XL.


XL.

Am 7. Januar. – >Seit einigen Tagen spült das Meer fast unaufhörlich über die Plattform des Flosses hinweg, und hat nach und nach die Füße einiger Matrosen wund gemacht. Owen, den der Bootsmann seit der Revolte im Vordertheil gefesselt hält, ist in bejammernswerthem Zustande, und seine Bande werden auf unsere Bitten hin gelöst. Auch Sandon und Burke haben durch das ätzende Salzwasser mehr oder weniger gelitten, und sind wir Andern nur deshalb davon verschont geblieben, weil das Hintertheil des Flosses den Wellen weniger ausgesetzt ist.

Heute hat sich der Hochbootsmann in wüthendem Hunger auf das Segelzeug, so wie auf Holzstücke gestürzt, und noch immer höre ich seine Zähne diese Stoffe zermalmen. Der Unglückliche sucht nur seinen Magen zu füllen, um die Schleimhäute desselben wieder einmal auszudehnen. Zuletzt findet er an einem der Maststücke, welche die Plattform tragen, ein Stück Leder. Dieses Leder ist ja eine thierische Materie, deren er sich bemächtigt, sie verzehrt, und mit welcher er sich doch einige Erleichterung zu verschaffen scheint. Alle thun es ihm nach. Ein Hut von gummirtem Leder, die Sturmriemen der Mützen, jede animalische Substanz wird angenagt. Uns treibt ein bestialischer Instinct, dem Niemand zu widerstehen vermag. Einen Augenblick scheint es, als ob wir aller menschlichen Eigenschaften beraubt wären, und niemals werde ich diese Scenen vergessen!

Wenn auch der Hunger nicht eigentlich zu stillen war, so ist doch sein Drängen eine Zeit lang unterdrückt. Einige unter uns konnten diese Art Nahrung freilich nicht einmal vertragen und fingen darauf an, an Uebelkeiten zu leiden.

Man verzeihe mir diese Einzelheiten! Ich mag Nichts verhehlen, was die Schiffbrüchigen des Chancellor zu leiden hatten! Man wird aus diesen Berichten erfahren, welches moralische und physische Elend menschliche Wesen zu ertragen im Stande sind! Das verleihe diesem Tagebuche seinen Werth! Ich werde nichts verschweigen, und leider ahnet mir, daß wir unsere Leiden noch nicht erschöpft haben!

Eine Beobachtung, die ich während der oben erwähnten Scene zu machen Gelegenheit hatte, bestärkt mich in meinem Verdacht gegen den Steward. Trotzdem daß Hobbart sein Jammern nicht unterbrach, ja es wo möglich noch übertrieb, hat er sich bei jener Scene nicht betheiligt. Wenn man ihn hört, sollte man glauben, daß er schon Hungers sterbe, und wenn man ihn sieht, scheint er allein von den allgemeinen Qualen verschont zu sein. Besitzt dieser Heuchler noch einen geheimen Vorrath? Ich habe ihn schon überwacht, aber noch nichts entdecken können.

Die Hitze ist immer bedeutend und sogar unerträglich, wenn die Brise sie nicht mäßigt. Unser Wasservorrath ist gewiß unzureichend, aber der Hunger ertödtet in uns den Durst. Und wenn ich mir nun gar noch sage, daß die Entbehrung des Wassers uns noch mehr foltern wird, als die der festen Nahrung, so kann ich es kaum glauben, oder mir wenigstens nicht augenblicklich vergegenwärtigen. Doch steht diese Thatsache unzweifelhaft fest, und Gott wolle es verhüten, daß wir auch das noch auskosten sollen!

Zum Glück enthält die halb zerbrochene Wassertonne noch immer einige Pinten Wasser, und die andere ist ja noch unversehrt. Trotzdem sich unsere Anzahl vermindert hat, so hat der Kapitän dennoch, entgegen dem Widerspruche von manchen Seiten, die täglichen Rationen auf eine halbe Pinte herabgesetzt. Ich stimme ihm hierin vollständig bei.

Vom Branntwein haben wir nur noch eine Viertel-Gallone übrig, die auf dem Hintertheile des Flosses an sicherer Stelle untergebracht ist.

Heute, am 7., gegen ein halb acht Uhr Abends, hat wieder Einer von uns aufgehört zu leiden. Wir sind nur noch vierzehn! Der Lieutenant Walter hat sein Leben in meinen Armen ausgehaucht, und weder die Sorgfalt Miß Herbey’s, noch die meinige hat ihm nützen können … er hat überstanden!

Wenige Minuten vor seinem Tode hat der Lieutenant Miß Herbey und mir mit einer kaum noch zu verstehenden Stimme seinen Dank ausgesprochen.

»Mr. Kazallon, flüsterte er und ließ einen zerknitterten Brief aus seiner zitternden Hand gleiten, dieser Brief … von meiner Mutter …, ich habe keine Kräfte mehr … der letzte, den ich erhielt … sie schreibt mir: »Ich erwarte Dich, mein Kind, ich will Dich wiedersehen!« Nein, Mutter, Du wirst mich nicht mehr wiedersehen! Mr. … diesen Brief … legen sie ihn dahin, auf meine Lippen, da … dahin, ihn küssend will ich sterben … meine Mutter … mein Gott! …«

Ich habe den Brief aus Lieutenant Walter’s schon erkalteter Hand genommen und ihn auf seine Lippen gelegt. Noch einen Augenblick schien sein Auge aufzuleuchten, und wir hörten ein schwaches Geräusch, wie von einem Kusse!

Er ist todt, der Lieutenant Walter! Gott sei seiner Seele gnädig!

V.


V.

Am 7. October. – Wir haben Charleston vor zehn Tagen verlassen, und wie mir scheint, gute Fahrt gemacht. Ich plaudere häufig mit dem zweiten Officier, und es hat sich zwischen uns eine gewisse Vertrautheit ausgebildet.

Heute meldet mir Robert Kurtis, daß wir uns nicht weit mehr von den Bermuden-Inseln, d. h. gegenüber dem Cap Hatteras, befinden. Die Beobachtung hat 32º 20′ nördliche Breite und 64º 50′ westliche Länge von Greenwich ergeben.

Wir werden die Bermuden, und speciell die Insel St. Georg, noch vor Nacht in Sicht bekommen, sagte mir der zweite Officier.

– Wie, habe ich ihm geantwortet, wir steuern auf die Bermuden? Ich war der Meinung, daß ein von Charleston nach Liverpool segelndes Schiff nach Norden halten und dem Golfstrome folgen müsse.

– Gewiß, Mr. Kazallon, antwortete Robert Kurtis, gewöhnlich schlägt man diese Richtung ein, es scheint aber, als habe der Kapitän für dieses Mal die Absicht, davon abzugehen.

– Warum?

– Das weiß ich nicht, er hat aber befohlen nach Osten zu steuern, so geht der Chancellor nach Osten!

– Haben Sie ihm aber nicht bemerkt, daß…

– Ich habe ihm bemerkt, daß das nicht der gebräuchliche Weg sei, und er hat mir geantwortet, daß er schon wisse, was er zu thun habe.«

Bei diesen Worten zog Robert Kurtis mehrmals die Augenbrauen zusammen, strich mit der Hand über die Stirn und schien mir nicht Alles auszusprechen, was er sagen wollte.

»Inzwischen, Mr. Kurtis, habe ich ihm gesagt, wir sind schon am 7. October, und das scheint mir keine geeignete Zeit, neue Schiffswege versuchsweise zu befahren. Wenn wir noch vor Eintritt der schlechten Jahreszeit in Europa anlangen wollen, haben wir keinen Tag zu verlieren.

– Nein, Mr. Kazallon, nicht einen Tag!

– Halten Sie mich für indiscret, Mr. Kurtis, wenn ich die Frage an Sie richte, was Sie von Kapitän Huntly halten?

– Ich denke, antwortete mir der zweite Officier, ich denke, daß … er mein Kapitän ist!«

Diese ausweichende Antwort konnte nicht zu meiner Beruhigung dienen.

Robert Kurtis hatte sich nicht getäuscht. Gegen drei Uhr meldete der auslugende Matrose: Land in Sicht im Nordosten! Noch ist dasselbe freilich nur wie eine Dunstschicht sichtbar.

Um sechs Uhr begab ich mich mit den beiden Herren Letourneur auf das Verdeck, und wir betrachteten die im Allgemeinen sehr flachen Bermuden-Inseln, welche eine Kette gefährlicher Riffe umschließt.

»Da liegt also der reizende Archipel, beginnt André Letourneur, die pittoreske Gruppe, welche Ihr heimatlicher Dichter, Thomas Moore, in seinen Oden gepriesen hat! Schon im Jahre 1643 lieferte der verbannte Walter eine enthusiastische Beschreibung derselben, und wenn ich nicht irre, wollten englische Damen eine Zeit lang keine anderen Hüte tragen, als solche, die aus gewissen Blättern einer bermudischen Palme geflochten waren.

– Sie haben recht, lieber Andrè, antwortete ich, der Bermuden-Archipel war im siebenzehnten Jahrhundert sehr in Mode; jetzt ist er indessen ganz in Vergessenheit gerathen.

