XXXV.


XXXV.

Die Nacht vom 21. zum 22. December. – Der Bootsmann stürzt nach dem Jöllseile, welches das Segel hält, und sofort wird die Stenge herabgelassen. Es war hohe Zeit, denn der Sturmwind braust furchtbar über uns hin. Ohne den warnenden Zuruf des Matrosen wären wir wohl halb umgeworfen worden. Das Zelt am Hintertheile reißt ein Windstoß weg.

Wenn das Floß nun auch vom Winde nicht mehr viel zu fürchten hat, da es zu flach ist, um ihm viel Angriffsfläche zu bieten, so ist das desto mehr bezüglich der ungeheuren Wellen der Fall, die der Orkan aufthürmt. Wenige Minuten hindurch schienen die Wogen wie niedergehalten und abgeplattet durch den Druck der Luftschichten; desto wüthender aber schwellen sie jetzt mehr als vorher in die Höhe.

Das Floß folgt den regellosen Bewegungen des empörten Wassers, und wenn es auch ebenso wenig von seiner Stelle weicht, so erzittert es doch unter einem fortwährenden Hin- und Herschwanken.

»Anbinden! Anbinden!« ruft der Hochbootsmann und wirft uns Seile zu.

Robert Kurtis ist uns zu Hilfe gesprungen, und bald sind die Herren Letourneur, Falsten und ich fest an das Gestell des Flosses geknüpft und können so lange bestimmt nicht fortgerissen werden, als jenes noch selbst zusammenhält. Miß Herbey hat sich an einen jener starken Pfähle gebunden, die ehedem unser Zeltdach trugen, und beim Scheine der Blitze sehe ich ihr immer heiteres Antlitz.

Ununterbrochen blendet jetzt das Feuer des Himmels und krachen die Donnerschläge. Dabei steht das ganze Dunstgewölbe um und über uns in Flammen. Auch vom Oceane möchte man wohl dasselbe sagen, und ich habe mehrere von den Wellen aufschlagende Blitze gesehen, welche gabelartig gespalten nach dem Firmamente züngelten. In der ganzen Atmosphäre verbreitet sich ein widerwärtiger Geruch nach Schwefel, bis jetzt ist aber das Floß von den Blitzstrahlen, welche nur die Wogen trafen, verschont geblieben.

Um zwei Uhr Morgens rast das Unwetter in voller Wuth. Der Wind ist zum Orkan geworden, und der entsetzliche Seegang droht unser Floß zu zerreißen. Der Zimmermann Daoulas, Robert Kurtis und mehrere Matrosen sind bemüht, es durch Taue noch mehr zu sichern. Ungeheure Sturzseen ergießen sich über das flache Bauwerk, und ein lauwarmer Wasserschwall durchnäßt uns bis auf die Knochen. Mr. Letourneur bietet dem wüthenden Anprall die Brust, als könne er seinen Sohn dadurch schützen.

Miß Herbey bleibt unbeweglich; man könnte sie für eine Bildsäule der Ergebenheit ansehen.

Bei dem nie verlöschenden Scheine der Blitze bemerke ich da sehr große und wahrscheinlich tiefgehende Wolken, die eine auffallend röthliche Farbe zeigen, und ein Knattern, wie von Kleingewehrfeuer, erfüllt die Lüfte. Es rührt das von dem eigenthümlichen Geräusche elektrischer Entladungen her, zu denen Hagelkörner als Mittelglieder zwischen einander eingesetzt geladenen Wolken dienen. Wirklich hat sich durch Aufeinandertreffen von Gewitterwolken und einem kalten Luftstrome Hagel gebildet, der jetzt mit unerhörter Gewalt niederfällt. Wir werden von den nußgroßen Körnern kartätscht, deren Aufschlagen auf die Plateform fast einen metallischen Ton erzeugt.

Eine halbe Stunde hält dieses Meteor an, welches den Wind einstweilen zu mäßigen scheint; nachdem dieser aber durch alle Compaßrichtungen gegangen, erhebt er sich wieder mit einer Gewalt ohne Gleichen. Der Mast des Flosses, dessen Strickleitern gerissen sind, wird quer gebogen, und man beeilt sich, ihn aus der Oeffnung zu heben, um das Abbrechen desselben zu verhüten. Unser Steuerruder wird durch einen Wellenschlag zerstört, und der Bootsriemen treibt fort, ohne daß es möglich wurde, ihn wieder zu erlangen. Gleichzeitig werden auch die Schutzwände des Backbords eingedrückt, und wüthend drängen sich die Wellen durch diese Bresche.

Der Zimmermann und die Matrosen wollen versuchen, dem Schaden beizukommen; bei den fortwährenden Stößen ist das aber unmöglich, und sie rollen fallend Einer über den Andern, als das Floß, durch eine ungeheure Woge emporgehoben, sich um einen Winkel von mehr als fünfundvierzig Graden neigt. Sind die Männer nicht mit weggerissen worden? Müssen die Stricke, welche uns halten, nicht zerreißen? Welches Wunder hat uns Alle bewahrt, daß wir nicht in’s Meer geschleudert wurden? … Ich weiß es nicht zu erklären. Mir scheint es fast unglaublich, daß das Floß bei den ungeordneten wilden Bewegungen nicht vollkommen umgestürzt wurde und wir, an seine Planken festgebunden, einem schrecklichen Tode entgingen!

In der That kommt das Floß gegen drei Uhr Morgens, als das Unwetter zügelloser als je vorher tobte, von dem Rücken einer bergeshohen Woge empor gehoben, fast auf die schmale Seite zu stehen. Ein Aufschrei des Schreckens erschallt! … Wir kentern! … Nein! … Das Floß hat sich auf dem Wogenkamme in unbestimmbarer Höhe erhalten, und wir vermochten bei dem intensiven Lichte der Blitze, die sich nach allen Richtungen hin kreuzen, vor Entsetzen erstarrt, das Meer zu überblicken, welches ringsum aufschäumt, als brandete es über Klippen hinweg.

Das Floß nimmt sofort seine horizontale Lage wieder an, aber in dem Augenblicke, da es schief stand, sind die Taue der Wassertonnen gerissen. Eine derselben habe ich über Bord gehen sehen, während der Inhalt der anderen zum Theil ausfloß.

Einige Matrosen springen hinzu, um das Faß, welches das conservirte Fleisch enthält, zu erhalten. Da klemmt sich der Fuß des Einen zwischen die etwas auseinander gewichenen Planken der Plateform und stößt der Unglückliche ein herzzerreißendes Geschrei aus.

Ich will ihm zu Hilfe eilen, und es gelingt mir auch, die Stricke um meinen Leib zu lösen … Zu spät! Bei einem blendenden Blitze erkenne ich noch, wie der Unglückliche, dessen Fuß wieder frei geworden ist, durch einen Wogenschwall, der sich donnernd über uns stürzt, hinweggerissen wird. Sein Kamerad ist mit ihm verschwunden, ohne daß es möglich wurde, Beiden zu Hilfe zu kommen.

Mich hat die Sturzsee auf die Plateform niedergeworfen, und ich habe durch Anschlagen des Kopfes auf einen vorspringenden Balken eine Zeit lang das Bewußtsein verloren.

XXXVI.


XXXVI.

Am 22. December. – Endlich ist der Tag angebrochen, und die Sonne kommt zwischen den letzten übrig gebliebenen Gewitterwolken wieder zum Vorschein. Dieser Kampf der Elemente hat nur wenige Stunden gewährt, doch er war entsetzlich, und Luft und Wasser wütheten mit einer unvergleichlichen Erbitterung.

Ich habe hier nur die Hauptvorgänge beschrieben, denn ich war in Folge der Bewußtlosigkeit nach meinem Sturze nicht im Stande, das Ende der Empörung der Natur zu beobachten. Ich weiß nur allein, daß der Orkan, kurze Zeit nach jener Sturzsee, sich durch Gegenwinde ermäßigt und die elektrische Spannung der Atmosphäre nachgelassen hat. Der Sturm hielt also über die Nacht hinaus nicht an. Doch welchen Schaden hat er auch in dieser kurzen Zeit uns verursacht, welche unersetzliche Verluste, und welches Elend droht nun über uns hereinzubrechen! Von dem Wasser, das er in Strömen herabgoß, haben wir nicht einen Tropfen auffangen können!

In Folge der Bemühungen der Herren Letourneur und der Miß Herbey bin ich bald wieder zu mir gekommen, aber Robert Kurtis‘ heldenmüthiger Hilfe verdanke ich es, daß ich durch eine zweite Sturzsee nicht mit hinweggespült wurde.

Der eine von den beiden durch das Unwetter umgekommenen Matrosen ist Austin, ein junger, gutmüthiger, thätiger und beherzter Mann von achtundzwanzig Jahren. Der andere ist der alte Ire O’Ready, der Ueberlebende so vieler Schiffbrüche!

Jetzt sind wir nur noch sechzehn Personen auf dem Floß, d. h. fast die Hälfte derer, welche sich an Bord des Chancellor eingeschifft haben, ist schon umgekommen.

Und nun, was verbleibt uns noch an Lebensmitteln?

Robert Kurtis suchte sich bald darüber Aufklärung zu schaffen. Worin bestehen jene, und wie lange Zeit werden sie reichen? Noch wird uns das Wasser nicht ganz fehlen, denn auf dem Boden der einen Tonne finden sich etwa noch vierzehn Gallonen, und die andere ist unversehrt. Aber das Faß mit dem conservirten Fleisch, und das, in welchem wir die gefangenen Fische aufbewahrten, sind uns Beide entführt worden, und von diesen Vorräthen besitzen wir nun absolut nichts mehr. Von dem Schiffszwieback sind nach Robert Kurtis‘ Abschätzung nicht mehr als sechzig Pfund gerettet worden.

