Viertes Kapitel

Viertes Kapitel

Als die Sonne unterging und die Abendkühle kam, machten wir unser Nachtlager zurecht. Wir rüttelten die harten ledernen Briefbeutel und die Leinwandsäcke mit Büchern und Drucksachen, deren vorstehende Enden und Ecken sich sehr fühlbar machten, auf. Dann legten wir sie wieder so hin, daß unser Bett möglichst eben wurde; es wurde auch wirklich besser dadurch, obwohl es dessen ungeachtet noch ein aufgeregtes, wogendes Aussehen zeigte wie ein Stück sturmbewegte See. Nun stöberten wir zunächst unsere Stiefel auf, die in allerhand schnöden Winkeln zwischen den Postsäcken ihr Lager aufgeschlagen hatten, und zogen sie an; sodann nahmen wir unsere Röcke, Westen, Hosen und schweren Wollhemden von den Armschlingen herunter, wo sie den ganzen Tag gebaumelt hatten und schlüpften hinein – da es nämlich weder an den Stationen noch im Wagen Damen gab und es heißes Wetter war, so hatten wir es uns bequem gemacht und schon am Vormittag alles bis auf die Unterkleider abgelegt. Als wir soweit fertig waren, stopften wir das unbequeme Wörterbuch in eine Ecke, in der es sich so ruhig als möglich verhalten konnte und legten die Feldflaschen und Pistolen so hin, daß wir sie im Dunkeln zu finden vermochten; dann rauchten wir noch eine Pfeife und hielten noch einen Schwatz zum Schluß, worauf wir die Pfeifen, den Tabak und das Geldsäckchen in wohlgeschützte Ecken und Vertiefungen zwischen den Postsäcken schoben und sämtliche Vorhänge herunter ließen, so daß es ›finster war wie in einer Kuh‹, wie unser Kondukteur in seinem malerischen Stil sich ausdrückte. Jedenfalls hätte es nirgends dunkler sein können – nicht der leiseste Schimmer von irgend etwas war zu entdecken. Und schließlich rollten wir uns zusammen wie Seidenwürmer, wickelten uns in unsere Decken und schliefen friedlich ein. So oft der Wagen zum Wechseln der Pferde hielt, wachten wir auf und suchten uns zu vergegenwärtigen, wo wir uns befanden – was uns auch gelang – und eine oder zwei Minuten darauf war der Wagen wieder fort und wir mit. Wir kamen jetzt in eine da und dort von kleinen Flüssen durchströmte Gegend. Diese hatten beiderseits hohe steile Ufer und jedesmal, so oft wir auf der einen Seite des Wagens herunterflogen und auf der anderen hinaufkletterten, wurde unsere Gesellschaft ein bißchen vermischt. Zuerst lagen wir sämtlich am vorderen Ende auf einem Haufen, und eine Sekunde darauf schossen wir dem anderen Ende zu und standen auf den Köpfen. Dabei suchten wir uns durch Zappeln und Ausschlagen die Kanten und Ecken der Postsäcke vom Leibe zu halten, die um uns herumflogen; und wenn dann der Staub aus dem Durcheinander aufwirbelte, niesten wir sämtlich im Chore und alle brummten und stießen Äußerungen hervor, wie: »Gehen Sie doch mit Ihrem Ellbogen weg. Können Sie denn das Drücken nicht lassen?«

So oft wir aus einer Wagenecke in die andere flogen, kam das Wörterbuch auch mit und jedesmal that es einem von uns auch einen Schaden. Auf der einen Tour schürfte es den Sekretär am Ellbogen, auf der nächsten stieß es mich vor den Magen und auf der dritten versetzte es Bemis eins auf die Nase. Die Pistolen und der Geldsack blieben ruhig unten am Boden, dagegen rollten die Pfeifenköpfe, Pfeifenrohre und Feldflaschen jedesmal klappernd hinter dem Wörterbuch drein, so oft dieses auf uns los ging, und leisteten demselben Hilfe und Vorschub, indem sie uns Tabak in die Augen streuten und uns den Rücken mit Wasser übergossen.

Trotzdem war es, alles in allem genommen, eine ganz behagliche Nacht. Sie ging nach und nach auch herum, und als schließlich das kalte und graue Morgenlicht durch die Falten und Schlitze in den Vorhängen schimmerte, gähnten und reckten wir uns ganz vergnügt, warfen unsere Verpuppung ab und hatten das Gefühl, gerade genug geschlafen zu haben. Wie dann die Sonne allmählich heraufkam und der Welt Wärme spendete, zogen wir Rock, Hosen und Stiefel aus und machten uns zum Frühstück fertig. Es war gerade die richtige Zeit, denn schon fünf Minuten darauf ließ der Postillon die zauberischen Töne seines Horns über die öden Graswüsten hinschweben und nun entdeckten wir auch eine oder zwei niedrige Hütten in der Ferne. Jetzt ließen sich auf einmal das Rasseln des Wagens, das Klappern der Hufe unserer sechs Pferde und die kurzen Zurufe des Kutschers lauter und nachdrücklicher vernehmen, und wir fegten in flottester Gangart auf die Station los. Es war etwas Bezauberndes um so eine Fahrt mit der alten Überlandpost! –

In unserm Negligé sprangen wir heraus, der Postillon warf die zusammengeknüpften Zügel auf den Boden, gähnte und reckte sich behaglich und zog seine schweren Buckskinhandschuhe mit großer Bedachtsamkeit und unerträglicher Würde aus. Es fiel ihm gar nicht ein, den teilnehmenden Fragen nach seinem Befinden, unterwürfig scherzenden und schmeichelnden Anreden, willfährigen Dienstanerbietungen, die ihm von den fünf oder sechs struppigen, halbzivilisierten Stationsleuten und Hausknechten entgegen gebracht wurden, (welche eiligst unsere Gäule ausschirrten und das frische Gespann aus dem Stall zogen,) die geringste Acht zu schenken. Denn in den Augen des Postkutschers jener Tage waren Wirtsleute und Hausknechte an den Stationen eine Art niederer Geschöpfe, – gut genug zu allem, nützlich an ihrem Platze und brauchbar, um einen neuen Staat gründen zu helfen, aber keine Wesen, mit denen ein Mann von Stellung sich einlassen konnte; während hinwiederum in den Augen des Wirts und des Dienstpersonals der Postkutscher als ein Held, ein großer, glänzender Würdenträger, ein bevorzugtes Menschenkind dastand, das von allem Volke beneidet, von der ganzen Welt mit achtungsvoller Aufmerksamkeit behandelt wurde. Wenn sie mit ihm redeten, nahmen sie sein hochmütiges Schweigen als eine natürliche Eigenheit bei einem so großen Manne in Demut hin. Öffnete er die Lippen, so hingen sie alle voll Bewunderung an seinen Worten (er beehrte übrigens niemals eine einzelne Persönlichkeit mit seinen Bemerkungen, richtete solche vielmehr in breiter Allgemeinheit gleichzeitig an Pferde, Ställe, die ganze Umgegend und nur so nebenbei auch an die untergeordneten menschlichen Wesen); ließ er einmal eine beleidigende Anzüglichkeit auf einen der Hausknechte los, so fühlte sich dieser Hausknecht dadurch für den ganzen Tag beglückt; gab er seinen einzigen Witz zum besten, – einen Witz, so alt wie die Berge, grob, gemein und geistlos, und stets derselben Zuhörerschaft mit denselben Worten aufgetischt, so oft die Post daselbst anhielt, – so brachen die Kerle in ein brüllendes Gelächter aus, schlugen sich auf die Schenkel und schwuren hoch und teuer, das sei der beste Witz, den sie in ihrem ganzen Leben gehört.

Und wie sie flogen, wenn er ein Becken oder eine Feldflasche voll Wasser oder Feuer für seine Pfeife verlangte! Gegen einen Passagier, der sich so weit vergessen hätte, eine Gefälligkeit von ihrer Hand zu beanspruchen, würden sie sofort grob geworden sein. Sie konnten sich diese Unverschämtheit ebenso wohl gestatten, als ihr Vorbild, der Postkutscher, denn wohl gemerkt, dieser letztere sah auf die Passagiere so ziemlich mit derselben Verachtung herab, wie seine Stallknechte.

Dem wirklichen Träger der Macht, dem Kondukteur des Postwagens, begegnete das Stationspersonal zwar mit aller derjenigen Höflichkeit, von welcher diese Leute überhaupt eine Vorstellung hatten, allein das war auch alles; der Postillon dagegen war das einzige Wesen, vor dem sie sich beugten, das sie anbeteten. Mit welcher Bewunderung sie zu ihm aufblickten, wenn er auf seinem hohen Sitz langsam und bedächtig die Handschuhe anzog, während ihm irgend ein beglückter Stallknecht die zusammengefaßten Zügel hinhielt, geduldig harrend, bis es dem hohen Herrn gefiel, sie zu ergreifen! Und wie sie ganze Salven von Beifallsrufen hinter ihm her losließen, wenn er mit seiner langen Peitsche knallte und im vollen Lauf davonsauste!

Die Stationsgebäude waren langgestreckte, niedrige Hütten aus an der Sonne getrockneten, schmutzfarbenen Backsteinen ohne Mörtel (erstere von den Spaniern adobes genannt, was die Amerikaner zu dobies abkürzen). Die kaum merklich geneigten Dächer waren mit Stroh bedeckt und dann mit Rasen belegt oder einer dicken Erdschichte, auf der Unkraut und Gras üppig sproßte. Hier sahen wir also zum erstenmale Häuser mit den Vorgärten oben auf dem Dach. Die Gebäude bestanden aus Scheunen, Ställen für zwölf bis fünfzehn Pferde und einer Hütte als Speisezimmer für die Passagiere. In der letzteren standen Pritschen für den Stationswirt und einen oder zwei Hausknechte. Den Ellbogen konnte man auf der Dachrinne aufstützen und unter der Eingangsthür mußte man sich bücken. Die Stelle eines Fensters vertrat ein viereckiges Loch ohne Scheiben, das ungefähr einen Mann durchließ. Der Boden war nicht gedielt, sondern nur festgestampft. Ein Ofen war nicht vorhanden, vielmehr diente die Feuerstelle für alle notwendigen Zwecke. Regale, einen Geschirrschrank oder ein Klosett gab es nicht. In einer Ecke stand ein offener Mehlsack, an dessen Fußende sich ein paar altehrwürdige, geschwärzte, blecherne Kaffeetöpfe, ein desgleichen Theetopf, ein Säckchen mit Holz und eine Speckseite lehnten. Außen, neben der Thür zum Schuppen des Stationswirtes stand ein blechernes Waschbecken auf dem Boden. Dabei befand sich ein Eimer voll Wasser und ein Stück gelbe Seife, und von der Dachrinne hing vielsagend ein grobes, blaues Wollhemd herunter; allein dies war das Privathandtuch des Wirts und nur zwei Personen außer ihm hätten es wagen dürfen, sich desselben zu bedienen – der Postillon und der Kondukteur. Der letztere wollte es nicht aus einem gewissen Schicklichkeitsgefühl, und jener verzichtete darauf, um die Vertraulichkeit eines Stationswirtes dadurch nicht zu ermutigen. Wir hatten Handtücher im Mantelsack; sie hätten ebensogut in Sodom und Gomorah sein können. Wir, ebenso wie der Kondukteur, bedienten uns zum Abtrocknen unserer Taschentücher, der Postillon seiner Hosen und Ärmel. Innen neben der Thür war ein kleiner, altmodischer Spiegelrahmen befestigt, in dessen einer Ecke zwei kleine Bruchstücke des einstigen Spiegelglases steckten.

