ein Liebling der Alten, der Neid der Jugend. Sein Name wurde sogar durch den Druck unsterblich gemacht, das Blättchen der Stadt erging sich in vielen Lobpreisungen seiner Heldentat. Einige seiner Mitbürger dachten allen Ernstes daran, daß er Aussicht haben könne, einstmals Präsident zu werden – d.h., wenn er nicht zuvor gehenkt würde.

Wie gewöhnlich schloß die unbeständige, gedankenlose Welt Muff Potter jetzt an ihr Herz, schmeichelte ihm und hätschelte ihn so ausgiebig, wie sie ihn zuvor beschimpft hatte. Da ihr dies Verfahren im Grund aber zur Ehre gereicht, wollen wir’s nicht weiter tadeln.

Toms Tage waren Tage des Glanzes und des Entzückens, seine Nächte dagegen Zeiten des Grauens. Der Indianer-Joe spukte in all seinen Träumen, Tod und Vernichtung standen ihm im Gesichte geschrieben. Keine Versuchung, noch so groß, gab es nun, die den Jungen hätte bewegen können, nach Einbruch der Nacht sich hinauszuwagen. Der arme Huck befand sich ganz im selben Zustand des Schreckens und Entsetzens, denn Tom hatte am Abend vor der letzten Gerichtsverhandlung dem Verteidiger von Muff Potter die ganze Sache haarklein gebeichtet und Huck zitterte davor, daß sein Anteil an der Geschichte doch noch ruchbar werden könnte, trotzdem ihm des Indianer-Joe Flucht die Qual eines öffentlichen Erscheinens vor Gericht erspart hatte. Der arme Bursche hatte freilich den Herrn Verteidiger beschworen, reinen Mund zu halten, und dieser hatte es ihm auch versprochen; aber welche Sicherheit bot ihm das? Seit die Gewissensqual Tom dazu getrieben, dem Verteidiger bei Nacht und Nebel jenes grause Geheimnis zu enthüllen, das ihm mit schauerlichen, unheimlichen Eiden für ewig auf die Lippen gesiegelt schien, war Hucks Vertrauen in das menschliche Geschlecht erschüttert, ja vernichtet. Alltäglich erfüllten Muff Potters rührende Dankesbeweise Tom mit Freude und Stolz, daß er geredet, und allnächtlich wünschte er inständig, das Geheimnis bewahrt zu haben. Einmal fürchtete Tom, man möchte den Indianer-Joe niemals erwischen, dann wieder entsetzte ihn der Gedanke, daß man ihn doch später finden könne. Er fühlte mit Bestimmtheit, daß er keinen ruhigen Atemzug mehr tun könne, ehe dieser Mensch nicht tot sei und er seine Leiche gesehen habe.

Belohnungen waren ausgesetzt, die ganze Gegend durchsucht worden, aber kein Indianer-Joe wurde gefunden. Man hatte eines jener allwissenden, scheue Ehrfurcht einflößenden Wunderwesen, einen Detektiv aus St. Louis, verschrieben. Der schnüffelte umher, schüttelte sein weises Haupt, sah geheimnisvoll aus, und hatte denselben erstaunlichen Erfolg, den die meisten Angehörigen seines Berufes erringen, das heißt, er entdeckte, wie er sagte, »den Schlüssel zum Rätsel«. Da man aber besagten Schlüssel nicht des Mordes verklagen und henken konnte, fühlte sich Tom, nachdem der weise Mann gegangen, ebenso unsicher als zuvor.

Die Tage schleppten sich langsam dahin, zum Glück aber nahm ein jeder neue Tag ein klein wenig von der Seelenangst mit sich hinweg, die auf dem armen Knaben lastete.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Die Schatzgräber

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Es naht einmal eine Zeit in dem Leben eines jeden Jungen von echtem Schrot und Korn, wo er ein rasendes Verlangen empfindet, nach verborgenen Schätzen zu graben. Dies Verlangen nun überfiel eines Tages unseren Tom mit Allgewalt. Er wollte sich gleich mit Joe Harper in Verbindung setzen; dieser war jedoch nicht zu finden. Dann schaute er sich nach Ben Rogers um, und der war fischen gegangen. Zufällig stieß er auf Huck Finn, den »Rothändigen«, und in Ermangelung der anderen war ihm dieser auch recht. Tom zog ihn beiseite an einen geheimen Ort und teilte ihm im Vertrauen den Plan mit. Huck war einverstanden. Huck war immer bereit, die Hand zu irgendeinem Unternehmen zu bieten, welches Vergnügen versprach und kein Kapital erforderte, denn er hatte einen Überfluß von der Zeit, die kein Geld ist.

»Wo sollen wir graben?« fragte Huck.

»Na, so ’n bißchen überall.«

»Was? Gibt’s denn überall ’nen Schatz?«

»Wie du nur so fragen magst! Die sind immer nur an ganz besonderen Plätzen. Mal auf ’ner Insel, dann in ’ner alten verfaulten Kiste, die unter einem alten vermoderten Baumstamm verscharrt ist, grad da, wo der Schatten um Mitternacht hinfällt; gewöhnlich aber steckt der Schatz unterm Boden eines Hauses, in dem’s spukt.«

»Wer steckt ’n denn da hin?«

»Wer? Ei Räuber natürlich, wer denn sonst? Etwa ’n Vikar, der die Sonntagsschule hält, was?«

»Was weiß ich? Das weiß ich aber gewiß, ich würd den Schatz nicht irgendwo vergraben, wenn er mein wär, sondern nehmen und ausgeben und lustig damit leben.«

»Ich auch. Räuber aber machen’s anders, die vergraben ihn immer und lassen ihn liegen.«

»Und gucken gar nie mal darnach?«

»Nee. Sie wollen wohl, aber dann haben sie die Zeichen vergessen, oder sterben gewöhnlich. Na, auf jeden Fall liegt der Schatz da ’ne Ewigkeit und wird rostig. Und dann nach einiger Zeit entdeckt mal einer ein altes, gelbes Papier, auf dem steht, wie man die Zeichen finden kann, ein Papier, an dem man ’ne Woche lang und länger ‚rumbuchstabieren und entziffern muß, denn ’s steht nichts weiter drauf, als geheimnisvolle Krakelfüße und Hieroglyphen.«

»Hiero – was?«

»Hieroglyphen – Bilder und Gekritzel und solches Zeug, von dem man meint, es habe gar keinen Sinn.«

»Hast du denn so ’n Papier, Tom?«

»Nee.«

»Na, und wo willst du denn da die Zeichen finden?«

»Zeichen? Ich brauch keine Zeichen. Ich weiß ja genau, daß der Schatz immer unter ’nem Spukhaus, oder auf ’ner Insel, oder unter ’nem alten toten Baum liegt, der noch einen abgestorbenen Ast in die Höhe streckt. Na, wir haben ja die Jacksoninsel schon mal ’n bißchen abgesucht, dort können wir’s noch mal probieren. Dann haben wir ja das alte, verfallene Spuknest, droben am Stillhausbach, und Haufen von alten abgestorbenen Bäumen überall, – Haufen, sag ich dir!«

»Na, und unter allen liegt einer vergraben?«

»Unsinn! Du fragst wie du’s verstehst. Natürlich nicht.«

»Wie willst du dann aber wissen, welches der rechte ist?«

»Ei, wir probieren’s eben überall.«

»Herrgott, Tom, da geht ja der ganze Sommer drauf.«

»Das wohl! Gelt, wenn du dann aber ’nen alten Topf mit hundert blitzeblanken Dollars drin kriegst, oder ’ne Kiste voll Diamanten, dann wärst du nicht böse?«

Hucks Augen glühten.

»Das – das wär ’n Fressen für mich; das Geld genügte mir, die Diamanten ließ ich dir!«

»Schon recht. Ich werf sie nicht weg, sag ich dir, Dummkopf! Ei, einer davon ist oft mehr wert, als zwanzig Dollars, ’s gibt keinen, der nicht zum wenigsten sechzig, siebzig Cents oder ’nen Dollar gilt.«

»Nee! Wahrhaftig?«

»Na, das kann dir ’n Wickelkind sagen! Hast du denn nie mal einen gesehen, Huck?«

»Nee. Nicht daß ich wüßte!«

»O, Könige haben ganze Haufen davon.«

»Na, ich kenn aber keine Könige, Tom.«

»Glaub’s wohl! Nee, wenn du mal nach Europa gingst, könntst du sie in Scharen ‚rumhopsen sehen.«

»Hopsen die denn?«

»Hopsen? – Bist wohl verrückt? Nein, hopsen tun sie nicht.«

»Na, was sagst du’s denn?«

»Däsbartel! Ich wollt ja nur sagen, dann könntst du sie sehen, – nicht hopsen, natürlich, – weshalb sollten sie denn hopsen? Ich meinte nur, so im allgemeinen würdest du ’ne Menge davon sehen, überall ‚rum. Zum Beispiel den alten, buckligen Richard.«

»Richard – wie heißt er weiter?«

»Ei, Richard bloß, hat keinen anderen Namen. Könige haben nur einen Rufnamen.«

»Wahrhaftig?«

»Weiß Gott, sie haben nur einen.«

»Na, wenn’s ihnen recht ist, Tom, mir kann’s eins sein. Ich möcht aber kein König sein und nur so einen lumpigen Namen haben, grad wie ’n elender Nigger. Aber sag mal, wo wollen wir denn zuerst graben?«

»Weiß selber nicht. Wie wär’s, wenn wir uns mal zuerst an den alten Baum machten, da drüben auf dem Hügel überm Stillhausbach?«

»Mir recht!«

So verschafften sie sich denn eine alte, ausgediente Hacke und Schaufel und machten sich auf ihren Marsch von drei Meilen. Heiß und außer Atem kamen sie an und warfen sich zum Ausruhen in den Schatten einer benachbarten Ulme, holten ihre Pfeifen hervor und dampften wacker darauf los.

»So mag ich’s«, sagte Tom.

»Ich auch.«

»Sag mal, Huck, wenn wir hier ’nen Schatz finden, was willst du dann mit deinem Teil anfangen?«

»Ich? Ei, ich eß jeden Tag Kuchen und Pasteten, und trink Wein und Sodawasser dazu. Und dann geh ich in jeden Zirkus, der kommt und – na, ich will mir schon ein vergnügtes Leben machen!«

»Und sparen willst du dir gar nichts?«

»Sparen? Zu was?«

»Ei, um später was zum Leben zu haben.«

»Würd mir nichts helfen, Tom. Mein Alter kommt gewiß mal wieder zum Vorschein, und wenn ich’s nicht vorher tät, hätt‘ der bald genug mit allem aufgeräumt, darauf wett ich. Was willst du denn mit deinem Teil anfangen, Tom?«

»Ich? ich kauf mir erst mal eine neue Trommel und ein richtiges Schwert und eine rote Krawatte und ’ne junge Bulldogge und dann – dann verheirat ich mich.«

»Verheiratst dich?«

»Jawohl.«

»Tom, du – bist wohl übergeschnappt?«

»Wart nur – dann sollst du’s erleben.«

»Na, Tom, das ist einfach das Dümmste, was du tun kannst. Nimm nur mal meinen Alten und meine Mutter an. Nichts als Keilerei! Die haben immerzu aufeinander losgedroschen, das weiß ich noch ganz gut.«

»Das will gar nichts sagen. Das Mädchen, das ich heirat, prügelt sich nicht herum.«

»Tom, glaub’s nicht, die sind alle gleich. Das Zuhauen versteht ’ne jede. Überleg dir’s noch ein Weilchen, sag ich dir – überleg dir’s. Wie heißt denn das Mädel?«

»’s ist kein Mädel – es ist ein Mädchen.«

»Na, das kommt auf eins heraus. Mädel oder Mädchen, ’s ist ganz dasselbe, gehupft wie gesprungen! Na also, wie heißt sie, Tom?«

»Will dir’s vielleicht später mal sagen. Jetzt nicht.«

»Mir auch recht. Nun werd ich, wenn du dich verheiratst, noch viel alleiner sein als je.«

»Nein, das sollst du nicht. Du kommst und wohnst bei mir. Na, jetzt laß uns aber vorwärts machen und an die Arbeit gehen.«

Eine halbe Stunde lang gruben und schwitzten sie. Kein Erfolg. Noch eine halbe Stunde der Mühe und des Schweißes. Derselbe Erfolg. Jetzt sagte Huck:

»Liegt so ’n Schatz immer so tief drunten?«

»Manchmal, – nicht immer. Gewöhnlich nicht. Wir haben eben vermutlich nicht den richt’gen Platz getroffen.«

Sie wählten eine andere Stelle und fingen von neuem an. Etwas weniger rasch als im Anfang ging die Arbeit vonstatten, doch machten sie Fortschritte. Stillschweigend mühten sie sich eine Weile ab. Schließlich stützte sich Huck auf seine Schaufel, wischte sich mit seinem Ärmel die Schweißtropfen von der Stirn und fragte:

»Wo gehen wir nachher hin, wenn wir hier fertig sind?«

»Ei, an den alten Baum, denk ich, der dort auf dem Cardiffhügel hinter dem Haus der Witwe Douglas steht.«

»Einverstanden! Wird uns aber die Witwe den Schatz nicht wegnehmen? Der Baum steht doch auf ihrem Boden.«

» Die uns wegnehmen? Sollt’s mal probieren! Wer so ’nen Schatz findet, dem gehört er auch. ’s kommt gar nicht drauf an, wo er gefunden wird.«

Das lautete beruhigend. Die Arbeit schritt vor. Endlich sagte Huck:

»Hol’s der Geier! ’s muß wieder der falsche Platz sein. Was meinst du?«

»Sonderbar ist’s, Huck, ich versteh’s nicht recht. Manchmal steckt Hexerei dahinter. Vielleicht ist’s jetzt auch hier so.«