– Uebrigens, Herr Andrè, sagte da Robert Kurtis, die Dichter, welche mit Enthusiasmus von diesem Archipel sprechen, stimmen mit den Seeleuten keineswegs überein; denn das Land, dessen Anblick so verführerisch erscheint, ist zu Schiffe sehr schwierig zu erreichen, und der Klippengürtel, der sich halbkreisförmig in der Entfernung von zwei bis drei Stunden um dasselbe zieht, wird von den Seefahrern mit Recht gefürchtet. Was die ewige Heiterkeit des Himmels betrifft, die von den Bewohnern der Bermuden so gern hervorgehoben wird, so unterbrechen dieselbe ziemlich häufig gerade die heftigsten Stürme. Ueber diese Inseln rasen die Ausläufer der Wirbelstürme, die in den Antillen oft so viel Unheil anrichten, ja, und eben jene Ausläufer sind, ebenso wie der Schweif des Walfisches, am meisten zu fürchten. Ich für meinen Theil möchte aber Seefahrern auf dem Atlantischen Oceane nicht rathen, den Berichten eines Walter oder Thomas Moore zu viel Glauben beizumessen.

– Herr Kurtis, hebt da lächelnd Andrè Letourneur an, Sie mögen wohl recht haben. Die Dichter gleichen häufig den Sprichwörtern, das eine widerspricht immer dem anderen. Hat Thomas Moore und Walter diesen Archipel als einen wundervollen Aufenthalt gepriesen, so hat dagegen der größte Ihrer Dichter, Shakespeare, der ihn ohne Zweifel besser kannte, die schrecklichsten Scenen seines »Sturmes« dahin verlegen zu sollen geglaubt.«

In der That sind die Umgebungen des Bermuden-Archipels eine sehr gefährliche Gegend. Die Engländer, denen die Inselgruppe seit ihrer Entdeckung gehört, benutzen sie nur als einen zwischen den Antillen und Neu-Schottland eingeschobenen Militärposten.

Uebrigens scheint jener, und zwar in großem Maßstabe, zu wachsen bestimmt. Mit der Zeit – dem Principe, dem die größten Schöpfungen der Natur ihre Entstehung verdanken – dürfte dieser Archipel, der jetzt schon über hundertundfünfzig Inseln zählt, deren eine noch weit größere Menge aufweisen, denn unablässig sind die Sternkorallen thätig, neue Bermuden aufzubauen, die sich nach und nach unter einander verbinden, und wohl einen neuen Kontinent zu bilden berufen sind.

Weder die drei anderen Passagiere, noch Mrs. Kear haben sich die Mühe genommen, das Verdeck zu besteigen, um den merkwürdigen Archipel zu betrachten. Was Miß Herbey angeht, so war diese nur auf dem Oberdeck erschienen, als sich schon die näselnde Stimme der Mrs. Kear vernehmen ließ und das junge Mädchen wieder neben ihrer launischen Herrin Platz zu nehmen nöthigte.

XLI.


XLI.

Am 8. Januar. – Die ganze Nacht über bin ich neben dem todten Körper geblieben, und Miß Herbey hat wiederholt Gebete für sein Seelenheil verrichtet.

Bei Anbruch des Tages ist der Leichnam völlig erkaltet. Ich hatte Eile … ja! Eile, ihn in’s Meer zu werfen, und ersuchte Robert Kurtis, mir in diesem traurigen Geschäfte beizustehen. Nach Einhüllung in seine Kleidungsstücke werden wir ihn den Wellen übergeben, und ich hoffe, daß er bei seiner außerordentlichen Magerkeit sich nicht schwimmend erhalten wird.

Mit Tagesgrauen treffen wir, Robert Kurtis und ich, gewisse Vorsichtsmaßregeln, nicht gesehen zu werden, und entnehmen den Taschen des Lieutenants noch einige Gegenstände, welche dessen Mutter zugestellt werden sollen, wenn Einer von uns am Leben bleibt.

Eben als ich den Leichnam in die Kleidungsstücke bringen will, die ihm als Bahrtuch dienen sollen, kann ich eine Bewegung des Entsetzens nicht unterdrücken.

Der rechte Fuß fehlt, das Bein ist nur noch ein blutiger Stumpf!

Wer ist der Urheber dieser Schändung? Ich bin also doch wohl in der Nacht einmal der Ermüdung erlegen, und Jemand hat sich meinen Schlummer zu Nutzen gemacht, diesen Körper zu verstümmeln. Aber wer, wer hat das gethan?

Robert Kurtis sieht rings umher, und seine Augen sprühen Flammen. An Bord bemerkt man nichts Ungewöhnliches, nur einige Jammerlaute unterbrechen das Stillschweigen. Vielleicht belauert man uns! Eilen wir, die Ueberreste in’s Meer zu bringen, um noch schrecklichere Auftritte zu vermeiden.

Nach einem kurzen Gebete des Kapitäns lassen wir den Leichnam in die Fluthen gleiten, in denen er sofort versinkt.

»Donnerwetter! Die Haifische werden gut gemästet!«

Wer sprach das? Ich drehe mich um. Es war der Neger Jynxtrop.

Der Bootsmann stand gleichfalls in meiner Nähe.

»Vermuthen Sie, sage ich zu ihm, daß jene Unglücklichen diesen Fuß …

– Diesen Fuß … ah, ja! erwidert mir der Hochbootsmann. Im Uebrigen war das ihr Recht.

– Was? Ihr Recht? rufe ich erstaunt.

– Herr, entgegnet der Hochbootsmann, es ist besser, einen Todten zu verzehren, als einen Lebendigen!«

Diese frostige Antwort läßt mich verstummen, und ich gehe, um mich zu sammeln, nach dem Hintertheile des Flosses.

Gegen elf Uhr überrascht uns ein glücklicher Zufall. Der Hochbootsmann, der schon seit dem Morgen seine Angelschnuren wieder hat nachschleppen lassen, erzielt einen Erfolg, – er hat drei Fische gefangen. Es sind drei ziemlich große Schellfische von vierundzwanzig Centimeter Länge und zu der Art gehörig, welche getrocknet unter dem Namen »Stockfisch« bekannt ist.

Kaum hat der Hochbootsmann die drei Fische an Bord gezogen, so stürzen sich die Matrosen auf dieselben. Der Kapitän Kurtis, Falsten und ich werfen uns dazwischen, und die Ordnung ist bald wieder hergestellt. Es ist freilich wenig, drei Schellfische für vierzehn Verhungerte, doch es bekommt Jeder seinen Theil. Die Einen verschlingen die Fische roh, man möchte sagen, noch lebend, und das thun die Meisten. Robert Kurtis, André Letourneur und Miß Herbey haben die Ueberwindung, zu warten. Auf einer Ecke des Flosses entzünden sie mittels einiger Stückchen Holz ein Feuer und rösten ihren Antheil. Ich habe nicht denselben Muth gehabt und verzehre das Fleisch noch blutend!

Mr. Letourneur ist nicht weniger ungeduldig gewesen, als ich und die meisten Anderen. Wie ein ausgehungerter Wolf stürzte er sich auf das ihm zukommende Stück Fisch. Wie vermag dieser unglückliche Mann, der so lange Zeit nichts genossen hat, nur überhaupt noch zu leben? – Ich begreife das nicht.

Ich erwähnte die große Freude des Bootsmannes, als er seine Angelleinen einzog, und diese Freude steigert sich fast bis zum Wahnwitz. Wenn der Fischfang noch weitere Beute liefert, ist es sicher, daß er uns vor einem grauenvollen Tode rettet.

Ich spreche deshalb mit dem Hochbootsmann und treibe ihn an, seine Versuche zu wiederholen.

»Ja wohl! antwortet er mir, ja … gewiß … ich werde es thun! …

– Und warum legen Sie die Schnuren nicht schon wieder ein?

– Jetzt nicht! erwidert er ausweichend. Die Nacht ist günstiger als der Tag zum Fange der größeren Fische, und wir dürfen auch den Köder nicht verschwenden, denn vorhin haben wir Dummköpfe auch nicht ein Stückchen übrig gelassen, um es zum nächsten Fischfang zu verwenden!«

Das ist wahr, und der Fehler vielleicht nicht wieder gut zu machen.

»Indessen, werfe ich ein, da es Ihnen das erste Mal gelang ohne Lockspeise …

– Ich hatte welche.

– Eine gute?

– Eine ausgezeichnete, Herr, da jene Fische darauf anbissen!«

Ich sehe den Bootsmann an, dessen Blick auch auf mir haftet.

»Haben Sie auch noch etwas für Ihre Angelhaken übrig? frage ich.

– Ja wohl«, antwortete der Seemann mit leiser Stimme und wendet sich ohne ein weiteres Wort weg.

Die dürftige Nahrung hat uns aber doch einige Kräfte gegeben und neue Hoffnungen erweckt. Wir sprechen von dem Fischfange des Hochbootsmannes und können es gar nicht glauben, daß dieser nicht wiederholt von Erfolg sein werde. Sollte das Geschick endlich satt sein, uns zu prüfen?

Ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß in unserem Geiste eine Veränderung vor sich gegangen ist, liegt für mich darin, daß wir anfangen, von der Vergangenheit zu reden. Unsere Gedanken sind nicht einzig und allein auf die martervolle Gegenwart gerichtet oder auf die furchtbare Zukunft, die uns doch drohend bevorsteht. Die Herren Letourneur, der Ingenieur Falsten, der Kapitän Kurtis und ich erinnern uns der einzelnen Vorkommnisse seit dem Schiffbruche, lassen die Bilder der Umgekommenen an uns vorüberziehen, die Details der Feuersbrunst, die Strandung des Fahrzeugs, das Ham-Rock-Eiland, den Leck, die schreckliche Fahrt in den Mastkörben, das Floß, den Sturm, alle jene Zufälle, welche uns jetzt so fern zu liegen scheinen. Ja! Alles das hat uns betroffen, und doch leben wir noch!

Wir leben! Aber kann man diesen Zustand wirklich ein »Leben« nennen? Von achtundzwanzig sind wir nur noch vierzehn übrig, bald vielleicht nur noch dreizehn.

