Sechzehntes Capitel.


Sechzehntes Capitel.

Die wandelnde Flamme.

Einen Monat lang, vom 12. März bis 12. April, hielt Nana Sahib sich in dem Pal verborgen. Er wollte den englischen Behörden Zeit lassen, bis sie entweder jede weitere Nachforschung aufgegeben, oder sich auf falsche Fährten verirrt hätten.

Wenn die beiden Brüder am Tage niemals ausgingen, so durchstreiften dafür ihre Getreuen das Thal, besuchten die Dörfer und Weiler desselben, verkündigten durch verhüllte Anspielungen die bevorstehende Erscheinung eines »gewaltigen Moulti«, eines halben Gottes und halben Menschen, und suchten auf diese Weise die Geister zu einer nationalen Erhebung vorzubereiten.

Mit Anbruch der Nacht wagten sich auch Nana Sahib und Balao Rao aus ihrem Versteck hervor. Sie schweiften dann bis zu den Ufern der Nerbudda hinaus, gingen von Dorf zu Dorf, von Pal zu Pal, in Erwartung der Stunde, wo sie auch im Gebiete der den Engländern lehnspflichtigen Rajahs mit einiger Sicherheit auftreten könnten. Nana Sahib wußte übrigens, daß einige halbunabhängige und des fremden Joches müde Fürsten seinem Rufe auf der Stelle folgen würden. Für jetzt galt seine Thätigkeit jedoch nur den wilden Volksstämmen von Goudwana.

Die barbarischen Bhîls, die nomadisirenden Kounds und die Gounds – ein ebenso wenig wie die eingebornen Inselbewohner im großen Ocean civilisirter Stamm – fand Nana bereit, sich zu erheben, erbötig, ihm zu folgen. Gab er sich aus Klugheit auch nur zwei oder drei mächtigen Stammeshäuptlingen zu erkennen, so genügte ihm das doch, sich zu überzeugen, daß sein Name allein mehrere Millionen der auf den inneren Hochebenen Hindostans zerstreut lebenden Hindus heranziehen werde.

Nach der Rückkunft in den Pal von Tandit berichteten die beiden Brüder dann einander, was sie gehört, gesehen und ausgerichtet hatten. Auch ihre Leute sammelten sich um sie und brachten von überall her die Kunde, daß der Geist der Empörung schon wie ein Sturmwind durch das Nerbuddathal wehe. Die Gounds warteten nur darauf, den »Kisri«, den Kriegsruf der Bergbewohner, erschallen zu lassen und sich auf die Militär-Niederlassungen der Präsidentschaft zu stürzen.

Noch war der rechte Zeitpunkt nicht gekommen.

Offenbar genügte es noch nicht, das Gebiet zwischen der Sautpourrabergen und den Vindhyas in Flammen zu setzen. Die Fackel des Aufstandes mußte sich vielmehr von Ort zu Ort weiter verbreiten. Daraus ergab sich die Nothwendigkeit, auch in den, der Botmäßigkeit der Engländer mehr untergebenen Nachbarprovinzen der Nerbudda Brennmaterial aufzuhäufen. Alle jene Städte und Flecken von Rhopal, Malwa und Bundelkund, sowie das ganze Königreich Scindia sollten einen einzigen, entzündungsfertigen Herd bilden. Mit gutem Grunde ließ es Nana Sahib aber seine eigene Sorge sein, die alten Parteigänger aus der Erhebung von 1857 aufzusuchen, die Eingebornen, welche, treu seiner Sache und niemals an seinen Tod glaubend, von Tag zu Tag darauf harrten, ihn wieder auftreten zu sehen.

Einen Monat nach seiner Ankunft im Pal von Tandit glaubte Nana Sahib mit voller Sicherheit vorgehen zu können. Er meinte, die Kunde von seinem Wiedererscheinen in der Provinz werde nun für falsch gehalten werden. Vertraute Spießgesellen unterrichteten ihn von allen Maßregeln, die der Gouverneur der Präsidentschaft Bombay zu seiner Gefangennehmung getroffen hatte. Er wußte recht gut, daß die Behörden während der ersten Tage, freilich vergebens, eifrig thätig gewesen waren. Jener Fischer von Aurungabad, der frühere Gefangene Nana’s, war unter seinem Dolche gefallen, und Niemand hatte Verdacht geschöpft, daß der fliehende Fakir mit dem Nabab Dandou Pant, auf dessen Kopf ein Preis gesetzt war, identisch sei. Eine Woche später legte sich die anfängliche Aufregung, die Bewerber um den Preis von 2000 Pfund gaben alle Hoffnung auf, und Nana Sahib’s Name versank wieder in Vergessenheit.

Der Nabab konnte also wieder persönlich thätig sein und ohne Furcht, erkannt zu werden, seine Aufwiegeleien fortsetzen. Bald in der Kleidung eines Parsi, bald in der eines schlichten Raïot (Bauern), heute allein, morgen in Begleitung seines Bruders, zog er nun von dem Pal von Tandit aus, wandte sich nach Norden, nach der anderen Seite der Nerbudda, und selbst bis über den Westabhang der Vindhyas hinab.

Ein Spion, der ihm auf allen Schlichen und Wegen gefolgt wäre, hätte jenen am 12. April in Indore getroffen.

Von dieser Hauptstadt des Königreiches Holcar aus setzte sich Nana Sahib, unter Einhaltung des strengsten Incognitos, mit der zahlreichen, meist der Cultur von Mohnfeldern obliegenden Landbevölkerung in Verbindung. Diese bestand aus thatenlustigen und fanatischen Rihillas, Mekranis und Valayalis, meist fahnenflüchtige Sipahis aus den Natifs-Regimentern, die sich unter der Verkleidung als Hindubauern verbargen.

Dann ging Nana Sahib über die Betwa, einen Nebenfluß der Jumna, die an der Westgrenze Bundelkunds nach Norden zu verläuft, und kam am 19. April, durch ein herrliches Thal mit zahllosen Dattel- und Mangobäumen, in Souari an.

Hier befinden sich merkwürdige Baudenkmäler von sehr hohem Alter, nämlich die sogenannten »Tôpes«, eine Art Grabmäler mit halbkugeligem Kuppeldache, welche im Norden des Thales die Hauptgruppe von Saldhara bilden. Aus den Grabstätten, diesen Wohnungen der Todten, deren, dem buddhistischen Ritus geweihte Altäre unter steinernen Schirmen geschützt stehen, quollen, auf Nana Sahib’s Ruf, Hunderte von Flüchtlingen hervor. Vergraben unter diesen Ruinen, um den schrecklichen Repressalien der Engländer zu entgehen, genügte ein Wort, ihnen klar zu machen, was der Nabab von ihnen verlangte, eine Andeutung zur rechten Zeit mußte hinreichen, sie in Menge auf die Eroberer zu hetzen. Am 24. April weilte Nana in Bhîlsa, der Hauptstadt eines mächtigen Bezirks von Malwa, und versammelte in den Ruinen der alten Stadt die Elemente zur Empörung, welche ihm die neue nicht geliefert hätte.

Am 27. April erreichte der Nabab Rayguoh, nahe der Grenze des Königreichs Pannah, und am 30. die Reste der alten Stadt Sangoe, nicht weit von der Stelle, wo General Sir Hugh Rose den Aufständischen eine sehr blutige Schlacht lieferte, die ihm mit dem Engpaß von Maudampore den Schlüssel zu den Schluchten der Vindhyas in die Hände lieferte.

Hier schloß sich dem Nabab sein Bruder wieder an, der in Begleitung Kâlagani’s nachgekommen war, und Beide gaben sich den Häuptlingen der hervorragendsten Stämme zu erkennen. In den mit diesen eröffneten Verhandlungen wurden die Grundzüge einer allgemeinen Erhebung besprochen und festgestellt. Während Nana Sahib und Balao Rao im Süden operirten, sollten ihre Bundesgenossen auf dem nördlichen Abhang der Vindhyas das Commando führen.

Bevor sie nach dem Nerbuddathale zurückkehrten, wollten die beiden Brüder noch das Königreich Pannah besuchen. Sie begaben sich dahin längs der Keyne, unter dem Dache riesiger Teks, gewaltiger Bambus und unter dem Schutze unzähliger Schlingpflanzen, welche bestimmt scheinen, ganz Indien zu überwuchern. Hier gewannen sie zahlreiche, wilde Anhänger unter dem armseligen Personal, das für den dortigen Rajah die Diamantengruben der Umgegend ausbeutet. »Dieser Rajah, sagt Rousselet, zog, da er einsah, zu welcher Rolle die Herrschaft der Engländer ihn verurtheilte, die eines reichen Grundbesitzers der Rolle eines Schattenfürsten vor. Ein reicher Grundbesitzer war er in der That! Die ihm gehörende Diamantenregion erstreckte sich im Norden von Pannah in einer Länge von dreißig Kilometern hin, und die Bearbeitung seiner Gruben, deren Edelsteine in Benares und Allahabad zu den gesuchtesten zählen, beschäftigte eine große Menge Hindus. Unter diesen Unglücklichen, welche die härtesten Arbeiten auszuführen hatten und die der Rajah einfach köpfen ließ, wenn sich die Ausbeute an Diamanten verminderte, mußte Nana Sahib Tausende von Parteigängern finden, welche entschlossen waren, für die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes zu kämpfen und zu sterben – und er fand sie.

Von hier aus begaben sich die zwei Brüder endlich nach der Nerbudda hinab, um sich vorläufig wieder im Pal von Tandit zu verbergen. Bevor der Aufstand nämlich im Süden, gleichzeitig mit dem im Norden losbrechen sollte, gedachten sie erst noch Bhopal aufzuwiegeln. Das ist eine große muselmanische Stadt, die stets der Hauptsitz des Islam in Indien geblieben ist, und deren Begum sich den Engländern während des ganzen großen Aufstandes treu ergeben erwiesen hatte.

In Begleitung von etwa zwölf Gounds kamen Nana Sahib und Balao Rao am 24. Mai in Bhopal, am letzten Tage der Moharum-Feste an, mit denen die Muselmanen Neujahr feiern. Beide trugen die Costüme der »Joguis«, einer unheimlichen Bettlersecte, welche lange Dolche mit abgerundeten Klingen bei sich führen, mit denen sie sich in Verzückung schlagen, ohne sich dabei besonders zu verletzen.

Unkenntlich in dieser Kleidung, folgten die beiden Brüder einer Procession durch die Straßen der Stadt, inmitten zahlreicher Elephanten, die auf dem Rücken sogenannte »Tadzias«, das heißt kleine Tempel von zwanzig Fuß Höhe, trugen; sie mischten sich dabei unter die Muselmanen mit reichen goldgestickten Ueberröcken und hohen Musselin-Mützen, und befanden sich dann wieder unter den Musikern des Zuges oder unter Soldaten, Bajaderen, jungen Leuten in weiblicher Tracht – eine bunte Menge, welche der ganzen Ceremonie einen mehr carnevalistischen Anstrich verlieh. Mit den Hindus aller Classen, unter denen sie viel Getreue zählten, hatten sie dabei unmerkbare, aber den Aufständischen vom Jahre 1857 verständliche Zeichen tauschen können.

Später Abends begab sich die ganze Volksmasse nach dem See, der dicht vor der östlichen Vorstadt liegt.

Unter betäubendem Geschrei, dem Knattern von Feuerwaffen und dem Krachen von Petarden, so wie beim Schein Tausender von Fackeln stürzten die Gläubigen die Tadzias in die Fluthen des Sees. Die Moharum-Feste fanden damit ihren Abschluß.

Da fühlte Nana Sahib, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um. Ein Bengali stand neben ihm.

Nana Sahib erkannte in dem Hindu einen seiner alten Waffengefährten von Laknau. Er blickte den Mann fragend an.

Der Bengali theilte ihm flüsternd das Folgende mit, was Nana Sahib anhörte, ohne seine Erregung auch nur durch eine Miene zu verrathen.

»Der Oberst Munro hat Calcutta verlassen.

– Und wo ist er?

– Er war gestern in Benares.

– Wohin geht er?

– Nach der Grenze von Nepal.

– In welcher Absicht?

– Einige Monate daselbst zu verweilen.

– Und nachher…?

– Nach Bombay zurückzukehren.«

Jetzt erschallte ein leiser Pfiff. Ein Hindu glitt durch die Menge und näherte sich Nana Sahib.

Das war Kâlagani.

»Mach‘ Dich sofort auf den Weg, befahl diesem der Nabab. Suche Munro auf, der jetzt nach Norden zu unterwegs ist. Schließ‘ Dich ihm an. Erweise ihm irgend welche Dienste und setze schlimmsten Falles das Leben auf’s Spiel, aber weiche nicht von seiner Seite, bevor er jenseits der Vindhyas nach dem Nerbuddathale hinabgezogen ist. Dann, aber erst dann, gieb mir von seinem Aufenthalte Nachricht!«

Kâlagani antwortete nur durch ein bestätigendes Zeichen und verschwand wieder unter der Menge. Ein Wink des Nabab galt ihm als Befehl. Zehn Minuten später hatte er Bhopal schon im Rücken.

Jetzt trat Balao Rao an seinen Bruder heran.

»Es ist Zeit, daß wir aufbrechen.

– Ja wohl, erwiderte Nana Sahib, wir müssen vor Tagesanbruch wieder im Pal von Tandit sein.

– Auf den Weg also!«

Beide folgten nun in Begleitung ihrer Gounds dem nördlichen Ufer des Sees bis zu einer verlassenen Farm. Hier erwarteten sie und ihre Escorte die nöthigen Pferde. Diese gehörten zu der flüchtigen Race, denen man ein sehr gewürzreiches Futter verabreicht und welche fünfzig Meilen in einer Nacht zurücklegen können. Um acht Uhr galoppirten sie auf der Straße von Bhopal nach den Vindhyas hin.

Nur aus Vorsicht wollte der Nabab vor Tage im Pal von Tandit eintreffen, da es jedenfalls gerathener erschien, unbemerkt in das Thal zurückzukehren.

Die kleine Truppe flog also dahin, was die Pferde laufen konnten.

Nana Sahib und Balao Rao sprachen zwar, während sie so nebeneinander ritten, kein Wort, doch erfüllte sie ein und derselbe Gedanke. Von diesem Ausfluge über die Vindhyas brachten sie nicht nur die Hoffnung, nein, die Gewißheit mit heim, daß sich unzählige Anhänger ihrer Sache anschließen würden. Das Hochland von Central-Indien war vollständig in ihrer Hand. Die auf den weiten Gebieten zerstreuten schwachen Militär-Cantonnements konnten unmöglich dem ersten Anprall der Empörer Widerstand leisten. Mit ihrer Vernichtung gewann der Aufstand freien Raum, und bald mußte sich dann von einer Küste zur anderen eine Mauer fanatischer Hindus erheben, an der die königliche Armee voraussichtlich zerschellte.

Gleichzeitig dachte Nana Sahib aber auch an den glücklichen Zufall, der ihm Munro in den Weg führte. Endlich hatte der Oberst Calcutta, wo ihm nur schwer beizukommen war, einmal verlassen. In der nächsten Zeit konnte ihm keine seiner Bewegungen entgehen. Ohne daß er sich dessen versah, würde ihn Kâlagani’s Hand ja nach den wildesten Berggegenden der Vindhyas leiten, und dort konnte ihn nichts mehr vor der Rache retten, die Nana Sahib noch immer gegen ihn hegte.

Balao Rao wußte von der Unterredung seines Bruders mit jenem Bengali kein Wort. Erst nahe dem Aufgang zu dem Pal von Tandit, als man die Pferde kurze Zeit verschnaufen ließ, machte ihm Nana Sahib eine kurze Mittheilung darüber.

»Munro hat Calcutta verlassen und begiebt sich nach Bombay.

– Die Straße nach Bombay führt bis zum Strande des indischen Oceans!

– Die Straße nach Bombay, entgegnete Nana Sahib mit eigenthümlichem Tone, reicht diesesmal nur bis zu den Vindhyas!«

Diese Antwort sagte Alles.

Die Gesellschaft stieg wieder zu Pferde und verschwand in dem Baumdickicht vor dem Ufer der Nerbudda.

Es war jetzt fünf Uhr Morgens. Schon graute der Tag. Nana Sahib, Balao Rao und ihre Genossen kamen eben an dem Wildbett der Nazzur an, das den Weg nach dem Pal hinauf bildet.

An diesem Punkte ließ man die Pferde unter der Aufsicht zweier Gounds zurück, die sie nach dem nächsten Dorfe führen sollten.

Die Uebrigen folgten den beiden Brüdern und Alle kletterten die unter dem Wasser des Bergbaches erzitternden Stufen hinan.

Ringsum war es still. Noch unterbrach das Geräusch des Tages nicht die Stille der Nacht.

Plötzlich donnerte ein Schuß durch die Luft, dem mehrere andere nachfolgten. Gleichzeitig hörte man von oben ein dreifaches Hurrah!

Ein Officier, der einen Trupp von fünfzig Soldaten führte, erschien neben dem Pal.

»Feuer! Daß Keiner entkomme!« rief er noch einmal.

Sofort erfolgte eine neue Salve, welche aus nächster Nähe auf die Nana Sahib und seinen Bruder umgebenden Gounds abgegeben wurde.

Fünf ober sechs Hindus fielen; die Uebrigen sprangen in das Bett des Nazzur zurück und verschwanden im Walde.

»Nana Sahib! Nana Sahib!« riefen die Engländer, während sie in die enge Schlucht hinabdrangen.

Da erhob ein zu Tode Getroffener noch einmal die Hand gegen sie.

»Tod und Verderben den Eroberern!« preßte er mit schrecklicher Stimme noch hervor und fiel bewegungslos zurück.

Der Officier trat an den Leichnam heran.

»Ist das etwa Nana Sahib? fragte er.

– Ja, er ist es, antworteten zwei Soldaten des Detachements, die den Nabab von ihrem Aufenthalte in Khanpur her genau kannten.

– Nun, dann auf die Anderen!« commandirte der Officier. Die ganze Abtheilung eilte in den Wald zur Verfolgung der Gounds.

Kaum waren Alle verschwunden, als ein Schatten geräuschlos den Abhang vom Pal herunterglitt.

Es war die wandelnde Flamme, eingehüllt in ein langes Stück braunen Stoffes, den ein Strick um die Hüften zusammenhielt.

Am Vorabend hatte die Wahnsinnige unbewußt den Officier und seine Leute hierher geführt. Kaum in das Thal zurückgekehrt, suchte sie ganz willenlos den Pal von Tandit auf, nach dem eine Art Instinct sie hinzog. Diesmal aber ließ das sonderbare Wesen, das man sonst für stumm hielt, einen Namen über die Lippen gleiten, nur den einen des Massenmörders von Khanpur!

»Nana Sahib! Nana Sahib!« wiederholte sie immer, als ob das Bild des Nabab durch eine unerklärliche Ahnung wieder vor ihre Seele getreten wäre.

Dieser Name erregte die Aufmerksamkeit des Officiers im höchsten Grade. Er folgte der Wahnsinnigen auf dem Fuße. Sollte hier der Nabab sich versteckt halten, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt worden war?

Der Officier traf die geeigneten Maßregeln und ließ das Bett des Nazzur bis zum Anbruch des Tages bewachen. Als Nana Sahib und die Gounds dasselbe betreten hatten, empfing er sie mit einer Salve, welche mehrere zu Boden streckte und unter diesen den Anführer des Aufstandes der Sipahis.

Der Art war das Zusammentreffen, welches der Telegraph noch am nämlichen Tage dem Gouverneur der Präsidentschaft Bombay meldete. Die Nachricht verbreitete sich blitzschnell über die ganze Halbinsel, und so konnte sie Oberst Munro am 26. Mai aus der Zeitung von Allahabad erfahren.

Diesesmal war an dem Tode Nana Sahib’s nicht zu zweifeln. Seine Identität wurde ja festgestellt und das Journal brachte die Worte:

»Das indische Reich hat für die Zukunft nichts mehr zu fürchten von dem unmenschlichen Rajah, der ihm so viel Blut gekostet hat!«

Nachdem die Wahnsinnige den Pal verlassen, stieg auch sie in dem Bette des Nazzur herab. Aus ihren unsteten Augen leuchtete es wie ein inneres Feuer, das plötzlich aufgeflammt schien, und ihre Lippen murmelten den Namen des Nabab.

So kam sie nach der Stelle, wo die Leichen lagen, und stand vor der still, welche die Soldaten von Khanpur erkannt hatten. Das Gesicht des Todten hatte noch einen drohenden Ausdruck.

Die Wahnsinnige kniete nieder und legte ihre Hand auf den von Kugeln durchbohrten Körper, dessen Blut die Falten ihrer Hülle befleckte. Sie sah ihn lange stier an, erhob sich, mit dem Kopfe schüttelnd, und stieg langsam das Bett des Nazzur hinab.

Dann versank die wandelnde Flamme wieder in ihre gewohnte Theilnahmlosigkeit, und der Name des von Allen verwünschten Nana Sahib kam nicht mehr über ihre Lippen.

Erstes Capitel.


Erstes Capitel.

Ein Preis auf einen Kopf.

»Zweitausend Pfund Sterling Belohnung werden hiermit Demjenigen zugesichert, der, todt oder lebendig, einen der früheren Führer bei dem Aufruhre der Sipahis einliefert, welcher sich derzeit in der Präsidentschaft Bombay aufhalten soll, nämlich den Nabab Tandu Pant, bekannter unter dem Namen …«

So lautete eine amtliche Bekanntmachung, die am 6. März 1876 gegen Abend in Aurungabad durch öffentlichen Anschlag verbreitet worden war.

