Sechstes Kapitel.

Wanzendressur und Liebeserklärungen.

Sechstes Kapitel.

Je eifriger Tom sich bemühte, seine Gedanken fest auf das Buch zu heften, um so rastloser schweiften sie rings in der Weite herum. So gab er es denn zuletzt mit einem Seufzer und einem Gähnen auf. Ihm schien die erlösende Mittagsstunde heute niemals schlagen zu wollen. Die Luft draußen war vollständig regungslos, nicht der kleinste Hauch belebte die Stille. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage. Das eintönige Gemurmel der fünfundzwanzig eifrig studierenden Schüler umspann die Seele mit demselben einschläfernden Zauber, der in dem Gesumm der Bienen liegt. Hoch oben am blauen Sommerhimmel schwebten zwei Vögel auf trägen Schwingen, sonst war draußen kein lebendes Wesen zu erblicken, außer einigen Kühen, welche schliefen.

Toms Herz sehnte sich nach Freiheit, oder doch wenigstens danach, irgend etwas von Interesse zu haben, das ihm die schreckliche Langeweile vertreiben helfe. Mechanisch wanderte seine Hand zur Tasche und, siehe da, sein Antlitz erhellte ein Strahl dankbarer Rührung. Verstohlen kam die kleine Schachtel zum Vorschein, die Baumwanze wurde befreit und auf den langen, schmalen Schultisch gesetzt. Die unvernünftige Kreatur erglühte in diesem Augenblick Wohl gleichfalls in tiefster Dankbarkeit, doch diese Wonne kam verfrüht, denn kaum hatte sie sich jubelnden Herzens marschfertig gemacht, als das grausame Schicksal, in Gestalt einer Stecknadel in Toms Hand, ihrem Laufe eine andere Richtung gab.

Toms Busenfreund saß neben ihm, leidend, wie dieser soeben noch gelitten, und zeigte sich augenblicklich von tiefstem, dankbarstem Interesse erfüllt für die neue Unterhaltung. Dieser Busenfreund war Joe Harper. Die ganze Woche hindurch waren die beiden Jungen geschworene Freunde, der Sonnabend nur sah sie regelmäßig als Gegner auf dem Schlachtfelde. Joe zog sofort eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter und begann sich mit Lust und Liebe am Einexerzieren der gefangenen Wanze zu beteiligen. Von Minute zu Minute nahm die Sache an Interesse zu. Bald meinte Tom, daß sie sich gegenseitig nur hinderten und somit keiner den vollen Genuß an der Wanze haben könne. So nahm er denn Joes Tafel vor sich hin auf den Tisch und zog von oben bis unten eine Linie genau durch die Mitte derselben.

»Jetzt,« sagte er, »paß auf! Solang die Wanze auf deiner Seite ist, darfst du sie treiben mit der Nadel und ich laß sie in Ruhe. Brennt sie dir aber durch und kommt zu mir herüber, dann siehst du zu, so lang, bis sie mir wieder durchgeht. Hast du verstanden?«

»Schon gut, nur vorwärts,« trieb der ungeduldige Joe, – »kitzle sie ‚mal ein bißchen!«

Die Wanze entwischte Tom schleunigst und passierte die Linie, nun war die Reihe des »Kitzelns« an Joe, gleich danach hatte sie wiederum den Äquator gekreuzt. Dieser Wechsel wiederholte sich des öfteren. Während nun der eine Junge die unglückselige Baumwanze mit der Nadel anspornte, in nimmer erlahmendem Eifer, schaute der andere in atemloser Spannung zu, die beiden Köpfe waren tief über die Tafel gebeugt, die beiden Seelen schienen der ganzen übrigen Welt wie abgestorben. Endlich wollte sich das launenhafte Glück für Joe entscheiden, an seine Fersen heften. Die Wanze versuchte auf allen möglichen Wegen zu entwischen und wurde bei der Jagd so lebhaft und erregt, wie die Jungen selber. Aber wieder und wieder, gerade als sie den Sieg schon sozusagen in Händen hielt und Toms Finger juckten und zappelten vor Begier, in die Aktion eingreifen zu können, gerade im entscheidenden Moment lenkte Joes Nadel geschickt den Flüchtling nach seiner Seite zurück und wahrte sich den Besitz dieses köstlichen Gutes. Endlich konnte es Tom nicht länger aushalten, die Versuchung war zu groß. So streckte er denn die Hand aus und begann mit seiner Nadel nachzuhelfen. Da aber wurde Joe zornig und rief drohend:

»Tom, laß das bleiben!«

»Ich will dir ja nur ein klein bißchen helfen, Joe.«

»Ach was, helfen! Brauch dich nicht, laß bleiben, sag ich.«

»Kuckuck noch einmal. Ich werd‘ doch auch ein bißchen helfen, dürfen!«

»Laß bleiben, sag ich dir!«

»Ich will aber nicht.«

»Du mußt – die Wanze ist auf meiner Seite.«

»Hör mal zu, Joe Harper. Wem gehört die Wanze denn eigentlich, dir oder mir?«

»Das ist mir ganz einerlei. Eben ist sie auf meiner Seite der Linie und du sollst sie nicht anrühren, oder –«

»Na, wettst du, daß ich’s tu‘? Die Wanze ist mein und ich kann mit ihr machen, was ich will – hol‘ mich der und jener! Her damit, sag ich!«

Ein saftiger Hieb sauste hernieder auf Toms Schultern, ein Zwillingsbruder desselben traf Joes Rücken; zwei Minuten lang waren die Jungen in eine Staubwolke gehüllt, die aus ihren Jacken aufwirbelte, zum ungeheuren Gaudium der ganzen Schule. Die beiden Sünder waren zu versunken gewesen in ihre Beschäftigung, um das verhängnisvolle Schweigen zu bemerken, das eingetreten war, als der Lehrer auf den Fußspitzen nach ihnen hinschlich und dann hinter ihnen stehen blieb. Er hatte eine hübsche Weile der seltenen Beschäftigung zugeschaut, ehe er sich erlaubte, seinen Teil zur Mehrung des Vergnügens beizutragen.

Als die Schule dann um Mittag aus war, flog Tom auf Becky Thatcher zu und wisperte ihr ins Ohr:

»Setz deinen Hut auf und tu‘, als ob du heim wolltest. Wenn du an der Ecke bist, laß die andern laufen und komm durchs Heckengäßchen zurück. Ich mach’s grad‘ auch so.«

So ging also jedes der beiden mit einem andern Haufen Kinder ab, am Ende des Heckenpfades trafen sie einander, und als sie dann zusammen die Schule erreichten, hatten sie dieselbe ganz für sich allein. Sie setzten sich nebeneinander, nahmen eine Tafel vor und Tom führte Beckys mit dem Griffel bewaffnete Hand sorgsam mit der seinen und schuf ein neues erstaunliches Wunder von Haus. Als das Interesse an der Kunst etwas zu erlahmen begann, machten sich die zwei ans Plaudern. Tom schwamm in einem Meer von Wonne. Jetzt fragte er:

»Magst du Ratten?«

»Puh nein, ich kann sie nicht ausstehen.«

»Ich auch nicht – lebendige wenigstens. Aber tote, mein‘ ich, die man an eine Schnur bindet und um seinen Kopf schwingt.«

»Nee, ich mach mir überhaupt nicht viel aus Ratten, so oder so. Was ich gern mag, ist Süßholz!«

»Das glaub‘ ich. Wollt‘, ich hätt‘ ein Stück!«

»Wirklich? Ich hab eins. Da, du kannst ein bißchen dran kauen, mußt mir’s aber dann wiedergeben, gelt?«

Das war nun eine wundervolle Beschäftigung. So kauten sie denn abwechselnd und baumelten dazu mit den Beinen gegen die Bank im Übermaß wonnigsten Behagens.

»Warst du schon einmal im Zirkus?« fragte Tom.

»Ja, und ich darf wieder hin, hat Papa versprochen, wenn ich sehr brav bin.«

»Ich war schon drei- oder viermal – nee noch viel, viel öfter dort. Die Kirche ist gar nichts dagegen! Im Zirkus ist immer was los. Wenn ich mal groß bin, werd‘ ich Hanswurst!«

»Wahrhaftig? Das wird reizend! Die sind immer so wunderhübsch gefleckt, Hosen und Jacke und alles.«

»Das ist wahr. Und sie verdienen Haufen von Geld – beinahe ’nen Dollar im Tag, meint Ben Rogers, Sag mal, Becky, warst du schon mal verlobt?«

»Was ist denn das?«

»Na, verlobt – wenn man sich heiraten will.«

»Nein, nie.«

»Möchtest du’s gern?«

»Vielleicht, ich weiß nicht. Wie ist’s denn ungefähr?«

»Wie’s ist? Ja, wie gar nichts eigentlich. Du brauchst nur ’nem Jungen zu sagen, du wolltest keinen andern haben als ihn, nie, nie und nimmer, dann gibst du ihm ’nen Kuß und die Geschichte ist fertig. Das kann doch ein kleines Kind – nicht?«

»’nen Kuß? Warum denn den?«

»Ja, das muß man, weil, – kurz sie tun’s eben alle, das gehört dazu.«

»Alle tun’s?«

»Ja, alle die ineinander verliebt sind. Weißt du noch, was ich dir auf die Tafel geschrieben habe?«

»J–ja.«

»Was denn?«

»Ich sag’s nicht.«

»Soll ich’s sagen?«

»J–ja – aber ein andermal.«

»Nein, jetzt.«

»Nein, nicht jetzt – morgen.«

»Ach nein, jetzt, bitte, bitte, Becky. Ich will’s auch nur ganz, ganz leise sagen. Soll ich?«

Da Becky zögerte, nahm Tom ihr Schweigen für Zustimmung, schlang den Arm um sie, legte den Mund dicht an ihr Ohr und flüsterte ihr leise, leise die uralte Zauberformel zu. Dann fuhr er ermunternd fort:

»Jetzt bist du dran. Nun mußt du’s sagen – ganz dasselbe.«

Eine Weile widerstand sie und bat dann:

»Du mußt dein Gesicht dorthin drehen, daß du mich nicht sehen kannst, dann sag ich’s. Du darfst’s aber keinem, keinem Menschen wiedersagen, gelt Tom, das versprichst du, gelt?«

»Nie im Leben, Becky, gewiß und wahrhaftig. Na – denn los!«

Er wandte den Kopf ab, sie beugte sich schüchtern zu ihm, bis ihr Atem seine Wange streifte und seine Locken bewegte und flüsterte: »Ich – liebe – dich.«

Dann sprang sie auf, rannte um Bänke und Tische, Tom immer hinterdrein, nahm zuletzt Zuflucht in einer Ecke des Zimmers und drückte ihr Gesichtchen fest in die weiße kleine Schürze, Tom schlang die Arme um ihren Hals und bat:

»Jetzt, Becky, ist’s ja beinahe vorbei – nur noch der Kuß. Du brauchst dich doch davor nicht zu fürchten, das ist ja gar nichts. Bitte, Becky.«

Und er versuchte Schürze und Hände vom kleinen Gesicht zu lösen.

Allmählich gab sie nach und ließ die Hände sinken. Das Gesichtchen, ganz rot und erhitzt von der Anstrengung, kam zum Vorschein und unterwarf sich der Prozedur. Tom küßte die roten Lippen und sagte:

»So, jetzt ist’s geschehen, Becky. Und von jetzt an, weißt du, darfst du nur mich lieben und heiraten und gar, gar keinen andern, nie, niemals, in alle Ewigkeit nicht. Willst du?«

»Nein, ich will nie ’nen andern lieben, Tom, und nie ’nen andern heiraten als dich, aber du darfst’s auch nicht tun, Tom, darfst auch nie ’ne andere heiraten wollen.«

»Gewiß! Natürlich, das gehört auch dazu. Und immer auf dem Weg zur Schule oder nach Hause mußt du mit mir gehen, wenn’s niemand sieht, und bei Gesellschaften wähl ich dich und du mich zum Spiel, denn so macht man’s, wenn man verlobt ist.«

»Nein, wie hübsch! Davon hab ich noch gar nichts gewußt.«

»Ja, ’s ist schrecklich lustig. Ei, ich und Anny Lorenz –«

Beckys große, erschreckte Augen verrieten Tom sofort seinen Mißgriff. Verwirrt hielt er ein.

»O, Tom. Ich bin also nicht die erste, mit der du verlobt bist?«

Ihre Tränen flossen. Tom tröstete:

»Wein nicht, Becky. Ich mach mir gar nichts mehr aus der.«

»Doch, Tom, doch – du weißt selbst, daß du dir noch ‚was aus ihr machst …«

Tom versuchte den Arm um ihren Hals zu legen, sie aber stieß ihn fort, wandte das Gesicht der Wand zu und schluchzte herzbrechend weiter. Tom versuchte es noch einmal mit sanft zuredenden Worten und wurde wieder zurückgewiesen. Nun regte sich sein Stolz, stumm schritt er der Türe zu und ging hinaus. Draußen drückte er sich eine Weile herum, rastlos und unbehaglich, von Zeit zu Zeit nach der Türe schielend, in der Hoffnung, sie würde bereuen und kommen, ihn zurückzuholen. Sie aber kam nicht. Nun wurde ihm schlecht zumute und er begann zu fürchten, daß er selber im Unrecht sei. Es kostete ihn einen harten Kampf, noch einmal Annäherungsversuche zu machen, doch wappnete er sich schließlich mit Mannesmut und ging hinein. Dort stand Becky noch in ihrem Winkel und weinte, das Gesicht gegen die Wand gepreßt. Toms Herz krampfte sich zusammen bei dem Anblick. Er trat zu ihr, im Moment ratlos, wie er die Verhandlungen einleiten sollte. Endlich stieß er zögernd hervor:

»Becky, ich – ich mag keine andre mehr sehen, als dich.«

(Keine Antwort – nur erneutes Schluchzen.)

»Becky,« – (bittend).

»Becky, willst du mir gar nichts sagen?«

(Heftiges Schluchzen.)

Tom grub in seinen Taschen und brachte endlich das Kleinod seines Herzens, den Messingknopf irgendeines alten Deckels, zum Vorschein, hielt ihr denselben vor, so daß sie ihn sehen konnte und sagte in einladendem Tone:

»Bitte, Becky, nimm doch das da, sieh mal her!«

Sie aber schlug’s unbesehen zu Boden, Nun wandte sich Tom wortlos, schritt aus dem Hause und suchte das Weite, um für diesen Tag nicht zur Schule zurückzukehren. Bald ward es Becky klar, was sie verscherzt hatte. Sie rannte nach der Türe, auf den Hof, flog um die Ecke des Hauses – er war nicht mehr zu sehen. Nun erhob sie die Stimme:

»Tom, Tom, komm zurück, Tom!«

Atemlos lauschte sie, keine Antwort. Ihre einzigen Gefährten waren Schweigen und Einsamkeit, Wieder setzte sie sich, um zu weinen, und als dann die Schüler zu den Nachmittagsstunden herbeizuströmen begannen, mußte sie ihre Trauer bergen, ihr gebrochenes Herz zur Ruhe bringen und das Kreuz eines langen, trübseligen, schmerzvollen Nachmittags auf sich nehmen, ohne unter diesen Fremden auch nur eine fühlende Brust zu haben, die ihren Schmerz hätte teilen können. –

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Nächtliche Expeditionen.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Am nächsten Morgen beim Erwachen erschienen Tom die Erlebnisse des verflossenen Tages wie ein böser, schwerer Traum. Er grübelte und sann, und je mehr er nachdachte und überlegte, desto mehr kam es ihm vor, daß er geträumt habe. So viel Geld auf einmal beisammen zu sehen, konnte ja gar nicht Wirklichkeit sein. In seinem bisherigen Leben hatte er nie mehr als fünfzig Dollars auf einem Brett vor sich gesehen. Tausende von Dollars aber auf einem Haufen, das überstieg seine ausschweifendsten Vorstellungen, selbst von verborgenen Schätzen.

Noch ganz benommen von seinen Hirngespinsten kleidete er sich an, schlang wie geistesabwesend sein Frühstück hinunter, und machte sich alsbald auf, Huck zu suchen und sich von ihm die Bestätigung zu holen, daß alles nur Traum und Schaum gewesen. Er fand diesen am Ufer des Flusses in einem Nachen, mit den Beinen über den Bootrand baumelnd und mürrisch vor sich hinstarrend.

»Morr’n, Huck.«

»Morr’n, Tom, Verdammtes Pech, das, mit der Hacke und Schaufel!«

Also war’s doch kein Traum, sondern greifbare, wirkliche Wirklichkeit! Tom erzählte Huck von seinen Gedanken diesen Morgen.

»Schöner Traum!« brummte der als Antwort, »hätt‘ was Niedliches werden können, wenn die Stiege nicht zusammengekracht war. Mir hat’s auch die ganze Nacht geträumt, aber nur von dem Teufel von Spanier und von seiner ›Nummer Zwei‹.«

In bezug auf diese rätselhafte Nummer ergingen sich die Jungen in allerhand Vermutungen. Schließlich kamen sie überein, es solle wohl die Nummer des Zimmers in irgendeiner Herberge bedeuten, und Tom machte sich auf den Weg, es auszukundschaften.

Nach einer halben Stunde kam er zu Huck zurück und erzählte diesem, daß von den beiden Wirtshäusern der Stadt wohl nur eins in Frage kommen könne, denn in »Nummer Zwei« des einen wohne schon seit lange ein allgemein bekannter und geachteter junger Mann. »Nummer Zwei« des anderen Wirtshauses dagegen sei selbst dem Sohn des Hauses ein Geheimnis. Der sage, es werde immer geschlossen gehalten und nur bei Nacht höre er zuweilen Geräusch und sehe Licht darin. Er habe immer gedacht, es müsse dort spuken.

»Das hab ich entdeckt, Huck,« schloß Tom ganz erregt seinen Bericht, »Das ist so gewiß die ›Nummer Zwei‹, die wir suchen, so gewiß, wie ich hier vor dir steh!«

»Wird wohl so sein, Tom. Was sollen wir aber tun?«

»Laß mich ’n bissel nachdenken.«

Und Tom dachte eine lange Weile nach, dann sagte er:

»Paß mal auf. Siehst du, die Hintertür von der ›Nummer Zwei‹ führt in den kleinen, engen Gang zwischen dem Wirtshaus und der alten Mausefalle von Ziegelbrennerei. Du kaperst nun alle Türschlüssel, die du irgend erwischen kannst, und ich nehm meiner Tante ihre, und in der ersten dunklen Nacht schleichen wir hin und probieren, ob einer paßt. Daß du dich fein nach dem Spanier umsiehst! Der sagt ja, er wolle kommen und herumschnüffeln wegen seiner Rache. Und wenn du ihn entdeckst, dann folgst du ihm und siehst, ob er nach meiner › Nummer Zwei‹ geht, wenn nicht, ist’s natürlich Essig! Also, heut abend! Bring nur brav Schlüssel mit!«

Am Abend waren Huck und Tom bereit zu ihrem Abenteuer. Sie trieben sich in der Nachbarschaft der Herberge herum, konnten aber nirgends etwas Verdächtiges erspähen. Um ungesehen das Experiment mit den Schlüsseln vornehmen zu können, war die Nacht viel zu hell, und so zog sich denn Tom bald nach zehn Uhr zurück, heimwärts, dem warmen Neste zu, während Huck, der etwas langer aushielt, gegen zwölf in einem leeren Zuckerfaß für die Nacht unterkroch.

Dienstag nacht verfolgte die Jungen derselbe Unstern, ebenso Mittwoch, Donnerstag endlich standen dicke Wolken am Himmel und versprachen eine schöne, dunkle Nacht, Beizeiten stellte sich Tom ein, bewaffnet mit der alten Blechlaterne seiner Tante und einem großen Handtuch, um dieselbe zu verhüllen. Er barg die Laterne in Hucks Zuckerfaß, und die Wacht begann. Eine Stunde vor Mitternacht wurde die Herberge geschlossen und ihre Lichter, die einzigen in der Nachbarschaft, ausgelöscht. Kein Spanier war gesehen worden. Niemand hatte den schmalen Gang auf der Rückseite des Hauses betreten oder verlassen. Alles schien dem Unternehmen günstig. Die schwärzeste Finsternis herrschte, und die Totenstille ringsum wurde nur hier und da durch fernes Donnerrollen unterbrochen.