»Eine böse Zahl! sagt der junge Letourneur, doch würden wir wohl große Mühe haben, einen Vierzehnten1 für uns zu finden!«

In der Nacht vom 8. zum 9. hat der Hochbootsmann seine Leinen auf’s Neue ausgelegt und ist selbst auf dem Hintertheile des Flosses geblieben, da er die Ueberwachung jener Niemandem anvertrauen wollte.

Am Morgen gehe ich auf ihn zu. Kaum graut der Tag, und mit den brennenden Augen sucht der Angler schon die Dunkelheit des Wassers zu durchdringen. Er hat mich weder schon gesehen, noch kommen hören.

Ich berühre leise seine Schulter; er wendet sich halb erschrocken um.

»Nun, wie steht’s, Bootsmann?

– Die verdammten Haifische haben mir den Köder weggeschnappt! antwortet er mit tonloser Stimme.

– Und sie haben keinen mehr?

– Nein! Und wissen Sie, was damit bewiesen ist? fügt er hinzu und drückt mir den Arm. Damit ist bewiesen, daß man nichts blos halb thun soll …«

Ich lege meine Hand auf seinen Mund; ich habe ihn verstanden!

Armer Walter! …

  1. In Paris leben eine Anzahl Leute von dem sonderbaren Erwerbe, bei Gesellschaften, welche zufällig nur aus dreizehn Personen bestehen, zur Aushilfe als »Vierzehnte« einzuspringen.

XLII.


XLII.

Am 9. und 10. Januar. – Heute herrscht in der Atmosphäre um uns wieder vollkommene Ruhe. Die Sonne brennt, die Brise schweigt ganz und gar und keine Furche unterbricht die langen Wellen des Meeres, das sich unmerklich hebt. Wenn keine Strömung vorhanden ist, deren Richtung wir nicht zu bestimmen im Stande sind, so muß das Floß ganz unbeweglich fest stehen.

Ich sagte, daß die Hitze heute unerträglich sei; unser Durst ist aber in Folge dessen noch weit unerträglicher. Zum ersten Male leiden wir ganz entsetzlich von dem Mangel an Wasser, und mir wird es nun deutlicher, daß die Qualen des Durstes noch schrecklicher sind, als die des Hungers. Schon hat sich bei den Meisten von uns der Mund, der Schlund und der Kehlkopf vor Trockenheit zusammengeschnürt, und die Schleimhäute verhornen fast durch die warme Luft, welche das Athmen ihnen zuführt.

Auf meine Bitte geht der Kapitän für dieses Mal von dem gewohnten Régime ab. Er erlaubt eine doppelte Wasserration, und wir haben an diesem Tage unseren Durst vier Mal, wohl oder übel, stillen können. Ich sage »wohl oder übel«, denn dieses auf dem Boden der Tonne befindliche Wasser ist trotz der Bedeckung mit einem nassen Segel ganz lauwarm geworden.

Alles in Allem ist heute ein böser Tag, und von Neuem verfallen die Matrosen unter den Qualen des Hungers der Verzweiflung.

Auch bei Aufgang des Mondes hat sich die Brise nicht wieder erhoben. Da aber die Nächte in den Tropen immer etwas frisch sind, so gewährt das uns doch einige Erleichterung; während des Tages aber bleibt die Temperatur ganz unerträglich, und diese so auffällige Erhöhung derselben unterstützt die Meinung, daß wir weiter nach Süden getrieben sind.

Nach dem Lande auszulugen, hat man jetzt ganz aufgegeben. Der ganze Erdball scheint nur noch eine Wasserkugel zu sein – immer und ewig der grenzenlose Ocean!

Am 10. dieselbe Ruhe, dieselbe Hitze. Der Himmel gießt nur einen Feuerregen auf uns herab, und wir athmen glühende Luft. Unser Bedürfniß zu trinken wächst ohne Maß, und wir vergessen fast die Pein des Hungers; mit solcher Gier erwarten wir den Augenblick, bis Robert Kurtis die wenigen Tropfen unserer Wasserrationen austheilt. O, könnten wir uns nur einmal satt trinken, könnten wir unseren Vorrath erschöpfen und dann sterben!

In diesem Augenblicke, – es ist jetzt Mittag, – wird einer unserer Gefährten von den heftigsten Schmerzen ergriffen, die ihm manchen gräßlichen Schrei auspressen. Es ist der elende Owen, der im Vordertheil liegend sich unter schrecklichen Convulsionen krümmt.

Ich schleppe mich zu ihm hin. Was er auch verbrochen haben mag, die Menschlichkeit gebietet es, zu versuchen, ob ihm einige Hilfe zu bringen ist.

Aber gleichzeitig stößt der Matrose Flaypol einen lauten Schrei aus; ich drehe mich um.

Flaypol ist am Maste in die Höhe geklettert, und seine Hand zeigt nach Osten gegen den Horizont.

»Ein Schiff!« ruft er.

Schnell sind Alle auf den Füßen. Eine Todesstille herrscht an Bord. Auch Owen vergißt seine Schmerzen und hat sich mit erhoben.

Wirklich ist in der von Flaypol bezeichneten Richtung ein weißlicher Punkt sichtbar. Aber ändert er denn seine Stelle? Ist es ein Segel?

Was denken die Seeleute darüber, welche ja dafür ein so scharfes, geübtes Auge haben?

Ich beobachte Robert Kurtis, der mit gekreuzten Armen den weißen Punkt in’s Auge faßt, seine Wangen springen vor, alle Theile seines Gesichtes sind in Folge der Zusammenziehung der kreisförmigen Augenmuskeln emporgedrängt, seine Augenbrauen runzeln sich, seine Lider sind halb geschlossen, und er concentrirt in seinem Blicke alle ihm zu Gebote stehende Sehkraft. Wenn jener weiße Punkt ein Segel ist, wird er sich darüber nicht täuschen.

Doch nein, er schüttelt den Kopf, seine Arme fallen schlaff herab.

Ich sehe dorthin. Der weiße Punkt ist nicht mehr vorhanden. Es war kein Schiff, es war irgend ein Reflex, ein schäumender Wellenkamm, oder, wenn es ein Schiff gewesen ist, so ist es eben wieder verschwunden.

Welch‘ eine Niedergeschlagenheit folgt diesen Momenten der Hoffnung! Alle haben wir unseren gewohnten Platz wieder eingenommen. Robert Kurtis verharrt unbeweglich, aber er mustert den Horizont nicht mehr.

Da wiederholen sich Owen’s Schmerzensschreie heftiger als zuvor. Sein ganzer Körper windet sich unter der qualvollen Pein, und sein Anblick ist wahrhaft erschreckend. Seine Kehle schnürt ein spasmodischer Krampf zusammen, seine Zunge ist trocken, der Leib aufgetrieben, der Puls klein, schnell und unregelmäßig. Der Unglückliche leidet an convulsivischen Bewegungen und selbst an tetanischem Zucken.

Diese Symptome lassen keinen Zweifel übrig: Owen ist durch ein Kupferoxyd vergiftet.

Wir haben kein Gegenmittel, um die Wirkung des Giftes zu neutralisiren, doch kann man wohl Erbrechen hervorrufen, um den Mageninhalt des Kranken fortzuschaffen. Warmes Wasser muß diesen Erfolg erzielen, und ich bitte also Robert Kurtis um etwas Wasser. Der Kapitän sagt es mir zu. Doch die Flüssigkeit der ersten Tonne ist zu Ende gegangen, und ich will meinen Bedarf also aus der zweiten noch unberührten entnehmen, als Owen sich auf die Knie erhebt und mit einer Stimme, welche kaum noch eine menschliche zu nennen ist, ausruft:

»Nein! Nein! Nein!«

Warum dieses Nein? Ich kehre zu Owen zurück und erkläre ihm, was ich vorhabe. Noch entschiedener widersetzt er sich aber, von diesem Wasser zu trinken.

Ich versuche demnach durch Kitzeln des Schlundes bei dem Unglücklichen Erbrechen zu erzeugen, und bald giebt er auch bläuliche Massen von sich. Es ist nur zu gewiß, daß Owen mit einem Kupfersulfat, mit Kupfervitriol vergiftet ist, und was wir auch vornehmen, Owen ist verloren!

Aber auf welche Weise hat er sich vergiften können? Das Erbrechen hat ihm einige Erleichterung verschafft, und er vermag endlich zu sprechen. Der Kapitän und ich, wir fragen ihn…

Ich mag es gar nicht versuchen, den Eindruck zu schildern, den die Antwort des Unglücklichen auf uns machte!

Owen hat, von unbezähmbarem Durst getrieben, einige Pinten Wasser aus der noch unberührten Tonne gestohlen, und das Wasser aus derselben ist vergiftet!

XLIII.


XLIII.

Vom 11. bis 14. Januar. – Owen ist in der Nacht unter tetanischen Zuckungen, welche einen seltenen Grad der Intensität erreichten, gestorben. Es ist nur zu wahr! Die vergiftete Tonne hat früher Kupfervitriol enthalten, das ist Thatsache. Durch welchen unglücklichen Mißgriff diese Tonne gerade als Wasserbehälter benutzt wurde und durch welchen bedauernswerthen Zufall gerade sie auf das Floß mit verladen worden ist?… Alles das kommt ja wenig in Betracht. Eins steht fest: daß wir kein Wasser mehr haben!

Owen’s Körper mußte sofort in’s Meer geworfen werden, da er unmittelbar nach dem Tode in Zersetzung überging, und der Hochbootsmann hätte nicht einmal seine Leine mit dem todten Fleisch als Köder versehen können, da dieses jeden Zusammenhang verloren hatte. Der Tod dieses Elenden ist für uns nicht einmal von Nutzen gewesen!