Beim Hineinschauen empfing man ein hübsches Doppelbild, wobei die eine Hälfte des Kopfes ein paar Zoll hoch über der andern erschien. Von dem Spiegel hing an einem Bindfaden ein halber Kamm herab – aber, wenn ich die Wahl hätte, diesen Patriarchen zu beschreiben oder zu sterben, ich glaube, ich würde mir gleich ein paar Särge bestellen. Der Kamm stammte von Esau und Simson her, und seit jenen Zeiten waren stets Haare in demselben zurückgeblieben zusammen mit gewissen sonstigen Unsauberkeiten. In einer Ecke standen drei oder vier Flinten und Büchsen nebst Pulverhörnern und Beuteln mit Munition. Die Stationsleute trugen Beinkleider von grobem Bauerntuch, bei denen am Sitz und innen an den Beinen breite Lederstreifen eingesetzt waren, damit sie zugleich als Reithosen dienen konnten – infolgedessen waren die Beinkleider zur Hälfte dunkelblau und zur Hälfte gelb, was sich unbeschreiblich malerisch ausnahm. Sie steckten in den Schäften hoher Stiefel, deren Absätze mit großen spanischen Sporen bewehrt waren, welche mit ihren kleinen Rädchen und Kettchen bei jedem Schritte klirrten. Der Mann trug gewöhnlich einen mächtigen Vollbart, einen alten Schlapphut, ein blaues Wollhemd, keine Hosenträger, keine Weste, keinen Rock – dagegen in einer Lederscheide am Gürtel einen großen, langen Matrosenrevolver (auf der rechten Seite mit dem Hahn nach vorne hängend), während aus dem Stiefel ein Bowiemesser mit Horngriff hervorragte. Die Ausstattung der Hütte war weder üppig noch beengend. Schaukelstühle und Sofas waren nicht da, auch nie dagewesen; ihre Stelle vertraten zwei dreibeinige Stühle, eine vier Fuß lange Bank aus fichtenen Brettern und zwei leere Lichterkisten. Der Tisch war ein fettiges Brett auf Pfählen; Tischtuch und Servietten waren ausgeblieben – und es sah sich auch niemand darnach um. An jedem Platz stand eine verbogene Blechschüssel, Messer und Gabel und eine große, blecherne Tasse; nur der Postillon hatte eine Untertasse von Steingut, die einst bessere Tage gesehen. Selbstverständlich saß dieser Großfürst oben am Tische. Ein einziges Stück Tafelgeräte war da mit dem rührenden Ausdruck gefallener Größe – eine Platmenage aus Neusilber, verbogen und angelaufen; trotzdem nahm sich dieselbe in dieser Umgebung so widersinnig aus, daß sie an einen abgedankten unter Barbaren verbannten König erinnerte, und die Hoheit ihrer ursprünglichen Stellung nötigte selbst in ihrer Erniedrigung Achtung ab. Von den Essig- und Ölflaschen war nur noch eine vorhanden, und diese war ein Ding ohne Stöpsel und ohne Hals, voll Fliegenspuren, zwei Zoll Essig enthaltend und außerdem ein Dutzend eingemachter Fliegen, welche voll Betrübnis, es hier versucht zu haben, die Beine gen Himmel streckten. Der Wirt schnitt den letzten Rest eines Brotlaibes von der Woche vorher auf, der an Aussehen und Umfang einem Käse früherer Zeiten glich und es an Härte mit Nicholsohn’schen Pflastersteinen aufnehmen konnte.

Auch von dem Speck schnitt er für jeden einen Streifen ab, allein nur erfahrene Kunden mochten sich an denselben wagen, denn es war zurückgewiesener Armeespeck, womit der Staat seine Soldaten in den Forts nicht füttern wollte und den die Post-Gesellschaft für ein Billiges angekauft hatte zur Atzung der Bediensteten und Passagiere.

Dann setzte er uns ein Getränke vor, das er ›Slumgullion‹ nannte – eine Bezeichnung, die er sicherlich einer höheren Eingebung verdankte. Es sollte eigentlich Thee vorstellen, aber es enthielt denn doch gar zu viel Spüllumpenreste, Sand und eine alte Speckschwarte, um den kundigen Reisenden hinters Licht zu führen. Zucker und Milch hatte er nicht, nicht einmal einen Löffel, um die besagten Bestandteile umzurühren. Wir waren weder imstande, Brot und Speck zu essen, noch den ›Slumgullion‹ zu trinken. Beim Anschauen des melancholischen Essigfläschchens fiel mir eine alte Anekdote ein (die schon in jenen Tagen recht alt war) von einem Reisenden, der sich an eine Tafel setzte, auf der nichts als eine Makrele und ein Senftopf standen. Er fragte den Wirt, ob das alles sei. Der Wirt entgegnete:

»Alles?! Ei, potz Donner und Blitz, ich dächte, an der Makrele da könnten Sechse satt werden!«

»Aber ich esse Makrelen nicht gern.«

»O, dann halten Sie sich eben an den Senf.«

Sonst hatte ich diese Anekdote gut, sehr gut gefunden, allein hier nahm dieselbe eine solch betrübende Glaubhaftigkeit an, daß aller Spaß dabei aufhörte.

Da stand unser Frühstück vor uns, unsere Kauwerkzeuge traten jedoch trotzdem nicht in Thätigkeit.

Ich versuchte und roch; dann sagte ich, ich meine, ich möchte lieber Kaffee nehmen. Der Herbergsvater stierte mich sprachlos an; schließlich, als er wieder bei sich war, wandte er sich ab und sagte mit einem Ausdruck, als wenn die Sache seine Fassungskraft völlig überstiege: »Kaffee! nee, wenn mir das nicht über die Hutschnur geht, so will ich verd… sein!«

Essen konnten wir nicht und eine Unterhaltung fand unter den Hausknechten und Viehhirten nicht statt – wir saßen nämlich alle an demselben Tisch. Wenigstens beschränkte sich die Unterhaltung darauf, daß dann und wann einer der Bediensteten an den anderen irgend ein Verlangen stellte. Dies geschah stets in derselben Form und zwar mit einer rauhen Freundlichkeit. Durch ihre westliche Frische und Neuheit erweckte dieselbe anfangs meine Verwunderung und Teilnahme, bald aber wurde sie eintönig und verlor ihren Reiz für mich.

Da hieß es: »Gieb einmal das Brot her, du Sohn eines Stinktiers!« Doch nein – es lautete nicht Stinktier; ich meine, es sei noch stärker gewesen; ja, es ist sogar gewiß so, allein es ist meinem Gedächtnis mittlerweile entschwunden. Nun, das macht nichts, jedenfalls war es ja wohl für den Druck zu stark. In meinem Gedächtnis bildet dieser Ausdruck den Grenzstein, der mir sagt, wo ich zuerst aus das kräftige, neue Idiom der Ebenen und Berge des Westens stieß.

Wir verzichteten auf das Frühstück, zahlten jeder unsern Dollar und kehrten zu den Postsäcken in der Kutsche zurück, wo wir Trost in unsern Pfeifen fanden. Gerade an jener Station mußte sich unser fürstlicher Aufzug die erste Einbuße gefallen lassen, indem wir unsere sechs Pferde zurückließen und dafür sechs Maultiere bekamen. Aber es waren wilde mexikanische Burschen, deren jedes von einem Mann am Kopf festgehalten werden mußte, so lange der Kutscher die Handschuhe anzog und sich fertig machte. Ergriff dieser dann endlich die Zügel und gab das Zeichen zum Aufbruch, so sprangen die Männer schnell zur Seite und ließen die Tiere los und nun sauste die Kutsche vom Posthause weg wie aus der Kanone geschossen. Wie die aufgeregten Tiere dahinjagten! Es war ein wilder, toller Galopp, und aus dieser Gangart kamen sie nicht heraus, bis wir zehn oder zwölf Meilen weit gerast waren und an der nächsten Gruppe von Stationshütten und Ställen vorfuhren. So ging es mit Windeseile weiter den ganzen Tag. Um zwei Uhr nachmittags kam der Waldgürtel in Sicht, der den North-Platte umsäumt und dessen Windungen durch die ungeheuren, völlig flachen Ebenen andeutet. Um vier Uhr kreuzten wir einen Arm des Platte, um fünf Uhr diesen selbst und hielten in Fort Kearny, nach einer Fahrt von sechsundfünfzig Stunden von St. Joseph, dreihundert Meilen von dort entfernt.

Das also war die Postfahrt auf der großen Überlandroute vor zehn oder zwölf Jahren, als wohl keine zehn Menschen in ganz Amerika zusammen daran glaubten, daß sie einmal den Bau einer Eisenbahn auf dieser Route nach dem Stillen Ozean erleben würden. Aber nun ist die Bahn wirklich vorhanden, und es ruft tausend merkwürdige Vergleiche und Kontraste in meinem Geiste wach, wenn ich in der ›New-York-Times‹ die nachstehende Skizze einer Reise fast genau über die in meiner Beschreibung geschilderten Örtlichkeiten lese. Ich vermag die neuen Verhältnisse kaum zu fassen.

»Quer über den Kontinent.«

»Um vier Uhr zwanzig Minuten eines Sonntag-Nachmittags rollten wir von der Station Omaha weg, um unsere lange Fahrt nach dem Westen anzutreten. Nach Verfluß einiger Stunden wurde die Hauptmahlzeit angesagt – ein Ereignis für jeden, der noch nicht aus Erfahrung weiß, was es heißen will, in einem der Pullmannschen Hotels auf Rädern zu speisen. Wir betraten also den nächsten Wagen vor unserem Schlafpalast und befanden uns im Speisewagen. Es war eine ungeahnte Überraschung für uns, dieses erste Sonntagsessen – und obwohl wir noch vier Tage lang an der Mittagstafel speisten und jedesmal Frühstück und Abendessen nahmen, war unsere ganze Gesellschaft doch fortwährend voll Bewunderung über die vollendete Einrichtung und die großartigen Leistungen. Auf schneeweiß gedeckten und mit gediegenem Silbergerät besetzten Tafeln trugen äthiopische Kellner in fleckenlosem Weiß mit zauberhafter Schnelligkeit ein Mahl auf, dessen selbst Delmonico sich nicht zu schämen gebraucht hätte. Ja, in manchen Punkten möchte es diesem hervorragenden Kochkünstler schwer gefallen sein, es unserer Speisekarte gleich zu thun; denn hatten wir nicht neben allem dem, was sonst zu einem Diner ersten Rangs gehört, noch unser Antilopensteak (ein Feinschmecker, der dies nicht aus Erfahrung kennt – bah, was weiß der von Tafelgenüssen?) unsere köstliche Gebirgsbachforelle, auserlesenes Obst und Beeren und (als feinste Beilage, aber nicht für Geld zu haben) unsere süß duftende appetiterregende Prairieluft? Man darf überzeugt sein, daß wir den Herrlichkeiten Ehre widerfahren ließen, und als wir sie mit Kelchen voll perlenden Schaumweins hinunterspülten, während wir dreißig Meilen in der Stunde durchflogen, mußten wir bekennen, daß uns ein flotteres Leben niemals vorgekommen. Noch mehr leisteten wir übrigens zwei Tage daraus, als wir siebenundzwanzig Meilen in eben so vielen Minuten zurücklegten, während aus unseren bis zum Rand gefüllten Champagnerkelchen nicht ein Tropfen überfloß. Nach der Mahlzeit zogen wir uns in unseren Salonwagen zurück, wo wir den Sonntag-Abend durch Absingung einiger schönen alten Kirchenlieder feierten. Lieblich klangen die Männer- und Frauenstimmen in der Abendluft zusammen, während unser Zug mit seinem großen grell aufleuchtenden Polyphemsauge weithin die Prairie erhellend in Nacht und Wildnis hineinjagte. Dann zu Bett auf üppiger Lagerstatt, wo wir den Schlaf der Gerechten schliefen bis zum nächsten Morgen um acht Uhr, um beim Übergang über den North-Platte zu erwachen, dreihundert Meilen von Omaha, zurückgelegt in fünfzehn Stunden und vierzig Minuten.«

Eine Katastrophe.

Eine Katastrophe.

Wir lagen drei Tage in New-Orleans, es gelang dem Kapitän jedoch nicht, einen andern Lotsen zu finden; er schlug daher vor, daß ich die Tageswachen übernehmen und die Nachtwachen Georg Ealer überlassen sollte. Ich fürchtete mich aber, denn ich hatte noch nie ganz allein die Wache gehabt und glaubte, daß ich das Boot sicher am obern Ende einer Durchfahrt zu Schaden oder an einer schmalen Stelle auf den Grund bringen würde. Brown behielt nun seine Stelle, wollte aber nicht mit mir fahren. So wurde denn abgemacht, daß ich auf dem ›A. T. Lacey‹ nach St. Louis nachkommen sollte; dort wollte der Kapitän einen neuen Lotsen anstellen, so daß ich meinen Platz als Steuerer wieder einnehmen könnte. Der ›Lacey‹ sollte ein paar Tage nach der ›Pennsylvania‹ abfahren.

In der Nacht vor der Abfahrt der ›Pennsylvania‹ saßen Henry und ich bis Mitternacht plaudernd auf einem Frachthaufen am Hafendamm. Unsere Unterhaltung betraf einen Gegenstand, der, wie ich glaube, noch nicht besprochen ist – die Unglücksfälle der Dampfboote. Ein solcher war eben im Anzuge, ohne daß wir es ahnten; das Wasser zu dem Dampf, der das Unglück verursachen sollte, strömte schon an einer Landspitze etwa fünfzehnhundert Meilen stromaufwärts vorüber, während wir plauderten – traf aber rechtzeitig am rechten Orte ein. Wir bezweifelten, ob Personen ohne rechte Autorität bei Unglücksfällen und der sie begleitenden Panik viel nützen könnten, meinten aber, daß sie immerhin etwas zu nützen vermöchten; so beschlossen wir denn, falls wir je ein solches Unglück erleben sollten, wenigstens bis zum letzten Augenblick auf dem Posten zu bleiben und kleinere Dienste zu leisten, wie es der Zufall bieten würde. Henry erinnerte sich später daran, als das Unglück geschah, und handelte demgemäß.