Sechzig Pfund Schiffszwieback für Sechzehn, das ergiebt für eine Woche Nahrung, auf die Person täglich ein halbes Pfund gerechnet.

Robert Kurtis hat uns Alles bekannt gegeben. Schweigend haben wir ihm zugehört. Still ist auch der ganze Tag, der 22. December, vorübergegangen; Jeder war mit sich selbst beschäftigt, doch offenbar wurden Alle von demselben Gedanken bewegt. Mir scheint es, als betrachte man sich gegenseitig mit ganz eigenthümlichen Augen, und zeige sich das Gespenst des Hungers schon von Weitem. Bis hierher hatte uns Speise und Trank noch nicht ganz und gar gefehlt. Jetzt indeß muß die Wasserration noch weiter verringert werden und noch mehr die an Zwieback!

Einmal näherte ich mich einer Gruppe auf dem Vordertheil lang hingestreckter Matrosen und hörte aus Flaypol’s Munde in ironischem Tone noch die Worte:

»Was einmal sterben soll, das thut schnell ab!«

– Ja, antwortet ihm Owen, sie lassen dann wenigstens ihren Theil den Anderen übrig!«

Der Tag schlich unter allgemeiner Niedergeschlagenheit dahin. Jeder empfing sein vorschriftsmäßiges halbes Pfund Schiffszwieback. Die Einen haben es voller Gier sofort verschlungen, Andere theilten es sorglich ein. Der Ingenieur Falsten scheint mir seine Ration in so viele Theile zerlegt zu haben, als er Mahlzeiten zu machen gewöhnt ist.

Wenn nur Einer uns überlebt, – Falsten wird dieser Eine sein!

XXXVII.


XXXVII.

Vom 23. bis zum 31. December. – Nach dem Sturm hat der Wind sich nach Nordosten gewendet und zur günstigen Brise umgestaltet. Wir müssen ihn benutzen, da er uns nach dem Lande zu treiben verspricht.

Den Mast hat Daoulas jetzt sorgfältig wieder hergestellt, das Segel wird gehißt und das Floß treibt mit einer Schnelligkeit von zwei bis zwei und ein halb Meilen in der Stunde weiter.

Man hat auch versucht, mittels eines Pfahles und eines längs desselben aufgenagelten Brettes eine Art Steuer wieder herzustellen, das wohl oder übel seine Schuldigkeit thut. Bei der geringen Geschwindigkeit, die der Wind dem Flosse nur mittheilt, wird ihm eine größere Kraftäußerung auch nicht zugemuthet.

Die Plattform ist mit Keilen und Stricken so gut als möglich wieder in Stand gesetzt worden. Die auseinander gewichenen Planken sind auf’s Neue befestigt. Die Backbordschutzwände, welche der Sturm eingedrückt hatte, sind wieder hergestellt und leisten dem Eindringen der Wellen Widerstand. Mit einem Worte, alles nur irgend Mögliche, was diesem Bauwerke aus Maststücken und Segelstangen Festigkeit verleihen kann, ist geschehen; doch droht uns von dieser Seite die ärgste Gefahr ja nicht.

Mit dem reinen Himmel hat sich auch jene tropische Hitze wieder eingestellt, von der wir schon während der vorhergehenden Tage so unsäglich zu leiden hatten. Gerade heute ist sie übrigens durch die Brise einigermaßen gemildert, und da auch das Zeltdach auf dem Hintertheile wieder in Ordnung gebracht ist, suchen und finden wir unter demselben noch weiteren Schutz.

Inzwischen macht sich die Unzulänglichkeit unserer Nahrung ernsthafter fühlbar. Alle leiden sichtlich an Hunger, die Wangen sind hohl, die Gesichter klein geworden. Bei den Meisten scheint auch das Central-Nervensystem direct ergriffen, und erzeugt die Zusammenziehung des Magens eine schmerzhafte Empfindung. Hätten wir, um diesen Hunger zu täuschen oder einzuschläfern, ein Narcoticum, Opium oder nur Tabak, gewiß wäre er erträglicher, – aber uns fehlt ja Alles!

Ein Einziger fühlt dieses gebieterische Bedürfniß weniger: es ist der Lieutenant Walter, der eine Beute des heftigsten Fiebers ist, das keinen Hunger in ihm aufkommen läßt, während ihn fortwährend ein brennender Durst quält. Miß Herbey, die sich von ihrer eigenen schmalen Wasserration etwas für den Kranken abdarbt, hat von dem Kapitän eine kleine Zugabe erwirkt, und jede Viertelstunde träufelt sie ein wenig davon auf die Lippen des Lieutenants. Walter vermag kaum ein Wort zu sprechen und lohnt dem barmherzigen jungen Mädchen nur mit einem dankbaren Blicke. Der Aermste! Sein Urtheil ist gesprochen, und auch die zärtlichste Sorgfalt könnte ihn nicht retten, er wird wenigstens nicht allzulange zu leiden haben!

Uebrigens scheint er sich über seinen Zustand keiner Selbsttäuschung hinzugeben, denn er ruft mich durch ein Zeichen zu sich, und ich setze mich dicht neben ihn. Er rafft seine letzte Kraft zusammen, um zu sprechen, und haucht mir in unterbrochener Rede zu:

»Herr Kazallon, wird es mit mir noch lange dauern?«

So wenig ich auch nur mit der Antwort zögere, Walter bemerkt es doch.

»Die Wahrheit! fährt er fort. Bitte, die volle Wahrheit!

– Ich bin ja kein Arzt, ich kann nicht wissen …

– Das thut Nichts! Geben Sie mir Antwort, ich bitte Sie! …«

Ich fasse den Kranken aufmerksam in’s Auge, und lege mein Ohr auf seine Brust. Seit einigen Tagen hat die Phthisis furchtbare Fortschritte in ihm gemacht. Offenbar functionirt der eine Lungenflügel gar nicht mehr und vermag der andere dem Athembedürfnisse nur noch mit genauer Noth zu entsprechen. Gleichzeitig leidet Walter an einem sehr heftigen Fieber, das bei tuberculösen Erkrankungen ein Symptom des nahen Endes zu sein pflegt.

Was kann ich auf die Frage des Lieutenants antworten?

Forschend ruht sein Blick auf mir, so daß ich mir kaum zu helfen weiß, und ich suche nach einer ausweichenden Erwiderung.

»Mein lieber Freund, sage ich, bei der Lage, in der wir uns befinden, kann überhaupt Niemand von sich sagen, ob er noch lange zu leben habe. Wer weiß, ob nicht vor Ablauf einer Woche Alle, die das Floß jetzt trägt …

– Vor Ablauf einer Woche!« murmelt der Lieutenant, dessen brennender Blick auf mir haftet.

Dann wendet er den Kopf und scheint einzuschlummern.

Am 24., 25. und 26. December hat sich in unserer Situation nicht das Geringste geändert. So unglaublich es erscheinen mag, so haben wir uns doch an das Hungern allmälig gewöhnt. Die Berichte von Schiffbrüchigen haben nicht selten Thatsachen, welche mit den hier beobachteten übereinstimmen, angeführt. Wenn ich jene las, war ich geneigt, sie für Uebertreibungen anzusehen. Darin täuschte ich mich, und ich sehe jetzt wohl ein, daß ein Mangel an Nahrung weit länger ertragen werden kann, als ich je geglaubt hätte. Ueberdies hat der Kapitän unserem halben Pfunde Schiffszwieback jetzt einige Tropfen Branntwein hinzugefügt, und erhält dieses Régime unsere Kräfte mehr, als man annehmen sollte. O, wenn wir dieser Rationen für zwei Monate, ach, nur für einen, sicher wären! Doch unser Vorrath geht zu Ende, und Jeder kann den Augenblick voraussehen, in dem auch diese magere Nahrung uns völlig fehlen muß.

Um jeden Preis müssen wir also aus dem Meere eine Vermehrung unserer Nahrungsmittel zu erlangen suchen, was jetzt immerhin ziemlich schwierig ist. Indessen fertigen der Hochbootsmann und der Zimmermann aus aufgelösten Seilen neue Angelschnuren an und versehen diese mit aus den Planken gezogenen, krumm gebogenen Nägeln.

Der Hochbootsmann scheint mit dem Ergebnisse der Arbeit ganz zufrieden gestellt zu sein.

»Das sind zwar keine tadellosen Angelhaken, diese Nägel, sagt er zu mir, indeß ein Fisch könnte an ihnen ebenso gut hängen bleiben, wenn wir nur einen Köder daran hätten. Nun haben wir als solchen aber blos Schiffszwieback, der daran nicht lange halten kann. Wenn es erst gelungen ist, einen zu fangen, würde ich die Angeln mit seinem Fleische als Lockspeise versehen. Aber den ersten Fisch zu erlangen, darin liegt die große Schwierigkeit!«

Der Hochbootsmann hat recht, und voraussichtlich ist unser Angeln erfolglos. Indeß, man probirt es auf gut Glück, und die Schnüre werden ausgelegt. Wie zu erwarten stand, »beißt« indessen kein Fisch »an«, und offenbar ist das Meer hier auch nicht gerade fischreich.

Während des 28. und 29. December setzen wir unsere vergeblichen Versuche fort. Die Zweimarkstücken, welche an die Nägel gesteckt werden, erweichen sich natürlich im Wasser, fallen ab und bedürfen einer wiederholten Erneuerung. Damit verschwenden wir aber einen Theil der Substanz, welche unsere einzige Nahrung darstellt, und sind doch schon an dem Punkte angelangt, die letzten Brocken zu zählen.