»Dummes Zeug! Hexen haben am Tag keine Macht.«

»Wahr ist’s, daran hab ich nicht gedacht. Ach, jetzt weiß ich, was schuld ist! Was wir für einfältige Narren sind! Man muß ja doch erst wissen, wo der Schatten des Baumes um Mitternacht hinfällt, und da liegt der Schatz.«

»Na, dann hol’s der Teufel! Dann ist ja die ganze Graberei umsonst gewesen. Hol’s der Henker, alles mit’nander, müssen also in der Nacht den scheußlich weiten Weg noch einmal machen! Kannst du loskommen?«

»Freilich kann ich. Heut nacht muß es jedenfalls sein, denn wenn einer kommt und sieht die Wühlerei und die Löcher, dann weiß er gleich, was los ist, macht sich selber dahinter und schnappt uns am Ende die Bescherung vor der Nase weg.«

»Gut also. Ich werd diese Nacht kommen und miauen.«

»Schön. Komm her, wir verstecken unsere Hacke und Schaufel im Gebüsch.«

Zur festgesetzten Zeit waren denn auch die Jungen in der Nacht an Ort und Stelle. Wartend saßen sie im Schatten. Es war ein einsamer Ort und eine von alters her feierliche Stunde. Geister flüsterten im raschelnden Laube, Gespenster lauerten in dunkeln Ecken und Winkeln, das dumpfe, tiefe Gebell eines Hundes erscholl aus der Ferne, dem eine Eule mit hohler Grabesstimme antwortete. Diese ahnungsvolle Feierlichkeit der Stunde lastete auf den beiden Jungen, sie sprachen wenig. Nach einer Weile, als sie dachten, nun müsse Mitternacht da sein, machten sie einen Strich, wo der Mondschein den Schatten des Baumes hinwarf, und begannen zu graben, Ihre Hoffnungen stiegen. Das Interesse wuchs und der Fleiß hielt ehrlich Schritt, Das Loch wurde tiefer und tiefer, aber jedesmal, wenn sie die Hacke auf etwas Festes aufklingen hörten, und ihnen das Herz voll freudiger Hoffnung laut klopfte, war’s nichts als erneute Enttäuschung. Ein Stein war’s gewesen, oder ein alter Holzknüppel! Endlich sagte Tom:

»Es nutzt nichts, Huck, ’s ist wieder der falsche Platz.«

»’s kann nicht sein, Tom, wir haben ja den Schatten aufs Haar abgezirkelt.«

»Weiß ich. Aber da ist noch was anderes.«

»Was denn?«

»Ja sieh. Wir haben doch die Zeit nur so ungefähr erraten. Am Ende war’s zu spät oder zu früh.«

Huck ließ die Schaufel sinken.

»Das ist’s, weiß Gott!« sagte er, »Da liegt der Hund begraben! Ich meine, wir lassen die Sache bleiben. Wie sollen wir je die richtige Zeit herausfinden, und außerdem – ’s ist so gruselig hier um die Zeit in der Nacht mit all den Geistern und Gespenstern, die nur so in der Luft herumflattern. Ich mein‘ immerzu, ’s stünd einer hinter mir, aber ich fürcht mich, herumzuschauen, weil ja auch einer vor mir sein könnt, der nur auf die Gelegenheit wartet, bis ich den Kopf dreh. Seit ich hier bin, läuft’s mir fortwährend eiskalt über den Rücken!«

»Mir geht’s beinah ebenso, Huck. Weißt du, meistens liegt auch bei so ’nem Schatz irgendein toter Mensch vergraben, der Wache halten soll.«

»Herr, du mein Gott!«

»Ja, so ist’s, das hab ich oft gehört.«

»Tom, ich befaß mich nicht gern mit den Toten, Die machen einem immer nur Ungelegenheiten.«

»Ich Hab auch keine Lust, sie aufzuwecken. Denk mal, wenn der hier plötzlich seinen Schädel ‚rausstreckte und was sagen wollte.«

»Tom, Tom, hör auf, ’s ist schauerlich!«

»Das ist’s, Huck, Mir ist auch kein bißchen wohl dabei, sag ich dir.«

»Komm, Tom, wir stecken’s auf und graben mal wo anders.«

»Gut, ’s ist am End besser.

Tom dachte ein Weilchen nach und sagte dann:

»Im Gespensterhaus. Das ist der richt’ge Ort!«

»Hol’s der Geier, Ich mag keine Häuser, in denen’s spukt, Tom. Weiß Gott, Gespenster sind fast noch schlimmer als tote Menschen. Die mögen meinethalben mal plötzlich, ohne daß man daran denkt, den Mund auftun und einen erschrecken, aber die kriechen doch nicht herum in ihren Leichentüchern wie die Gespenster, und sehen einem plötzlich über die Schulter, wenn man gar nicht an sie denkt, und klappern mit den Zähnen und Beinern, Das könnt ich nicht aushalten, Tom, – kein Mensch könnt so was.«

»Ja aber, Huck, Gespenster spuken doch nur in der Nacht. Am Tag werden sie uns dort am Graben nicht hindern.«

»Das ist wohl wahr. Aber du weißt selber, daß keiner hier gern dem Gespensterhaus nah geht, bei Tag nicht und nicht bei Nacht!«

»Na, das ist doch auch nur, weil mal einer da ermordet worden ist. Aber gesehen hat man nie was Unheimliches in der Nacht um das Haus herum, höchstens mal ’n blaues Licht am Fenster vorbeihuschen, – keine richtigen Gespenster.«

»Na, wo du aber so ’n blaues Flämmchen siehst, Tom, kannst du Gift drauf nehmen, daß ’n Geist dicht dahinter ist. Das ist doch so klar wie was! Denn wer anders als Geister braucht so ’n Licht?«

»Das kann sein. Aber auf keinen Fall kommen sie bei Tag heraus. Also brauchen wir uns gar nicht zu fürchten.«

»Gut, mir soll’s recht sein. Wir wollen das Gespensterhaus vornehmen. Aber – aber ich glaub, riskiert ist’s doch!«

Unter diesem Geplauder waren sie am Fuß des Hügels angelangt. Dort, inmitten des mondbeglänzten Tales, stand das »Gespensterhaus«, gänzlich vereinsamt, mit längst verfallener Umzäunung. Üppig rankendes Unkraut überzog Treppenstufen und Türschwelle, der Schornstein war in Trümmer zerfallen; leer starrten die Fensterhöhlen, ein Teil des Daches war eingesunken. Eine Weile blickten die Jungen unverwandt auf den gespenstigen Ort, immer halb in Erwartung, die blauen Flämmchen hinter den Fenstern vorbeihuschen zu sehen. Sie sprachen im Flüstertone, wie es zu Zeit und Umständen paßte. Dann rissen sie sich los von der unheimlichen Stätte, die sie in weitem Bogen umkreisten, und schlugen sich heimwärts durch die Wälder, welche die Rückseite des Cardiffhügels mit ihrem Grün schmückten.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Das Gespensterhaus.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Um die Mittagsstunde des nächsten Tages fanden sich die Jungen wiederum am Schauplatz ihrer nächtlichen Taten ein, um ihr Werkzeug zu holen, Tom war sehr ungeduldig und konnte gar nicht schnell genug nach dem »Gespensterhaus« kommen. Huck, etwas gemäßigter in seinem Eifer, sagte plötzlich:

»Sag mal, Tom, weißt du, was heut für ’n Tag ist?«

Tom ließ im Geiste die Wochentage an sich vorüberziehen und hob dann den Kopf erschreckten Blickes:

»Ei, der Tausend, daran hab ich gar nicht gedacht, Huck.«

»Na, ich zuerst auch nicht. Mit einem Male aber fiel’s mir siedend heiß ein, daß heut Freitag sei.«

»Potz Blitz! man kann doch nie vorsichtig genug sein, Huck. Wir hätten schön in die Patsche geraten können, wenn wir mit so was am Freitag angefangen hätten.«

»Hätten geraten können? Ich sag, wären geraten! ’s gibt Glückstage, aber der Freitag ist keiner!«

»Das weiß jeder Narr. Du denkst doch nicht, daß du der erste bist, der das herausgefunden, Huck?«

»Hab ich das vielleicht gesagt? Und der Freitag allein ist noch nicht alles – hab ’nen scheußlich schlechten Traum gehabt, heut nacht – hab von Ratten geträumt.«

»Ist’s möglich? Na, ’n sicheres Zeichen von Pech. Bissen sie sich herum?«

»Nein.«

»Na, dann ist’s gut, Huck. Wenn sie sich nicht herumbeißen, soll’s nur bedeuten, daß irgendwo Unheil lauert, weißt du. Da brauchen wir einfach nur die Augen gut aufzumachen und dem Pech aus dem Wege zu gehen. Auf jeden Fall aber wollen wir’s heut sein lassen und lieber spielen. Kennst du Robin Hood, Huck?«

»Nee, wer ist’s?«

»Oh, der war einer der größten Männer, die je in England lebten, und der beste dazu. Er war ein Räuber.«

»Patent! Wollt, ich wär’s. Wen hat er denn beraubt?«

»Ei, nur Scherifs und Bischöfe und reiche Leute und Könige und dergleichen. Die Armen aber ließ er ganz in Ruhe, die hatte er lieb. Mit denen hat er immer alles ganz brüderlich geteilt.«

»Das muß ja ’n Staatskerl gewesen sein.«

»Das war er, weiß Gott, Huck. Das war einfach der beste Mensch, der je gelebt hat. So gibt’s jetzt gar keine Menschen mehr, sag ich dir. Der konnte jeden Mann in England zwingen mit einer Hand, man durfte ihm die andere festbinden. Und dann nahm er seinen Eibenbogen und traf jedes Zehncentstück auf anderthalb Meilen Entfernung.«

»Was ist denn ein Eibenbogen?«

»Was weiß ich? Eben irgendein Bogen natürlich. Und wenn er dann das Geldstück nur am Rande traf, statt in der Mitte, da setzte er sich hin und weinte – und fluchte. Komm, laß uns Robin Hood spielen, ’s ist fein, sag ich dir. Ich zeig’s dir, wie.«

»Mir recht.«

So spielten sie denn Robin Hood den ganzen Nachmittag, hier und da einen sehnsüchtigen Blick nach dem alten »Gespensterhaus« da unten werfend und sich über die Aussichten und Möglichkeiten des folgenden Tages unterhaltend. Als die Sonne bedenklich gen Westen sich neigte, schlugen sie den Heimweg ein, quer durch die langen Schatten, welche die Bäume nun warfen, und waren bald in den Wäldern des Cardiffhügels dem Auge entschwunden.

Am Sonnabend, kurz nach der Mittagsstunde, stellten sich die Jungen wieder an jenem bewußten alten Baume ein. Erst rauchten und schwatzten sie ein Weilchen im Schatten desselben, dann wühlten sie noch ein wenig in ihrem letzten Loch herum, nicht sehr hoffnungsvoll allerdings, sondern nur, weil Tom meinte, es sei schon so oft vorgekommen, daß man beim Schatzgraben dem gesuchten Schatz auf sechs Zoll Entfernung nahegekommen und das Ding darnach mutlos aufgegeben habe, nur damit ein anderer dann mit einem einzigen Spatenstich die ganze Herrlichkeit entdecke. Die Sache schlug indes wieder fehl, und so schulterten die Jungen ihr Werkzeug und gingen davon, in dem erhebenden Bewußtsein, mit dem Glück nicht gespielt zu haben, sondern im Gegenteil jedes Erfordernis getreulich erfüllt zu haben, das zu dem Geschäft des Schatzgrabens gehört.

Als sie das Gespensterhaus erreichten, lag etwas so Schauerliches und Unheimliches in der Totenstille, die dort unter der sengenden Sonnenglut herrschte, etwas so Bedrückendes in der Einsamkeit und Verlassenheit des Ortes, daß die Jungen einen Moment lang sich nicht getrauten hineinzugehen. Dann schlichen sie nach der Tür und hielten zitternd Umschau, Sie sahen eine mit Unkraut überwucherte Stube vor sich, den Boden ohne Dielen, die Wände ohne Bewurf, mit einem eingesunkenen Kamin, mit leeren Fensterhöhlen und einer halb verfallenen Treppe. Allenthalben hingen Fetzen von verstäubten, verlassenen Spinngeweben herum. Vorsichtig, zögernd traten die Jungen ein, beschleunigten Pulses, im Flüsterton redend, gespitzten Ohres, bereit, den geringsten Laut aufzufangen, die Muskeln gespannt, um jeden Moment zum Rückzug bereit zu sein.

Bei näherer Bekanntschaft mit dem Ort verringerte sich allmählich ihre Furcht, und unsere beiden Helden unterwarfen die Lokalität einer genauen und eingehenden Prüfung, nicht ohne dabei im stillen ihre eigene Kühnheit zu bewundern und zugleich darob zu erstaunen. Unten fertig, wollten sie sich nun auch oben umsehen. Das hieß soviel, als sich den Rückzug abschneiden, aber sie waren nun einmal im Zuge, sich gegenseitig im Herausfordern der Gefahr zu überbieten, und so warfen sie denn ihr Werkzeug in einen Winkel und stiegen hinauf. Oben fanden sie dieselben Zeichen des Verfalls, In einem Winkel entdeckten sie einen Wandschrank, der irgendein Geheimnis zu bergen versprach, – dies Versprechen war aber Täuschung und Betrug: der Schrank war leer. Der Mut schien ihnen nun voll und ganz wiedergekehrt, und eben waren sie im Begriff, hinunter und an die Arbeit zu gehen, als –

»Sscht!« sagte Tom.

»Was gibt’s?« flüsterte Huck, vor Schreck erbleichend.

»Sscht! Da! Hörst du?«

»Ja! Oh, du meine Güte! Laß uns rennen!«

»Still, halt dich ruhig und muckse dich nicht. Sie kommen grad auf die Tür los.«

Die Jungen streckten sich auf dem Boden aus, spähten mit den Augen durch die Astlöcher in den Dielen und warteten zitternd vor verhaltener Furcht und Erregung.