Der ›Lacey‹ fuhr also zwei Tage später ab als die ›Pennsylvania‹, mit der mein Bruder fuhr. Als wir nach ein paar Tagen zu Greenville in Mississippi anlegten, rief uns jemand zu:

»Die ›Pennsylvania‹ ist bei der Schiffsinsel in die Luft geflogen und hundertfünfzig Menschenleben sind zu Grunde gegangen.«

Zu Napoleon in Arkansas erhielten wir noch am selben Tage das Extrablatt einer Zeitung in Memphis, das einige Einzelheiten enthielt. Es erwähnte meinen Bruder – als unverletzt.

Weiter den Fluß hinauf bekamen wir ein später erschienenes Extrablatt. Mein Bruder war wieder erwähnt – diesmal als tödlich verletzt. Erst als wir Memphis erreichten, erhielten wir ausführliche Mitteilungen über die Katastrophe. Hier folgt die leidvolle Geschichte:

Es war um sechs Uhr früh an einem heißen Sommermorgen. Die ›Pennsylvania‹ fuhr nördlich von der Schiffsinsel, etwa sechzig Meilen unterhalb Memphis, langsam mit halbem Dampf weiter, da sie im Schlepptau ein mit Holz beladenes Flachboot hatte, das rasch geleert wurde. George Ealer war im Steuerhaus – allein; glaube ich; der zweite Maschinist und ein Heizer hatten die Wache im Maschinenraum, der zweite Steuermann die Wache auf Deck; Herr Wood, Georg Black und mein Bruder, alle drei Buchhalter, schliefen, ebenso Brown und der Obermaschinist, der Zimmermann, der Obersteuermann und ein Heizer; Kapitän Kleinfelter saß im Barbierstuhl, und der Barbier wollte gerade mit dem Rasieren beginnen. Wie man damals erzählte, waren sehr viele Kajüts- und 3-400 Deckspassagiere an Bord, von denen die meisten noch schliefen. Als das Holzboot nahezu entleert war, läutete Ealer »Volle Kraft vorwärts!« und im nächsten Augenblick explodierten vier von den acht Dampfkesseln mit donnerndem Krachen, und das ganze vordere Drittel des Dampfers flog den Wolken zu! Der Hauptteil der Masse mit den Schornsteinen fiel wieder auf das Boot: ein Berg zertrümmerter, chaotischer Wrackstücke, – dann brach nach einer kleinen Weile Feuer aus.

Viele Leute wurden in beträchtliche Entfernungen geschleudert und fielen in den Fluß, darunter auch Herr Wood, mein Bruder und der Zimmermann. Der Zimmermann lag noch auf seiner Matratze ausgestreckt, als er fünfundsiebzig Fuß vom Dampfer entfernt ins Wasser fiel. Von Brown, dem Lotsen und Georg Black, dem ersten Buchhalter, wurde nach der Explosion nichts mehr gesehen und gehört. Der Barbierstuhl mit dem unverletzten Kapitän Kleinfelter darin stand mit dem Rücken gegen einen tiefen Abgrund – das ganze Vorderteil des Schiffes war verschwunden, und der verblüffte Barbier, der gleichfalls unverletzt geblieben war, stand da, unbewußt das Messer am Streichriemen abziehend, dicht vor dem klaffenden Spalt, mit einem Zehen über der Leere, ohne ein Wort zu sagen.

Als George Ealer die Schornsteine vor seinen Augen in die Höhe fliegen sah, wußte er, was los war; er hüllte sein Gesicht mit den Rockschößen ein und preßte die Hände davor, um durch diesen Schutz zu verhindern, daß der heiße Dampf in seine Nase oder seinen Mund gelangen konnte. Er hatte Zeit genug, sich mit diesen Einzelheiten zu beschäftigen, während er auf- und abwärts flog. Bald darauf landete er auf einem der nicht explodierten Dampfkessel, in Begleitung seines Rades und eines Hagels anderer Sachen und in eine Wolke siedend heißen Dampfes gehüllt, vierzig Fuß unterhalb des früheren Steuerhauses. Alle, welche den Dampf einatmeten, sind gestorben; keiner kam davon. Ealer atmete aber keinen Dampf ein; er eilte so rasch wie möglich in die freie Luft; und als der Dampf sich verzog, kehrte er zurück und kletterte wieder auf den Dampfkessel, wo er mit großer Geduld alle seine Schachfiguren und die verschiedenen Teile seiner Flöte zusammensuchte.

Mittlerweile begann das Feuer bedrohend zu werden. Schreien und Stöhnen erfüllten die Luft. Sehr viele Personen waren verbrüht, viele andere verstümmelt; einem Manne – einem Geistlichen, glaube ich – hatte die Explosion eine eiserne Brechstange durch den Leib getrieben; er starb nicht sogleich, und seine Leiden waren ganz gräßlich. Ein junger französischer Seekadett von fünfzehn Jahren, der Sohn eines französischen Admirals, wurde fürchterlich verbrüht, ertrug aber die Qualen mannhaft. Beide Steuerleute waren arg verbrüht, blieben aber trotzdem standhaft auf ihren Posten. Sie brachten das Flachboot nach dem Heck und trieben mit dem Kapitän die rasende Schar der erschreckten Passagiere zurück, bis die Verwundeten dorthin und in Sicherheit gebracht worden waren.

Als Herr Wood und Henry ins Wasser fielen, schwammen sie aufs Ufer zu, das nur einige hundert Schritte entfernt war; aber Henry sagte bald darauf, er glaube nicht verletzt zu sein (welch unbegreiflicher Irrtum!) und wolle deshalb zum Boot zurückschwimmen und die Verwundeten retten helfen. Damit schieden sie, und Henry kehrte um.

Mittlerweile verbreitete sich das Feuer mit rasender Schnelle, und mehrere Personen, die unter den Trümmern eingesperrt waren, schrieen kläglich um Hilfe. Alle Bemühungen, das Feuer zu bewältigen, erwiesen sich als fruchtlos; so wurden denn bald die Eimer beiseite geworfen und die Offiziere ergriffen die Äxte und versuchten die Gefangenen herauszuhauen. Unter den Gefangenen befand sich auch ein Heizer; er sagte, er wäre nicht verletzt, könnte sich aber nicht befreien; als er sah, daß das Feuer die Hilfeleistenden vertreiben würde, bat er, man möge ihn erschießen und so vor dem gräßlicheren Feuertod retten. Das Feuer vertrieb wirklich die Offiziere, so daß sie unthätig das Flehen dieses armen Burschen anhören mußten, bis die Flammen seine Qualen endeten.

Das Feuer drängte alles, was nur irgend Platz finden konnte, auf das Holzboot; dann wurde dieses losgeschnitten und trieb nun mit dem brennenden Dampfer den Fluß hinab auf die Schiffsinsel zu. Man verankerte das Boot am oberen Ende der Insel und dort mußten die halbnackten Insassen, ohne Schutz vor der sengenden Sonne, ohne Speise und Stärkungsmittel und ohne Hilfe für ihre Verletzungen den ganzen Tag bleiben. Endlich kam ein Dampfer, der die Unglücklichen nach Memphis brachte, wo ihnen sogleich die ausgiebigste Hilfe zuteil wurde. Henry war mittlerweile bewußtlos geworden. Die Ärzte untersuchten seine Verletzungen, und da sie sahen, daß dieselben tödlich waren, wandten sie natürlich ihre Aufmerksamkeit anderen Patienten zu, die gerettet werden konnten.

Vierzig der Verwundeten wurde in einer großen öffentlichen Halle untergebracht, und unter diesen war auch Henry. Die Damen von Memphis kamen jeden Tag mit Blumen, Obst, Süßigkeiten und Leckerbissen aller Art und pflegten die Verwundeten. Alle Ärzte und Studierenden der Medizin leisteten Tag und Nacht Dienste; und die übrige Stadt lieferte Geld oder was sonst erforderlich war. Memphis hatte gelernt, wie alles aufs beste auszuführen sei und war vor allen Städten am Strom in dem gnadenreichen Amt des barmherzigen Samariters wohl erfahren, da schon manches Unglück, wie das der ›Pennsylvania‹, vor seinen Thoren sich ereignet hatte.

Der Anblick, der sich mir beim Eintritt in jenen weiten Saal bot, war mir neu und fremdartig. Zwei lange Reihen ausgestreckter Gestalten – mehr als vierzig im ganzen – und jedes Gesicht, jeder Kopf eine formlose Masse loser, roher Baumwolle. Es war ein grauenvoller Anblick. Ich wachte sechs Tage und Nächte dort und machte dabei recht traurige Erfahrungen. Ein tägliches Ereignis war besonders niederdrückend – das war die Entfernung der Sterbenden in ein eigenes Gemach. Man that dies, um die moralische Kraft der andern Patienten nicht zu sehr auf die Probe zu stellen. Der dem Tode Geweihte wurde mit möglichst geringem Aufsehen fortgeschafft, und die Bahre war stets hinter einer lebenden Mauer von Assistenten verborgen; aber das half nichts – jedermann wußte, was jene Schar gebeugter Gestalten mit dem leisen Schritt und der langsamen Bewegung bedeutete.

Ich sah viele arme Burschen nach dem ›Totenzimmer‹ bringen, die ich nie wieder zu sehen bekam; unsern Obersteuermann aber sah ich öfter als einmal hinbringen. Seine Verletzungen waren entsetzlich, besonders die Verbrühungen; er war bis an die Lenden mit Leinöl und roher Baumwolle verbunden und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit etwas Menschlichem. Er war oft nicht bei Besinnung, und dann wütete, schrie und kreischte er vor Schmerz. Nach einer Periode dumpfer Erschöpfung verwandelte plötzlich seine gestörte Phantasie das große Gemach in die Back eines Dampfers, die Schar der ab- und zueilenden Wärterinnen in die Schiffsmannschaft; er setzte sich aufrecht auf sein Lager und rief: »Tummelt euch, tummelt euch, ihr Petrefakten, ihr Schneckenbäuche, ihr Bahrtuchträger! soll’s denn den ganzen Tag währen, bis der Hut voll Fracht ausgeladen ist?« und ergänzte diesen Ausbruch mit einem himmelerschütternden Gewitter von Flüchen, denen nichts Einhalt thun konnte, bis sein Krater leer war. Hin und wieder, wenn diese Raserei ihn ergriff und festhielt, riß er die Baumwolle handvollweise ab, so daß das verbrühte Fleisch sichtbar war. Das war entsetzlich! Dieser Lärm und dieser Anblick waren natürlich für die andern schrecklich und deshalb versuchten die Ärzte ihm Morphium zu seiner Beruhigung zu geben. Aber er nahm es nicht, mochte er bei Verstand sein oder nicht: er erklärte, sein Weib wäre mit diesem verräterischen Arzneimittel getötet worden, und er wolle lieber sterben als es einnehmen. Er argwöhnte, daß die Ärzte es heimlich mit seiner Medizin und seinem Trinkwasser vermengten und rührte deshalb beides nicht mehr an. Als er einmal zwei glühendheiße Tage ohne Wasser gewesen war, ergriff er den Trinkbecher; der Anblick der klaren Flüssigkeit und die Durstesqual versuchten ihn fast über seine Kraft; aber er beherrschte sich und warf das Gefäß von sich, und später ließ er keines mehr in seine Nähe kommen. Dreimal sah ich ihn, bewußtlos und anscheinend sterbend, ins ›Totenzimmer‹ tragen; aber jedesmal lebte er wieder auf, verwünschte seine Wärter und verlangte zurückgebracht zu werden. Er kam mit dem Leben davon und war später wieder Steuermann auf einem Dampfboot.

Er war jedoch der einzige, der in das ›Totenzimmer‹ kam und lebendig zurückkehrte. Dr. Peyton, ein ausgezeichneter Arzt und reich an allen den Eigenschaften, die einen reinen, makellosen Charakter bilden, that alles, was geschultes Urteil und langjährige Erfahrung für Henry thun konnten; aber wie die Zeitungen von Anfang an gesagt hatten, seine Verletzungen waren unheilbar. Am Abend des sechsten Tages beschäftigte sich sein entschwebender Geist mit fernliegenden Dingen, und seine kraftlosen Finger zupften krampfhaft an seiner Bettdecke. Seine Stunde hatte geschlagen; wir trugen ihn ins ›Totenzimmer‹.