Der Hochbootsmann, der die gewöhnlichen Mittel erschöpft hat, kommt auf den Einfall, ein Stückchen Stoffgewebe an die Nägel zu befestigen. Miß Herbey opfert deshalb eine Ecke des rothen Shawltuches, das sie trägt, und vielleicht lockt der rothe, unter dem Wasser lebhaft leuchtende Stoff einen gefräßigen Meeresbewohner an.

Im Laufe des 30. December schreitet man zu diesem neuen Versuche. Mehrere Stunden lang läßt man die Schnüre dem Flosse in beträchtlicher Tiefe nachschwimmen, doch wenn sie heraufgezogen werden, zeigt sich das rothe Wollenstückchen immer vollkommen unversehrt.

Dem Hochbootsmann sinkt aller Muth. Hier versiegt uns noch eine Quelle, auf die wir unsere Hoffnung setzten. Was würde man nicht für den ersten Fisch bieten, mit dem man dann andere zu fangen im Stande wäre!

»Ein einziges Mittel gäbe es noch, unsere Angeln mit einem Köder zu versehen! sagt der Bootsmann halblaut zu mir.

– Und welches? fragte ich ihn.

– Das werden Sie später erfahren!« antwortet mir der Seemann und wirft mir einen unverständlichen Blick zu.

Was sollen diese Worte eines Mannes bedeuten, den ich immer als sehr zurückhaltend gekannt habe? Die ganze Nacht hindurch kommen sie mir nicht aus dem Sinn.

XXXVIII.


XXXVIII.

Vom 1. bis 5. Januar. – Es sind nun drei Monate verflossen, daß wir Charleston auf dem Chancellor verlassen, und zwanzig Tage, die wir schon auf dem Flosse, von der Gnade der Winde und Strömungen abhängig, verbracht haben! Sind wir weiter nach Westen, nach der amerikanischen Küste gekommen, oder hat uns das Unwetter noch weiter von jedem Lande verschlagen? Es ist jetzt sogar unmöglich geworden, hierüber klar zu werden. Bei dem letzten, uns so verderblichen Sturme sind auch die Instrumente des Kapitäns trotz aller Vorsichtsmaßregeln beschädigt worden, und Robert Kurtis besitzt jetzt weder einen Compaß, um die Richtung zu bestimmen, in der wir fahren, noch einen Sextanten, um eine Höhenmessung vorzunehmen. Sind wir nun einer Küste nahe oder noch Hunderte von Meilen von einer solchen entfernt?

Man kann es nicht wissen, doch ist, da alle Umstände gegen uns gewesen sind, vielmehr zu befürchten, daß wir noch weiter hinaus getrieben wurden.

Diese absolute Unkenntniß unserer Lage hat etwas Beängstigendes; doch, so wie die Hoffnung nie des Menschen Herz verläßt, so lieben wir es trotz aller Gegengründe zu glauben, daß eine Küste in der Nähe sei. Jeder beobachtet den Horizont und sucht in dessen glatt verlaufender Linie ein Land zu entdecken. Wie häufig täuschen uns Passagiere die Augen! Ein Nebel, eine Wolke, eine Bewegung des Wassers! Kein Land erscheint, kein Schiff verirrt sich in den unendlichen Kreis um uns, in dem Himmel und Meer verschmelzen, und dessen Mitte das Floß unverändert einnimmt.

Am 1. Januar haben wir unseren letzten Zwieback verzehrt oder richtiger, unseren letzten Brocken Zwieback! Am 1. Januar! Welche Erinnerungen weckt dieser Tag, und wie traurig erscheint uns dagegen der heutige! Das neue Jahr, der erste Tag desselben, wie brachte man sich einander seine Wünsche dar, schmeichelte man sich mit den Hoffnungen, die das Herz erfüllten – uns ziemt sich nichts von alle Dem! Die Worte: »Ich wünsche Ihnen ein glückliches Neujahr!«, die man doch nur mit freudigem Angesichte aussprechen kann, wem von uns kämen sie jetzt über die Lippen? Wer vermöchte auch nur einen Tag für sich selbst noch zu hoffen?

Da nähert sich mir der Hochbootsmann, sieht mich ganz eigenthümlich an und sagt:

»Mr. Kazallon, ich wünsche Ihnen einen glück …

– Ein glückliches neues Jahr?

– Nein! Nur einen glücklichen Tag, und das will schon viel sagen, denn wir haben nichts mehr zu essen auf dem Flosse!«

Nichts mehr! Wir wußten es ja, und doch, als die Stunde der Vertheilung kam, traf es uns, wie ein neuer Schlag. Man mochte an diesen absoluten Mangel an Allem nicht glauben!

Gegen Abend fühle ich ein heftiges Zusammenziehen des Magens; dann folgt ihm ein schmerzhaftes Gähnen, das sich zwei Stunden nachher ein wenig mindert.

Am nächsten Tage, dem 3. Januar, bin ich sehr erstaunt, nicht mehr zu leiden. Ich fühle in mir eine furchtbare Leere, doch ist das ebenso ein Gefühl geistiger wie körperlicher Zerschlagenheit. Mein schwerer Kopf schwankt auf den Schultern, und es wird mir schwindelig, so als ob ich in einen Abgrund blickte.

Die Erscheinungen gleichen sich aber nicht bei Allen von uns, und einige meiner Gefährten leiden schon ganz entsetzlich, unter Anderen Daoulas, der Zimmermann, und der Bootsmann, die von Natur starke Esser sind. Die Hungersqualen pressen ihnen unwillkürlich Schmerzensschreie aus, und sie schnüren sich mit einem Stricke zusammen. Wir sind aber jetzt erst am zweiten Tage!

O, jenes halbe Pfund Zwieback, jene mageren Rationen, die uns noch vor wenig Tagen so unzureichend erschienen, wie vergrößert sie unser Verlangen, wie enorm erscheinen sie uns jetzt, da wir gar nichts mehr haben! Wenn man uns jetzt diese Stückchen Zwieback noch zutheilte, nur die Hälfte, ja, nur den vierten Theil davon, wir würden mehrere Tage damit ausreichen! Bissen für Bissen würden sie nur verzehrt werden!

Wenn in einer belagerten Stadt Mangel herrscht, kann man in dem Kehricht, in den Flüssen, in einem Winkel einen abgenagten Knochen finden, eine weggeworfene Wurzel, die den Hunger eine Zeit lang wegtäuscht! Auf diesen Brettern aber, welche die Wogen unzählige Male überflutheten, in deren Fugen man schon gierig nachgesucht, deren Ecken und Winkel, in die der Wind einige Brosamen hätte treiben können, man schon wieder und wieder ausgescharrt hat, was könnte man hier wohl zu finden hoffen?

Wie lang werden uns die Nächte – noch länger als die Tage! Vergeblich erhofft man vom Schlafe eine vorübergehende Milderung dieser Leiden. Wenn sich unsere bleiernen Augenlider ja einmal schließen, so verfallen wir vielmehr einer fieberhaften Betäubung, die uns mit Alpdrücken quält.

Und doch, die letzte Nacht unterlag ich der Erschöpfung und habe einige Stunden ruhen können.

Am anderen Tage erwache ich um sechs Uhr Morgens durch lautes Geschrei. Ich springe auf und sehe im Vordertheile den Neger Jynxtrop, die Matrosen Owen, Flaypol, Wilson, Burke und Sandon wie zum Angriffe zusammengetreten. Diese Schurken haben sich der Werkzeuge des Zimmermanns, der Aexte, des Beiles, der Meißel u.s.w. bemächtigt, und bedrohen damit den Kapitän, den Bootsmann und Daoulas. Ich geselle mich schleunigst zu Robert Kurtis und den Seinen. Falsten folgt mir unmittelbar. Wir haben als Waffen zwar nur unsere Messer, sind aber nicht minder entschlossen, uns zu vertheidigen.

Owen und die Uebrigen dringen auf uns zu. Die Verblendeten sind betrunken: in der Nacht haben sie das Branntweinfäßchen gestohlen und es fast ausgetrunken.

Was mögen sie wollen?

Owen und der Neger, die noch am Meisten bei Sinnen zu sein scheinen, reizen die Anderen auf, uns niederzumachen, und Jene unterliegen gewissermaßen einer Art Säuferwahnsinn.

»Nieder mit Kurtis! rufen sie. In’s Meer mit dem Kapitän! Owen commandirt! Owen commandirt!«

Owen ist der Anführer der Rotte, ihm folgt der Neger. Der Haß dieser beiden Kerle gegen ihren Officier äußert sich jetzt in einem Gewaltstreiche, der im Falle des Gelingens unsere Lage gewiß nicht zu bessern im Stande wäre. Ihre Partner, welche kaum denken können, aber sich besser bewaffnet haben als wir, sind uns jetzt immerhin furchtbar.

Als Robert Kurtis sie heran kommen sieht, geht er ihnen entgegen und ruft mit fester Stimme:

»Die Waffen weg!

– Den Tod dem Kapitän!« heult Owen.

Dieser Schuft treibt seine Genossen durch Handbewegungen an; doch Robert Kurtis weicht der betrunkenen Rotte aus und stellt sich gerade vor ihn hin.

»Was willst Du? fragt er Jenen.

– Keinen Commandanten auf dem Flosse! antwortet Owen, hier sollen Alle gleich sein!«

Der Verblendete! Als ob wir, das Elend vor uns, nicht Alle schon gleich wären!

»Owen, wiederholt der Kapitän noch einmal, die Waffen weg!

– Tapfer drauf, Ihr Anderen!« brüllt Owen.