Tom lief nach seiner Laterne, zündete sie an, hüllte sie fest in das Handtuch und die beiden Abenteurer tasteten sich durch die Finsternis nach dem Wirtshaus hin. Huck stand Schildwache und Tom schlich sich in den dunklen Gang hinein. Nun kam eine Pause unerträglich heimlichen, angstvollen Wartens, die auf Hucks Gemüt lastete, gleich einem erdrückenden Berge. Er begann sich heiß nach einem wieder auftauchenden Strahl der Laterne zu sehnen, der ihm zeigte, daß Tom noch am Leben sei.

Stunden schienen verflossen, seit Tom verschwunden war. Gewiß hatte er irgendwo das Bewußtsein verloren, war am Ende gar tot, vielleicht war ihm das Herz gebrochen vor Schreck und Aufregung. In seiner Angst rückte Huck dem Gäßchen näher und näher, den Kopf voll schrecklicher Befürchtungen und jeden Augenblick auf eine Katastrophe gefaßt, die ihm den Atem vollends benehmen würde. Viel Atem zum Wegnehmen blieb nicht übrig; er war kaum imstande, denselben fingerhutvollweise einzuziehen, und sein Herz mußte bei dem Tempo, in dem es schlug, baldigst ganz den Dienst versagen. Plötzlich blitzte ein Lichtstrahl auf, und Tom schoß keuchend an ihm vorüber.

»Fort,« schrie er, »fort, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Ein Wiederholen der Warnung war unnötig, einmal genügte. Huck rannte mit Riesenschritten davon, als ob es hinter ihm brenne, Tom hinterdrein. So stürzten die Jungen unaufhaltsam davon, bis sie den Schuppen eines alten, unbenutzten Schlachthauses erreichten, am unteren Ende des Ortes. Gerade, als sie unter dies Obdach geschlüpft waren, brach das Gewitter los und der Regen strömte nieder. Nachdem Tom zu Atem gekommen war, stöhnte er:

»Ach, Huck, ’s war gräßlich. Ich probierte erst zwei von den Schlüsseln, so leise ich konnte, die machten aber ’n solchen Lärm, daß mir übel und weh wurde vor Angst. Ich konnte sie auch gar nicht im Schloß umdrehen. Dann, ohne selber zu wissen, was ich tu, faß ich nach der Klinke, drücke und – auf springt die Tür. Sie war gar nicht verschlossen gewesen! Ich hinein, werf das Tuch von der Laterne und – Heiliger Gott!«

»Was – was war’s, Tom?«

»Huck! Ich trat fast auf ’ne Hand, und wie ich näher hinseh, ist’s dem Indianer-Joe seine.«

»Puh!« stöhnte Huck wortlos.

»Weiß Gott! Da lag er am Boden und schlief ganz fest, mit dem alten Pflaster über dem einen Aug und weit ausgestreckten Armen.«

»Um alles in der Welt, sprich, – was hast du denn da gemacht? Ist er aufgewacht?«

»Nee, der rührt sich nicht. Er muß betrunken gewesen sein. Ich greif nur flink nach meinem Tuch und stürz davon.«

»Ich hätt‘ nicht mehr an das Tuch gedacht, das wett ich.«

»Na, aber ich! Tante Polly hätt‘ mir ’nen feinen Tanz aufgespielt, wenn ich’s verloren hätt‘!«

»Hör du, Tom, hast du die Kiste gesehen?«

»Huck, nach der hab ich mich gar nicht umgeschaut, Hab keine Kiste und hab auch kein Kreuz gesehen. Nichts hab ich gesehen, als ’ne Flasche und ’nen Zinnbecher am Boden neben dem Indianer-Joe! Ja, zwei Fäßchen und viele Flaschen hab ich noch außerdem im Zimmer gesehen. Weißt du jetzt, was in dem Zimmer spukt?«

»Wieso?«

»Dickkopf! Schnaps spukt drin, Schnaps! Und der Wirt dort gehört zum Mäßigkeitsverein! Ob wohl alle die Mäßigkeitsvereinler so ’n Spukzimmer haben? He, Huck?«

»Wird wohl so sein! Wer hätt aber so was gedacht? Sag mal, du, Tom, war denn das nicht jetzt grad die richt’ge Zeit, um die Kiste auszuführen? Wenn der Indianer-Joe doch betrunken ist.«

»Ei, so versuch’s doch!«

Huck schauderte.

»Nee, lieber nicht!«

»Ich auch lieber nicht, Huck, Nur eine Flasche leer neben dem Kerl, das ist nicht genug. Ja, wenn’s drei gewesen wären, dann ließe sich weiter darüber reden!«

Eine lange Pause des Nachdenkens folgte. Dann sagte Tom:

»Paß mal auf, Huck. Ich mein, wir sollten das Ding gar nicht mehr probieren, bis wir sicher wissen, daß der Joe nicht drin ist. ’s ist zu gruselig! Wir passen jede Nacht auf, und einmal muß er doch ‚raus aus seinem Loch, dann wollen wir die Kiste schon kriegen, schneller als der Blitz.«

»Mir recht. Ich will jede Nacht wachen, die ganze Nacht durch, wenn du nur den Rest besorgen willst.«

»Gut, wollen’s so machen. Du brauchst dann nur zu kommen und vor unserem Haus zu miauen, und wenn ich schlaf, wirfst du mir ’ne Handvoll Kies ans Fenster, das wird mich schon wachkriegen!«

»Topp, ’s gilt!«

»Jetzt ist’s da draußen auch besser geworden, Huck, der Sturm hat aufgehört und ich muß heim. ’s muß schon bald Morgen sein. Du gehst noch mal hin und wachst, willst du?«

»Ich hab’s gesagt, Tom, daß ich’s tu, und ich tu’s auch! Und wenn’s ’n Jahr lang dauert, ich spuk jede Nacht in dem Gäßchen dort herum. Bei Tag schlaf ich und bei Nacht wach ich.«

»Schön. Aber wo wirst du schlafen?«

»Auf Ben Rogers Heuboden. Der hat nichts dagegen und Onkel Jakob, – weißt du, der alte Nigger, der im Hause ist – auch nicht. Dem hab ich schon oft ’s Wasser geschleppt, und er gibt mir manchmal was zu essen, wenn er selber was hat. ’s ist ’n guter Nigger, Tom. Der hat mich gern, weil ich nie tu, als ob ich was Besseres wär. Manchmal hab ich mich, weiß Gott, schon hingesetzt und mit ihm gegessen. Das brauchst du aber niemand zu sagen, Tom. Wenn einer so gräßlich hungrig ist, tut er manches, was er sonst für gewöhnlich nicht tät!«

»Na, also Huck, wenn ich dich bei Tag nicht brauch, laß ich dich schlafen und stör dich nicht weiter. Und wenn in der Nacht was los ist, springst du zu mir ‚rüber und miaust.«

  1. Unsere Geschichte spielt in der Zeit vor Aufhebung der Sklaverei.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Der Besuch der Höhle. – Hucks Entdeckung.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Das erste, was Tom am Freitag morgen hörte, war eine sehr angenehme Neuigkeit, – Becky Thatcher war mit den Ihren am Abend vorher zurückgekehrt. Vor diesem Ereignis mußte der Indianer-Joe zusamt seinem Schatze in den Hintergrund treten, und Becky, die einzige Becky, nahm das ganze Interesse des Knaben ein. Er sah sie wieder, und die beiden verbrachten einen köstlichen Tag in Gesellschaft der Schulkameraden bei »Blindekuh« und »Verstecken«. Um das Glück des Tages vollzumachen, hatte Becky von ihrer Mutter die Erlaubnis erwirkt, am folgenden Tag das längst geplante und immer wieder verschobene Picknick halten zu dürfen, was ungeheuren Enthusiasmus und Jubel erregte. Becky insbesondere war außer sich vor Entzücken, und Tom nicht minder. Vor Sonnenuntergang noch wurden die Einladungen herumgeschickt, und die sämtliche jugendliche Bevölkerung des Städtchens war in einem Fieber der Erwartung und der emsigen Vorbereitung. Toms Erregung hielt ihn bis zu später Stunde wach, wobei er immer auf Hucks Miausignal wartete. Wie herrlich wäre es gewesen, die Gesellschaft folgenden Tages mit dem aufgefundenen Schatze zu verblüffen! Diese Hoffnung aber trog, – kein Signal störte die Ruhe der Nacht.

Endlich tagte der Morgen, und um zehn oder elf Uhr sammelte sich eine lärmende, wonnetrunkene Gesellschaft vor dem Hause der Familie Thatcher. Alles war zum Aufbruch bereit. Ältere Leute pflegten Picknicks niemals durch ihre Gegenwart zu stören, die Kinder hielt man unter den Fittichen einiger junger Damen von achtzehn und einiger junger Herren von ungefähr vierundzwanzig Jahren für genügend beschützt. Man hatte für diese Gelegenheit die alte Dampffähre gemietet, und alsbald setzte sich die heitere, bunte Menge, beladen mit vielversprechenden Vorratskörben, die Hauptstraße hinunter in Bewegung, Sid war unwohl und mußte dem Vergnügen entsagen; Mary war ihm zum Trost und zur Gesellschaft zurückgeblieben. Das letzte, was Frau Thatcher zu Becky sagte, war:

»Ihr werdet wohl spät zurückkommen, Kind, am Ende tust du besser, für diese Nacht bei einer deiner Freundinnen zu bleiben, die nahe beim Landungsplatz der Fähre wohnen.«

»Dann bleib ich bei Suschen Harper, Mama.«

»Meinetwegen; und hörst du, daß du dich hübsch ordentlich beträgst und niemand zur Last fällst.«

Als sie dann zusammen die Straße hinuntertrabten, sagte Tom zu Becky:

»Du – paß mal auf, was wir tun wollen. Anstatt daß wir mit Joe Harper heimgehen, steigen wir den Berg hinauf und bleiben die Nacht bei der Witwe Douglas. Die hat gewiß Gefrorenes, – sie hat immer welches, ganze Haufen davon, und wird sich schrecklich freuen, wenn wir zu ihr kommen.«

»O, das wird aber köstlich!«

Danach überlegte sich’s Becky aber doch einen Moment und meinte:

»Was wird aber meine Mama dazu sagen?«

»Ei, wie soll denn die’s erfahren?«

Wieder sann Becky ein Weilchen nach und sagte dann zögernd:

»Recht ist’s ja nicht – aber –«

»Aber, – Unsinn! Deine Mutter erfährt’s nicht, und was ist denn weiter Schlimmes dabei! Alles, was sie will, ist, daß du für die Nacht gut aufgehoben bist, und ich wette, sie hätt‘ dich ebensogut dorthin geschickt, wenn sie nur daran gedacht hätte. Das weiß ich ganz gewiß! –«

Frau Douglas, die das größte und schönste Haus des Städtchens besaß und deren glänzende Gastfreundschaft die Wonne aller bildete, die sie je genießen durften, bewies sich als allzu verlockender Köder. Dieser und Toms Beredsamkeit trugen denn auch den Sieg davon und es wurde beschlossen, gegen niemanden etwas über das Programm für die Nacht verlauten zu lassen.

Auf einmal fiel es Tom ein, daß Huck am Ende gerade in derselben Nacht kommen könne, um ihm das verabredete Zeichen zu geben. Dieser Gedanke trübte seine freudigen Erwartungen um ein beträchtliches, aber er konnte sich doch nicht entschließen, den Plan mit Frau Douglas aufzugeben. Warum sollte er auch? Er dachte bei sich, in der Nacht zuvor sei ja auch alles ruhig geblieben, warum sollte das Signal gerade diese Nacht ertönen? Das sichere Vergnügen, das er sich vom Abend versprach, überwog bei weitem die unsichere Aussicht auf den Schatz, und recht, wie ein Junge, beschloß er, der stärkeren Neigung nachzugeben und sich für den Rest des Tages jeden Gedanken an die Geldkiste aus dem Kopf zu schlagen.

Drei Meilen unterhalb der Stadt landete die Fähre in einer rings mit Wald umstandenen Bucht. Die fröhliche Gesellschaft schwärmte aus dem Boote, und bald tönten die Wälder und felsigen Höhen von Geschrei und Gelächter wieder. Alle die verschiedenen Methoden, sich heiß und müde zu machen, wurden der Reihe nach durchgegangen, bis allmählich einer nach dem anderen von den Herumschwärmenden sich im Lager einstellte, ausgerüstet mit dem nötigen Appetit, und nun die Vertilgung der mitgebrachten leckeren Sachen beginnen konnte. Nach der Mahlzeit folgte ein erquickendes Ruhe- und Plauderstündchen im Schatten der breitästigen Eichen, bis dann jemand rief:

»Wer kommt mit zur Höhle?«

Alle waren sofort bereit, ganze Bündel von Kerzen wurden ausgekramt und es folgte ein allgemeines Erklettern des Hügels. Hoch oben lag die Mündung der Höhle, eine schwarze, gähnende Öffnung, geformt wie der lateinische Buchstabe A. Die massive, eichene Tür stand weit offen. Im Innern sah man zunächst eine schmale, kleine Kammer, kalt wie ein Eiskeller, von der Natur mit festen Kalkmauern umgeben, die viel Feuchtigkeit ausschwitzten. Etwas romantisch Geheimnisvolles lag darin, von diesem finsteren kalten Orte aus hineinzuschauen in das sonnbeglänzte grüne Land. Der Zauber aber, der die Geister zuerst gefangenhielt, verlor bald seinen Reiz und das Herumtollen begann von neuem. Sobald irgend jemand versuchte, eine Kerze anzuzünden, stürzte sich alles darauflos und es entspann sich ein Kampf gegen den tapferen Verteidiger. Das Licht wurde ihm schließlich entrissen, zu Boden geworfen und ausgelöscht, worauf eine neue Hetzjagd mit demselben Ausgang folgte, Na aber jedes Ding sein Ende hat, so ordnete sich allmählich der Zug und bewegte sich vorsichtig den steilen Abstieg des Hauptganges der Höhle hinunter. Mit düsterem, unruhigem Schein bestrahlte die flackernde Reihe der Lichter die mächtigen Felswände zu beiden Seiten, fast bis hinauf zu dem Punkt, wo sie in einer Höhe von etwa sechzig Fuß zusammenstießen. Dieser Hauptgang war nicht mehr als acht oder zehn Fuß breit. Alle paar Schritte zweigten andere hochgewölbte und noch engere Felsspalten nach beiden Seiten ab, denn die Mc. Douglashöhle war eigentlich nur ein ungeheures Labyrinth gewundener Gänge, die ineinander- und wieder auseinanderliefen und nirgends ein Ziel oder Ende hatten. Es hieß, daß man tage- und nächtelang durch dies krause, verschlungene Gewirr von Spalten und Klüften wandern könne, ohne jemals ein Ende der Höhle zu finden; daß man hinunter und hinunter, tiefer und immer tiefer bis ins Innerste der Erde steigen könne und doch immer dasselbe finden würde – Labyrinth unter Labyrinth in endloser Folge. Keiner kannte die Höhle ganz, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Die meisten der jungen Leute kannten einen Teil derselben, und für gewöhnlich wagte sich niemand über diesen allgemein begangenen Teil hinaus. Tom Sawyer kannte von der Höhle nicht mehr als die anderen.

Der ganze Zug bewegte sich noch immer geschlossen den Haupteingang entlang, allmählich aber begannen sich Gruppen und Paare zu lösen und in den Seitengängen zu verschwinden. Hier flogen sie lautlos dahin durch die unheimlichen Gänge, uneingestandenen Grausens voll, und überraschten und erschreckten andere an Punkten, wo die einzelnen Gänge sich kreuzten oder auch zusammenliefen. Halbe Stunden lang konnte man sich so meiden oder finden, ohne sich jemals aus dem bekannten Teil der Höhle zu entfernen.

Allmählich fand sich ein Teil der Gesellschaft nach dem anderen wieder an der Mündung der Höhle ein, atemlos, fröhlich, glückselig, vom Kopf bis zu den Füßen mit Talg betröpfelt, mit Lehm beschmiert, aber entzückt, berauscht von dem genossenen Vergnügen des Tages. Man war erstaunt, daß es da draußen mittlerweile schon beinahe Nacht geworden war. Die Glocke der Fähre mahnte seit beinahe einer halben Stunde schrill zur Heimkehr. Dieser Schluß der Abenteuer des Tages aber war ganz nach dem Sinn der jugendlichen Gesellschaft, die gewohnt war, jeden Freudenkelch bis zur Neige zu schlürfen. Als die Fähre mit ihrer tollen Fracht in den Strom hinausstieß, bedauerte nur einer an Bord die verschwendete Zeit der letzten Stunde, und das war der Kapitän.

Huck war bereits auf seinem allnächtlichen Lauscherposten, als die Lichter der Fähre am Ufer vorüberglitten. Er hörte kein Geräusch an Bord, denn die jungen Leute waren zahm und still geworden, so zahm und still, wie man zu werden pflegt, wenn man sich in Lust und Übermut todmüde getobt hat. Huck sann nach, was für ein Boot dies sein könne, und warum es nicht am gewöhnlichen Halteplatz anlege; dann wanderten seine Gedanken weiter, um sich voll und ganz auf sein Vorhaben zu richten. Die Nacht war wolkig und dunkel. Zehn Uhr kam, das Geräusch der Wagen erstarb, einzelne Lichter begannen zu erlöschen, der Fußgänger wurden weniger und weniger, das Städtchen bereitete sich zum nächtlichen Schlummer vor und überließ den kleinen Lauscher sich selber, dem rings herrschenden Schweigen und den Geistern der Finsternis. Elf Uhr nahte, auch die Lichter der Herberge erloschen, Dunkel überall. Huck harrte und lauschte, eine lange, bange Zeit, wie ihm schien. Nichts erfolgte. Sein Vertrauen begann zu wanken. Hatte dies geduldige Ausharren wohl irgendeinen Wert? Würde es irgendeinen Nutzen haben? Ob er’s nicht viel besser ganz sein ließe und sich gar nicht weiter um die Sache kümmerte?

Da schlug ein Geräusch an sein Ohr. Im Moment war er ganz atemlose Aufmerksamkeit. Eine Türe schloß sich leise und sacht. Er sprang an die Ecke der kleinen Gasse, und fast gleichzeitig huschten zwei dunkle Gestalten an ihm vorüber, deren eine irgend etwas Gewichtiges unter dem Arme zu tragen schien. Das mußte die Geldkiste sein! Der Schatz wurde also fortgeschleppt! Sollte er nach Tom rufen? Das wäre hirnverbrannt gewesen, denn einstweilen konnten die Kerle mit der Beute Gott weiß wohin verschwinden – auf Nimmerwiedersehen. Behüte, er wollte sich an ihre Sohlen heften und im sicheren Schutz der Dunkelheit ihrer Spur folgen. Während er so mit sich selber ins reine kam, war er behende hinter den Männern hergeglitten, tatzenartig, barfuß, denselben gerade genügend Vorsprung lassend, um sie noch im Auge behalten zu können.

Eine Strecke weit gingen sie der Flußstraße entlang und bogen dann zur Linken in ein Seitengäßchen ein. Diese verfolgten sie bis dahin, wo ein Fußpfad nach dem Cardiffberge abzweigte, welchen sie nun einschlugen, dann ging’s an des Wallisers Haus vorbei, höher und immer höher den Berg hinan. Schön, dachte Huck, die gehen zum Steinbruch und verscharren dort ihren Schatz. Nein, weiter, immer weiter ging’s, vorbei am Steinbruch, ohne Aufenthalt. Nun war die Höhe des Berges erreicht. Jetzt drangen sie auf schmalem Pfad in das dichte Sumachgehölz ein und waren auf einmal in der Dunkelheit verschwunden. Huck folgte rasch nach und verkürzte seinen Abstand, denn hier war eine Entdeckung ganz unmöglich. So trabte er eine Weile dahin, um dann doch wieder langsamere Schritte zu machen, aus Furcht, zu rasch vorwärts zu kommen. Noch ein paar Schritte, dann hielt er an, lauschte, – kein Ton, keiner, außer dem Klopfen seines eigenen Herzens! Der Schrei einer Eule klang aus dem Tal empor, – unheilvoller Laut! Aber kein Fußtritt, kein noch so leises Knistern der Zweige! Großer Gott, war denn alles verloren? Eben wollte er sich in beschleunigtem Tempo vorwärtsstürzen, als sich jemand, keine vier Fuß von ihm entfernt, räusperte. Sein Herz schien ihm in die Kehle zu fahren, doch entschlossen schluckte er’s wieder hinab. Da stand er, zitternd wie Espenlaub, als ob ihn ein Dutzend kalter Fieber auf einmal gepackt hätte und schüttelte, bis ihm Hören und Sehen verging, und er dachte zu Boden sinken zu müssen vor Angst und Schwäche. Er wußte nun, wo er war. In der Entfernung von wenigen Schritten mußte sich der Zaun befinden, der das Eigentum der Witwe Douglas umzog. »Um so besser,« überlegte er, »wenn sie’s hier verscharren, wird’s ’ne kleine Mühe sein, es wieder aufzufinden.«

Jetzt hörte er eine leise Stimme, eine sehr leise Stimme, die er trotzdem erkannte, es war die des Indianer-Joe.