Wir Alle kennen unsere thatsächliche Situation und verhalten uns still in dumpfem Brüten. Was sollten wir auch sprechen? Schon den Ton unserer Stimme zu hören berührt uns schmerzlich. Bei unserer übermäßigen Reizbarkeit ist es besser, daß wir gar nicht reden, denn das geringste Wort, ein Blick, eine Geste könnte ausreichen, unberechenbare Folgen hervorzurufen. Ich begreife nicht, wie es kommt, daß wir noch nicht Alle von Sinnen sind!

Am 12. Januar haben wir keinen Tropfen Wasser erhalten, da der letzte Tropfen Tags vorher ausgeschöpft war. Am Himmel ist keine Wolke, die etwas Regen verspräche, und ein Thermometer zeigte im Schatten gewiß 40° C., wenn auf dem Flosse überhaupt an Schatten zu denken wäre.

Am 13. ist die Lage die gleiche. Das Meerwasser beginnt auch mir die Füße wund zu ätzen, doch das beachte ich fast gar nicht. Auch der Zustand Derjenigen, die an diesem Uebel schon länger leiden, ist dadurch nicht wesentlich verschlimmert. O, dieses Wasser, das uns rings umgiebt, wenn ich bedenke, daß wir es durch Verdampfen oder Gefrierenlassen trinkbar zu machen im Stande wären!

In Dampf oder Eis verwandelt würde es keine Spur Salz mehr enthalten, und man könnte es genießen! Aber uns fehlen alle Hilfsmittel, und wir vermögen sie auch nicht herzustellen.

Heute haben sich, auf die Gefahr hin, von Haien verschlungen zu werden, der Bootsmann und zwei Matrosen gebadet. Solch‘ ein Bad gewährt ihnen eine gewisse Erleichterung und erfrischt sie doch einigermaßen. Drei meiner Genossen und ich, – die wir nicht schwimmen können, – haben uns an ein Seil befestigt und sind wohl eine halbe Stunde lang im Meer geblieben. Robert Kurtis überwachte dabei die Wellen, und zum Glück hat sich kein Haifisch genähert. Trotz unserer Bitten und ihrer quälenden Leiden hat Miß Herbey unserm Beispiel nicht folgen wollen.

Am 14., gegen elf Uhr Morgens, nähert sich mir der Kapitän und flüstert mir in’s Ohr:

»Vermeiden Sie jede Bewegung, die Sie verrathen könnte, Herr Kazallon, denn ich könnte mich irren, und ich möchte den Andern eine neue Enttäuschung ersparen.«

Ich sehe Robert Kurtis erwartungsvoll an.

»Dieses Mal, sagt er zu mir, habe ich wirklich ein Schiff wahrgenommen!«

Der Kapitän hat wohl daran gethan, mich vorzubereiten, denn ich wäre gewiß nicht meiner ersten Bewegung Meister geworden.

»Schauen Sie, fügt er hinzu, da hinten über Backbord!«

Ich erhebe mich, affectire eine mir gewiß ganz fremde Gleichgiltigkeit, und meine Augen schweifen über den mir von Robert Kurtis bezeichneten Bogen am Horizont.

Meine Augen sind freilich nicht die eines Seemannes, aber ich erkenne doch, als kaum unterscheidbare Silhouette, ein Schiff unter Segel.

Fast zu gleicher Zeit ruft der Hochbootsmann, dessen Blicke einige Secunden nach dieser Gegend hinausschweifen:

»Ein Schiff in Sicht!«

Die Meldung eines entfernten Schiffes erweckt nicht unmittelbar die Bewegung, welche man wohl hätte erwarten sollen, und bringt jedenfalls keinerlei Aufregung hervor, ob man nun an dieselbe nicht glauben wollte, oder die Kräfte schon zu sehr erschöpft waren; kein Mensch erhebt sich. Aber der Bootsmann ruft wiederholt: »Ein Schiff! Ein Schiff!« Und Aller Blicke heften sich an den Horizont.

Dieses Mal ist die Thatsache nicht zu leugnen, wir sehen es, das unerwartete Fahrzeug. Wird es auch uns sehen?

Inzwischen besprechen die Matrosen die äußere Erscheinung des Fahrzeuges und seine Richtung, vorzüglich die letztere.

Robert Kurtis erklärt nach einer aufmerksamen Betrachtung desselben:

»Es ist eine Brigg, die mit Steuerbordhalsen dicht am Winde läuft. Hält sie ihren jetzigen Cours nur zwei Stunden lang ein, so muß sie unsern Weg kreuzen.«

Zwei Stunden! – Zwei Jahrhunderte! Das Schiff kann seinen Cours aber jede Minute wechseln und wird das um so wahrscheinlicher thun, weil es offenbar durch Laviren gegen den Wind Fahrt zu machen sucht. Bestätigt sich aber diese Annahme, so wird es nach Vollendung seines »Schlags« (d. i. die Strecke, welche ein lavirendes Schiff in ein und derselben Richtung zurücklegt) Backbordhalsen beisetzen und sich wieder entfernen. O, wenn es mit dem Wind im Rücken oder von der Seite segelte, wir hätten ein Recht, zu hoffen!

Uns handelt es sich jetzt darum, die Aufmerksamkeit jenes Schiffes zu erregen. Robert Kurtis ordnet alle möglichen Signale an, denn die Brigg ist wohl noch ein Dutzend Meilen von uns im Osten entfernt, und unsere Rufe könnten unmöglich gehört werden. Auch kein Feuergewehr steht uns zur Verfügung, dessen Detonationen so weit hin drängen. Wir wollen also eine ganz beliebige Flagge am Maste aufhissen. Miß Herbey’s rothes Shawltuch sticht am lebhaftesten von der Färbung des Meeres und des Himmels ab.

Das Tuch wird möglichst hoch angebracht, und eine leichte Brise, die gerade jetzt die Oberfläche der Wellen kräuselt, entfaltet es vollständig. Sein wiederholtes lustiges Flattern erfüllt unsere Herzen mit froher Hoffnung. Wenn ein Mensch am Ertrinken ist, weiß man ja, mit welcher Kraft er sich an einen Strohhalm klammert. Die Flagge ist dieser Strohhalm für uns!

Eine ganze Stunde lang bewegen uns tausend abwechselnde Gefühle. Ohne Zweifel hat sich die Brigg dem Flosse genähert, doch bisweilen scheint es, als ob sie anhielte, und man zerquält sich mit der Frage, ob sie nicht im Begriff ist, zu wenden.

O Gott, wie langsam schleppt dieses Schiff sich hin! Es fährt mit vollen Segeln, und doch ist sein Rumpf auch jetzt noch kaum über dem Horizonte sichtbar. Doch der Wind ist schwach und legt sich immer mehr!… Wir gäben ganze Jahre unseres Lebens darum, jetzt eine Stunde älter zu sein!

Gegen halb ein Uhr schätzen der Kapitän und der Hochbootsmann die Entfernung des Schiffes noch auf neun Meilen. In anderthalb Stunden ist es uns demnach nur drei Meilen näher gekommen, und kaum mag der Lufthauch, der noch über dem Flosse weht, bis zu ihm reichen. Mir scheinen seine Segel gar nicht mehr zu schwellen, sondern an den Masten schlaff herab zu hängen. Ich beobachte, gegen den Wind gerichtet, ob eine Brise wieder aufspringt; aber die Wellen scheinen zu träumen, und der Athem des Windes, der unsere Hoffnungen weckte, erstirbt.

Ich befinde mich auf dem Hintertheile neben den Mrs. Letourneur und der Miß Herbey; unsere ängstlichen Blicke richten sich abwechselnd auf das Schiff und den Kapitän. Robert Kurtis steht unbeweglich vorn, an den Mast gelehnt, der Hochbootsmann dicht neben ihm; ihre Augen wenden sich keinen Moment von der Brigg ab. Von ihrem Antlitz, das jetzt ja nicht ausdruckslos bleiben kann, lesen wir die Empfindungen ab, welche sie erregen. Nicht ein Wort kommt über ihre Lippen, bis der Zimmermann mit einem gar nicht wiederzugebenden Tone ausruft:

»Es wendet!«

Unser ganzes Ich scheint sich jetzt in die Augen zusammen zu drängen, und erstarrt stehen die Einen wie Bildsäulen, die Andern liegen auf den Knien. Ein furchtbarer Fluch entfährt dem Munde des Hochbootsmannes. Auf neun Meilen Entfernung hat das Schiff unsere Signale unmöglich wahrnehmen können! Das Floß stellt ja in dem unendlichen Raume nur ein Pünktchen dar, das in dem Glanze der blendenden Sonnenstrahlen wohl ganz verschwindet! Man hat uns nicht gesehen! Könnte der Kapitän jenes Schiffes, er sei wer auch immer, wenn er uns bemerkt hätte, so unglaublich unmenschlich sein, zu entfliehen, ohne uns geholfen zu haben? Nein! Das ist unmöglich! Nein, er hat uns nicht gesehen!

»Macht Feuer! Laßt Rauch aufsteigen! ruft Robert Kurtis. Verbrennt die Planken des Flosses! Freunde! Meine Freunde! Das ist ja die letzte Möglichkeit, uns bemerkbar zu machen!«

Im Vordertheile werden einige Bretter zu einem Scheiterhaufen zusammen getragen. Nicht ohne Mühe setzen wir diese, da sie zu naß sind, in Brand, aber sie geben deshalb auch einen um so dichteren und weiterhin sichtbaren Rauch. Bald wirbelt eine schwarze Säule gerade empor. Wenn es jetzt Nacht wäre oder doch vor dem Verschwinden der Brigg dunkel würde, müßten die Flammen trotz der Entfernung bis zu jener hin erkennbar sein!