Es entspinnt sich ein Kampf. Owen und Wilson stürzen auf Robert Kurtis, der ihre Schläge mit einem Pfahle abwehrt, während Burke und Flaypol auf den Bootsmann eindringen. Ich habe den Neger Jynxtrop als Gegner, der ein Beil schwingend mich zu treffen sucht. Ich versuche ihn mit den Armen zu umschlingen, um seine Bewegungen zu verhindern, aber die Muskelkraft dieses Spitzbuben übertrifft die meinige, und nach einigen Augenblicken des Widerstandes fühle ich, daß ich wohl unterliegen muß, als Jynxtrop plötzlich auf die Plateform hinrollt und mich im Sturze mit sich reißt. André Letourneur hat ihn an einem Beine gepackt und dadurch umgeworfen.

Diese Hilfe hat mich gerettet. Der Neger hat beim Fallen sein Beil verloren, dessen ich mich bemächtige, und eben will ich ihm den Schädel spalten, als André’s Hand nun auch mich zurückhält.

In der That, die Empörer sind schon auf das Vordertheil zurückgedrängt. Robert Kurtis hat, nachdem er Owen’s Axthieb glücklich parirt, selbst ein Beil erlangt und schlägt damit aus vollen Kräften zu.

Owen springt aber zur Seite, und das Beil dringt Wilson mitten in die Brust. Der Elende stürzt rückwärts zusammen, vom Flosse herunter und verschwindet im Wasser.

»Rettet ihn! Rettet ihn! ruft der Hochbootsmann.

– Der ist todt! erwidert Daoulas.

– Eben deswegen …«, sagt noch der Bootsmann, ohne den Satz ganz auszusprechen.

Aber Wilson’s Tod endet den Kampf. Flaypol und Burke sind im höchsten Stadium der Trunkenheit besinnungslos hingesunken, und wir stürzen uns auf Jynxtrop, der fest an den Fuß des Mastes gebunden wird.

Der Zimmermann und der Hochbootsmann haben indessen Owen überwältigt. Mit der blutigen Axt in der Hand nähert sich ihm Robert Kurtis und sagt:

»Verrichte Dein letztes Gebet. Du stirbst!

– Sie haben gewiß rechte Lust, mich aufzuessen!« erwidert Owen mit einer Frechheit ohne Gleichen.

Diese trotzige Antwort rettet ihm das Leben. Robert Kurtis wirft die Axt weg, die er schon zum Schlage erhoben hat, und setzt sich leichenblaß auf dem Hintertheile des Flosses nieder.

XXXIX.


XXXIX.

Am 5. und 6. Januar. – Diese Scenen haben uns tief ergriffen. Owen’s unter den thatsächlichen Verhältnissen gegebene Antwort ist wohl geeignet, auch die Muthigsten niederzuschlagen.

Sowie ich ein wenig wieder zur Ruhe gekommen bin, habe ich dem jungen Letourneur meinen Dank dafür ausgesprochen, daß er mir durch seine Intervention das Leben gerettet hat.

»Sie danken mir, antwortet er, wo Sie mir fluchen sollten!«

– Ihnen, André?

– Mr. Kazallon, ich habe ja nichts gethan, als Ihre Leiden verlängert!

– Darauf kommt es nicht an, Mr. Letourneur, mischt sich da Miß Herbey ein, Sie haben Ihre Pflicht gethan!«

Immer dasselbe Gefühl der Pflicht, welche dem jungen Mädchen über Alles geht! Sie ist durch die grausamen Entbehrungen abgemagert, ihre durch die fortwährende Feuchtigkeit verdorbenen und schadhaft gewordenen Kleider flattern umher, doch keine Klage kommt aus ihrem Munde und Nichts vermag ihr den Muth zu rauben.

»Mr. Kazallon, fragt sie mich, nicht wahr, wir werden Hungers sterben müssen? – Wie lange kann man wohl leben, ohne zu essen?

– Weit länger, als man glauben sollte! Vielleicht lange, unbestimmbare Tage!

– Kräftige Personen leiden ja wohl dabei am meisten?

– Ja, aber sie unterliegen schneller, das gleicht sich aus.«

Wie war ich nur im Stande, dem jungen Mädchen so zu antworten? Wie? Ich fand kein Wort des Trostes für sie? Ich habe ihr die gräßliche Wahrheit schonungslos in’s Gesicht geschleudert! Ist denn in mir jedes menschliche Gefühl erloschen? André Letourneur und sein Vater, die mich hören konnten, sahen mich wiederholt erstaunt mit ihren großen, vom Hunger erweiterten Augen an. Sie schienen sich zu fragen, ob ich es war, der also sprach.

Einige Minuten später, als wir ziemlich allein waren, sagte mir Miß Herbey mit leiser Stimme:

»Mr. Kazallon, würden Sie mir wohl einen Dienst erweisen?

– Gern, Miß, habe ich erregt geantwortet; bereit, für das junge Mädchen Alles zu thun.

– Wenn ich vor Ihnen sterbe, fährt Miß Herbey fort, und das kann ja der Fall sein, trotzdem ich schwächlicher bin, – so versprechen Sie mir, meine Leiche in’s Meer zu werfen.

– Miß Herbey, ich that sehr unrecht …

– Nein, nein, fällt sie mir trübe lächelnd in’s Wort, Sie thaten ganz recht daran, mir Alles zu sagen, nur versprechen Sie mir die Erfüllung meiner Bitte. Es ist wohl eine Schwäche von mir. Lebend fürchte ich Nichts … aber todt … versprechen Sie mir, mich in’s Wasser zu werfen.«

Ich habe es ihr versprochen. Miß Herbey reicht mir die Hand zum Danke, und ich fühle, wie ihre mageren Finger leise die meinigen drücken.

Noch eine Nacht ist vorübergeschlichen. Zu Zeiten sind meine Qualen so arg, daß ich unwillkürlich aufschreie; dann mildern sie sich wohl auch wieder, und ich versinke in eine Art Stumpfsinn. Beim Wiedererwachen wundere ich mich, meine Leidensgefährten noch lebend zu finden.

Derjenige von uns, der am wenigsten zu leiden scheint, ist der Steward Hobbart, von dem bis jetzt nur wenig die Rede gewesen ist. Es ist ein kleiner Mann von zweideutigem Aussehen, mit schmeichlerischen Blicken und einem ewigen Lächeln, »das aber nur seine Lippen angeht«; seine Augen sind stets halb geschlossen, so als wollte er seine Gedanken verbergen, und seine ganze Erscheinung athmet Falschheit. Er ist ein Heuchler, ich schwöre darauf. Und wirklich, wenn ich sagte, daß ihm die Entbehrungen am wenigsten zuzusetzen schienen, so ist damit nicht etwa gesagt, daß er keine Klagen laut werden ließe. Im Gegentheil, er seufzt ohne Unterlaß, aber ich weiß nicht, warum mir sein Gewimmer nur affectirt vorkommt. Es wird sich das wohl zeigen. Ich werde diesen Menschen beobachten, denn ich habe einen Verdacht gegen ihn, über den ich mir gern klar würde.

Heute, am 6. Januar, nimmt mich Mr. Letourneur bei Seite, führt mich nach dem Hintertheile des Flosses, und das mit dem Aussehen, als habe er mir eine »geheime Mittheilung« zu machen. Er wünscht weder gesehen noch gehört zu werden.

Ich begebe mich mit ihm nach der hinteren Ecke des Backbord, und nachdem der Abend angebrochen, vermag uns Niemand mehr zu sehen.

»Mein Herr, beginnt Mr. Letourneur mit leiser Stimme, André ist sehr schwach! Mein Sohn stirbt mir vor Hunger! Ich kann das nicht lange mit ansehen! Nein, ich kann es nicht!«

Mr. Letourneur spricht in einem Tone, dem man den verhaltenen Zorn anmerkt, und sein Accent hat etwas Wildes an sich; doch begreife ich wohl, wie dieser Vater leiden mag!

»Lieber Herr, sage ich und ergreife seine Hand, verzweifeln wir noch nicht. Wenn ein Schiff …

– Ich verlange von Ihnen keine billigen Trostesworte, unterbricht mich der arme Vater. Es wird hier kein Schiff vorbei kommen, das wissen Sie recht gut. Nein, es handelt sich um etwas Anderes. Seit wann hat mein Sohn, haben Sie selbst und wir Alle nichts gegessen?«

Diese Frage läßt mich einigermaßen erstaunen, und ich antworte:

»Seit dem 2. Januar ist der Zwieback ausgegangen. Wir haben jetzt den 6., es sind demnach vier Tage, daß …

– Daß Sie nichts gegessen haben! Nun wohl, bei mir sind es schon acht!

– Acht Tage!

– Ja! Ich habe für meinen Sohn gespart!«

Bei diesen Worten brechen ihm Thränen aus den Augen. Ich fasse Mr. Letourneur’s Hand. Kaum bin ich im Stande zu reden. Ich sehe ihn bewundernd an … acht Tage!

»Herr! Mein Herr, sage ich endlich, was verlangen Sie von mir?

– Halt! Nicht so laut! Es darf uns Niemand hören!

– So sprechen Sie! …

– Ich möchte …, und seine Stimme wurde noch leiser, ich wünsche, daß Sie André von meinem Ersparten anbieten …

– Aber können Sie das nicht selbst? …

– Nein, nein! Er würde glauben, daß ich mich für ihn beraubt habe … er würde es nicht annehmen … nein, es muß von Ihnen kommen …

– Mr. Letourneur! …

– Aus Mitleiden, bittet mich der unglückliche Vater, aus Erbarmen leisten Sie mir diesen Liebesdienst, den größten, um den ich Sie angehe … übrigens … für Ihre Bemühung …« Mr. Letourneur ergreift meine Hand und streichelt sie zärtlich.

»Für Ihre Bemühung können Sie ja auch ein wenig davon essen!…«

Armer Vater! Bei seinen Worten zittere ich wie ein Kind! Mein ganzes Wesen ist in Aufregung und mein Herz arbeitet zum Zerspringen. Gleichzeitig fühle ich, wie Mr. Letourneur ein Stück Schiffszwieback in meine Hand gleiten läßt.