»Sie bleiben stehen – nein – sie kommen – da – da sind sie. Kein Wort mehr, Huck. Herrgott, wären wir doch mit heiler Haut aus der Patsche!«

Zwei Männer traten ein. Jeder der Jungen sagte zu sich selber:

»Der eine ist der alte, taubstumme Spanier, den man in der letzten Zeit ein- oder zweimal in der Stadt gesehen hat, – den anderen kenn ich nicht.«

»Der andere« war ein zerlumpter, ungekämmter Kerl, dessen Gesicht nicht eben einnehmend war. Der Spanier war in seine »Serape« gehüllt, er hatte einen buschigen, weißen Schnauzbart; langes, weißes wehendes Haar stahl sich unter seinem breitrandigen Hute vor, dazu trug er grüne Augengläser. Als sie hereinkamen, redete eben »der andere« mit leiser Stimme auf ihn ein. Sie ließen sich auf dem Boden nieder, das Gesicht der Türe zugewandt und mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt. Der Sprechende fuhr in seinen Bemerkungen fort. Je länger er sprach, desto mehr verlor sich sein vorsichtiges Wesen und desto lauter wurden seine Worte.

»Nein,« sagte er, »ich hab’s mir überlegt, aber ich mag nicht, ’s ist mir viel zu gefährlich.«

»Gefährlich,« brummte der ›taubstumme‹ Spanier, zum größten Erstaunen der lauschenden Jungen, »Hasenfuß!«

Diese Stimme ließ die Jungen voll Entsetzen erbeben und nach Atem ringen. Es war die Stimme des Indianer-Joe.

Ein Schweigen folgte, dann sagte dieser:

»Was gibt’s wohl Gefährlicheres, als das letzte Stückchen, das ich dort drüben geliefert, – damit wies er mit dem Finger nach der Richtung der Stadt, – und ist da vielleicht was ‚rausgekommen dabei?«

»Das ist was anderes! Soweit flußaufwärts und kein anderes Haus in der Nähe! Wie soll überhaupt etwas ‚rauskommen, wenn wir keinen Erfolg gehabt haben.«

»Na, und was ist gefährlicher, als bei Tag hierherkommen? Ei jedem, der uns sähe, müßten wir doch verdächtig scheinen.«

»Das weiß ich. Aber nach dem dummen Stückchen von neulich war kein Platz so gelegen. Ich muß weg aus der Bude hier! Hab’s gestern schon gewollt, nur nutzte es nichts, da die verteufelten Jungens da oben beim alten Baum vor unserer Nase ihr Spiel trieben.«

Die »verteufelten Jungens« erbebten bei dieser Bemerkung und beglückwünschten sich innerlich, daß sie sich des Freitags erinnert und beschlossen hatten, einen Tag zu warten. Wie wünschten sie jetzt, statt eines Tages, ein Jahr gewartet zu haben! Die zwei Männer kramten nun Nahrungsmittel aus und machten sich eine Mahlzeit zurecht. Nach einer langen, gedankenvollen Pause sagte der Indianer-Joe:

»Will dir mal was sagen, Kamerad. Du machst dich wieder flußaufwärts, wo du hingehörst, und bleibst dort, bis du von mir Nachricht hast. Ich schleich mich noch mal in die Stadt, geh’s wie’s will, und halt Umschau. An das ›gefährliche Stückchen‹ gehen wir dann erst, wenn ich die Zeit dazu für gekommen halte. Dann auf und davon nach Texas!«

Dieser Plan ließ sich hören und fand keinen Widerspruch, Die Männer begannen zu gähnen und Joe sagte:

»Ich bin todmüde! An dir ist die Reihe zu wachen!«

Er kauerte sich zusammen und begann alsbald zu schnarchen. Sein Kamerad stieß ihn ein paarmal an, worauf er stille ward. Alsbald begann der Wächter zu nicken, sein Kopf sank tiefer und tiefer, nun schnarchten beide Männer.

Die Jungen holten tief und dankerfüllt Atem. Tom wisperte:

»Jetzt gilt’s, komm!«

Huck erwiderte:

»Ich kann nicht. Ich fiel geradeswegs tot hin, wenn sie aufwachen.«

Tom trieb, Huck zögerte. Schließlich erhob sich Tom vorsichtig und leise und schickte sich an, allein sein Heil zu probieren. Beim ersten Schritt aber, den er vorwärts tat, krachte die alte, vermorschte Diele so laut und so drohend, daß er plötzlich halbtot vor Schreck wieder umsank. Einen zweiten Versuch wagte er nicht. So lagen denn die Jungen und zählten die träge sich dahinschleppenden Sekunden, bis sie meinten, alle Zeit müsse aufgehört haben, ja die Ewigkeit schon grau geworden sein, und sie waren heißen Dankes voll, als sie bemerkten, daß die Sonne sich zu neigen begann.

Einer der Schlafenden hörte jetzt auf zu schnarchen. Der Indianer-Joe richtete sich empor, starrte um sich, lächelte grimmig über seinen Kameraden, dessen Kopf auf die Knie gesunken war, stieß ihn mit dem Fuße an, und sagte:

»Na, du bist ein Wächter, das muß ich sagen! Übrigens einerlei, ’s ist ja nichts passiert.«

»Meiner Treu, – ich hab doch nicht – hab ich wirklich geschlafen?«

»So ’n bißchen, sollt ich denken. Na, Zeit zum Abzug für uns, Kamerad! Was tun wir mit dem bißchen Baren, das wir noch haben?«

»Weiß ich’s? Hier lassen, wie wir’s immer gemacht haben, das wird wohl am besten sein. Können’s doch nicht herumschleppen, bis wir nach dem Süden gehen. Sechshundertundfünfzig Dollars ist ’ne ordentliche Last!«

»Na gut, – schon recht! Liegt ja auch nichts daran, wenn wir noch mal hierher müssen.«

»Nee, aber dann möcht ich doch raten, in der Nacht zu kommen, wie früher, ’s ist doch besser für alle Fälle!«

»Ganz gut, aber hör mal zu. Es kann ’ne gute Weile dauern, eh sich die rechte Gelegenheit findet zu dem Stückchen, das wir vorhaben, ’s könnt uns was zustoßen, ’s ist an gar keinem so sehr guten Orte hier. Wir wollen’s ordentlich vergraben, – tief vergraben.«

»Das ist ’ne gute Idee,« meinte der Kamerad, ging quer durch den Raum aufs Kamin zu, kniete nieder, hob einen von den hinteren Steinen desselben in die Höhe und nahm einen Beutel heraus, worin es bei der Berührung vielversprechend klang. Dem entnahm er zwanzig oder dreißig Dollars für sich selber, ebensoviel für den Indianer-Joe, und reichte dann den Beutel dem letzteren, der in einer Ecke auf den Knien lag und mit seinem langen und breiten Messer den Grund aufwühlte.

Die Jungen vergaßen ihre ganze Angst und all ihr Elend in einem Augenblick. Mit glänzenden, gierigen Blicken folgten sie jeder Bewegung. Solches Glück! Der Strahlenglanz desselben überstieg jede Einbildungskraft! Sechshundert Dollars waren ja Geld genug, um ein halbes Dutzend Jungen reich zu machen. Das nannte man Schatzgräber! unter den glücklichsten Umständen, da gab’s keine hindernde Ungewißheit, wo man eigentlich nachzugraben habe. Sie stießen einander beständig an mit beredten, leicht verständlichen Rippenstößen, die einfach bedeuten sollten: »Herr Gott, bist du nun nicht froh, daß wir hier sind?«

Joes Messer stieß auf etwas Hartes.

»Holla,« sagte er.

»Was gibt’s?« fragte der andere.

Eine verfaulte Diele, – nee, ’s ist ’ne Kiste, glaub ich. Schnell, pack an und wir wollen bald dahinterkommen, was die hier soll. Laß gut sein, ich hab ’n Loch hineingebrochen.«

Er griff in die Kiste und zog die Hand sofort wieder heraus.

»Mensch, ’s ist Geld!«

Die beiden Männer untersuchten nun die Handvoll Münzen. Es war Gold. Die Jungen oben waren ebenso entzückt, wie die zwei Strolche unten.

Joes Kamerad sagte:

»Damit wollen wir kurzen Prozeß machen. Dort liegt ’ne alte, rostige Hacke in der Ecke, drüben auf der anderen Seite des Kamins. Ich hab’s eben gesehen.«

Er sprang hin und brachte die Hacke und Schaufel der Jungen herbei. Der Indianer-Joe nahm die Hacke, besah sie kritisch, schüttelte den Kopf, murmelte etwas in sich hinein und machte sich dann an die Arbeit.

Die Kiste war bald bloßgelegt. Sie war nicht sehr groß, mit eisernen Bändern beschlagen und schien sehr stark gewesen zu sein, ehe der Zahn der Zeit sie benagt hatte. Die Männer starrten in glückseligem Schweigen nieder auf den gleißenden Schatz.

Endlich flüsterte Joe:

»Kamerad, das sind Tausende von Dollars.«

»Man hat immer gemunkelt, daß Murrells Bande sich mal ’nen Sommer hier herumgetrieben hätte,« bemerkte der Fremde.

»Weiß wohl,« bestätigte Joe, »und dies hier sieht, meiner Treu, ganz danach aus.«

»Jetzt können wir auch das andere Stückchen aufgeben, was!«

Der Halbindianer runzelte finster die Stirn. Dann sagte er:

»Du verstehst mich nicht, wenigstens die Sache nicht, um die sich’s handelt, ’s ist mir diesmal nicht ums Stehlen, – ’s ist Rache, die ich haben will.« Dabei flammten seine Augen in grellem Feuer auf. »Dazu brauch ich dich und deine Hilfe. Wenn wir das hinter uns haben – dann auf nach Texas! Und jetzt mach dich heim zu deiner Hanne und deinen Bälgern und wart, bis ich dich rufe.«

»Soll mir recht sein! Was aber fangen wir mit dem da an – vergraben’s wieder?«

»Ja (überwältigendes Entzücken oben). Nein! Beim Henker, nein! (Tiefste Niedergeschlagenheit eine Treppe hoch.) Beinah hätt ich’s vergessen. An der Hacke war ja frische Erde! (Den Jungen wurde wind und weh vor Schreck und Angst.) Was hat ’ne Hacke und Schaufel hier zu tun? Gar mit frischer Erde daran? Wer hat sie hergebracht– und wo sind die Kerls hin? Hast du was gehört – jemand gesehen? Was? Wieder vergraben, damit die Kerls nachher kommen und sehen, daß der Grund frisch aufgewühlt ist? Nee, so dumm sind wir nicht. Wir schleppen’s in meine Höhle!«

»Na, natürlich, Hatt‘ früher daran denken können. Meinst du Nummer eins?«

»Nein, Nummer zwei, unter dem Kreuz. Der andere Platz ist nichts wert, – zu gewöhnlich.«

»Mir auch recht! Bald wird’s dunkel genug sein, um abziehen zu können.«

Der Indianer-Joe erhob sich und ging von Fenster zu Fenster, immer vorsichtig hindurchspähend. Bald darauf sagte er:

»Wer kann wohl das Werkzeug hergeschleppt haben? Am End sind sie oben!«

Den Jungen versagte der Atem. Der Indianer-Joe legte die Hand an das dolchartige Messer, das in seinem Gürtel steckte, hielt einen Moment überlegend inne und wandte sich dann der Treppe zu. Die Jungen dachten an den Wandschrank, aber ihre Kraft hatte sie vollständig verlassen. Schon krachten die Tritte auf der Treppe, – die fast unerträgliche Not ihrer Lage weckte die erlahmte Entschlossenheit der Jungen, – eben wollten sie dem rettenden Schranke zufliehen, als sich ein Splittern und Krachen der vermorschten Balken vernehmen ließ und der Indianer-Joe inmitten der Treppentrümmer schleunigst wieder unten landete. Fluchend raffte er sich auf, und sein Kamerad sagte:

»Zu was all den Umstand. Wenn’s wirklich jemand ist und sich einige da droben versteckt halten, gut, laß ihnen ihr Vergnügen, was liegt daran? Wenn sie ‚runterspringen wollen und mit uns anbinden, so mögen sie nur kommen. In fünfzehn Minuten ist’s dunkel, laß sie uns folgen, wenn sie wollen, mir sollt’s recht sein. Meiner Meinung nach haben die Kerls, welche die Sachen hier ablegten, wer’s nun immer gewesen sein mag, uns erblickt, uns für Geister, Teufel oder sonst was gehalten und sind davongerannt. Die rennen noch, ich möcht fast wetten.«

Joe brummte noch eine Weile vor sich hin, dann stimmte er seinem Gefährten bei, daß sie das noch übrigbleibende Tageslicht benutzen müßten, um zur Flucht alles in Bereitschaft zu setzen. Kurz danach schlüpften sie im tiefsten Dämmerlicht aus dem Hause und schlugen mit ihrer kostbaren Last die Richtung nach dem Flusse ein.

Tom und Huck erhoben sich, noch ganz zitternd, aber wie erlöst, und starrten den Männern durch die Spalten nach, die sich in den Wänden des Hauses befanden? Ihnen folgen? Das fiel ihnen nicht ein. Sie waren zufrieden, ohne gebrochenen Hals den sicheren Boden wieder zu erreichen, und wandten sich ohne Zögern dem über den Hügel nach der Stadt führenden Pfade zu. Sie redeten nicht viel zusammen, waren zu beschäftigt damit, sich selber gründlich Vorwürfe zu machen über die bodenlose Dummheit, Hacke und Spaten mit dorthin zu nehmen und liegen zu lassen. Ohne das hätte der Indianer-Joe niemals Verdacht gefaßt. Er hätte gewiß das Silber bei dem Golde verscharrt, bis er seine »Rachepläne« ausgeführt gehabt, und dann wäre ihm die überraschende Entdeckung geworden, daß beides verschwunden: Silber wie Gold! Schweres, bitteres Verhängnis, daß sie die Werkzeuge mit dahin schleppen mußten! Sie beschlossen, diesem Spanier gut aufzupassen, wenn er sich, um eine Gelegenheit für seinen Racheakt auszukundschaften, wieder in der Stadt sehen ließe, und ihm dann nach »Nummer Zwei« zu folgen, wo es auch sein möge. Plötzlich überkam Tom ein entsetzensvoller Gedanke:

»Rache? Wenn er nun uns damit meint, Huck!«

»Red nicht so!« bat dieser, der bei der bloßen Idee vor Schreck beinahe umfiel.