Doch – die Stunden verrinnen, das Feuer erlischt!…

Um in solchen Augenblicken sich mit frommer Ergebenheit dem göttlichen Willen zu unterwerfen, muß man mehr Macht über sich haben, als ich besitze. Nein! Jetzt schwindet mein Vertrauen auf Gott, der unsere Folterqualen durch solche aufblitzende Hoffnungsstrahlen noch erhöht, und ich lästere ihn, wie ihn der Hochbootsmann gelästert hat! … Da legt sich eine schwache Hand ganz leise auf meine Schulter, und Miß Herbey zeigt nach dem Himmel!

Doch, ich ertrage es nicht länger! Ich mag nichts mehr sehen und vergrabe mich seufzend unter unserer Segeldecke….

Inzwischen hat das Fahrzeug andere Halsen beigesetzt, dann entfernt es sich langsam nach Osten, und drei Stunden später vermochten auch die schärfsten Seemannsaugen kein Stückchen Leinwand mehr am Horizonte zu erblicken!

XLIV.


XLIV.

Am 15. Januar. – Nach diesem letzten Schlage, der uns getroffen, haben wir nichts mehr vor uns, als den Tod. Ob er schneller oder langsamer herankommen mag, er kommt doch gewiß.

Heute sind im Westen einige Wolken aufgestiegen, wobei sich dann und wann ein kurzer Windstoß fühlbar machte. Auch die Temperatur ist erträglicher, und trotz unserer äußersten Erschlaffung empfinden wir diese wohlthuende Aenderung. Meine Kehle saugt eine minder trockene Luft ein, aber seit dem Fischzug des Hochbootsmannes, d. h. seit sieben Tagen, haben wir nichts gegessen. Auf dem Flosse ist nichts mehr vorhanden, und gestern habe ich André Letourneur das letzte von seinem Vater ersparte Stück Schiffszwieback zugestellt, welches Jener mir unter Thränen übergab.

Seit gestern hat sich auch der Neger Jynxtrop seiner Fesseln zu entledigen gewußt, doch hat ihn Robert Kurtis deshalb nicht von Neuem binden lassen. Wozu auch? Dieser Elende und alle seine Mitschuldigen sind durch das lange Fasten ganz von Kräften gekommen. Was wären sie jetzt noch zu unternehmen im Stande?

Heute zeigen sich mehrere große Haifische, deren schwarze Flossen wir das Wasser mit großer Schnelligkeit durchschneiden sehen. Ich kann mich des Gedankens nicht entschlagen, daß sie die lebendigen Särge darstellen, die unsere erbärmlichen Ueberreste aufzunehmen bestimmt sind. Sie erschrecken mich keineswegs, nein, sie haben etwas Anheimelndes. Sie kommen bis dicht an den Rand des Flosses heran, und Flaypol’s Arm, der über denselben hinaushing, wäre beinahe von einem jener Ungeheuer weggeschnappt werden.

Der Hochbootsmann betrachtet mit starren, hohlen Augen und zusammengebissenen, hinter den erhobenen Lippen herausleuchtenden Zähnen diese Haifische unter einem wesentlich anderen Gesichtspunkte als ich. Er will sie verzehren, doch nicht von ihnen verzehrt werden. Wenn er einen derselben zu fangen im Stande wäre, er würde sich nicht vor seinem zähen Fleische scheuen. Wir Anderen auch nicht.

Der Bootsmann will den Versuch machen; da er aber keinen geeigneten Haken besitzt, an den ein Seil zu befestigen wäre, so muß er einen solchen herzustellen suchen. Robert Kurtis und Daoulas haben ihn verstanden und halten Rath, während sie durch Auswerfen von Holzstücken und Seilenden bemüht sind, die Quermäuler in der Nähe des Flosses aufzuhalten.

Daoulas holt sein Zimmermannsbeil, das er als Angel zu benutzen gedenkt und dessen scharfe Schneide oder die derselben entgegengesetzte Spitze sich wohl in der Kinnlade eines Haies festsetzen könnten, wenn ein solcher darauf anbeißt. Der hölzerne Stiel des Beiles wird also an ein Greling (d. i. die kleinste Art Kabeltaue) befestigt und dieses an einen Tragbalken der Plattform gebunden.

Diese Vorbereitungen reizen unser Verlangen auf’s Aeußerste, und zitternd vor Ungeduld suchen wir die Aufmerksamkeit der Haie auf jede mögliche Weise rege zu erhalten, um sie nicht wegschwimmen zu lassen.

Der Haken ist bereitet, aber wieder fehlt es an einem Köder für denselben, und der Hochbootsmann, der vor sich hinmurmelnd da- und dorthin läuft und das ganze Floß durchsucht, hat das Aussehen, als forsche er nach einem Leichnam unter uns!…

Man muß endlich nochmals zu der schon früher versuchten Aushilfe greifen, das Eisen des Beiles mit einem Stücke rothen Stoffes zu umwickeln, den wiederum Miß Herbey’s Shawltuch liefert.

Der Hochbootsmann will aber nichts ohne die sorgsamsten Vorsichtsmaßregeln für ein glückliches Gelingen unternehmen. Ist der Haken wohl haltbar genug befestigt? Wird die Leine, welche diese Angel mit dem Flosse verbindet, nicht reißen? Wird der Tragbaum das Zerren eines gefangenen Haies aushalten? Der Hochbootsmann unterrichtet sich erst über alle diese jetzt sehr wichtigen Punkte und läßt erst dann sein Angelgeräth in das Wasser gleiten.

Das Meer ist so klar und durchsichtig, daß man in einer Tiefe von hundert Fuß noch jeden Gegenstand zu unterscheiden vermag. Ich folge dem hinabsinkenden Haifischhaken, dessen rothe Umhüllung sich leuchtend von dem Wasser abhebt, bequem mit den Augen.

Passagiere und Matrosen, Alle lehnen wir über die Schanzkleidung geneigt und beobachten das tiefste Stillschweigen. Es scheint aber, als ob die Haifische, seitdem ihnen dieser sonderbare Köder zugeworfen wurde, nach und nach verschwänden. Doch können sie unmöglich weit entfernt sein und würden gewiß jede ihnen erreichbare Beute schnell verschlingen.

Plötzlich giebt der Hochbootsmann mit der Hand ein Zeichen und weist auf eine ungeheure Masse, welche nach dem Flosse zu gleitet und fast die Oberfläche des Wassers streift. Es ist ein wohl zwölf Fuß langer Haifisch, der die Tiefe verlassen hat und in gerader Linie auf uns zu schwimmt.

Sobald das Thier nur noch vier Faden vom Flosse entfernt ist, zieht der Hochbootsmann vorsichtig seine Leine an, um den Haken jenem zu Gesicht zu bringen, und theilt dem rothen Packen eine leichte Bewegung mit, die ihm das Aussehen eines lebenden Körpers verleiht.

Ich fühle das heftige Klopfen meines Herzens, als wohne meine ganze Lebenskraft nur in diesem Organe!

Indessen nähert sich der Hai; seine gierigen, großen Augen leuchten fast auf der Oberfläche des Meeres und seine halbgeöffneten Kiefern zeigen die furchtbare Reihe seiner spitzen Zähne.

Da erhebt sich ein Schrei! … Der Haifisch hält an und verschwindet in der Tiefe des Wassers.

Wer von uns hat diesen Schrei, wenn auch unwillkürlich, ausgestoßen?

Sofort erhebt sich der Hochbootsmann bleich vor Zorn.

»Den Ersten, welcher ein Wort spricht, schlage ich nieder«, sagt er.

Dann geht er wieder an seine Arbeit.

Alles in Allem hat er wohl recht, der Hochbootsmann.

Der Haifischhaken wird wieder hinabgelassen, doch während einer halben Stunde erscheint kein solcher Seeräuber wieder, so daß man den Apparat bis auf zwanzig Faden Tiefe hinabgehen läßt. Doch kommt es mir vor, als wenn die tieferen Wasserschichten etwas getrübt wären, woraus man wohl auf die Anwesenheit jener Quermäuler schließen könnte.

Wirklich bemerkt man an der Leine plötzlich ein so heftiges Rucken, daß dieselbe den Händen des Hochbootsmannes entgleitet; da sie aber an den einen Tragbalken des Flosses sicher befestigt ist, hat sie deshalb nicht verloren gehen können.

Ein Haifisch hat angebissen und sich gleichsam selbst harpunirt.

»Zu Hilfe, Jungens, zu Hilfe!« ruft der Seemann.

Sofort ergreifen Alle, Passagiere und Matrosen, die Angelleine. Die Hoffnung leiht uns neue Kräfte, doch kaum wollen diese hinreichen, denn das Thier wehrt sich furchtbar. Wir ziehen ganz gleichzeitig an, und nach und nach kommen die oberen Wasserschichten von dem heftigen Peitschen des Schwanzes und der großen Brustflossen des Ungeheuers in Aufruhr. Ich beuge mich hinaus und sehe den enormen Körper, der sich inmitten blutig gefärbter Wellen windet.

»Tapfer! Fest daran!« ruft der Hochbootsmann.

Endlich taucht der Kopf des Thieres auf. Unser Haken ist ihm durch den geöffneten Rachen bis in den Schlund eingedrungen und hat sich dort so festgesetzt, daß ihn keine Zuckung und kein Stoß wieder heraus zu reißen vermag. Daoulas ergreift schon eine Axt, um das Thier, wenn es nahe genug heran sein wird, zu erschlagen.

Da läßt sich ein kurzes, eigenthümliches Geräusch vernehmen. Der Haifisch hat seine mächtigen Kiefern geschlossen, den langen Stiel des Beiles glatt durchgebissen, und schnell entweicht er in die grünliche Tiefe. Ein allgemeiner Aufschrei der schmerzlichen Enttäuschung entringt sich uns!