Das letzte Wort, ein berüchtigter Name, den die Einen ebenso tief verwünschten, wie ihn Andere heimlich bewunderten, fehlte an dem Placate, das man vor nur kurzer Zeit an der Mauer eines verfallenen Bungalow am Ufer der Doudhma angeheftet hatte.

Jener Name fehlte aber, weil der untere Theil des Placats, auf dem er mit fetten Lettern gedruckt stand, von der Hand eines Fakirs, den Niemand an dem eben menschenleeren Flußufer bemerkt, abgerissen worden war. Gleichzeitig mit obigem Namen war auch der des General-Gouverneurs der Präsidentschaft Bombay, die Contrasignatur der Unterschrift des Vicekönigs von Indien verschwunden.

Was mochte wohl der Beweggrund jenes Fakirs sein? Hoffte er vielleicht, daß der Empörer von 1857 durch die Zerreißung der Bekanntmachung der gerichtlichen Verfolgung und der ihm drohenden Verurtheilung entgehen könne? Durfte er glauben, daß eine so berüchtigte Persönlichkeit mit den verstreuten Fetzen jenes Papierstückes unauffindbar werden könne?

Das wäre thöricht gewesen.

An den Wänden der Häuser, Paläste, Moscheen und Hôtels von Aurungabad fanden sich ja die gleichen Placate in Menge. Außerdem wanderte ein öffentlicher Ausrufer durch die Straßen der Stadt, der die Bekanntmachung des Statthalters mit lauter Stimme vorlas. Die Bewohner der geringsten Flecken der Provinz wußten es schon, daß ein wirkliches Vermögen für die Einlieferung Dandu Pant’s versprochen war. Vor Ablauf von zwölf Stunden mußte sein vergeblich vernichteter Name durch die ganze Provinz in aller Leute Munde sein. Waren die Nachrichten zutreffend, hatte der Nabab wirklich in diesem Theile Hindostans Zuflucht gesucht, so fiel er doch ohne Zweifel über lang oder kurz irgend welchen Leuten in die Hände, da ja Alle an seiner Ergreifung ein erklärliches Interesse hatten.

Welchem Gefühle gehorchte also jener Fakir, als er das eine Exemplar der schon tausendfach verbreiteten Bekanntmachung zerriß?

Wahrscheinlich dem des Zornes, vielleicht auch dem einer inneren Verachtung, denn er zuckte dabei mit den Achseln und begab sich nacher sorglos in das volkreichste und ärmlichste Quartier der Stadt.

Man nennt »Dekkan« den größeren Theil der ostindischen Halbinsel zwischen den westlichen und östlichen Ghats. Gewöhnlich bezeichnet man damit auch die ganze Südhälfte Indiens, diesseits des Ganges. Dekkan, dessen Name im Sanskrit »Süden« bedeutet, umfaßt mehrere Provinzen der Präsidentschaften Madras und Bombay. Eine der wichtigsten darunter ist die Provinz Aurungabad, deren Hauptstadt ehemals als die von ganz Dekkan galt.

Im 17. Jahrhundert verlegte der berühmte Mongolenkaiser Aureng-Zeb seine Hofhaltung nach jener Stadt, die schon in der ältesten Geschichte Hindostans unter dem Namen Kirkhi vorkam. Sie zählte damals wohl hunderttausend Einwohner, gegen fünfzigtausend heutzutage unter der Herrschaft der Engländer, welche dieselbe für den Nizam von Haiderabad verwalten. Sie ist jedoch eine der gesündesten Städte der Halbinsel und bisher von der furchtbaren asiatischen Cholera, wie von den in Indien so verheerend auftretenden Fiebern verschont geblieben.

Aurungabad birgt noch ehrwürdige Reste seines früheren Glanzes. Der am rechten Ufer der Doudhma errichtete Palast des Großmoguls, das Mausoleum der Favoritsultanin Schah Jahan’s, des Vaters Aureng-Zeb’s, die nach dem Muster des schönen Tadsch in Agra erbaute Moschee, welche ihre vier Minarets um eine schlanke Kuppel erheben, und noch andere, architektonisch künstlerische, reich verzierte Monumente bezeugen die Macht und Herrlichkeit des berühmtesten Eroberers von Hindostan, der dieses Reich, dem er noch Kabul und Assam hinzufügte, zu einem unvergleichlichen Grade von Gedeihen erhob.

Trotz der, wie erwähnt, beträchtlichen Verminderung der Bewohnerzahl Aurungabads konnte sich ein Einzelner doch noch leicht genug unter dessen bunt gemischter Bevölkerung verbergen. Der Fakir, mochte es nun ein wirklicher oder falscher sein, fiel unter jener an Typen reichen Menge in keiner Weise auf. Seine Genossen überschwemmen ja ganz Indien. Sie bilden im Verein mit den »Sayeds« einen religiösen Bettelorden, sprechen, zu Pferd oder zu Fuße, um Almosen an und wissen ein solches zu erzwingen, wenn man es nicht gutwillig darreicht. Sie spielen wohl auch die Rolle freiwilliger Märtyrer und genießen ein hohes Ansehen bei den niederen Classen der Hindus.

Der Fakir, von dem hier die Rede ist, war ein Mann von hohem Wuchse, denn er maß über fünf Fuß neun Zoll englisch. Die Vierzig hatte er kaum mit ein bis zwei Jahren überschritten. Seine Erscheinung erinnerte, vorzüglich durch den Glanz der schwarzen, immer aufmerksamen Augen, an den schönen Maharatten-Typus, doch hätte man die sonst so feinen Züge seiner Race in Folge der tausend Pockengruben auf seinen Wangen an ihm nur schwierig wieder erkannt. Der noch im kräftigsten Alter stehende Mann schien sehr gewandt und stark zu sein. Als besonderes Kennzeichen fehlte ihm ein Finger der linken Hand. Das Haupthaar trug er röthlich gefärbt und ging halb nackt, ohne Fußbekleidung, kaum bedeckt mit einem schlechten, gestreiften Wollenhemd, das um den Leib zusammengehalten war. Auf seiner Brust sah man die Embleme des erhaltenden und des zerstörenden Princips der Hindu-Götterlehre, das Löwenhaupt der vierten Fleischwerdung Wischnu’s, und die drei Augen nebst dem symbolischen Dreizack des wilden Siva.

Inzwischen herrschte eine tiefgreifende und leicht erklärliche Erregung in den Straßen Aurungabads, vorzüglich da, wo sich die kosmopolitische Bevölkerung der ärmeren Stadtheile zusammendrängte. Hier wimmelte es von Menschen vor den baufälligen Hütten, die ihnen als Wohnung dienten. Männer, Weiber, Kinder, Greise, Europäer und Eingeborne, Soldaten der königlichen und der einheimischen Regimenter, Bettler jeder Art, Landleute aus der Umgegend – Alles schwirrte, sprach und gesticulirte durcheinander, erläuterte die Bekanntmachung und erwog die Aussichten zur Gewinnung der ungeheueren, von der Regierung versprochenen Prämie. Selbst vor einem Lotterie-Rade, das einen gleich großen Hauptgewinn von zweitausend Pfund enthielt, hätte die Aufregung der Gemüther nicht größer sein können. In diesem Falle kommt ja noch hinzu, daß es in Jedes Hand gegeben war, ein glückliches Loos zu ziehen – dieses Loos war der Kopf Dandu Pant’s. Freilich gehörte etwas Glück dazu, den Nabab erst aufzufinden, und dann etwas Muth, sich desselben zu bemächtigen.

Der Fakir – offenbar der Einzige, den die Gewinnung jener Prämie nicht am Herzen zu liegen schien – schlenderte zwischen den Gruppen umher, wobei er manchmal, auf deren Gespräche lauschend, stehen blieb, wie Einer, der sich erlauschte Worte zu nutze machen will. Nirgends mischte er sich in die Unterhaltung; doch wenn sein Mund auch stumm blieb, so feierten seine Augen und Ohren doch keineswegs.

»Zweitausend Pfund für die Auffindung des Nabab! rief da der Eine, die Hände verlangend zum Himmel emporstreckend.

– Nicht für die Auffindung, erwiderte ein Anderer, sondern für dessen Festnahme, und das ist doch ein ganz ander‘ Ding!

– Wahrlich, das ist nicht der Mann dazu, sich ohne hartnäckige Gegenwehr gefangen nehmen zu lassen.

– Sagte man aber kürzlich nicht, er sei in den Dschungeln von Nepal dem Fieber erlegen?

– Daran ist kein wahres Wort! Der schlaue Dandu Pant ließ sich nur für todt ausgeben, um desto ungestörter leben zu können.

– Ja, es ging sogar das Gerücht, er sei inmitten seines Lagers an der Grenze beerdigt worden,

– Eine falsche Todtenfeier, nur um Andere irre zu führen!«

Der Fakir hatte mit keiner Wimper gezuckt, als er das letzte mit so zweifelloser Sicherheit behaupten hörte. Seine Stirn legte sich jedoch unwillkürlich in Falten, als er einen Hindu – den lebhaftesten der ganzen Gruppe in seiner Nähe – folgende Einzelheiten erzählen hörte, die viel zu genau waren, um erfunden zu sein.

»Es steht fest, begann der Hindu, daß sich der Nabab im Jahre 1859 nebst seinem Bruder Balao Rao und dem Ex-Rajah von Gonda, Debi Bux Singh, nach einem Lager am Fuße der Gebirge von Nepal geflüchtet hatte. Dort, wo ihnen die englischen Truppen zu nahe an der Ferse saßen, beschlossen alle Drei, über die indo-chinesische Grenze zu treten. Bevor es dazu kam, ließen der Nabab und seine beiden Begleiter, um das entstandene Gerücht ihres Todes zu bekräftigen, ihre eigene Beerdigung in’s Werk setzen; begraben wurde von ihnen dabei freilich nur ein Finger der linken Hand, den sie zur Zeit jener Ceremonie abschnitten.

– Doch woher wißt Ihr das? fragte einer der Zuhörer den mit so großer Sicherheit sprechenden Hindu.

– Ich war bei der Leichenfeierlichkeit selbst anwesend, erwiderte derselbe. Dandu Pant’s Soldaten hatten mich gefangen, und erst sechs Monate später gelang es mir zu entfliehen.«

Während der Hindu auf so überzeugende Weise sprach, verlor der Fakir ihn nicht aus dem Blicke. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf. Seine verstümmelte Hand hielt er sorglich versteckt unter dem Wollengewebe, das seine Brüste verhüllte. Er horchte, ohne eine Wort zu sagen, aber seine Lippen zitterten und zeigten dabei eine Reihe spitzer Zähne.

»Ihr kennt also den Nabab von Person? fragte man den ehemaligen Gefangenen Dandu Pant’s.

– Gewiß, versicherte der Hindu.

– Und würdet ihn auch wieder erkennen, wenn er Euch zufällig vor die Augen käme?

– So gut wie mich selbst.

– Nun, da habt Ihr ja einige Aussicht, die Belohnung von zweitausend Pfund zu erlangen! rief einer der Umstehenden mit nur schlecht verhehltem Neide.

– Vielleicht … meinte der Hindu, wenn es sich bestätigt, daß der Nabab die Unklugheit begangen hätte, sich bis in die Präsidentschaft Bombay herunter zu wagen, was mir nicht besonders wahrscheinlich dünkt.

– Was sollte er hier auch vorhaben?

– Jedenfalls sucht er eine neue Empörung anzuzetteln, erklärte Einer aus der Gruppe, wenn nicht unter den Sipahis, so doch unter der Landbevölkerung des Inneren.

– Wenn die Regierung behauptet, daß seine Anwesenheit in der Provinz gemeldet worden sei, meinte ein Anderer aus der Kategorie jener Leute, welche überzeugt sind, daß eine Behörde sich niemals täuschen könne, so wird die Regierung auch verläßliche Nachrichten darüber besitzen.

– Mag sein! warf der Hindu ein. Brahma gebe, daß Dandu Pant mir in den Weg kommt und mein Glück ist gemacht!«

Der Fakir wich einige Schritte zurück, verlor aber des Nabab früheren Gefangenen nicht aus den Augen.

Schon ward es allmälich dunkel, doch das Leben und Treiben auf den Straßen von Aurungabad verminderte sich nicht. Der Gespräche bezüglich des Nabab wurden nur noch mehr. Hier sagte man, daß er in der Stadt selbst gesehen worden, dort, daß er schon wieder weit weg sei. Man behauptete auch, ein aus dem Norden abgesendeter Eilbote habe dem Statthalter die Anzeige von der Verhaftung Nandu Pant’s überbracht. Um neun Uhr Abends wußten die Bestunterrichteten, er befinde sich schon im Gefängniß der Stadt, in Gesellschaft einiger Thugs, welche darin seit über dreißig Jahren schmachteten, und werde am nächsten Morgen mit Tagesanbruch auf dem Sipri-Platze ohne weitere Umstände gehenkt werden, wie seinerzeit Tantia Topi, sein berühmter Genosse im Aufstande. Um zehn Uhr schwirrten wieder ganz anders klingende Nachrichten umher. Es verbreitete sich das Gerücht, der Gefangene sei soeben entwichen, was die Hoffnung aller Derer auf’s Neue belebte, welche der Preis von zweitausend Pfund reizte.

In der That waren alle diese verschiedenen Nachrichten falsch. Die am besten Unterrichteten wußten nicht mehr, als alle anderen weniger gut oder schlecht berichteten Leute. Der Kopf des Nabab behielt denselben Werth. Es galt noch, ihn zu bekommen.

Dadurch, daß er Dandu Pant persönlich kannte, hatte jener Hindu mehr Aussicht, den ausgesetzten Preis zu erlangen. Vorzüglich in der Präsidentschaft Bombay mochten nur wenig Leute Gelegenheit gehabt haben, mit dem gefürchteten Anführer in der großen Empörung zusammenzutreffen. Weiter im Norden und tiefer in den Central-Provinzen, in Sindh, Bundelkhund, Audh, in den Umgebungen von Agra, Delhi, Khanpur oder Laknau, auf dem Hauptschauplatz der unter seinem Befehle begangenen Greuelthaten, hätten sich wohl Alle in hellen Haufen erhoben und ihn an die englischen Gerichte ausgeliefert. Die Eltern, Gatten, Brüder, Kinder und Weiber seiner Opfer beweinten noch Die, welche er zu Hunderten hatte hinschlachten lassen. Auch zehn inzwischen verflossene Jahre reichten nicht hin, die vollberechtigte Empfindung von Rache und Haß zu verlöschen. Deshalb konnte man Dandu Pant nicht wohl die Unklugheit zutrauen, daß er sich in jene Gegenden gewagt hatte, wo Alle seinem Namen fluchten. Hatte er also, wie man sagte, die indochinesische Grenze wieder überschritten und trieb ihn irgend ein dunkler Beweggrund, ob die Anstiftung neuen Aufruhrs oder ein anderer, den unauffindbaren Schlupfwinkel zu verlassen, der für die englischindische Polizei noch immer ein Geheimniß blieb, so konnten es nur die Provinzen Dekkans sein, die ihm freies Feld und eine gewisse Sicherheit boten.

Wir sahen jedoch, daß der Statthalter von seinem Erscheinen in der Präsidentschaft Wind bekommen und sofort auf seinen Kopf einen Preis gesetzt hatte.

Immerhin ist hierzu die Bemerkung am Platze, daß die höheren Gesellschaftsklassen von Aurungabad, die Magistratsmitglieder, Officiere und Beamten, in die dem Statthalter zugegangenen Nachrichten doch leise Zweifel setzen. Das Gerücht, der unergreifbare Dandu Pant sei gesehen oder gar verhaftet worden, war schon zu häufig aufgetreten. Ueber ihn gingen so viele falsche Nachrichten, daß sich endlich eine Art Legende von seiner Allgegenwärtigkeit und seiner Schlauheit verbreitete, auch die gewandtesten Agenten der Polizei zu überlisten; die große Menge dagegen glaubte die Worte der Regierung.

Unter die Zahl der minder Ungläubigen gehörte natürlich auch der alte Gefangene des Nabab. Der arme Teufel von Hindu dachte, verwirrt durch seine Beutegier und gereizt von dem Drange nach personlicher Rache, nur daran, in’s Feld zu rücken, und sah seinen Erfolg für so gut wie gesichert an. Sein Plan war sehr einfach. Am folgenden Tage wollte er dem Statthalter seine Dienste anbieten; nachdem er sich dann genau über Alles unterrichtet, was man von Dandu Pant wußte, d. h. worauf sich die in der Bekanntmachung mitgetheilten Nachrichten gründeten, gedachte er, nach dem Orte selbst zu gehen, von dem jene Meldung eingegangen war.

Gegen elf Uhr Abends wollte der Hindu, nachdem er so vielerlei Aussagen gehört, die im Kopfe durcheinander wirbelnd, ihn nur noch mehr in seinem Vorhaben bestärkten, endlich einige Ruhe suchen. Als Wohnung diente ihm nur eine am Doudhma-Ufer angelegte Barke, und träumend, mit halb geschlossenen Augen, wandte er die Schritte dahin.

Ohne sich dessen zu versehen, hatte der Fakir ihn nicht verlassen; ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen, folgte dieser ihm möglichst im Schatten nach.

Am Ende jenes dichtbevölkerten Theiles von Aurungabad waren die Straßen um jene Stunde weniger belebt. Die Hauptverkehrsader mündete nach einem verödeten Terrain hinaus, dessen Rand eines der Ufer der Doudhma bildete. Es war eine Art Wüste dicht an der Stadt. Wenige verspätete Leute schritten noch gemächlich durch dieselbe den belebterer Straßen zu. Bald erstarb der Schall der letzten Schritte; der Hindu achtete indessen nicht darauf, daß er allein am Ufer des Stromes dahinging.

Der Fakir folgte ihm noch immer und suchte die dunkelsten Stellen des Weges auf, entweder unter dem Schütze der Baume, oder indem er an den düsteren Mauern der da und dort verstreuten Ruinen von Häusern hinstrich.

Diese Vorsicht erschien nicht unnütz. Eben ging der Mond auf und verbreitete einen ungewissen Schimmer. Der Hindu hätte also sehen können, daß Jemand ihm nachspähte und ihn scharf verfolgte. Des Fakirs Schritte konnte er doch unmöglich vernehmen. Dieser glitt ja mit den bloßen Füßen mehr über den Boden, als daß er ging. Kein leises Geräusch verrieth seine Mitanwesenheit am Ufer der Doudhma.

So verstrichen fünf Minuten. Der Hindu strebte – sozusagen maschinenartig – der elenden Barke zu, in der er die Nacht zu verbringen pflegte; eine andere Erklärung gestattete die von ihm eingehaltene Richtung nicht. Er ging wie Einer, der es gewöhnt ist, allabendlich diese einsame Gegend zu durchwandern, ganz eingenommen von dem Gedanken an den Schritt, den er am nächsten Tage bei dem Statthalter thun wollte. Die Hoffnung, sich rächen zu können an dem Nabab, der mit seinen Gefangenen damals nicht eben glimpflich umging, und die heftige Begierde, jene Belohnung zu gewinnen, machten ihn gleichzeitig taub und blind.

Natürlich hatte er keine Ahnung von der Gefahr, die ihn in Folge seiner unklugen Aeußerungen bedrohte.

Er sah nicht, wie der Fakir sich ihm mehr und mehr näherte.

Aber plötzlich stürzte sich, gleich einem Tiger, ein Mann, mit einem Blitz in der Hand über ihn. Es war ein Mondstrahl, der auf der Klinge eines malayischen Dolches spielte.

In die Brust getroffen, sank der Hindu schwerfällig zur Erde.

Obwohl ein sicherer Arm den Stoß geführt hatte, war der Unglückliche doch nicht sofort getödtet. Mit einem Blutstrome quollen einige halb articulirte Worte aus seinem Munde.

Der Mörder beugte sich nieder, ergriff sein Opfer, hob es hoch auf und fragte, während er jetzt das volle Mondlicht auf sein Gesicht fallen ließ:

»Erkennst Du mich nun wieder?

– Er ist’s!« murmelte der Hindu.

Der entsetzliche Name des Fakirs war sein letztes Wort, als er an rascher Erstickung verendete.

Einen Augenblick darnach verschwand der Körper des Hindu in den Fluthen der Doudhma, die ihn nicht wieder hergeben sollten.

Der Fakir wartete, bis das Plätschern der Wellen sich legte. – Dann kehrte er um, durchschritt die verlassene Gegend, hierauf die Stadttheile, in denen es allgemach stiller wurde, und begab sich schnellen Schrittes nach einem der Thore der Stadt.

Eben dort angelangt, schlossen sich dessen Flügel. Einige Soldaten der königlichen Armee standen an demselben Wache. Der Fakir konnte, entgegen seiner Absicht, Aurungabad nicht verlassen.

»Und ich muß doch hinaus, noch diese Nacht … oder niemals!« murmelte er für sich hin.

Er wandte sich zurück, folgte dem Wege längs des Glacis und erkletterte, zweihundert Schritt weiter, die Böschung, um nach dem oberen Theile des Festungswalles zu gelangen.

Dieser ragte nach außen zu um fünfzig Fuß über die Sohle des davor ausgehobenen Grabens empor. Seine Bekleidung bildete eine lothrechte Mauer ohne jeden Vorsprung, der als Stütze hätte dienen können. Es erschien ganz unmöglich, an dieser Wandfläche etwa hinabzugleiten. Mittels eines Strickes ließ sich das Hinabsteigen wohl bewerkstelligen, des Fakirs Lendengürtel maß aber nur wenige Fuß, war also ungeeignet, damit den Boden zu erreichen.