Armer Junge!

Nach Verlauf der gehörigen Zeit erhielt ich meine Licenz: jetzt war ich Lotse und vollständig flügge. Ich bekam ab und zu Beschäftigung; und da ich kein Unglück hatte, machte die gelegentliche Beschäftigung einer länger dauernden Anstellung Platz. Die Zeit verging ruhig und glücklich, und ich glaubte – und hoffte daß ich den Rest meiner Tage auf dem Strome verleben und am Rade sterben würde, wenn meine Laufbahn beendigt wäre. Aber da kam der Krieg, Handel und Verkehr stockten, und meine Beschäftigung war dahin.

Meinen Anteil im Krieg findet der Leser am Schluß dieser Skizzen. Vorher aber will ich demselben schildern, was aus dem Leben auf dem Mississippi seitdem geworden ist.

Nach langen Jahren.

Nach langen Jahren.

Einundzwanzig Jahre waren gekommen und gegangen, seit ich zuletzt aus den Fenstern eines Ruderhauses geblickt hatte. Da ergriff mich plötzlich eine unwiderstehliche Lust, den Fluß wiederzusehen, die Dampfboote und die alten Kameraden, die etwa noch am Leben sein mochten. Kurz entschlossen brach ich um die Mitte April nach dem Westen auf.

Ich kam gegen Abend nach St. Louis, wo ich im ›Südhotel‹ abstieg. Das ist ein gutes Gasthaus, auch nicht zu neumodisch, was besonders bei den Billardtafeln zu Tage tritt, die noch aus der silurischen Erdperiode stammen, während die Kugeln und Queues der Tertiärformation angehören. Aber solche Altertümer sieht man immer gern; sie machen das Leben behaglich.

Auch das Trinkwasser hatte sich nicht verändert und sah noch ebenso gelbbraun aus wie früher; daran ist der Missouri schuld, der die Ufer unterwühlt und die Erde mit fortschwemmt. Läßt man sein Glas eine halbe Stunde stehen, so scheidet sich das Wasser vom festen Lande, wie bei der Erschaffung der Welt; aber die Einheimischen warten nicht darauf, sondern rühren beides untereinander und trinken den Schlamm wie Haferschleim. Das fällt jedoch den Fremden schwer.

Am nächsten Morgen fuhr ich bei Regenwetter ans, um mir die Stadt anzusehen, fand aber nicht viel Neues. Das kam wohl daher, weil in St. Louis, wie in Pittsburg und London, fortwährend eine schwarze Wolke von Kohlenrauch über den Häusern schwebt und alles neue gleich alt macht. In Wirklichkeit hatte sich die Stadt sehr verändert, sie war fast doppelt so groß als zu meiner Zeit und zählte 400 000 Einwohner. Die schönen vornehmen Wohnhäuser inmitten grüner Rasenplätze, viele prachtvolle öffentliche Gebäude, der Waldpark, der botanische Garten, die glänzende Straßenbeleuchtung, das alles war seitdem entstanden.

Den größten Umschwung fand ich aber auf dem Hafendamm, jedoch im rückschrittlichen Sinne. Wo ich gewohnt war, meilenlange Reihen von Dampfschiffen in voller Thätigkeit zu sehen, lagen jetzt nur noch fünf oder sechs im Halbschlaf. Der lustige Flußschiffer, der vormals hier eine so große Rolle spielte, war wie aus der Welt verschwunden. Sein Geschäft ist ihm genommen, seine Macht ist aus; er ist in der großen Masse untergegangen und arbeitet mit in der allgemeinen Tretmühle. Ein paar träge Dampfer, eine endlose, leere Werft, ein Neger, der lang ausgestreckt seinen Rausch verschlief, und weit und breit lautloses Schweigen, sonst war nichts von den mächtigen Kauffahrteiflotten übrig geblieben, die hier in friedlichem Wettbetrieb miteinander rangen.

Das schlechte Pflaster und der schuhtiefe Schmutz auf dem Dammweg waren mir wohlbekannt, aber mir fehlten die zahllosen Rollwagen und Karren, die sich stoßenden und drängenden Menschen, die Berge aufgetürmter Frachtgüter – wo waren die hingeraten?

Eisenbahn und Schlepper hatten die Sache sehr gründlich in Angriff genommen. Diese trostlose Verödung war ihr Werk. Auch die Riesenbrücke, deren Bogen sich über unsern Häuptern wölbten, trug einen Teil der Schuld an der Zerstörung. St. Louis ist eine blühende Stadt, die stetig fortschreitet, deren Wohlstand wächst, aber ihre Flußschiffahrt liegt im Todesschlaf, und für sie giebt es kein Auferstehen.

Die Dampferfahrt auf dem Mississippi nahm 1812 ihren Anfang und entwickelte sich in einem Zeitraum von dreißig Jahren zu ganz außerordentlicher Ausdehnung und einem großartigen Verkehr. Nach abermals dreißig Jahren war sie tot. Wahrlich, ein ungewöhnlich kurzes Leben für eine Schöpfung von solcher Erhabenheit.

Die veralteten Kielboote fielen den Dampfern zum Opfer, welche die Reisenden in höchstens acht Tagen nach New Orleans beförderten. Als jedoch die Eisenbahn in zwei bis drei Tagen das leisteten, wozu die Dampfboote eine Woche brauchten, war es um letztere geschehen. Dem ehemaligen Güterverkehr aber machte eine Unzahl von Schleppdampfern ein Ende, die sechs oder sieben Schiffsladungen auf einmal für so geringe Kosten den Strom hinabbeförderten, daß von einem Wettbewerb der Dampfboote gar keine Rede mehr sein konnte.

Mein ursprünglicher Plan war gewesen, mich in jeder Stadt zwischen St. Louis und New-Orleans kurze Zeit aufzuhalten. Doch das mußte ich mir aus dem Sinne schlagen, denn die Lokalboote von früher giebt es nicht mehr; nur in längeren Pausen verkehren noch Paketboote zwischen bestimmten Städten. Es traf sich glücklich, daß der ›Goldstaub‹ noch am selben Abend abfahren sollte. Das Boot war sauber und bequem, ich belegte einen Platz bis Memphis und wir dampften pünktlich um acht Uhr in den Fluß hinaus.

Als wir in der dichten Finsternis nach dem anderen Ufer hinüber hielten, blitzte plötzlich ein blendender Strahl elektrischen Lichtes von unserm Vordeck auf und beleuchtete das Wasser und die Speicher am Lande mit Tageshelle. Die Zeiten der flackernden, rauchenden, tröpfelnden Pechfackeln, die doch kein Licht verbreiteten, sind für immer vorbei.

Die Fahrt von St. Louis bis Cairo, eine Strecke von zweihundert Meilen, verlief aufs angenehmste. Die Hügel an beiden Ufern des breiten Flusses prangten im Frühlingsschmuck, es wehte eine leichte Brise und das Wetter war sonnig und klar. Den ganzen folgenden Tag dampften wir weiter den Mississippi hinunter und begegneten nur einem einzigen Dampfboot, das obendrein, wie ich durch das Fernrohr erspähte, meinen Namen trug. Eine so hohe Ehre war mir bisher noch nicht widerfahren.

Früher hätten bei solchem Wasserstande meilenlange Holzflöße und Kohlenleichter zu Dutzenden den Strom bedeckt, nebst zahlreichen kleinen Handelsbooten, die von Farm zu Farm segelten, mit der ganzen Familie des Eigentümers an Bord; von alledem ist aber keine Spur mehr vorhanden.

Bei sinkender Nacht näherten wir uns der ebenso berüchtigten, wie gefürchteten Plumspitze. Aber, sie war kein Gegenstand des Schreckens mehr. Die heutige Regierung hat, so zu sagen, aus dem Mississippi einen zweitausend Meilen langen Fackelzug gemacht. Am Anfang und Ende jeder Windung brennt ein helles Leuchtfeuer; man fährt eigentlich nie im Dunkeln, überall sind Lampen angezündet, voraus, achteraus und querab. Es ist eine förmliche Verschwendung damit getrieben, denn die Leuchtfeuer finden sich auch an Stellen, wo nun und nimmermehr eine Untiefe gewesen ist noch sein wird, und wo jedes Dampfschiff, das den Weg nur einmal gemacht hat, sich mit Leichtigkeit zurechtfinden kann.

Das ist alles recht schön und gut, auch sehr bequem für die Schiffahrt; aber das Lotsenhandwerk hat dadurch seine ganze Romantik verloren. Wenn früher das Boot bei stockdunkler Nacht aus dem Ruder lief, um in die Wälder hinein zu dampfen, so gab das aufregende Momente für den Steuerer. Nicht weniger beängstigend war es, sich in dichter Finsternis durch ein enges Fahrwasser hindurch zu winden; aber jetzt kommt das nicht mehr vor – das elektrische Licht blitzt auf, verwandelt im Nu die Nacht zum hellen Tage, und alle Gefahr und Aufregung hat ein Ende.

In unserer Zeit fortwährender Neuerungen hat die Anker-Linie den Kapitän über den Lotsen gestellt, indem sie jenem ein höheres Gehalt giebt. Das war schon an sich ein starkes Stück, aber damit nicht genug, ist auch noch die Verordnung erlassen worden, daß der Lotse auf dem Posten bleibt und seine Wache weiter geht, mag nun der Dampfer am Ufer anlegen oder in Fahrt sein. Einst waren wir die Vornehmsten auf dem Flusse, jetzt darf unsereins nicht mehr zu Bette gehen, während die Ladung zu Hunderten von Tonnen an Bord geschafft wird; nein, wir müssen im Steuerhäuschen sitzen und obendrein die Augen offen halten. Wahrhaftig, so behandelt man kaum den gewöhnlichsten Steuermann oder Maschinisten! – Die Regierung hat unserm Beruf alle Romantik genommen, die Anker-Linie aber nimmt uns Rang und Würde. Bei Nacht sah die Plumspitze noch gerade so aus wie ehedem, nur daß jetzt Leuchtfeuer in der Kreuzung brannten, und eine Menge anderer Lichter auf der Spitze und am Ufer entlang. Die letzteren blinken herüber von der Flotte der Vereinigten-Staaten-Strombau-Kommission, und aus den Wohnhäusern und Bureaus, die dort am Lande für ihre Beamten gebaut worden sind. Die Militäringenieure der Kommission haben die Arbeit übernommen, den Mississippi umzumodeln und zur Ordnung zu bringen, eine Aufgabe, die fast so groß und erhaben ist wie das Werk, ihn ursprünglich zu erschaffen. Man legt Fangdämme an, um die Strömung abzulenken, errichtet Deiche, welche sie in engere Grenzen einzwängen, und noch andere Deiche, um den Fluß im neuen Bette festzuhalten. Unzählige Meilen am Mississippi entlang werden die Wälder umgehauen; man will die Ufer in einer Breite von fünfzig Metern völlig kahl scheren, um sie dann, wie ein schräges Hausdach, bis zum Tiefwassermark herunter abzutragen und mit Steinen zu belasten. Andere, der Überschwemmung ausgesetzte Strecken schützt man wiederum durch eingerammte Pfähle.

Wer aber den Mississippi kennt, wird sich gleich sagen – nicht laut, aber leise – daß zehntausend Strombaukommissionen, und wenn ihnen sämtliche Goldminen der Erde zur Verfügung ständen, den eigenwilligen Strom nicht zähmen werden. Er läßt sich nicht Gewalt anthun und einengen; man kann ihm nicht befehlen: fließe hier, fließe dort, und ihn zum Gehorsam zwingen. Ein Uferland, das er fortschwemmen will, vermag niemand zu retten, jedes Hindernis, das seinen Lauf hemmen soll, reißt er nieder oder springt darüber hinweg und spottet des ohnmächtigen Versuchs.

Doch darf man dergleichen nicht unbedingt behaupten; ein verständiger Mann behält seine Meinung für sich, gegenüber der höheren Weisheit der Herren Ingenieure von der Militärakademie, die an Gelehrsamkeit nirgends ihresgleichen haben. Wenn sie glauben, daß sie den Strom bemeistern können, so thut der Laie am besten zu schweigen und abzuwarten.

Ich sprach darüber mit ›Onkel‹ Mumford, (so wurde der zweite Offizier an Bord allgemein genannt) und will hier seine Ansicht genau wiedergeben.