Der Hochbootsmann, Robert Kurtis und Daoulas versuchen auch noch ferner, trotzdem sie nun keinen Haken und kein irgend brauchbares Ersatzmittel dafür mehr haben, einen jener Haie zu fangen. Sie werfen Taue mit Schlingen in’s Wasser, doch diese Lassos gleiten auf der schlüpfrigen Haut jener Quermäuler ab. Der Hochbootsmann geht sogar so weit, sie dadurch heranzulocken, daß er ein Bein hinter dem Flosse in’s Wasser hält, selbst auf die Gefahr hin, durch den Biß eines der Ungeheuer amputirt zu werden. …

Endlich giebt man diese fruchtlosen Versuche auf, und Jeder schleppt sich auf seinen gewohnten Platz zurück, in Erwartung des Todes, den jetzt nichts mehr abzuwenden im Stande ist.

Ich bin aber Robert Kurtis gerade nahe genug, um es zu verstehen, wie der Hochbootsmann Jenen leise fragt:

»Kapitän, wann loosen wir?«

Robert Kurtis hat zwar nicht geantwortet, aber diese Frage ist nun doch schon gestellt worden.

XLV.


XLV.

Am 16. Januar. – Wir liegen Alle auf den Segeln ausgestreckt, und die Mannschaft eines vorübersegelnden Schiffes würde eine mit Todten bedeckte Seetrift zu sehen meinen.

Ich leide furchtbar. Könnte ich bei dem jetzigen Zustande meiner Lippen, meiner Zunge, meiner Kehle überhaupt noch essen? Ich glaube es nicht, und doch werfen wir Alle, meine Gefährten und ich mit, einander wilde Blicke zu.

Die Hitze ist heute bei gewitterdrohendem Himmel noch stärker. Dicke Dünste wälzen sich empor, aber ich will glauben, daß es vielleicht überall regnen kann, nur über dem Flosse nicht.

Dennoch sieht Jeder mit begehrlichem Blicke diese Ansammlung von Wolken, und unsere Lippen lechzen nach ihnen. Auf den Knieen liegend erhebt Mr. Letourneur stehend die Hände nach dem unerbittlichen Himmel!

Ich lausche, ob irgend ein fernes Rollen ein Gewitter verkündigt. Es ist elf Uhr Morgens; die Dunstmassen verdecken jetzt die Sonne vollkommen, doch schon haben diese ihren elektrischen Charakter merklich eingebüßt. Offenbar wird sich kein Gewitter entladen, denn das ganze Gewölk hat eine gleichmäßige Färbung angenommen und seine am Morgen so scharfen Ränder sind in einer verbreiteten grauen Dunstmasse verschwunden und verschwommen, die jetzt nur noch einem in der Höhe schwebenden Nebel gleich zu achten ist.

Doch kann denn dieser Nebel keinen Regen gebären, und wäre es noch so wenig, wären es nur einige erquickende Tropfen!

»Da, der Regen, der Regen!« rief plötzlich Daoulas.

Und wirklich, in der Entfernung einer halben Meile hat der Himmel jene schrägen Striche, welche man beim Regen beobachtet, und ich sehe die Tropfen von der Wasserfläche wieder in die Höhe springen. Der Wind, der sich etwas mehr erhebt, treibt sie zu uns. Möchte dieselbe Wolke sich doch nicht vorher erschöpfen, bevor sie über uns weggegangen ist!

Gott hat endlich einmal Mitleid mit uns; in großen Tropfen fällt der Regen, so wie aus einer Gewitterwolke. Doch ein solcher Platzregen ist niemals von Dauer, und wir müssen, so schnell es angeht, möglichst viel davon aufzufangen suchen, denn schon färbt ein hellerer Lichtschein den unteren Rand der Wolke über dem Horizonte.

Robert Kurtis hat die halbzerbrochene Tonne so aufstellen lassen, daß sie möglichst viel Wasser aufnehmen kann, und ringsum spannt man die Segel in der Art auf, daß sie die größten Oberflächen bieten.

Wir liegen auf dem Rücken mit offenem Munde. Das Wasser benetzt mein Gesicht, meine Lippen, und ich fühle, daß es in meine Kehle dringt! O, unaussprechliche Freude! Das ist neues Leben, das in mich einzieht! Die Schleimhäute meiner Kehle werden bei dieser Benetzung wieder schlüpfrig, und ich athme die belebende Flüssigkeit fast noch mehr ein, als ich sie trinke.

Zwanzig Minuten lang hat der Regen angedauert, dann löst sich die halberschöpfte Wolke in der Atmosphäre auf.

Wir haben uns gebessert wieder erhoben, ja, »gebessert«. Man drückt sich die Hände, man spricht wieder! Es scheint, als ob wir gerettet wären!

Gott wird uns in seiner Barmherzigkeit noch andere Wolken senden, die uns noch mehr Wasser bringen werden, Wasser, das wir so lange entbehrt haben!

Und auch das Wasser, welches nur auf das Floß gefallen ist, wird ja nicht verdorben sein, denn die Tonne und die Leinwand haben es aufgefangen.

Aber es muß sorgsam aufbewahrt und darf nur tropfenweise vertheilt werden.

In der That, die Tonne enthält jetzt zwei bis drei Pinten Wasser, und wenn wir das noch ausdrücken, was die Segel eingesogen haben, so vermögen wir unsern Vorrath noch bis zu einer gewissen Grenze zu vermehren.

Die Matrosen wollen eben zu jener Operation schreiten, als Robert Kurtis sie durch einen Wink daran hindert.

»Einen Augenblick! ruft er. Wird dieses Wasser auch trinkbar sein?«

Ich sehe ihn staunend an. Warum soll dieses Wasser, das doch nur vom Regen herstammt, nicht trinkbar sein?

Indessen drückt der Kapitän ein wenig von dem aufgesaugten Wasser einer Segelfalte in die Weißblechtasse, kostet dasselbe, und zu meiner größten Verwunderung wirft er diese von sich.

Ich koste nun auch selbst. Das Wasser ist fast noch salzhaltiger, als das Meerwasser selbst!

Es rührt das daher, daß die so lange Zeit dem Einflusse der Wellen ausgesetzten Segel sich mit Salz imprägnirt und dem aufgefangenen Wasser einen sehr hohen Gehalt davon mitgetheilt haben. Das ist freilich ein nicht wieder gut zu machendes Unglück! Doch, sei es! Wir haben ja wieder Vertrauen, und in dem Fasse sind noch einige Pinten Wasser übrig! Dazu ist ja einmal Regen gekommen, – er wird auch wiederkehren!

XLVI.


XLVI.

Am 17. Januar. – Wenn unser Durst für einen Augenblick gestillt wurde, so erwachte als ganz natürliche Folge davon unser Hunger desto wüthender. Giebt es denn kein Mittel, sich ohne Haken oder Köder eines dieser Haifische zu bemächtigen, welche sich rings um das Floß tummeln? Nein, man müßte sich denn selbst in’s Meer stürzen, um mit dem Messer eines dieser Ungeheuer in seinem eigenen Elemente anzugreifen, so wie es die Indianer der Perlenfischereien thun. Robert Kurtis hat daran gedacht, dieses Abenteuer zu bestehen. Wir halten ihn zurück. Die Haifische sind zu zahlreich, und es hieße sich ohne irgend einen Nutzen nur einem gewissen Tode weihen.

Ich mache die Bemerkung, daß, wenn der Durst hinweggetäuscht werden kann, etwa durch Eintauchen in’s Wasser oder durch Kauen irgend eines Gegenstandes, es sich mit dem Hunger nicht ebenso verhält, und daß Nichts im Stande ist, die eigentlichen Nahrungsmittel zu ersetzen. Außerdem kann das Wasser Schiffbrüchigen stets durch ein natürliches Ereigniß bescheert werden, z. B. durch den Regen. Wenn man also niemals zu verzweifeln braucht, vor Durst zu sterben, so kann man doch viel leichter durch Hunger wirklich umkommen.

Wir sind nun schon an diesem Punkte angelangt, und einige meiner Gefährten sehen sich gegenseitig mit wahrhaft gierigen Augen an. Man vergegenwärtige sich, auf welchem Abhange unsere Gedanken weiter gleiten und bis zu welchem Grade der Wildheit die durch ein einziges Verlangen gereizten Unglücklichen herabkommen können!

Seitdem die Gewitterwolken, welche uns einen halbstündigen Regen bescheert, vorüber sind, ist auch der Himmel wieder klar geworden. Einen Augenblick frischte der Wind auf, aber jetzt hat er sich wieder ganz gelegt, und das Segel schlottert am Maste. Uebrigens sehnen wir ihn uns gar nicht mehr als bewegende Kraft herbei. Wo befindet sich das Floß? Nach welchem Punkte des Atlantischen Oceans haben die Strömungen es wohl getrieben? Niemand vermag es zu sagen, noch zu bestimmen, ob wir den Wind jetzt lieber aus Osten, oder aus Norden oder Süden wehen sähen! Wir verlangen nur eines von ihm, daß er unsere Brust erfrische, daß er der trockenen Luft, die uns verzehrt, ein wenig Wasserdunst beimische, daß er die unausstehliche Hitze mäßige, welche die feurige Sonne vom Zenith herabgießt.

Der Abend ist gekommen, und bis Mitternacht, d. h. bis zu der Stunde, da der Mond aufgeht, der in sein letztes Viertel tritt, wird es dunkel sein. Die etwas verschleierten Sternbilder flimmern nicht mit dem hellen Lichte der kalten Nächte.

Eine Beute eines wahrhaften Deliriums und unter der Qual des fürchterlichsten Hungers, der sich immer mit Anbruch des Tages zu verdoppeln scheint, strecke ich mich auf einen Haufen Segel, die am Steuerbord liegen, und neige mich über das Wasser, um seine Frische einzuathmen.