Der Fakir stand einen Augenblick still, forschte mit den Augen rings umher und überlegte, was er nun beginnen sollte.

Auf der Bekrönung des Walles breitete sich da und dort ein dunkles Blätterdach aus, die Wipfel großer Bäume, welche Aurungabad wie ein lebender Rahmen umfassen. Die Baumkronen aber hatten lange, biegsame und zähe Aeste, die ja vielleicht dazu zu benutzen waren, den Grund des Wallgrabens, wenn auch mit großer Gefahr, zu erreichen.

Als dem Fakir dieser Gedanke kam, zögerte er nicht länger. Er verschwand unter einem solchen Blätterdache und erschien bald wieder außerhalb der Mauer, am unteren Drittel eines langen Zweiges hängend, der sich unter seiner Last allmälich senkte. Als derselbe sich soweit gebogen hatte, um den oberen Saum der Mauer zu streifen, glitt der Fakir langsam nach abwärts, so als ob er ein Seil mit Knoten hielte. Bis fast zur Hälfte der Eskarpe konnte er auf diese Weise wohl gelangen, noch immer trennten ihn aber gegen dreißig Fuß vom Erdboden, den er erreichen mußte, um entfliehen zu können.

Da hing er nun schwankend zwischen Himmel und Erde und suchte mit dem Fuß nach einem Einschnitt in der Mauer, um sich dagegen zu stemmen.

Plötzlich leuchteten mehrere Blitze durch das Dunkel. Einige Schüsse krachten. Der Flüchtling war von den Wachposten bemerkt worden. Diese gaben Feuer, doch ohne ihn zu treffen. Dagegen schlug zwei Zoll über seinem Kopfe eine Kugel durch den Zweig, der ihn hielt.

Zwanzig Secunden später riß der Zweig, und der Fakir fiel in den Wallgraben … Ein Anderer hätte dabei den Tod gefunden, er blieb heil und gesund.

Aufzuspringen, die gegenüber liegende Böschung unter einem Hagel von Kugeln, die ihn alle fehlten, zu erklimmen und in dem Dunkel der Nacht zu verschwinden, das war für den Fliehenden nur ein Spiel.

Zwei Meilen von hier aus eilte er, ohne bemerkt zu werden, am Cantonnement der englischen Truppen vorüber, welche außerhalb Aurungabads lagerten.

Zweihundert Schritte davon hielt er inne, drehte sich um und erhob die verstümmelte Hand drohend gegen die Stadt mit den Worten:

»Weh‘ Denen, die noch in Nandu Pant’s Hände fallen! Engländer, Ihr seid mit Nana Sahib noch nicht zu Ende!«

Nana Sahib! diesen Kriegsnamen, den gefürchtetsten von allen, blutigen Andenkens aus dem großen Aufstande von 1857, rief der Nabab noch einmal wie eine letzte Herausforderung den Eroberern Indiens zu.

Achtes Kapitel.

Ein ernsthafter Vorfall.

Achtes Kapitel.

Um halb zehn Uhr an jenem Abend wurden Tom und Sid wie gewöhnlich zu Bette geschickt. Sie sprachen ihr Gebet und Sid war bald eingeschlafen. Tom lag wach und wartete in rastloser Ungeduld. Als er schon meinte, es müsse beinahe Morgen sein, schlug die Uhr zehn – es war rein zum Verzweifeln. Er würde sich im Bette herumgeworfen haben, unaufhörlich von einer Seite zur andern, wie es seine Nerven gebieterisch verlangten, hätte er nicht gefürchtet, Sid dadurch zu wecken. So lag er denn krampfhaft ruhig und starrte hinein in die Finsternis. Allmählich begannen sich in der beinahe greifbaren Stille kleine, kaum zu unterscheidende Geräusche bemerkbar zu machen. Erst drängte sich ihm der Laut der tickenden Uhr auf. Alte Balken krachten geheimnisvoll. Die Treppe knisterte leise. Augenscheinlich waren die Geister munter. Ein taktmäßiges, gedämpftes Schnarchen klang aus Tante Pollys Zimmer. Und jetzt begann auch noch einer Grille ermüdendes Zirpen, das mit Genauigkeit zu lokalisieren kein menschlicher Scharfsinn je imstande ist. Dann machte das unheimliche Ticken einer Totenuhr in der Wand, am Kopfende des Bettes, Tom zusammenschaudern – bedeutete es doch, daß jemands Tage gezählt seien. Nun erhob sich das klagende Geheul eines Hundes in die Nachtluft, dem leiseres Gewinsel aus der Ferne antwortete. Tom lag in reiner Todesangst da. Er war fest überzeugt, daß die Zeit aufgehört, die Ewigkeit begonnen habe. Trotz allem Bemühen, sich wach zu halten, begann er leise einzudämmern. Die Uhr schlug elf, er aber hörte es nicht mehr. Auf einmal tönte mitten in seine noch gestaltlosen Träume hinein das langgezogene, schwermütige Miauen eines Katers. Das Öffnen eines benachbarten Fensters, der Ruf: »Verfluchtes Katzenpack!« und das Zersplittern einer gegen die Mauer geschleuderten leeren Flasche ließ ihn entsetzt und urplötzlich wach in die Höhe fahren. Eine Sekunde später war er angezogen, zum Fenster hinaus und kroch auf allen Vieren auf dem Dache des Vorbaues entlang. Dabei miaute er ein- oder zweimal mit großer Vorsicht, sprang dann auf das Dach des Holzschuppens und von dort zu Boden. Huckleberry Finn mit seiner toten Katze erwartete ihn. Die Jungen entfernten sich und verschwanden im Dunkel. Eine halbe Stunde später wateten sie durch das hohe Gras des Friedhofs.

Es war ein Friedhof nach der altmodischen Art des Westens und lag auf einem Hügel, etwa eine halbe Stunde vom Städtchen entfernt. Ihn umgrenzte ein wackeliger Bretterzaun, der sich abwechselnd bald nach innen, bald nach außen lehnte, nirgends aber gerade stand. Gras und Unkraut wucherten üppig über den ganzen Begräbnisplatz hin. Die alten Gräber waren sämtlich eingesunken. Kein Grabstein war zu erblicken. Wurmstichige Bretter schwankten statt dessen lose und schief auf den verfallenen Hügeln, schienen nach einer Stütze zu suchen und keine zu finden. »Zum Gedächtnis an – so – und so« war einst auf ihnen zu lesen gewesen, jetzt aber war’s nicht mehr zu entziffern, auf den meisten wenigstens nicht, selbst im hellsten Tageslicht.

Ein schwacher Windzug ächzte in den Bäumen; Tom war’s, als müßte es das Seufzen der Toten sein, die sich über die Störung beklagten. Die Jungen sprachen nur wenig und nur im Flüsterton, denn Zeit und Ort, sowie das feierliche, tiefe Schweigen versetzte sie in gedrückte Stimmung. Bald fanden sie den frisch aufgeworfenen Haufen, den sie suchten und verschanzten sich in dem Schutze von drei großen Ulmen, die in einer dichten Gruppe, wenige Fuß vom Grabe entfernt, wuchsen.

Dort warteten sie schweigend eine Zeitlang, die ihnen eine Ewigkeit schien. Das Geschrei einer fernen Eule war alles, was die Totenstille unterbrach. Toms Gedanken wurden niederdrückend, er mußte ein Gespräch erzwingen um jeden Preis. So flüsterte er denn:

»Huckchen, meinst du, daß die toten Leute da drunten etwas dagegen haben, daß wir hier sind?«

Worauf Huckleberry zurückflüsterte:

»Möcht’s selber wissen. Aber gelt, ’s ist furchtbar feierlich, nicht?«

»Weiß Gott, das ist’s – uff!«

Lange Pause, während die Jungen noch einmal innerlich der Sache nachgrübelten. Wieder wisperte Tom:

»Du, Huckchen, glaubst du, daß der alte Williams uns hören kann?«

»Natürlich kann er, wenigstens sein Geist.«

Tom, nach einer Pause:

»Hätt‘ ich doch Herr Williams gesagt! Ich hab’s aber nicht bös gemeint. Jedermann nennt ihn doch den alten Williams.«

»Ja, man kann nicht vorsichtig genug sein in dem, was man über die Leute da drunten sagt, Tom.«

Dies war ein warnender Dämpfer und das Gespräch erstarb von neuem. Plötzlich ergriff Tom den Arm seines Kameraden:

»Scht!«

»Was gibt’s, Tom?« Und die zwei umklammerten sich gegenseitig, atemlos, wild pochenden Herzens.

»Scht! Da ist’s wieder. Hast du denn nichts gehört?«

»Ich –«

»Da, noch einmal! Jetzt mußt du’s doch hören!«

»Herr Gott, Tom, da kommen sie! Gewiß und wahrhaftig, da kommen die Teufel! Was sollen wir anfangen?«

»Ich weiß nicht. Ob sie uns sehen?«

»O, Tom, Tom, die sehen im Dunkeln, grad wie die Katzen. Ach, wär ich doch nicht hierher gegangen.«

»Na, alter Waschlappen, fürcht dich doch nicht so! Ich glaub nicht, daß die sich viel um uns kümmern. Wir tun ja niemand nichts Böses. Wenn wir uns ganz mucksmäuschenstill verhalten, merken sie vielleicht gar nicht, daß wir da sind.«

»Ich will mich ja nicht fürchten, Tom, aber ich – ich – ach Gott, ich klapper nur so in meiner Haut.«

»Horch doch!«

Die Jungen steckten die Köpfe zusammen und atmeten kaum. Ein unterdrücktes Geräusch wie von Stimmen ertönte vom anderen Ende des Friedhofes.

»Sieh, sieh dort!« hauchte Tom. »Was ist das?«

»’s ist Hexenfeuer. Ach, Tom, das ist grausig.«

Einige undeutlich nebelhafte Gestalten näherten sich in dem Dunkel. Sie schwangen eine altmodische Blechlaterne, die den Boden mit unzähligen kleinen Lichtfleckchen besäte. Alsbald flüstert Huck schaudernd:

»Da, das sind die Teufel, gewiß und wahrhaftig! Und gleich drei auf einmal! Herr Gott, Tom, wir sind hin! Kannst du beten?«

»Ich will’s mal probieren. Aber fürcht du dich doch nicht so, die tun uns sicher nichts. Wart, ich bet! ›Müde bin ich, geh zur Ruh, schließ die beiden Augen zu, Vater laß –‹«

»Scht!«

»Was gibt’s, Huck?«

»’s sind Menschen! Einer davon mal gewiß! Die eine Stimme kenn ich, die gehört dem alten Muff Potter.«

»Nee, wahrhaftig?«

»Na, ich wett mein Seel. Rühr du dich aber nicht, der merkt nichts von uns. Ist natürlich wieder voll, wie gewöhnlich – verflixter alter Saufaus!«

»Schon gut, ich muckse mich nicht. Da, sie bleiben stehen, können’s nicht finden. Jetzt geht’s wieder vorwärts, – es wird heiß – kalt – ganz kalt – jetzt lau – da warm – puh, nun wird’s aber heiß – heißer, glühend! Scht – da sind sie! Huck, ich kenn noch einen, ’s ist der Indianer-Joe.«

»Der mörderische Lump! Teufel wären mir fast lieber! Auf was die wohl aus sind?«

Letztere Worte waren bloß noch gehaucht, denn die drei Männer hatten nun das Grab erreicht und standen kaum ein paar Fuß von dem Versteck der Jungen entfernt.

»Hier ist’s!« sagte die dritte Stimme; der, welcher gesprochen hatte, hielt die Laterne in die Höhe und zeigte im Strahl des Lichtes das Antlitz des jungen Doktors Robinson.

Potter und der Indianer-Joe schleppten eine Trage mit einem Seil und ein paar Schaufeln drauf. Sie setzten ihre Last nieder und begannen das Grab zu öffnen. Der Doktor stellte die Laterne zu Häupten desselben, ging und setzte sich, mit dem Rücken gegen einen der Ulmenbäume gelehnt. Er war so dicht bei den Jungen, daß diese ihn hätten berühren können.

»Eilt euch, Leute!« sagte er mit leiser Stimme, »Der Mond kann jeden Augenblick herauskommen.«

Die brummten eine Antwort und fuhren fort zu graben. Eine Zeitlang hörte man kein anderes Geräusch als das Knirschen der sich ihrer Last von Erde und Sand entladenden Schaufeln. Es klang unsäglich eintönig. Endlich stieß ein Spaten mit dumpfem, hohlem Laut auf den Sarg, und in der nächsten Minute hatten die Männer diesen empor an die Oberfläche gehoben. Sie brachen den Deckel mit ihren Schaufeln auf, rissen den Leichnam heraus und warfen ihn roh zur Erde. Eben trat der Mond hinter den Wolken vor und beleuchtete das starre, weiße Antlitz. Die Trage wurde herheigebracht, die Leiche daraufgelegt, mit einer Decke verhüllt und mit dem Seile festgebunden, Potter holte ein großes Klappmesser aus der Tasche, schnitt das niederhängende Ende des Seiles ab und sagte:

»Jetzt ist das verfluchte Ding abgetan, Knochensäger, jetzt rückst du mit noch ’nem Fünfer heraus, oder die Bescherung bleibt hier.«

»Recht gesprochen, beim Schinder!« bekräftigte der Indianer-Joe mit einem Fluche.

»Hört mal, Leute, was soll das heißen?« sagte der Doktor. »Ihr habt Vorausbezahlung verlangt und sie auch gekriegt, und damit basta!«

»Jawohl, basta,« zischte der Indianer-Joe und sprang auf den Doktor zu, der nun aufrecht stand. »Wir zwei sind noch lang nicht fertig, daß du’s nur weißt. Vor fünf Jahren jagtest du mich wie einen Hund von der Tür deines Vaters weg, als ich um etwas zu essen bat; ›der Kerl ist wegen ganz was anderem da‹, hieß es. Als ich dann sagte, das solltest du mir ausfressen und wenn’s erst nach hundert Jahren wäre, da ließ mich der Herr Vater als Strolch einsperren. Meinst du, das hätt‘ ich vergessen? Ich hab nicht umsonst Indianerblut in mir. Jetzt hab ich dich und jetzt kommt die Abrechnung, merk dir’s!«

Er fuchtelte dem Doktor dabei mit der geballten Faust unter der Nase herum. Dieser schlug plötzlich aus und streckte den Schurken zu Boden. Da ließ Potter sein Messer fallen und rief:

»Was da! Ich laß meinen Kameraden nicht hauen.« Im nächsten Moment hatte er den Doktor umklammert und die beiden rangen mit Macht und Gewalt, Gras und Boden dabei wild zerstampfend. Der Indianer-Joe sprang auf die Füße, seine Augen glühten und flammten vor Wut, er riß Potters Messer vom Boden auf und umkreiste unheimlich, katzenartig die Ringenden, nach einer Gelegenheit spähend. Plötzlich gelang es dem Doktor, seinen Gegner abzuschütteln. Mit einem Griff riß er das schwere, breite Brett, das auf Williams Grabe gestanden, an sich und schlug Potter damit zu Boden. Im selben Moment aber hatte auch der Indianer-Joe die günstige Gelegenheit ersehen, bis zum Heft stieß er das Messer in des jungen Mannes Brust. Der wankte und fiel teilweise auf Potter, den er mit seinem Blute überströmte, – da verkroch sich der Mond hinter Wolken und entzog das gräßliche Schauspiel den Augen der entsetzten Knaben, die in dem Dunkel sich eiligst davonmachten.

Als der Mond wieder hervortrat, stand der Indianer-Joe vor den beiden hingestreckten Gestalten und betrachtete sie. Der Doktor murmelte etwas Unverständliches, holte ein- oder zweimal tief Atem und – war still. Der Mörder brummte:

»Jetzt ist’s abgerechnet – fahr zur Hölle!«

Dann beraubte er die Leiche, wonach er das verhängnisvolle Messer in Potters geöffnete rechte Hand steckte, sich selbst aber auf den zertrümmerten Sarg setzte. Drei – vier – fünf Minuten verflossen, da begann Potter zu stöhnen und sich zu bewegen. Seine Hand umschloß das Messer, er hob’s empor, warf einen Blick darauf und ließ es mit einem Schauder fallen. Dann richtete er sich auf, schob den toten Körper zurück, starrte darauf nieder und dann verwirrt in die Runde. Seine Augen begegneten denen Joes.

»Herrgott, wie kam’s denn, Joe?« fragte er.

»Ja, das ist ’ne faule Sache, Potter,« versetzte dieser, ohne sich zu rühren. »Daß du aber auch gleich so drauf losgehen mußt!«

»Ich? Ich hab’s doch nicht getan!«

»Hör mal, du, das Geschwätz wäscht dich noch lang nicht weiß.«

Potter zitterte und wurde leichenblaß.

»Hab ich doch gemeint, ich wäre nüchtern gewesen, was hab ich auch am Abend so trinken müssen, ich alter Esel. Ich hab’s noch im Kopf, das spür ich – schlimmer als im Anfang, wie wir kamen. Ich bin rein wie im Dusel – kann mich auf nichts besinnen. Sag doch, Joe – aber ehrlich, alter Kerl, – hab ich’s wirklich getan, Joe? Ich hab’s ja gewiß und wahrhaftig nicht gewollt, auf Ehr und Seligkeit, ich hab’s nicht tun wollen, Joe. Wie ist’s denn eigentlich gewesen, Joe? Ach, ’s ist gräßlich – und er so jung und hochbegabt!«

»Na, ihr beiden balgtet euch und er hieb dir eins mit dem Brett dort über und du fielst um wie ein Sack. Dann rappeltest du dich wieder auf, ganz taumelig und wackelig, griffst nach dem Messer und bohrtest es ihm in die Rippen, gerade als er dir einen zweiten gewaltigen Klaps mit dem Dings da versetzte. Seitdem lagst du da wie ein Klotz und hast dich nicht gerührt.«

»Oh, ich hab nicht gewußt, was ich tue. Will auf der Stelle tot hinfallen, wenn ich’s gewußt hab. Daran ist nur der verdammte Branntwein und die Aufregung schuld. Nie im Leben hab ich’s Messer gezogen, Joe. Gerauft hab ich, aber nie gestochen. Das kannst du von jedem hören, Joe, verrat mich nicht! Sag’s, daß du mich nicht verraten willst, Joe, bist auch ‚en guter Kerl, Ich hab dich immer gern gehabt, Joe, und hab dir’s Wort geredet. Weißt du’s nicht mehr? Gelt, du sagst nichts, Joe?« Und der arme, geängstigte Kerl warf sich auf die Knie vor dem vertierten Mörder und faltete flehend die Hände.

»’s ist wahr, du hast immer zu mir gehalten, Muff Potter, und das will ich dir jetzt gedenken, – Das nenn ich doch wie ’n ehrlicher Kerl gesprochen, was?«

»Oh, Joe, du bist ein Engel. Ich will dich segnen, so lange ich lebe.« Und Potter begann zu weinen.

»Na, komm, laß gut sein. Jetzt ist keine Zeit zum Heulen und Greinen. Mach dich fort, dort hinaus, ich geh den Weg. Flink, los – und daß du mir keine Spuren zurücklässest!«

Potter schlug einen gelinden Trab an, der bald in ein Rennen ausartete. Sein Geselle sah ihm nach und murmelte:

»Wenn er so benebelt ist vom Schnaps und vom Hieb, wie er aussieht, so wird er nicht mehr an das Messer denken, bis er so weit weg ist, daß er sich fürchtet, allein hierher zurückzukommen – der Hasenfuß!«

Zwei oder drei Minuten später sah nur noch der Mond nieder auf den Gemordeten, auf die verhüllte Leiche, den deckellosen Sarg und das offene Grab. Lautlose Stille herrschte aufs neue.

  1. Dem Leser ist wohl das Spiel »kalt oder warm« bekannt. Der Übers.

Neuntes Kapitel.

Reue.

Neuntes Kapitel.

Die beiden Jungen flohen keuchend, sprachlos vor Entsetzen, dem Städtchen zu. Von Zeit zu Zeit warfen sie angstvolle Blicke über die Schultern zurück, als ob sie fürchteten, man könne sie verfolgen. Jeder Baumstumpf, der sich am Wege erhob, schien ein Mensch und ein Feind, dessen Anblick ihnen beinahe den Atem raubte. Als sie an einigen freigelegenen Häusern vorüberjagten, schien das Bellen der aufgestörten Hofhunde ihren Sohlen Flügel zu verleihen.