»Hol sie der Henker, hat sicher wieder Leute bei sich – seh noch Lichter, so spät’s auch ist!«

»Ich seh gar nichts.«

Es war jenes Fremden Stimme, – des Fremden aus dem Geisterhause. Eiseskälte durchzuckte Hucks Herz. Das also war jener geplante »Racheakt«. Sein erster Gedanke war Flucht. Dann dachte er daran, wie gütig die Witwe Douglas, die freundliche schöne Dame, mehr als einmal gegen ihn, den armen Strolch, gewesen und daß diese Schurken vielleicht im Sinn hätten, sie zu morden. Ach, wenn er nur den Mut hätte, sie zu warnen; aber das getraute er sich doch nicht, – konnten die Kerle doch kommen und ihn abfangen. All dies und mehr noch schoß ihm durchs Hirn in dem einen Moment, welcher zwischen der Bemerkung des Fremden und der darauffolgenden Antwort des Indianer-Joe verfloß:

»Na, der Busch steht dir im Weg, da schau mal hier hinaus, – so – gelt, jetzt siehst du’s?«

»Jawohl, werden wohl Leute dort sein – geben’s besser auf, denk ich.«

»Aufgeben, eben wo ich dem verdammten Land für immer den Rücken kehren will, aufgeben, um vielleicht nie wieder Gelegenheit zur Rache zu haben? Ich sag dir’s noch mal, wie ich’s schon gesagt hab, keinen Pfifferling frag ich nach ihrem Geld – das kannst du haben. Aber ihr Mann war hart gegen mich, nicht einmal, nein, oft und oft, und vor allem war er der Hund von einem Richter, der mich wegen Landstreichern immer wieder ins Loch steckte. Und das ist noch lang nicht alles! Millionenmal nicht alles! Durchpeitschen hat er mich lassen, durchpeitschen vor dem Gefängnis, wie einen Hund oder einen Nigger! Die ganze Stadt konnt’s sehen! Durchpeitschen – begreifst du das! Er kam meiner Rache zuvor und starb, – sie aber soll’s büßen!«

»Du wirst sie doch nicht umbringen wollen? Das wirst du doch nicht tun, so’n hübsches, stattliches Frauenzimmer, und ’n gutes Herz hat sie auch für die Armen!«

»Umbringen? Wer denkt daran? Ihn würd ich abschlachten, wenn er da wär – sie nicht! Ein Frauenzimmer bringt man nicht um, wenn man sich rächen will, Unsinn! Der geht’s an die geliebte Fratze, man schlitzt ihr die Nasenflügel und stutzt ihr die Ohren, wie ’nem Schwein!«

»Herr Gott, das ist –«

»Behalt deine Meinung für dich, bis du gefragt wirst, rat dir’s im Guten, ’s wird wohl das beste für dich sein. Ich bind sie auf ihr Bett fest; wenn sie sich hinterher verblutet, ist’s meine Schuld nicht. Ich wein ihr nicht nach! Du, Kamerad, wirst mir dabei helfen – mir zulieb – deshalb hab ich dich mitgenommen, denn allein brächt ich’s am Ende nicht fertig. Probierst du auszukneifen, so hau ich dich nieder, das merk dir! Und wenn ich dir den Rest geben muß, so kriegt sie auch eins, daß sie das Aufstehen vergißt, und dann soll mir einer dahinter kommen, wer das Geschäft besorgt hat.«

»Na, wenn’s denn sein muß, so muß es eben sein, dann los und dran! Je schneller, desto besser – mir läuft’s jetzt schon kalt über den Leib!«

»Jetzt dran? – wo die Leute auf sind? Du, paß mal auf, sonst trau ich dir nicht mehr. Nichts da! – gewartet wird, bis die Lichter aus sind, ’s hat ohnehin keine Eile!«

Huck wußte, daß nun ein Schweigen folgen müsse, – ein Schweigen, schauerlicher und gefährlicher als die mörderischsten Reden. So hielt er denn seinen Atem an und trat behutsam und verstohlen einen Schritt zurück, den Fuß vorsichtig und fest niedersetzend, nachdem er zuvor auf einem Bein balancierte, so daß er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Noch einen Schritt rückwärts mit derselben Umständlichkeit, denselben Gefahren, einen und noch einen! Jetzt krachte ein Ästchen unter seinem Fuße, Der Atem blieb ihm beinahe aus, er lauschte. Kein Laut – tiefstes Schweigen! Grenzenlos war seine Dankbarkeit. Jetzt drehte er sich lautlos und mit der äußersten Vorsicht um und verfolgte seinen früheren Pfad zwischen den hohen Sumachbüschen zurück. Schnell und behutsam glitt er dahin. Als er dann am Steinbruch aus dem Gehölz hervortrat, fühlte er sich geborgen. Nun lieh er seinen Sohlen Schwingen und flog den Berg hinunter, weiter, immer weiter bergab, bis er das Haus des alten Wallisers erreichte. Er trommelte an die Türe und alsbald erschienen der Alte und seine beiden handfesten Söhne am Fenster.

»Was zum Teufel ist denn los? Wer drischt dort an der Türe? He, was wollt ihr?«

»Schnell, macht auf – ich sag euch dann ja alles!«

»Wer ist der Ich?«

»Ei, ich, der Huckleberry Finn. Schnell – um Gotteswillen macht auf!«

»Sieh mal einer, der Huckleberry Finn! Ist ’n Name, dem sich eigentlich nicht viele Türen öffnen. Laßt ihn aber nur immer ‚rein, Jungens, wollen mal hören, was er zu sagen hat.«

»Sagt’s um Gotteswillen keinem Menschen, daß ich’s euch gesagt hab,« waren Hucks erste Worte, als er ins Haus trat, »bitte, bitte, verratet mich nicht, sie würden mich ja umbringen, so gewiß ich hier steh, – aber die Witwe da oben ist schon oft und oft gut gegen mich gewesen, und ich will’s sagen, wenn ihr versprecht, nicht zu verraten, daß ich’s gewesen bin!«

»Bei Gott, da muß was passiert sein, oder der Junge stellte sich nicht so an,« rief der alte Mann, »heraus damit, mein Sohn, und niemand soll je ein Sterbenswörtchen davon zu hören kriegen.«

Drei Minuten später stiegen der Alte und seine Söhne wohlbewaffnet den Berg hinan und drangen auf den Zehenspitzen vorsichtig in das Gehölz ein, die Flinten in der Hand. Huck begleitete sie nicht weiter. Er barg sich hinter einem großen Felsblock und lauschte. Zuerst ein drückendes, angstvolles Schweigen, das dann urplötzlich durch mehrere Schüsse und einen gellenden Aufschrei unterbrochen wurde. Näheres zu erfahren drängte es Huck nicht. Auf sprang er und fort und flog den Berg hinunter, so schnell ihn seine Füße zu tragen vermochten.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Hucks Erzählung. – Tom und Becky werden vermißt.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Als am Morgen des folgenden Tages, eines Sonntags, die ersten leisen Spuren der Dämmerung erschienen, tastete sich Huck durch das Halbdunkel den Berg hinauf und klopfte mit schüchterner Hand leise an die Türe des alten Wallisers. Die Hausbewohner schliefen noch, aber ihr Schlaf war infolge der aufregenden nächtlichen Abenteuer ein äußerst leiser und so ertönte alsbald eine Stimme vom Fenster:

»Wer ist da?«

Hucks ängstliche Stimme antwortete leise:

»Laßt mich, bitte, ein – ich bin’s nur, Huck Finn!«

»Ist ’n Name, dem sich diese Tür bei Nacht und bei Tag öffnet. Mein Junge, sei willkommen!«

Das waren seltsamklingende Worte in den Ohren des kleinen Vagabunden, die angenehmsten, die er je gehört. Er konnte sich nicht erinnern, daß das Schlußwort des alten Mannes je zuvor in bezug auf ihn angewandt worden wäre.

Schnell wurde nun die Türe geöffnet und er trat ein. Man bot Huck einen Stuhl und der Alte mit seinen Riesensöhnen kleideten sich in Eile an.

»Und jetzt, mein Junge, hoff ich, daß du einen ordentlichen Hunger mitgebracht hast, denn das Frühstück soll noch vor der Sonne auf dem Tisch stehen, und zwar ein gehöriges, das laß meine Sorge sein. Haben immer gedacht, ich und meine Jungens, du zeigtest dich gestern abend nochmal, hättest die Nacht bei uns bleiben müssen.«

»Ich kriegte solche Angst,« sagte Huck, »daß ich den Berg hinunterstürzte. Ich fing an zu rennen, als die Schüsse krachten und rannte drei Meilen so weiter. Jetzt bin ich nur gekommen, weil ich gern was darüber gehört hätte, und vor Tag komm ich, weil ich nicht gern den Teufeln in den Weg laufen möchte, – selbst wenn sie tot wären.«

»Armer Kerl, man sieht dir’s weiß Gott an, was das für ’ne Nacht für dich war, aber wart nur, du sollst ’n Bett haben, wenn du gefrühstückt hast. Nee, tot sind die Halunken leider nicht, mein Junge, und leid genug tut’s uns. Deiner Beschreibung nach wußten wir den Ort ziemlich genau, an dem sie zu finden waren, wir schleichen also auf den Zehenspitzen ‚ran, bis vielleicht auf fünfzehn Fuß Entfernung, und dunkel wie ’n Loch war’s in den Büschen drin, da, auf einmal merk ich, daß mich das Niesen ankommt. Ob das nicht Pech war! Will’s natürlich zurückhalten, aber nee, keine Möglichkeit, ’s wollt kommen und ’s kam auch mit Macht. So pust ich denn los mit aller Gewalt. Ich war der Vorderste von uns, mit meiner Pistole in der Hand, und als nun das Niesen losging, entstand ein Rascheln vor uns im Gebüsch. Ich schrei: Feuer, Jungens, und wir drei feuern denn auch nach der Richtung hin. Ja, prost die Mahlzeit! Die Kerle waren flinker als der Wind, wir aber hinterher wie die wilde Jagd, in die Wälder hinein. Gekriegt aber haben wir sie nicht. Ehe sie auskniffen, hat jeder von ihnen noch mal seine blaue Bohne abgeknallt, aber die sausten an uns vorbei und taten keinen Schaden. Als sich das Geräusch ihrer Schritte verlor, gaben wir die Jagd auf und gingen hinunter ins Städtchen, um die Konstabler zu wecken. Die machten sich denn auch gleich auf und wollten am Ufer rekognoszieren, und sobald es Tag ist, sollen die Wälder abgesucht werden. Meine Jungens werden auch dabei sein. Wollt, einer könnt uns die Keile beschreiben, ’s wär dann viel leichter für uns. Du wirst wohl nicht viel von den Schuften gesehen haben, dort oben in der Dunkelheit, was?«

»Nee, aber unten in der Stadt hab ich sie schon gesehen und bin ihnen von dort nachgegangen.«

»Kapital! Na, dann los, mein Junge, wie sehen sie aus? Beschreib sie mal so’n bißchen genau!«

»Ei, einer davon ist der taubstumme Spanier, der seit ’n paar Tagen hier herumstreicht, und der andere ist ’n gemein aussehender, zerlumpter –«

»Schon genug, Junge, kenn die Kerle! Hab sie neulich mal da oben im Wald hinter der Witwe Douglas ihrem Haus gesehen, schoben ab, als ich in Sicht kam. Nun aber schnell fort mit euch, Jungens, sagt’s fein dem Scherif, was ihr da vom Huck gehört habt, könnt morgen früh frühstücken!«

Beide Söhne machten sich ohne Widerrede alsbald marschfertig. Als sie eben das Zimmer verlassen wollten, sprang Huck auf und rief flehend:

»O, bitte, bitte, sagt’s aber niemand, daß ich die Kerle angegeben, bitte, bitte!«

»Gut, wenn du’s nicht willst, Huck, aber eigentlich solltest du die Ehre haben von dem, was du getan hast.«

»O, nein, nein. Bitte, verratet mich nicht!«

Als die jungen Leute weg waren, sagte der Alte:

»Sie verraten’s nicht und ich tu’s auch nicht. Aber sag mal, warum willst du denn nicht, daß man’s weiß?«

Huck ließ sich auf keine weitere Erklärung ein, sondern sagte nur, er wisse schon mehr als zuviel von dem einen der Kerle und wolle um keinen Preis, daß der dahinterkomme, sonst sei er, Huck, keinen Moment seines Lebens sicher.

Noch einmal gelobte der alte Mann Verschwiegenheit und fragte dann:

»Wie kamst du drauf, den Kerlen nachzuschleichen, Junge? Sahen sie dir verdächtig aus?«

Einen Moment war Huck still und überlegte sich die Antwort, dann sagte er:

»Ja, seht ihr, ich bin so ’ne Art Landstreicher, wenigstens sagen die Leute so, und da muß es wohl wahr sein. Na, da simulier ich denn manchmal drüber nach in der Nacht und das läßt mich nicht schlafen, und ich denk und denk, wie ich wohl anders werden könnt. So war’s wieder mal gestern nacht. Schlafen konnt ich nicht und so bummel ich denn in den Straßen herum, und als ich da in der Nähe von der Herberge an den alten Schuppen komm, lehn ich mich mit dem Rücken dran, um nochmal besser nachzudenken. Na, da streichen denn plötzlich die zwei Kerls an mir vorbei, tragen etwas unterm Arm. Halt, denk ich, die haben gestohlen. Einer rauchte und der andere wollte Feuer haben, so blieben sie nicht weit von mir stehen, und die Zigarren warfen einen Strahl auf die Gesichter, und ich sah, daß der eine der taubstumme Spanier ist und der andere ein ruppiger, zerlumpter –«

»Was, die Lumpen hast du auch gesehen beim Schein der Zigarren?«

Das machte Huck für einen Moment unsicher, dann aber sagte er:

»Nun, ich weiß nicht – aber es kommt mir vor, als ob ich sie gesehen hätte,« –

»Dann liefen sie also weiter und du –«

»Ich hinterher, ja, so macht ich’s. Wollt mal sehen, was los sei, sie schlichen so verdächtig an den Häusern hin. Oben bei der Witwe Garten standen sie dann still, ich auch, und da hört ich denn, wie der eine für die Frau bat und der andere, der Spanier, schwor, er wolle ihr schon die Fratze verderben, grad wie ich’s Euch und Euren Söhnen gestern abend –«

»Was, der Taubstumme hat das gesagt?«

Da! Nun saß Huck von neuem in der Patsche! Er hatte sein Bestes tun wollen, um den alten Mann abzulenken von der Spur, wer eigentlich der Taubstumme sei, und trotz aller Mühe und Vorsicht schien seine Zunge entschlossen, ihn wieder und wieder in Verlegenheit zu bringen. Umsonst versuchte er, sich aus der Klemme zu ziehen. Des Alten Auge ruhte so durchdringend auf ihm, daß er Versehen über Versehen machte. Da nahm der Alte das Wort:

»Mein Junge,« sagte er, »vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten, mit meinem Willen soll dir keiner was zuleide tun; ich will dir schon helfen, kannst dich darauf verlassen! Der Spanier ist nicht taubstumm, soviel hast du nun schon verraten, ohne es zu wollen, das kannst du nicht mehr zurücknehmen. Du weißt aber noch mehr über den Kerl, was du nicht sagen willst. Komm mal her, Junge, vertrau mir, sag’s, hab keine Angst, du kannst mir trauen, ich verrat dich keinem!«

Huck starrte einen Moment in die ehrlichen Augen des alten Mannes, dann beugte er sich über den Tisch und flüsterte ihm ins Ohr:

»’s ist ja gar kein Spanier, – ’s ist der Indianer-Joe !«

Der Walliser sprang fast von seinem Stuhl auf vor Erstaunen, dann sagte er:

»Jetzt ist mir alles klar. Als du gestern abend von Nasenschlitzen und Ohrenabschneiden sprachst, dacht ich, ’s sei ’ne Erfindung von dir, ein Weißer rächt sich nicht auf solche Art. Ein Indianer aber! Das ändert die ganze Sache!«

Während des Frühstücks wurde die Unterhaltung fortgesetzt und im Verlauf derselben erzählte der alte Mann, er und seine Söhne hätten, ehe sie zu Bett gingen, eine Laterne angezündet und die Stelle dort oben am Zaun gründlich nach Blutspuren untersucht. Die hätten sie zwar nicht gefunden, aber dafür ein dickes Bündel –

»Ein Bündel?«

Wenn diese Worte Blitze gewesen wären, sie hätten nicht mit größerer Plötzlichkeit Hucks erblaßten Lippen entfahren können. Seine Augen starrten weit geöffnet, sein Atem kam stoßweise, während er mit Zittern der weiteren Rede des alten Mannes harrte. Dieser stockte, starrte hinwiederum Huck an, drei, fünf, zehn Sekunden lang und sagte dann:

»Ja, ein Bündel Einbrecherwerkzeuge! Na, nu sag aber mal, was mit dir los ist, Junge!«

Huck war in seinen Stuhl zurückgesunken, erleichtert und dankbar aufatmend. Der Walliser sah ihn lange aufmerksam an, dann bestätigte er nochmals:

»Ja, Diebswerkzeuge. Dir scheint ein Stein dabei vom Herzen zu fallen. Was hat dich denn aber so in Aufregung gebracht? Was hätten wir denn sonst finden sollen?«

Wieder saß Huck in der Klemme! Das forschende Auge ruhte auf ihm, – er hätte irgend etwas um eine annehmbare Ausrede gegeben. Nichts wollte ihm einfallen; der forschende Blick drang tiefer und tiefer, – eine sinnlose Antwort stieg in ihm auf – und da keine Zeit zum Überlegen war, so stieß er denn schwach hervor:

»Sonntagsschulbücher, – vielleicht.«

Der arme Huck war zu befangen, um auch nur lächeln zu können, der alte Mann aber lachte, lachte aus vollem Halse, laut und herzlich, so daß alles an ihm, vom Kopf bis zu den Füßen wackelte, und als er wieder zu Atem kam, meinte er, solch ein Lachen sei wie bares Geld in der Tasche, denn es erspare einem lange Doktorsrechnungen. Dann fügte er bei:

»Armer, kleiner Kerl, siehst ganz blaß und angegriffen aus, ’s scheint dir gar nicht wohl zu sein. Kein Wunder, daß du ein wenig faselig geworden und aus dem Gleichgewicht geraten bist. Wird schon wieder besser werden. Ruhe und Schlaf sollen dich schon auskurieren, denk ich.«

Huck ärgerte sich schwer bei dem Gedanken, solch verräterische Erregung gezeigt zu haben, denn es waren ihm schon damals, als er die Schurken bei dem Zaun der Witwe belauschte, Zweifel gekommen, ob das mitgebrachte Paket der Schatz sei. Doch war dies immerhin nur Vermutung gewesen, die jetzt erst zur Gewißheit wurde. Die Kiste war also noch an ihrem alten Platz, und nun war’s eine Kleinigkeit für Tom, wenn die beiden Halunken unter Tags eingefangen wurden, am Abend nach jener bewußten »Nummer Zwei« zu gehen und sich des Schatzes zu versichern. Alles schien herrlich im Zuge!

Gerade, als das Frühstück beendet war, klopfte es an die Türe. Huck versteckte sich geschwind, denn es lag ihm gar nichts daran, mit dem letzten Ereignis in Zusammenhang gebracht zu werden. Der Walliser öffnete und ließ mehrere Herren und Damen herein, unter denen sich auch die Witwe Douglas befand. Dabei bemerkte er, daß noch andere Einwohner des Ortes truppweise den Hügel erstiegen, um sich den Schauplatz der nächtlichen Ereignisse zu besehen. Die Kunde von dem Vorgefallenen hatte sich also schon verbreitet.

Nun mußte der Alte den Besuchern die Geschichte der Nacht bis ins kleinste berichten. Die Dankbarkeit der Witwe Douglas für ihre Rettung machte sich in warmen Worten Luft.