»Nehmen Sie sich in Acht, daß Niemand Sie gewahr wird, sagt er. Die Ungeheuer fielen über Sie her und tödteten Sie! Das ist nur für einen Tag, doch morgen werde ich Ihnen ebenso viel übergeben!«

Der Unglückliche traut mir nicht! Vielleicht hat er recht, denn so wie ich das Stück Zwieback in meinen Händen fühle, kann ich’s mir kaum verwehren, es zum Munde zu führen!

Doch, ich habe mich überwunden, und wer diese Zeilen liest, wird begreifen, was meine Feder jetzt nicht zu schildern vermag.

Mit der in diesen niedrigen Breiten eigenthümlichen Schnelligkeit ist die Nacht hereingebrochen. Ich schleiche mich vorsichtig zu André Letourneur und biete ihm das kleine Stückchen Zwieback an, »so als ob es von mir käme«!

Der junge Mann erfaßt es mit Begierde.

»Und mein Vater?« sind seine nächsten Worte.

Ich versichere ihm, daß sein Vater auch seinen Theil hat … ich den meinen, daß ich ihm morgen … die folgenden Tage auch noch so viel würde zukommen lassen können! … Er möge es nur nehmen … nur nehmen! …

André hat mich nicht gefragt, woher dieser Zwieback komme, und hat ihn schleunig zum Munde geführt.

Und diesen Abend habe ich trotz Mr. Letourneur’s Angebot nichts gegessen … gar nichts!

XXX.


XXX.

Fortsetzung vom 7. December. – Jetzt trägt uns also ein anderer schwimmender Apparat; versinken kann er zwar nicht, denn die Balken, aus denen er besteht, müssen unter allen Verhältnissen auf der Oberfläche bleiben. Doch wird ihn das Meer nicht zertrümmern?

Wird es nicht die Taue zerreißen, die ihn verbinden?

Von achtundzwanzig Personen, die der Chancellor bei seiner Abfahrt von Charleston trug, sind schon zehn umgekommen.

Wir sind noch achtzehn, – achtzehn auf einem Flosse, das auf vierzig Fuß Länge eine Breite von etwa zwanzig Fuß bietet.

Hier folgen die Namen der Ueberlebenden: Die Herren Letourneur, der Ingenieur Falsten, Miß Herbey und ich, als Passagiere; Kapitän Kurtis, Lieutenant Walter, der Hochbootsmann, der Steward Hobbart, der Koch Jynxtrop, der Zimmermann Daoulas; – endlich die sieben Matrosen Austin, Owen, Wilson, O’Ready, Burke, Sandon und Flaypol.

Hat uns der Himmel in den zweiundsiebenzig Tagen seit unserer Abfahrt von der amerikanischen Küste nun hinreichend geprüft, und seine Hand schwer genug auf uns gelegen? Auch der Vertrauensvollste würde das nicht zu hoffen wagen.

Doch, lassen wir die Zukunft, denken nur an die Gegenwart, und fahren wir fort die Scenen dieses Dramas in der Reihenfolge, wie sie sich entwickeln, zu registriren.

Die Passagiere des Flosses sind bekannt. Welches sind aber ihre Hilfsmittel?

Robert Kurtis hat nichts Anderes einschiffen lassen können, als was von den schon aus der Kombüse entnommenen Provisionen übrig war, deren größter Theil damals, als das Verdeck des Chancellor überfluthet wurde, verdorben ist. Nur wenig verbleibt uns, wenn man bedenkt, daß achtzehn Personen zu ernähren sind, und wie lange es dauern kann, bis uns ein Schiff begegnet oder wir Land in Sicht bekommen. Ein Faß Schiffszwieback, ein Faß getrocknetes Fleisch, ein kleines Tönnchen Branntwein, zwei Behälter mit Wasser, das ist Alles, was zusammengerafft werden konnte, so daß wir uns vom ersten Tage an mit zugemessenen Rationen begnügen müssen.

An Kleidungsstücken zum Wechseln besitzen wir ganz und gar nichts. Einige Segel dienen uns als Decken und Schutzdächer. Die Werkzeuge des Zimmermanns Daoulas, der Sextant, die Bussole, eine Karte, unsere Taschenmesser, ein metallener Siedekessel und eine Weißblechtasse, welche den alten Irländer O’Ready noch niemals verlassen hat, das sind die Instrumente und Geräthe, die noch übrig sind, denn alle die auf dem Verdeck schon nieder gelegten und für das erste Floß bestimmten Kästen sind schon bei dem theilweisen Versinken des Schiffes verloren gegangen, und seit dieser Zeit hat Niemand mehr in den Kielraum dringen können. So ist also unsere Lage. Sie ist schwierig, doch nicht verzweifelt. Leider liegt die Befürchtung nahe, daß mehr als Einem mit der physischen Kraft auch die Seelenstärke schwinden wird, und es befinden sich Einige unter uns, welche nur schwer im Zaume zu halten sein werden.

IV.


IV.

Vom 30. September bis 6. October. – Der Chancellor ist ein schneller Segler, der viele Schiffe von gleicher Größe leicht überholen würde, und seitdem die Brise aufgefrischt hat, läßt er einen langen, kaum übersehbaren Streifen wirbelnden Kielwassers hinter sich, so daß man ein langes weißes Spitzengewebe, das auf dem Meere wie auf blauem Untergrunde hingebreitet läge, zu sehen vermeint.

Der Ocean ist vom Winde nur wenig bewegt. So viel ich weiß, wird Niemand an Bord von dem Schwanken und Stampfen des Schiffes besonders belästigt. Uebrigens befindet sich keiner der Passagiere auf der ersten Ueberfahrt und sind Alle mehr oder weniger mit dem Meere vertraut. Zur Zeit des Essens bleibt jetzt kein Platz am Tische leer.

Zwischen den Passagieren knüpfen sich allmälig Verbindungen an und das Leben an Bord gestaltet sich minder einförmig. Der Franzose, Mr. Letourneur, und ich, wir plaudern häufiger mit einander.

Mr. Letourneur ist ein Mann von fünfzig Jahren, hohem Wuchse, weißem Haar und ergrauendem Barte. Er erscheint noch älter, als er wirklich ist, – eine Folge langjährigen Kummers, der an ihm nagte und ihn auch heute noch verzehrt. Offenbar trägt dieser Mann eine nie versiegende Quelle der Traurigkeit mit sich herum, was man an seinem herabgekommenen Körper und dem häufig auf die Brust niedersinkenden Kopfe leicht erkennt.

Nie lacht er, nur selten lächelt er, und dann nur seinem Sohne gegenüber. Seine Augen sind sanft, blicken aber stets nur wie durch einen feuchten Schleier. Sein Gesicht verräth eine ganz charakteristische Mischung von Kümmerniß und Liebe, und seine ganze Erscheinung athmet eine gewisse wohlwollende Güte.

Man kommt auf den Gedanken, daß Mr. Letourneur über irgend ein unverschuldetes Unglück traure.

So ist es auch; doch wer sollte kein schmerzliches Mitgefühl empfinden, wenn er die wirklich übertriebenen Vorwürfe hört, die er sich als »Vater« selbst macht!

Mr. Letourneur ist nämlich mit seinem etwa zwanzigjährigen Sohne André, einem sanften, einnehmenden jungen Manne, an Bord. Dieser hat zwar im Gesicht einige Aehnlichkeit mit seinem Vater, aber – und das ist eben die Ursache des nie gestillten Schmerzes des Letzteren, – André ist gebrechlich. Sein linkes, stark nach außen verrenktes Bein zwingt ihn zu hinken, so daß er ohne Stock, auf den er sich stützt, gar nicht gehen kann.

Der Vater betet sein Kind an, und man sieht, daß dessen ganzes Leben jenem unglücklichen Wesen gewidmet ist. Er leidet durch das angeborene Gebrechen des Sohnes weit mehr, als sein Sohn selbst, und erbittet von diesem wohl dann und wann Verzeihung! Seine Hingebung gegen André äußert sich jeden Augenblick von Neuem. Er verläßt ihn nicht, belauscht seine geheimsten Wünsche, achtet auf Alles, was Jener thut. Seine Arme gehören mehr dem Sohne, als ihm selbst, sie umschlingen ihn und unterstützen ihn, wenn sich der junge Mann auf dem Verdeck des Chancellor ergeht.

Mr. Letourneur hat sich mir enger angeschlossen, und spricht unausgesetzt von seinem Kinde. Heute sprach ich ihn folgendermaßen an: »Eben komme ich von Mr. André. Sie haben einen guten Sohn, M. Letourneur, er ist ein begabter und unterrichteter junger Mann.

– Ja wohl, Mr. Kazallon, antwortet mir Mr. Letourneur, dessen Lippen ein schwaches Lächeln versuchen, eine schöne Seele in einem elenden Körper, – die Seele seiner armen Mutter, welche starb, als sie ihm das Leben gab.

– Er liebt Sie sehr.

– Das gute Kind! flüstert den Kopf senkend Mr. Letourneur. O, fährt er dann fort, Sie können es nicht mit fühlen, was ein Vater leidet beim Anblick seines gebrechlichen, von Geburt auf gebrechlichen Kindes!