»Wenn wir nur die alte Gerberei erreichen, ehe wir zusammenbrechen,« keuchte Tom stoßweise zwischen das mühsame Atemholen hinein. »Ich kann kaum mehr länger!«

Hucks Keuchen war seine einzige Antwort; die Jungen hefteten die Augen fest auf das ersehnte Ziel ihrer Wünsche und strebten mit aller Macht es zu erreichen. Es rückte näher und näher und endlich stürzten sie, Schulter an Schulter, durch die offene Tür und fielen atemlos in die schirmenden Schatten des Raumes. Nach und nach mäßigten die jagenden Pulse ihr Tempo und Tom flüsterte:

»Huckleberry, was denkst du, das daraus werden wird?«

»Wenn der Doktor stirbt, wird einer baumeln.«

»Glaubst du?«

»Glauben? Das ist sicher!«

Tom dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Wer soll’s denn sagen? – Wir?«

»Unsinn! Wenn was dazwischen kommt und der Indianer-Joe doch nicht baumeln muß, der würd‘ uns schön an den Kragen gehen, so gewiß ich hier lieg.«

»Das hab ich eben auch gedacht, Huck.«

»Wenn’s einer sagen muß, so kann’s ja der Muff Potter tun, dumm genug ist er dazu. Beduselt ist er auch meistens.«

Tom sagte nichts, – dachte weiter. Bald darauf flüsterte er: »Huck, Muff Potter weiß ja von nichts. Wie kann der’s sagen?«

»Warum weiß er von nichts?«

»Der hatte ja gerade den Hieb abgekriegt, als der andere zustach. Glaubst du, daß der noch was gesehen haben kann, daß er noch was weiß?«

»Allerdings mein ich das, Tom!«

»Hör du, der Hieb hat ihm am End auch noch den Rest gegeben!«

»Das glaub ich nicht, Tom. Der hatt‘ Branntwein im Kopf, ich hab’s gesehen. Wenn mein Alter voll ist, dürft man ihm ohne Schaden mit ’nem Kirchturm über den Kopf hauen, er würd’s nicht spüren. Das sagt er selber. Grad so ist’s mit Muff Potter natürlich. Wenn einer nüchtern wäre, könnte er freilich am End mit so ’nem Klaps genug haben.«

Nach einer anderen gedankenvollen Pause fragte Tom:

»Huckchen, bist du sicher, daß du reinen Mund halten kannst?«

»’s bleibt uns einfach gar nichts anderes übrig, Tom. Das siehst du doch selbst. Der Teufel von Indianerbrut schmisse uns ins Wasser wie ein paar Katzen, wenn wir nur davon mucksen wollten und er nicht richtig darauf gehenkt würde. Hör mal zu, Tom, wir müssen’s uns gegenseitig zuschwören, das müssen wir tun, schwören, daß wir nichts ausplappern!«

»Ist mir recht, Huck, ’s wird wohl das beste sein. Heb die Hand auf und schwör –«

»Nee, Tom, so leicht geht das nicht! Das ist freilich gut genug für kleine, lumpige Sachen, – besonders wenn man was mit Mädchen hat, die dummen Dinger verklatschen einen doch immer, wenn sie mal in der Patsche sitzen, – bei so was Großem aber, wie das, muß was Schriftliches dabei sein – und Blut!«

Tom war mit Leib und Seele bei dieser Idee. Sie war tief, düster, unheimlich, – mit der Zeit, dem Ort, den Umständen im Einklang. Er hob eine reine Holzschindel auf, die dort im Mondlicht lag, nahm ein Endchen Rotstift aus der Tasche, setzte sich so, daß der Mond die Schindel beleuchtete und kritzelte darauf folgende Zeilen, jeden Grundstrich mit einem krampfhaften Druck der Zunge gegen die Zähne betonend, der bei den Haarstrichen mechanisch nachließ:

»Huck Finn und Tom Sawyer, die schwören, daß sie hierüber den Mund halden wollen und wollen auf der Stelle tot umfallen, wann sie’s jehmals ausblautern.«

Huckleberry war voll Staunen und Bewunderung ob Toms Gewandtheit im Schreiben und der Erhabenheit seines Stils. Flink zog er eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter und wollte sich eben sein Fleisch ritzen, als Tom rief:

»Wart, tu’s nicht. So ’ne Nadel ist von Messing und da könnt Grünspan daran sein.«

»Grünspan? Was ist das für ’n Span?«

»Gift ist’s, – weiter nichts. Schluck’s nur mal runter, wirst schon sehen!«

Tom langte dann eine von seinen Nähnadeln vor, wickelte den Faden ab und jeder der Jungen stach sich damit in den Ballen der Hand und quetschte einen Tropfen Blut hervor.

Mit Geduld, nach oftmaligem Quetschen, brachte denn auch Tom seine Initialen zustande, wozu er die Spitze des kleinen Fingers als Feder gebrauchte. Dann zeigte er Huckleberry, wie dieser ein H und ein F zu machen habe, und der Eidschwur war gültig. Sie vergruben die Schindel dicht an der Mauer, unter Anwendung von allerlei unheimlichen Zeremonien und Zauberformeln, und die Fesseln, die ihre Zungen banden, wurden als fest geschlossen, der Schlüssel dazu als weggeworfen betrachtet.

Eine Gestalt schob sich in dem Moment verstohlen durch eine Lücke am andern Ende des verfallenen Gebäudes, die Jungen aber bemerkten sie nicht.

»Tom,« flüsterte Huckleberry, »werden wir nun niemals nichts von der Geschichte sagen können, niemals?«

»Natürlich nicht. Was auch kommen mag, wir müssen den Mund halten. Sonst fielen wir ja gleich tot um, hast du das schon vergessen?«

»Nee, – aber – ja, du hast recht.«

Eine Zeitlang flüsterten sie noch leise zusammen. Plötzlich schlug ein Hund ein langgezogenes, unheimliches Geheul an, dicht vor ihrem Schlupfwinkel, vielleicht zehn Schritte von ihnen entfernt. Die Jungen umklammerten einander in Todesangst. Ihr Aberglaube hatte wieder die Oberhand.

»Wen von uns meint er wohl?« ächzte Huckleberry.

»Weiß ich’s? – guck durch den Ritz, schnell!«

»Guck du, Tom!«

»Ich kann nicht – kann’s nicht, Huck!«

»Bitte, Tom, bitte! Da – da ist’s wieder!«

»Ach, Gottchen, wie dank ich dir,« flüsterte Tom, »Ich kenn die Stimme, ’s ist Harbisons Tyras seine.«

»Das ist ’n Glück, Tom, ich sag dir, ich war halb tot vor Schreck; dacht schon, ’s sei ein fremder Hund.«

Wieder heulte der Hund. Den Jungen sank das Herz abermals bis in die unterste Zehenspitze.

»Ach, du mein alles,« stöhnte Huck, »das ist nicht Harbisons Tyras. Guck doch mal, Tom.«

Tom gab nach, obgleich er mit den Zähnen klapperte vor Furcht, und legte sein Auge an die Ritze. Sein Flüstern war kaum verständlich, als er zurückfuhr mit einem:

»Huck, ’s ist ein fremder Hund

»Schnell, schnell, Tom, wen meint er von uns?«

»Er muß uns beide meinen, – wir stehen dicht zusammen.«

»Tom, dann sind wir hin, ich sag dir’s. Wo ich hinkommen werde, für mein Teil, weiß ich nur zu gut. Ich bin so oft gottlos gewesen.«

»Ach, Huck, das kommt davon, wenn man die Schule schwänzt und immer tut, was verboten ist. Ich hätt‘ grad so gut und brav sein können wie Sid, – aber natürlich, das paßt mir nicht. Wenn ich noch mal mit heiler Haut davonkomme, so schwör ich, daß ich mein Leben lang in die Sonntagsschule gehen will, – ich Elender!«

Und Tom begann ein wenig zu schluchzen und sich die Augen zu reiben.

» Du, schlecht?« Auch Huckleberry schluchzte nun. »Ach was, Tom Sawyer, du bist Gold, reines Gold, sag ich dir, gegen mich. Ach, Gottchen, Gottchen, Gottchen, – ja, wenn ich nur halb die Gelegenheit gehabt hätt‘, gut zu sein wie du, Tom, ich –«

Tom brach plötzlich im Schluchzen ab und flüsterte freudig:

»Sieh doch, Huck, sieh! Er kehrt uns ja den Rücken zu

Nun schielte auch Huck durch die Ritze, Wonne im Herzen.

»Weiß Gott, so ist’s! Hat er denn vorher das auch schon getan?«

»Ei, freilich; ich Esel hab aber gar nicht darauf acht gegeben. Na, das ist herrlich! Jetzt aber, wen kann er meinen?«

Das Geheul verstummte, Tom spitzte die Ohren.

»Scht, – was ist das?« flüsterte er.

»’s klingt wie – na, wie Schweinegrunzen, Doch nein, – da schnarcht einer, Tom!«

»Wahrhaftig, so ist’s! Woher kommt’s wohl, Huck?«

»Ich glaub von dort, vom anderen Ende, ’s klingt wenigstens so. Mein Alter hat dort manchmal geschlafen, aber, Herrgott, wenn der schnarcht, fallen die Mauern ein. Ich glaub auch nicht, daß der je wieder hierher kommt.«

Noch einmal regte sich der Unternehmungsgeist in der Seele der Knaben.

»Huckchen, getraust du dir mitzukommen, wenn ich vorangehe?«

»Viel Lust hab ich nicht, Tom. Wenn’s nun der Indianer-Joe wäre?«

Tom fuhr zusammen und zögerte. Bald aber erhob sich die Versuchung wieder mit aller Macht und die Jungen kamen überein, die Sache zu untersuchen, aber Fersengeld zu geben, sowie das Schnarchen aufhöre. So stahlen sie sich denn auf den Zehenspitzen, einer hinter dem anderen, dem Orte zu, von wo der Laut kam. Fünf Schritte etwa vom Schnarcher entfernt, trat Tom auf einen Stock, der mit scharfem Knack zerbrach. Der Mann stöhnte und wandte sich ein wenig, so daß sein Gesicht sich dem Mondschein zukehrte. Es war Muff Potter. Den Jungen hatte das Herz stillgestanden, als der Mann sich regte, nun aber schwand ihre Angst. Auf den Zehen schlichen sie hinaus durch die geborstene Mauer und blieben in geringer Entfernung stehen, um ein Abschiedswort zu tauschen. Wieder erhob sich jenes langgezogene, klägliche Geheul in die Nachtluft hinein. Sie wandten sich und sahen den fremden Hund, nur ein paar Schritte entfernt von dem Ort, an dem Potter lag, diesem den Kopf zuwendend, mit der Schnauze gen Himmel deuten.

»Herr Jemine, den meint er!« riefen die beiden in einem Atem.

»Sag mal, Tom, ’s hat mir einer erzählt, daß um dem Johnny Miller sein Haus ’n fremder Hund herumgeheult hätt‘ vor ’n paar Wochen, und daß ’ne Eule sich auf dem Dach gezeigt hat, und doch ist noch keiner tot dort.«

»Weiß ich. Das beweist aber gar nichts! Ist nicht am selben Sonnabend die Grace Miller auf den Herd gefallen und hat sich schrecklich verbrannt?«

»Wohl, aber tot ist sie doch nicht – im Gegenteil viel besser.«

»Na, paß du nur auf, die muß sterben, so gewiß, wie der Muff Potter dort sterben muß. So sagen die Nigger, und die wissen Bescheid in den Geschichten, Huck!«

Die Jungen trennten sich, in tiefes Nachdenken versunken.

Als Tom durch sein Schlafzimmerfenster zurückkroch, war die Nacht beinahe vorüber. Er entkleidete sich mit der äußersten Vorsicht und fiel in Schlaf, indem er sich selbst von Herzen Glück dazu wünschte, daß niemand von seinem nächtlichen Ausflug etwas gemerkt habe. Armer, blinder Tom! Er selbst hatte nichts gemerkt; er wußte nicht, daß der sanft schnarchende Sid wachte, wach gewesen war seit einer Stunde.

Als Tom am anderen Morgen die Augen aufschlug, war Sid angekleidet und fort. Das Tageslicht draußen hatte ordentlich einen späten Schein, es lag ‚was Spätes in der ganzen Atmosphäre, Tom erschrak. Warum hat man ihn nicht gerufen, – ihn nicht geplagt, wie gewöhnlich, bis er auf war?

Dieser Gedanke erfüllte ihn mit schlimmen Ahnungen. Innerhalb fünf Minuten war er in den Kleidern und die Treppe hinunter, noch ganz schwindelig und müde. Ihm war nicht wohl zumute. Die Familie saß noch um den Tisch, das Frühstück aber war beendet. Keine Stimme des Vorwurfs erhob sich, aber die abgewandten Augen aller, die Stille und so eine Art Feierlichkeit, die das ganze Zimmer zu erfüllen schien, ließen des armen Sünders Herz in ahnender Sorge erbeben. Er setzte sich nieder, versuchte munter und unbefangen zu erscheinen, das aber war verlorne Liebesmüh. Kein Lächeln, keine Antwort kam; auch er verfiel in Schweigen und sein Herz sank in die tiefsten Tiefen der Verzweiflung und Bekümmernis.

Nach dem Frühstück nahm ihn die Tante beiseite und Tom lebte sichtlich auf in der Erwartung, daß nun die wohlverdiente Züchtigung vom Stapel laufen würde. Dem aber war nicht so, Tante Polly fing an zu weinen, fragte, wie er es über sich gewänne, sie so zu betrüben, ihr altes Herz beinahe zu brechen und schloß damit, daß sie ihm sagte, er möge nur hingehen, sich zugrunde richten und ihre grauen Haare mit Schande in die Grube bringen, sie könne ihn nicht mehr aufhalten, wolle es auch gar nicht mehr probieren, es sei doch alles nutzlos und vergebens. Das war schlimmer als die schlimmsten Prügel, und Toms Herz war nun noch matter und elender als sein Körper. Er weinte, bat um Verzeihung, gelobte Besserung wieder und wieder und wurde schließlich entlassen mit dem beschämenden Gefühl, doch nur halb und halb Vergebung und Vertrauen in seine Gelöbnisse gefunden zu haben.

Er schlich aus dem Zimmer, zu elend selbst, um Rachegelüste gegen Sid, den Verräter, zu spüren und so war des letzteren hastige Flucht durch die Hintertüre unnötig. Trübselig und traurig machte er sich nach der Schule auf und nahm mit Joe Harper zusammen seine Tracht Prügel für das Schulschwänzen entgegen, mit der Miene eines Menschen, dessen Seele schlimmeres Leid kennt und tot ist für die kleinen Kümmernisse dieser Welt. Dann verfügte er sich nach seinem Platz, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, das Kinn auf die Hände, bohrte den Blick in die Wand und saß da, ein Bild starrer Verzweiflung, die ihre Grenzen erreicht hat und nicht weiter zu gehen vermag. Sein Ellenbogen ruhte auf irgend etwas Hartem. Nach einer geraumen Zeit änderte er langsam und traurig seine Stellung und nahm dies Etwas mit einem Seufzer zur Hand. Es war in Papier eingeschlagen. Er entfaltete es. Ein langgezogener, ungeheurer Seufzer folgte… Es war jener Messingknopf, den er Becky gestern geboten. Dieser letzte bittere Tropfen brachte den Becher seiner Trübsal zum Überfließen.

Schlußwort.

Schlußwort.

Schlußwort.

So endet denn diese Chronik. Da es nur die Geschichte eines Knaben ist, so muß sie hier enden; ließe sie sich doch nicht viel weiter fortspinnen, ohne zur Geschichte eines Mannes zu werden. Wer einen Roman über erwachsene Leute schreibt, weiß ganz genau, wo er aufzuhören hat, nämlich – bei der Heirat. Wer aber von Kindern und sehr jugendlichen Helden erzählt, der muß eben aufhören, wo es sich am besten fügt.

  1. Der Verfasser hat in seinem » Huckleberry Finn« – siehe Nr. 657–660 der Volksbücherei – eine prächtige Fortsetzung bei Knabenstreiche Tom Sawyers geschrieben, wobei »Huck« der Held ist.

Viertes Kapitel.

Schulfreuden und -Leiden

Viertes Kapitel.

Die Sonne ging auf über der sonntäglich ruhigen Welt und strahlte nieder auf das friedliche Städtchen, wie ein Segen von oben. Als das Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familienandacht. Sie begann mit einem Gebete, das sich ganz und gar aus festen Schichten biblischer Kraftstellen auferbaute, die nur durch einen dünnen, spärlichen Mörtel eigener Gedanken zusammengehalten wurden. Auf den Zinnen dieses stolzen Baues angelangt, krönte sie das Ganze mit einem dräuenden Kapitel des mosaischen Gesetzes, als stünde sie auf dem Berge Sinai selber.

Danach gürtete Tom seine Lenden sozusagen und ging ans Werk, sich die Bibelsprüche »einzupauken«. Sid, der Musterknabe, hatte seine Lektion schon vor mehreren Tagen gelernt. Tom warf sich mit ganzer Energie auf die Erlernung von fünf Versen und wählte dieselben aus der Bergpredigt, da er keine kürzeren finden konnte.

Nach Verlauf einer halben Stunde hatte er denn auch glücklich einen schwachen, allgemeinen Begriff von seiner Lektion, aber nichts weiter, denn seine Gedanken reisten dabei mit Blitzesschnelle durch die ganze weite, unbegrenzte Welt, die im engen Hirne schlummert, und seine Finger waren rastlos tätig in allerhand angenehmen, ablenkenden Zerstreuungen. Endlich erbarmte sich Bäschen Mary seiner und nahm das Buch, um ihn zu überhören, während er sich durch den die Sprüche verhüllenden Nebel mühsam seinen Weg zu bahnen suchte.

»Selig sind die – ä – ä –«

»Da geistig –«

»Richtig – die da geistig ä – ä –«

»Arm –«

»Arm sind. Selig sind, die da geistig arm sind, denn sie sollen – sollen –«

»Denn ihrer –«

»Ja so! Selig sind, die da geistig arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie – sie –«

»S –«

»Denn sie – ä –«

»S – o –«

»Denn sie s – s –, weiß der Kuckuck, wie das heißt!«

»Sollen!«

»Ach so – sollen! Denn sie sollen – denn sie sollen – ä – ä – sollen Leid tragen. Selig sind, die da sollen – die da sollen – a – Leid tragen, denn sie sollen – ä – sollen was? Warum hilfst du mir denn nicht, Mary, schäm dich, so schlecht zu sein und am Sonntag noch dazu!«

»O, Tom, armer, dummer, dickköpfiger Kerl, ich will dich ja nicht necken, Gott behüte. Ich mein’s nur gut mit dir. Geh und lern’s noch einmal und verlier den Mut nicht, du wirst’s schon in den Kopf kriegen und dann, Tom, dann schenk ich dir auch was Schönes! Geh und sei ein guter Junge!«

»Schon recht. Aber was ist’s, Mary, sag mir erst, was es ist.«

»Das brauchst du nicht vorher zu wissen, Tom, du weißt, wenn ich sag, es ist schön, so ist’s wirklich was Schönes.«

»Ja, das weiß ich. Also vorwärts, gib das Buch wieder her, Mary, wollen’s schon kriegen.«

Und er »kriegte« es wirklich und zwar mit Glanz unter dem Doppeldruck von Neugierde und voraussichtlichem Gewinn.

Mary gab ihm nach bestandener Probe ein funkelnagelneues Taschenmesser, das mindestens eine Mark wert war unter Brüdern. Eine feine Damaszenerklinge hatte es ja wohl nicht, auch keinen schon verzierten eingelegten Griff von Elfenbein, aber um den Tisch anzuschnitzen war’s gerade recht, was Tom sofort probierte, und als er sich darauf seelenvergnügt eben an den Schrank machen wollte, wurde er abgerufen, um sich zur Sonntagsschule in den Staat zu werfen.

Mary reichte ihm eine Blechschüssel mit Wasser und ein Stück Seife, womit er sich in den Hof begab. Hier stellte er die Schüssel auf eine Bank, tauchte die Seife ins Wasser, legte solche dann zur Seite, goß das Wasser aus, stülpte die Ärmel auf und kam wieder zur Küche herein, um sich eiligst sein trockenes Gesicht am Handtuch hinter der Türe abzuwischen, Mary aber riß ihm das Tuch weg und sagte:

»Schämst du dich nicht, Tom? Das heiß ich betrügen! Wasser wird dir nichts schaden!«

Tom war ein wenig aus der Fassung gebracht. Die Schüssel wurde wieder gefüllt und diesmal stand er eine kleine Weile davor, um sich Mut zu machen, schöpfte dann tief Atem und begann das große Werk der wöchentlichen Reinigung. Wie er nun zum zweitenmal die Küche betrat, sich mit krampfhaft geschlossenen Augen und ausgestreckten Händen nach dem Tuche hintastend, bewiesen Seifenschaum und Wasser, die von seinem Antlitz niederströmten, seine Ehrlichkeit glänzend. Als er dann aber hinter dem Tuche hervortauchte, war die schwere Prozedur noch nicht zur Zufriedenheit ausgefallen. Das reine Gebiet erstreckte sich nur bis zum Rande der Kinnlade, wo es ein Ende hatte, gleich einer Maske. Außerhalb dieser Linie zeigte sich die ganze Partie um Hals und Ohren in unberührt schwärzlichem Zustand. Nun legte Mary Hand an, und als sie fertig war, bot Tom das Bild eines reinlichen, ehrlichen Christenmenschen, ohne Unterschied der Farbe. Sein feuchtes Haar war schön gebürstet und die sonst so widerspenstigen Locken kräuselten sich in ordentlich rührender Ergebung. Diese Locken waren Toms Qual, er hielt sie für weibisch, schämte sich ihrer und tat sein möglichstes, sie mit Hilfe von Fett und Wasser fest am Kopfe anzukleben. Daß ihm dies nur teilweise und unbefriedigend gelang, erfüllte sein Herz mit Bitternis. Jetzt holte Mary seinen Sonntagsanzug, den er während zweier Jahre nur an diesem geheiligten Tage getragen. Man sprach davon einfach nur als von »den anderen Kleidern«, und daraus läßt sich leicht auf den Umfang von Toms Garderobe schließen. Als er sich dann hineingestreckt in diese »anderen Kleider«, legte Mary die letzte verbessernde Hand an, knöpfte die Jacke zu, zog ihm den riesigen, weißen Kragen an, bürstete ihn aus und krönte das Ganze mit einem braunen, gelb gefleckten Strohhut. Tom sah nun ungemein ehrbar und unbehaglich aus und fühlte sich auch nicht minder unbehaglich, als er aussah. Für ihn lag ein fast unerträglicher Zwang in ganzen und sauberen Kleidern, ein Zwang, der ihn fortwährend reizte. Er hoffte, Mary würde wenigstens seine Schuhe vergessen, aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch; ehe er sich’s versah, standen die Marterwerkzeuge, ordentlich mit Talg eingeschmiert, wie es so Sitte war, lieblich lockend vor ihm. Jetzt verlor er völlig die Geduld und schalt und brummte, er solle immer alles tun, was er absolut nicht möge. Mary aber bat und schmeichelte:

»Bitte, Tom, sei so gut, bitte!«

So fuhr er denn brummend hinein in die schwarzen Plagegeister, blieb aber bei sehr gereizter, übler Laune. Mary war auch bald fertig und die drei Kinder machten sich zusammen auf nach der Sonntagsschule, einem Ort, den Tom ebensosehr haßte, wie ihn Sid und Mary liebten.