»Verlieren Sie kein Wort weiter, Madame,« wehrte der Alte ab, »’s gibt einen, dem Sie zu viel größerem Danke verpflichtet sind, als mir und meinen Jungens, der will aber seinen Namen nicht genannt haben. Ohne den, sag ich Ihnen, wären wir niemals dazu gekommen, die Halunken zu verjagen.«

Dies erregte natürlich die allgemeine Neugierde in so hohem Grade, daß man darüber beinahe die Hauptsache vergaß. Der Walliser aber ließ sich durch die brennende Neugierde seiner Zuhörer, die sich durch deren Vermittlung nach und nach dem ganzen Städtchen mitteilte, nicht irremachen, sondern behielt sein Geheimnis wohlverwahrt bei sich. Als die Leute alles übrige in Erfahrung gebracht hatten, sagte die Witwe:

»Gestern abend las ich noch im Bett und schlief ein, so fest, daß ich von dem ganzen Spektakel gar nichts hörte. Warum haben Sie mich denn nicht aufgeweckt?«

»Na, das hielten wir für unnötig. Die Kerls kamen schwerlich wieder, das war so gut wie gewiß. Weshalb also Lärm schlagen und Sie unnötigerweise zu Tod erschrecken? Außerdem hab ich meine drei Nigger für den Rest der Nacht als Wächter um Ihr Haus gestellt, Madame, die sind eben zurückgekommen.«

Immer mehr Leute kamen, und die Geschichte mußte nochmals erzählt und wieder erzählt werden, und immer so weiter, einige Stunden lang.

Wie gewöhnlich an ereignisvollen Tagen war die Kirche – es war gerade Sonntag – frühzeitig und stark besucht. Das aufregende Ereignis wurde gehörig besprochen. Man erzählte sich, daß bis jetzt noch nicht die geringste Spur der Schurken aufgefunden worden sei.

Nach dem Gottesdienst ging Frau Kreisrichter Thatcher auf Frau Harper zu, als diese mit der Menge den Hauptgang der Kirche hinabschritt, und fragte:

»Meine Becky will heute wohl den ganzen Tag durchschlafen? Habe mir’s doch gedacht, daß sie todmüde sein würde!«

»Ihre Becky?«

»Nun ja,« bestätigte die Frau Kreisrichter mit erschrockenem Blick. »Die ist doch diese Nacht bei Ihnen geblieben?«

»Bewahre – nein.«

Frau Thatcher wurde blaß und sank in den nächststehenden Stuhl, gerade als eben Tante Polly, mit einer Freundin sich lebhaft unterhaltend, daherschritt.

»Guten Morgen, Frau Kreisrichter, Morgen Sally Harper, hab da wieder mal ’nen Schlingel, der nicht heimgekommen ist. Denk mir, er wird über Nacht bei Ihnen geblieben sein, bei der einen oder der anderen. Fürchtet sich drum wohl in die Kirche zu kommen, hat ohnedies noch was bei mir im Salz liegen – ha, ha!«

Frau Thatcher, blasser als je, konnte nur leise verneinend den Kopf bewegen.

»Bei uns ist er nicht,« sagte Frau Harper zögernd, sie fing auch an ängstlich zu werden. Eine plötzliche Furcht malte sich in Tante Pollys Antlitz. »Joe Harper, hast du meinen Tom heute morgen schon gesehen?«

»Nein.«

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

Joe versuchte sich zu besinnen, konnte aber nicht ganz klar darüber werden.

Man war allmählich auf die bestürzte Gruppe aufmerksam geworden. Die Leute blieben stehen, ein Flüstern ging durch die Menge, Unruhe und Sorge zeigte sich in jedem Gesichte. Kinder und junge Leute wurden ängstlich ausgefragt. Alle stimmten darin überein, daß niemand acht gegeben hätte, ob Tom und Becky bei der Heimfahrt dabeigewesen. Es sei dunkel geworden und man habe nicht nachgesehen, ob irgend jemand fehle. Ein junger Mann platzte endlich mit der Vermutung heraus, sie seien am Ende noch in der Höhle.

Die Frau Kreisrichter wurde daraufhin ohnmächtig, Tante Polly weinte und rang die Hände.

Die Schreckenskunde flog von Lippe zu Lippe, von Gruppe zu Gruppe, von Straße zu Straße, und innerhalb fünf Minuten tönte wildes Glockenläuten vom Turme und die ganze Stadt war in Bewegung. Die nächtlichen Ereignisse verloren jegliches Interesse, Räuber und Mörder waren vergessen, Pferde wurden gesattelt, Boote bemannt, die Fähre flottgemacht, und ehe die Schreckensmäre eine halbe Stunde alt war, befanden sich zweihundert Mann zu Wasser und zu Lande auf dem Weg nach der Höhle.

Den ganzen langen Nachmittag hindurch schien das Städtchen wie ausgestorben. Viele Frauen besuchten Frau Thatcher und Tante Polly, um sie zu trösten oder mit ihnen zu weinen, was besser war als alle Worte.

Die ganze lange Nacht hindurch wartete man im Städtchen auf Nachrichten, und als endlich der Morgen tagte, war nur zu hören: Schickt mehr Kerzen und schickt Lebensmittel!

Frau Thatcher war fast von Sinnen, Tante Polly desgleichen. Der Kreisrichter sandte von Zeit zu Zeit ein Wort der Hoffnung und Ermutigung aus der Höhle, Trost aber brachte das nicht.

Der alte Walliser kam gegen Morgen heim, mit Kerzentalg bespritzt, mit Lehm beschmiert, zu Tode erschöpft. Er fand Huck noch immer auf dem Lager, das er ihm angewiesen; dessen Geist erging sich in wilden Fieberphantasien. Da die Ärzte mit in der Höhle waren, so wußte er keinen besseren Rat, als die Witwe Douglas zu holen, die denn auch sofort kam und sich des Patienten liebreich annahm.

Im Laufe des Vormittags begannen sich allmählich truppweise die erschöpften Männer im Städtchen wieder einzufinden, während die Stärkeren draußen blieben, um weiter zu suchen. Alles, was man erfahren konnte, war, daß die entlegensten Strecken der Höhle, die bis jetzt noch kein menschlicher Fuß betreten, abgesucht worden waren, daß jeder Winkel, jeder Spalt durchforscht werde, daß man überall, wohin der Fuß sich auch wende, im Gewirr der Gänge, Lichter hin und her huschen sehe, und daß fortwährend Rufe und Pistolenschüsse in dumpfem Widerhall gegen die düsteren Felsenwände anschlügen. An einer Stelle, weit von dem gewöhnlich begangenen Teil der Höhle entfernt, hatte man die Namen »Becky« und »Tom« mit Kerzenrauch auf der Felswand eingeschwärzt gefunden und dicht dabei ein mit Talg beschmutztes Stückchen Band, Frau Thatcher erkannte das letztere als ihrem Kinde gehörig und weinte heiße Tränen darauf. Sie sagte, es sei dies das letzte Zeichen, das sie jemals von ihrem Kinde erhalten werde, daß kein Andenken ihr so kostbar und teuer sein könne, als dies kleine Stückchen Band, denn dies sei das letzte, was sich von dem geliebten, lebendigen Körper gelöst, ehe der grausame Tod gekommen. Man erzählte, wie einzelne hier und da in der Höhle ein fernes Lichtfünkchen entdeckten, um mit Jubel und Hallo und voller Hoffnungsfreudigkeit darauf loszustürzen, aber stets folgte bittere Enttäuschung: es waren nicht die vermißten Kinder, sondern nur das Licht irgendeines anderen Mitsuchenden.

Drei schreckliche Tage und Nächte schleppten ihre endlosen Stunden über das Städtchen hin, und dieses versank in hoffnungslose, starre Betäubung, Niemand hatte Lust zu irgend etwas. Die eben erfolgte zufällige Entdeckung, daß der Besitzer der Mäßigkeitsvereinsherberge Spirituosen hielt, machte kaum Eindruck, so furchtbar diese Tatsache auch sein mochte. In einem lichten Moment suchte Huck die Rede auf Gasthöfe im allgemeinen und diese Mäßigkeitsvereinsherberge im besonderen zu lenken, und fragte zuletzt zaghaft, das Schlimmste befürchtend, ob irgend etwas dort entdeckt worden sei, während er krank gewesen.

»Ja,« bestätigte die Witwe.

Mit wild starrenden Augen fuhr Huck im Bett in die Höhe:

»Was – was denn?«

»Branntwein! – Man hat die Herberge geschlossen. Leg dich doch, Kind, – wie hast du mich erschreckt!«

»Sagen Sie mir nur noch eins, – nur noch eins, bitte, hat’s Tom Sawyer gefunden?«

Die Witwe brach in Tränen aus.

»Still, still, Kind, still. Ich habe dir’s doch schon gesagt, du darfst nicht reden. Du bist sehr, sehr krank.« –

Also nur Branntwein war gefunden worden; hätte man das Gold entdeckt, wäre ein anderes Hallo entstanden. Der Schatz war also verloren, – verloren für immer. Warum aber weinte die Frau? Sonderbar, was hatte sie zu weinen?

Dunkel bahnten sich solche Gedanken ihren Weg durch Hucks mattes Gehirn und machten ihn so müde, daß er darüber in Schlaf sank. Die treue Pflegerin beobachtete ihn und flüsterte leise:

»Da – nun schläft er wieder, armer, kleiner Kerl. Ob Tom Sawyer den Branntwein gefunden hat! Großer Gott, wenn doch nur einer den Tom Sawyer selber finden wollte! Viele gibt’s nicht mehr, die noch Kraft genug oder auch Hoffnung genug haben, um weiter zu suchen.«

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Die Verirrten.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Kehren wir jetzt zu Toms und Beckys Anteil am Picknick zurück. Sie wanderten mit der übrigen Gesellschaft durch die düsteren Gänge, um die bekannten Wunder der Höhle zu besuchen, – Wunder mit vielversprechenden, prunkenden Namen, wie der »Große Saal«, »die Kathedrale«, »Aladins Palast« usw. Dann kam des Versteckspiel an die Reihe und Tom und Becky beteiligten sich mit Eifer daran, bis das Vergnügen anfing etwas ermüdend zu wirken. Dann schlenderten sie durch die verzweigten Gänge, hielten die Kerzen hoch und lasen das Gewirr von Namen, Daten, Adressen und Reimen, welche mit Kerzenrauch gemalt, die Felswände gleich Fresken bedeckten. Immer weiterschreitend und plaudernd merkten sie kaum, daß sie sich nun in einem Teil der Höhle befanden, wo die Wände noch unbefleckt waren. Sie schwärzten ihre eigenen Namen an einer geeigneten Stelle ein und schritten dann weiter. Nun kamen sie an einen Ort, wo ein kleines Wässerchen, das von einer Wand niederträufelte und einen Bodensatz von Kalk mit sich führte, im Laufe endloser Zeiträume einen ganzen Wasserfall aus Spitzen und Schnörkelwerk in schimmerndem, unvergänglichem Gestein gebildet hatte. Tom zwängte seinen schmächtigen Körper dahinter, um den spitzenartigen Überhang zu Beckys Vergnügen zu beleuchten, und entdeckte, daß derselbe eine steile, von der Natur geschaffene Treppe verbarg, die zwischen engen Wänden abwärtsführte. Jetzt kam der Ehrgeiz des Entdeckers über ihn. Becky folgte seinem Ruf, sie machten sich mit Rauch ein Zeichen an die Wand, um sich später wieder zurechtzufinden, und traten dann wohlgemut die Entdeckungsreise an. Sie schlugen bald diesen, bald jenen Weg ein und gelangten nach und nach in die geheimsten Tiefen der Höhle; sie machten sich dann ein zweites Zeichen und zweigten ab, um nach neuen Wundern zu suchen, von denen sie der staunenden Oberwelt mit Stolz berichten könnten. Sie kamen zu einem hallenartigen Raume, von dessen Decke Massen von riesigen, schimmernden Tropfsteingebilden niederhingen. Staunend durchwanderten sie die Halle nach allen Seiten und verließen dieselbe dann, immer kühner werdend, durch einen der zahlreichen, hier einmündenden Seitengänge. Dieser brachte sie nach kurzer Frist zu einer entzückenden, kleinen Quelle, deren Becken mit einer wunderbar glitzernden Kruste phantastisch geformter Kristalle überzogen war. Dieser Zauberborn befand sich inmitten eines neuen Gewölbes, dessen Decke durch eine Menge schlank aufstrebender Pfeiler gestützt wurde, welche durch das allmähliche Zusammenwachsen großer Tropfsteingebilde im Laufe vieler Jahrhunderte entstanden waren. Unter der Wölbung hatten sich riesige Klumpen von Fledermäusen zusammengeballt, Tausende auf einem Knäuel. Das Licht störte die nächtlichen Wesen auf, so daß sie zu Hunderten herniederflatterten und mit tollem Gequieke gegen die Lichter schossen. Mit dem Wesen dieser Tiere vertraut, erkannte Tom sofort das Gebaren und die Gefahr, die für sie beide darin lag. Er ergriff Beckys Hand und stürzte mit ihr in den ersten besten Seitengang, der sich ihnen zeigte; keinen Augenblick zu frühe, denn eben huschte eine Fledermaus mit ihrem Flügel so dicht an Beckys Kerze vorüber, daß die kleine Flamme erlosch. Tom gelang es, die seine mit Erfolg zu hüten, obgleich die aufgescheuchten Tiere die Kinder noch weit durch die verschiedensten Gänge verfolgten, welche diese in blinder Hast durcheilten, nur darauf bedacht, der Gefahr möglichst rasch zu entgehen. Kurz darauf fand Tom einen unterirdischen See, dessen nächtliche Fluten sich weit in die schwarzen Schatten hinein verloren. Ihn gelüstete, das Ufer ringsum zu erforschen, doch zuvor beschlossen die Kinder, sich ein Weilchen zu setzen, auszuruhen und frische Kräfte zu sammeln. Jetzt, zum erstenmal, legte sich die schauerlich tiefe Stille der Umgebung wie eine feuchtkalte Hand auf die mutig und fröhlich pochenden Herzen der Kinder. Becky meinte:

»Ich hab gar nicht acht gegeben, aber mir kommt’s wie eine Ewigkeit vor, seit wir die anderen nicht mehr gehört haben.«

»Denk doch mal ’n bißchen nach, Becky, wir sind ja tief unter ihnen und weiß Gott wieviel weiter nördlich oder südlich oder östlich oder was es ist. ’s ist ja einfach unmöglich, was zu hören.«

Becky wurde ängstlich. »Möcht wissen, wie lang wir schon hier unten sind, Tom. Laß uns lieber umkehren.«

»Ja, ’s wird wohl besser sein, denk ich, ’s wird besser sein.«

»Weißt du den Weg, Tom? Mir ist’s das reine Wirrsal.«

»Finden könnt ich ihn am End, aber denk doch mal, die Fledermäuse! Wenn die uns beide Lichter ausmachen, kann’s ’ne böse Geschichte für uns werden. Müssen eben probieren, ’nen anderen Weg zu finden, der nicht dort durchführt.«

»Gut, aber hoffentlich verirren wir uns nicht. Das wäre zu gräßlich!« Und das Kind schauderte bei dem Gedanken an die bloße Möglichkeit.

Sie wandten sich nun durch einen langen Gang zurück und durchschritten denselben schweigend eine lange, lange Zeit, starrten dabei in jeden Seitengang, um irgendein bekanntes Zeichen zu entdecken, aber alles, alles war neu und fremd. Jedesmal wenn Tom prüfte und untersuchte, beobachtete Becky ängstlich sein Gesicht, um eine Spur der Ermutigung zu finden, und er sagte regelmäßig ganz heiter:

»Oho, ganz recht. Hier ist’s noch nicht, wird wohl gleich kommen!« Aber mit jedem Fehlschlagen fühlte er weniger und weniger Hoffnung im Herzen und begann allmählich aufs Geratewohl die abzweigenden Gänge zu durchwandern, sich in der Verzweiflung damit tröstend, er werde am Ende durch Zufall den richtigen Weg finden. Wohl sagte er immer noch: »Schon recht!« aber allmählich hatte sich die Angst wie ein Bleigewicht auf seine Seele gelegt, die Worte hatten den Klang der Überzeugung verloren und lauteten, als ob sie bedeuten sollten: »Alles ist verloren.« Becky drängte sich in lautlosem Entsetzen dicht an seine Seite und preßte mit Gewalt die Tränen zurück. Endlich sagte sie:

»O, Tom, was liegt an den Fledermäusen, laß uns doch den alten Weg gehen. Hier scheint’s, als ob wir weiter und weiter abkämen.«

Tom blieb stehen.

»Horch!« sagte er.

Tiefes Schweigen, ein Schweigen so tief, daß die Kinder in der Stille ihre eigenen Atemzüge hören konnten. Tom rief laut hinaus in das Dunkel. Der Ruf tönte widerhallend die einsamen Gänge entlang und erstarb in der Ferne in einem schwachen Laute, der fast wie Hohngelächter klang.

»O, tu’s nicht wieder, Tom, tu’s nicht wieder. Es ist gräßlich,« flehte Becky.

»Gräßlich ist’s, aber ’s ist doch besser, wenn ich’s tue, Becky, sie könnten uns doch am Ende hören,« und er schrie noch einmal.

Dieses »könnten« war beinahe noch gräßlicher als jenes geisterhafte Lachen, es lag eine solch verzweifelte Hoffnungslosigkeit darin! Wieder lauschten die Kinder mit aller Anstrengung, aber kein Ton ließ sich hören. Tom wandte sich sofort zurück und beeilte seine Schritte. Es dauerte nur eine kleine Weile, bis eine gewisse Unruhe und Unschlüssigkeit in seinem Benehmen Becky die furchtbare Tatsache ahnen ließ, daß er den Rückweg nicht zu finden vermochte!

»Tom, o Tom, du hast dir ja gar keine Zeichen mehr gemacht!«

»Ja, Becky, ich war ein Narr, ein elender, blinder, dummer Narr! Ich hab gar nicht dran gedacht, daß wir wieder zurück müssen! Nein, ich kann den Weg nicht finden, ’s läuft ja hier alles kreuz und quer.«

»Tom, Tom, wir sind verloren! Wir können nie, nie wieder aus dieser gräßlichen Höhle heraus. O, warum sind wir von den anderen fortgegangen.«

Sie sank zu Boden und brach in so krampfhaftes Weinen aus, daß Tom angst und bange wurde, sie möchte sterben oder den Verstand verlieren. Er beugte sich zu ihr und schlang seine Arme um sie, sie barg ihr Gesichtchen an seiner Brust, schmiegte sich fest an ihn und strömte ihr Entsetzen und ihre Reue in Wehklagen aus, das in dem fernen Echo wie spöttisches Gelächter verklang. Vergebens flehte Tom sie an, Mut zu fassen. Nun begann er sich selber Vorwürfe zu machen und sich anzuklagen, daß er sie in so gräßliche Lage gebracht. Das hatte bessere Wirkung. Sie wollte mit bestem Willen versuchen, wieder zu hoffen, und erklärte sich bereit, ihm zu folgen, wohin er sie führe, nur dürfe er nicht wieder so reden, denn er sei nicht mehr zu tadeln, als sie selber.

So schritten sie also wieder dahin, ziellos, planlos, auf gutes Glück. Das einzige, was sie tun konnten, war vorwärtszugehen, sich in Bewegung zu erhalten. Ein kleines Weilchen schien die Hoffnung wieder aufleben zu wollen; nicht daß ein besonderer Grund dazu vorhanden gewesen wäre; allein es ist eben einmal die Natur der Hoffnung, sich leicht wieder zu beleben, wo ihr die Schwungkraft noch nicht durch Alter und stetes Mißlingen geraubt worden ist.

Bald darauf nahm Tom Beckys Licht und blies es aus. Dieser Akt der Sparsamkeit war vielsagend. Da bedurfte es keiner Worte. Becky verstand seine Bedeutung, und die Hoffnung erstarb ihr wieder. Sie wußte, daß Tom eine ganze Kerze und noch drei oder vier Stümpfchen dazu in seiner Tasche trug, – und doch sparte er!

Allmählich machte die Müdigkeit ihre Rechte geltend, allein die Kinder wollten nicht darauf achten; sie konnten unmöglich an Niedersitzen und Rast denken, wo die Zeit so kostbar war. Sich vorwärts bewegen in irgendeiner Richtung bedeutete doch einen Fortschritt und konnte möglicherweise ein Gelingen zur Folge haben; sich niedersetzen hieß den Tod herbeirufen und sein Kommen beschleunigen.