Dann besprachen sie den Gedanken hin und her, und als sie daheim anlangten, waren sie übereingekommen, daß er vielleicht sonst irgend jemand im Auge haben, oder wenigstens doch nur Tom meinen könne, da ja Tom allein gegen ihn gezeugt hatte.

Ein schwacher, sehr schwacher Trost war es für Tom, allein in Gefahr zu sein. Einen Kameraden auch hierin zu besitzen, würde die Sache wesentlich erleichtert haben, so dachte er bei sich in seiner Unschuld; Huck aber schien anderer Meinung zu sein.

Vierzehntes Kapitel.

Ein Besuch.

Vierzehntes Kapitel.

Ein paar Minuten später befand sich Tom im seichten Wasser der Sandbank und watete dem Illinoisufer zu. Noch reichte ihm das Wasser kaum bis zur Brust, als er schon die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Jetzt aber erlaubte die Strömung kein weiteres Vordringen und kühn begab er sich dran, die übrigen hundert Meter schwimmend zurückzulegen. Er ließ sich von der Strömung treiben, die ihn rascher beförderte, als er selber dachte. Doch gelang es ihm endlich, das Ufer zu erreichen und an einer niederen Stelle desselben zu landen. Er fühlte in seiner Tasche nach dem Rindenstück, fand es sicher an seinem Platz und schritt nun mit triefenden Kleidern waldeinwärts am Ufer entlang. Kurz vor zehn Uhr kam er an einen freien Platz, gerade dem heimatlichen Städtchen gegenüber, und sah die Fähre im Schatten der Bäume am hohen Ufer angekettet. Alles war still unter den funkelnden Steinen. Er kroch am Ufer hinab, mit vorsichtigen Blicken ausspähend, glitt ins Wasser und schwamm mit drei oder vier Stößen nach dem Boot, das an der Seite der Fähre befestigt war. Dort streckte er sich unter die Ruderbank und wartete atemlos. Alsbald ertönte eine heisere Glocke und eine Stimme gab den Befehl zum Abstoßen, Eine bis zwei Minuten später wurde das Boot von der Fähre scharf angezogen und die Fahrt hatte begonnen, Tom beglückwünschte sich selber zu seinem Erfolg, er wußte, es war die letzte Fahrt diesen Abend. Nach Verlauf von endlosen zwölf oder fünfzehn Minuten standen die Räder still, Tom schlüpfte über Bord und schwamm ans Ufer in der Dunkelheit, etwa fünfzig Meter unterhalb des Städtchens landend, aus Furcht, noch späten Herumschwärmern zu begegnen. Er flog durch einsame Gäßchen und befand sich nach kurzem am hinteren Zaun von seiner Tante Hof. Der Zaun war schnell überstiegen, er näherte sich dem Hause und blickte durch das Fenster des Wohnzimmers, in dem noch Licht brannte. Dort saßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe Harpers Mutter dicht zusammen und redeten. Sie saßen vor dem Bett und das Bett befand sich zwischen ihnen und der Türe, welche direkt auf den Hof führte. Tom trat auf den Zehen heran und begann leise auf die Klinke zu drücken. Die Türe gab nach und öffnete sich ein klein wenig mit sanftem Knarren. Vorsichtig erweiterte Tom den Spalt, bis er ihn für groß genug hielt, um sich auf den Knien durchzuschieben. Dann steckte er den Kopf durch und begann mutig vorwärts zu kriechen.

»Warum das Licht nur so flackert?« sagte Tante Polly. – Tom beeilte sich mit dem Hereinkriechen, »Herrgott, die Tür ist ja offen, soviel ich seh! Freilich ist sie’s. Nehmen die Schrecknisse gar kein Ende! Geh, Sid, mach die Tür zu!«

Gerade zur rechten Zeit verschwand Tom unter dem Bett. Da lag er mäuschenstill, um nur erst zu Atem zu kommen, dann kroch er weiter vor, bis dahin, wo er fast seiner Tante Füße berühren konnte.

»Ja, wie ich gesagt hab‘,« fuhr diese fort, »schlecht war er nicht, was man so schlecht heißt, – nur immer voller Tollheiten, voller Unsinn und immer oben hinaus, wißt ihr. Ihm konnte man’s aber so wenig übelnehmen wie einem Füllen; er dachte sich weiter nichts dabei, war weiß Gott der gutherzigste Junge, der lebte und –« sie begann zu weinen.

»Grad so war mein Joe, – immer voller Teufeleien und zu jedem tollen Streich aufgelegt, aber so selbstlos und gut dabei, wie nur möglich. Und, der Himmel verzeih mir’s, ich, ich, seine eigene Mutter, geh hin und hau ihn durch, weil ich mein‘ er hat den alten Rahm genommen, denk nicht dran, daß ich den doch selber fortgeschüttet hab, weil er sauer geworden war. Und jetzt soll ich ihn nie wieder sehen in dieser Welt, den armen, mißhandelten Jungen, nie, niemals wieder!« Und Frau Harper schluchzte, als wolle ihr das Herz brechen.

»Ich hoffe, Tom ist besser dran, wo er ist,« begann Sid, »wenn er aber hier in manchem besser –«

» Sid!« – Tom fühlte ordentlich den strengen Mahnblick, das drohende Funkeln in den Augen der alten Dame, obgleich er’s nicht sehen konnte.

»Kein Wort weiter gegen meinen armen Tom, der nun von uns gegangen ist. Der allmächtige Gott wird sich seiner schon annehmen, da brauchst du dich nichts drum zu kümmern. Oh, Frau Nachbarin, ich weiß nicht, wie ich’s überleben soll, weiß nicht, wie ich’s überleben soll! Er war mein ganzer Trost, obgleich er mir mein altes Herz fast aus dem Leibe herausquälte!«

»Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt! Aber hart ist’s, so arg hart! Erst vorigen Sonntag ließ mir mein Joe einen Schwärmer grad unter der Nase platzen, worauf ich ihm eins versetzte, daß er umfiel. Da dacht ich nicht, daß er so bald – ach, Herr du meines Lebens, wenn ich wieder in derselben Lage wäre, ich würde ihn an mein Herz drücken und küssen.«

»Ja, ja, ja, Nachbarin, ich weiß, wie Ihnen zumut sein muß, weiß es ganz genau. Gestern nachmittag erst hat mein Tom dem unvernünftigen Vieh, dem Peter, ›Schmerzenstöter‹ eingegossen, den er selber hat nehmen sollen. Na, ich denk die Katze reißt’s Haus ein, so tobt die herum. Und ich, Gott verzeih mir, geb dem Jungen einen Klaps auf den Kopf mit meinem Fingerhut; armer Junge, armer, armer, toter Junge! Er hat’s überstanden jetzt. Und die letzten Worte, die ich von ihm gehört hab, waren, daß er mir vorwarf –«

Diese Erinnerung aber war zuviel für die alte Dame, sie brach vollständig darunter zusammen. Tom schluchzte jetzt selber, mehr aus Mitleid mit sich, als aus irgendeinem anderen Grund. Er hörte, daß Mary weinte, und von Zeit zu Zeit ein freundliches Wort über ihn dazwischenwarf. Seine eigene Meinung von sich stieg um ein beträchtliches. Der Kummer seiner Tante rührte ihn aber doch sehr und kaum konnte er der Versuchung widerstehen, hervorzubrechen aus seinem Hinterhalt und ihren Jammer in Freude zu verwandeln. Der theatralische Effekt, den solche Szene notwendig hervorrufen mußte, reizte ihn gewaltig, doch er erwehrte sich dessen tapfer und blieb still. Er fuhr fort zu lauschen und merkte aus allerlei Bruchstücken der Reden, die er zusammensetzte, daß man zuerst geglaubt hatte, er und die Kameraden seien beim Schwimmen verunglückt. Dann wurde das kleine Floß vermißt. Verschiedene Jungen gaben nun an, daß die Vermißten gesagt hätten, die ganze Stadt solle bald was Neues erfahren. Die »weisen Häupter« der Gemeinde reimten sich nun verschiedenes zusammen und waren schließlich darin einig, daß die Jungen auf dem Floß davongegangen und baldigst in der nächsten Stadt flußabwärts auftauchen dürften. Gegen Mittag aber war das leere Floß aufgefunden worden, das etwa vier Meilen unterhalb des Städtchens ans Ufer getrieben war, und da schwand jede Hoffnung. Sie mußten ertrunken sein, sonst hätte sie der Hunger vor Nacht nach Hause gejagt, wenn nicht noch früher. Man glaubte, die Suche nach den Leichen sei hauptsächlich deshalb erfolglos geblieben, weil die Ertrunkenen wohl mitten im tiefsten Wasser umgekommen sein mußten, denn die Jungen waren flotte Schwimmer und hätten sich sonst sicherlich ans Ufer gerettet. Das war am Mittwoch abend. Wenn es nun nicht gelang, bis Sonntag die Leichen aufzufinden, so mußte man jeder Hoffnung entsagen, und es sollte an dem Tage ein Trauergottesdienst in der Kirche abgehalten werden. Tom schauderte.

Frau Harper schluchzte ein »Gutenacht« und erhob sich zum Gehen. Von einem gemeinsamen Antrieb ergriffen, flogen die beiden verwaisten Frauen einander in die Arme, weinten sich ein paar Minuten aus und nahmen darauf Abschied. Tante Polly sagte Sid und Mary mit besonderer Zärtlichkeit »Gutenacht«, Sid schluchzte ein bißchen, Mary aber weinte aus Herzensgrund.

Jetzt kniete Tante Polly nieder und betete für Tom, so rührend, so eindringlich, mit solch maßloser Liebe in jedem Wort, jedem Ton ihrer alten, zitternden Stimme, daß der Missetäter unter dem Bett wieder förmlich zerfloß in Tränen, lange ehe sie geendet hatte.

Er mußte sich sehr ruhig verhalten, eine ganze Zeit, nachdem sie zu Bett gegangen war, denn wieder und wieder warf sie sich ruhelos von einer Seite zur anderen und stöhnte und jammerte vor sich hin. Endlich aber wurde sie still, nur noch zuweilen schluchzte sie leise im Schlafe auf. Jetzt stahl sich Tom unter dem Bett vor, richtete sich ganz allmählich in die Höhe, beschattete das Licht mit seiner Hand und betrachtete sie. Sein Herz floß über vor Mitleid. Er nahm die Sykomorenrinde aus der Tasche und legte sie neben dem Lichte nieder. Da schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf und er zögerte überlegend. Sein Gesicht verklärte sich förmlich im Widerschein der erleuchteten Idee, die ihm gekommen. Hastig nahm er die Rinde wieder an sich, beugte sich über das alte Antlitz, hauchte einen Kuß auf ihre Lippen und stahl sich, leise wie er gekommen, durch die Türe, die er hinter sich schloß.

Er schlich den gleichen Weg zurück nach der Fähre, fand dort niemanden und betrat kühn das Deck. Wußte er doch, daß sich um diese Zeit nur ein Wächter dort befand, und der zog sich für gewöhnlich in die Kajüte zurück und schlief wie ein Sack. Er löste den Nachen von der Seite, schlüpfte hinein und glitt bald danach, vorsichtig rudernd, stromaufwärts dahin. Als er eine Meile oberhalb der Stadt war, schlug er die Richtung quer über den Fluß ein und legte sich tüchtig ins Zeug. Er traf genau auf die Landungsstelle an der anderen Seite. Diese Leistung war für ihn nicht neu. Nun überlegte Tom, ob er nicht den Nachen mitnehmen sollte, der doch sozusagen ganz legitime Beute für einen Seeräuber wäre. Doch wußte er, daß man genaue Nachforschungen nach dem Verbleib anstellen würde und die hätten am Ende zu unliebsamen Entdeckungen führen können. So sprang er denn ans Ufer und begab sich sofort in den Wald. Dort setzte er sich hin, ruhte lange, lange aus und quälte sich dabei namenlos ab, um sich wach zu erhalten. Dann machte er sich müde, matt und schläfrig auf den Heimweg. Die Nacht war schon weit vorgerückt. Es wurde heller Tag, ehe er sich wieder am Ufer gegenüber der Sandbank befand. Er ruhte sich nochmals aus, bis die Sonne ganz aufgegangen war und den Strom mit ihrem Glanze übergoldete, dann warf er sich ins Wasser und bald darauf stand er triefend am Eingang des Lagers und hörte Joe sagen:

»Nein, Tom ist treu wie Gold, Huck, der kommt wieder, der kneift nicht aus! Er weiß, daß das eine Ehrlosigkeit für einen Piraten wäre, und Tom ist viel zu stolz, um so was zu tun. Er führt irgend etwas im Schilde, das ist sicher, möcht nur wissen was!«

»Na, aber die Sachen dort im Hut sind doch unser, nicht?«

»Beinahe, Huck, noch nicht ganz. Hier die Schrift auf der Rinde sagt: Die Sachen gehören euch, sollte ich nicht bis zum Frühstück zurück sein –«

»Was hiermit der Fall ist«, rief Tom und betrat mit großartigem, dramatischem Effekt die Szene.

Ein üppiges Frühstück, aus Speck und Fisch zusammengesetzt, war bald zur Stelle. Die Jungen machten sich drüber her, Tom erzählte dabei seine Abenteuer mit entsprechender Ausschmückung. Sein Ruhm warf einen strahlenden Abglanz auf die anderen. Die Erzählung verwandelte sie alsbald in eine eitle, prahlerische, lärmende Heldenschar. Dann suchte sich Tom ein stilles, verborgenes Winkelchen zum Schlafen, während die anderen Piraten sich fertig machten, um zu fischen und auf Entdeckungen auszugehen.