Die Sonntagsschule dauerte von neun bis halb elf, danach kam noch der Gottesdienst, Bei diesem blieben immer zwei unserer kleinen Freunde freiwillig zugegen, der dritte auch, aber ihn lockte etwas anderes als die Predigt. Die Kirche selbst war klein und schmucklos, sie mochte in ihren geraden, hochlehnigen Bänken vielleicht dreihundert Menschen fassen. An der Tür zögerte Tom und ließ die anderen vorgehen, während er einen sonntäglich herausgeputzten Kameraden anredete:

»Sag‘ mal, Bill, hast du ’nen gelben Zettel?«

»Ja!«

»Was willst du dafür haben?«

»Was gibst du mir?«

»Ein Stück Süßholz und einen Angelhaken.«

»Zeig mal her.«

Tom zeigte her, Bill prüfte und fand das Gebotene des Zettels wert, so tauschten sie das Eigentum. Danach handelte Tom noch drei rote und zwei blaue Zettel gegen einige ähnliche kostbare Artikel ein. Zehn, fünfzehn Minuten lang fuhr er in dieser Beschäftigung fort, jagte allen möglichen Jungen Zettel in allen möglichen Farben ab und hatte nach Verlauf dieser Zeit eine recht stattliche Anzahl zusammen, die er schmunzelnd in die Tasche schob. Nun endlich betrat er inmitten eines Schwarms sonntäglich gesäuberter, aber etwas geräuschvoller Jungen und Mädchen die Kirche, setzte sich auf seinen Platz und begann sofort mit dem ersten besten Streit. Der Lehrer, ein ernster, gutmütig aussehender Herr, trat dazwischen, wandte dann aber für einen Moment den Rücken, was Tom sofort dazu benutzte, einem Jungen auf der vorderen Bank in die Haare zu fahren und einem anderen mit einer Nadel in den Arm zu stechen. Der Getroffene fuhr drauf mit einem zornigen »autsch« herum, was ihm, da Tom mit Unschuldsmiene in sein Buch starrte, einen strengen Verweis des Lehrers zuzog. Toms ganze Klasse schien nach seinem Muster zugeschnitten – unruhig, unaufmerksam, voller Tollheiten. Als sie ans Aufsagen kamen, wußte nicht einer seine Verse vollständig, doch stolperten sie durch mit Hängen und Würgen, so gut es eben ging. Die Belohnung für zwei fehlerlos aufgesagte Verse bestand in einem kleinen, blauen Zettel, auf den ein Bibelvers gedruckt war. Zehn blaue Zettel konnten für einen roten eingetauscht werden, zehn rote wiederum für einen gelben. Für zehn gelbe erhielt man dann vom Herrn Vikar eine kleine, sehr einfach gebundene Bibel, die unter Brüdern vielleicht vierzig Cents wert war. Wer unter meinen Lesern besäße wohl den Fleiß und die Ausdauer, zweitausend Bibelverse auswendig zu lernen und wenn man ihm eine Prachtbibel von Dors böte? Und doch hatte sich Mary zwei solcher Bibeln erobert, es war die geduldige, mühsame Arbeit zweier Jahre. Nur die älteren, vernünftigen und ernsten Schüler brachten es fertig, ihre Zettel zu sammeln und dieses langwierige und langweilige Werk so lange durchzuführen, bis sie eine Bibel erhalten konnten. Eben durch dies mühsame Erringen aber wurde die Auslieferung des hohen Preises jedesmal zu einer feierlichen, denkwürdigen Begebenheit. Der also Gefeierte erschien so groß und erhaben an einem solchen Ehrentage, daß sich beim Anblick seiner Größe in der Brust jeglichen Zuschauers ein heiliger Eifer und Ehrgeiz entzündete, der oftmals sogar viele Wochen anhielt. Auch Toms glühendster Wunsch war es, einmal auf diese Weise ausgezeichnet zu werden; nicht der Bibel halber, bewahre, ihm ging’s um die Ehre und den Ruhm, den Glanz, der die ganze Zeremonie umstrahlte.

Nun trat der Herr Vikar, der die Sonntagsschule leitete, vor, ein kleines Testament zugeklappt in der Hand haltend, zwischen dessen Blättern sich der eine Zeigefinger barg, und bat um Aufmerksamkeit. Wenn ein Sonntagsschulvikar seine herkömmliche kleine Ansprache hält, so ist ihm ein Testament in der Hand so notwendig, wie das unvermeidliche Notenblatt dem Sänger, der das Podium betritt, um das Konzertpublikum mit einem Solo zu beglücken, – das Warum bleibt freilich ein Rätsel, denn weder Testament, noch Notenblatt wird von dem betreffenden Dulder je eines Blicks gewürdigt werden. Dieser Herr Vikar nun war eine etwas schmächtige, überschlanke Figur von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit sandgelbem Bocksbart und sandgelben Haaren. Seine Miene war ernst, und feierlich war auch der Tom seiner Stimme, als er nach dem Muster der gewöhnlichen Sonntagsschulredner begann:

»Jetzt, Kinder, paßt auf; setzt euch alle so gerade und ruhig, wie ihr könnt und hört mir einmal ein paar Minuten lang recht aufmerksam zu. So, jetzt ist’s recht! So müssen ’s gute, kleine Knaben und Mädchen machen! Da sehe ich noch ein kleines Mädchen, das zum Fenster hinausguckt. Kleine, du denkst wohl, ich säße dort auf dem Baum und wolle den kleinen Vögelein da draußen etwas von unserem lieben Heiland erzählen, was? (Unterdrücktes Kichern.) Zuerst also möchte ich euch sagen, wie wohl es mir tut, so viele saubere, frohe kleine Gesichter an einem Ort, wie diesem, versammelt zu sehen, an dem sie lernen sollen, gut und brav zu sein und das Rechte zu tun.«

Und so weiter und so fort. Den Rest der Rede zu verzeichnen ist nicht nötig, sie hielt sich ganz an bekannte Muster, die jeder von uns schon tausendfältig gehört hat.

Das letzte Drittel der rednerischen Leistung wurde etwas gestört durch Wiederaufnahme der Püffe und Stöße und anderen Zeitvertreibs unter den schwarzen Schafen der kleinen Gemeinde. Ein Raunen und Flüstern begann, das sich mehr und mehr ausbreitete, ja selbst die Grundfesten solch unerschütterlicher Felsen wie Sid und Mary zu umspielen versuchte. Mit dem schlußandeutenden Sinken des Tons in des Redners Stimme ließ auch das Summen nach und der Schluß selbst wurde mit dem Ausbruch allgemeinsten, dankbaren Schweigens begrüßt.

Ein großer Teil der Unruhe war durch einen ebenso erstaunlichen als seltenen Zwischenfall verursacht worden – es waren Fremde gekommen! Der Bürgermeister erschien, begleitet von zwei Herren, einem alten, schwächlich aussehenden und einem jüngeren, stattlichen mit schon stark ergrauten Haaren. Voran ging eine Dame, offenbar die Frau des letzteren, die ein Mädchen an der Hand führte. Tom war bis dahin rastlos und unruhig gewesen, er hatte Gewissensbisse, und konnte Anny Lorenz nicht ansehen, deren Auge mit liebendem Blick das seine suchte. Als er nun aber die Kleine erscheinen sah, fühlte er sich wie trunken vor Wonne. Im nächsten Augenblick begann er mit Macht »sich zu zeigen«, – puffte seine Nachbarn, riß sie an den Haaren, schnitt Gesichter, kurz bediente sich aller jener Künste, die imstande sind, ein kleines Schulmädchenherz zu bezaubern und ihm Beifall abzugewinnen. Seiner Wonne wurde nur ein Dämpfer aufgesetzt durch den Gedanken an die Demütigung, welche er in jenes Engels Garten hatte erdulden müssen, aber die Erinnerung hieran war doch nur in den Sand verzeichnet, den schon jetzt die hochgehenden Wogen des Glücks, die seine Seele überfluteten, wegzuschwemmen begannen. Den Fremden wurde der beste Ehrenplatz angewiesen, und als des Vikars Rede zu Ende war, stellte sich heraus, wer sie seien. Der stattliche, ergraute Herr in mittleren Jahren entpuppte sich als eine große Persönlichkeit. Er war nichts mehr und nichts weniger als der oberste Richter des Kreises, das erhabenste Produkt der Schöpfung, das die Kinder je geschaut, und sie sannen drüber nach, aus welchem Stoff der wohl gemacht sein möge; halb sehnten sie sich danach, seine Donnerstimme zu vernehmen, und halb fürchteten sie sich davor. Er war aus Konstantinopel, zwölf Meilen flußabwärts, also ein weitgereister Mann, der die Welt kannte. Was der wohl alles schon gesehen hatte? Am Ende gar Washington und das »Weiße Haus«, das sich die Kinder wie eine blendende, leuchtende, flimmernde Masse von Eis und Schnee vorstellten, so weiß und so glänzend. Die durch solche Gedanken erweckte ehrfurchtsvolle Scheu prägte sich in dem atemlosen Schweigen, in den großen, runden, erstaunt drein starrenden Augen aus. Das also war der große, gewaltige Kreisrichter Thatcher, der Bruder ihres eigenen Bürgermeisters, der Onkel von Willy Thatcher, der da eben vortrat aus ihren Reihen und dem großen Mann die Hand bot, als sei das nichts. Hätte Willy gewußt, was das Flüstern bedeutete, das sich erhob, es hätte ihm wie Sphärenmusik in den Ohren geklungen!

»Sieh doch, Jim, Tom sieh doch! Er geht ja wahrhaftig hin und gibt ihm die Hand! Und der schüttelt sie. Weiß Gott, ich gab drei Steinkugeln drum, wenn ich der Willy wäre!«

Der Vikar begann sich nun »zu zeigen«, rannte hier hin, dort hin, erteilte Befehl, Lob, Tadel, wie’s gerade kam und wo er nur irgendwas anbringen konnte. Der Bücherausteiler »zeigte sich« in übermäßigem Wichtigtun und Amtseifer, indem er mit den Armen voll Bücher hin und her rannte. Die jungen Damen, welche die verschiedenen Klassen unterrichteten, wollten gleichfalls nicht zurückbleiben, süß lächelnd neigten sie sich über kleine Schülerinnen, die sie kurz zuvor gescholten, hoben lieblich drohende Fingerlein gegen schlimme, kleine Jungen und streichelten andere zärtlich und milde. Die jungen Herren, welche als Lehrer wirkten, »zeigten sich« in kleinen, ernsten Strafreden, die sie ihren betreffenden Klassen hielten, und anderen ähnlichen Beweisen ihrer Autorität. Dabei hatten fast alle jugendlichen Lehrer beiderlei Geschlechts ganz erstaunlich viel mit Bücherwechseln zu tun in der Nähe der Kanzel, irrten sich erstaunlich oft in dem, was sie holten, mußten wieder und wieder gehen, zwei-, dreimal und schienen sich gewaltig drüber zu ärgern. Auch die kleinen Mädchen »zeigten sich« auf die verschiedenste Weise und die kleinen Jungen »zeigten sich« in ihrer Art, indem sie sich heimlich schubsten und die Luft mit emporgeschleuderten Papierpfropfen erfüllten. Und über dem allem thronte majestätisch der große Mann, ließ die Sonne seines Lächelns erstrahlen und wärmte sich an seiner eigenen Größe, denn er selbst, – er »zeigte sich« erst recht. Eines nur fehlte, um des Herrn Vikars Glück vollständig zu machen in dieser erhabenen Stunde, und das war die Möglichkeit der Erteilung eines Bibelpreises. Einige Schüler konnten ein paar gelbe Zettel aufweisen, keiner aber hatte die genügende Zahl, wie er sich bei einem Umfragen unter den ersten »Gestirnen« leider überzeugen mußte.

Da, im letzten Moment, als er schon jede Hoffnung fahren ließ, trat Tom Sawyer vor mit neun gelben, neun roten und zehn blauen Zetteln, – trat vor und verlangte eine Bibel! Das war ein Blitzschlag aus heiterem Himmel! Der Herr Vikar hatte auf ein solches Ansinnen aus dieser Himmelsrichtung jede Hoffnung aufgegeben gehabt, für die nächsten zwanzig Jahre mindestens. Aber die unglaubliche Tatsache ließ sich nicht wegleugnen, – hier stand Tom und da waren die Zettel und sie stimmten aufs Haar. Tom wurde also nach dem Ehrenplatze geleitet zu dem Kreisrichter und den anderen Auserlesenen und die erstaunliche Tatsache allen kund und zu wissen getan. Das wirkte nun förmlich versteinernd, war die außerordentlichste Begebenheit des Jahrzehnts, und so nachhaltig und tief war der Eindruck derselben, daß er den neuen Helden noch beinahe über den alten erhob und die Schule nun zwei Wunder statt des einen zu bestaunen hatte. Die Jungen verzehrten sich in Neid, zumeist aber diejenigen, die sich nun zu spät klarmachten, daß sie selbst zu diesem verhaßten Ruhme beigetragen, indem sie ihre Zettel an Tom verhandelten für die Reichtümer, die er durch zeitweilige Ablassung seiner Tünchungsprivilegien aufgerafft. Sie verachteten und verdammten sich selbst als überlistete Opfer eines schwarzen Betrügers, einer kriechenden, verräterischen Schlange.

Inzwischen wurde der Preis an Tom ausgeliefert mit so viel Pomp, als der Vikar nur irgend bei der Gelegenheit anbringen konnte. Der volle richtige Schwung aber schien doch dabei zu fehlen; ihm sagte der Instinkt, daß hier ein Geheimnis verborgen liege, welches das Licht nicht vertrage, ja es scheuen müsse. Es war einfach ein Ding der Unmöglichkeit, daß dieser Junge zweitausend Körner der Schriftweisheit in die Scheunen seines Geistes eingeheimst haben sollte, dieser Junge, dessen Fähigkeiten nicht hinreichend schienen, sich auch nur ein Nutzend solch köstlicher Früchte zu eigen zu machen, Anny Lorenz war stolz und glücklich und bemühte sich, es Vom in ihren Augen lesen zu lassen, der aber wollte nicht hersehen. Sie verwunderte und grämte sich darüber; dann faßte sie Verdacht und paßte auf; ein verstohlener Blick, den sie auffing, sagte ihr Welten und brach ihr armes Herz. Sie war eifersüchtig, zornig, Tränen kamen, sie haßte alle Welt, Tom aber zu allermeist, in ihrem Herzen.

Tom wurde dem Kreisrichter vorgestellt, aber die Junge schien ihm wie gelähmt, sein Atem stockte, sein Herz klopfte zum Zerspringen, teils wegen der furchterregenden Größe des gewaltigen Mannes, hauptsächlich aber, weil er ihr Vater war. Er wäre gerne vor ihm niedergesunken, wenn’s nur dunkel gewesen wäre. Der große Mann legte die Hand auf Toms Haupt, nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Burschen und fragte ihn, wie er heiße. Der Junge stammelte, stotterte und stieß endlich hervor:

»Tom.«

»Nun, doch nicht nur Tom, sondern –«

»Thomas.«

»So ist’s recht, ich dachte mir wohl, es gehöre noch etwas dazu. Du hast aber doch wohl noch einen anderen Namen, denke ich, und den wirst du mir doch auch sagen, nicht?«

»Nenne dem Herrn deinen vollen Namen, Thomas,« mahnte der Vikar, »und sage auch ›mein Herr‹, oder ›Herr Kreisrichter‹, du mußt doch wissen, was sich schickt!«

»Thomas Sawyer – Herr Kreisrichter!«

»So, so ist’s recht, das nenn‘ ich einen guten Jungen. Prächtiger Bursche! Wirklich prächtiger Kerl! Zweitausend Verse ist viel, – sehr viel! Aber, mein Kleiner, du wirst es gewiß nie bereuen, daß du dir so viel Mühe drum gegeben. Wissen ist mehr wert, als alles in der Welt, lernen und etwas wissen macht die großen und die guten Männer im Leben. Auch du wirst wohl einmal ein guter, vielleicht ein großer Mann, Thomas, und dann wirst du auf die Tage deiner Kindheit zurücksehen und sagen: das alles verdanke ich den unbezahlbaren Wohltaten, die ich durch die Sonntagsschule genossen, verdanke es meinen guten Lehrern, die mich zum Lernen anhielten, dem Herrn Vikar, der mich anfeuerte, mich leitete, mir die schöne Bibel schenkte, eine wundervolle, sein gebundene Bibel, die ich behalten durfte und ganz für mich allein besitzen, – alles, alles verdanke ich meiner guten, ausgezeichneten Erziehung. So wirst du sprechen, Thomas, und du ließest dir dann für kein Geld der Welt diese zweitausend Verse abkaufen, – für kein Geld der Welt, niemals! Und jetzt wirst du gewiß dieser Dame und mir etwas mitteilen, was du weißt, was du gelernt hast, nicht wahr? Denn sieh, wir sind stolz auf kleine Jungen, die etwas wissen. Ohne Zweifel kannst du uns doch die Namen der Jünger des Herrn sagen? Du kennst sie gewiß alle zwölf. Sag‘ uns einmal, wer waren die zwei ersten, die ihm nachfolgten?«

Tom hatte währenddessen immerzu an einem Knopf seiner Jacke herumgedreht und möglichst dumm und einfältig dazu ausgesehen. Jetzt wurde er glühend rot und bohrte die Augen beinahe in den Boden. Dem Vikar sank das Herz in die Stiefel, Er wußte, daß der Junge unmöglich die allereinfachste Frage beantworten konnte, warum auch mußte der Herr Kreislichter ihn fragen! Trotzdem fühlte er sich gedrungen, gleichsam ermunternd zu sagen:

»Antworte dem Herrn, Thomas, – fürchte dich doch nicht!«

Tom tat nichts als rot und röter werden.

»Mir wirst du’s doch sagen,« begann nun auch die Dame; »also die Namen der beiden ersten Jünger waren –«

» David und Goliath

Laßt uns den Schleier christlicher Barmherzigkeit über den Rest der Szene breiten. Auch was Tante Polly später zu der Bibel sagte und wie sie sich drüber freute, erwähnen wir besser nicht.

Fünftes Kapitel.

Eine Zahnoperation. – Toms Freund. – Ein Mittel gegen Warzen. – Ein Strafgericht und Fortschritte in der Liebe.

Fünftes Kapitel.

Der Montagmorgen fand Tom sehr niedergeschlagen. Das war eigentlich an jedem Montagmorgen der Fall, denn damit begann ja eine neue Woche der Plage und des Leidens in der Schule. Gewöhnlich begrüßte er diesen Tag mit dem Wunsche, daß es lieber gar keine Feiertage geben möchte, denn das machte die nun wieder aufzunehmenden Ketten der Sklaverei nur um so drückender und fühlbarer.

Tom lag da und dachte nach. Plötzlich kam ihm die leuchtende Idee: wenn er nun krank wäre, dann brauchte er doch nicht zur Schule, Was war die einzige Möglichkeit, Er untersuchte und prüfte sein ganzes Körpersystem, Nirgends fand sich auch nur das geringste Schadhafte, Von neuem prüfte er. Diesmal meinte er leise Anzeichen von kolikartigen Schmerzen zu verspüren, die er mit rasch aufkeimender Hoffnung liebend zu beobachten begann. Trotzdem verringerten sich dieselben aber bei näherer Betrachtung mehr und mehr und waren bald gänzlich verschwunden. Wieder überlegte Tom. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer seiner oberen Zähne wackelte bedenklich, Er frohlockte. Schon begann er sich zu einem tiefen Stöhnen vorzubereiten, das er als Einleitung vorausschicken wollte, als ihm noch zur richtigen Zeit der Gedanke kam, daß, wenn er diesen Beweis von Krankheit ins Feld führe, die Tante ihm einfach den Zahn ausreißen würde, und das tat weh. Damit wollte er also nur im Notfall herausrücken und jetzt erst noch ein bißchen weiterherum denken. Eine Weile war alles Sinnen umsonst, dann erinnerte er sich, wie der Doktor einmal von einem Manne erzählt hatte, dem irgend etwas, Tom wußte nicht mehr genau was, etwas wie kalter Brand oder dergleichen, bei einem schlimmen Finger hinzugetreten sei, daß derselbe zwei bis drei Wochen damit zu tun gehabt und schließlich beinahe den Finger verloren habe. Zum Glück war Tom imstande, eine schlimme Zehe aufzuweisen, die er sich vor ein paar Tagen einmal irgendwo verletzt hatte. Die zog er nun eiligst unter der Decke vor, um sie aufs eingehendste zu prüfen. Damit ließ sich was machen! Leider kannte er die nötigen Symptome nicht, über die er sich beklagen mußte, aber probieren wollte er’s doch auf jeden Fall und so begann er denn laut und tief aufzustöhnen.

Sid aber schlief ruhig und sorglos weiter.

Tom stöhnte lauter und meinte auf einmal wirklich Schmerz in der Zehe zu spüren.