»Seit dreißig Jahren,« sagte Onkel Mumford, »bin ich Schiffsmaat und habe den Strom beobachtet und studiert. Meint Ihr, ich hätte mehr davon auf der Militärakademie gelernt? Aus all den Büchern und Lehrstunden in West-Point kann man in vier Jahren mancherlei lernen, das geb‘ ich zu – aber den Strom – bah, wer’s glaubt! –

»Ja, wenn’s so ein kleiner europäischer Fluß wäre, mit seinem festen Grund und klaren Wasser, das gäb‘ einen Sonntagsspaß für die Kommission, den einzudämmen, zu pfählen, zu deichen, ihn zu zähmen, zu meistern, hierhin und dorthin zu leiten, und ihn so gefügig zu machen, daß er blindlings alles thäte, was man von ihm verlangt. Aber mit unserm Mississippi ist das ein ander Ding. Die Leute haben ihre Arbeit in der besten Meinung und mit großer Zuversicht angefangen, aber, sie bringen’s nicht fertig, verlaßt euch drauf. Seht nur einmal näher zu, wie sie’s machen.

»An der Teufelsinsel im obern Fluß, zum Beispiel, da soll das Wasser links herum fließen, statt rechts. Sie errichteten eine Steinmauer und wollten es zwingen. Aber, was kehrt sich mein Fluß an eine Mauer! Als sie fertig war, brach er mitten hindurch. Sie können’s ja noch einmal versuchen, vielleicht gelingt’s dann besser. – Am untern Fluß schlagen sie Spundwände, um die Ufer zu schützen und das Wasser abzulenken. Was hilft’s? – Es fackelt nicht lange und reißt das Land an einer andern Stelle mit fort. Will man etwa die Ufer des ganzen Flußlaufes mit Pfählen bestecken? – Meiner Treu, da thäte man besser, man kaufte sich Grund und Boden und machte einen ganz neuen Mississippi – das käme viel billiger zu stehen.«

Als noch viertausend Boote den Strom hinunter schwammen, nebst zehntausend riesigen Kohlenleichtern und ungezählten Flößen und Handelskähnen, da gab es nicht eine lumpige Laterne, von St. Paul bis New-Orleans. Heutzutage fahren zwar nur noch ein paar Dutzend Boote auf dem Mississippi. und die Flöße und Kohlenleichter sind ganz verschwunden, aber die Regierung thut viel für den Strom und giebt Unsummen aus, um ihn zu beleuchten, auszubaggern und einzudämmen. Wenn’s erst einmal überhaupt keine Dampfer mehr auf dem Mississippi giebt, dann hat es die Kommission sicherlich so weit gebracht, daß die Stromfahrt vollkommen gefahrlos ist und man sich dabei so ruhig und geborgen fühlt, wie in Abrahams Schoß.

Anhang.

Anhang.

Ein mißlungener Feldzug.

Sommer 1861 wälzte sich die erste Kriegswoge an das Ufer von Missouri. Unionstruppen waren in den Staat eingefallen und hatten St. Louis nebst andern festen Plätzen in ihre Gewalt bekommen. Zu ihrer Abwehr rief der Gouverneur Claib Jackson sofort durch eine Proklamation 50 000 Mann Milizen unter die Waffen.

Ich hielt mich damals vorübergehend in dem zum Bezirk Marion gehörigen Städtchen Hannibal auf, wo ich meine Knabenzeit verlebt hatte. Als der Aufruf erschien, veranstaltete ich mit mehreren Kameraden eine nächtliche Zusammenkunft an einem geheimen Ort. Wir bildeten eine Kompagnie, zu deren Hauptmann ein gewisser Tym Lyman gewählt wurde, der zwar keine militärische Erfahrung, aber viel Mut besaß; mich machte man zum Unterlieutenant. Einen Oberlieutenant hatten wir nicht, wie das kam, habe ich vergessen – es ist zu lange her. Wir waren unser fünfzehn und ein wackerer Bursche aus unser Mitte schlug vor, wir sollten uns die ›Schützen von Marion‹ nennen. Der Name gefiel uns und keiner wußte etwas dagegen einzuwenden. Nach dem jungen Menschen, der den Rat gegeben, konnte man sich ungefähr einen Begriff machen, wie unser ganzes Korps beschaffen war. Jung, unwissend, gutmütig, oberflächlich, voll bester Absichten und romantischer Gefühle, schwärmte er meist für Ritterromane und melancholische Liebeslieder. Er besaß entschieden vornehme Neigungen und verabscheute unter anderm seinen eigenen Namen Dunlap, der in jener Gegend fast so verbreitet war wie Smith und für sein Ohr einen zu gemeinen Klang hatte. Um ihm einen feineren Anstrich zu geben, schrieb er sich d'Unlap. Das war nun dem Auge zwar wohlgefällig, aber im übrigen wenig befriedigend, denn die Leute sprachen den neuen Namen ganz ebenso aus wie den alten, mit dem Nachdruck auf der ersten Silbe. Zuletzt verstieg er sich zu einer That, die man als wahrhaft heldenkühn bezeichnen muß, wenn man bedenkt, wie sehr die Welt alle Ziererei und Unnatur haßt und verdammt: er nannte sich nämlich d'Un Lap.

Das war eine großartige Erfindung. Mit unermüdlicher Geduld ertrug er allen Spott und Hohn, die sie ihm einbrachte, überzeugt, daß wenn er nur den Mut hätte zu warten, der Sieg ihm nicht fehlen könne. Er erlebte es auch wirklich, daß der Name durchdrang und daß Leute, die ihn von klein auf kannten und mit dem Geschlecht der Dunlaps so vertraut waren wie mit Regen und Sonnenschein, den Nachdruck auf die letzte Silbe legten, wie er es eben haben wollte. Er behauptete nämlich, er habe in einer alten französischen Chronik entdeckt, daß die richtige Schreibart des Namens ursprünglich d'Un Lap gewesen sei, was in der Übersetzung soviel wie Peterson bedeute. Lap, aus dem Lateinischen oder Griechischen stammend, heiße Stein oder Fels, wie das französische pierre, also Peter; d' von, un einer oder einem, also d'Un Lap: von einem Stein oder einem Peter, das heißt der Sohn eines Steins – eines Peter – Peterson. – In der Kompagnie hatten wir keine Gelehrten und die Erklärung ging über unser Verständnis, so nannten wir ihn denn Peterson Dunlap.

Ein anderer der Kameraden, Ed. Stevens, war der Sohn eines Goldschmieds von Hannibal, hübsch und zierlich von Gestalt und sauber wie ein Kätzchen; ein begabter Mensch, auch wohlunterrichtet, doch nahm er nichts ernsthaft im Leben und war stets zu allerlei Unfug aufgelegt. Auch den Feldzug betrachtete er nur wie eine Art Feiertagsspaß. Das ging übrigens den meisten von uns nicht viel anders – mit oder ohne Bewußtsein. Aus Überlegung zu handeln war überhaupt nicht unsere Sache, wir waren’s nicht imstande. Was mich betraf, so machte es mir ein kindisches Vergnügen, daß ich nicht mehr wie auf dem Dampfer um Mitternacht und um vier Uhr morgens aus dem Bette mußte; ich freute mich über die Abwechslung, über den neuen Schauplatz meiner Thätigkeit und jedes neue Lebensinteresse. Was die Zukunft im einzelnen bringen könnte, bedachte ich nicht – man thut das selten mit vierundzwanzig Jahren.

Ein Bursche ganz anderer Art war Smith, der Lehrling des Hufschmieds. Diesem großen Esel fehlte es, trotz seiner langsamen, schwerfälligen Natur, nicht an Kraft und Mut, auch hatte er ein weiches Herz. Gelegentlich schlug er wohl ein Pferd zu Boden, wenn es nicht parieren wollte, ein andermal aber bekam er Heimweh und fing an zu weinen. Zuletzt ward ihm noch eine Auszeichnung zu teil, deren sich nur wenige von uns rühmen konnten: er blieb dem Kriegshandwerk treu und fiel auf dem Schlachtfeld.

Jo Bowers, auch einer aus der Kompagnie, war ein vierschrötiger, flachshaariger Schlingel, gefühlvoll, träge, meist mit allem unzufrieden und ein harmloser Prahlhans. Das Lügen betrieb er mit großartiger Frechheit; wie fleißig er sich aber darin übte, es glückte ihm trotzdem selten, denn seine Erziehung war vernachlässigt worden, man hatte ihn eigentlich wild aufwachsen lassen. Er nahm das Leben ziemlich ernst und es behagte ihm oft ganz und gar nicht; im übrigen war er ein guter Kamerad und recht beliebt. Er wurde zum Sergeanten und Ordonnanzoffizier gemacht; Stevens ernannten wir zum Korporal.

Nach den eben beschriebenen Exemplaren kann man sich von den übrigen leicht eine Vorstellung machen. Was ließ sich wohl von einer derartigen zusammengelaufenen Herde im Kriege erwarten? – Jeder that sein Bestes, aber was konnte dabei herauskommen? Gar nichts, sollte ich meinen – und das traf auch zu.

In einer dunklen Nacht begaben wir uns von verschiedenen Punkten aus, so vorsichtig und heimlich wir konnten, paarweise nach dem Griffith-Platz außerhalb der Stadt und traten von dort unsern gemeinsamen Marsch an. Hannibal liegt in dem südöstlichen Winkel des Bezirks Marion und unser Bestimmungsort war New-London, zehn Meilen weiter im Bezirk Ralls.

Beim Abmarsch waren wir alle voll Lachen und Scherz und trieben nichts als Tollheiten. Doch, das dauerte nicht lange. Das fortgesetzte Marschieren war uns bald eine Arbeit und mit dem Spiel war es vorbei. Auch die Stille des Waldes und das nächtliche Dunkel übte eine niederschlagende Wirkung auf unsere Lebensgeister. Die allgemeine Unterhaltung geriet ins Stocken, jeder versank in seine eigenen Gedanken und wohl eine halbe Stunde lang sprach kein Mensch ein Wort.

Wir näherten uns jetzt einem Blockhaus, in welchem, wie man munkelte, eine Wache von fünf Unionssoldaten postiert war. Hier im Dunkel der Waldbäume, deren herabhängende Zweige uns verbargen, gebot unser Führer Lyman Halt. Dann teilte er uns im Flüsterton mit, sein Plan sei, das Haus zu erstürmen – was uns die Finsternis ringsum noch schwärzer erscheinen ließ. In diesem entscheidenden Augenblick ward uns klar, daß es sich um bittern Ernst handle – wir standen dem Kriege sozusagen Auge in Auge gegenüber. Doch verloren wir unsere Fassung nicht, wir waren auf alles gerüstet. Entschlossenen Muts erwiderten wir ohne Zaudern, wenn sich Lyman selbst mit den Unions-Soldaten einlassen wolle, so möge er nur tapfer darauf losgehen, doch könne er lange warten, bis wir ihm folgen würden.

Lyman bat und beschwor, er versuchte uns zu beschämen, aber alles vergebens. Nichts konnte uns von dem einmal gefaßten Plan abbringen: wir wollten das Blockhaus zur Seite liegen lassen und nur von außen umgehen. Und das thaten wir.

Unter großer Mühsal schlugen wir uns quer durch den Wald; bald stolperten wir über Wurzeln, bald verwickelten wir uns in Schlinggewächsen oder blieben am Dorngestrüpp hängen. Endlich erreichten wir einen offenen Platz in sicherer Gegend, wo wir uns erhitzt und atemlos niedersetzten, um uns abzukühlen und unsere Schrammen und sonstigen Verletzungen zu besichtigen. Lyman war ärgerlich, wir andern aber guten Mutes; weshalb sollten wir auch die Köpfe hängen lassen – unsere erste militärische Unternehmung war ja geglückt: wir hatten das Blockhaus umgangen und konnten wohl zufrieden sein. Scherz und Lachen begann von neuem, der Kriegszug wurde wieder zum Festtagsspaß.