Fünfzehntes Kapitel.

Heimweh und Rauch-Studien.

Fünfzehntes Kapitel.

Nach dem Mittagessen begab sich die ganze Bande zur Sandbank auf die Suche nach Schildkröteneiern. Mit Stöcken durchwühlten sie den Sand und wo sie eine hohle Stelle fanden, gruben sie mit den Händen nach und entdeckten oft fünfzig bis sechzig Eier in einem Loch, runde, weiße, nußgroße Dinger. Am Abend bereiteten sie sich aus den gebackenen Eiern ein köstliches Mahl, ebenso ein leckeres Frühstück am nächsten Morgen, einem Freitag. Danach gingen sie zur Sandbank, schwammen und tollten im Wasser herum und wälzten sich zur Abwechslung im heißen Sande, in dem sie sich förmlich eingruben. Plötzlich kam ihnen der Gedanke, daß der kleiderlose Zustand, in welchem sie sich befanden, die größte Ähnlichkeit habe mit den Trikots der Zirkushelden. Augenblicklich wurde ein Kreis in den Sand gezogen, der einen Zirkus vorstellen mußte, einen Zirkus mit drei Clowns in demselben, denn keiner der Jungen konnte sich entschließen, diesen stolzesten, begehrtesten aller Posten einem anderen zu überlassen.

Als dies Vergnügen bis zur Neige ausgekostet war, sprangen Huck und Joe nochmals ins Wasser. Tom getraute sich nicht hinein, da er entdeckte, daß er beim Ausziehen der Hosen seine Klapperschlangenklappern verloren habe. Nur durch ein Wunder konnte er bis jetzt der Gefahr eines Krampfes beim Schwimmen entgangen sein ohne den geheimnisvoll wirkenden Schutz dieses Zaubermittels. Eifrig suchte er danach, und als er sie schließlich fand, die Zauberklappern, waren die anderen des Schwimmens müde und ruhebedürftig. Sie schlenderten nun am Ufer hin, wurden schweigsam, verfielen in Brüten, blieben einer hinter dem anderen zurück und jeder ertappte sich darauf, daß er sehnsüchtig in die Weite starrte, dorthin, wo das heimatliche Nest schläfrig im Sonnenbrande dalag. Tom wurde sich mit einem Male bewußt, daß er mit der großen Zehe »Becky« in den Sand schrieb. Ärgerlich über seine unmännliche Schwäche wischte er’s aus, zog aber im nächsten Moment nichtsdestoweniger dieselben magischen Linien aufs neue, fast gegen seinen Willen; er konnte nicht anders. Wieder löschte er dieselben und entzog sich dann der Versuchung, indem er den beiden Kameraden nachjagte und sie zusammentrieb.

Joes Lebensgeister aber waren mittlerweile so gesunken, daß ein Aufraffen derselben fast unmöglich schien. Er hatte solches Heimweh, daß er es vor Elend kaum mehr aushalten konnte. Verräterische Tränen waren dicht am Überfließen. Auch Huck war melancholisch geworden. Tom war gleichfalls sehr niedergeschlagen, bemühte sich aber redlich, es nicht zu zeigen. Seine Brust barg ein Geheimnis, das ihm aber zur Mitteilung noch nicht reif schien. Sollte sich jedoch diese rebellische Niedergeschlagenheit nicht bannen lassen, so mußte er am Ende doch damit herausrücken. Mit erkünstelter Heiterkeit rief er plötzlich:

»Ich wett‘, Jungens, auf der Insel hier waren schon vor uns Piraten. Laßt uns noch ‚mal genau alles durchforschen. Vielleicht haben sie irgendwo ’nen Schatz versteckt. Das war doch ein Hauptspaß, wenn wir plötzlich auf eine verfaulte Kiste voll Gold und Silber stießen, was?«

Diese Aussicht vermochte indessen nur schwache Begeisterung zu erregen, die alsbald erstarb, ohne ein Echo erweckt zu haben. Tom versuchte es mit zwei oder drei anderen lockenden Vorschlägen, – es war verlorene Liebesmüh, Joe saß und bohrte mit einem Stock im Sand herum und sah sehr brummig aus. Schließlich rief er ungestüm:

»Jungens, wir wollen’s sein lassen. Ich will heim, hier ist’s so einsam.«

»Ach, Joe, wart doch,« beruhigte Tom, »bald denkst du ganz anders drüber. Denk doch nur allein ans Fischen!«

»Was liegt mir am Fischen. Ich will heim!«

»Aber, Joe, wo findest du wieder einen Platz zum Schwimmen wie hier?«

»Schwimmen ist mir ganz egal. Ich mach mir gar nichts mehr draus, seit keiner da ist, um’s zu verbieten. Ich will heim.«

»Ach Papperlapapp! Wickelkind! Will seine Mama sehen, was?«

»Ja, das will ich auch! Ich will meine Mutter sehen, und wenn du eine hättest, wolltest du’s auch. Ich bin kein größeres Wickelkind als du!« Und Joe schluchzte ein bißchen vor sich hin.

»Schön, schön! Laß das Kindchen zu seiner Mama gehen, gelt, Huck? Armes, kleines Wickelkind will die Mama sehen. Soll’s haben, armes, kleines Ding. Dir gefällt’s hier, Huck, gelt? Wir zwei bleiben, nicht?«

Huck ließ ein sehr zweifelhaftes, gedehntes »Ja–a–a« hören.

»So lang ich leb, red ich mit dir nie wieder«, damit erhob sich Joe und begann sich anzukleiden.

»Als ob mir daran was läge?« versetzte Tom geringschätzig, »wir brauchen dich nicht. Geh heim und laß dich auslachen, Du bist ein schöner Pirat, du! Huck und ich, wir sind keine Schreikinder, wir bleiben hier, gelt, Huck? Der mag laufen wohin er will, wollen schon fertig werden ohne ihn!«

Tom war es aber doch nicht recht geheuer bei der Sache und unruhig sah er zu, wie Joe wortlos und halsstarrig fortfuhr sich anzukleiden. Es ängstigte ihn auch zu sehen, daß Huck aufmerksam den Vorbereitungen Joes folgte, während er ein gefahrdrohendes Schweigen beobachtete. Alsbald, ohne ein Wort des Abschiedes, begann Joe nach dem Illinoisufer zuzuwaten. Tom sank das Herz bis in die äußerste Zehenspitze. Er warf einen forschenden Blick auf Huck. Dieser vermochte den Blick nicht auszuhalten und schlug die Augen nieder. Dann sagte er:

»Ich will auch fort, Tom! ’s war vorher schon einsam und jetzt wird’s noch schlimmer. Komm, wir gehen mit!«

»Ich geh nicht. Ihr könnt alle weg, wenn ihr wollt. Ich will bleiben.«

»Ich, ich denk, ich geh!«

»Immer zu, wer hält dich denn?«

Huck begann seine Kleider aufzuraffen. Dabei sagte er: »Tom, ich wollt, du gingst mit. Denk mal drüber nach. Drüben am Ufer wollen wir ’ne Zeitlang auf dich warten.«

»Na, da könnt ihr warten, bis ihr schwarz werdet, das kann ich dir sagen!«

Kummervoll wandte sich Huck ab und Tom stand und sah ihm nach, während ihm das glühendste Verlangen, den beiden zu folgen, fast das Herz abdrückte. Sein Stolz wollte das aber nicht zulassen. Von Augenblick zu Augenblick hoffte Tom, die Jungen würden stehen bleiben, die aber wateten entschlossen vorwärts, ohne sich umzusehen. Plötzlich überfiel ihn das Bewußtsein, wie still und einsam es um ihn geworden, mit niederschmetternder Gewalt. Einen letzten Strauß bestand er mit seinem Stolze, dann stürzte er hinter den Kameraden her, denselben nachbrüllend:

»Wartet, so wartet doch, ich muß euch etwas sagen.«

Die standen still und wandten sich. Als er sie erreichte, teilte er ihnen sein Geheimnis mit. Sie hörten mürrisch zu; als ihnen aber klar wurde, worauf er loszielte, stießen sie ein gellendes Kriegsgeheul aus und erklärten den Plan für einen Kapitalspaß. Wenn er das gleich gesagt hätte, wären sie niemals weggelaufen, versicherten sie. Tom redete sich heraus, so gut er konnte. In Wahrheit aber hatte er gefürchtet, selbst die Enthüllung dieses geheimnisvollen Plans vermöchte nicht, sie für die Länge der Zeit auf der Insel festzuhalten und darum hatte er sich dies als letztes Lockmittel für den äußersten Notfall aufsparen wollen.

Lustig wanderten nun die Jungen zurück und warfen sich mit erneuter Energie aufs Spiel, die ganze Zeit über Toms großartigen Plan besprechend und dessen Genialität bewundernd. Nach einem leckeren Mittagsmahl, aus Fisch und Eiern bestehend, erklärte Tom, daß er nun rauchen lernen wolle. Joe gefiel der Gedanke, er wollte es auch probieren. Huck machte also zwei Pfeifen zurecht und stopfte dieselben. Die beiden neuesten Jünger in der Kunst des Rauchens hatten bis jetzt ihr Talent nur an Chokoladezigarren erprobt, und das war keineswegs ein Beweis von gereifter Männlichkeit.

Nun streckten sie sich in Moos, stützten sich auf die Ellbogen und begannen, freilich etwas zögernd, drauf loszudampfen, mit offenbar nicht allzugroßer Zuversicht in ihre Fähigkeiten, ganz gegen ihre sonstige Art und Weise. Der Rauch hatte aber auch einen gar zu unangenehmen Geschmack, sie mußten sich immerzu räuspern, doch Tom meinte:

»Ach, das ist ja ganz leicht; wenn ich das früher gewußt hätte, ei, ich hätt’s längst gelernt.«

»Ich auch,« bekräftigte Joe, »das ist ja rein gar nichts.«

»Na, wie oft hab‘ ich einem zugesehen, der geraucht hat und mir gewünscht, wenn du’s doch nur auch könntest, Hab‘ aber nie gedacht, daß das möglich war«, sagte Tom. »Aber so bin ich. Nicht, Huck? Trau mir nichts zu! Hundertmal ist mir’s schon so gegangen, gelt, Huck?«

»Weiß Gott, hab’s auch schon gedacht«, bestätigte dieser.

»Grad wie bei mir,« rief Joe, »tausendmal ist mir das schon passiert. Erinnerst du dich, Huck, damals beim Schlachthaus, die anderen waren alle dabei, der Bob und der Johnny und der Jeff auch, da –«

»Ja, so ist’s,« fiel Huck ein, ohne weiteres abzuwarten, »’s war just an dem Tag, an dem ich meine schöne weiße Steinkugel verloren hatt‘ – oder auch am Tag vorher.«

»Siehst du wohl,« rief Joe, »der Huck erinnert sich. – Ich glaub, die Pfeife hier könnt ich den ganzen Tag lang rauchen, es ist mir kein bißchen übel.«

»O mir auch nicht,« fiel Tom ein, »ich könnt auch den ganzen Tag weiterrauchen. Der Jeff Thatcher aber, da wollt ich alles wetten, der könnt’s nicht.«

»Jeff Thatcher! Herrgott, der wär nach zwei Zügen geliefert. Der sollt’s nur mal probieren, der würd was Schönes zu sehen kriegen!«

»Das glaub ich auch – und der Johnny Miller, – na, den möcht ich mal dabei sehen.«

»Na und ich!« lachte Joe, »ei der, der könnt das nicht besser, als alles andere, was er kann – und er kann nichts! Der braucht’s nur zu riechen, dann wär er schon hin!«

»Weiß Gott, so ist’s. Ich wollt nur eins, Joe, ich wollt, die Jungens könnten uns so sehen!«

»Und ich erst!«

»Sagt mal, Jungens, wir reden gar nichts drüber und wenn wir dann mal alle zusammen sind, geh ich auf dich zu, Joe, und frag: ›Hast du ’ne Pfeife da, Joe? Ich möcht gern mal rauchen,‹ Und du sagst dann, so ganz nachlässig, als ob’s gar nichts war: ›Ja, die alte hab‘ ich und auch meine neue, aber mein Tabak ist nicht sehr gut.‹ – ›Ach, macht nichts‹, sag ich dann, ›wenn er nur stark genug ist.‹ Dann du heraus mit den Pfeifen und angesteckt, – Herrgott, die werden Augen machen!«

»Das wird wundervoll, Tom, wär’s nur schon so weit.«

»Ja und dann sagen wir, das haben wir alles gelernt, wie wir als Piraten ausgezogen sind und dann platzten sie erst recht vor Neid.«

»Na und ob! ’s wird prächtig, Tom!«

So plauderten sie und bramarbasierten, aber allmählich wurden sie stiller und warfen nur noch gelegentlich eine Bemerkung hin. Die Pausen wurden häufiger, im selben Maße, wie ein sonderbares Ausspucken zunahm. Jede Pore innerhalb ihres Mundes schien zum rieselnden Brunnen geworden. Sie waren kaum imstande, die Höhlungen unter der Zunge schnell genug zu leeren, um eine Überschwemmung zu verhüten. Kleine Ergüsse den Hals hinunter kamen trotz aller Eile vor, denen jedesmal ein leichter Würganfall folgte. Beide Helden sahen nun recht blaß und elend aus. Joes kraftlosen Fingern entsank die Pfeife, Toms Pfeife folgte. Die Wasserwerke und Pumpen arbeiteten mit Macht. Endlich sagte Joe mit schwacher Stimme:

»Hab‘ da irgendwo mein Messer verloren. Will lieber mal gehen und suchen.«

Mit zitternden Lippen keuchte Tom:

»Ich helf dir. Geh du dorthin, ich mach mich nach der Quelle. Nein, Huck, bleib, du brauchst nicht zu kommen, wir werden’s schon finden!«

Huck setzte sich also wieder und wartete ungefähr eine Stunde. Dann fand er’s langweilig und ging die Kameraden suchen.