Sid gab kein Zeichen.

Tom leuchte schon förmlich vor Anstrengung. Einen Moment sammelte er neue Kraft, hielt den Atem an und stieß dann eine ordentlich fortlaufende Tonleiter von wunderbar echtem Stöhnen aus.

Sid schnarchte weiter.

Nun wurde Tom ärgerlich. Er begann den hartnäckigen Schläfer zu rütteln und »Sid, Sid« zu rufen. Das wirkte besser und nun begann das Stöhnen von neuem. Sid gähnte, streckte sich, stützte sich dann mit einem letzten Schnarcher auf seinen Ellbogen und starrte nach Tom hin. Tom stöhnte weiter. Endlich ruft Sid:

»Tom, so hör‘ doch, Tom!«

Keine Antwort.

»Nu, Tom, Tom, was ist los?« und er rüttelte ihn und starrte ihm voll Angst ins Gesicht.

Tom stöhnte:

»Ach, Sid, laß los, du tust mir weh!«

»Herr Gott, was gibt’s, Tom? Ich muß die Tante rufen.«

»Nein, laß sein. Es wird schon vorübergehen. Ruf‘ niemand.«

»Doch, natürlich, das muß ich. Stöhn‘ doch nicht so, Tom, das ist ja schrecklich. Wie lang tut dir’s denn schon weh?«

»Ach, stundenlang. Autsch, autsch! Sei doch still, Sid, und laß mich in Ruhe.«

»Warum hast du mich denn nicht früher geweckt? Herr Gott, Tom, hör‘ auf, es macht einen ja elend, dich so stöhnen zu hören. Wo tut dir’s denn weh?«

»Ich verzeih‘ dir alles, Sid, was du mir je getan hast, (Stöhnen.) Alles, alles, Sid! Wenn ich tot bin –«

»O, Tom, du wirst doch nicht sterben? Sag nein, Tom, komm, sag nein. Vielleicht –«

»Ich vergebe allen Menschen, Sid. (Tiefes Stöhnen.) Sag’s allen. Und, Sid, gib du die schöne gelbe Türklinke, die ich habe, und die einäugige Katze dem Mädchen, das neulich erst gekommen ist und sag ihr –«

Aber Sid hatte schon seine Kleider aufgerafft und war verschwunden. Tom litt nun in Wahrheit, so lebhaft arbeitete seine Einbildungskraft und sein Stöhnen fing an erschreckend natürlich zu klingen.

Sid flog die Treppe hinunter und rief atemlos:

»Tante Polly, Tante Polly, komm schnell, Tom stirbt!«

»Stirbt?«

»Ja, ja, eil‘ dich doch, frag‘ nicht lang.«

»Dummheiten! Ich glaub’s nicht.«

Trotzdem aber stürzte sie die Treppe hinauf, so schnell sie ihre alten Beine tragen wollten und Mary hinter ihr her. Blaß war auch sie geworden und ihre Lippen zitterten. Am Bett angelangt, keuchte sie nur so:

»Tom, Tom, was gibt’s, was ist los?«

»Ach, Tante, ich –«

»Was gibt’s – was ist’s, Kind, was fehlt dir?«

»Ach, Tante, ich – ich hab‘ furchtbare Schmerzen da an meiner Zehe, – ich hab‘ – ja ich hab‘, glaub‘ ich – den kalten Brand!«

Erleichtert aufseufzend sank jetzt die arme Tante auf einen Stuhl, lachte ein wenig, weinte ein wenig, tat dann beides zusammen, was sie wieder so weit herstellte, daß sie Worte fand:

»Tom, Bengel, wie hast du mich erschreckt! Jetzt hör‘ aber auf mit dem Unsinn und mach‘, daß du ans dem Bett kommst. Es ist Zeit zum Aufstehen! Vorwärts – oder ich geb‘ dir was, um deinen kalten Brand zu wärmen!«

Das Stöhnen hörte auf und der Schmerz verschwand aus der Zehe. Kleinlaut und niedergedrückt ob des verunglückten Experiments meinte der Junge:

»Tante, wahrhaftig, ich glaubte, es müsse der kalte Brand sein, es tat so furchtbar weh, daß ich gar nicht mehr an meinen Zahn dachte.«

»An deinen Zahn? Was ist denn mit dem Zahn los?«

»Ach, der wackelt und tut gar schrecklich weh.«

»Na, na, nur nicht wieder stöhnen, ist ganz unnötig! Mund auf! Ja, der wackelt richtig, daran stirbst du aber noch lange nicht! Mary, gib mir einen Seidenfaden und hol‘ ein Stück glühende Kohle aus der Küche!«

Eiligst rief Tom, der plötzlich ganz munter wurde: »Bitte, bitte, Tantchen, zieh‘ ihn mir nicht aus, er tut schon gar nicht mehr weh. Ei, ich will des Todes sein, wenn ich noch das geringste spüre! Bitte, bitte, nicht, Tantchen, ich will ja doch wahrhaftig nicht zu Hause und von der Schule wegbleiben.«

»So, du willst nicht zu Hause bleiben, mein Junge, willst durchaus nicht, was? Also deshalb all der Lärm! Wärst wohl gern aus der Schule geblieben und dafür fischen gegangen, gelt? Na, ich kenn‘ dich, Tom, durch und durch, mir machst du keine Flausen vor, du Bengel! Tom, Tom, und ich hab‘ dich doch so lieb und du, – du denkst nur dran, wie du deiner alten Tante das Herz brechen kannst. Geh, schäm‘ dich in deine schwarze Seele hinein!«

Mittlerweile waren die zahnärztlichen Instrumente zur Stelle geschafft worden. Ein Ende des Seidenfadens befestigte die Tante mit einer Schlinge an Toms Zahn, während sie das andere um den Bettpfosten schlang, so daß der Faden straff angespannt war. Dann ergriff sie mit einer Zange die glühende Kohle und fuhr damit geschwind auf Toms Gesicht los. Ein Ruck – und der Zahn hing baumelnd am Bettpfosten.

Wie aber jede überstandene Prüfung ihren Lohn in sich trägt, so auch diese. Als sich Tom später mit der neuerworbenen Zahnlücke auf der Straße zeigte, war er ein Gegenstand des Neides für alle Kameraden, denn keiner von ihnen war imstande, auf solch neue, noch nie dagewesene Weise auszuspucken, wie es nun Tom, durch die Lücke in der Zahnreihe, tat. Er zog ein ganzes Gefolge von Bewunderern hinter sich her, die sich für die Schaustellung interessierten, und ein anderer Junge, der bis dahin, wegen eines verletzten Fingers, der Mittelpunkt der Verehrung und Bewunderung gewesen, sah sich plötzlich all seines Ruhmes beraubt, er mußte ohne Erbarmen dem neu aufstrahlenden Gestirne weichen und zurücktreten in den Schatten des Nichts. Sein Herz war ihm drob schwer, und eine Verachtung heuchelnd, die ihm fern lag, meinte er: das sei auch was Rechtes, so auszuspucken, wie Tom Sawyer. Da schallte ihm ein höhnendes: saure Trauben, saure Trauben! entgegen und beschämt schlich er zur Seite, ein entthronter Held.

Auf dem Wege zur Schule traf Tom den jugendlichen Paria des Ortes, Huckleberry Finn, den Sohn des bekanntesten Stadt-Trunkenboldes. Huckleberry war der Gegenstand des Abscheus und Hasses aller Mütter der Stadt, die ihn fürchteten wie die Pest, weil er faul und zuchtlos, roh und böse war, wie sie dachten, und weil – ihre eigenen Jungen ihn anstaunten und vergötterten, sich förmlich um seine verbotene Gesellschaft rissen und alles drum gegeben haben würden, wenn sie hätten sein dürfen, wie er. Tom, wie alle die anderen »ordentlichen, anständigen Jungen«, beneidete Huckleberry um seine verlockende Existenz, und es war ihm streng untersagt worden, je mit dem »schlechten Kerl« zu spielen. Gerade darum tat er es denn auch gewissenhaft, wenn sich nur irgend Gelegenheit dazu fand – und tat es mit Wonne, Huckleberry steckte immer in alten, abgelegten Kleidern von Erwachsenen, deren Fetzen und Lumpen nur so um ihn herumhingen. Sein Hut war nur die Ruine einer vormaligen Kopfbedeckung, deren Rand zerfetzt auf die Schultern niederbaumelte. Sein Rock, wenn er überhaupt einen trug, hing ihm bis auf die Füße und zeigte die hinteren Knöpfe etwa in der Gegend der Kniekehlen. Nur ein Träger hielt seine Hose an Ort und Stelle, Hosen, deren geräumige Sitzpartie zu leer war und sich nur zuweilen im Winde blähte, während die ausgefransten Enden im Schmutz nachschleiften, wenn sie nicht zufällig aufgekrempelt waren. Huckleberry kam und ging, wie es ihm beliebte. Bei schönem Wetter schlief er auf Treppenstufen oder sonstwo, bei schlechtem in leeren Fässern, alten Kisten, oder wo er eben unterkriechen konnte, wählerisch war er keineswegs. Er brauchte nicht zur Schule, nicht zur Kirche, brauchte niemanden als Herrn anzuerkennen, brauchte keiner lebenden Seele zu gehorchen. Er konnte schwimmen und fischen gehen, wann und wo er wollte, konnte bleiben, solang‘ es ihm behagte. Niemand verbot ihm, sich mit anderen zu prügeln, und abends konnte er aufbleiben bis Mitternacht und länger, ihn zankte keiner. Er war der erste, der barfuß lief im Frühling und der letzte, der im Herbste wieder in das lästige Leder kroch. Zu waschen brauchte er sich nie, zu kämmen auch nicht, noch frische Wäsche anzuziehen, und fluchen konnte er wie ein Alter, wundervoll. Mit einem Wort, alles, alles, was das Leben schön und angenehm macht, besaß dieser beneidete Huckleberry im reichsten Maße. So dachte und fühlte jeder einzelne der armen, geplagten, »anständigen« Jungen in St. Petersburg. Tom rief also natürlich diesen für ihn romantischsten aller Helden sofort an:

»Holla, Huckleberry!«

»Holla, du selber!«

»Was hast du da?«

»Tote Katze.«

»Zeig her, Huck. Herrgott, wie steif! Woher hast du’s?«

»Gekauft von ’nem Jungen.«

»Was hast du dafür gegeben?«

»’ne Schweinsblase und ’nen blauen Zettel.«

»Woher war denn der blaue Zettel?«

»Von Ben Rogers, dem hab ich vor vierzehn Tagen ’ne prachtvolle Gerte dafür gegeben.«

»Zu was kann man denn tote Katzen brauchen, Huck?«

»Zu was? Ei, um Warzen zu vertreiben.«

»Nein! Wahrhaftig? Ich weiß noch was Besseres.«

»Du? Wird was Recht’s sein! Was denn?«

»Wasser aus faulem Holz!«

»Wasser aus faulem Holz! Ist den Kuckuck nix wert.«

»Nichts wert? Hast du’s probiert?«

»Ich nicht, aber Bob Tanner.«

»Wer hat dir’s gesagt?«

»Wer? Ei er hat’s dem Willy Thatcher gesagt und der dem Johnny Baker und der dem Jim Hollis und der dem Ben und der Ben ’nem alten Nigger und der mir. Na, nun weißt du’s!«

»Na und was weiter? ’s ist ja doch nur gelogen! Die lügen alle miteinander, bis auf den Nigger, den kenn‘ ich nicht. Aber ich kenn auch keinen Nigger, der nicht lügt, oder du? Jetzt aber erzähl‘, wie’s der Bob Tanner gemacht hat mit den Warzen, Huck!«

»Na, der hat seine Hand in ’nen alten Baumstumpf gesteckt, in dem Regenwasser war.«

»Am Tag?«

»Natürlich.«

»Mit dem Gesicht nach dem Baum zu?«

»Gewiß, ich glaub‘ wenigstens.«

»Hat er was dazu gesagt?«

»Was weiß ich? – Wahrscheinlich nicht!«

»Aha! Da haben wir’s! Und dann will der Kerl Warzen mit faulem Wasser kurieren und stellt sich so an! Da kann’s natürlich nichts nützen. Ich will dir sagen, wie man’s macht. Erst geht man ganz mutterseelenallein mitten in den Wald, wo man einen alten Baumstumpf mit Wasser weiß und dann, wenn’s Mitternacht ist, stellt man sich mit dem Rücken nach dem Stumpf zu, tunkt die Hand ins Wasser und sagt:

Schreit die Eule, quakt der Frosch, scheint der Mond darauf,
Faules Wasser, Zauberwasser zehr‘ die Warzen auf!

Danach tritt man rasch mit geschlossenen Augen elf Schritt vor, dreht sich dreimal um sich selbst und geht heim, ohne mit jemand ein Wort zu reden. Denn wenn man das tut, ist der Zauber gebrochen!«

»Na, das läßt sich hören, so aber hat’s der Bob nicht gemacht, das weiß ich gewiß!«

»Ja, da hast du wahrlich recht, denn der ist jetzt noch der warzigste Jung‘ in der Schule, und wenn er sich mit dem faulen Wasser nicht dumm angestellt hätte, so brauchte er keine einzige mehr zu haben. Ich bin so schon über tausend Warzen los geworden, Huck. Ich greif‘ so viele Frösche an, daß ich immer ein paar Dutzend Warzen an den Händen habe. Manchmal nehm‘ ich auch eine Bohne.«

»Ja, Bohnen sind gut. Das hab ich schon selbst probiert.«

»Wirklich? Wie machst du’s?«

»Ei, ich nehm die Bohne und schneid sie in zwei Stücke, ritz dann die Warze blutig und tröpfle das Blut auf das eine Stück der Bohne und vergrab das um Mitternacht beim Vollmond am Kreuzweg. Das andere Stück wird verbrannt. Jetzt zieht und zieht das blutige Stück und will das andere nachziehen, und das Blut zieht mit und zieht, bis die Warze fort ist. So mach ich’s.«

»Und das ist auch ganz richtig, Huck, nur hilft’s noch mehr, wenn du beim Vergraben sagst: ›Fort die Bohne, Warze fort, komm nicht mehr zum alten Ort.‹ Das ist ausgezeichnet, sag ich dir. So macht’s Joe Harper und der war schon beinahe in Cronville und fast überall. Aber das mit der toten Katze, das weiß ich nicht.«

»Na, das ist einfach. Du nimmst die tote Katze und gehst auf den Kirchhof, so um Mitternacht herum, auf das Grab von irgendeinem schlechten Kerl. Schlag zwölf kommt dann der Teufel, vielleicht auch zwei oder drei, man sieht sie nur nicht und hören tut man nur so was wie Wind. Und wenn sie dann den Kerl mit sich fortnehmen, schmeißt man ihnen die Katze nach und ruft:

Will der Deubel sich versehn,
Muß die Katze noch drein gehn,
Warze fliegt auch hinterdrein,
Werd‘ alle drei los dann sein!

Das vertreibt dir jede Warze noch vor der Geburt.«

»Klingt nicht übel. Hast du’s mal probiert, Huck?«

»Nee, aber die alte Mutter Josephine hat’s mir gesagt.«

»Na, die muß es wissen, das soll ja ’ne Hexe sein.«

»Soll sein! Ist’s, Tom, ist’s, das weiß ich genau. Die hat meinen Alten behext, das sagt der immer. Wie der einmal an ihr vorbeigegangen ist, hat er grad‘ gesehen, wie sie ihn behext hat, und da hat er einen Stein genommen und den nach ihr geschmissen; wenn die sich nicht gebückt hätt‘, war‘ sie längst keine Hex‘ mehr. Na und in derselbigen Nacht ist mein Alter von einer Mauer gefallen, auf der er gelegen hat und geschlafen, weil er betrunken war und hat den Arm gebrochen.«

»Puh, das ist ja gräßlich! Woran hat er denn gemerkt, daß sie ihn behext?«

»Woran? Ei, das weiß mein Alter ganz genau. Er sagt, wenn sie einen immerzu anstarren und was dazu brummen, dann behexen sie einen, besonders wenn sie brummen und was vor sich hinmurmeln. Dann sagen sie das Vaterunser rückwärts.«

»Sag mal. Huck, wann willst du denn das mit der Katze probieren?«

»Heut nacht. Ich denk, da werden sie den alten Williams holen kommen.«

»Der ist aber schon am Sonnabend begraben worden, Huck, warum haben sie ihn da nicht schon in der Nacht geholt?«

»Na, du redst auch, wie du’s verstehst! Sonnabend Mitternacht ist doch schon Sonntag und da hat kein Teufel mehr was zu suchen hier oben. Der wird sich schwer hüten, sich am Sonntag blicken zu lassen.«

»Daran hab ich freilich nicht gedacht. Wahrhaftig, so ist’s. Darf ich mitgehen?«

»Meinethalben, wenn du dich nicht fürchtest.«

»Fürchten? Na, auch noch! Wirst du miauen vor unserem Haus, wenn’s Zeit ist?«

»Ja, wenn du mich nicht warten läßt. Das letztemal hab ich so lang miauen müssen, bis euer alter Nachbar mit Steinen nach mir warf und auf den Kater fluchte, der ihm keine leibliche Ruhe lasse. Zum Dank hab ich ihm ’nen Backstein durchs Fenster geschmissen, der wird an den Kater denken! Aber verrat‘ du mich nicht.«

»Wo werd‘ ich! Damals hab ich nicht kommen können, weil mir die Tante immer auf den Hacken saß. Heut aber komm‘ ich und wenn’s Feuer und Pech regnet. – Was ist denn das, Huck?«

»Ach, nur ’ne Baumwanze.«

»Woher denn?«

»Aus dem Wald.«

»Was willst du dafür?«

»Ich – ich weiß nicht, ich geb’s gar nicht her.«

»Gut, ’s ist auch nur ’ne ganz lumpig kleine Wanze.«

»Na, das kann jeder sagen, der keine hat. Mir ist sie groß genug, mir ist sie lang gut.«

»Pah, ist auch was Rares! Ich könnt‘ tausend haben, wenn ich nur wollte.«

»Na, warum willst du nicht? Gelt, du weißt warum, Alterchen! Die Baumwanze hier ist was Seltenes, denn ’s ist noch früh für Baumwanzen, Wenigstens ist’s die erste, die ich dies Jahr sehe!«

»Hör‘ du, Huck, ich geb dir meinen schönen Zahn dafür.«

»Zeig her.«

Tom zog ein Stückchen Papier hervor, das er sorgfältig aufrollte. Huck sah prüfend hinein. Die Versuchung war groß. Zuletzt fragte er:

»Ist der auch echt?«

Ohne jede weitere Beteuerung öffnete Tom den Mund, um die Lücke zu zeigen.

»Na, gut,« meinte Huck, »also abgemacht, schlag ein!«

Tom barg die Wanze vorsichtig in einer kleinen Schachtel, die ähnlichem Gewürm schon öfter zum Gefängnis gedient und immer für vorkommende Fälle in Toms Tasche bereit war. Huck sackte den Zahn ein und beide Jungen trennten sich, jeder in dem erhebenden Bewußtsein, einen sehr guten Tausch gemacht zu haben.

Als Tom das kleine, einzeln gelegene Schulhaus erreichte, öffnete er hastig die Türe und eilte auf seinen Platz, als käme er eben mit größtmöglicher Geschwindigkeit direkt von Hause angestürzt. Geschäftig hing er seinen Hut an den Nagel, warf die Bücher auf den Tisch, sich selbst auf die Bank und machte Miene, sich Hals über Kopf in die Arbeit zu stürzen. Der Lehrer, der hoch oben hinter dem Katheder auf einem hochlehnigen Rohrsessel thronte, und der bei der Stille, die das eifrige Summen der lernenden Kinder nur noch einschläfernder machte, ein klein wenig eingenickt war, erwachte von der Unterbrechung:

»Thomas Sawyer!«

Als Tom diesen seinen Namen in unverkürzter Schönheit an sein Ohr schlagen hörte, wußte er, daß es nichts Gutes bedeute.

»Herr Lehrer!«

»Komm einmal hierher zu mir. Warum bist du wie gewöhnlich wieder zu spät dran?«

Eben wollte Tom irgendeine kleine Notlüge zu Hilfe nehmen, als er zwei lange, blonde Schwänze gewahrte, die an einem Rücken niederbaumelten, den er sofort mit dem elektrischen Instinkt der Liebe erkannte. Und neben jenem Rücken war der einzige leere Platz, bei den Mädchen drüben. Schnell gefaßt sagte er daher:

»Ich mußte noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden!«

Dem Lehrer stand der Atem still, hilflos, ungewiß starrte er den kecken Sünder an. Das Summen der Lernenden verstummte, die Kinder trauten ihren Ohren nicht ob dieser offenen Sprache, dachten, Tom müsse verrückt geworden sein. Endlich, nach atemloser Pause, fand der Lehrer Worte:

»Was – was hast du gesagt?«

»Mußte noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden,« wiederholte Tom sorglos.

Ein Mißverständnis war hier nicht möglich.