Zuletzt versagten Beckys zarte Glieder jeden weiteren Dienst, sie mußte sich setzen. Tom ließ sich neben ihr nieder und sie sprachen von Hause, von ihren Angehörigen, von ihren behaglichen Betten und vor allem vom lieben, goldenen Tageslicht! Becky weinte leise vor sich hin und Tom zerbrach sich den Kopf, wie er sie trösten könne; aber jedes Trostwort war schon längst verbraucht und klang beinahe wie Hohn und Spott. Bleierne Müdigkeit lastete auf Becky und drückte ihr zuletzt die Augen zu. Wie froh war Tom. Er saß und starrte in ihr gramverzogenes Gesichtchen, das nach und nach unter dem Einfluß heiterer Träume hell und heller wurde, bis sich allmählich ein verklärendes Lächeln darüber ergoß. Die friedvollen Züge warfen einen Strahl von Frieden und Ruhe in seine eigene Seele und seine Gedanken wanderten zurück zu vergangenen Tagen, träumerischer Erinnerung voll. Während er noch tief in Nachsinnen versunken war, erwachte Becky mit einem kurzen, fröhlichen Lachen, das ihr jedoch alsbald auf den Lippen erstarb und einem Stöhnen Platz machte.

»O, wie konnte ich nur schlafen! Wär ich doch nie, nie mehr aufgewacht! Aber Tom, was hast du? – Ich will’s ja nie wieder sagen, nur sieh mich nicht so an!«

»Ich bin froh, daß du geschlafen hast, Becky, nun bist du wieder munter und wir finden sicher den Weg hinaus.«

»Wir wollen’s versuchen! Ach, ich hab im Traum so ’n schönes, herrliches Land gesehen, – ich glaub, wir kommen dorthin!«

»Noch nicht, Becky, vielleicht noch nicht. Mutig vorwärts, laß uns weiter suchen!«

Sie erhoben sich und wanderten weiter, Hand in Hand, hoffnungslos. Sie versuchten zu schätzen, wie lange sie schon in der Höhle herumirrten, es kam ihnen vor, als seien es Tage und Wochen, aber es konnte unmöglich sein, denn noch waren ihre Kerzen nicht ausgegangen.

Lange Zeit hernach, wie lange wußten sie nicht, sagte Tom, sie müßten nun leise gehen und lauschen, ob sie nicht das Rieseln von Wasser hörten, – sie müßten eine Quelle finden. Bald darauf fanden sie wirklich eine, und Tom hielt es an der Zeit, wieder auszuruhen. Beide waren furchtbar müde, aber Becky meinte trotzdem, sie könne noch ein wenig weitergehen. Zu ihrer Überraschung war Tom anderer Meinung; sie konnte nicht verstehen warum. So setzten sie sich denn nieder und Tom befestigte die Kerze mit etwas Lehm an der gegenüberliegenden Wand. Gedanken kamen und gingen, gesprochen wurde lange Zeit nichts. Endlich brach Becky das Schweigen:

»Tom, ich bin so hungrig.«

Tom zog etwas aus seiner Tasche.

»Kennst du das?«

Becky lächelte beinahe. Es war ein Stückchen Kuchen, das er ihr aus Scherz während des Picknicks abgejagt hatte, worüber sie damals sehr ungehalten schien. Nun war es zum letzten Hoffnungsanker in der Not geworden.

»Wollt, es wär hundertmal so groß,« brummte Tom, »könnten’s jetzt brauchen!«

»O, Tom, wo hätt‘ ich gedacht, daß dies unser letztes –«

Sie vollendete den Satz jedoch nicht, Tom brach das Stück entzwei und Becky aß ihr Teil mit gutem Appetit, während er an dem seinen nur so herumknapperte. Frisches, klares Wasser hatten sie im Überfluß, um ihr Mahl zu vollenden. Nach einiger Zeit schlug Becky vor, weiterzugehen. Tom schwieg einen Moment, dann sagte er:

»Becky, kannst du’s ertragen, wenn ich dir etwas sage?«

Becky erbleichte, bat ihn aber, tapfer zu reden.

»Nun denn, Becky, wir müssen hier bleiben, wo wir Wasser zum Trinken haben. Dies kleine Stümpfchen ist unser letzter Rest von Kerze.«

Becky brach in Weinen und Jammern aus. Tom tat, was er konnte, um sie zu trösten, aber mit wenig Erfolg. Zuletzt sagte sie:

»Tom!«

»Ja, Becky?«

»Man wird uns doch zu Hause vermissen und sie werden nach uns suchen!«

»Natürlich, natürlich tun sie das!«

»Vielleicht sucht man uns jetzt schon, Tom?«

»Na, vielleicht, – hoffentlich.«

»Wann können sie uns wohl vermißt haben, Tom?«

»Vermutlich, als sie im Boot waren.«

»Da war’s vielleicht schon dunkel, – ’s wird wohl keiner bemerkt haben, daß wir fehlen.«

»Na, aber dann wird dich doch deine Mutter jedenfalls vermissen, wenn die anderen heimkommen.«

Ein erschrockener Blick in Beckys Augen belehrte Tom über seinen Irrtum. Becky hatte ja am Abend gar nicht nach Hause kommen sollen. Die Kinder wurden still und nachdenklich. Einen Moment später sah Tom aus einem erneuten Schmerzensausbruch Beckys, daß sie derselbe Gedanke bewege wie ihn, – nämlich daß noch der halbe Sonntagmorgen vergehen könne, bevor Beckys Mutter erfuhr daß diese nicht bei Harpers über Nacht gewesen. Die Kinder hefteten ihre Augen wortlos auf das kleine Stückchen Kerze und beobachteten angsterfüllt, wie es langsam und unerbittlich dahinschmolz, sahen den halben Zoll Docht zuletzt noch allein dastehen, sahen das schwache Flämmchen steigen und fallen, fallen und steigen, jetzt die dünne Rauchsäule erklettern, einen Moment auf deren Spitze verweilen und dann – herrschten die Schrecken schwärzester Finsternis.

Wie lange danach Becky zu dem dämmernden Bewußtsein kam, daß sie weinend in Toms Armen lag, hätte keines von beiden zu sagen vermocht. Sie wußten nur soviel, daß sie nach einer endlosen Zeit aus einer schlummerartigen Betäubung, aus dem erneuten, niederdrückenden Gefühl ihres Elends erwachten. Tom meinte, es könne Sonntag, vielleicht schon Montag sein. Er versuchte Becky zum Reden zu bewegen, aber der Jammer lastete zu gewaltig auf ihr, alle Hoffnung war dahin. Tom behauptete, nun müsse man sie daheim längst vermißt haben und das Nachsuchen sei jedenfalls schon in vollem Gange. Er wolle schreien, sagte er, vielleicht höre man ihn doch und folge der Spur. Er versuchte es denn auch, aber in der tiefen Finsternis klangen die fernen Echos so schauerlich, daß er es bald entsetzt sein ließ.

Die Stunden schwanden dahin und der Hunger kam, um die armen kleinen Verlorenen aufs neue zu quälen. Ein Teil von Toms Hälfte des Kuchens war noch übrig, sie teilten den Rest und aßen. Danach schienen sie hungriger als zuvor. Dies arme bißchen Nahrung erweckte nur den Wunsch nach mehr.

Plötzlich rief Tom:

»Scht! Hörst du nicht was?«

Beide hielten den Atem an und lauschten. Ein Laut drang an ihr Ohr, der wie ein schwacher Ruf aus weitester Ferne klang. Augenblicklich antwortete Tom, und Becky an der Hand führend, tastete er sich den Gang entlang, der Richtung des Tones nach. Dann lauschte er wieder atemlos. Wieder erklang der Ruf, und diesmal zweifellos ein wenig näher.

»Sie sind’s!« jubelte Tom, »sie kommen! Vorwärts, Becky – nun ist alles gut!«

Die Freude, das Entzücken der Kinder war beinahe überwältigend. Sie kamen indes nur langsam voran, denn die Höhle war reich an Spalten im Boden, und diese mußten sie nun in der Dunkelheit doppelt meiden, Alsbald standen sie vor einer solchen und konnten nicht weiter. Die Spalte mochte nur drei Fuß, konnte aber auch hundert tief sein, wer konnte das wissen? – Jedenfalls war an kein Hinüberkommen zu denken, Tom legte sich nieder und versuchte so weit als möglich hinunterzureichen, – kein Grund zu fühlen. Sie mußten also bleiben und warten, bis die Retter erschienen. Sie lauschten – die fernen Rufe klangen augenscheinlich ferner und ferner. Einen Moment oder zwei noch, und sie erstarben gänzlich. O, diese herzbrechende Verzweiflung! Tom schrie, tobte, brüllte, bis er vollständig heiser war, ohne jeden Erfolg. Hoffnungsvoll redete er Becky zu, aber eine Ewigkeit ängstlichen Harrens schwand dahin, kein Ton war zu vernehmen.

Die Kinder tasteten sich nach der Quelle zurück; lange, schwere Stunden schleppten sich dahin; die Verirrten schliefen ein und erwachten halb verhungert und voll Herzeleid. Tom meinte, nun müsse es wohl Dienstag sein.

Jetzt kam ihm ein Gedanke. Ganz in der Nähe befanden sich ein paar Seitengänge. Es war immerhin noch besser, diese zu untersuchen, als das lastende Gewicht der Zeit müßig zu tragen. Er nahm eine Leine aus der Tasche, an der er einstmals seinen Drachen hatte steigen lassen, befestigte dieselbe an einen Felsvorsprung und schritt dann, indem er die Leine abwickelte, vorwärts. Becky folgte ihm. Nach ungefähr zwanzig Schritten fiel der Gang plötzlich steil ab. Tom ließ sich auf die Knie nieder, fühlte nach unten und dann so weit um die Ecke, als er bequem mit den Händen reichen konnte. Eben war er im Begriff, mit größter Anstrengung noch einmal weiter nach rechts zu tasten, als im selben Augenblick, keine zwanzig Meter entfernt, hinter einem Felsen hervor eine menschliche Hand erschien, die ein Licht hielt. Tom stieß einen lauthallenden Jubelschrei aus und alsbald folgte der Hand auch der Körper, zu dem sie gehörte, – der Körper des Indianer-Joe. Tom war wie gelähmt, er konnte kein Glied rühren. Wie erlöst von einem Banne atmete er auf, als er sah, daß der »Spanier« augenblicklich sich umwandte und schleunigst Fersengeld gab. Er konnte es kaum begreifen, daß Joe seine Stimme nicht erkannte und ihm für seine Aussage vor Gericht nicht den Garaus machte. Das Echo mußte sicherlich die Stimme unkenntlich gemacht haben, anders konnte er sich’s nicht erklären. Die Furcht lähmte jede Muskel in Toms Körper. Er nahm sich bestimmt vor, zur Quelle zurückzukehren, wenn er noch Kraft genug dazu besitze, und dort zu bleiben; nichts in der Welt könne ihn bewegen, sich noch einmal der Gefahr auszusetzen, dem Indianer-Joe in die Hände zu laufen. So kroch er denn zurück und hütete sich wohl, Becky etwas von dem merken zu lassen, was er gesehen hatte. Den Schrei vorhin – sagte er ihr – habe er nur noch einmal aufs Geratewohl ausgestoßen.

Hunger und Elend aber trugen auf die Länge der Zeit den Sieg davon. Eine erneute, schreckliche Zeit des Harrens und Bangens, ein nochmaliger langer Schlaf änderten Toms Entschluß. Die Kinder erwachten von rasendem Hunger gepeinigt. Tom meinte, es müsse nun schon Mittwoch oder Donnerstag, vielleicht gar Freitag oder Samstag sein und die Suche nach ihnen sei wohl schon längst aufgegeben. Er schlug vor, einen anderen Gang zu durchforschen. Er war nun entschlossen, es mit dem Indianer-Joe und allen sonstigen Schrecken aufzunehmen. Becky aber fühlte sich sehr schwach. Sie war in eine traurige Teilnahmlosigkeit versunken, aus der nichts sie aufrütteln konnte. Sie für ihr Teil wolle bleiben, wo sie sei, hauchte sie matt, wolle hier sterben, es dauere nun doch nicht mehr lange. Tom solle nur gehen und mit der Drachenleine weiter suchen; nur bat sie ihn flehentlich, doch ja von Zeit zu Zeit zurückzukommen und mit ihr zu reden. Sie ließ ihn feierlich versprechen, daß wenn die letzte bange Stunde käme, er bei ihr bleiben und ihre Hand halten wolle, bis alles vorüber sei. Tom küßte sie mit einem erstickenden Gefühl in der Kehle und tat, als sei er fest davon überzeugt, entweder die Suchenden oder einen Ausweg aus der Höhle zu finden. Dann nahm er seine Drachenleine zur Hand und kroch auf Händen und Knien einen der Gänge hinunter, von Hunger gequält, von den trübsten Ahnungen des nahenden Schicksals gepeinigt.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Tom und Beckys Heimkehr.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Der Dienstag nachmittag kam und schwand, die Dämmerung setzte ein. Das Städtchen St. Petersburg trauerte noch tief. Die verlorenen Kinder waren immer noch nicht aufgefunden. In der Kirche war öffentlich für sie gebetet worden, und wie viele Gebete mochten im stillen Kämmerlein zum Himmel aufgestiegen sein! Aber noch immer kam keine bessere Kunde aus der Höhle. Die Mehrzahl der Suchenden hatte die weitere Nachforschung aufgegeben und war zu ihren täglichen Beschäftigungen zurückgekehrt; sie meinten, die Kinder würden doch niemals wieder gefunden werden. Frau Thatcher war ernstlich erkrankt und lag meist in Fieberphantasien. Die Leute sagten, es sei herzbrechend anzuhören, wie sie nach ihrem Kinde riefe, den Kopf hebe, um wohl eine Minute lang zu lauschen, und ihn dann ermattet und seufzend wieder niedersinken zu lassen. Tante Polly war in tiefste Schwermut verfallen, ihr graues Haar war beinahe schneeweiß geworden. Am Dienstag abend ging alles im Städtchen traurig und hoffnungslos zur Ruhe.

Etwa gegen Mitternacht brachen die Glocken in ein wildes Geläute aus und im nächsten Augenblick waren die Straßen voll von Gruppen halb angekleideter Gestalten, welche wie wahnsinnig: »heraus, heraus, sie kommen, sie kommen!« in die Nacht hineinschrien. Blechpfannen und Hörner halfen das Getöse noch vermehren. Die Bevölkerung drängte sich in Massen dem Flusse zu, den wiedergefundenen Kindern entgegen, welche in einem offenen Wagen daherkamen, der von jubelnden, jauchzenden Männern gezogen wurde. Im Nu war der Wagen dicht umringt und mit Jubel und Hurraruf bewegte sich der Triumphzug die Hauptstraße hinauf.

Alle Häuser waren festlich beleuchtet, niemand fiel es ein, nochmals zu Bett zu gehen, es war der größte Moment, den das Städtchen je erlebt hatte. Während der ersten halben Stunde bewegte sich die Einwohnerschaft in langem Zuge durch Richter Thatchers Haus. Die geretteten Kinder wurden mit Fragen und Küssen überschüttet, der armen Mutter die Hand vor Mitgefühl fast ausgerenkt und dabei das ganze Haus mit Tränen förmlich überschwemmt.

Tante Pollys Seligkeit war vollkommen, und bei Frau Thatcher fehlte nicht viel dazu. Ihr Glück konnte jedoch erst vollständig sein, wenn der Bote, den man alsbald mit der großen Neuigkeit nach der Höhle gesandt, dem armen trostlos weitersuchenden Vater die Freudenkunde überbracht haben würde.

Tom lag auf dem Sofa. Einer atemlos lauschenden Zuhörerschaft, die um ihn herumstand, erzählte er die Geschichte seiner wunderbaren Abenteuer, wobei er nicht verfehlte, aus freier Erfindung manch wirkungsvollen Zug zur weiteren Ausschmückung anzubringen. Zum Schlusse gab er eine besonders anschauliche Beschreibung davon, wie er Becky verlassen, um eine erneute Entdeckungsreise anzutreten, wie er mit der Drachenleine in der Hand durch zwei Gänge gekrochen, wie er eben im Begriff gewesen, dem dritten. den er der ganzen Länge der Schnur nach durchmessen, hoffnungslos und verzweifelnd den Rücken zu kehren, als er plötzlich in weitester Entfernung einen hellen Fleck gewahrte, der wie Tageslicht aussah. Da habe er die Leine fahren lassen, sei auf den Knien dem verheißenden Flecke zugekrochen, habe Kopf und Schultern durch ein enges Loch gezwängt, habe frische, freie Gottesluft geatmet und den Mississippi seine breiten Wogen an sich vorüberwälzen sehen. Wäre es zufällig Nacht gewesen, so daß kein heller Fleck zu sehen war, dann würde er den Gang nicht weiter untersucht haben! Er erzählter, wie er dann zu Becky zurückkroch, um ihr die Freudenkunde zu bringen, wie sie ihn bat, sie mit solchem Unsinn zu verschonen, sie sei müde, wisse, daß sie sterben müsse und wollte sterben. Er beschrieb, welche Mühe es ihn gekostet, sie zu überzeugen und wie sie dann beinahe wirklich gestorben sei vor Glück, als sie sich nun mühsam dahingeschleppt, wo sie das Fleckchen wirkliches und wahrhaftiges Tageslicht sehen konnte. Wie er zuerst durch das Loch gekrochen und ihr sodann herausgeholfen, worauf sie beide sich niedergesetzt und vor Freude und Glück geweint hätten. Dann, sagte er, seien ein paar Männer in einem Boot den Fluß dahergekommen, er habe sie angerufen und von seiner und Beckys Lage und von ihrem halbverhungerten Zustande erzählt. Wie ihm die Leute zuerst nicht hatten glauben wollen, weil es ihnen wie ein tolles Märchen geklungen, »denn,« sagten sie, »ihr seid ja fünf Meilen unterhalb der Bucht, in der die Höhle ist,« sich aber dann doch eines anderen besonnen und sie an Bord genommen hätten. Dann seien sie nach einem Hause gerudert, hätten ihnen ein Abendessen gegeben, sie ein paar Stunden lang ausruhen lassen und sie dann endlich nach Hause gebracht.

Vor Tagesgrauen wurden denn auch der Kreisrichter und die handvoll Leute, die ihm noch immer treulich suchen halfen, vermittels des Leitfadens, den sie hinter sich herlaufen ließen, aufgesucht und ihnen die freudige Botschaft überbracht. Alles war eitel Glück und Freude!

Drei Tage und drei Nächte der Trübsal und des Hungers lassen sich jedoch nicht mit einem Male abschütteln, das sollten auch Tom und Becky erfahren. Mittwoch und Donnerstag mußten sie das Bett hüten und schienen nur immer elender und müder zu werden. Tom freilich fing schon am Donnerstag an ein wenig herumzukriechen, zeigte sich Freitag auf der Straße und war Sonnabend fast wieder er selber. Becky aber konnte vor Sonntag das Zimmer nicht verlassen und dann sah sie aus, als ob sie eine lange, zehrende Krankheit durchgemacht hätte.

Tom hörte von Hucks Kranksein und ging am Freitag, ihn zu besuchen wurde aber nicht zu ihm gelassen, ebensowenig an den beiden folgenden Tagen. Nachher durfte er ihn täglich sehen, mußte aber versprechen, über sein Abenteuer in der Höhle zu schweigen und auch sonst nichts Auflegendes zu berühren. Frau Douglas, die treue Pflegerin, war immer zugegen und paßte auf. Zu Hause hörte Tom von dem nächtlichen Abenteuer hinter dem Douglasschen Besitztum, auch, daß man den Körper des einen Halunken im Fluß, nahe an dem Landungsplatze der Dampffähre gefunden habe; er war sicherlich bei dem Fluchtversuch ertrunken.

Etwa vierzehn Tage nach Toms Befreiung aus der Höhle machte dieser wieder einmal einen Besuch bei Huck, welcher mittlerweile genügend zu Kräften gekommen war, um ein aufregendes Gespräch ertragen zu können. An Stoff dazu fehlte es Tom nicht. Sein Weg führte ihn an des Kreisrichters Haus vorüber und er trat ein, um nach Becky zu sehen. Deren Vater und ein paar Freunde fingen ein Gespräch mit ihm an und man fragte ihn scherzweise, ob es ihn nicht gelüste, noch einmal in die Höhle zu gehen. Tom meinte, warum nicht – das würde ihm nichts ausmachen.