Nach kurzer Rast marschierten wir abermals weiter, zwei Stunden lang, zuletzt in dumpfem Schweigen. Als der Morgen dämmerte, zogen wir erschöpft, beschmutzt und mit wunden Füßen in New-London ein; wir waren alle schlecht gelaunt und schimpften heimlich auf den Krieg; nur Stevens hatte seine gute Stimmung behalten. Nachdem wir unsere alten, schäbigen Flinten in der Scheune des Obersten Rall, eines Veteranen aus dem mexikanischen Krieg, zusammengestellt hatten, frühstückten wir alle gemeinsam in seinem Hause. Später führte er uns auf eine einsame Waldwiese und hielt uns dort, im Schatten eines Baumes, eine hochtrabende Rede voll Ruhm und Pulverdampf, in der es von Beiwörtern, bildlichen Anspielungen und schwungvollen Phrasen wimmelte – das gehörte mit zur Beredsamkeit in jener alten Zeit und entlegenen Gegend. Er ließ uns dann auf die Bibel schwören, daß wir dem Staate Missouri treu bleiben und alle Eindringlinge verjagen wollten, von welcher Seite sie auch kämen und unter welcher Fahne sie marschierten. Dies verwirrte uns einigermaßen, denn wir begriffen nicht recht, zu wessen Dienst wir uns eigentlich verpflichtet hatten; Oberst Rall aber, der erfahrene Politiker und Wortverdreher, war darüber gar nicht in Zweifel. Er wußte genau, daß er uns für die Sache des Südbunds angeworben hatte. Zuletzt gürtete er mir noch ein Schwert um, welches Oberst Brown, sein Nachbar, in Mexiko getragen hatte, und endete die Feierlichkeit durch einen großartigen Wortschwall.

Hierauf marschierten wir in Reih und Glied nach einem grünen, schattigen Waldrevier, am Rande einer weiten, blumengeschmückten Wiese. Es war ein herrlicher Schauplatz für den Krieg – wie wir ihn betrieben. Ins Innere des Waldes eindringend, bezogen wir eine feste Stellung, die im Rücken durch niedere, bewaldete Felsberge geschützt war und vor uns durch einen klaren sprudelnden Bach. Sofort schwamm die Hälfte unseres Kommandos im Wasser, während sich die übrigen auf den Fischfang begaben. An dem Platz, wo wir unser Lager aufschlugen, war ehemals Ahornzucker gesiedet worden; die verfaulten Tröge lehnten noch an den Bäumen. Nicht weit davon lag ein alter Kornspeicher, in welchem das Bataillon sein Nachtquartier nahm. Gegen Mittag kamen die Farmer von allen Seiten mit Pferden und Mauleseln herbei, die sie uns für die Dauer des Krieges leihen wollten, auf etwa drei Monate, wie sie meinten. Es waren Tiere von der verschiedensten Größe, Farbe und Zucht, meistens jung und unbändig, so daß kein einziger aus unserm Kommando sich lange im Sattel halten konnte; wir Städter waren im Reiten noch ungeübt. Ich erhielt ein kleines Maultier zugeteilt, welches, rasch und lebhaft in seinen Bewegungen, mich ohne alle Schwierigkeit jedesmal wieder abwarf, wenn ich aufgestiegen war. Dann reckte es den Hals, spitzte die Ohren, riß die Kinnladen auf, daß man ihm tief in den Schlund sehen konnte, und ließ sein Triumphgeschrei hören. Es war ein widerwärtiges Tier in jeder Beziehung; faßte ich es beim Zügel, um es aus der Wiese zu führen, so stemmte es sich mit aller Kraft dagegen und war nicht vom Fleck zu bringen. Das gewöhnte ich ihm aber gründlich ab, denn auf einige militärische Kniffe verstand ich mich doch. Ich hatte in meinem Leben schon manchen festgefahrenen Dampfer wieder flott werden sehen, da wurde es mir nicht schwer, so ein störriges Maultier flott zu machen. Bei dem Kornspeicher war ein Brunnen; ich nahm also statt des Halfters einen dreißig Faden langen Strick, verfuhr damit wie bei der Ankerwinde und schaffte das Tier ohne Aufenthalt nach Hause.

An Korn für die Pferde war kein Mangel; wir füllten es in die alten Zuckertröge, die uns dazu sehr gelegen kamen. Als ich aber Bowers befahl, mein Maultier zu füttern, erwiderte er, ich dächte wohl, er ziehe in den Krieg um den Pferdeknecht zu spielen – das sollte ich mir nur vergehen lassen. Ich hielt dies eigentlich für Insubordination, doch waren mir die militärischen Begriffe noch so wenig geläufig, daß ich lieber stillschweigend darüber hinwegging, da ich meiner Sache nicht gewiß war. Nun richtete ich den gleichen Befehl an Smith, den Hufschmiedslehrling, der aber sah mich nur kalt lächelnd an und wandte mir höhnisch den Rücken. Schließlich begab ich mich zum Hauptmann, um ihn zu fragen, ob mir nicht von Rechts wegen eine Ordonnanz zugewiesen werden müsse. Lyman bejahte dies, meinte aber, da sich im ganzen Korps nur eine Ordonnanz befinde, könne er Bowers in seinem Stabe nicht entbehren. Bowers war jedoch anderer Meinung, er sagte, es fiele ihm gar nicht ein, in irgend einem Stabe zu dienen; es solle doch einmal jemand kommen und versuchen, ihn dazu zu zwingen. – Unter diesen Umständen blieb nichts übrig als die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Auch das Kochen wollte keiner übernehmen, man hielt es für entwürdigend und wir mußten uns ohne Mittagessen begnügen. Den Rest des schönen Tages vertrödelte jeder ans seine Weise, einige schliefen unter den Bäumen, andere rauchten ihre Thonpfeifen, wobei sie von ihren Liebchen und dem Kriege plauderten, noch andere trieben allerlei Spiele. Als es Zeit zum Abendessen war, hatten wir solchen Hunger, daß alle Hand anlegten und, ohne Unterschied des Ranges, Holz sammelten, Feuer anmachten und das Essen bereiteten. Eine Weile ging nun alles gut, dann brach aber zwischen dem Sergeanten und dem Korporal ein Streit aus, wer von ihnen die höhere Charge habe. Das wußte jedoch niemand und Lyman mußte sich zuletzt ins Mittel legen und erklären, daß beide auf der gleichen Rangstufe ständen. Ein Befehlshaber so unwissender Truppen hatte Nöte und Ärgernisse zu bestehen, die in einer regulären Armee wahrscheinlich niemals vorkommen können. Als wir später am Lagerfeuer saßen, uns Geschichten erzählten und Lieder sangen, waren bald alle wieder heiter und guter Dinge. Dann harkten wir das Korn an einem Ende des Speichers zurecht und legten uns schlafen. Draußen vor der Thür stand ein Pferd angebunden, damit es wiehern sollte, wenn jemand den Versuch machte einzudringen. – Ich glaubte das wenigstens damals und erfuhr erst lange nachher, daß das Tier nur aus Versehen die Nacht über dort geblieben war.

Am Vormittag machten wir unsere regelmäßigen Reitübungen, und wenn wir auch niemals Meister wurden in dieser Kunst, so erlangten wir doch einige Fertigkeit. Den Nachmittag pflegten wir zu Ausflügen in die Umgegend zu benutzen; wir ritten in einzelnen Trupps mehrere Meilen weit, besuchten die Töchter der Farmer, ließen uns das Mittagessen oder Abendbrot, das man uns auftrug, trefflich schmecken, unterhielten uns aufs beste und kehrten dann wohlgemut in unser Lager zurück.

Eine Zeitlang schwelgten wir in diesem köstlichen Müßiggang, alles ging nach Wunsch und nichts störte unser Vergnügen. Da brachten die Farmer beunruhigende Nachrichten; es hieß, der Feind hätte die Richtung nach unserer Gegend genommen und käme durch Hydes Wiesengrund herangezogen. – Das war ein rauhes Erwachen aus süßen Träumen und wir wußten in unserer Bestürzung nicht gleich, wohin wir den Rückzug antreten sollten. Bei der Unbestimmtheit des Gerüchts wollte Lyman anfänglich überhaupt nichts von einem Rückzug hören, doch sah er bald ein, daß er nicht wagen dürfe, auf seinem Kopf zu bestehen. Das Kommando war nicht in der Stimmung, sich eine Insubordination gefallen zu lassen. Er gab daher nach und rief einen Kriegsrat zusammen, bei dem, außer ihm selber, nur noch drei Offiziere zugegen sein sollten. Die Gemeinen waren jedoch so aufgebracht über diesen Beschluß, daß wir ihnen gestatten mußten, dazubleiben und sich an der Beratung zu beteiligen, was sie mit großem Eifer thaten. Es handelte sich um die Frage, auf welchem Wege wir uns zurückziehen wollten; bei der Aufregung, die in der Versammlung herrschte, war jedoch niemand imstande einen Vorschlag zu machen. Nur Lyman erklärte kaltblütig, wenn wir nicht nach Hydes Wiesengrund marschierten und so dem Feinde entgegengingen, sei es ganz gleichgültig, welchen Weg wir zum Rückzug wählten. Wie klug und richtig das war, leuchtete uns auf der Stelle ein und wir priesen unseres Hauptmanns Scharfsinn. Gemeinsam ward nun beschlossen, Zuflucht bei einem Freunde unserer Sache, dem Farmer Mason zu suchen, dessen Gut eine halbe Meile zu unserer Linken lag. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, und da wir nicht wußten, wie bald der Feind eintreffen könne, hielten wir es für das beste, den Marsch sofort anzutreten und unsere Pferde und sonstigen Habseligkeiten zurückzulassen.

Nur Flinten und Schießbedarf mit uns führend, brachen wir auf; der Weg war höchst mühselig, steil und steinicht, dazu stockfinstere Nacht und strömender Regen. Der vorderste von unsern Leuten stolperte und fiel, sein Hintermann über ihn her und der nächste wieder über diesen, bis zuletzt Bowers, der das Pulverfaß trug, an den schlüpfrigen Abhang kam, auf dem das ganze Kommando am Boden lag, Arme und Beine in einem Knäuel durcheinander. Natürlich fiel auch er mit dem Fäßchen und brachte das ganze Korps ins Rutschen, bis es unten in einem Bach landete. Nun geriet der Haufen in Bewegung; wer zu unterst war, raufte, biß und kratzte den, der über ihm lag, es entstand eine allgemeine Prügelei und jeder verschwor sich hoch und teuer, käme er nur diesmal glücklich aus dem Bach, so zöge er nun und nimmermehr wieder in den Krieg. Ob das Land zu Grunde gehe, sei ihm einerlei, der Feind kümmere ihn ganz und gar nicht – und was dergleichen Redensarten mehr waren. Während wir sie anhörten und in leisem Flüsterton mit einstimmten, wurde uns ganz jämmerlich zu Mute an dem schauerlich dunkeln Ort, zumal wir durch und durch naß waren und obendrein den Feind höchst wahrscheinlich auf den Fersen hatten.

Pulver und Flinten waren verloren gegangen und das Schimpfen und Brummen nahm kein Ende; die Leute tasteten auf dem sumpfigen Erdreich nach ihren Waffen umher oder versuchten sie aus dem Bach zu fischen, was viel Zeit kostete. Plötzlich vernahmen wir ein Geräusch, hielten den Atem an und lauschten, ob es der nahende Feind sei. Es klang ganz wie das Brüllen einer Kuh, aber wir konnten nicht warten, um es näher zu untersuchen. So gaben wir denn Fersengeld und trachteten Masons Pachtgut zu erreichen, so rasch das im Dunkeln möglich war. Wir verirrten uns jedoch etlichemale in den vielen Felsschluchten und es hatte schon neun Uhr geschlagen, als wir endlich an den Heckenzaun gelangten. Eben wollten wir uns als Freunde zu erkennen geben und hatten schon den Mund zur Parole geöffnet, da kam mit schrecklichem Gebell und Geheul eine Meute Hunde über den Zaun gesetzt; jeder Hund kriegte einen Soldaten von hinten am Beinkleid zu packen und lief mit ihm davon. Wir konnten die Hunde nicht totschießen, aus Furcht, die Personen zu treffen, in die sie sich festgebissen hatten; so standen wir denn ratlos und hilflos einem Schauspiel gegenüber, das so kläglich und beschämend war, wie vielleicht kein zweites im ganzen Bürgerkrieg. Auch an Beleuchtung fehlte es dabei nicht, denn der alte Mason und seine Söhne kamen auf den Lärm mit Lichtern vor das Haus gelaufen. Es gelang ihnen leicht, die Hunde loszumachen, bis auf Bowers Bulldogge, die ganz mit ihm zusammengewachsen schien und erst losließ, als man sie mit kochendem Wasser begoß, wobei Bowers auch seinen Teil abbekam und sich gebührend bedankte.

Im Hause angekommen, wurden wir mit einer Flut von Fragen bestürmt, bis sich herausstellte, daß wir gar nicht wußten, vor wem wir eigentlich die Flucht ergriffen hatten. Das ging dem alten Mason doch über den Spaß; er meinte, wir wären Soldaten von echtem Schrot und Korn; keine Regierung sei ja imstande das Schuhleder zu bezahlen, das es kosten würde, immer hinter uns drein zu laufen und da müsse der Krieg wohl bald von selber aufhören. Dann fragte er, warum wir keine Wachen am Wiesengrund aufgestellt hätten oder Kundschafter ausgeschickt, um Näheres über die Stärke und Ausrüstung des Feindes zu erfahren, statt auf ein bloßes Gerücht hin unsere feste Stellung zu verlassen und das Hasenpanier zu ergreifen. Je mehr er sprach, um so erbärmlicher ward uns zu Mute – das war noch ein weit schlimmerer Willkommen als der Angriff der Hunde.