»Thomas Sawyer, auf dieses ganz außerordentlich erstaunliche Bekenntnis kann nur die Rute antworten, Jacke herunter!«

Und nun tanzte des Lehrers Rute auf Toms Rücken, bis Hand und Arm fast lahm waren und die Rute sich in Wohlgefallen auflöste. Dann folgte der Befehl:

»Jetzt gehst du und setzest dich zur Strafe zu den Mädchen! Und laß dir das als Warnung dienen! Marsch!«

Das Kichern, welches nun das Zimmer durchlief, schien den Jungen sehr verlegen zu machen, in Wahrheit war es aber nur das Bewußtsein, erreicht zu haben, wonach er gestrebt, nämlich sich seiner Gottheit nahen zu dürfen. Standhaft wie ein Märtyrer, hatte er die Prügel ertragen, die gleichsam die dunkle Pforte bildeten, durch die er nun zu seinem Paradiese eingehen sollte. Vorsichtig ließ er sich ganz am äußersten Ende der Bank nieder. Mit einem verächtlichen Zurückwerfen des Kopfes rückte das Mädchen soweit als möglich von ihm weg. Das Flüstern, Köpfezusammenstecken, Kichern und das bedeutungsvolle Anstarren des armen Sünders dauerte noch eine Weile fort, Tom aber schien keine Notiz davon zu nehmen. Still saß er da, hatte die Arme über den Tisch gelegt und sah mit großer Aufmerksamkeit in sein geöffnetes Buch. Allmählich hörte er auf, der Gegenstand der allgemeinen Beachtung und Heiterkeit zu sein, und wieder füllte das gewöhnliche Summen der Schule die sommerlich stille Luft. Jetzt begann Tom verstohlene Blicke nach seiner Göttin zu werfen. Sie bemerkte es, rümpfte das Näschen und wandte eine volle Minute lang den Kopf ab. Als sie verstohlen wieder nach ihrem Banknachbar hinblinzelte, lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stieß ihn weg, Tom legte ihn sorgsam wieder vor sie; wieder stieß sie ihn fort, aber schon mit weniger Heftigkeit. Geduldig schob Tom ihn zurück, da ließ sie ihn liegen. Jetzt kritzelte Tom auf seine Tafel: »Bitte, behalt ihn – ich habe noch mehr.« Sie las die Worte, gab aber kein Zeichen von sich, weder zustimmend, noch verneinend. Jetzt begann der Junge etwas auf seine Tafel zu zeichnen, das er mit der linken Hand vor ihren Blicken barg. Eine Weile lang schien sie sich gar nicht darum zu kümmern, bald aber begann sich menschliche Neugier in ihr zu regen, die sich in allerlei kaum bemerkbaren Zeichen kundgab, Tom zeichnete weiter, anscheinend ganz in sein Werk versunken. Das Mädchen suchte auf unverfängliche Art sich einen Blick auf die Zeichnung zu verschaffen, der Junge aber verriet mit keiner Miene, daß er dies bemerkte. Endlich gab sie nach und flüsterte zögernd:

»Du, laß mich doch mal sehen!«

Tom enthüllte nun das traurige Zerrbild eines Hauses mit zwei windschiefen Giebeln, aus dessen Schornstein ein korkzieherartiges Rauchwölkchen ausschwebte. Jetzt war des Mädchens ganzes Interesse wach, und alles darüber vergessend, folgte sie mit Eifer der Vollendung des Meisterwerks. Als es fertig war, bestaunte sie es einen Moment und flüsterte dann: »Wundervoll – jetzt noch ’nen Mann!«

Der Künstler stellte einen Mann in den Vordergrund, lang wie ein Mastbaum; mit einem Schritt hätte er über das Haus wegsteigen können. Die Zuschauerin aber war nicht kritisch, ihr gefiel das Ungetüm und sie wisperte:

»Der Mann ist prächtig – nun mach‘ mich, wie ich daherkomme!«

Tom malte eine Art Achter mit einem kreisrunden Vollmond oben und vier dünnen Streifen als Arme und Beine. Die sich weit aufspreizenden Finger bedachte er mit einem ungeheuren Fächer. Das Original des Gemäldes fühlte sich geschmeichelt und meinte:

»Nein, wie nett – wenn ich doch zeichnen könnte!«

»Das ist leicht,« flüsterte Tom, »ich will dich’s lehren!«

»O, willst du? Wann?«

»Am Mittag. Gehst du zum Essen heim?«

»Wenn du bleibst, bleib ich auch.«

»Gut, das ist also abgemacht. Wie heißt du?«

»Becky Thatcher. Und du? Ach, ich weiß, Thomas Sawyer.«

»So heiß ich nur, wenn ich Schelte oder Prügel krieg, sonst heiß ich Tom. Du rufst mich Tom, gelt?«

»Ja.«

Jetzt kritzelt Tom was auf die Tafel, mit der linken Hand das Geschriebene zuhaltend. Diesmal wollte sie’s gleich sehen. Tom sagte:

»O, ’s ist nichts.«

»Doch, doch.«

»Nein, ’s ist nichts, es liegt dir gar nichts dran, ob du’s siehst.«

»Doch, nein wirklich, bitte, laß mich sehen.«

»Du wirst’s weiter sagen.«

»Nein, nein und dreimal nein, gewiß und wahrhaftig nicht.«

»Wirst du’s aber auch keinem Menschen sagen, solang du lebst?«

»Nie im Leben, niemand! Nun zeig aber auch.«

»Ach, dir liegt ja doch nichts dran!«

»Jetzt, wenn du so bist, Tom, da muß ich’s sehen –« und sie legte ihre kleine Hand auf die seine, worauf sich ein kleiner Kampf entspann, Tom schien im Ernst widerstreben zu wollen, zog aber seine Hand allmählich doch so weit zurück, daß die Worte sichtbar wurden: »Ich liebe dich.«

»O, du Abscheulicher!« Und sie gab ihm einen tüchtigen Klaps auf die Hand, wurde aber rot und schien gar nicht ungehalten.

Im selben Moment fühlte der Junge einen schicksalsschweren Griff an seinem Ohr, dazu einen unwiderstehlich nach oben ziehenden Drang, und ehe er wußte wie, befand er sich an seinem eigenen Platz, unter dem Feuer gewaltiger Lachsalven der ganzen Schule. Unerbittlich, wie das Schicksal, starrte der Lehrer noch während einiger schrecklicher Momente auf ihn nieder, begab sich aber dann schließlich feierlich zurück nach seinem Thron, ohne ein Wort zu sagen. Und obgleich Toms Ohr brannte, triumphierte sein Herz.

Als der Sturm in der Schule sich wieder gelegt hatte, machte Tom den ernsten Versuch, zu lernen, aber der Sturm in seinem Innern war zu gewaltig. Jetzt sollte er lesen, die Reihe war an ihm, er brachte aber vor Stammeln und Stottern keinen Satz zusammen; dann kam die Geographiestunde, Bei Tom wurden Seen zu Bergen, Berge zu Flüssen und Flüsse zu Inseln, bis das Chaos wieder über die Welt hereingebrochen zu sein schien. Beim Diktatschreiben, in dem er sonst einer der Besten war, stolperte er über die kinderleichtesten Wörter, hatte in einem Diktat von zehn Linien fünfzig Fehler und mußte die bleierne Verdienstmedaille, die er bis dahin für diese seine erste und einzige Kunst mit soviel Stolz getragen, ohne alle Gnade einer würdigeren Brust überliefern.

Sechstes Kapitel.

Wanzendressur und Liebeserklärungen.

Sechstes Kapitel.

Je eifriger Tom sich bemühte, seine Gedanken fest auf das Buch zu heften, um so rastloser schweiften sie rings in der Weite herum. So gab er es denn zuletzt mit einem Seufzer und einem Gähnen auf. Ihm schien die erlösende Mittagsstunde heute niemals schlagen zu wollen. Die Luft draußen war vollständig regungslos, nicht der kleinste Hauch belebte die Stille. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage. Das eintönige Gemurmel der fünfundzwanzig eifrig studierenden Schüler umspann die Seele mit demselben einschläfernden Zauber, der in dem Gesumm der Bienen liegt. Hoch oben am blauen Sommerhimmel schwebten zwei Vögel auf trägen Schwingen, sonst war draußen kein lebendes Wesen zu erblicken, außer einigen Kühen, welche schliefen.

Toms Herz sehnte sich nach Freiheit, oder doch wenigstens danach, irgend etwas von Interesse zu haben, das ihm die schreckliche Langeweile vertreiben helfe. Mechanisch wanderte seine Hand zur Tasche und, siehe da, sein Antlitz erhellte ein Strahl dankbarer Rührung. Verstohlen kam die kleine Schachtel zum Vorschein, die Baumwanze wurde befreit und auf den langen, schmalen Schultisch gesetzt. Die unvernünftige Kreatur erglühte in diesem Augenblick Wohl gleichfalls in tiefster Dankbarkeit, doch diese Wonne kam verfrüht, denn kaum hatte sie sich jubelnden Herzens marschfertig gemacht, als das grausame Schicksal, in Gestalt einer Stecknadel in Toms Hand, ihrem Laufe eine andere Richtung gab.

Toms Busenfreund saß neben ihm, leidend, wie dieser soeben noch gelitten, und zeigte sich augenblicklich von tiefstem, dankbarstem Interesse erfüllt für die neue Unterhaltung. Dieser Busenfreund war Joe Harper. Die ganze Woche hindurch waren die beiden Jungen geschworene Freunde, der Sonnabend nur sah sie regelmäßig als Gegner auf dem Schlachtfelde. Joe zog sofort eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter und begann sich mit Lust und Liebe am Einexerzieren der gefangenen Wanze zu beteiligen. Von Minute zu Minute nahm die Sache an Interesse zu. Bald meinte Tom, daß sie sich gegenseitig nur hinderten und somit keiner den vollen Genuß an der Wanze haben könne. So nahm er denn Joes Tafel vor sich hin auf den Tisch und zog von oben bis unten eine Linie genau durch die Mitte derselben.

»Jetzt,« sagte er, »paß auf! Solang die Wanze auf deiner Seite ist, darfst du sie treiben mit der Nadel und ich laß sie in Ruhe. Brennt sie dir aber durch und kommt zu mir herüber, dann siehst du zu, so lang, bis sie mir wieder durchgeht. Hast du verstanden?«

»Schon gut, nur vorwärts,« trieb der ungeduldige Joe, – »kitzle sie ‚mal ein bißchen!«

Die Wanze entwischte Tom schleunigst und passierte die Linie, nun war die Reihe des »Kitzelns« an Joe, gleich danach hatte sie wiederum den Äquator gekreuzt. Dieser Wechsel wiederholte sich des öfteren. Während nun der eine Junge die unglückselige Baumwanze mit der Nadel anspornte, in nimmer erlahmendem Eifer, schaute der andere in atemloser Spannung zu, die beiden Köpfe waren tief über die Tafel gebeugt, die beiden Seelen schienen der ganzen übrigen Welt wie abgestorben. Endlich wollte sich das launenhafte Glück für Joe entscheiden, an seine Fersen heften. Die Wanze versuchte auf allen möglichen Wegen zu entwischen und wurde bei der Jagd so lebhaft und erregt, wie die Jungen selber. Aber wieder und wieder, gerade als sie den Sieg schon sozusagen in Händen hielt und Toms Finger juckten und zappelten vor Begier, in die Aktion eingreifen zu können, gerade im entscheidenden Moment lenkte Joes Nadel geschickt den Flüchtling nach seiner Seite zurück und wahrte sich den Besitz dieses köstlichen Gutes. Endlich konnte es Tom nicht länger aushalten, die Versuchung war zu groß. So streckte er denn die Hand aus und begann mit seiner Nadel nachzuhelfen. Da aber wurde Joe zornig und rief drohend:

»Tom, laß das bleiben!«

»Ich will dir ja nur ein klein bißchen helfen, Joe.«

»Ach was, helfen! Brauch dich nicht, laß bleiben, sag ich.«

»Kuckuck noch einmal. Ich werd‘ doch auch ein bißchen helfen, dürfen!«

»Laß bleiben, sag ich dir!«

»Ich will aber nicht.«

»Du mußt – die Wanze ist auf meiner Seite.«

»Hör mal zu, Joe Harper. Wem gehört die Wanze denn eigentlich, dir oder mir?«

»Das ist mir ganz einerlei. Eben ist sie auf meiner Seite der Linie und du sollst sie nicht anrühren, oder –«

»Na, wettst du, daß ich’s tu‘? Die Wanze ist mein und ich kann mit ihr machen, was ich will – hol‘ mich der und jener! Her damit, sag ich!«

Ein saftiger Hieb sauste hernieder auf Toms Schultern, ein Zwillingsbruder desselben traf Joes Rücken; zwei Minuten lang waren die Jungen in eine Staubwolke gehüllt, die aus ihren Jacken aufwirbelte, zum ungeheuren Gaudium der ganzen Schule. Die beiden Sünder waren zu versunken gewesen in ihre Beschäftigung, um das verhängnisvolle Schweigen zu bemerken, das eingetreten war, als der Lehrer auf den Fußspitzen nach ihnen hinschlich und dann hinter ihnen stehen blieb. Er hatte eine hübsche Weile der seltenen Beschäftigung zugeschaut, ehe er sich erlaubte, seinen Teil zur Mehrung des Vergnügens beizutragen.

Als die Schule dann um Mittag aus war, flog Tom auf Becky Thatcher zu und wisperte ihr ins Ohr:

»Setz deinen Hut auf und tu‘, als ob du heim wolltest. Wenn du an der Ecke bist, laß die andern laufen und komm durchs Heckengäßchen zurück. Ich mach’s grad‘ auch so.«

So ging also jedes der beiden mit einem andern Haufen Kinder ab, am Ende des Heckenpfades trafen sie einander, und als sie dann zusammen die Schule erreichten, hatten sie dieselbe ganz für sich allein. Sie setzten sich nebeneinander, nahmen eine Tafel vor und Tom führte Beckys mit dem Griffel bewaffnete Hand sorgsam mit der seinen und schuf ein neues erstaunliches Wunder von Haus. Als das Interesse an der Kunst etwas zu erlahmen begann, machten sich die zwei ans Plaudern. Tom schwamm in einem Meer von Wonne. Jetzt fragte er:

»Magst du Ratten?«

»Puh nein, ich kann sie nicht ausstehen.«

»Ich auch nicht – lebendige wenigstens. Aber tote, mein‘ ich, die man an eine Schnur bindet und um seinen Kopf schwingt.«

»Nee, ich mach mir überhaupt nicht viel aus Ratten, so oder so. Was ich gern mag, ist Süßholz!«

»Das glaub‘ ich. Wollt‘, ich hätt‘ ein Stück!«

»Wirklich? Ich hab eins. Da, du kannst ein bißchen dran kauen, mußt mir’s aber dann wiedergeben, gelt?«

Das war nun eine wundervolle Beschäftigung. So kauten sie denn abwechselnd und baumelten dazu mit den Beinen gegen die Bank im Übermaß wonnigsten Behagens.

»Warst du schon einmal im Zirkus?« fragte Tom.

»Ja, und ich darf wieder hin, hat Papa versprochen, wenn ich sehr brav bin.«

»Ich war schon drei- oder viermal – nee noch viel, viel öfter dort. Die Kirche ist gar nichts dagegen! Im Zirkus ist immer was los. Wenn ich mal groß bin, werd‘ ich Hanswurst!«

»Wahrhaftig? Das wird reizend! Die sind immer so wunderhübsch gefleckt, Hosen und Jacke und alles.«

»Das ist wahr. Und sie verdienen Haufen von Geld – beinahe ’nen Dollar im Tag, meint Ben Rogers, Sag mal, Becky, warst du schon mal verlobt?«

»Was ist denn das?«

»Na, verlobt – wenn man sich heiraten will.«

»Nein, nie.«

»Möchtest du’s gern?«

»Vielleicht, ich weiß nicht. Wie ist’s denn ungefähr?«

»Wie’s ist? Ja, wie gar nichts eigentlich. Du brauchst nur ’nem Jungen zu sagen, du wolltest keinen andern haben als ihn, nie, nie und nimmer, dann gibst du ihm ’nen Kuß und die Geschichte ist fertig. Das kann doch ein kleines Kind – nicht?«

»’nen Kuß? Warum denn den?«

»Ja, das muß man, weil, – kurz sie tun’s eben alle, das gehört dazu.«

»Alle tun’s?«

»Ja, alle die ineinander verliebt sind. Weißt du noch, was ich dir auf die Tafel geschrieben habe?«

»J–ja.«

»Was denn?«

»Ich sag’s nicht.«

»Soll ich’s sagen?«

»J–ja – aber ein andermal.«

»Nein, jetzt.«

»Nein, nicht jetzt – morgen.«

»Ach nein, jetzt, bitte, bitte, Becky. Ich will’s auch nur ganz, ganz leise sagen. Soll ich?«

Da Becky zögerte, nahm Tom ihr Schweigen für Zustimmung, schlang den Arm um sie, legte den Mund dicht an ihr Ohr und flüsterte ihr leise, leise die uralte Zauberformel zu. Dann fuhr er ermunternd fort:

»Jetzt bist du dran. Nun mußt du’s sagen – ganz dasselbe.«

Eine Weile widerstand sie und bat dann:

»Du mußt dein Gesicht dorthin drehen, daß du mich nicht sehen kannst, dann sag ich’s. Du darfst’s aber keinem, keinem Menschen wiedersagen, gelt Tom, das versprichst du, gelt?«

»Nie im Leben, Becky, gewiß und wahrhaftig. Na – denn los!«

Er wandte den Kopf ab, sie beugte sich schüchtern zu ihm, bis ihr Atem seine Wange streifte und seine Locken bewegte und flüsterte: »Ich – liebe – dich.«

Dann sprang sie auf, rannte um Bänke und Tische, Tom immer hinterdrein, nahm zuletzt Zuflucht in einer Ecke des Zimmers und drückte ihr Gesichtchen fest in die weiße kleine Schürze, Tom schlang die Arme um ihren Hals und bat:

»Jetzt, Becky, ist’s ja beinahe vorbei – nur noch der Kuß. Du brauchst dich doch davor nicht zu fürchten, das ist ja gar nichts. Bitte, Becky.«

Und er versuchte Schürze und Hände vom kleinen Gesicht zu lösen.

Allmählich gab sie nach und ließ die Hände sinken. Das Gesichtchen, ganz rot und erhitzt von der Anstrengung, kam zum Vorschein und unterwarf sich der Prozedur. Tom küßte die roten Lippen und sagte:

»So, jetzt ist’s geschehen, Becky. Und von jetzt an, weißt du, darfst du nur mich lieben und heiraten und gar, gar keinen andern, nie, niemals, in alle Ewigkeit nicht. Willst du?«

»Nein, ich will nie ’nen andern lieben, Tom, und nie ’nen andern heiraten als dich, aber du darfst’s auch nicht tun, Tom, darfst auch nie ’ne andere heiraten wollen.«

»Gewiß! Natürlich, das gehört auch dazu. Und immer auf dem Weg zur Schule oder nach Hause mußt du mit mir gehen, wenn’s niemand sieht, und bei Gesellschaften wähl ich dich und du mich zum Spiel, denn so macht man’s, wenn man verlobt ist.«

»Nein, wie hübsch! Davon hab ich noch gar nichts gewußt.«

»Ja, ’s ist schrecklich lustig. Ei, ich und Anny Lorenz –«

Beckys große, erschreckte Augen verrieten Tom sofort seinen Mißgriff. Verwirrt hielt er ein.

»O, Tom. Ich bin also nicht die erste, mit der du verlobt bist?«

Ihre Tränen flossen. Tom tröstete:

»Wein nicht, Becky. Ich mach mir gar nichts mehr aus der.«

»Doch, Tom, doch – du weißt selbst, daß du dir noch ‚was aus ihr machst …«

Tom versuchte den Arm um ihren Hals zu legen, sie aber stieß ihn fort, wandte das Gesicht der Wand zu und schluchzte herzbrechend weiter. Tom versuchte es noch einmal mit sanft zuredenden Worten und wurde wieder zurückgewiesen. Nun regte sich sein Stolz, stumm schritt er der Türe zu und ging hinaus. Draußen drückte er sich eine Weile herum, rastlos und unbehaglich, von Zeit zu Zeit nach der Türe schielend, in der Hoffnung, sie würde bereuen und kommen, ihn zurückzuholen. Sie aber kam nicht. Nun wurde ihm schlecht zumute und er begann zu fürchten, daß er selber im Unrecht sei. Es kostete ihn einen harten Kampf, noch einmal Annäherungsversuche zu machen, doch wappnete er sich schließlich mit Mannesmut und ging hinein. Dort stand Becky noch in ihrem Winkel und weinte, das Gesicht gegen die Wand gepreßt. Toms Herz krampfte sich zusammen bei dem Anblick. Er trat zu ihr, im Moment ratlos, wie er die Verhandlungen einleiten sollte. Endlich stieß er zögernd hervor:

»Becky, ich – ich mag keine andre mehr sehen, als dich.«

(Keine Antwort – nur erneutes Schluchzen.)

»Becky,« – (bittend).

»Becky, willst du mir gar nichts sagen?«

(Heftiges Schluchzen.)

Tom grub in seinen Taschen und brachte endlich das Kleinod seines Herzens, den Messingknopf irgendeines alten Deckels, zum Vorschein, hielt ihr denselben vor, so daß sie ihn sehen konnte und sagte in einladendem Tone:

»Bitte, Becky, nimm doch das da, sieh mal her!«

Sie aber schlug’s unbesehen zu Boden, Nun wandte sich Tom wortlos, schritt aus dem Hause und suchte das Weite, um für diesen Tag nicht zur Schule zurückzukehren. Bald ward es Becky klar, was sie verscherzt hatte. Sie rannte nach der Türe, auf den Hof, flog um die Ecke des Hauses – er war nicht mehr zu sehen. Nun erhob sie die Stimme:

»Tom, Tom, komm zurück, Tom!«

Atemlos lauschte sie, keine Antwort. Ihre einzigen Gefährten waren Schweigen und Einsamkeit, Wieder setzte sie sich, um zu weinen, und als dann die Schüler zu den Nachmittagsstunden herbeizuströmen begannen, mußte sie ihre Trauer bergen, ihr gebrochenes Herz zur Ruhe bringen und das Kreuz eines langen, trübseligen, schmerzvollen Nachmittags auf sich nehmen, ohne unter diesen Fremden auch nur eine fühlende Brust zu haben, die ihren Schmerz hätte teilen können. –

Siebentes Kapitel.