Da sagte der Kreisrichter:

»Tollköpfe, wie du einer bist, gibt’s noch mehr, Tom, daran zweifle ich keinen Augenblick. Aber wir haben der Sache ein Ende gemacht. In der Höhle soll von nun an keiner mehr verloren gehen.«

»Wieso?«

»Weil ich die große Eichentüre mit Eisen habe beschlagen und dreifach verschließen lassen, und weil ich die Schlüssel dazu selber verwahre.«

Tom wurde weiß wie ein Leinentuch. »Herrgott, was gibt’s, Junge? Schnell, bring mal einer ein Glas Wasser!«

Das Wasser wurde gebracht und Tom damit bespritzt. »So, so, mein Junge, ist dir nun besser? Sag doch nur mal ums Himmels Willen, was mit dir los ist, Tom?«

»Ach, Herr Kreisrichter, in – der Höhle war ja der – der Indianer-Joe!«

Drittes Kapitel.

Tom verliebt sich.

Drittes Kapitel.

Tom erschien vor Tante Polly, die am offenen Fenster eines Hinterzimmers saß, das Schlaf-, Wohn-, Eßzimmer, Bibliothek, alles in sich vereinigte. Die balsamische Sommerluft, die friedliche Ruhe, der Blumenduft, das einschläfernde Summen der Bienen, alles hatte seine Wirkung auf sie ausgeübt, – sie war über ihrem Strickstrumpf eingenickt in Gesellschaft der Katze, die auf ihrem Schoße friedlich schlummerte. Die Brille war zur Sicherheit ganz auf den alten, grauen Kopf geschoben. Sie war fest überzeugt gewesen, daß Tom längst durchgebrannt sei und wunderte sich nun nicht wenig, als er sich jetzt so furchtlos ihrer Macht überlieferte.

»Darf ich jetzt gehen und spielen, Tante?« fragte er.

»Was – schon? Ei, wie weit bist du denn?«

»Fertig, Tante.«

»Tom, schwindle nicht, du weißt, das kann ich nicht vertragen.«

»Gewiß und wahrhaftig, Tante, ich bin fertig.«

Tante Polly schien nur wenig Zutrauen zu der Angabe zu hegen, denn sie erhob sich, um selbst nachzusehen; sie wäre froh und dankbar gewesen, hätte sie nur zwanzig Prozent von Toms Aussage bestätigt gefunden. Als sie aber nun den ganzen Zaun getüncht fand und nicht nur so einmal leicht überstrichen, sondern sorgsam mit einer festen, tadellosen Lage Tünche versehen, da kannte ihr Erstaunen, ihre freudige Ver- und Bewunderung keine Grenzen.

»Na, so was!« stieß sie fast atemlos hervor. »Arbeiten kannst du, wenn du willst, Tom, das muß dir dein Feind lassen. Selten genug freilich willst du einmal«, schwächte sie ihr Kompliment ab. »Aber nun geh und spiel, mach dich flink fort. Daß du mir aber vor Ablauf einer Woche wiederkommst, hörst du, sonst gerb ich dir das Fell doch noch durch!«

Sie war aber so gerührt von seiner Heldentat, daß sie ihn zuerst noch mit in die Speisekammer nahm und einen herrlichen, dicken, rotbackigen Apfel auslas, den sie ihm einhändigte, daran den salbungsvollen Hinweis knüpfend, wie Verdienst und ehrliche Anstrengung den Genuß einer Gabe erhöhe, die man als Lohn der Tugend erworben, nicht durch sündige Tücke. Und während sie die Predigt mit einer ebenso passend als glücklich gewählten Schriftstelle schloß, hatte Tom hinterrücks ein Stückchen Kuchen stibitzt, um sich den Lohn der Tugend wie der Errungenschaft sündiger Tücke ganz gleich gutschmecken zu lassen.

Dann schlüpfte er hinaus und sah gerade, wie Sid die Außentreppe, die zu dem Hinterzimmer des zweiten Stocks führte, hinaufhuschte, Erdklumpen waren zur Hand und im Moment war die Luft voll davon. Sie flogen um Sid wie ein Hagelwetter, und ehe noch Tante Polly ihre überraschten Lebensgeister sammelte oder zu Hilfe kommen konnte, hatten sechs oder sieben ihr Ziel getroffen, Sid brüllte und Tom war über den Zaun gesetzt und verschwunden. Es gab freilich auch ein Tor, aber für gewöhnlich konnte es Tom aus Mangel an Zeit nicht benutzen. Nun hatte seine Seele Ruhe, jetzt hatte er abgerechnet mit Sid und ihm die Verräterei mit dem schwarzen Zwirn heimgezahlt. Der würde ihn nicht so bald wieder in Ungelegenheiten zu bringen wagen!

Tom schlich auf Umwegen hinter dem Stalle, um Haus und Hof herum, bis er außer dem Bereich der Gefangennahme und Abstrafung war, dann setzte er sich eiligst nach dem Hauptplatz des Dorfes in Trab, wo der Verabredung gemäß zwei feindliche Heere sich eine Schlacht liefern sollten. Tom war General der einen Armee, Joe Harper, sein Busenfreund, General der zweiten. Die beiden ruhmgekrönten, großen Anführer ließen sich aber nicht zum Fechten in Person herbei; bewahre, ganz nach berühmten Mustern sahen sie nur von ferne zu, von irgendeiner Erhöhung herab und leiteten die Bewegungen der kämpfenden Heere durch Befehle, welche Adjutanten überbringen mußten. Nach langem, heißem Kampfe trug Toms Schar den Sieg davon. Nun wurden die Toten gezählt, Gefangene ausgetauscht, die Bedingungen zum nächsten Streit vereinbart und der Tag für die daraus notwendig sich ergebende Schlacht festgesetzt, die Armeen lösten sich auf und Tom marschierte allein heimwärts.

Als er am Hause des Bürgermeisters vorüberkam, sah er ein fremdes kleines Mädchen im Garten, ein liebliches, zartes, blauäugiges Geschöpf mit langen gelben, in zwei dicke Schwänze geflochtenen Haaren, weißem Sommerkleid und gestickten Höschen. Der ruhmgekrönte Held fiel ohne Schuß und Streich. Eine gewisse Anny Lorenz verschwand aus seinem Herzen, ohne auch nur einen Schatten ihrer selbst zurückzulassen. Tom hatte seine Liebe zu besagter Anny für verzehrende Feuersglut gehalten und nun war es nur noch ein leise flackerndes, verlöschendes Flämmchen, Monate lang hatte er um sie geworben, vor einer Woche erst hatte sie ihm ihre Gegenliebe gestanden, sieben Tage lang war er der stolzeste, glücklichste Junge des Städtchens gewesen und jetzt – im Umdrehen hatte sie sich empfohlen aus seinem Herzen, wie irgendein fremder Besuch, dessen Zeit um ist.

Mit verstohlenen Blicken verfolgte Tom den neu auftauchenden Engel, bis er bemerkte, daß sie ihn entdeckt hatte. Jetzt tat er, als ob er sie gar nicht sähe und begann nach echter Jungenart »sich zu zeigen«, in der Absicht, ihre Bewunderung zu erringen. Eine Zeitlang trieb er es so fort, aber mitten in irgendeiner halsbrecherischen, gymnastischen Leistung schielte er seitwärts und bemerkte, daß die Holde sich dem Hause zuwandte. Er brach ab und sprang auf den Zaun zu, voller Bedauern und in Hoffnung, daß sie doch noch ein wenig länger verweilen werde. Einen Moment blieb sie auf den Stufen stehen, näherte sich dann aber schnell der Türe. Tom stieß einen schweren, schallenden Seufzer aus, als ihr Fuß die Schwelle berührte, im selben Moment aber erhellte sich sein melancholisches Antlitz, – sie hatte ein Stiefmütterchen über den Zaun geworfen im Augenblick, da sie verschwand. Der Junge rannte drauflos, blieb aber einen oder zwei Fuß von der Blume entfernt stehen, beschattete die Augen mit der Hand und tat, als habe er, weit da unten in der Straße, etwas von großem Interesse entdeckt. Gleich danach raffte er einen Strohhalm vom Boden auf, um ihn auf der Nase zu balancieren, indem er den Kopf weit zurückwarf, und als er sich dabei hin und her bewegte, rückte er der Blume immer naher. Schließlich berührte er sie mit seinem nackten Fuße, seine geschmeidigen Zehen umschlossen dieselbe, auf einem Bein hüpfte er fort mit dem eroberten Schatze und verschwand um die nächste Ecke. Aber nur für eine Minute, – nur bis er die Blume an seinem Herzen geborgen hatte oder auch an seinem Magen vielleicht, – Tom war nicht sehr bewandert in der Anatomie und jedenfalls nicht allzu kritisch.

Jetzt kehrte er zu seinem früheren Standorte zurück und trieb sich am Zaun herum, bis die Nacht hereinbrach, immer von Zeit zu Zeit seine Kunststücke loslassend. Nie blonde Schöne aber zeigte sich nicht wieder und Tom tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie sicher hinter irgendeinem der Fenster gestanden habe und seine Aufmerksamkeiten also nicht auf dürren Boden gefallen seien. Endlich bequemte er sich widerstrebend zum Abzug, Kopf und Sinn voll wunderbarer Visionen.

Wahrend des ganzen Abendessens war er in solch gehobener Stimmung, daß seine Tante nicht klug daraus wurde, »was zum Kuckuck in den Jungen gefahren sei!« Nen Ausputzer, den er für Sids Beschießung mit Erdklumpen erhielt, nahm er mit Lammesgeduld entgegen und schüttelte ihn ebenso schnell wieder ab. Er probierte, der Tante vor der Nase weg Zucker zu stibitzen, und kriegte dafür ordentlich auf die Pfoten. Vorwurfsvoll meinte er:

»Tante, du klopfst doch den Sid nicht, wenn er Zucker nascht.«

»Der quält mich auch nicht so wie du. Was, ei wenn ich dir nicht aufpaßte, du stecktest den ganzen Tag in der Zuckerdose!«

Gleich danach wollte sie in der Küche etwas holen und ging hinaus. Sid, im Gefühl seiner Unstrafbarkeit, langte nach der Zuckerdose mit einer Überhebung, die Tom unerträglich dünkte. Aber weh! – Sids Hand zitterte, die Dose entglitt den haltenden Fingern, fiel zu Boden und zerbrach. Tom triumphierte, – triumphierte so, daß er sich bezwang, seine Zunge im Zaum hielt und atemlos, erwartungsvoll schwieg. Er gelobte sich innerlich, kein Wort zu sagen, selbst wenn die Tante wieder hereinkäme, sondern sich ganz stille zu verhalten, bis sie frage, wer das Unheil angestellt, dann würde er berichten, und welche Wonne, wenn der geliebte »Musterjunge« auch einmal was Ordentliches abkriegte. Er platzte beinahe vor Ungeduld und konnte sich kaum auf dem Stuhl halten, als nun die alte Dame hereintrat und sprachlos, Wutblitze unter ihrer Brille hervorschleudernd, vor den Trümmern stand. »Jetzt kommt’s, jetzt geht’s los«, frohlockte er. Im nächsten Moment fühlte er sich gepackt, zu Boden geworfen und schon hob sich die strafende Faust zum zweiten- und drittenmal über seinem südlichen Rückenende, ehe er, sprachlos vor Überraschung und Entrüstung, Worte fand:

»Laß los, Tante, was haust du mich denn? Sid hat’s ja getan!«

Tante Pollys erhobene Faust sank noch einmal mechanisch mit klatschendem Schlag, dann hielt sie ein, erstaunt, verwirrt, während Tom, eines Ausbruchs tröstenden, selbstanklagenden Mitleids gewärtig, vorwurfsvoll zu ihr emporstarrte. Aber alles, was sie sagte, als sie zu Atem kam, war:

»Na, Gott weiß, an dir ist kein Schlag verloren, das ist mein Trost. Nimm’s einstweilen als Abschlagszahlung, hörst du!«

Danach aber empfand sie doch Gewissensbisse und ihr gutes, weiches Herz sehnte sich, den armen, unschuldig Gezüchtigten ein liebevolles Wort zu sagen. Aus Rücksichten der Disziplin aber enthielt sie sich jeder Zusprache, die ihr doch nur als ein Eingeständnis des Unrechts ausgelegt worden wäre. So schwieg sie denn und ging bekümmerten Herzens ihrer Arbeit nach. Tom schmollte in einem Winkel und steigerte seine Leiden ins Unendliche. Er wußte, daß die Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag und dies Bewußtsein tat ihm wohl bis in die kleine Zehe. Er wollte sich um niemanden, niemanden mehr kümmern. Er fühlte, wie ihn von Zeit zu Zeit ein sehnsüchtiger, tränenverschleierter Blick traf, er aber tat, als merke er nichts und brüte nur stumm vor sich hin. Er sah sich krank, sterbend auf seinem Bette hingestreckt. Die Tante beugte sich über ihn und flehte händeringend um ein einziges, kleines, armes Wort der Vergebung. Er aber wandte das Gesicht ab, stumm, tränenlos und starb, – starb und das Wort der Vergebung blieb ungesagt. Was würde sie dann tun? – Oder er sah sich, wie man ihn vom Fluß zurückbrachte, tot, mit triefenden Haaren, blassem, stillem Antlitz, endlich Ruhe und Frieden im armen, gequälten Herzen – für immer. Wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihre Tränen stromweise fließen und sie Gott anrufen, ihren armen Jungen wieder lebendig zu machen, den sie auch nie, nie wieder mißhandeln wolle. Er aber läge da, kalt und still, ein armer Märtyrer, dessen Leiden zu Ende. – So arbeitete er sich dermaßen in Jammer und Elend hinein, daß er beinahe in Schluchzen ausgebrochen wäre und am Zurückdrängen desselben fast erstickte, Tränen standen in seinen Augen und alles erschien ihm in einem wässerigen Nebel. Wenn er mit den Augen zwinkerte, kamen die Tropfen langsam die Nase herab und träufelten von der Spitze hernieder. Dabei fühlte er sich so wohl in seinem Schmerz, daß er denselben ängstlich vor der profanen Lust, dem lärmenden Getriebe der Welt da draußen behütete. Als sein Bäschen Mary, die acht Tage auf dem Lande zu Besuch gewesen war, glückselig nach der »langen Abwesenheit« zur einen Tür hereintanzte, wie lauter Licht und Sonnenschein, entschlüpfte Tom in Nebel und Wolken gehüllt durch die andere. Weit in die Einsamkeit wanderte er hinweg. Ein Floß lockte ihn; er setzte sich darauf und starrte in die Wellen des Stromes. Wenn er nur auf einmal tot und ertrunken sein könnte, ohne etwas davon zu wissen, ohne erst all das viele Wasser zu schlucken! Dann dachte er an seine Blume, entnahm sie seinem Busen, verwelkt, zerknittert und ihr Anblick erhöhte noch sein wonniges Schmerzgefühl. Ob sie ihn wohl bemitleiden würde, wenn sie es wüßte? Oder würde auch sie sich abwenden wie die übrige schnöde Welt? Wieder verlor er sich in einem Labyrinth von Träumen und erhob sich zuletzt seufzend, um in die Dunkelheit hineinzuwandern. Um zehn, halb elf schlich er die stille Straße hinunter, in der die vergötterte Unbekannte wohnte. An ihrer Tür hielt er an. Kein Laut traf sein lauschendes Ohr, nur aus einem Fenster des zweiten Stockes kam der trübe Schein eines einsamen Talglichts. War dort der geheiligte Raum, der sie umschloß? Er kletterte über den Zaun und stahl sich lautlos bis unter jenes Fenster. Voll Rührung schaute er hinan, dann streckte er sich der Länge lang auf den Boden aus, die Hände, welche die verwelkte Blume umschlossen, auf der Brust faltend. So wollte er sterben, – draußen in der kalten Welt, kein Dach über seinem heimatlosen Haupte, keine Freundeshand, die ihm den Todesschweiß von der Stirne wischte, kein liebendes Antlitz, das sich mitleidsvoll über ihn beugte, wenn der letzte, große Kampf nahte. So sollte sie ihn sehen, wenn sie das Fenster öffnete, um dem jungen Morgen zuzulächeln und ach – würde sie wohl dem Toten eine Träne weihen, einen Seufzer hauchen über den leblosen stillen Rest, der alles war, was von dem frohen, jugendfrischen, vor der Zeit in der Wurzel geknickten, jungen Leben geblieben?

Das Fenster öffnete sich. Die schrille Stimme einer Magd entweihte die geheiligte Stille und eine Sündflut von Wasser durchtränkte die Gebeine des dahingestreckten Märtyrers.

Prustend und keuchend sprang unser Held auf und schüttelte sich heftig. Ein Wurfgeschoß durchschwirrte die Luft, untermischt mit einem halblauten Fluche, worauf ein klirrendes Splittern von Glas folgte. Eine kleine, undeutliche Gestalt kletterte eiligst über den Zaun und schoß in die Dunkelheit hinein.

Nicht lange danach, als Tom beim Schein eines Lichtstümpchens seine durchnäßten Kleider besichtigte, erwachte Sid. Wenn der nun vorher die Absicht gehabt hatte, allerlei unliebsame Anspielungen zu machen, so besann er sich jetzt wohlweislich eines besseren und hielt Frieden, – es blitzte Gefahr in Toms Auge. Dieser aber kroch ins Bett ohne weitere unangenehme Förmlichkeiten wie Waschen oder Beten, wovon sich Sid im Geiste getreulich Notiz machte, und die Stille der Nacht umfing das Brüderpaar.

Dreißigstes Kapitel.

Das Geheimnis der Höhle. – Der Schatz.

Dreißigstes Kapitel.

Innerhalb weniger Minuten hatte sich die Neuigkeit im Städtchen verbreitet und bald war ein Dutzend Boote voll Menschen unterwegs nach der Höhle, denen kurz nachher die vollgedrängte Dampffähre folgte. Tom Sawyer befand sich mit dem Kreisrichter in einem Boote. Als man die schwere Türe der Höhle öffnete, bot sich in der düsteren Dämmerung des Ortes ein trauriger Anblick dar. Da lag der Indianer-Joe zur Erde hingestreckt, tot, mit dem Antlitz dicht am Spalt der Türe, als ob seine Augen bis zum letzten Moment sehnsüchtig auf das Licht und die Lust der schönen Gotteswelt da draußen geheftet gewesen wären. Tom war tief ergriffen, wußte er doch aus eigener Erfahrung, was der Schurke hatte leiden müssen. Aber obgleich sein Mitleid rege war, empfand er doch zugleich ein überquellendes Gefühl der Begeisterung und Erleichterung, welches ihm nun erst offenbarte, bis zu welchem Grade Furcht und Angst auf ihm lasteten und ihn bedrückten, seit jenem Tage, an welchem er vor Gericht seine Stimme gegen den blutgierigen Mörder erhoben hatte.

Das Dolchmesser des Indianer-Joe lag dicht bei ihm; die Klinge war entzweigebrochen. Der große Grundbalken der Türe war mit unsäglicher Mühe von dem Messer bearbeitet und schließlich durchschnitten worden; aber es war vergebliche Arbeit, denn der Felsen bildete von außen eine natürliche Schwelle, an der das schwache Messer zerschellen mußte. Selbst ohne dies steinerne Hindernis würde die Arbeit umsonst gewesen sein, denn er hätte seinen Körper doch nimmermehr unter der Türe durchzwängen können, und das wußte der Indianer-Joe wohl. Trotzdem hatte er weitergeschnitzt und gebohrt, nur um etwas zu tun, nur um die gräßlich langsam schleichende Zeit hinzubringen, um seine gemarterten Lebensgeister zu irgendeiner Tätigkeit zu zwingen. Gewöhnlich konnte man eine Anzahl Lichtstümpfchen, welche von den jeweiligen Besuchern zurückgelassen worden waren, in den Rissen und Spalten dieser Vorhalle stecken sehen, heute war nichts davon zu erblicken. Der Eingesperrte hatte sie wohl alle zusammengesucht und gegessen. Einiger Fledermäuse mußte er sich zu demselben Zwecke bemächtigt haben, wie aus den herumliegenden Flügeln ersichtlich war. Der Unglückliche war buchstäblich Hungers gestorben. Nicht weit von ihm war im Lauf der Jahrhunderte ein Tropfsteingebilde vom Boden aufgewachsen, genährt von dem fallenden Tropfen eines oben niederhängenden Stalaktiten. Der Indianer-Joe hatte den Tropfstein abgebrochen und auf den Stumpf einen Stein gelegt, in den er eine kleine Vertiefung gehöhlt, um den kostbaren Tropfen aufzufangen, der einmal in zwanzig Minuten mit der Regelmäßigkeit eines Uhrpendels herabfiel – im ganzen ein Teelöffel voll in vierundzwanzig Stunden. Jener Tropfen fiel schon, da die Pyramiden neu waren, er fiel, als Troja sank, als Rom gegründet wurde, als man Christum kreuzigte, als Wilhelm der Eroberer das britische Reich schuf, als Kolumbus segelte, als der Unabhängigkeitskrieg ausbrach. Jener Tropfen fällt noch jetzt und er wird weiter fallen, wenn alle diese Dinge durch das Tageslicht der Geschichte in die Dämmerung der Sage, in die tiefe Nacht der Vergessenheit gesunken sein werden. Ob alles hienieden seinen Zweck, seine Bestimmung hat? Mußte jener Tropfen so geduldig fallen, fünftausend Jahre hindurch, um zur betreffenden Stunde für das Bedürfnis jener vergänglichen, menschlichen Eintagsfliege bereit zu sein? Wird er in zehntausend Jahren irgendeine andere Mission zu erfüllen haben? Wer das wissen könnte! Doch, was liegt daran? – Viele, viele Jahre sind verflossen, seit jener Unglückliche den Stein höhlte, um den kostbaren Tropfen aufzufangen, doch bis zum heutigen Tage betrachtet jeder Besucher der Höhle am längsten diesen Stein und den niederfallenden Tropfen. Der »Becher des Indianer-Joe« nimmt unter den Wundern der Höhle die erste Stelle ein; selbst »Aladdins Palast« kann nicht damit konkurrieren.