– Mr. Letourneur, erwiderte ich ihm, bei dem Unglück, welches Ihren Sohn betroffen hat, theilen Sie die Last nicht ganz gerecht. Ohne Zweifel ist André tief zu beklagen, aber ist es denn gar nichts, von Ihnen so wie er geliebt zu werden? Eine Körperschwäche erträgt sich leichter, als ein Seelenleiden, und das Letztere trifft Sie doch ganz allein. Wiederholt beobachtete ich aufmerksam Ihren Sohn, und wenn ihm irgend Etwas nahe geht, so glaube ich behaupten zu können, daß das nur Ihre persönliche Bekümmerniß ist …

– Die ich ihm gegenüber stets verberge! fällt mir Mr. Letourneur schnell in’s Wort. Ich habe nur einen Lebenszweck, den, ihm fortwährend Zerstreuung zu verschaffen. Trotz seiner Schwäche erkannte ich an ihm eine leidenschaftliche Reiselust. Sein Geist hat Füße, nein, hat wirklich Flügel und schon seit mehreren Jahren reisen wir zusammen. Erst besuchten wir ganz Europa, und eben jetzt kehren wir von einer Tour durch die Hauptstaaten der Union zurück. Die Erziehung André’s habe ich, da ich ihn keiner öffentlichen Schule anvertrauen wollte, selbst geleitet und jetzt vollende ich sie durch Reisen. André besitzt lebendige Auffassung und glühende Phantasie. Er ist empfindsam, und manchmal bilde ich mir ein, daß er vergessen könne, wenn ich seine Begeisterung für die großartigen Naturschauspiele sehe.

– Ja, mein Herr, … gewiß …, sage ich.

– Aber wenn er auch vergäße, nimmt Mr. Letourneur wieder das Wort und begleitet es mit einem bekräftigenden Händedrucke, so vergesse ich nicht und werde nie vergessen können. Glauben Sie wohl, mein Herr, daß mein Sohn seiner Mutter und mir jemals vergeben kann, ihm ein so elendes Leben geschenkt zu haben?«

Der Schmerz dieses Vaters, der sich wegen eines Unglücks anklagt, für das kein Mensch verantwortlich sein kann, zerreißt mir das Herz. Ich will ihn trösten, doch in dem Augenblick erscheint sein Sohn. Mr. Letourneur läuft auf diesen zu und hilft ihm die etwas steile Treppe nach dem Oberdeck hinauf.

Dort setzt sich André Letourneur auf eine der Bänke, welche unter einigen Hühnerkäfigen angebracht sind, und sein Vater nimmt neben ihm Platz. Beide plaudern, und ich mische mich in ihre Unterhaltung. Sie betrifft die Fahrt des Chancellor, die Aussichten der Ueberfahrt an Bord. Mr. Letourneur hat ebenso wie ich von Kapitän Huntly einen mittelmäßigen Eindruck bekommen. Die Unentschiedenheit dieses Mannes, seine etwas schläfrige Erscheinung hat ihn unangenehm berührt. Dagegen fällt Mr. Letourneur ein sehr günstiges Urtheil über den zweiten Officier, Robert Kurtis, einen wohlgebauten Mann von dreißig Jahren mit großer Muskelkraft, der immer in Thätigkeit ist und dessen lebhafte Willenskraft sich fortwährend in Handlungen auszusprechen sucht.

Robert Kurtis betritt eben jetzt das Verdeck. Ich fasse ihn schärfer in’s Auge und erstaune, daß er mir vorher noch nicht mehr aufgefallen ist. Da steht er in straffer und doch ungezwungener Haltung, mit stolzem Blicke und wenig gerunzelten Augenbrauen. Ja, das ist ein energischer Mann, der den kalten Muth wohl besitzen mag, welcher den wahren Seemann auszeichnen muß. Gleichzeitig ist ihm ein gutes Herz eigen, denn er interessirt sich für den jungen Letourneur und sucht ihm bei jeder Gelegenheit behilflich zu sein.

Nach Beobachtung des Himmels und einem Blick über das Segelwerk nähert sich uns der zweite Officier und nimmt an der Unterhaltung theil.

Ich sehe, daß der junge Letourneur gern mit ihm spricht. Robert Kurtis theilt uns einiges über die Passagiere mit, zu denen wir noch nicht in nähere Beziehung getreten sind.

Mr. und Mrs. Klear sind beide Amerikaner aus dem Norden, die ihre Reichthümer der Ausbeutung der Petroleumquellen verdanken. Bekanntlich ist ja hierin überhaupt die Ursache manches großen Vermögens in den Vereinigten Staaten zu suchen. Dieser Mr. Kear, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, dem man den »Parvenu« ansieht, ist ein trauriger Tischgenosse, der Nichts als sein persönliches Vergnügen im Auge hat. Fortwährend klappert das Metall in seinen Taschen, in welchen die Hände unausgesetzt herum wühlen. Stolz, aufgeblasen, ein Anbeter seiner selbst und Verächter aller Anderen, trägt er eine affectirte Theilnahmlosigkeit für Alles, was ihn nicht direct angeht, zur Schau. Er brüstet sich wie ein Pfau, »er riecht sich, er schmeckt sich und kostet sich«, um mit den Worten des berühmten Physiognomikers Gratiolet zu reden. Er ist ein Dummkopf und ein Egoist dazu. Ich begreife nicht, warum er an Bord des Chancellor gegangen ist, da das einfache Kauffahrtei-Schiff ihm den Comfort der transatlantischen Dampfer ja doch nicht gewähren kann.

Mrs. Kear ist eine nichtssagende, nachlässig auftretende Frau, der man die vierzig Jahre an den Schläfen schon ansieht, geistlos, unbelesen und ohne Unterhaltungsgabe. Sie schaut wohl hinaus, aber sieht Nichts; sie hört wohl, aber versteht Nichts. Ob sie wohl denken mag? Ich möchte es nicht behaupten.

Die einzige Beschäftigung dieser Frau besteht darin, sich jeden Augenblick von ihrer Gesellschaftsdame, der Miß Herbey, einer zwanzigjährigen Engländerin von sanftem und einnehmendem Wesen, bedienen zu lassen, einem jungen Mädchen, welches die wenigen Pfunde, die ihr der Oelbaron zuwirft, wohl nicht ohne Kränkung annimmt.

Diese Dame ist sehr hübsch; eine Blondine mit tiefblauen Augen, zeigt sie nicht jenes nichtssagende Gesicht, dem man bei so vielen Engländerinnen begegnet. Gewiß wäre ihr Mund reizend, wenn sie einmal Zeit oder Gelegenheit hätte, zu lächeln. Worüber sollte das arme Mädchen aber lächeln können, da sie jeden Augenblick den sinnlosen Nörgeleien und lächerlichen Launen ihrer Herrin ausgesetzt ist? Doch, wenn Miß Herbey im Inneren gewiß tief leidet, so verbirgt sie das doch und erscheint in ihr Schicksal völlig ergeben.

William Falsten, ein Ingenieur aus Manchester, vertritt den vollkommen englischen Typus. Er leitet ein großes Wasserwerk in Süd-Carolina und geht jetzt nach Europa, um neue vervollkommnetere Maschinen kennen zu lernen, unter Anderem die Centrifugen der Firma Cail. Ein Mann von fünfundvierzig Jahren, steckt etwas von einem Gelehrten in ihm, der aber nur an seine Maschinen denkt, den Mechanik und Rechnungen von Kopf bis zum Fuß erfüllen und der darüber hinaus für Nichts mehr Sinn hat. Wen er in seine Unterhaltung verwickelt, der kann unmöglich wieder davon loskommen und bleibt wie von einem endlosen Zahnrade darin gefesselt.

Mr. Ruby endlich repräsentirt den ganz gewöhnlichen Kaufmann ohne Erhabenheit und Originalität. Seit zwanzig Jahren hat dieser Mann nichts gethan, als zu kaufen und zu verkaufen, und da er im Allgemeinen theurer verkaufte, als er eingekauft hat, so hat er sich ein Vermögen erworben. Was er damit anfangen soll, weiß er selbst noch nicht. Dieser Ruby, dessen ganze Existenz in seinem Kramhandel aufging, denkt nicht und reflectirt nicht. Sein Gehirn ist für jeden Eindruck unzugänglich, und er rechtfertigt in keiner Weise das Wort Pascal’s: »Der Mensch ist offenbar zum Denken erschaffen, nur das macht seine Würde aus, und bildet sein Verdienst.«

XXXI.


XXXI.

Fortsetzung vom 7. December. – Der erste Tag hat sich durch kein besonderes Ereigniß ausgezeichnet.

Heute hat der Kapitän Robert Kurtis uns Alle, Passagiere und Matrosen, versammelt.

»Meine Freunde, sprach er uns an, achten Sie wohl auf meine Worte. Ich commandire auf diesem Flosse ebenso wie an Bord des Chancellor, und ich rechne ohne Ausnahme auf unbedingten Gehorsam. Denken wir nur an das allgemeine Wohl, seien wir einig, und möge der Himmel uns gnädig sein!«

Alle nahmen diese Worte mit Befriedigung auf.

Die schwache Brise, welche jetzt weht und deren Richtung der Kapitän mittels des Compasses bestimmt, nimmt etwas zu und bläst mehr aus Norden. Diesen günstigen Umstand darf man sich nicht entgehen lassen, um sich der Küste Amerikas so weit als möglich zu nähern. Sofort geht der Zimmermann Daoulas daran, den Mast in der Oeffnung des Vordertheils aufzurichten, den er durch zwei Spieren sorgsam stützt. Währenddem befestigen der Hochbootsmann und die Matrosen das kleine Topsegel an der Stenge, welche zu diesem Zwecke aufbewahrt worden ist.

Um neuneinhalb Uhr wird der Mast aufgerichtet, dem zwei von den Seiten der Plattform aufsteigende Strickleitern noch mehr Stabilität verleihen. Das Segel wird gehißt, und unser Floß bewegt sich mit dem Winde im Rücken merkbar fort.

Nach Beendigung dieser Arbeit versucht der Zimmermann auch ein Steuerruder herzustellen, um mit dessen Hilfe das Floß in der gewünschten Richtung zu erhalten. Robert Kurtis und der Ingenieur Falsten gehen ihm dabei mit Rath und That zur Hand, und nach zwei Stunden Arbeit ist an dem Hintertheile eine Art Bootsriemen angebracht, ähnlich denen, wie sie an den malayischen Dschonken gebräuchlich sind.