Beschämt schlichen wir zu Bette, um uns von allem, was wir durchgemacht hatten gründlich zu erholen und auszuruhen. Allein unser Schlummer war nur von kurzer Dauer, die Leiden jener Nacht hatten noch kein Ende. Gegen zwei Uhr ertönte plötzlich von der Straße her ein Warnungsruf, in den die ganze Hundeschar laut heulend mit einstimmte; schon im nächsten Augenblick war alles auf den Beinen, um zu sehen, welcher Feind im Anzuge sei. Ein Reiter hatte die Nachricht gebracht, daß eine Abteilung Unionstruppen von Hannibal heranmarschiere und strengen Befehl habe, alle Banden wie die unserige, auf welche sie stoßen würde, gefangen zu nehmen und ohne Barmherzigkeit aufzuknüpfen. Wollten wir der Gefahr entrinnen, so war keine Zeit zu verlieren. Farmer Mason geriet jetzt selbst in die größte Aufregung und jagte uns förmlich zum Haus hinaus. Ein Neger sollte uns an eine Bergschlucht führen, damit wir uns samt unsern verräterischen Gewehren verstecken könnten.

Draußen floß der Regen in Strömen; rasch ging es den Heckenweg hinunter, dann durch steinichtes Ackerland, wo bald der eine, bald der andere stolperte und auf dem nassen Boden lag. Wer zu Fall gekommen war, schimpfte auf den Krieg und auf alle, die Schuld hatten an seinem Anfang und Fortgang, am meisten aber verwünschte jeder seine eigene Thorheit, je daran teil genommen zu haben. Als wir den waldigen Eingang der Schlucht erreicht hatten, schickten wir den Neger wieder nach Hause. Dicht aneinander gedrängt standen wir unter den regentriefenden Bäumen und verbrachten eine entsetzliche Nacht. Die Wasser drohten uns zu ersäufen, das Heulen des Sturms, das Krachen des Donners betäubte uns, die zuckenden Blitze blendeten unsere Augen. Doch klapperten und bebten wir nicht vor Nässe und Kälte allein, weit schlimmer noch war unsere Angst vor der hänfenen Schlinge, die unserm Leben ein Ende zu machen drohte. Die Möglichkeit eines so schmachvollen Todes hatten wir nicht bedacht; sie verdarb die Romantik des ganzen Feldzugs und verwandelte unsere Träume von Ehre und Ruhm in entsetzliche Schreckgespenster. Daß jener barbarische Befehl wirklich erteilt worden sei, bezweifelte keiner aus unserer Schar.

Die lange Nacht ging schließlich doch vorüber und beim Morgengrauen brachte der Neger die Nachricht, das Gerücht sei falsch, es habe sich nicht bestätigt und bald werde das Frühstück fertig sein. Auf der Stelle waren wir wieder frohen Mutes, die Welt schien voll Glanz und Heiterkeit und das Leben so schön und hoffnungsreich wie immer – denn damals waren wir jung. Das ist schon lange her – über vierundzwanzig Jahre.

Ein Frühstück, wie es uns die Masons nun auftischten, bekommt man nur in Missouri. Knusprigen Zwieback und Weizenbrot, heiß aus dem Ofen mit dem hübschen Gittermuster verziert, frische Maiskuchen, gebratene Hühner, Speck, Kaffee, süße Milch, Eier, Buttermilch u. s. w. Wir brauchten das alles zu unserer Stärkung und ließen es uns trefflich schmecken.

Unser Aufenthalt bei Mason dauerte nur wenige Tage; die leblose Stille und Langeweile dieses schläfrigen Pachtguts ist mir aber die vielen Jahre hindurch in der Erinnerung geblieben, sie lastet noch heute mit einem Druck auf meinem Geist wie Trauer und Tod. Es gab da nichts zu denken, nichts zu thun, keinerlei Lebensinteresse. Die Männer waren den ganzen Tag über auf dem Felde, auch die Frauen gingen ihren Geschäften nach und man bekam sie nicht zu Gesichte. Der einzige Laut, der sich vernehmen ließ, war das einförmige Schnurren eines Spinnrads. Es klang aus einem entlegenen Zimmer mit so jammervollem Klageton zu uns herüber, daß wir meinten, vor Heimweh vergehen zu müssen.

Bei Dunkelwerden pflegte sich die Familie zur Ruhe zu begeben und wir mußten wohl oder übel dem Beispiel folgen. Schlaflos wälzten wir uns die ewig langen Stunden auf unserm Lager umher und zählten die Glockenschläge; eine solche Nacht dauerte hundert Jahre.

Zuletzt konnten wir es an dem Ort nicht länger aushalten und empfanden eine förmliche Freude als es hieß, daß uns der Feind wieder auf den Fersen sei. Unser kriegerischer Geist erwachte, wir waren wie neugeboren, stellten uns schnell in Reih und Glied und marschierten in unser früheres Lager zurück.

Hauptmann Lyman hatte sich jedoch Masons Winke wohl gemerkt; er gab jetzt Befehl, daß Wachen ausgestellt werden sollten, um uns vor Überrumpelung zu schützen. Ich hatte den Auftrag, für einen Posten an der Gabelung des Weges in Hydes Wiesengrund zu sorgen. Als die Nacht dunkel und drohend hereingebrochen war, befahl ich dem Sergeanten Bowers, die Wache dort bis zwölf Uhr zu übernehmen; allein er erwiderte, das thäte er nicht – wie ich von vornherein erwartet hatte. Ich versuchte noch einige andere zu überreden, aber alle schlugen es mir ab. Zwei oder drei entschuldigten sich wegen des schlechten Wetters, die übrigen aber erklärten freimütig, sie würden unter keiner Bedingung Folge leisten. – Das klingt uns jetzt sonderbar und wie ein Ding der Unmöglichkeit, damals aber war es gar nicht überraschend, sondern ein höchst natürliches und alltägliches Vorkommnis. Die jungen Leute, die sich durch ganz Missouri in kleinen Lagerplätzen, wie der unsrige, versammelt hatten, waren viel zu selbständig und unabhängig aufgewachsen, um sich den Befehlen von Tom, Dick oder Harry zu fügen, mit denen sie ihr Lebenlang auf du und du gestanden hatten. Im ganzen Süden wird es wohl ähnlich hergegangen sein – versteht sich nur während der ersten Monate des Krieges.

Das Oberkommando über sämtliche Milizen unserer Gegend führte der Brigadegeneral Thomas Harris, ein ausgezeichneter Mann und allgemein beliebt. Wir hatten ihn aber gut gekannt, als er noch der einzige Telegraphenbeamte in Hannibal war, der für geringen Sold wöchentlich meist eine Depesche abzuschicken hatte, und zwei, wenn die Geschäfte sich besonders drängten. Als er daher eines Tages plötzlich in unserer Mitte erschien und uns mit militärischer Würde Verhaltungsmaßregeln überbrachte, wunderte sich niemand über die Antwort, welche er von dem versammelten Korps erhielt:

»Na, wenn wir aber nun nicht wollen, Tom Harris – was dann?«

Mit Leuten solchen Schlages in den Krieg zu ziehen, scheint ein völlig hoffnungsloses Beginnen. Dennoch haben einige meiner damaligen Kameraden später das blutige Handwerk trefflich erlernt; sie sind tüchtige Soldaten geworden, welche gehorchten wie die Maschinen, den Krieg bis zu Ende mitmachten und mit Ehren entlassen wurden. Ein Bursche zum Beispiel, der mich damals einen Schafskopf nannte, weil ich glaubte, er werde tollkühn genug sein, um den gefährlichen Posten zu beziehen, hat sich, ehe er noch ein Jahr älter war, durch Mut und Unerschrockenheit ganz besonders hervorgethan.

Es gelang mir an jenem Abend doch noch, Bowers zu bewegen, mit mir den Nachtdienst zu versehen. Ich schlug ihm nämlich vor, den Rang mit ihm zu tauschen und ihn als Untergebener zu begleiten. In pechfinsterer Nacht und bei strömendem Regen verbrachten wir ein paar erbärmliche Stunden zu Pferde. Bowers schimpfte ohne Unterlaß auf das Wetter und den Krieg, bis wir einzunicken begannen und uns kaum mehr im Sattel halten konnten. Nun quälten wir uns nicht länger, sondern ritten ins Lager, ohne auf Ablösung zu warten. Der Feind hätte es mit Leichtigkeit ebenso machen können, denn niemand hielt uns an oder fragte nach unserm Begehr; nirgends ließ sich eine Schildwache blicken, alles lag in festem Schlaf. Auch wurde, so viel ich weiß, nie wieder der Versuch gemacht, zur Nachtzeit einen Posten auszustellen, nur bei Tage hielten wir Wache.

In dem Kornspeicher, wo das Kommando schlief, entstand gewöhnlich großer Lärm, bevor noch der Morgen graute. Zahllose Ratten waren dort einquartiert; sie kletterten zu aller Ärger und Verdruß auf den Schläfern herum und liefen ihnen ohne weiteres über das Gesicht. Bald bissen sie diesen, bald jenen Soldaten in die Fußzehe, der fluchend aufsprang und im Dunkeln mit Maiskolben um sich warf; die waren zwar nicht ganz so hart wie Ziegelsteine, aber wen sie trafen, dem that es doch weh. Das wollte sich keiner gefallen lassen; ehe fünf Minuten vergingen, lag ein Nachbar dem andern in den Haaren und es entstand eine allgemeine Rauferei. So kam es, daß im Kornspeicher viel Blut vergossen wurde, das war aber auch das einzige, welches ich fließen sah, solange ich am Kriege teilnahm. – Nein, halt, das ist nicht die volle Wahrheit! Einmal floß doch Blut, und wie das geschah, will ich jetzt erzählen:

Wir wurden, wie bereits gesagt, häufig durch allerlei Gerüchte erschreckt. Von Zeit zu Zeit tauchte immer wieder die Nachricht auf, daß der Feind heranrücke und wir zogen uns vor ihm stets in ein anderes Lager zurück. Da es sich jedoch jedesmal erwies, daß es nur blinder Lärm gewesen, wurden wir schließlich gleichgültig dagegen. Als nun eines Abends ein Neger wieder mit dem alten Liede gegangen kam, daß der Feind in der Nähe lauere, sagten wir: ›Schon gut!‹ und beschlossen, uns in unserer Ruhe und Bequemlichkeit nicht stören zu lassen. Über diesen echt kriegerischen Beschluß empfanden wir im ersten Augenblick ein wahres Hochgefühl. Wir waren gerade sehr lustig und guter Dinge gewesen und hatten allerlei Possen getrieben; damit war es für jetzt freilich vorbei – Scherz und Lachen klang nur noch gezwungen, bald verstummte es ganz und tiefe Stille herrschte in der Kompagnie. Wir hatten einmal gesagt, daß wir dableiben wollten und konnten unser Wort nicht brechen, doch wären wir wohl zu überreden gewesen, das Lager zu verlassen, wenn nur einer den Mut gehabt hätte, es vorzuschlagen. Lange verharrten wir in ängstlichem Schweigen am selben Platze, dann begann eine fast geräuschlose Bewegung im Dunkeln, zu welcher kein Befehl erteilt worden war. Bald merkte ein jeder, daß er nicht der einzige sei, der leise nach der Vorderwand gekrochen war, um durch ein Astloch oder einen Spalt zu spähen. Nein, wir waren alle da und starrten mit klopfendem Herzen nach der Stelle hin, wo der Fußpfad in den Wald einmündete. Ringsum war alles still und man konnte bei dem bleichen Schein des Mondes nur die allgemeinen Umrisse der Gegenstände unterscheiden. Da ließ sich auf einmal ein dumpfer Ton vernehmen, der wie Hufschlag klang. Nach einer Weile sahen wir eine nebelhafte Gestalt auf dem Waldpfad auftauchen, die immer näher kam. Es war ein Mann zu Pferde, und wie mir schien, ritten noch andere hinter ihm drein. Ein jäher Schrecken fuhr mir durch die Glieder; ohne recht zu wissen was ich that, griff ich nach meiner Flinte und steckte den Lauf durch einen Spalt in der Wand. »Feuer!« gebot eine Stimme und ich drückte los. Mir war, als sähe und hörte ich es hundertmal blitzen und knallen – gleich darauf fiel der Mann aus dem Sattel.