Wie viele meiner Gefährten, welche an ihrem gewohnten Platz liegen, mögen wohl im Schlummer ein Vergessen ihrer Leiden finden? Vielleicht Keiner! Was mich betrifft, so ist mir der Kopf wüst und leer und von ängstlichem Alpdrücken belästigt.

Inzwischen bin ich einer krankhaften Betäubung, die weder Wachen noch Schlaf zu nennen ist, verfallen, und es ist mir unmöglich, anzugeben, wie lange ich mich in diesem Zustande der Prostration befunden hatte, als ich plötzlich durch ein eigenthümliches Geräusch wieder zu mir kam.

Ich glaubte zu träumen, denn meine Nase traf ein an Bord ganz unbekannter Duft, den der Wind mir dann und wann zuwehte. Meine Nasenlöcher erweiterten sich … »Was bedeutet dieser Geruch!« bin ich schon versucht auszurufen … eine Art Instinct hält mich davon zurück, und ich suche, so wie man in seinem Gedächtnisse einem vergessenen Worte oder Namen nachzuspüren pflegt.

Einige Augenblicke vergehen so. Die Intensität jener Ausdünstung, welche stärker zu werden scheint, läßt mich sie gieriger aufsaugen.

»Das ist ja aber, sage ich mir plötzlich, wie ein Mensch, der sich besonnen hat, das ist ja der Geruch von geräuchertem Fleische.«

Noch einmal suche ich mich zu versichern, daß meine Sinne mich nicht getauscht haben, und doch, auf diesem Flosse …

Ich erhebe mich auf die Knie, ich rieche von Neuem, ich, man verzeihe mir den Ausdruck – ich durchschnüffle diese Luft ringsum; und noch einmal trifft jener Geruch meine Nase. Also befinde ich mich unter dem Winde von jenem lieblich duftenden Gegenstande, und folglich ist derselbe auf dem Vordertheil des Flosses zu suchen.

So schleiche ich denn, kriechend wie ein Thier, von meinem Platze und stöbere überall, nicht mit den Augen, aber mit der Nase umher, gleite unter den Segelstücken hin, in und durch das Untergestell, immer mit der Vorsicht einer Katze, um die Aufmerksamkeit meiner Gefährten nicht zu erregen.

Einige Minuten lang krieche ich so in alle Winkel, vom Geruche wie ein Spürhund geführt. Bald verliere ich die Spur, entweder wenn ich mich zu weit von derselben entfernte, oder der Wind sich vollkommen legte, und bald trifft mich die Ausdünstung mit erneuter Stärke. Endlich bin ich im Stande, die Spur festzuhalten, ihr zu folgen, und ich fühle es gleichsam, daß ich jetzt auf den Gegenstand meiner Nachforschung gerade zugehe!

Da erreiche ich im Vordertheile die Ecke am Steuerbord und erkenne jetzt deutlich, daß jener Geruch von einem Stück geräuchertem Speck herrührt. Nein, ich täusche mich nicht; es ist mir, als ob alle Nervenpapillen meiner Zunge vor Verlangen sich strotzend erhöben!

Jetzt schlüpfe ich unter einen dicken Haufen Segelwerk. Niemand sieht mich, Niemand hört mich. Ich gleite auf den Knien, auf den Ellenbogen hin. Ich strecke den Arm aus, und meine Hand erfaßt einen in Papier gewickelten Gegenstand. Schnell hole ich ihn hervor und sehe ihn beim Scheine des Mondes, der gerade jetzt über den Horizont emporsteigt, näher an.

Es ist keine Illusion! Ich halte ein Stück Speck in der Hand, kaum ein Viertelpfund, doch das vermag für einen ganzen Tag meine Qualen zu stillen, und schnell führe ich es zum Munde.

Da hält eine andere Hand die meinige zurück. Ich drehe mich um, kaum kann ich mich eines Murrens enthalten, und erkenne den Steward Hobbart.

Jetzt wird mir Alles klar; das eigenthümliche Benehmen Hobbart’s, seine verhältnißmäßig gute Gesundheit, seine erheuchelten Klagen. Bei Gelegenheit des Schiffbruchs hat er einigen Mundvorrath zu bergen gewußt, den er in einem Verstecke unterbrachte, und er hat sich genährt, während wir Anderen vor Hunger sterben wollten! O, der Schurke!

Doch nein! Hobbart hat vielleicht ganz klug gehandelt. Ich finde, daß er ein sehr vorsichtiger Mann ist, und wenn er ohne Wissen der Uebrigen etwas an Nahrungsmitteln aufbewahrt hat, so ist das desto besser für ihn… und für mich.

Hobbart ist aber dieser Meinung nicht. Er ergreift meine Hand und sucht mir das Stück Speck wieder zu entreißen, doch ohne ein Wort zu sprechen, da er die Aufmerksamkeit der Anderen zu erregen fürchtet.

Wir kämpfen schweigend, denn ich habe ja dieselbe Ursache, still zu sein. Ich will natürlich nicht, daß noch Andere dazukommen, mir meine Beute abzujagen, und wehre Hobbart mit allen Kräften ab; da höre ich ihn die Worte zwischen den Zähnen murmeln: »Mein letztes Stückchen! Mein letzter Bissen!«

Sein letzter Bissen! Aber er muß um jeden Preis mein werden, und ich packe meinen Gegner an der Gurgel, der unter meinen Händen nach Luft schnappt und bewegungslos zusammensinkt – die Beute ist mein!

Und während ich Hobbart noch immer nieder halte, zermalme ich den Speck zwischen den Zähnen…

Dann lass‘ ich den Unglücklichen los, krieche wieder fort und nehme meinen Platz am Hintertheile wieder ein.

Niemand hat mich bemerkt. Ich habe einmal gegessen!

XXXVI.


XXXVI.

Am 22. December. – Endlich ist der Tag angebrochen, und die Sonne kommt zwischen den letzten übrig gebliebenen Gewitterwolken wieder zum Vorschein. Dieser Kampf der Elemente hat nur wenige Stunden gewährt, doch er war entsetzlich, und Luft und Wasser wütheten mit einer unvergleichlichen Erbitterung.

Ich habe hier nur die Hauptvorgänge beschrieben, denn ich war in Folge der Bewußtlosigkeit nach meinem Sturze nicht im Stande, das Ende der Empörung der Natur zu beobachten. Ich weiß nur allein, daß der Orkan, kurze Zeit nach jener Sturzsee, sich durch Gegenwinde ermäßigt und die elektrische Spannung der Atmosphäre nachgelassen hat. Der Sturm hielt also über die Nacht hinaus nicht an. Doch welchen Schaden hat er auch in dieser kurzen Zeit uns verursacht, welche unersetzliche Verluste, und welches Elend droht nun über uns hereinzubrechen! Von dem Wasser, das er in Strömen herabgoß, haben wir nicht einen Tropfen auffangen können!

In Folge der Bemühungen der Herren Letourneur und der Miß Herbey bin ich bald wieder zu mir gekommen, aber Robert Kurtis‘ heldenmüthiger Hilfe verdanke ich es, daß ich durch eine zweite Sturzsee nicht mit hinweggespült wurde.

Der eine von den beiden durch das Unwetter umgekommenen Matrosen ist Austin, ein junger, gutmüthiger, thätiger und beherzter Mann von achtundzwanzig Jahren. Der andere ist der alte Ire O’Ready, der Ueberlebende so vieler Schiffbrüche!

Jetzt sind wir nur noch sechzehn Personen auf dem Floß, d. h. fast die Hälfte derer, welche sich an Bord des Chancellor eingeschifft haben, ist schon umgekommen.

Und nun, was verbleibt uns noch an Lebensmitteln?

Robert Kurtis suchte sich bald darüber Aufklärung zu schaffen. Worin bestehen jene, und wie lange Zeit werden sie reichen? Noch wird uns das Wasser nicht ganz fehlen, denn auf dem Boden der einen Tonne finden sich etwa noch vierzehn Gallonen, und die andere ist unversehrt. Aber das Faß mit dem conservirten Fleisch, und das, in welchem wir die gefangenen Fische aufbewahrten, sind uns Beide entführt worden, und von diesen Vorräthen besitzen wir nun absolut nichts mehr. Von dem Schiffszwieback sind nach Robert Kurtis‘ Abschätzung nicht mehr als sechzig Pfund gerettet worden.

Sechzig Pfund Schiffszwieback für Sechzehn, das ergiebt für eine Woche Nahrung, auf die Person täglich ein halbes Pfund gerechnet.

Robert Kurtis hat uns Alles bekannt gegeben. Schweigend haben wir ihm zugehört. Still ist auch der ganze Tag, der 22. December, vorübergegangen; Jeder war mit sich selbst beschäftigt, doch offenbar wurden Alle von demselben Gedanken bewegt. Mir scheint es, als betrachte man sich gegenseitig mit ganz eigenthümlichen Augen, und zeige sich das Gespenst des Hungers schon von Weitem. Bis hierher hatte uns Speise und Trank noch nicht ganz und gar gefehlt. Jetzt indeß muß die Wasserration noch weiter verringert werden und noch mehr die an Zwieback!

Einmal näherte ich mich einer Gruppe auf dem Vordertheil lang hingestreckter Matrosen und hörte aus Flaypol’s Munde in ironischem Tone noch die Worte:

»Was einmal sterben soll, das thut schnell ab!«

– Ja, antwortet ihm Owen, sie lassen dann wenigstens ihren Theil den Anderen übrig!«

Der Tag schlich unter allgemeiner Niedergeschlagenheit dahin. Jeder empfing sein vorschriftsmäßiges halbes Pfund Schiffszwieback. Die Einen haben es voller Gier sofort verschlungen, Andere theilten es sorglich ein. Der Ingenieur Falsten scheint mir seine Ration in so viele Theile zerlegt zu haben, als er Mahlzeiten zu machen gewöhnt ist.