Er fand sie auch, weit voneinander entfernt, mitten im Walde, beide sehr blaß, beide schlafend. Etwas aber in ihrer Umgebung bewies ihm, daß, falls sie Unannehmlichkeiten gehabt, sie sich derselben endgültig entledigt hatten.

Beim Abendessen waren sie nicht allzu redselig, hatten eine etwas niedergeschlagene Miene, und als Huck zum Nachtisch seine Pfeife hervorzog und sich bereit zeigte, auch die ihren zu stopfen, da dankten sie, sagten, sie fühlten sich nicht ganz wohl, beim Mittagessen müsse ihnen etwas nicht gut bekommen sein.

Sechzehntes Kapitel.

Das Gewitter.

Sechzehntes Kapitel.

Um Mitternacht ungefähr erwachte Joe und weckte die anderen. Es lag eine drückende Schwüle in der Luft, die nichts Gutes zu bedeuten schien. Die Jungen schmiegten sich eng aneinander und suchten die freundliche Nähe des Feuers, obgleich die brütende, lastende Hitze der bewegungslosen Atmosphäre nahezu erstickend war. Stille saßen sie da, atemlos wartend. Außerhalb des Lichtkreises, den das Feuer warf, schien alles wie in schwarzer Nacht begraben. Alsbald erglomm ein zitternder Schein, der für einen Moment das Laub der Bäume sichtbar hervortreten ließ, um ebenso plötzlich zu erlöschen. Dann tauchte ein zweiter, schon stärkerer Strahl auf. Ein dritter folgte. Wie leises Stöhnen zog’s nun durch das Geäste der Waldbäume, ein schwacher Lufthauch streifte die Wangen der Knaben und diese erschauerten in dem Gedanken, der Geist der Nacht habe sie mit seinem Fittiche berührt. Wieder folgte eine Pause. Jetzt verwandelte ein unheimlicher Blitz die Nacht zum Tage und ließ jeden kleinen Grashalm zu ihren Füßen deutlich hervortreten. Zugleich enthüllte der Strahl aber auch drei weiße, bange, erschrockene Gesichter. Ein dumpfer Donner stürzte rollend und krachend vom Himmel nieder, um sich in leisem Grollen in der Ferne zu verlieren. Ein kühler Luftstoß folgte, raschelte in den Blättern und jagte die Aschenflocken des Feuers auf. Ein anderer zuckender, flammender Strahl fuhr nieder, unmittelbar gefolgt von einem schmetternden Krach, der die Kronen der Bäume zu Häupten der Knaben zerreißen zu wollen schien. In sprachlosem Schreck umklammerten sich die Kinder in der trostlosen Finsternis, die der Lichtflut folgte. Schwere, große Regentropfen fielen klatschend auf die Blätter.

»Schnell, Jungens, nach dem Zelt«, schrie Tom.

Sie sprangen in der Richtung desselben davon, stolperten über Wurzeln, verfingen sich in den Rebenranken und waren in der Finsternis nicht imstande zusammenzubleiben. Ein wütender Sturm raste in den Wipfeln und verschlang jeden anderen Laut. Die Blitze jagten einander. Schlag auf Schlag folgte ohrenbetäubender Donner. Stromweise stürzte der Regen nieder, vom Sturm flutartig am Boden hingefegt. Die Jungen schrien einander zu, aber der heulende Sturm und der dröhnende Donner übertönten die schwachen Kinderstimmen vollständig. Noch gelang es den Knaben allmählich, sich einer nach dem anderen zum Zelte durchzuschlagen, wo sie durchnäßt und zu Tode geängstigt Obdach zu finden hofften. Daß ihr Leid ein geteiltes war, machte es leichter zu tragen. Reden konnten sie nicht, das alte Segel klatschte wie rasend im Sturm und erstickte jeden Laut. Stärker und stärker brauste der Orkan, das Segel riß sich los und flog dahin auf Sturmesfittichen. Die Jungen ergriffen sich bei den Händen und flohen, oftmals stolpernd und sich wund fallend, dem Ufer zu, wo eine große, alte Eiche ihnen Schutz bieten konnte. Der Kampf der Elemente hatte jetzt seinen Höhepunkt erreicht. Am Himmel bildeten die unaufhörlich zuckenden Blitze ein einziges großes Lichtmeer, so daß alles ringsum, grell beleuchtet, in klaren, scharfen Umrissen hervortrat, die sturmgebeugten Bäume, der aufgewühlte Strom mit den weißen Schaumköpfen, der treibende Sprühregen. Die verschwommenen Zackenlinien der hohen Klippen am jenseitigen Ufer lugten ab und zu aus dem Wolkenvorhang, aus dem zerstiebenden und sich wieder verdichtenden Regenschleier. Von Zeit zu Zeit unterlag einer der alten Riesen des Waldes in dem gewaltigen Kampf und stürzte krachend in das Unterholz zu seinen Füßen, Die furchtbaren Donnerschläge fielen jetzt ununterbrochen mit ohrzerreißendem Geknatter. Das Gewitter steigerte sich zu solcher Wucht, daß es schien, als wolle es die Insel in Stücke reißen, sie verzehren in Feuersglut, sie versenken in den Wellen des Stromes bis zu den Kronen der Bäume, sie vom Erdboden wegfegen und jede lebende Kreatur auf derselben vernichten in einem Augenblick. Entsetzlich, trostlos war die Nacht für die jungen Herzen, die sich obdachlos der Wut der Elemente preisgegeben sahen.

Endlich aber ließ der Kampf nach, die Schlacht war geschlagen, die feindlichen Mächte zogen sich zurück, schwächer und schwächer wurde das Drohen, das Grollen, Friede zog ein in die erregte Natur. Die Jungen schlichen zum Lager zurück, noch ordentlich scheu und zitternd, und fanden dort, daß sie alle Ursache hatten, dem Himmel dankbar zu sein. Die große Sykomore, die ihr Lager beschattete, lag vom Blitze gefällt, – sie wären verloren gewesen, hätten sie zurzeit der Katastrophe darunter geweilt.

Alles im Lager war durchnäßt, der Feuerherd mit einbegriffen. Leichtsinnig wie ihr ganzes Geschlecht hatten die Jungen keinerlei Vorsichtsmaßregeln gegen den Regen getroffen. Der Verlust des Feuers war ein höchst beklagenswerter Umstand, denn unsere armen Seehelden waren kalt und naß durch und durch. Wortreich beklagten sie ihre mißliche Lage. Bald aber entdeckten sie, daß das Feuer sich an dem alten Baumstamm, gegen den sie es geschichtet, aufwärtsgefressen hatte, daß ein Streifen desselben, ungefähr eine Hand breit, der allgemeinen Überschwemmung entgangen war und, wenn auch schwach, weiterglimmte. Mit Geduld und Ausdauer gelang es ihnen denn auch, vermittelst kleiner Rindenstückchen und dürrer Zweige allmählich ein lustig prasselndes Feuerlein zu entflammen, das Licht und Wärme ausstrahlte und ihre Geister zu neuem Leben erweckte. Sie trockneten sich und ihren gekochten Schinken, stärkten sich mit demselben und saßen dann ums Feuer bis zum lichten Morgen, unter lebhafter Erörterung ihrer nächtlichen Abenteuer, da es ringsum kein trockenes Plätzchen gab, das ein Ausstrecken zum Schlafe erlaubt hätte.

Als die Sonne sich dann zeigte, wurden die Jungen von unwiderstehlicher Müdigkeit befallen. Sie gingen nach der Sandbank, gruben sich dort tief in den Sand und schliefen, bis die höher steigende Sonne sie allmählich gelinde zu rösten begann. Müde und verschlafen rafften sie sich auf, um nach dem Frühstück zu sehen und saßen dann verdrossen, wortkarg und mit steifen Gliedern bei der Mahlzeit. Vorboten wiederkehrenden Heimwehs begannen sich zu melden, Tom sah diese verhängnisvollen Zeichen und gab sich alle Mühe, die Piraten aufzumuntern. Diese aber kümmerten sich weder um Steinkugeln, noch um Zirkus oder Schwimmen, nichts vermochte ihnen Interesse abzugewinnen. Da erinnerte er sie an den verlockenden, geheimnisvollen Plan und es gelang ihm, einen Strahl der Freude auf den vergrämten Gesichtern hervorzurufen. Den günstigsten Moment benutzte er schleunigst, um sie für ein neues Spiel zu begeistern, das er ausgedacht. Sie wollten das Piratentum einmal beiseite werfen und zur Abwechslung Indianer sein. Die neue Idee leuchtete ihnen ein und nach kurzer Zeit hatten sie sich ihrer zivilisierten Kleidung entledigt und in Indianerkostüm geworfen, das heißt, sich den ganzen Körper, vom Scheitel bis zur Sohle, zebraartig mit dunkeln Schmutzstreifen bemalt. Jeder der Jungen stellte natürlich einen Häuptling vor und so stürmten sie in das Dickicht des Waldes zum Angriff auf irgendeine eingebildete englische Niederlassung.

Dann trennten sie sich in drei verschiedene feindliche Stämme, gingen aus ihrem Hinterhalt unter gellendem Kriegsgeheul aufeinander los und töteten und skalpierten sich gegenseitig dem Tausend nach. Es war ein blutiger Tag, mithin befriedigend für die Gemüter der Helden.

Als sie sich danach mit tüchtigem Appetit und frohem Mut im Lager sammelten, entstand eine neue, unvorhergesehene Schwierigkeit. Feindliche Indianer konnten unmöglich das Brot der Gastfreundschaft zusammen brechen, ohne zuvor Frieden zu schließen, und dies war hinwiederum unmöglich ohne die unerläßliche Friedenspfeife, Wer hatte je gehört, daß es ohne diese gegangen wäre? Zwei der Wilden wünschten jetzt, sie wären Seeräuber geblieben. Es gab aber keinen anderen Ausweg aus der Klemme: so riefen sie denn mit möglichst heiterer Miene nach der Pfeife und jeder tat einen vollen Zug, als die Reihe an ihn kam.

Und siehe da, sie verdankten ihren Indianerspielen die Offenbarung eines neuen Talentes: sie fanden, daß sie nun rauchen konnten, wenigstens für kurze Zeit, ohne gezwungen zu sein – nach einem verlorenen Messer oder dergl. zu suchen. Dies machte sie unsagbar stolz und glücklich, und um die neuerworbene Kunst aus Mangel an Übung nicht zu verlernen, machten sie sich nach dem Abendessen sofort wieder vorsichtig dahinter und beschlossen damit frohlockend den Abend. Sie strahlten vor Glück und Stolz im Bewußtsein der großen Errungenschaft. Diese ihre neueste Heldentat dünkte ihnen glorreicher, als wenn sie so und soviele Indianerstämme unterworfen und skalpiert hätten. Lassen wir sie also nur ruhig rauchen und schwatzen und prahlen, da wir im Augenblick keine weitere Verwendung für sie haben.

Siebzehntes Kapitel.

Glückliche Heimkehr. – Eifersucht.

Siebzehntes Kapitel.

In der kleinen Stadt herrschte inzwischen an jenem ruhigen Sonnabend nachmittag durchaus keine Fröhlichkeit. Die Familie Harper und Tante Polly samt den Ihren steckten sich in Trauerkleider unter vielen Tränen. Eine ungewöhnliche Stille lag über dem Städtchen, in welchem man sich im allgemeinen schon nicht über allzuviel Lärm und Getriebe beklagen konnte. Mit zerstreuter Miene gingen die Leute ihren Geschäften nach, redeten wenig dabei und seufzten oftmals. Selbst den Kindern schien dieser Sonnabend der Schulfreiheit nicht die gewohnte Freude zu gewähren. Es lag kein Zug in ihren Spielen und bald gaben sie dieselben ganz auf.

Am Nachmittag schlich Becky Thatcher um das verlassene Schulhaus herum, ihr war ganz melancholisch zumute. Doch auch dort fand sie keinen Trost. Leise sprach sie vor sich hin:

»Könnt ich doch nur seinen Messingknopf wiederfinden! Jetzt hab‘ ich gar kein Erinnerungszeichen mehr an ihn«, und sie unterdrückte ein leises Schluchzen.

Dann blieb sie stehen und meinte sinnend:

»Grad hier war’s. O, wenn’s noch einmal wäre, das würde ich nie mehr sagen – nie mehr, nicht für alle Welt. Jetzt aber ist er fort und ich werde ihn nie, nie, niemals wiedersehen!«

Dieser Gedanke raubte ihr die letzte Fassung und unter strömenden Tränen schlich sie davon. Nun erschien eine ganze Gruppe von Jungen und Mädchen: Spielkameraden von Tom und Joe, auf dem Schulhof; sie sprachen in leisem, bedrücktem Ton von den beiden Verlorenen, was Tom getan und gesagt das letztemal, als sie ihn gesehen, und wie Joe gelächelt und was er gesagt; jede geringste Kleinigkeit erschien nun von ahnungsschwerer Vorbedeutung. Dabei bezeichnete jeder Sprecher den genauen Platz, an dem die Vermißten damals gestanden und dann folgte jedesmal: »und ich stand da, grad wie eben und der da, wo du stehst, grad so nah‘ und er lächelte – so – und mir lief’s ganz kalt über den Rücken – ordentlich schauerlich – warum, wüßt ich damals freilich nicht, aber jetzt ist mir’s klar.«

Nun entspann sich ein Streit darüber, wer die beiden zuletzt gesehen im Leben, und viele rissen sich um diese traurige Auszeichnung, für die sie Beweise vorbrachten, welche die Zeugen mehr oder weniger glaubwürdig fanden. Schließlich, nach langer Debatte, war’s endgültig entschieden, wer die letzten Worte mit den Verschwundenen gewechselt hatte, und die glücklichen Sieger erhielten dadurch eine Würde und Wichtigkeit, welche die Bewunderung und den Neid der anderen erregte. Ein armer, kleiner Bursche, der sonst keine Auszeichnung irgendwelcher Art aufweisen konnte, sagte mit sichtlichem Stolze bei der bloßen Erinnerung:

»Mich, mich hat der Tom Sawyer einmal tüchtig durchgeprügelt.«

Dieser Versuch aber, zu Ruhm zu gelangen, erwies sich als gänzlich erfolglos. Die meisten Jungen konnten sich dessen rühmen, und dadurch sank die Auszeichnung doch allzusehr im Werte. Die Gruppe trollte von dannen, halblauten Tones immer neue Erinnerungen an die verlorenen Helden austauschend.

