Entzücken und Grauen.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Wiederum war Tom zum strahlenden Helden der Stadt geworden, – ein Liebling der Alten, der Neid der Jugend. Sein Name wurde sogar durch den Druck unsterblich gemacht, das Blättchen der Stadt erging sich in vielen Lobpreisungen seiner Heldentat. Einige seiner Mitbürger dachten allen Ernstes daran, daß er Aussicht haben könne, einstmals Präsident zu werden – d.h., wenn er nicht zuvor gehenkt würde.
Wie gewöhnlich schloß die unbeständige, gedankenlose Welt Muff Potter jetzt an ihr Herz, schmeichelte ihm und hätschelte ihn so ausgiebig, wie sie ihn zuvor beschimpft hatte. Da ihr dies Verfahren im Grund aber zur Ehre gereicht, wollen wir’s nicht weiter tadeln.
Toms Tage waren Tage des Glanzes und des Entzückens, seine Nächte dagegen Zeiten des Grauens. Der Indianer-Joe spukte in all seinen Träumen, Tod und Vernichtung standen ihm im Gesichte geschrieben. Keine Versuchung, noch so groß, gab es nun, die den Jungen hätte bewegen können, nach Einbruch der Nacht sich hinauszuwagen. Der arme Huck befand sich ganz im selben Zustand des Schreckens und Entsetzens, denn Tom hatte am Abend vor der letzten Gerichtsverhandlung dem Verteidiger von Muff Potter die ganze Sache haarklein gebeichtet und Huck zitterte davor, daß sein Anteil an der Geschichte doch noch ruchbar werden könnte, trotzdem ihm des Indianer-Joe Flucht die Qual eines öffentlichen Erscheinens vor Gericht erspart hatte. Der arme Bursche hatte freilich den Herrn Verteidiger beschworen, reinen Mund zu halten, und dieser hatte es ihm auch versprochen; aber welche Sicherheit bot ihm das? Seit die Gewissensqual Tom dazu getrieben, dem Verteidiger bei Nacht und Nebel jenes grause Geheimnis zu enthüllen, das ihm mit schauerlichen, unheimlichen Eiden für ewig auf die Lippen gesiegelt schien, war Hucks Vertrauen in das menschliche Geschlecht erschüttert, ja vernichtet. Alltäglich erfüllten Muff Potters rührende Dankesbeweise Tom mit Freude und Stolz, daß er geredet, und allnächtlich wünschte er inständig, das Geheimnis bewahrt zu haben. Einmal fürchtete Tom, man möchte den Indianer-Joe niemals erwischen, dann wieder entsetzte ihn der Gedanke, daß man ihn doch später finden könne. Er fühlte mit Bestimmtheit, daß er keinen ruhigen Atemzug mehr tun könne, ehe dieser Mensch nicht tot sei und er seine Leiche gesehen habe.
Belohnungen waren ausgesetzt, die ganze Gegend durchsucht worden, aber kein Indianer-Joe wurde gefunden. Man hatte eines jener allwissenden, scheue Ehrfurcht einflößenden Wunderwesen, einen Detektiv aus St. Louis, verschrieben. Der schnüffelte umher, schüttelte sein weises Haupt, sah geheimnisvoll aus, und hatte denselben erstaunlichen Erfolg, den die meisten Angehörigen seines Berufes erringen, das heißt, er entdeckte, wie er sagte, »den Schlüssel zum Rätsel«. Da man aber besagten Schlüssel nicht des Mordes verklagen und henken konnte, fühlte sich Tom, nachdem der weise Mann gegangen, ebenso unsicher als zuvor.
Die Tage schleppten sich langsam dahin, zum Glück aber nahm ein jeder neue Tag ein klein wenig von der Seelenangst mit sich hinweg, die auf dem armen Knaben lastete.