Die Schatzkammer. – Ein Kapitel aus Walter Scott.

Siebentes Kapitel.

Tom schlich sich fort auf Seitenpfaden bald zur Rechten und bald zur Linken, um den Späheraugen der zur Schule zurückpilgernden Kinder zu entgehen. Er setzte einige Male über einen kleinen Bach, da kreuzweises Überschreiten von Wasser ein gutes Mittel sein sollte, sich geplanter Verfolgung sicher zu entziehen. Eine halbe Stunde später sah man ihn oben hinter dem letzten hochgelegenen Haus des Städtchens verschwinden, die Schule lag wie im Nebel weit hinter ihm. Nun kam er in einen dichten Wald, bahnte sich mühsam einen Weg recht ins Dickicht hinein und warf sich ins weiche Moos unter einer breitästigen Eiche nieder. Nicht ein Lüftchen regte sich, die brütende Mittagsglut hatte selbst den Sang der Vöglein verstummen machen. Die ganze Natur lag regungslos, wie in Verzückung, nur das gelegentliche, wie aus weiter Ferne ertönende Hämmern eines Spechtes unterbrach die lautlose Stille und schien die ringsum herrschende Einsamkeit nur noch lastender und fühlbarer zu machen. Des Knaben Seele badete sich gleichsam in Schwermut, seine Gefühle befanden sich im glücklichsten Einklang mit der Umgebung. Lange saß er so, die Ellbogen auf die Knie, das Gesicht in die Hände gestützt und dachte nach. Ihm schien das Leben im besten Falle nur eine Last zu sein und er beneidete beinahe den Jimmy Hodges, der kürzlich von dieser Last erlöst worden war. So friedlich und schön dachte er’s sich, da unten zu liegen, zu schlummern und zu träumen für immer und immer, während der Wind in den Bäumen spielte und mit den Blumen und Gräsern koste, die auf dem Grabe standen. Da gab es dann nichts mehr, über das man sich zu quälen und zu grämen brauchte. Wenn nur sein Sonntagsschulgewissen rein wäre, wie gerne würde er der ganzen Welt Valet sagen. Und was jenes Mädchen betraf – was hatte er eigentlich getan? Nichts. Er hatte es so gut gemeint, wie nur einer in der Welt und war behandelt worden wie ein Hund, – wie ein elender Hund. Sie würde es bereuen eines Tags – wenn es zu spät wäre vielleicht. Ach, wenn er nur sterben könnte, nur für einige Zeit!

Das elastische Herz der Jugend aber läßt sich nicht lange in ein und dieselbe Form zusammenpressen. Tom glitt alsbald wieder ganz unmerklich in die Interessen dieses Lebens zurück. Wie, wenn er allem den Rücken kehrte und geheimnisvoll verschwände? Oder wenn er davonwanderte, weit, weit, ewig weit fort, in ferne fremde Länder jenseits der See und niemals wiederkäme? Wie würde Becky zumute sein? Der Gedanke, ein Hanswurst zu werden, stieg auch wieder in ihm auf, aber er wies ihn mit Ekel von sich. Tollheit und Witze nebst gesprenkelten Trikots waren jetzt förmlich eine Beleidigung für seinen Geist, der sich in das nebelhafte, hehre Gebiet der Romantik aufgeschwungen hatte. Nein, ein Soldat wollte er werden und nach langen, langen Jahren wiederkehren, kriegsmüde, ruhmbedeckt. Oder, noch besser! Er wollte zu den Indianern gehen, Büffel jagen, den Kriegspfad beschreiten in den wilden Bergen und unermeßlich weiten Ebenen des »fernen Westens« und dann einmal in grauer Zukunft zurückkehren als großer Häuptling, starrend von Federn, scheußlich bemalt und an einem schläfrigen Sommermorgen mit gellendem Kriegsgeheul, welches das Blut gerinnen machte, in die Sonntagsschule einbrechen, wo die Herzen und Augen seiner Kameraden ihn förmlich verzehren würden vor sengendem Neid. Halt, es gab noch etwas Größeres als selbst dieses? Ein Seeräuber wollte er werden! Das war’s. Jetzt lag seine Zukunft klar vor ihm, strahlend in unsagbar blendendem Glänze. Wie würde sein Name die Welt erfüllen und alle Menschen schaudern und erbeben machen! Wie glorreich würde er auf seinem langen, niedrigen, kohlschwarzen Schnellsegler »Sturmesfittich« die wogenden Wellen der See durchfurchen, während die düstere Flagge vom Vordermast wehte, ein gefürchtetes Zeichen auf allen Meeren. Und, auf dem Gipfel seines Ruhmes angelangt, wie wollte er plötzlich im alten Städtchen erscheinen, in die Kirche treten, braun und verwettert, in seinem schwarzen Samtwams und der faltigen Pluderhose, seinen hohen Stulpstiefeln, der roten Schärpe und dem mit wallenden Federn besteckten Schlapphut, den Gürtel starrend von Reiterpistolen, das in blutigen Metzeleien eingerostete Schwert an der Seite; sodann wollte er die schwarze Flagge mit dem Totenschädel und den gekreuzten Gebeinen darauf entfalten und mit einem das Heiz zum Zerbersten schwellenden Entzücken das Raunen und Flüstern hören: »Seht, das ist Tom Sawyer, der Pirat! Der schwarze Würger der spanischen Meere!«

Ja, nun war’s entschieden, seine Laufbahn festgestellt. Er wollte von Hause weglaufen und dieselbe sofort antreten. Gleich am nächsten Morgen wollte er’s tun! Drum mußte er aber auch sofort an die Vorbereitungen gehen. Es galt zunächst, all seine Reichtümer zusammenzutragen. So ging er denn zu einem verfaulten Baumstamm in der Nähe und begann an einem Ende desselben mit seinem Messer den Boden aufzuwühlen. Bald kam er auf Holz, das hohl klang. Er legte die Hand darauf und sprach andächtig die Beschwörungsformel:

» Erscheine, was nicht hier,
Und was schon hier war, bleibe

Dann kratzte er die Erde vollends weg und legte eine fichtene Schindel bloß. Diese hob er empor und nun zeigte sich eine schmucke, kleine Schatzkammer, deren Boden und Wände ebenfalls aus Schindeln bestanden. Eine einzige Glaskugel lag darinnen. Toms Erstaunen war grenzenlos. Verblüfft kratzte er sich am Kopfe und sagte:

»Na, das übersteigt denn doch alles!«

Darauf schleuderte er die Kugel zornig von sich und überlegte die Sache, tief in Brüten versunken. Einer seiner festesten Glaubenssätze, die bis jetzt ihm und seinen Kameraden für unfehlbar gegolten, war soeben ins Wanken geraten. Wenn man eine solche Kugel vergrub, so hieß es, und die nötigen Formalitäten dabei streng befolgte, dann, nach vierzehn Tagen an dem Platz wieder nachsah mit ebender Formel, die Tom gesprochen, so würde man alle Kugeln, die man jemals im Leben verloren, um die eingegrabene versammelt finden, einerlei, wieweit zerstreut sie gewesen. So lautete der Satz. Und nun war das Ding fehlgeschlagen, fraglos, zweifellos fehlgeschlagen. Toms ganzes Glaubensgebäude wankte in seinen Grundfesten. Immer nur hatte er von dem Erfolg, niemals von dem Mißglücken dieses Verfahrens gehört. Er selbst hatte es schon einige Male probiert, und nur keinen Erfolg gehabt, weil er nie das Versteck wieder auffinden konnte. Ratlos brütete er eine Zeitlang über der Sache und kam schließlich zu der Einsicht, daß irgendeine Hexe die Hand im Spiel gehabt und den Zauber gebrochen haben müsse. Davon wollte er sich nun überzeugen. So suchte er denn herum, bis er einen kleinen sandigen Fleck entdeckte mit einer trichterförmigen Vertiefung in der Mitte, Er legte sich flach auf den Boden, hielt den Mund dicht an diese kleine Höhlung und rief:

»Faulpelzkäfer, Faulpelz du,
Sag mir, was du weißt, im Nu!«

Na begann es im Sande zu arbeiten, und gleich danach erschien auf einen Augenblick ein kleiner, schwarzer Käfer an der Oberfläche, der sich aber alsbald erschreckt wieder zurückzog.

»Haha! Der wagt’s nicht, was zu sagen. ’s war also richtig eine Hexe! Hab mir’s doch gedacht!«

Da er die Fruchtlosigkeit eines Versuchs, es mit Hexen und Dämonen irgendwelcher Art aufnehmen zu wollen, kannte, so gab er dies sofort entmutigt auf. Dann fiel ihm ein, daß er doch wenigstens die Kugel nehmen sollte, die er weggeworfen im ersten Zorn und er begab sich geduldig ans Suchen, konnte sie aber nicht finden. Nun ging er zur Schatzkammer zurück, stellte sich sorgfältig wieder gerade so hin, wie er zuvor gestanden, als er die Kugel weggeschleudert, nahm eine zweite Kugel aus der Tasche, warf diese nach derselben Richtung und sagte:

»Bruder, such den Bruder flink!«

Genau paßte er auf, wo sie hinflog, ging dann hin und sah nach. Entweder war sie zu kurz oder zu weit geflogen, noch zweimal mußte er dasselbe Experiment wiederholen. Das letztemal war es von Erfolg begleitet. Die beiden Kugeln lagen nur einen Fuß weit voneinander entfernt.

Gerade im selben Moment ertönte von fern der schwache Klang einer Blechtrompete durch die grünen Bogengänge des Waldes. Im Nu hatte sich Tom seiner Jacke und Hosen entledigt, einen Hosenträger in einen Gürtel verwandelt, einen Haufen Gestrüpp hinter dem faulenden Holzstamm beiseite geschoben, sich eines Bogens samt Pfeilen, eines hölzernen Schwertes und einer Blechtrompete bemächtigt und stürzte nun davon, barfuß, in flatterndem Hemde, Bald darauf machte er Halt unter einer großen Ulme, stieß antwortend seinerseits ins Horn, begann dann sich zu recken und kriegerisch nach allen Seiten auszuspähen. Vorsichtig mahnte er eine, nur im Geiste vorhandene Schar von Getreuen:

»Haltet euch still, meine Tapferen! Versteckt euch, bis ich blase!«

Jetzt erschien Joe Harper auf der Bildfläche, ebenso luftig gekleidet und ebenso furchtbar gewappnet wie Tom. Da rief dieser:

»Halt! Wer wagt es, den Sherwoodforst zu betreten ohne meine Erlaubnis?«

»Guy von Guisborne bedarf keines Sterblichen Erlaubnis. Wer bist du, der du – der du –«

»Es wagst, eine solche Sprache zu führen,« fiel Tom schnell ein, denn sie sprachen »nach dem Buche« aus dem Gedächtnisse.

»Wer bist du, der du es wagst, eine solche Sprache zu führen?«

»Ich, fragst du, wer ich sei? Ich bin Robin Hood, was dein klapperndes Gebein alsbald erfahren soll.«

»Du wärest in der Tat jener berühmte Geächtete? Mit Freuden will ich mit dir um das Recht der Herrschaft in diesem fröhlichen Forst ringen. Sieh dich vor!«

Beide zogen ihre Lattenschwerter und ließen die andern Waffen zu Boden fallen, nahmen Fechterstellung ein, Fuß an Fuß, und begannen einen ernsten, regelrechten Kampf: »Zwei Hiebe oben, zwei unten.« Alsbald rief Tom:

»So, wenn du’s loshast, laß uns mal schneller ‚ringehen!«

Und sie gingen »schneller ‚rin«, bis sie keuchten und schwitzten vor Anstrengung. Nun brüllt Tom:

»Fall doch, fall, warum fällst du nicht?«

»Ich? Fall du selber. Du kriegst die dicksten Hiebe.«

»Darauf kommt’s gar nicht an. Ich kann nicht fallen. So steht’s nicht im Buch, Dort heißt’s: ›Und mit einem gewaltigen Streiche von rückwärts fällte er den armen Guy von Guisborne!‹ Du mußt dich also umdrehen und ich hau dich von hinten nieder.«

Um diese Autorität war nun nicht herumzukommen, Joe drehte sich, erhielt seinen Streich und fiel.

»Jetzt aber,« rief Joe, der ebenso flink wieder emporschnellte, »ist die Reihe an mir, dich totzuhauen. Los also, dreh dich um – was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Nun, wird’s bald?«

»Ja, aber, Joe, das kann ich doch nicht, so steht’s ja gar nicht im Buch.«

»Na, das ist dann einfach eine Gemeinheit, weiter sag ich gar nichts.«

»Du, hör mal, Joe, du könntest ja der Bruder Tuck sein oder Much, der Müllerssohn, und mich mit einem Prügel für Zeit meines Lebens lahm hauen. Oder, wart‘, ich weiß noch was Besseres. Du bist Robin Hood für ein Weilchen und ich der Sheriff von Nottingham, und du haust mich tot.«

Damit war nun Joe zufrieden, und so wurden denn beide Abenteuer mit der nötigen Feierlichkeit in Szene gesetzt. Dann verwandelte sich Tom wieder in Robin Hood und Joe, der die verräterische Nonne vorstellte, ließ ihn sich an seiner Wunde zu Tode bluten. Zuletzt schleifte ihn der vielseitige Joe, der nun eine ganze Bande trauernder Räuber darstellte, nach vorn, legte Bogen und Pfeil in die zitternden Hände des Sterbenden und dieser hauchte: »Wo dieser Pfeil niedersinken wird, da verscharret die Reste des armen Robin Hood unter den Bäumen des Waldes.« Der Pfeil entschwirrte der Sehne, Tom fiel zurück und würde gestorben sein, wenn er nicht zufällig in einen Nesselbusch gesunken und für eine Leiche etwas allzu lebhaft emporgesprungen wäre.

Drauf steckten sich die Jungen wieder in ihre Kleider, verbargen ihre Waffenausrüstung und zogen von dannen, in Trauer versunken darüber, daß das Zeitalter der Geächteten und Räuber entschwunden war. Vergeblich fragten sie sich, welche Errungenschaft moderner Gesittung wohl diesen Verlust aufzuwiegen vermöchte. Ihrem eigenen Gefühl nach wären die beiden weit lieber ein einziges kurzes Jahr lang Räuber, verfemte, geächtete Räuber im Sherwoodforste gewesen, als Präsident der Vereinigten Staaten auf Lebenszeit.

Einunddreißigstes Kapitel.

Tom und Huck werden reich.

Einunddreißigstes Kapitel.

Kaum war sie weg, so stürzte Huck zum Fenster, riß es auf und flüsterte drängend:

»Tom, wir können zum Fenster hinaus, wenn wir einen Strick finden, es geht nicht hoch hinunter.«

»Dummes Zeug! Weshalb sollten wir zum Fenster hinaus?«

»Ich – ich kann so ’nen Haufen Menschen nicht vertragen, bin nicht dran gewöhnt. Ich geh nicht wieder hinunter, Tom.«

»Dummheit! Ist auch was Rechtes. Mir ist’s ganz einerlei. Wart, ich geh acht auf dich und helf dir!«

Sid erschien.

»Tom,« sagte er, »die Tante hat den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Mary hat deine Sonntagskleider zurechtgelegt und jeder hat sich deinethalben abgeängstigt. Sag mal, ist das nicht Lehm und Talg auf deinen Kleidern?«

»Na, junger Mann, ich rat dir, kümmere dich nur um deine Sachen. Weshalb ist denn der ganze Lärm?«

»Ei, ’s ist ’ne Gesellschaft, wie sie die Witwe oft hat, und diesmal zu Ehren vom alten Jones und seinen Söhnen, weil sie ihr neulich nachts so aus der Patsche geholfen haben. Na und hör‘ mal, ich weiß noch was, wenn du’s wissen willst.«

»Na und was?«

»Ei, der alte Jones will die Gesellschaft noch mit was überraschen, hab’s gehört, wie er’s heut mittag der Tante erzählte, als ’n Geheimnis natürlich, ist aber kein großes Geheimnis mehr. Jeder weiß es, – die Witwe auch, obgleich die sich stellt, als wisse sie nichts. Herr Gott, hat sich der alte Jones abgesorgt, ob auch der Huck gewiß da sei heut abend, – ohne den war ja sein großes Geheimnis keine Bohne wert gewesen, weißt du!«

»Geheimnis – wieso, Sid?«

»Ei einfach, daß Huck damals hinter den Kerlen hergeschlichen ist bis zum Zaun hier, weiter gar nichts. Der Alte wollt‘ ’nen großen Hopphei draus machen heut abend, ’s wird aber wohl ‚en bißchen schwach ausfallen.«

Und Sid lachte hämisch und selbstzufrieden in sich hinein.

»Sid, hast du’s verraten?«

»Was liegt dran, wer’s verraten hat? – einer hat’s getan, soviel ist sicher.«

»Sid, ich weiß nur einen solchen Kerl im Städtchen, der elend genug ist, so was zu tun, und der bist du! Wenn du Huck gewesen wärst, du hättst dich heim ins warme Nest geschlichen und die Räuber Räuber sein lassen. Du kannst immer nur was Gemeines tun und kannst’s nicht hören, wenn andere gelobt werden, weil sie was Schönes und was Gutes getan haben. So, da hast du was – ›keinen Dank‹, wie Frau Douglas unten sagt.«

Dabei schlug Tom Sid eins hinter die Ohren und beförderte ihn mit einigen Fußtritten zur Türe hinaus. »Lauf doch hin und sag’s der Tante, wenn du’s Herz dazu hast, will dir’s dann morgen gedenken.«

Einige Minuten später waren die Gäste um den Eßtisch der Witwe versammelt. Zur gegebenen Zeit hielt dann Herr Jones seine Rede, in welcher er der gütigen Wirtin dankte für die Ehre, die sie ihm und seinen Söhnen erwiesen, daß aber ein anderer, der auch anwesend sei, weit mehr Dank –

Und so weiter und so fort. Nun brachte er das große Geheimnis über Hucks Anteil an der Sache ans Licht und tat’s in der dramatischsten Weise, die ihm zu Gebote stand. Die Überraschung aber, die das Mitgeteilte hervorrief, war etwas künstlicher Natur und lange nicht so lebhaft und herzlich, wie sie unter glücklicheren Umständen hätte sein können. Die Witwe selber freilich verstand es sehr gut, das größte Erstaunen zur Schau zu tragen, und überhäufte Huck mit einem solchen Übermaß von Dank und Lobsprüchen, daß dieser das nahezu unerträgliche Mißbehagen, welches ihm die neuen Kleider bereiteten, über dem völlig unerträglichen Mißbehagen, die Zielscheibe von jedermanns Blicken und jedermanns Beifallsbezeigungen zu sein, ganz vergaß.

Witwe Douglas erbot sich, Huck ein Heim in ihrem Hause zu bieten, ihn erziehen zu lassen und ihn später, soviel in ihren Kräften stehe, zu unterstützen. Jetzt blühte Toms Weizen und er löste seine Zunge:

»Huck braucht das gar nicht, Huck ist reich genug!«

Nur der Zwang, den die gute Lebensart der Gesellschaft auferlegte, war imstande, einen Ausbruch des Gelächters über diesen vermeintlichen guten Witz zurückzuhalten; das herrschende Schweigen war aber etwas unbehaglich. Tom brach es alsbald.

»Huck ist reich, sag ich, er hat Geld, Ihr glaubt’s vielleicht nicht, aber er hat Haufen von Geld. Braucht gar nicht zu lachen, werd’s euch gleich beweisen. Wartet nur ’ne Minute!«

Er rannte zur Tür hinaus. Die Anwesenden blickten zuerst einander voll ungläubigen Staunens an und dann fragend auf Huck, der wortlos dasaß.

»Sid, was hat wohl der Tom?« fragte Tante Polly ängstlich – »er – na da werd‘ mal einer klug aus dem Bengel. Ich –«

Da trat Tom wieder ein, gebeugt unter der Last seiner Geldsäcke, und Tante Polly mußte den Satz unbeendet lassen. Tom leerte den Haufen blinkenden Goldes auf den Tisch und rief triumphierend:

»Da – was hab‘ ich euch gesagt? Die Hälfte davon gehört Huck und die andere Hälfte mir!«

Der Anblick des Geldes benahm allen den Atem. Alles starrte auf die glänzenden Goldstücke und niemand fand Worte im eisten Augenblick, Dann erhob sich ein allgemeiner Ruf nach Aufklärung. Tom sagte, die könne er geben, und er tat’s. Die Geschichte war lang, aber unsagbar interessant, nur ab und zu kärglich eingestreute Bemerkungen der atemlos lauschenden Zuhörer unterbrachen den fesselnden Reiz derselben. Als Tom zu Ende war, meinte der alte Jones:

»Hab‘ ich da vorhin der Gesellschaft ’ne kleine Überraschung bereiten wollen, – ’s ist aber rein nichts gegen das da, Tom, der Teufelskerl, hat mich schön übertrumpft, das muß ich sagen! Geb’s aber gern zu, weiß Gott, geb’s gern zu!«

Das Geld wurde nun gezählt. Die Summe belief sich auf etwas über zwölftausend Dollars. Es war mehr, als irgendeiner der Anwesenden jemals beisammen gesehen, obgleich sich einige darunter befanden, die weit mehr als das an Grundbesitz ihr eigen nannten.