Am nächsten Morgen, als die Sonntagsschulstunde vorüber war, begann die Glocke mit hohlem, dumpfem Klang anzuschlagen, anstatt wie sonst feierlich zu läuten. Es war ein ungewöhnlich stiller Sabbat und der klagende Ton stimmte zu der nachdenklichen, feierlichen Ruhe, die über der ganzen Natur lag. Die Einwohner des Städtchens gingen zur Kirche und verweilten einen Augenblick in der Vorhalle, um sich flüsternd über das traurige Ereignis zu unterhalten. In der Kirche selbst aber war’s totenstill, nur das Rauschen der Frauengewänder unterbrach das Schweigen. Keiner konnte sich erinnern, die kleine Kirche jemals so voll gesehen zu haben. Eine tiefe, erwartungsvolle Pause entstand und dann trat Tante Polly ein, gefolgt von Sid und Mary und der Familie Harper, alle in tiefstem Schwarz. Die ganze Gemeinde zusamt dem Geistlichen erhob sich achtungsvoll von ihren Plätzen, bis die Trauernden durch ihre Reihen geschritten waren und in der vordersten Bank Platz genommen hatten. Wiederum folgte tiefe Stille, nur hier und da durch ersticktes Schluchzen unterbrochen, dann erhob der Geistliche seine Stimme und betete. Ein ergreifendes Lied wurde gesungen, dann folgte die Predigt.

In seiner Predigt entwarf der Geistliche ein solch glänzendes Bild von den Tugenden, der Liebenswürdigkeit und den vielversprechenden Talenten der Verlorenen, daß jeder der Zuhörer in der ehrlichen Meinung, dies getreue Abbild wiederzuerkennen, einen Stich im Herzen fühlte, bei dem Gedanken, wie beharrlich blind er selber gegen alle diese Vorzüge gewesen und wie er ebenso beharrlich nur Fehler und Mängel in den armen Jungen zu entdecken vermocht. Nun folgte manch rührender, hochherziger Zug aus dem Leben der Dahingeschiedenen, der das Vorhergesagte bekräftigen und beweisen sollte, und jedermann gingen nun erst die Augen und das Verständnis auf dafür, wie groß und erhaben eigentlich jene kleinen Vorkommnisse gewesen waren, die ihnen zurzeit als die ärgsten Schelmenstreiche und Teufeleien einer tüchtigen Tracht Prügel wert erschienen. Die Versammlung wurde immer bewegter, je weiter der Geistliche in seiner pathetischen Rede vorrückte, bis schließlich die ganze Gesellschaft jegliche Fassung und Haltung verlor und sich in vollem Chor dem Schluchzen und Seufzen der trauernden Hinterbliebenen anschloß. Ja, den Geistlichen selbst übermannten seine Gefühle, er verstummte und weinte auf offener Kanzel.

Ein Rascheln ertönte von der Emporkirche, auf das niemand achtete. Einen Moment später knarrte eine Türe, der Geistliche erhob seine strömenden Augen über das verhüllende Taschentuch und – stand und starrte wie versteinert! Erst folgte ein Paar Augen der Richtung der seinen, dann ein zweites, und plötzlich erhob sich, wie von einem gemeinsamen Antrieb beseelt, die ganze Gemeinde und starrte auf die drei toten Jungen, welche gemächlich den Mittelgang heraufmarschierten. Tom voran, Joe hinter ihm, zuletzt Huck, eine wandelnde Ruine in Lumpen. Die drei waren in jener unbenutzten Emporgalerie verborgen gewesen und hatten ihre eigene Grabrede mit angehört!

Tante Polly, Mary und Harpers stürzten sich auf die wiedergeschenkten Ihrigen und erstickten dieselben fast mit Küssen und Umarmungen. Der arme Huck aber stand daneben, blöde und verschüchtert, wußte nicht, was er tun oder wo er sich bergen sollte vor so viel starrenden Augen, von denen nicht eines ihm einen Willkommengruß bot. Er wandte sich halb und versuchte fortzuschleichen, Tom aber faßte ihn und rief:

»Tante Polly, das ist nicht recht und nicht schön. Es muß sich auch jemand freuen, daß Huck wieder da ist.«

»Das müssen wir, Tom, mein Junge, und wollen’s auch, armes, elternloses Kind!« Wenn aber etwas das Gefühl des Mißbehagens bei Huck noch vermehren konnte, so waren es die Zärtlichkeiten, mit denen Tante Polly ihn überhäufte.

Plötzlich rief der Geistliche mit aller Kraft seiner Lunge in den Lärm hinein:

»Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren! – Nun singet! – Aber herzhaft!«

Und sie sangen. Triumphierend mit gewaltigem Klang erscholl das alte, hehre Lob- und Danklied, die Töne stiegen und schwollen und schienen die Grundfesten des Gebäudes zu erschüttern. Tom Sawyer, der Pirat, blickte um sich, sah aller Augen auf sich gerichtet und fühlte, daß dies der stolzeste Moment seines Lebens sei.

Als die Gemeinde die Kirche verließ, meinten alle, von Herzen gerne würden sie sich noch einmal zum besten haben lassen, nur um »Lobet den Herren« wieder so erhebend singen zu hören.

*

Das also war Toms großes Geheimnis gewesen: der Plan, mit seinen Spießgesellen heimzukehren und ihrem eigenen Trauergottesdienst beizuwohnen. – Auf einem alten Baumstamm waren sie abends nach dem Missouriufer geschwommen, fünf oder sechs Meilen unterhalb des Städtchens gelandet, hatten in dem Walde, der die Stadt begrenzte, beinahe bis Tagesanbruch geschlafen, dann sich durch einige Seitengäßchen zur Kirche geschlichen, wo sie in der Empore ihren Schlaf vollendeten, inmitten eines Chaos von wackeligen alten Kirchenbänken.

Beim Frühstück am Montag morgen waren Tante Polly und Mary besonders zärtlich gegen Tom und voll Aufmerksamkeit gegen seine Wünsche, Man sprach ungewöhnlich viel. Im Laufe der Unterhaltung äußerte Tante Polly:

»Na, Tom, ich will nicht sagen, daß es für euch Jungens nicht ein Kapitalspaß gewesen sein muß, uns hier alle in Sorge und Kummer zu wissen, während ihr’s euch da draußen wohl sein ließet. Daß du aber so hartherzig sein konntest, Tom, und mich so zappeln und mich grämen lassen, das, Tom, das hätt‘ ich doch nicht von dir gedacht! Wenn du hast herüber kommen können, um deine eigene Leichenrede zu hören, so hättest du mir vorher wohl auch ’nen kleinen Wink geben dürfen, daß du nicht tot seiest, sondern nur davongelaufen.«

»Ja, Tom, das ist wahr, das hättest du tun müssen,« stimmte Mary bei, »und du würdest es wohl auch getan haben, wenn du dran gedacht hättest, – gelt?«

»Ja, Tom?« fragte nun Tante Polly, deren Antlitz sich bei Marys Worten bedeutend aufgeklärt, »sag mal, hättest du’s wirklich getan, wenn du dran gedacht hättest?«

»Ich – ja, ich weiß nicht, ich – ei, das hätt‘ ja alles verdorben.«

»Tom, ich dachte immer, so lieb würdest du mich doch wenigstens haben,« sagte Tante Polly ganz vorwurfsvollen, betrübten Tones, wobei es dem Jungen gar nicht wohl war. »’s war schon was gewesen, wenn du nur dran gedacht hättest, auch ohne es zu tun.«

»Na, Tantchen,« beruhigte Mary, »das ist nun mal so Toms flüchtige Art – der ist immer so in der Hast und im Eifer, daß er nie an irgend etwas denkt.«

»Um so schlimmer. Sid hätt‘ dran gedacht und Sid war auch gekommen und hätt’s getan. Tom, du wirst nochmal dran zurückdenken, wenn’s zu spät ist, und wünschen, daß du besser gegen deine alte Tante gewesen wärst, wo doch so wenig dazu gehört, mich –«

»Komm, Tantchen, du weißt, daß ich dich lieb hab‘, du mußt’s ja wissen, gelt?« schmeichelte Tom.

»Würd’s besser wissen, wenn du’s besser zeigtest.«

»Ich wollt, ich hätt‘ dran gedacht,« meinte Tom sinnend und mit reuigem Ton, jedenfalls aber hab‘ ich von dir geträumt. Das ist doch schon etwas, nicht? Ei, in der Nacht von Mittwoch träumte mir, ihr säßet alle dort beim Bett, Sid sah auf dem Holzkasten und Mary dicht daneben.«

»Ja und so war’s auch, – wie gewöhnlich. Ich bin froh, daß du dir in deinem Traum wenigstens die Mühe gabst, an uns zu denken.«

»Ja, und Joe Harpers Mutter war auch da, träumte ich.«

»Das war sie wirklich, Herr du mein, – na und was weiter, Tom, was weiter?«

»Viel noch, aber jetzt ist alles so verworren.«

»Na, besinn dich doch, probier’s mal, kannst du nicht?«

»Wart‘ mal, ich mein‘, der Wind – der Wind hätt‘ was ausgeblasen –«

»Ausgeblasen? ne, Tom, besinn dich besser, der Wind.«

»Richtig, wart‘, jetzt hab ich’s. Der Wind hat das Licht flackern machen und –«

»Herr, erbarm dich! – Weiter, Tom, weiter!«

»Na und ich glaub, du sagtest: ›Was, seht doch mal die Tür, die –‹«

»Weiter, Tom!«

»Wart ’nen Moment, nur ’nen Moment! O ja, jetzt hab ich’s – du sagtest, sie sollten nach der Türe sehen, die sei offen –«

»So wahr ich hier sitze, so sagt ich, gelt, Mary? Weiter!«

»Nanu – dann – ja gewiß weiß ich’s nicht mehr, aber ich meine, du hältst Sid geheißen, sie zuzumachen und – und –«

»So was lebt nicht mehr! Herr du mein Gott, Komm mir nur keiner mehr damit, daß Träume Schäume seien. Das soll die Harpern hören, eh‘ ich ’ne Stunde älter bin! Möcht wissen, wie sie sich da rausreden wird mit ihrem Unsinn von Aberglauben, über den sie so wohlweise schwatzt. Weiter, Tom!«

»Na, jetzt ist mir alles klar wie Sonnenschein! Dann hast du gesagt, ich war nicht schlecht, nur toll und voll Teufeleien und Unsinn, wüßt nicht mehr, was ich tat, als wie ein – ein – ein Füllen, mein‘ ich, war’s, oder so etwas.«

»Richtig, richtig. Großer, allmächtiger Gott! Weiter, Tom!«

»Dann hast du geweint –«

»Weiß Gott, weiß Gott und nicht zum erstenmal. Dann –«

»Dann fing Joes Mutter auch an zu weinen und sagte, mit ihrem Joe sei’s grad so und sie wollt nur, sie hätt‘ ihn nicht durchgewichst um den alten Rahm, den sie doch selber weggeschüttet –«

»Tom, Tom! Der Geist war über dir! Das ist ja die reine Eingebung, gar nichts anderes! Gott sei mir gnädig! – Weiter, Tom!«

»Dann kam Sid, der sagte –«

»Ich glaub, daß ich gar nichts gesagt hab’«, warf Sid rasch ein.

»Doch, Sid, doch«, berichtigte Mary.

»Schweigt still und laßt Tom reden! Was hat Sid gesagt, Tom?«

»Der sagte – na, ja, er hoffe, mir gehe es besser, wo ich sei, wenn ich aber manchmal besser –«

»Na, was sagt ihr nun?« triumphierte Tante Polly »Seine eigenen Worte!«

»Und du, Tantchen, du bist ihm eklig über den Mund gefahren, du –«

»Das bin ich, weiß Gott, das bin ich! Ein Engel muß uns belauscht haben: Ein heiliger Himmelsengel muh irgendwo verborgen gewesen sein!«

»Und dann erzählte Frau Harper, wie Joe ihr einen Schwärmer unter der Nase losgebrannt, und du erzähltest von Peter und dem ›Schmerzenstöter‹.«

»So wahr ich lebe!«

»Und dann redetet ihr alle durcheinander, wie man den Fluß abgesucht nach uns und daß am Sonntag der Trauergottesdienst sein solle, und dann habt ihr euch umarmt, die Frau Harper und du, und geweint und dann ging sie weg.«

»Grad so war’s, grad so! So wahr ich hier auf meinem Stuhl sitze! Tom, du hättest es nicht besser erzählen können, wenn du dabei gewesen wärest. Und dann was? Weiter, Tom!«

»Und dann hast du für mich gebetet, ich hab dich gesehen und jedes Wort gehört. Dann hast du dich ins Bett gelegt und ich war so betrübt, daß ich ein Stück Rinde nahm und drauf schrieb: ›Wir sind nicht tot, wir sind nur davongegangen, um Seeräuber zu werden.‹ Das hab ich auf den Tisch zum Licht hingelegt, und du hast so gut ausgesehen und so betrübt, wie du da gelegen hast und geschlafen, daß ich mich über dich beugen mußte und dich küssen.«

»Hast du das getan, Tom, wirklich und wahrhaftig? – Darum will ich dir alles, alles verzeihen!« Und sie riß den Jungen in einer ihn fast erstickenden Umarmung an sich und Tom hatte dabei das Bewußtsein eines elenden, erbärmlichen Schurken.