Dicht beim Ausgang der Höhle wurde der Indianer-Joe beerdigt. Zu dem Begräbnis strömten die Leute aus allen Himmelsgegenden, auf sieben Meilen in die Runde, zu Boot und zu Wagen herbei. Sie hatten ihre Kinder und allerlei Lebensmittel mitgenommen, und gingen schließlich so befriedigt von dannen, als ob Joe gehängt worden wäre.

Am darauffolgenden Morgen nahm Tom seinen Freund Huck an einen heimlichen Ort, um etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen. Huck hatte inzwischen Toms Abenteuer erfahren, dieser meinte aber, es sei noch etwas dabei, was er sicher nicht gehört hätte und darüber eben wolle er reden. Hucks Gesicht nahm eine betrübte Miene an; er sagte: »Weiß schon, was du willst, Tom! Bist in ›Nummer Zwei‹ gewesen und hast nur Schnaps gefunden, gelt? Es hat mir’s niemand gesagt, aber wie ich von der Schnapsgeschichte hörte, wußte ich gleich, daß du es gewesen bist, Geld hast du keins gefunden, das weiß ich, hättst’s mich sonst wissen lassen. Na, Tom, ich hatte immer so eine Ahnung, daß wir am Ende mit leeren Händen ausgehen.«

»Aber, Huck, ich hab kein Wort über den Gastwirt gesagt! In seiner Schenke war ja noch alles in Ordnung, als ich am Samstag zum Picknick ging. Weißt du nicht mehr? Du hast ja die Nacht dort wachen sollen!«

»Weiß Gott, ja. Mir kommt’s wie ’ne Ewigkeit vor, ’s war in derselben Nacht, als ich dem Indianer-Joe da hinauf hinter den Gartenzaun der Frau Douglas nachgeschlichen bin.«

»Du bist ihm nachgeschlichen?«

»Ja, aber du hältst reinen Mund drüber, hörst du? Der Kerl könnte gute Freunde hinterlassen haben, und die möcht ich nicht auf mich hetzen. Wenn ich nicht gewesen war, war der Schuft jetzt in Texas oder Gott weiß wo.«

Huck teilte nun Tom im Vertrauen sein ganzes Abenteuer mit, von dem dieser nur ein Bruchstück durch den alten Walliser gehört hatte.

»Na,« schloß dann Huck, zur Hauptfrage zurückkommend, »und wer den Schnaps in ›Nummer Zwei‹ausgehoben hat, der hat auch das Geld, soviel ist sicher! Wir können uns den Mund wischen!«

»Huck, das Geld war gar nie in ›Nummer Zwei‹.«

»Was?« Huck starrte Tom ins Gesicht, »Tom, bist du am End gar dem Schatz nochmals auf der Spur?«

»Huck, – er ist in der Höhle!«

Hucks Augen glänzten.

»Sag’s noch einmal, Tom.«

»Das Geld ist in der Höhle!«

»Tom, – Herrgott im Himmel noch einmal, – ist’s Scherz oder Ernst?«

»Ernst, Huck, so ernst, wie nur was sein kann im Leben. Willst du mitkommen und ’s herausholen?«

»Na und ob! Das heißt – wenn’s wo liegt, wo wir’s holen können und den Weg wieder herausfinden.«

»Dafür steh ich dir!«

»Woher glaubst du aber, daß das Geld –«

»Wart nur, bis du dort bist. Finden wir es nicht, dann schenk ich dir meine Trommel und alles, was ich sonst noch hab, so gewiß wie –«

»Ist ’n Wort. Wann also?«

»Gleich jetzt, wenn du willst. Bist du stark genug?«

»Ist’s weit drin in der Höhle? Bin jetzt erst drei Tage wieder ein wenig auf meinen Spazierhölzern; ich glaub, weiter als ’ne Meile tun sie’s noch nicht, Tom.«

»Auf dem gewöhnlichen Weg sind’s freilich ungefähr fünf Meilen, aber man kann gewaltig abschneiden, auf einem Weg, den ich allein weiß. Ich bringe dich im Boot an die Stelle und du sollst keinen Finger dabei rühren.«

»Na, dann gleich los, Tom.«

»Schon recht, wir brauchen aber erst Brot und Fleisch und unsre Pfeifen, ein paar kleine Säcke und einen Knäuel Schnur, dann ’n paar von den neumodischen Dingern, die sie Zündhölzer nennen. Ich sag dir, ich wäre gottfroh gewesen, wenn ich neulich einige gehabt hätte, als ich so in der Klemme saß.«

Kurz nach Mittag »liehen« sich die Jungen ein kleines Boot von einem Manne, der gerade nicht daheim war, und machten sich alsbald auf den Weg. Als sie ein paar Meilen unterhalb der »Höhlenbucht« waren, sagte Tom: »Siehst du, Huck, die ganze steile Uferstrecke von der Höhlenbucht‘ an bis hierher ist überall gleich – kein Haus, kein Wald, nur Gestrüppe; aber sieh, dort oben der helle Fleck, wo ein Erdrutsch gewesen sein muß, das ist mein Merkzeichen. Jetzt landen wir.«

Und sie landeten.

»Wo wir jetzt stehen, Huck, könntest du mit ’ner Angelrute das Loch berühren, durch das wir herausgekrochen sind. Such mal, ob du’s finden kannst.«

Huck suchte überall herum, fand aber nichts. Stolz schritt Tom auf ein dichtes Gesträuch von Sumachbüschen zu und sagte:

»Hier ist’s! Sieh dir’s an, Huck, ’s ist das nettste Loch im ganzen Lande. Daß du aber den Mund hältst drüber. Lang schon hab ich mal ’n Räuber sein wollen, hab aber dazu so was gebraucht wie das Loch hier, nur wollt sich’s eben nicht finden lassen. Jetzt hab ich’s und wir sind fein still davon, sagen’s nur dem Joe Harper und dem Ben Rogers, denn wir müssen doch ’ne ganze Bande haben, sonst hat das Ding keinen Schick, Tom Sawyers Bande, ’s lautet famos, gelt, Huck?«

»Das tut’s, Tom, das tut’s weiß Gott! Und wer wird beraubt?«

»Na, jeder. Wir lauern eben den Leuten auf, so macht man’s.«

»Und töten sie?«

»Nee – immer nicht! Sperren sie in die Höhle, bis sie sich ranzionieren.«

»Ranzion – was? Was heißt denn das?«

»Na, Geld geben! Ihre Freunde müssen alles zusammenkratzen, was sie können, und wenn die Summe, die man verlangt, nach Jahresfrist nicht beisammen ist, dann bringt man die Gefangenen um. So wird’s gewöhnlich gemacht. Nur die Weiber läßt man leben. Die sperrt man ein, aber man tötet sie nicht. Die sind immer schön und reich und entsetzlich furchtsam. Man nimmt ihnen die Uhren und ihre anderen Sachen, zieht aber immer den Hut vor ihnen und ist höflich. Niemand ist so höflich, wie die Räuber, das kannst du in jedem Buch lesen. Na, die Weiber, die lieben einen dann, und wenn sie erst mal zwei, drei Wochen in der Höhle gewesen sind, hören sie auf zu weinen und man kann sie schließlich nicht wieder loswerden. Wenn man sie hinaustreiben wollte, würden sie flugs kehrtmachen und zurückkommen. So steht’s in allen Büchern.«

»Na, das laß ich mir gefallen, ’s ist noch besser, als Seeräuber sein.«

»In einer Art ist’s freilich besser, ’s ist nicht so weit von Hause und näher beim Zirkus und all den Sachen.«

Jetzt war alles bereit und die Jungen schlüpften in das Loch, Tom voran. Sie krochen mühsam bis zum anderen Ende des kleinen Stollens, befestigten dann ihre Leine und drangen weiter vor. Wenige Schritte brachten sie zu der Quelle, und Tom fühlte sich von einem kalten Schauder überrieselt. Er zeigte Huck das übriggebliebene Dochtrestchen, das mit einem Klümpchen Lehm an der Felswand befestigt war, und beschrieb, wie er und Becky verzweifelnd dem letzten Aufflackern und Erlöschen der Flamme zugesehen.

Die Jungen sprachen jetzt nur noch im Flüsterton, denn die Stille und Trostlosigkeit des Orts bedrückte ihre Stimmung, Sie schritten weiter und kamen an jenen anderen Gang, der an dem vermeintlichen »Abgrund« endete. Beim Kerzenschein stellte sich indessen heraus, daß hier kein unergründlicher Abgrund, sondern nur eine steile Lehmwand von zwanzig bis dreißig Fuß Tiefe war. Tom flüsterte:

»Jetzt will ich dir was zeigen, Huck.«

Er hob die Kerze hoch und sagte:

»Sieh mal so weit um jene Ecke als du kannst. Siehst du was? Dort, an dem großen Felsblock da drüben, – mit Kerzenrauch geschwärzt?«

»Tom, ’s ist ein Kreuz

»Nun, und wo ist Nummer Zwei? Unter dem Kreuz, he? Grad dort Hab ich den Indianer-Joe gesehen, wie er seine Kerze in die Höhe hob. Huck!«

Huck starrte eine Weile auf das geheimnisvolle Zeichen und hauchte dann mit zitternder Stimme:

»Tom, laß uns machen, daß wir fortkommen!«

»Was, und den Schatz im Stich lassen?«

»Ja, lieber. Dem Indianer-Joe sein Geist treibt sich gewiß hier herum.«

»Bewahre, Huck, hier nicht! Der spukt an der Stelle, wo der Kerl gestorben ist, am Ausgang drüben – fünf Meilen von hier!«

»Nee, Tom, das glaub ich nicht. Der spukt bei seinem Geld herum. Ich weiß, wie’s Geister machen, und du weißt’s auch!«

Tom begann zu überlegen, daß Huck am Ende recht haben könne. Böse Ahnungen stiegen in ihm auf. Plötzlich kam ihm ein erlösender Gedanke.

»Denk doch nach. Huck, wir sind alle beide Narren! Wie kann denn ein Geist da herumspuken, wo ein Kreuz ist!«

Das war ins Schwarze getroffen.

»Tom, daran hab ich gar nicht gedacht. Aber so ist’s. Das Kreuz ist ’n Glück für uns. Wir wollen nun mal da hinabklettern und nach der Kiste schauen.«

Tom ging voraus, indem er während des Ansteigens rohe Stufen in die Lehmwand schnitt. Huck folgte. Vier Gänge führten aus der kleinen Höhle, in welcher der Felsblock stand. Drei davon untersuchten die Jungen ohne jeden Erfolg. Sie fanden einen kleinen Schlupfwinkel, in dem ein Bündel wollener Decken lag, dazu ein alter Hosenträger, ein Stück Schinkenschwarte und die rein abgenagten Knochen von zwei oder drei Hühnern. Die Goldkiste aber war nirgends zu erblicken. Die Jungen durchsuchten alles und durchsuchten ’s noch einmal, umsonst! – Tom sagte:

»Es hieß unter dem Kreuz. Hier sind wir am nächsten darunter, ’s kann doch nicht unter dem Felsen selber sein, der sitzt fest auf dem Grunde auf, was nun?«

Wieder suchten sie überall herum und setzten sich dann entmutigt nieder. Huck wußte nichts weiter vorzuschlagen.

Nach einer Weile sagte Tom:

»Sieh mal her, Huck, da sind Fußspuren und Talgtropfen im Lehm auf dieser Seite des Felsens und zwar nur hier. Das hat was zu bedeuten, am Ende liegt das Geld doch unter dem Felsen. Ich grab mal hier im Lehm nach.«

»’s ist kein dummer Gedanke, Tom«, erwiderte Huck lebhaft.

Toms Messer war im Augenblick zur Hand und er hatte kaum vier Zoll tief gegraben, als er auf Holz stieß.

»Na, Huck! Hörst du das‘?«

Huck begann jetzt ebenfalls zu wühlen und zu kratzen. Bald waren ein paar Bretter bloßgelegt und weggenommen. Diese hatten eine natürliche Spalte verborgen, die unter den Felsen führte. Tom kroch hinein und hielt seine Kerze soweit hinunter, als er konnte, vermochte aber das Ende des Spaltes nicht zu sehen. Er schlug daher vor, weiter zu forschen, bückte sich und kroch vorwärts; der schmale Spalt führte allmählich nach unten. Er folgte dem sich windenden Lauf erst nach rechts und dann nach links, Huck auf seinen Fersen. Als Tom wieder um eine scharfe Wendung bog, rief er plötzlich:

»Herr, du meine Güte, Huck sieh hier!«

Es war die Goldkiste, die dastand, gewiß und wahrhaftig, in einer schmucken kleinen Höhle, zusamt einem leeren Pulverbeutel, ein paar Gewehren in Lederhülsen und einem alten Gürtel, alles durchnäßt von niedersickernden Wassertropfen.

»Gefunden, endlich gefunden!« jubelte Huck, indem er mit den Händen in den funkelnden Münzen wühlte. »Jetzt sind wir aber reich, Tom!«

»Ich hab sicher drauf gezählt, Huck, und doch ist’s fast zu schön, um wahr zu sein. Aber haben tun wir den Schatz, soviel ist sicher. Laß uns weiter keine Zeit verlieren jetzt, sondern die Geschichte flink in Sicherheit bringen. Zeig mal her, ob ich die Kiste heben kann.«

Diese wog vielleicht fünfzig Pfund. Tom konnte sie nur mit Mühe heben, an ein Fortschaffen war nicht zu denken.

»Dacht mir’s wohl,« sagte er, »damals im Gespenster-Haus trugen die Kerle ziemlich schwer dran, – hab’s gleich bemerkt. Gut, daß ich die kleinen Säcke mitgenommen habe.«

Das Geld war bald in die Säckchen verteilt und die Jungen trugen es hinauf nach dem Felsblock mit dem Kreuze.

»Jetzt wollen wir die Gewehre und das andere Zeug noch holen«, schlug Huck vor.

»Bewahre, die lassen wir schön dort. Das können wir alles wundervoll brauchen, wenn wir erst Räuber sind. In der Höhle feiern wir dann unsere Orgien, ’s ist dort grad wie gemacht für Orgien!«

»Was ist denn das – Orgien?«

»Was weiß ich? Aber Räuber halten immer Orgien und das müssen wir natürlich auch tun. Vorwärts, Huck, wir müssen schnell machen, sind schon zu lange hier gewesen, ’s wird wohl schon spät sein, hungrig bin ich auch; aber wir wollen doch erst essen und rauchen, wenn wir im Boot sind.«

Kurz danach traten sie aus den Sumachbüschen hervor, schauten vorsichtig nach allen Seiten aus, sahen, daß die Luft rein war und saßen bald kauend und rauchend im Boote. Als eben die Sonne im Begriff stand unterzugehen, stießen sie ab. Tom ruderte in der stetig zunehmenden Dämmerung längs des Ufers hin, und lustig plaudernd landeten sie kurz nach Einbruch der Nacht.

»Jetzt, Huck,« rief Tom, »verstecken wir das Geld im Holzschuppen der Witwe Douglas, und morgen früh komm ich dann und wir zählen und teilen den Kram und suchen dann im Wald nach einem Platz, wo wir ihn sicher vergraben können. Du bleibst jetzt hier ruhig liegen und bewachst die Herrlichkeit, ich hol indessen geschwind Meister Taylors Handkarren. Bin gleich wieder da!«

Er verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Karren zurück, in welchen er die beiden Geldsäcke legte, ein paar alte Lumpen drauf warf und sich dann mit seiner Last auf den Weg machte. Am Haus des alten Walliser blieben die Jungen stehen, um einmal auszuruhen. Als sie eben weiter wollten, trat der Alte heraus und rief:

»Holla, wer ist da?«

»Huck und Tom Sawyer.«

»Schön, und nun schnell vorwärts, Jungens, alles wartet auf euch. Na, los, flink, lauft zu, ich will den Karren schon ziehen, her damit. Meiner Treu, der ist nicht so leicht, als er sein könnte. Backsteine drauf oder altes Eisen?«

»Altes Metall«, sagte Tom lakonisch.

»Dacht mir’s doch, dacht mir’s doch. Die hiesigen Jungens machen sich viel Arbeit und vertrödeln viel Zeit, um so altes Eisenzeug aufzutreiben, für das sie doch nur ein paar Pfennige bekommen in der Gießerei, viel mehr Zeit und Mühe, als sie brauchen würden, um ebensoviel mit ehrlicher Arbeit zu verdienen. Na, liegt mal so in der menschlichen Natur, läßt sich nicht ändern. Na nur flink, vorwärts, vorwärts!«

Die Jungen wollten wissen, weshalb solche Eile nötig sei.

»Fragt jetzt nicht lang, – nur zu, werdet’s schon sehen, wenn wir zur Witwe kommen.«

Huck fühlte böse Ahnungen in sich aufsteigen. Er war gewohnt, daß man ihn fälschlicherweise dummer Streiche bezichtigte.

»Herr Jones, ganz gewiß, wir haben nichts getan«, beteuerte er zaghaft.

Der Alte lachte herzlich.

»Wer weiß Huck, mein Junge, wer weiß? Bist du denn nicht gut Freund mit der Witwe?«

»O ja, jedenfalls ist sie freundlich mit mir gewesen!«

»Na – also! Weshalb hast du dann Angst?«

Huck war sich über die Frage noch nicht ganz klar geworden, als er sich schon mit Tom in den Salon der Frau Douglas hineingeschoben fühlte. Jones ließ den Karren an der Türe stehen und folgte ihnen.

Das Haus war strahlend hell erleuchtet, und jeder, der im Städtchen irgend etwas zu bedeuten hatte, war zugegen. Thatchers waren da und Haiders, Rogers, Tante Polly, Sid, Mary, der Pfarrer, der Redakteur und noch viele andere, und alle in festlichem Gewande. Frau Douglas empfing die Jungen so herzlich, wie man zwei so aussehende Menschenkinder empfangen konnte. Sie waren mit Lehm und Talgtropfen förmlich überzogen, Tante Polly wurde feuerrot vor Verlegenheit, legte die Stirn in drohende Falten und schüttelte vorwurfsvoll und mißbilligend ihr graues Haupt gegen Tom. Niemand aber konnte verlegener, beschämter sein, als die Jungen selber. Herr Jones sagte:

»Tom war noch nicht zu Hause; ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, ihn herbeizubringen, aber just vor meiner Haustüre stolpere ich dann über die beiden, und da hab ich sie eben mitgebracht, wie sie gingen und standen.«

»Und das war sehr recht«, bekräftigte die Witwe. »Kommt mit mir, Jungens!«

Sie nahm sie mit sich in ein Schlafzimmer und sagte:

»Jetzt wascht euch und zieht euch an. Hier sind zwei neue Anzüge, Hemden, Socken, alles vollständig. Die gehören dir, Huck, – nein, – keinen Dank weiter, – Herr Jones hat den einen gekauft und ich den anderen. Leihst Tom den einen heut abend, werden ja wohl beiden passen. Flink also hinein. Wir warten so lange. Kommt schnell herunter, wenn ihr euch genug gestriegelt habt.«

Und sie ging.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Entzücken und Grauen.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Wiederum war Tom zum strahlenden Helden der Stadt geworden, – ein Liebling der Alten, der Neid der Jugend. Sein Name wurde sogar durch den Druck unsterblich gemacht, das Blättchen der Stadt erging sich in vielen Lobpreisungen seiner Heldentat. Einige seiner Mitbürger dachten allen Ernstes daran, daß er Aussicht haben könne, einstmals Präsident zu werden – d.h., wenn er nicht zuvor gehenkt würde.