Inzwischen hat Kapitän Robert Kurtis die nothwendige Beobachtung zur Bestimmung der geographischen Länge unternommen, und zu Mittag gelingt es ihm, die Sonnenhöhe mit großer Genauigkeit zu messen.

Der Punkt unserer Lage ist nach seiner Beobachtung:

15° 7′ nördlicher Breite, 49° 35′ westlicher Länge von Greenwich.

Durch Eintragung auf die Courskarte ergiebt es sich, daß wir uns gegen 650 Meilen nordöstlich von Paramaibo, d. h. dem nächsten Theile des amerikanischen Continents, der wie erwähnt zum Gebiete von Holländisch-Guyana gehört, befinden.

Wenn wir nur mittelmäßiges Glück haben, dürfen wir doch nicht, selbst bei constanter Hilfe der Passatwinde, darauf rechnen, mehr als zehn bis zwölf Meilen täglich zurückzulegen, da ein so unvollkommener Apparat, wie ein Floß, den Wind nicht vortheilhaft auszunutzen vermag. Darnach hätten wir auf eine Fahrt von zwei Monaten zu rechnen, selbst unter den günstigsten Umständen, abgesehen von dem wenig wahrscheinlichen Falle der Begegnung eines Schiffes. Der Atlantische Ocean ist aber gerade in diesem Theile weit weniger besucht als weiter nördlich oder südlich. Wir sind zum Unglück zwischen die Schiffswege nach den Antillen und die nach Brasilien mitten hinein geworfen worden, welche die transatlantischen englischen oder französischen Steamer einhalten, und es ist besser, wir verlassen uns nicht auf den Zufall einer Begegnung. Wenn wir noch überdies in die Regionen der Calmen kämen oder der umschlagende Wind uns nach Osten treiben sollte, so werden aus den zwei Monaten vier, ja sechs werden, und vor Ablauf des dritten dürften unsere Lebensmittel wohl schon zur Neige gehen!

Die Klugheit erfordert also, daß wir nur das dringend nothwendige Quantum verzehren. Kapitän Kurtis hat uns das Alles vorgestellt, und wir haben die Lebensvorschriften strengstens festgesetzt. Für Alle ohne Unterschied werden die Rationen so bemessen, daß Hunger und Durst wenigstens halb gestillt werden. Die Leitung des Flosses erfordert keinen großen Aufwand physischer Kräfte, und uns kann wohl eine schmälere Kost genügen. Der Branntwein, von dem das Fäßchen nur fünf Gallonen (etwa 23 Liter) enthält, soll nur mit größter Sparsamkeit vertheilt werden, und Niemand ohne ausdrückliche Erlaubniß des Kapitäns das Recht haben, ihn anzurühren.

Das Leben an Bord ist in folgender Weise geregelt: fünf Unzen Fleisch und fünf Unzen Schiffszwieback täglich für den Mann! Das ist zwar wenig, doch kann die Ration nicht verstärkt werden, denn fünfzehn Magen verzehren bei diesen Verhältnissen des Consums fünf Pfund täglich, oder in vier Monaten 600 Pfund. Alles in Allem besitzen wir aber nur 600 Pfund Fleisch und Zwieback. Man muß also bei diesem Maße stehen bleiben. Die vorräthige Menge Wasser kann etwa auf 130 Gallonen (d. s. gegen 600 Liter) geschätzt werden, und man ist dahin übereingekommen, Jedem täglich eine Pinte (d. i. 56 Centiliter) zu verabreichen, wobei wir auch drei Monate ausreichen werden.

Jeden Morgen um 10 Uhr findet durch den Bootsmann die Vertheilung der Lebensmittel statt. Jeder empfängt dann die ihm auf den Tag zukommende Ration, die er verzehren kann, wann es ihm beliebt. Das Wasser, für welches es uns an geeigneten Gefäßen fehlt, um es zu schöpfen, soll zweimal des Tages, Morgens um zehn Uhr und Abends um sechs Uhr, ausgetheilt werden, und muß es Jeder sofort trinken.

Es ist nicht zu vergessen, daß es noch zwei Möglichkeiten giebt, die unsere Portionen vermehren könnten: den Regen, der uns Wasser liefern würde, und den Fischfang, der uns mit Fischen versorgen könnte. Zum Fangen des Regens werden zwei leere Behälter aufgestellt, und nach der anderen Seite beeilen sich die Matrosen, geeignete Angelgeräthschaften herzustellen.

Das sind die Maßregeln, welche wir verabredet haben und strengstens einzuhalten überein gekommen sind. Nur dadurch dürfen wir hoffen, einer Hungersnoth vorzubeugen. Wir kennen Alle genug Beispiele, welche uns die peinlichste Vorsicht gerathen erscheinen lassen, und wenn wir wirklich den Becher des Unglücks bis zum letzten Tropfen leeren sollen, so wird es uns beruhigen, gethan zu haben, was in unseren Kräften stand.

XXXII.


XXXII.

Vom 8. bis 17. December. – Der Abend ist herangekommen, wir haben uns unter die Segelstücken verkrochen, und da ich von dem Aufenthalt im Mastkorbe furchtbar ermüdet war, habe ich einige Stunden schlafen können. Das verhältnißmäßig gering belastete Floß hebt und senkt sich leicht, und da das Meer nicht schäumt, bleiben wir auch von den Wellen verschont. Zum Unglück kann aber der Seegang nur dadurch schwächer werden, daß der Wind sich ermäßigt, und gegen Morgen bin ich in der Lage, in mein Journal eintragen zu müssen: Ruhig Wetter.

Bis zum Anbruch des Tages hat sich nichts Neues ereignet. Auch die Herren Letourneur haben einen Theil der Nacht geschlafen, und noch einmal haben wir uns die Hand gedrückt. Miß Herbey hat ebenfalls geschlummert, und ihre jetzt weniger angegriffenen Züge haben ihre gewohnte Ruhe wieder angenommen.

Wir befinden uns unterhalb des fünfzehnten Breitengrades. Die Hitze am Tage ist sehr stark, und die Sonne glänzt ungewöhnlich hell. Ein heißer Dunst schwebt in der Atmosphäre. Da der Wind nur stoßweise auftritt, so hängt das Segel während der Ruhepausen, die immer länger werden, schlaff am Maste. Robert Kurtis und der Bootsmann wollen aus gewissen nur den Seeleuten verständlichen Zeichen erkennen, daß eine Strömung von zwei bis drei Meilen in der Stunde uns nach Westen zu weiter trägt. Das wäre ein sehr günstiger Umstand der unsere Ueberfahrt merklich abkürzen könnte. Möchten der Kapitän und der Hochbootsmann sich nicht getäuscht haben, denn bei der hohen Lufttemperatur dieser Tage will die Wasserration kaum hinreichen, nur unsern quälendsten Durst zu löschen.

Und doch, seitdem wir den Chancellor oder vielmehr die Mastkörbe des Schiffes verlassen und uns auf dem Flosse eingeschifft haben, hat sich unsere Lage wesentlich verbessert, denn der Chancellor konnte jede Minute untergehen, und die Plattform, welche uns trägt, ist wenigstens fest und solid. Alle, ich wiederhole es, erkennen auch die jetzige günstige Lage unverhohlen an. Man lebt fast ganz nach seinem Vergnügen und kann hin und her gehen. Am Tage tritt man wohl zusammen, plaudert, bespricht dieses und jenes, oder betrachtet das Meer. In der Nacht schläft man unter der Segeldecke. Die Beobachtung des Himmels, die nöthige Aufmerksamkeit auf die Logleinen, welche zur Bestimmung der Geschwindigkeit der Fahrt ausgelegt sind, alles erweckt unser Interesse.

»Mr. Kazallon, sagt da André Letourneur einige Tage nach unserer Einschiffung auf dem neuen Apparat zu mir, es scheint, als sollten wir hier die Tage der Ruhe wiederfinden, welche unseren Aufenthalt auf dem Ham-Rock-Eilande so angenehm machten.

– Gewiß, so scheint es, mein lieber André, habe ich geantwortet.

– Doch möchte ich auch hinzufügen, daß das Floß vor dem Eilande einen großen Vorzug hat, – es trägt uns weiter!

– So lange wir günstigen Wind behalten, André, ist der Vorzug offenbar auf der Seite des Flosses, wenn dieser aber umschlägt…

– Sie haben recht, Mr. Kazallon, antwortet mir der junge Mann. Doch wir wollen nicht niedergeschlagen sein, sondern frohe Hoffnung haben!«

Ja wohl, diese Hoffnung hegen jetzt auch alle Anderen! Es gewinnt den Anschein, daß wir die fürchterlichsten Prüfungen für immer überstanden haben! Alle Verhältnisse sind uns günstig geworden, und es ist Keiner unter uns, der sich jetzt nicht beruhigt fühlte!

Was in der Seele Robert Kurtis‘ vorgeht, weiß ich nicht; ebenso wenig, ob er unsere Gedanken theilt, denn er hält sich etwas abseits. Gewiß ist seine große Verantwortlichkeit daran schuld! Er ist der Chef, der nicht nur für sein eigenes Leben, sondern auch für das aller Uebrigen zu sorgen hat! Ich weiß, daß er seine Pflicht in diesem Sinne auffaßt. Oft sehen wir ihn in Gedanken versunken, und Jeder vermeidet es dann, ihn zu stören.