»Freundlich und lieb war’s ja,« murmelte Sid, den anderen hörbar, vor sich hin, »aber – doch nur im Traum!«

»Halt den Mund, Sid, man tut im Traum immer doch nur das, was man auch wachend tun würde. Hier hast du einen schönen Goldrenettenapfel, Tom, den hab ich dir aufgehoben, falls du je wieder gefunden werden solltest, – jetzt macht euch fort in die Schule! Wie dankbar bin ich unserem Gott und Vater, daß ich dich wieder hab. Er ist barmherzig und gnädig mit denen, die an ihn glauben und seine Gebote halten, obgleich ich, weiß Gott, ein unwürdiges Gefäß seiner Güte bin. Wenn er aber nur denen, die’s verdienen, seinen Segen geben wollte, und ihnen helfen in der Not und der Trübsal, so würde man hier unten keinen frohen Ton mehr hören, und wenige würden zu seiner Ruhe eingehen, wenn die lange Nacht einst kommt. So, und nun hebt euch fort, Sid, Mary, Tom – ihr habt mich lang genug aufgehalten.«

Die Kinder trollten zur Schule und die alte Dame machte sich fertig, um Frau Harper aufzusuchen und ihren Unglauben mit Toms wunderbarem Traum zu besiegen. Sid war zu klug, um den Gedanken laut werden zu lassen, der ihn beseelte, als er das Haus verließ. Dieser Gedanke war:

»Ziemlich durchsichtig – ein so ellenlanger Traum und ohne den winzigsten, kleinsten Irrtum! Wenn das nicht –«

Welch ein Held war Tom geworden! Er hüpfte und galoppierte jetzt nicht mehr, wenn er auf der Straße ging, sondern mit würdevoller Haltung, wie sie einem gewesenen Piraten geziemte, stolzierte er einher in dem Bewußtsein, daß das Auge der Öffentlichkeit auf ihm ruhe. Das war in der Tat der Fall. Wohl versuchte er sich zu stellen, als sähe er die Blicke nicht, als höre er die Bemerkungen nicht, während er so dahinschritt, und doch waren sie Nektar und Ambrosia für ihn. Kleinere Jungen folgten truppweise seinen Spuren, stolz darauf, mit ihm gesehen, von ihm geduldet zu werden, der an ihrer Spitze einhermarschierte wie der Tambourmajor an der Spitze seiner Kompagnie. Jungen seines Alters taten, als wüßten sie gar nichts davon, daß er überhaupt weggewesen, verzehrten sich aber trotzdem beinahe vor Neid. Sie würden alles drum gegeben haben, seine gebräunte, sonnverbrannte Haut, seine glänzende, weltkundige Berühmtheit zu besitzen, Tom aber hätte keinen dieser beiden Faktoren hergegeben, nicht für alles – nicht für einen Zirkus!

In der Schule machte man so viel Aufhebens von ihm und Joe, solches Staunen, solche Bewunderung strahlte den beiden aus allen Augen entgegen, daß die zwei Helden gar bald eine unerträgliche Aufgeblasenheit zeigten. Sie begannen den eifrig lauschenden Hörern ihre Abenteuer zu schildern, – ohne aber je über den Anfang hinauszukommen, denn eine solche Erzählung konnte kein Ende haben, wenn eine Einbildungskraft wie die ihre stets unerschöpfliches Material lieferte. Als sie dann schließlich ihre Pfeifen hervorzogen und mit größter Unbefangenheit zu schmauchen begannen – da war der Gipfel des Ruhms erklommen.

Tom beschloß, sich unabhängig zu machen von Becky Thatcher, Ruhm war ihm genügend, nach Liebe fragte er nichts mehr. Er wollte sein Leben dem Ruhme weihen. Jetzt, da er ein berühmter Held geworden, werde sie wohl versuchen, Frieden zu schließen, dachte er. Aber sie sollte sehen, daß er mindestens so gleichgültig sein könne wie andere Leute. Dort kam sie eben. Tom tat, als bemerke er sie nicht. Er wandte sich ab und einer Gruppe von Jungen und Mädchen zu, mit denen er eifrig zu plaudern begann. Bald sah er, daß sie mit glühenden Wangen und glänzenden Augen umhertrippelte, ihre Gefährtinnen neckte, sie herumjagte und vor Lachen aufkreischte, wenn es ihr gelang, eine zu erhaschen. Auch bemerkte er, daß dies meistens in seiner unmittelbaren Nachbarschaft der Fall war und daß ihn dann jedesmal ihr Blick streifte. Das schmeichelte seiner sündlichen Eitelkeit und anstatt sich dadurch versöhnen zu lassen, stellte er sich nur noch mehr, als ob er von ihrer Existenz überhaupt nichts wisse. Alsbald gab sie das Herumtollen auf, drückte sich unentschlossen von einer Gruppe zur anderen, seufzte ein-, zweimal und sah verstohlen und bedeutungsvoll nach Tom hin. Jetzt bemerkte sie, daß dieser sich angelegentlich mit Anny Lorenz zu tun machte. Ein jäher Schmerz durchzuckte sie, ihr ahnte nichts Gutes, Sie versuchte sich fortzustehlen, ihre Füße aber wurden zu Verrätern und trugen sie statt dessen gerade zu der Gruppe hin. Einem Mädchen, das dicht neben Tom stand, rief sie mit übertriebener Lebhaftigkeit zu: »Ei, Mary Austin, du böses Mädchen, warum warst du gestern nicht in der Sonntagsschule?«

»Ich war ja dort – hast du mich nicht gesehen?«

»Nein! Warst du wirklich dort? Wo hast du denn gesessen?«

»In der Klasse von Fräulein Peters, wo ich immer sitze. Ich hab dich gesehen.«

»Wirklich? Nein, wie komisch, daß ich dich nicht gesehen habe, ich wollte dir von dem Picknick erzählen.«

»O, das ist lustig! Wer will eins geben?«

»Meine Mama will mir erlauben, eins zu halten.«

»Das ist ja prächtig, – hoffentlich darf ich auch kommen?«

»Natürlich. Es ist ja mein Picknick. Es darf jeder kommen, den ich haben will, und dich will ich.«

»Nein wie reizend! Wann soll’s denn sein?«

»Bald. Vielleicht noch vor den Ferien.«

»Wird das lustig werden! Wirst du alle einladen?«

»Gewiß, alle, die meine Freunde sind – oder sein wollen. Ein verstohlener Blick traf Tom; der aber schwatzte mit Anny Lorenz vom Sturm auf der Insel und wie der Blitz die große Sykomore gefällt und in Splitter gerissen hatte, »keine drei Schritte von ihm entfernt.«

»Darf ich auch kommen?« fragte Grace Miller.

»Ja.«

»Und ich?« fragte Sally Rogers.

»Gewiß!«

»Ich auch?« fiel Susanne Harper ein, »und mein Joe auch?«

»Natürlich.«

Und mit Jubel und Händeklatschen hatte jedes in der Gruppe um Erlaubnis gefragt, bis auf Tom und Anny. Immer weiter plaudernd wandte er sich kühl ab und nahm Anny mit sich. Beckys Lippen zitterten, Tränen traten in ihre Augen. Mühsam barg sie diese Zeichen des Herzeleids unter erzwungener Lebhaftigkeit, fuhr fort zu plappern und zu lachen, aber das Picknick hatte jetzt jeden Reiz für sie verloren und alles übrige dazu. Sobald sie konnte, schlich sie davon, versteckte sich und weinte sich einmal ordentlich aus. Dann saß sie mürrisch und tiefgekränkt da, bis die Schulglocke läutete. Das rüttelte sie auf und mit rachedurstigem Blick sprang sie empor, schüttelte die langen Zöpfe zurecht und war jetzt mit sich darüber im reinen, was sie zu tun habe.

In der Pause setzte Tom sein Scharmutzieren mit Anny fort, voll jubelnder Selbstzufriedenheit. Er versuchte sich dabei stets in Beckys Nähe zu halten, um sie mit dem Anblick zu foltern. Erst fand er sie nicht; endlich erspähte er sie und siehe da – sein Thermometer sank, sank bis ins Bodenlose hinein. Da saß sie ganz behaglich auf einem Bänkchen hinter dem Schulhause, saß und schaute mit Alfred Tempel zusammen in ein Bilderbuch. Und so versunken waren die beiden und so dicht hatten sie die Köpfe über dem Buch zusammengesteckt, daß sie nichts zu bemerken schienen von dem, was um sie her vorging in der weiten Welt. Eifersucht rieselte glühend heiß durch Toms Adern. Er haßte sich selber, daß er die Gelegenheit verpaßt, die Becky ihm geboten, um wieder gut Freund zu werden. Er nannte sich einen Narren, einen Dummkopf und was dergleichen liebenswürdige Titel mehr sind. Beinahe hatte er geweint vor Ärger. Anny schnatterte inzwischen lustig weiter, denn ihr Herz frohlockte und jubilierte, während Toms Zunge ihm beinahe den Dienst versagte. Kaum hörte er, was Anny plauderte, und jedesmal, wenn sie, seine Antwort erwartend, innehielt, brachte er nur ein zerstreutes »ja« oder »nein« heraus und zwar meist am verkehrten Platze, Immer wieder lenkte er seine Schritte nach der Hinterseite des Schulhauses, als würden seine Augen von dem verhaßten Schauspiel angezogen. Gegen seinen Willen zog es ihn hin, und es machte ihn beinahe toll, daß Becky Thatcher anscheinend nicht im entferntesten dran dachte, daß er auch noch unter den Lebenden weile. Sie aber sah ihn recht wohl, wußte, daß sie Siegerin blieb im Kampfe, freute sich, daß er litt und zwar schlimmer, als sie zuvor hatte leiden müssen. Annys ahnungsloses, fröhliches Geplauder wurde unerträglich. Tom deutete an, daß er etwas zu tun habe und fort müsse, daß die Zeit verrinne – umsonst, das Mädel schwatzte weiter. Tom dachte: »Hol sie der Kuckuck; soll ich sie denn heut gar nicht wieder los werden?« Zuletzt, als es ihn nicht länger hielt, gab ihm die arglose Seele das Versprechen, nach der Schule auf ihn zu warten. Er eilte ganz wütend davon.

»Jeder andere Junge,« dachte Tom zähneknirschend, »jeder andere Junge in der ganzen Stadt, nur nicht der. So ’n geschniegelter Aff‘, der sich für Gott weiß was hält, und meint, er sei viel besser als unsereiner. Na, gut! Hab‘ ich dich am ersten Tag durchgedroschen, als du kaum in die Stadt hereingerochen hattest, du Tugendspiegel, werd ich’s auch jetzt noch fertigbringen. Wart, wenn ich dich mal alleine erwisch, dann setzt’s was!«

Im Eifer hieb er um sich, als ob er den Feind jetzt schon unter den Fäusten hätte, – fuchtelte in der Luft umher und schlug mit Händen und Füßen aus.

»Na, bist du nun zufrieden, Kerl, he? Schrei ›genug‹, ›genug‹, sag ich dir! Da lauf und das nächstemal hüt dich!«

Damit endete die eingebildete Züchtigung sehr zur Zufriedenheit Toms.

In der Mittagspause flüchtete sich Tom nach Hause, Er konnte Annys Glückseligkeit nicht mehr mit ansehen und die Qualen der Eifersucht nicht länger ertragen, Becky hatte sich von neuem an das Bilderbesehen mit Alfred gemacht, als aber Minute auf Minute verrann und kein Tom sich zeigte, um sich ärgern zu lassen, da verringerte sich ihr Triumph und es lag ihr nichts mehr an der Sache. Erst wurde sie ernst und zerstreut, dann tief niedergeschlagen. Zwei- oder dreimal spitzte sie die Ohren, als sich ein Schritt näherte, jedesmal aber war’s vergebliches Hoffen. Zuletzt wurde ihr ganz erbärmlich zumute und sie wünschte innigst, es nicht so weit getrieben zu haben. Der arme Alfred, welcher sah, daß sie sich ihm unmerklich entzog, munterte sie fort und fort auf: »Sieh mal, hier ist was Schönes, sich doch nur her«, bis ihr zuletzt die Geduld ausging und sie mit dem unwilligen Rufe: »Was liegt mir dran, laß mich in Ruhe«, in Tränen ausbrach und davonrannte.

Alfred hielt sich ritterlich an ihrer Seite und versuchte sie zu trösten. Sie aber schleuderte ihm entgegen:

»Laß mich in Frieden; ich kann dich nicht ausstehen!«

So blieb denn der Junge zurück und sann hin und her, was er ihr wohl getan haben könne, denn vorher hatte sie ihm doch versprochen, während der ganzen Mittagspause Bilder mit ihm anzusehen. Sie aber rannte weiter, immerzu weinend. Alfred schlich sich nachdenklich in das einsame Schulzimmer zurück; er war sehr gedemütigt und ärgerlich, denn jetzt ging ihm ein Licht auf, daß das Mädel ihn nur benutzt habe, um ihren Ärger an Tom Sawyer auszulassen. Diese Überzeugung trug nicht dazu bei, ihm Tom lieber zu machen. Er sehnte sich nach einer Gelegenheit, diesem etwas einzubrocken, natürlich ohne sich selber bloßzustellen. Da fiel ihm Toms Lesebuch ins Auge und ein Gedanke schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Er schlug das Buch an der Stelle auf, die sie am Nachmittag brauchen würden, und goß Tinte drüber. Becky, die im selben Moment hinter ihm zum Fenster hereinlugte, sah alles mit an, verriet sich aber nicht. Sie wandte sich heimwärts in der Absicht, Tom aufzusuchen und ihm alles zu erzählen, dann würden sie schnell wieder gut Freund sein. Ehe sie aber halbwegs zu Hause war, hatte sie sich anders besonnen. Der Gedanke daran, wie Tom sie behandelt, als sie von ihrem Picknick gesprochen, überfiel sie plötzlich wieder mit glühender Beschämung. Sie beschloß, ihm seine Prügel für das verschmierte Buch zu gönnen und ihn obendrein von Herzen zu hassen und zu verabscheuen für immer und ewig.