Wie gewöhnlich schloß die unbeständige, gedankenlose Welt Muff Potter jetzt an ihr Herz, schmeichelte ihm und hätschelte ihn so ausgiebig, wie sie ihn zuvor beschimpft hatte. Da ihr dies Verfahren im Grund aber zur Ehre gereicht, wollen wir’s nicht weiter tadeln.

Toms Tage waren Tage des Glanzes und des Entzückens, seine Nächte dagegen Zeiten des Grauens. Der Indianer-Joe spukte in all seinen Träumen, Tod und Vernichtung standen ihm im Gesichte geschrieben. Keine Versuchung, noch so groß, gab es nun, die den Jungen hätte bewegen können, nach Einbruch der Nacht sich hinauszuwagen. Der arme Huck befand sich ganz im selben Zustand des Schreckens und Entsetzens, denn Tom hatte am Abend vor der letzten Gerichtsverhandlung dem Verteidiger von Muff Potter die ganze Sache haarklein gebeichtet und Huck zitterte davor, daß sein Anteil an der Geschichte doch noch ruchbar werden könnte, trotzdem ihm des Indianer-Joe Flucht die Qual eines öffentlichen Erscheinens vor Gericht erspart hatte. Der arme Bursche hatte freilich den Herrn Verteidiger beschworen, reinen Mund zu halten, und dieser hatte es ihm auch versprochen; aber welche Sicherheit bot ihm das? Seit die Gewissensqual Tom dazu getrieben, dem Verteidiger bei Nacht und Nebel jenes grause Geheimnis zu enthüllen, das ihm mit schauerlichen, unheimlichen Eiden für ewig auf die Lippen gesiegelt schien, war Hucks Vertrauen in das menschliche Geschlecht erschüttert, ja vernichtet. Alltäglich erfüllten Muff Potters rührende Dankesbeweise Tom mit Freude und Stolz, daß er geredet, und allnächtlich wünschte er inständig, das Geheimnis bewahrt zu haben. Einmal fürchtete Tom, man möchte den Indianer-Joe niemals erwischen, dann wieder entsetzte ihn der Gedanke, daß man ihn doch später finden könne. Er fühlte mit Bestimmtheit, daß er keinen ruhigen Atemzug mehr tun könne, ehe dieser Mensch nicht tot sei und er seine Leiche gesehen habe.

Belohnungen waren ausgesetzt, die ganze Gegend durchsucht worden, aber kein Indianer-Joe wurde gefunden. Man hatte eines jener allwissenden, scheue Ehrfurcht einflößenden Wunderwesen, einen Detektiv aus St. Louis, verschrieben. Der schnüffelte umher, schüttelte sein weises Haupt, sah geheimnisvoll aus, und hatte denselben erstaunlichen Erfolg, den die meisten Angehörigen seines Berufes erringen, das heißt, er entdeckte, wie er sagte, »den Schlüssel zum Rätsel«. Da man aber besagten Schlüssel nicht des Mordes verklagen und henken konnte, fühlte sich Tom, nachdem der weise Mann gegangen, ebenso unsicher als zuvor.

Die Tage schleppten sich langsam dahin, zum Glück aber nahm ein jeder neue Tag ein klein wenig von der Seelenangst mit sich hinweg, die auf dem armen Knaben lastete.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Die Schatzgräber

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Es naht einmal eine Zeit in dem Leben eines jeden Jungen von echtem Schrot und Korn, wo er ein rasendes Verlangen empfindet, nach verborgenen Schätzen zu graben. Dies Verlangen nun überfiel eines Tages unseren Tom mit Allgewalt. Er wollte sich gleich mit Joe Harper in Verbindung setzen; dieser war jedoch nicht zu finden. Dann schaute er sich nach Ben Rogers um, und der war fischen gegangen. Zufällig stieß er auf Huck Finn, den »Rothändigen«, und in Ermangelung der anderen war ihm dieser auch recht. Tom zog ihn beiseite an einen geheimen Ort und teilte ihm im Vertrauen den Plan mit. Huck war einverstanden. Huck war immer bereit, die Hand zu irgendeinem Unternehmen zu bieten, welches Vergnügen versprach und kein Kapital erforderte, denn er hatte einen Überfluß von der Zeit, die kein Geld ist.

»Wo sollen wir graben?« fragte Huck.

»Na, so ’n bißchen überall.«

»Was? Gibt’s denn überall ’nen Schatz?«

»Wie du nur so fragen magst! Die sind immer nur an ganz besonderen Plätzen. Mal auf ’ner Insel, dann in ’ner alten verfaulten Kiste, die unter einem alten vermoderten Baumstamm verscharrt ist, grad da, wo der Schatten um Mitternacht hinfällt; gewöhnlich aber steckt der Schatz unterm Boden eines Hauses, in dem’s spukt.«

»Wer steckt ’n denn da hin?«

»Wer? Ei Räuber natürlich, wer denn sonst? Etwa ’n Vikar, der die Sonntagsschule hält, was?«

»Was weiß ich? Das weiß ich aber gewiß, ich würd den Schatz nicht irgendwo vergraben, wenn er mein wär, sondern nehmen und ausgeben und lustig damit leben.«

»Ich auch. Räuber aber machen’s anders, die vergraben ihn immer und lassen ihn liegen.«

»Und gucken gar nie mal darnach?«

»Nee. Sie wollen wohl, aber dann haben sie die Zeichen vergessen, oder sterben gewöhnlich. Na, auf jeden Fall liegt der Schatz da ’ne Ewigkeit und wird rostig. Und dann nach einiger Zeit entdeckt mal einer ein altes, gelbes Papier, auf dem steht, wie man die Zeichen finden kann, ein Papier, an dem man ’ne Woche lang und länger ‚rumbuchstabieren und entziffern muß, denn ’s steht nichts weiter drauf, als geheimnisvolle Krakelfüße und Hieroglyphen.«

»Hiero – was?«

»Hieroglyphen – Bilder und Gekritzel und solches Zeug, von dem man meint, es habe gar keinen Sinn.«

»Hast du denn so ’n Papier, Tom?«

»Nee.«

»Na, und wo willst du denn da die Zeichen finden?«

»Zeichen? Ich brauch keine Zeichen. Ich weiß ja genau, daß der Schatz immer unter ’nem Spukhaus, oder auf ’ner Insel, oder unter ’nem alten toten Baum liegt, der noch einen abgestorbenen Ast in die Höhe streckt. Na, wir haben ja die Jacksoninsel schon mal ’n bißchen abgesucht, dort können wir’s noch mal probieren. Dann haben wir ja das alte, verfallene Spuknest, droben am Stillhausbach, und Haufen von alten abgestorbenen Bäumen überall, – Haufen, sag ich dir!«

»Na, und unter allen liegt einer vergraben?«

»Unsinn! Du fragst wie du’s verstehst. Natürlich nicht.«

»Wie willst du dann aber wissen, welches der rechte ist?«

»Ei, wir probieren’s eben überall.«

»Herrgott, Tom, da geht ja der ganze Sommer drauf.«

»Das wohl! Gelt, wenn du dann aber ’nen alten Topf mit hundert blitzeblanken Dollars drin kriegst, oder ’ne Kiste voll Diamanten, dann wärst du nicht böse?«

Hucks Augen glühten.

»Das – das wär ’n Fressen für mich; das Geld genügte mir, die Diamanten ließ ich dir!«

»Schon recht. Ich werf sie nicht weg, sag ich dir, Dummkopf! Ei, einer davon ist oft mehr wert, als zwanzig Dollars, ’s gibt keinen, der nicht zum wenigsten sechzig, siebzig Cents oder ’nen Dollar gilt.«

»Nee! Wahrhaftig?«

»Na, das kann dir ’n Wickelkind sagen! Hast du denn nie mal einen gesehen, Huck?«

»Nee. Nicht daß ich wüßte!«

»O, Könige haben ganze Haufen davon.«

»Na, ich kenn aber keine Könige, Tom.«

»Glaub’s wohl! Nee, wenn du mal nach Europa gingst, könntst du sie in Scharen ‚rumhopsen sehen.«

»Hopsen die denn?«

»Hopsen? – Bist wohl verrückt? Nein, hopsen tun sie nicht.«

»Na, was sagst du’s denn?«

»Däsbartel! Ich wollt ja nur sagen, dann könntst du sie sehen, – nicht hopsen, natürlich, – weshalb sollten sie denn hopsen? Ich meinte nur, so im allgemeinen würdest du ’ne Menge davon sehen, überall ‚rum. Zum Beispiel den alten, buckligen Richard.«

»Richard – wie heißt er weiter?«

»Ei, Richard bloß, hat keinen anderen Namen. Könige haben nur einen Rufnamen.«

»Wahrhaftig?«

»Weiß Gott, sie haben nur einen.«

»Na, wenn’s ihnen recht ist, Tom, mir kann’s eins sein. Ich möcht aber kein König sein und nur so einen lumpigen Namen haben, grad wie ’n elender Nigger. Aber sag mal, wo wollen wir denn zuerst graben?«

»Weiß selber nicht. Wie wär’s, wenn wir uns mal zuerst an den alten Baum machten, da drüben auf dem Hügel überm Stillhausbach?«

»Mir recht!«

So verschafften sie sich denn eine alte, ausgediente Hacke und Schaufel und machten sich auf ihren Marsch von drei Meilen. Heiß und außer Atem kamen sie an und warfen sich zum Ausruhen in den Schatten einer benachbarten Ulme, holten ihre Pfeifen hervor und dampften wacker darauf los.

»So mag ich’s«, sagte Tom.

»Ich auch.«

»Sag mal, Huck, wenn wir hier ’nen Schatz finden, was willst du dann mit deinem Teil anfangen?«

»Ich? Ei, ich eß jeden Tag Kuchen und Pasteten, und trink Wein und Sodawasser dazu. Und dann geh ich in jeden Zirkus, der kommt und – na, ich will mir schon ein vergnügtes Leben machen!«

»Und sparen willst du dir gar nichts?«

»Sparen? Zu was?«

»Ei, um später was zum Leben zu haben.«

»Würd mir nichts helfen, Tom. Mein Alter kommt gewiß mal wieder zum Vorschein, und wenn ich’s nicht vorher tät, hätt‘ der bald genug mit allem aufgeräumt, darauf wett ich. Was willst du denn mit deinem Teil anfangen, Tom?«

»Ich? ich kauf mir erst mal eine neue Trommel und ein richtiges Schwert und eine rote Krawatte und ’ne junge Bulldogge und dann – dann verheirat ich mich.«

»Verheiratst dich?«

»Jawohl.«

»Tom, du – bist wohl übergeschnappt?«

»Wart nur – dann sollst du’s erleben.«

»Na, Tom, das ist einfach das Dümmste, was du tun kannst. Nimm nur mal meinen Alten und meine Mutter an. Nichts als Keilerei! Die haben immerzu aufeinander losgedroschen, das weiß ich noch ganz gut.«

»Das will gar nichts sagen. Das Mädchen, das ich heirat, prügelt sich nicht herum.«

»Tom, glaub’s nicht, die sind alle gleich. Das Zuhauen versteht ’ne jede. Überleg dir’s noch ein Weilchen, sag ich dir – überleg dir’s. Wie heißt denn das Mädel?«

»’s ist kein Mädel – es ist ein Mädchen.«

»Na, das kommt auf eins heraus. Mädel oder Mädchen, ’s ist ganz dasselbe, gehupft wie gesprungen! Na also, wie heißt sie, Tom?«

»Will dir’s vielleicht später mal sagen. Jetzt nicht.«

»Mir auch recht. Nun werd ich, wenn du dich verheiratst, noch viel alleiner sein als je.«

»Nein, das sollst du nicht. Du kommst und wohnst bei mir. Na, jetzt laß uns aber vorwärts machen und an die Arbeit gehen.«

Eine halbe Stunde lang gruben und schwitzten sie. Kein Erfolg. Noch eine halbe Stunde der Mühe und des Schweißes. Derselbe Erfolg. Jetzt sagte Huck:

»Liegt so ’n Schatz immer so tief drunten?«

»Manchmal, – nicht immer. Gewöhnlich nicht. Wir haben eben vermutlich nicht den richt’gen Platz getroffen.«

Sie wählten eine andere Stelle und fingen von neuem an. Etwas weniger rasch als im Anfang ging die Arbeit vonstatten, doch machten sie Fortschritte. Stillschweigend mühten sie sich eine Weile ab. Schließlich stützte sich Huck auf seine Schaufel, wischte sich mit seinem Ärmel die Schweißtropfen von der Stirn und fragte:

»Wo gehen wir nachher hin, wenn wir hier fertig sind?«

»Ei, an den alten Baum, denk ich, der dort auf dem Cardiffhügel hinter dem Haus der Witwe Douglas steht.«

»Einverstanden! Wird uns aber die Witwe den Schatz nicht wegnehmen? Der Baum steht doch auf ihrem Boden.«

» Die uns wegnehmen? Sollt’s mal probieren! Wer so ’nen Schatz findet, dem gehört er auch. ’s kommt gar nicht drauf an, wo er gefunden wird.«

Das lautete beruhigend. Die Arbeit schritt vor. Endlich sagte Huck:

»Hol’s der Geier! ’s muß wieder der falsche Platz sein. Was meinst du?«

»Sonderbar ist’s, Huck, ich versteh’s nicht recht. Manchmal steckt Hexerei dahinter. Vielleicht ist’s jetzt auch hier so.«

»Dummes Zeug! Hexen haben am Tag keine Macht.«

»Wahr ist’s, daran hab ich nicht gedacht. Ach, jetzt weiß ich, was schuld ist! Was wir für einfältige Narren sind! Man muß ja doch erst wissen, wo der Schatten des Baumes um Mitternacht hinfällt, und da liegt der Schatz.«

»Na, dann hol’s der Teufel! Dann ist ja die ganze Graberei umsonst gewesen. Hol’s der Henker, alles mit’nander, müssen also in der Nacht den scheußlich weiten Weg noch einmal machen! Kannst du loskommen?«

»Freilich kann ich. Heut nacht muß es jedenfalls sein, denn wenn einer kommt und sieht die Wühlerei und die Löcher, dann weiß er gleich, was los ist, macht sich selber dahinter und schnappt uns am Ende die Bescherung vor der Nase weg.«

»Gut also. Ich werd diese Nacht kommen und miauen.«

»Schön. Komm her, wir verstecken unsere Hacke und Schaufel im Gebüsch.«

Zur festgesetzten Zeit waren denn auch die Jungen in der Nacht an Ort und Stelle. Wartend saßen sie im Schatten. Es war ein einsamer Ort und eine von alters her feierliche Stunde. Geister flüsterten im raschelnden Laube, Gespenster lauerten in dunkeln Ecken und Winkeln, das dumpfe, tiefe Gebell eines Hundes erscholl aus der Ferne, dem eine Eule mit hohler Grabesstimme antwortete. Diese ahnungsvolle Feierlichkeit der Stunde lastete auf den beiden Jungen, sie sprachen wenig. Nach einer Weile, als sie dachten, nun müsse Mitternacht da sein, machten sie einen Strich, wo der Mondschein den Schatten des Baumes hinwarf, und begannen zu graben, Ihre Hoffnungen stiegen. Das Interesse wuchs und der Fleiß hielt ehrlich Schritt, Das Loch wurde tiefer und tiefer, aber jedesmal, wenn sie die Hacke auf etwas Festes aufklingen hörten, und ihnen das Herz voll freudiger Hoffnung laut klopfte, war’s nichts als erneute Enttäuschung. Ein Stein war’s gewesen, oder ein alter Holzknüppel! Endlich sagte Tom:

»Es nutzt nichts, Huck, ’s ist wieder der falsche Platz.«

»’s kann nicht sein, Tom, wir haben ja den Schatten aufs Haar abgezirkelt.«

»Weiß ich. Aber da ist noch was anderes.«

»Was denn?«

»Ja sieh. Wir haben doch die Zeit nur so ungefähr erraten. Am Ende war’s zu spät oder zu früh.«

Huck ließ die Schaufel sinken.

»Das ist’s, weiß Gott!« sagte er, »Da liegt der Hund begraben! Ich meine, wir lassen die Sache bleiben. Wie sollen wir je die richtige Zeit herausfinden, und außerdem – ’s ist so gruselig hier um die Zeit in der Nacht mit all den Geistern und Gespenstern, die nur so in der Luft herumflattern. Ich mein‘ immerzu, ’s stünd einer hinter mir, aber ich fürcht mich, herumzuschauen, weil ja auch einer vor mir sein könnt, der nur auf die Gelegenheit wartet, bis ich den Kopf dreh. Seit ich hier bin, läuft’s mir fortwährend eiskalt über den Rücken!«

»Mir geht’s beinah ebenso, Huck. Weißt du, meistens liegt auch bei so ’nem Schatz irgendein toter Mensch vergraben, der Wache halten soll.«

»Herr, du mein Gott!«

»Ja, so ist’s, das hab ich oft gehört.«

»Tom, ich befaß mich nicht gern mit den Toten, Die machen einem immer nur Ungelegenheiten.«

»Ich Hab auch keine Lust, sie aufzuwecken. Denk mal, wenn der hier plötzlich seinen Schädel ‚rausstreckte und was sagen wollte.«

»Tom, Tom, hör auf, ’s ist schauerlich!«

»Das ist’s, Huck, Mir ist auch kein bißchen wohl dabei, sag ich dir.«

»Komm, Tom, wir stecken’s auf und graben mal wo anders.«

»Gut, ’s ist am End besser.

Tom dachte ein Weilchen nach und sagte dann:

»Im Gespensterhaus. Das ist der richt’ge Ort!«

»Hol’s der Geier, Ich mag keine Häuser, in denen’s spukt, Tom. Weiß Gott, Gespenster sind fast noch schlimmer als tote Menschen. Die mögen meinethalben mal plötzlich, ohne daß man daran denkt, den Mund auftun und einen erschrecken, aber die kriechen doch nicht herum in ihren Leichentüchern wie die Gespenster, und sehen einem plötzlich über die Schulter, wenn man gar nicht an sie denkt, und klappern mit den Zähnen und Beinern, Das könnt ich nicht aushalten, Tom, – kein Mensch könnt so was.«

»Ja aber, Huck, Gespenster spuken doch nur in der Nacht. Am Tag werden sie uns dort am Graben nicht hindern.«

»Das ist wohl wahr. Aber du weißt selber, daß keiner hier gern dem Gespensterhaus nah geht, bei Tag nicht und nicht bei Nacht!«

»Na, das ist doch auch nur, weil mal einer da ermordet worden ist. Aber gesehen hat man nie was Unheimliches in der Nacht um das Haus herum, höchstens mal ’n blaues Licht am Fenster vorbeihuschen, – keine richtigen Gespenster.«

»Na, wo du aber so ’n blaues Flämmchen siehst, Tom, kannst du Gift drauf nehmen, daß ’n Geist dicht dahinter ist. Das ist doch so klar wie was! Denn wer anders als Geister braucht so ’n Licht?«

»Das kann sein. Aber auf keinen Fall kommen sie bei Tag heraus. Also brauchen wir uns gar nicht zu fürchten.«

»Gut, mir soll’s recht sein. Wir wollen das Gespensterhaus vornehmen. Aber – aber ich glaub, riskiert ist’s doch!«

Unter diesem Geplauder waren sie am Fuß des Hügels angelangt. Dort, inmitten des mondbeglänzten Tales, stand das »Gespensterhaus«, gänzlich vereinsamt, mit längst verfallener Umzäunung. Üppig rankendes Unkraut überzog Treppenstufen und Türschwelle, der Schornstein war in Trümmer zerfallen; leer starrten die Fensterhöhlen, ein Teil des Daches war eingesunken. Eine Weile blickten die Jungen unverwandt auf den gespenstigen Ort, immer halb in Erwartung, die blauen Flämmchen hinter den Fenstern vorbeihuschen zu sehen. Sie sprachen im Flüstertone, wie es zu Zeit und Umständen paßte. Dann rissen sie sich los von der unheimlichen Stätte, die sie in weitem Bogen umkreisten, und schlugen sich heimwärts durch die Wälder, welche die Rückseite des Cardiffhügels mit ihrem Grün schmückten.