Wenn nur Einer uns überlebt, – Falsten wird dieser Eine sein!

XXXVII.


XXXVII.

Vom 23. bis zum 31. December. – Nach dem Sturm hat der Wind sich nach Nordosten gewendet und zur günstigen Brise umgestaltet. Wir müssen ihn benutzen, da er uns nach dem Lande zu treiben verspricht.

Den Mast hat Daoulas jetzt sorgfältig wieder hergestellt, das Segel wird gehißt und das Floß treibt mit einer Schnelligkeit von zwei bis zwei und ein halb Meilen in der Stunde weiter.

Man hat auch versucht, mittels eines Pfahles und eines längs desselben aufgenagelten Brettes eine Art Steuer wieder herzustellen, das wohl oder übel seine Schuldigkeit thut. Bei der geringen Geschwindigkeit, die der Wind dem Flosse nur mittheilt, wird ihm eine größere Kraftäußerung auch nicht zugemuthet.

Die Plattform ist mit Keilen und Stricken so gut als möglich wieder in Stand gesetzt worden. Die auseinander gewichenen Planken sind auf’s Neue befestigt. Die Backbordschutzwände, welche der Sturm eingedrückt hatte, sind wieder hergestellt und leisten dem Eindringen der Wellen Widerstand. Mit einem Worte, alles nur irgend Mögliche, was diesem Bauwerke aus Maststücken und Segelstangen Festigkeit verleihen kann, ist geschehen; doch droht uns von dieser Seite die ärgste Gefahr ja nicht.

Mit dem reinen Himmel hat sich auch jene tropische Hitze wieder eingestellt, von der wir schon während der vorhergehenden Tage so unsäglich zu leiden hatten. Gerade heute ist sie übrigens durch die Brise einigermaßen gemildert, und da auch das Zeltdach auf dem Hintertheile wieder in Ordnung gebracht ist, suchen und finden wir unter demselben noch weiteren Schutz.

Inzwischen macht sich die Unzulänglichkeit unserer Nahrung ernsthafter fühlbar. Alle leiden sichtlich an Hunger, die Wangen sind hohl, die Gesichter klein geworden. Bei den Meisten scheint auch das Central-Nervensystem direct ergriffen, und erzeugt die Zusammenziehung des Magens eine schmerzhafte Empfindung. Hätten wir, um diesen Hunger zu täuschen oder einzuschläfern, ein Narcoticum, Opium oder nur Tabak, gewiß wäre er erträglicher, – aber uns fehlt ja Alles!

Ein Einziger fühlt dieses gebieterische Bedürfniß weniger: es ist der Lieutenant Walter, der eine Beute des heftigsten Fiebers ist, das keinen Hunger in ihm aufkommen läßt, während ihn fortwährend ein brennender Durst quält. Miß Herbey, die sich von ihrer eigenen schmalen Wasserration etwas für den Kranken abdarbt, hat von dem Kapitän eine kleine Zugabe erwirkt, und jede Viertelstunde träufelt sie ein wenig davon auf die Lippen des Lieutenants. Walter vermag kaum ein Wort zu sprechen und lohnt dem barmherzigen jungen Mädchen nur mit einem dankbaren Blicke. Der Aermste! Sein Urtheil ist gesprochen, und auch die zärtlichste Sorgfalt könnte ihn nicht retten, er wird wenigstens nicht allzulange zu leiden haben!

Uebrigens scheint er sich über seinen Zustand keiner Selbsttäuschung hinzugeben, denn er ruft mich durch ein Zeichen zu sich, und ich setze mich dicht neben ihn. Er rafft seine letzte Kraft zusammen, um zu sprechen, und haucht mir in unterbrochener Rede zu:

»Herr Kazallon, wird es mit mir noch lange dauern?«

So wenig ich auch nur mit der Antwort zögere, Walter bemerkt es doch.

»Die Wahrheit! fährt er fort. Bitte, die volle Wahrheit!

– Ich bin ja kein Arzt, ich kann nicht wissen …

– Das thut Nichts! Geben Sie mir Antwort, ich bitte Sie! …«

Ich fasse den Kranken aufmerksam in’s Auge, und lege mein Ohr auf seine Brust. Seit einigen Tagen hat die Phthisis furchtbare Fortschritte in ihm gemacht. Offenbar functionirt der eine Lungenflügel gar nicht mehr und vermag der andere dem Athembedürfnisse nur noch mit genauer Noth zu entsprechen. Gleichzeitig leidet Walter an einem sehr heftigen Fieber, das bei tuberculösen Erkrankungen ein Symptom des nahen Endes zu sein pflegt.

Was kann ich auf die Frage des Lieutenants antworten?

Forschend ruht sein Blick auf mir, so daß ich mir kaum zu helfen weiß, und ich suche nach einer ausweichenden Erwiderung.

»Mein lieber Freund, sage ich, bei der Lage, in der wir uns befinden, kann überhaupt Niemand von sich sagen, ob er noch lange zu leben habe. Wer weiß, ob nicht vor Ablauf einer Woche Alle, die das Floß jetzt trägt …

– Vor Ablauf einer Woche!« murmelt der Lieutenant, dessen brennender Blick auf mir haftet.

Dann wendet er den Kopf und scheint einzuschlummern.

Am 24., 25. und 26. December hat sich in unserer Situation nicht das Geringste geändert. So unglaublich es erscheinen mag, so haben wir uns doch an das Hungern allmälig gewöhnt. Die Berichte von Schiffbrüchigen haben nicht selten Thatsachen, welche mit den hier beobachteten übereinstimmen, angeführt. Wenn ich jene las, war ich geneigt, sie für Uebertreibungen anzusehen. Darin täuschte ich mich, und ich sehe jetzt wohl ein, daß ein Mangel an Nahrung weit länger ertragen werden kann, als ich je geglaubt hätte. Ueberdies hat der Kapitän unserem halben Pfunde Schiffszwieback jetzt einige Tropfen Branntwein hinzugefügt, und erhält dieses Régime unsere Kräfte mehr, als man annehmen sollte. O, wenn wir dieser Rationen für zwei Monate, ach, nur für einen, sicher wären! Doch unser Vorrath geht zu Ende, und Jeder kann den Augenblick voraussehen, in dem auch diese magere Nahrung uns völlig fehlen muß.

Um jeden Preis müssen wir also aus dem Meere eine Vermehrung unserer Nahrungsmittel zu erlangen suchen, was jetzt immerhin ziemlich schwierig ist. Indessen fertigen der Hochbootsmann und der Zimmermann aus aufgelösten Seilen neue Angelschnuren an und versehen diese mit aus den Planken gezogenen, krumm gebogenen Nägeln.

Der Hochbootsmann scheint mit dem Ergebnisse der Arbeit ganz zufrieden gestellt zu sein.

»Das sind zwar keine tadellosen Angelhaken, diese Nägel, sagt er zu mir, indeß ein Fisch könnte an ihnen ebenso gut hängen bleiben, wenn wir nur einen Köder daran hätten. Nun haben wir als solchen aber blos Schiffszwieback, der daran nicht lange halten kann. Wenn es erst gelungen ist, einen zu fangen, würde ich die Angeln mit seinem Fleische als Lockspeise versehen. Aber den ersten Fisch zu erlangen, darin liegt die große Schwierigkeit!«

Der Hochbootsmann hat recht, und voraussichtlich ist unser Angeln erfolglos. Indeß, man probirt es auf gut Glück, und die Schnüre werden ausgelegt. Wie zu erwarten stand, »beißt« indessen kein Fisch »an«, und offenbar ist das Meer hier auch nicht gerade fischreich.

Während des 28. und 29. December setzen wir unsere vergeblichen Versuche fort. Die Zweimarkstücken, welche an die Nägel gesteckt werden, erweichen sich natürlich im Wasser, fallen ab und bedürfen einer wiederholten Erneuerung. Damit verschwenden wir aber einen Theil der Substanz, welche unsere einzige Nahrung darstellt, und sind doch schon an dem Punkte angelangt, die letzten Brocken zu zählen.

Der Hochbootsmann, der die gewöhnlichen Mittel erschöpft hat, kommt auf den Einfall, ein Stückchen Stoffgewebe an die Nägel zu befestigen. Miß Herbey opfert deshalb eine Ecke des rothen Shawltuches, das sie trägt, und vielleicht lockt der rothe, unter dem Wasser lebhaft leuchtende Stoff einen gefräßigen Meeresbewohner an.

Im Laufe des 30. December schreitet man zu diesem neuen Versuche. Mehrere Stunden lang läßt man die Schnüre dem Flosse in beträchtlicher Tiefe nachschwimmen, doch wenn sie heraufgezogen werden, zeigt sich das rothe Wollenstückchen immer vollkommen unversehrt.

Dem Hochbootsmann sinkt aller Muth. Hier versiegt uns noch eine Quelle, auf die wir unsere Hoffnung setzten. Was würde man nicht für den ersten Fisch bieten, mit dem man dann andere zu fangen im Stande wäre!

»Ein einziges Mittel gäbe es noch, unsere Angeln mit einem Köder zu versehen! sagt der Bootsmann halblaut zu mir.

– Und welches? fragte ich ihn.

– Das werden Sie später erfahren!« antwortet mir der Seemann und wirft mir einen unverständlichen Blick zu.

Was sollen diese Worte eines Mannes bedeuten, den ich immer als sehr zurückhaltend gekannt habe? Die ganze Nacht hindurch kommen sie mir nicht aus dem Sinn.