Die langen Stunden ohne Beschäftigung bringt der größte Theil der Mannschaft auf dem Vordertheile schlafend zu. Auf Anordnung des Kapitäns ist der Hintertheil für die Passagiere reservirt worden, wo man auf Stangen eine Art Zelt errichtet hat, das uns einigen Schutz gewährt. Wir erfreuen uns Alle eines befriedigenden Wohlseins. Nur der Lieutenant Walter kann nicht wieder zu Kräften kommen. Alle ihm zugewendete Sorgfalt ist vergebens, und er wird von Tag zu Tag schwächer.

André Letourneur habe ich niemals mehr schätzen gelernt, als unter unseren jetzigen Verhältnissen. Dieser liebenswürdige junge Mann ist die Seele unserer kleinen Welt. Bei seinem originellen Geiste überrascht er häufig durch seine neuen Ideen und unerwarteten Anschauungen der Sachen, die ihm so eigen sind. Seine Unterhaltung zerstreut immer und belehrt nicht selten. Wenn André spricht, belebt sich seine kränkelnde Physiognomie. Sein Vater scheint die Worte Jenes aufzusaugen, und manchmal erfaßt er die Hand des Sohnes, die er lange Zeit betrachtet.

Dann und wann mischt sich auch, obwohl mit sorglichster Zurückhaltung, Miß Herbey in unser Gespräch; Jeder von uns bestrebt sich nach Kräften, sie durch alle möglichen Zuvorkommenheiten vergessen zu lassen, daß sie Diejenigen verloren, die naturgemäß ihre Beschützer sein sollten. In Mr. Letourneur hat das junge Mädchen einen verläßlichen Freund gefunden, wie nur ein Vater einer sein könnte, und zu ihm spricht sie mit der hingebenden Offenheit, welche ihr das Alter desselben gestattet. Auf sein Ersuchen hat sie ihm ihre Lebensgeschichte mitgetheilt, – die Geschichte eines Lebens voll Muth und Selbstverleugnung, das so häufige Loos der meisten armen Waisen. Seit zwei Jahren war sie im Hause des Mr. Kear, und jetzt ohne alle Mittel, ohne Aussichten auf die Zukunft, doch immer voller Vertrauen, da sie sich gegen jede Prüfung des Schicksals gewappnet fühlt. Miß Herbey erzwingt sich durch ihren Charakter, ihre moralische Energie die ungetheilteste Hochachtung, und auch gewisse ungebildetere Leute an Bord hüten sich vor jedem Worte und jeder Geste, die sie unangenehm berühren könnten.

Vom 12. bis 14. December ist keine Aenderung in der Situation eingetreten, in wechselnder Stärke hat der Wind fortwährend aus Osten geweht. Eigentliche Schiffsmanoeuvre sind auf dem Flosse überflüssig; selbst das Steuer, oder vielmehr der Bootsriemen braucht in seiner Stellung nicht geändert zu werden. Unser Apparat läuft mit dem Winde im Rücken, und seine Gestalt verhindert das Schwanken nach der oder jener Seite. Im Vordertheile bleiben stets einige Matrosen auf Wache, welche beauftragt sind, das Meer mit peinlichster Sorgfalt zu beobachten.

Sieben Tage sind nun verflossen, seit wir den Chancellor verlassen, und gestehe ich, daß wir uns an die Rationen schon gewöhnt haben – wenigstens bezüglich der festen Nahrung. Freilich sind unsere Kräfte auch nach keiner Seite hin in Anspruch genommen. Wir »nutzen uns nicht ab«, – um den volksthümlichen Ausdruck zu gebrauchen, der meine Gedanken recht treffend bezeichnet, – und unter derartigen Verhältnissen braucht der Mensch nur wenig zu seiner Erhaltung. Am meisten empfinden wir die Beschränkung des Wassergenusses, und bei der großen Hitze ist die uns zugetheilte Quantität notorisch unzureichend.

Am 15. December wimmelt es plötzlich rund um das Floß von einer großen Menge Fische, sogenannter Seebrassen. Obwohl unser Angelgeräthe nur aus langen Schnuren besteht, an denen ein umgebogener Nagel mit einem Stückchen gedörrten Fleisches als Lockspeise befestigt ist, so gelingt es uns doch, eine nicht unbeträchtliche Menge dieser Brassen zu fangen.

Der Tag bescheerte uns einen wahrhaft wunderbaren Fischzug und veranlaßte ein wirkliches Fest an Bord. Ein Theil jener Fische wurde geröstet, ein anderer in Meerwasser über einem auf dem Vordertheile angezündeten Holzfeuer gekocht. O, das gab eine Mahlzeit! Und dabei sparten wir an unseren Vorräthen. Diese Brassen erscheinen in solcher Unzahl, daß wir binnen zwei Tagen über zweihundert Pfund derselben einfangen. Wenn jetzt noch Regen fallen sollte, müßte sich Alles für uns zum Besten wenden.

Leider hielt sich jener Schwarm von Fischen nicht lange in unserer Nähe auf. Am 17. sind einige große Haifische, von der vier bis fünf Meter langen Art der sogenannten getigerten Haie, an der Oberfläche des Meeres erschienen. Ihre Kiefern und der untere Theil des Körpers sind schwarz mit weißen Flecken und Querlinien. Die Gegenwart solcher gefährlichen Quermäuler hat immer etwas Beunruhigendes, denn wir befinden uns bei dem geringen Emporragen des Flosses fast in einem Niveau mit ihnen, und schon mehrmals haben sie mit dem Schwanze heftig gegen unseren Bau geschlagen. Zwar ist es den Matrosen gelungen, sie durch Schläge mit Pfählen zu vertreiben, doch sollte es mich sehr wundern, wenn sie uns nicht, wie eine Beute, die ihnen nicht entgehen kann, hartnäckig nachfolgten. Geschöpfe »mit solchem Ahnungsvermögen« liebe ich aber keineswegs.

XXVIII.


XXVIII.

Fortsetzung vom 6. December. – Der Chancellor wird jetzt im Wasser nicht mehr ganz im Gleichgewicht gehalten, und er droht allmälig unterzugehen.

Glücklicherweise soll das Floß noch diesen Abend fertig werden, und man wird sich auf demselben einrichten können, wenn Robert Kurtis es nicht vorzieht, damit bis zum Anbruch des Tages zu warten. Der Unterbau ist sehr fest ausgeführt. Die Balken desselben sind mit starken Tauen verbunden, und da sie kreuzweise übereinander liegen, so erhebt sich das Ganze etwa um zwei Fuß über das Wasser.

Die Plattform ist aus Planken der Schanzkleidung hergestellt, welche die Wellen abgerissen haben und die man geschickt verwendet hat. Schon im Laufe des Nachmittags beginnt man, es mit Allem, was an Lebensmitteln, Segelwerk, Instrumenten und Werkzeugen gerettet worden ist, zu beladen. Eile thut noth, denn der Mastkorb des Mittelmastes ragt nur noch zehn Fuß über das Meer empor, und vom Bugspriet ist nur die äußerste schief aufsteigende Spitze noch sichtbar. Ich würde mich sehr wundern, wenn der morgende Tag nicht der letzte des Chancellor wäre!

Und in welchem moralischen Zustande befinden wir uns nun? Ich suche mir klar zu werden über mein eigenes Innere, und es scheint mir, daß ich mehr zu einer unbewußten Theilnahmlosigkeit hinneige, als zu dem Gefühl der Ergebung. Mr. Letourneur lebt ganz in seinem Sohne, der seinerseits wieder nur an den Vater denkt. André zeigt übrigens eine muthige, würdige, christliche Resignation, die ich nicht besser als mit derjenigen Miß Herbey’s zu vergleichen vermag. Falsten ist stets der Alte, und, Gott verzeihe mir, der Ingenieur rechnet noch immer in seinem Notizbuche! Mrs. Kear geht trotz der Sorgfalt des jungen Mädchens und der meinigen der Auflösung mehr und mehr entgegen.

Von den Matrosen sind zwei oder drei ganz ruhig, die andern aber nahe daran, den Kopf zu verlieren, einige scheint ihr rohes Naturell zu Excessen zu verführen. Die Leute, welche dem verderblichen Einflüsse Owen’s und Jynxtrop’s unterliegen, werden schwer im Zaume zu halten sein, wenn wir mit ihnen auf dem beschränkten Flosse zusammen leben müssen!

Der Lieutenant Walter ist ganz entkräftet; trotz seines Muthes hat er darauf verzichten müssen, länger Dienst zu thun. Robert Kurtis und der Bootsmann sind energische, unerschütterliche Männer, welche die Natur »in ihrem besten Feuer geschmiedet hat«.

Gegen fünf Uhr Abends hat eine unserer Unglücksgefährtinnen aufgehört zu leiden. Mrs. Kear ist nach schmerzlichem Todeskampfe, doch wahrscheinlich ohne Bewußtsein unserer Lage, verschieden. Sie stieß nur einige Seufzer aus, und Alles war vorüber. Bis zum letzten Augenblicke hat Miß Herbey mit einer uns Alle tief ergreifenden Ergebenheit der Herrin alle ihre Sorgfalt gewidmet!

Die Nacht verging ohne allen weiteren Zufall. Am Morgen, beim ersten Tagesgrauen, habe ich die Hand der Todten ergriffen, welche schon ganz erkaltet und starr war. Den Körper konnten wir nicht länger im Mastkorbe behalten. Miß Herbey und ich, wir wickeln sie in ihre Kleider, sprechen ein stilles Gebet für die Seele der unglücklichen Frau und – das erste Opfer so vielen Elends stürzt in die Fluthen.

Da ruft Einer der Leute, die sich in den Strickleitern befinden, uns die entsetzlichen Worte zu:

»Da, um diese Leiche wird es uns noch leid thun!«

Ich drehe mich um. Owen war es, der also sprach.

Dann beschleicht mich aber der Gedanke, daß die Lebensmittel uns wirklich mit der Zeit ausgehen könnten!