Verwundert über den gelungenen Schuß, wollte ich, mit dem Instinkt des Jägers, im ersten Augenblick hinzueilen, um mich meiner Beute zu versichern; da hörte ich neben mir jemand flüstern: »Bravo – den haben wir – jetzt kommen die übrigen an die Reihe.« Wir warteten und lauschten, aber die andern ließen sich nicht blicken. Kein Laut war zu hören, nicht ein Blatt bewegte sich; die Stille ward immer unheimlicher. Endlich ertrugen wir es nicht länger; wir krochen verstohlen hinaus und näherten uns der mondbeschienenen Stelle, wo der Mann auf dem Rücken lag, die Arme von sich gestreckt, mit offenem Mund und keuchender Brust, das weiße Vorhemd von Blut überströmt. Siedend heiß fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich ein Mörder war, daß ich einen Menschen getötet hatte, der mir nie etwas zu Leide gethan. Es ging mir durch Mark und Bein. Verzweifelnd kniete ich neben ihm und streichelte ihm Stirn und Wangen – ich hätte alles darum gegeben und mit Freuden mein eigenes Leben geopfert, um ihn wieder heil und gesund zu machen, wie er es noch vor wenigen Minuten gewesen. Alle Kameraden schienen mein Gefühl zu teilen, sie beugten sich mitleidig über den Verwundeten, versuchten ihm auf jede Weise beizustehen und drückten das innigste Bedauern aus. An den Feind dachte niemand mehr, sie sahen in diesem Gegner nur den einzelnen, beklagenswerten Menschen. Das brechende Auge des Sterbenden schien noch mit einem Blick des Vorwurfs auf mir zu ruhen, der mich wie ein Dolchstoß traf. Als ich ihn nun gar, wie im Traum, etwas von Weib und Kind murmeln hörte, ergriff mich neues Entsetzen: So sollten also die Folgen meiner Missethat auch auf das Haupt jener Unschuldigen fallen, die mir nie etwas Böses zugefügt hatten!

Wenige Augenblicke später stieß der Mann den letzten Seufzer aus. Er war im Kriege getötet worden nach Brauch und Recht – sozusagen auf dem Schlachtfeld gefallen; und dennoch beklagte ihn die feindliche Macht wie einen Bruder. Wohl eine halbe Stunde lang standen die Kameraden tief bewegt neben der Leiche und besprachen den Trauerfall in allen Einzelheiten. Sie fragten sich, wer der Mann wohl sein möge; ob er nicht doch vielleicht ein Spion gewesen? Hätten sie ihn wieder lebendig machen können, sie würden ihm sicherlich kein Haar gekrümmt haben.

Bald stellte sich heraus, daß außer mir noch fünf Soldaten Feuer gegeben hatten; nicht weniger als sechs Kugeln waren abgeschossen worden. Diese Teilung der Schuld gewährte mir eine große Erleichterung bei der Last, welche mich niederdrückte. Im Augenblick der That war ich so wenig bei Besinnung gewesen, daß ich in meiner erhitzten Einbildungskraft die ganze Salve für einen einzigen Schuß aus meiner Flinte gehalten hatte.

Der Mann trug weder Waffen noch Uniform. Er war in der Gegend völlig unbekannt und wir haben nie etwas Näheres über ihn erfahren. Mich quälte die Erinnerung an ihn Tag und Nacht, ich konnte sie nicht wieder los werden, konnte die peinigenden Gedanken nicht verscheuchen; daß wir einem harmlosen Menschen das Leben genommen hatten, schien mir so sündhaft, so zwecklos. Und war dies nicht ein Bild des Krieges überhaupt? Was thut man denn anderes im Kriege, als Leute umbringen, gegen die man keine persönliche Feindschaft hegt – Fremde, denen man unter andern Umständen beistehen würde, wenn sie in Not gerieten, und die auch uns Hilfe leisten würden wenn wir ihrer bedürften? Mit meiner Freude an dem Feldzug war es vorbei. Ich besaß die erforderliche Ausrüstung nicht für dies grimme Handwerk; zum Kriege brauchte man Männer, und ich hatte die Kinderschuhe noch nicht ausgetreten. So beschloß ich denn, das unwürdige Soldatenspiel aufzugeben, um nicht meine ganze Selbstachtung einzubüßen. Vernünftigerweise hätte ich mich eigentlich von den selbstquälerischen Gedanken losmachen sollen, denn im Grunde meines Herzens glaubte ich fest, daß nicht meine Hand des Mannes Blut vergossen hatte. Es war im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß meine Kugel ihn auch nur gestreift hatte, da es mir bei allen meinen Schießübungen noch nie gelungen war, einen Gegenstand zu treffen, nach dem ich zielte – und ihn hatte ich genau aufs Korn genommen, das wußte ich. Leider gewährte mir diese Überzeugung keinen Trost. Wann hätte sich auch eine kranke Einbildungskraft je durch Vernunftgründe heilen lassen? –

Wir fuhren nun fort wie bisher das Land auszusaugen und bei jeder beunruhigenden Nachricht unser Lager zu wechseln. Die Farmer waren unermüdlich in ihrer Gastfreundschaft und Zuvorkommenheit gegen uns, während sie uns von Rechts wegen hätten zum Henker wünschen müssen. Auf unsern Kreuz- und Querzügen waren wir eines Tages in dem Bezirk Monroe angelangt und hatten in einem Hohlweg bei dem Dorfe Florida, wo ich geboren bin, unser Lager aufgeschlagen – es war das letzte, welches ich bezog. Hier erfuhren wir, daß ein Oberst mit einem ganzen Regiment Unionstruppen auf uns heranmarschiere. Damit war nicht zu scherzen; wir beratschlagten schnell, was zu thun sei, und verkündigten rasch den übrigen Kompagnien, die unser Lager teilten, daß wir nichts mehr mit dem Krieg zu schaffen haben wollten und entschlossen seien, unser Korps aufzulösen. Die Leute standen eben selbst im Begriff, sich zurückzuziehen und suchten uns zu bereden, noch auf den General Tom Harris zu warten, der jeden Augenblick eintreffen müsse. Wir hielten das aber für unnützen Zeitverlust. Nach der vielen Übung, die wir gehabt hatten, verstanden wir uns so gut auf den Rückzug, daß wir nicht erst auf einen General zu warten brauchten, um uns darüber belehren zu lassen. So stiegen wir denn auf und ritten davon – das heißt, etwa die Hälfte unseres Korps, mich eingeschlossen; die übrigen ließen sich überreden, dazubleiben – und machten den ganzen Krieg mit.

Unterwegs trafen wir auf General Harris, der uns befahl, wieder umzukehren; wir aber erzählten ihm, daß ein Oberst mit einem ganzen Regiment Unionstruppen im Anmarsch sei. Da würde es gewiß Mißhelligkeiten geben und wir hielten es für besser, nach Hause zu gehen. Harris geriet zwar in Zorn, aber das nützte nichts, denn unser Beschluß stand fest. Wir hatten das unsrige gethan, hatten einen Mann getötet – die übrigen Feinde konnte Harris nun selbst umbringen, damit der Krieg bald zu Ende wäre.

Wer aber war jener Oberst der Union, welcher mich so in Schrecken jagte, daß ich um seinetwillen dem Süden meine wertvollen Kriegsdienste entzog? Kein anderer als General Grant, wie ich später erfuhr. Damals war sein Name freilich fast ebenso unbekannt wie der meinige – was uns jetzt kaum glaublich erscheint. Wir waren nur wenige Meilen von einander entfernt und ich hatte die beste Gelegenheit, mit ihm zusammenzutreffen – aber ich ging nach der entgegengesetzten Richtung.

Über den vorstehenden Bericht wird wohl mancher Leser den Kopf schütteln, aber er hat dennoch seinen Wert und seine Berechtigung. Er giebt ein wahrheitsgetreues Bild von dem Thun und Treiben der Milizen während der ersten Monate des Bürgerkriegs und von Vorgängen, die durchaus nicht vereinzelt dastanden. Hat die Geschichte bisher darüber geschwiegen, so war das ein Mangel, welcher dringend der Ergänzung bedurfte. Aus den jungen, ungeübten Rekruten, die ohne Zucht, ohne erfahrene Führer, vor unbekannten Schrecknissen zurückbebten, sind später doch noch wackere Krieger geworden, welche mitgeholfen haben, die großen Entscheidungsschlachten zu schlagen. Auch ich würde mit der Zeit das Soldatenhandwerk wohl noch gelernt haben; in einem Stück hatte ich es ja schon ziemlich weit gebracht: ich wußte genau, wie man einen Rückzug ausführen muß.

Der Fluß und seine Erforscher.

Der Fluß und seine Erforscher.

La Salle suchte bei Ludwig XIV. unseligen Andenkens um gewisse wichtige Privilegien nach, die ihm vom Könige auch gnädigst gewährt wurden. Das hauptsächlichste derselben war das Recht, das Land fern und nah zu erforschen, Forts zu bauen, Kontinente abzustecken und sie dem Könige zu übergeben. Die Kosten mußte er selbst tragen. Als Gegenleistung erhielt er dafür einige kleine Vorteile der einen oder anderen Art und darunter namentlich das Monopol der Büffelhäute. La Salle brauchte mehrere Jahre und verschwendete fast sein ganzes Geld, um einige gefährliche und aufreibende Reisen von Montreal nach seinem von ihm am Illinois erbauten Fort zu machen, ehe es ihm schließlich gelang, seine Expedition in solchen Stand zu bringen, daß er mit derselben nach dem Mississippi aufbrechen konnte.

Mittlerweile hatten aber andere mehr Glück gehabt. Im Jahre 1673 durchkreuzten der Kaufmann Joliet und der Priester Marquette das Land und erreichten die Ufer des Mississippi. Sie hatten den Weg über die großen Binnenseen gemacht und dann von ›Green Bay‹ die Reise in Kanoes den Fox River und den Wiskonsin hinab fortgesetzt. Marquette hatte am Fest der unbefleckten Empfängnis den Schwur abgelegt, daß, wenn die heilige Jungfrau ihn den großen Fluß entdecken ließe, er denselben ihr zu Ehren Empfängnisfluß nennen wolle, und er hielt sein Wort, In damaliger Zeit gehörte zur Ausrüstung einer jeden Expedition eine Anzahl Priester; De Soto hatte deren vierundzwanzig und auch La Salle hatte einige bei sich. Oft fehlte es den Expeditionen an Fleisch und mangelte es ihnen an Kleidungsstücken, allein stets befanden sie sich im Besitz der für die Messe erforderlichen Gegenstände und Requisiten, und waren, wie einer der wunderlichen Geschichtsschreiber jener Zeit sich ausdrückte, immer bereit, »den Wilden die Hölle zu erklären.«

Am 17. Juli 1673 erreichten Joliet und Marquette nebst fünf Genossen in ihren Kanoes die Vereinigung des Wiskonsin mit dem Mississippi. »Vor ihnen – erzählt Parkman – kreuzte ihren Weg ein breiter und rascher Strom, der am Fuße von hohen, mit dichten Waldungen bedeckten Hügeln dahinfloß. Dann wandten sie sich seitwärts und ruderten den Strom hinab, an welchem die Einsamkeit auch nicht durch die allergeringste Spur von Menschen gestört wurde.«

Während der Fahrt stieß ein großer Fisch, wahrscheinlich ein cat-fish, gegen das Kanoe Marquettes und erschreckte ihn, nicht ohne Grund, da er von den Indianern gewarnt und darauf aufmerksam gemacht worden war, daß er eine tollkühne und sogar gefährliche Reise mache, denn der Fluß enthalte einen Dämon, »dessen Gebrüll aus weiter Ferne zu hören sei und der ihn in den Abgrund, wo er sich aufhalte, hinabziehen werde.« Ich selbst habe im Mississippi einen Fisch dieser Art von mehr als sechs Fuß Länge und zweihundertundfünfzig Pfund Gewicht gesehen, und wenn der Fisch Marquettes von ähnlicher Größe war, so konnte letzterer mit gutem Recht glauben, daß der brüllende Dämon des Flusses gekommen sei.

Endlich begann der Büffel sich zu zeigen, der auf den damals den Fluß begrenzenden Prairieen in Herden graste. Marquette beschreibt das wilde und bestürzte Aussehen der alten Bullen, »als sie durch wirre, sie fast blind machende Mähnen nach den Eindringlingen stierten.«

Die Reisenden drangen vorsichtig weiter: »sie landeten bei Nacht und zündeten Feuer an, um ihre Abendmahlzeit zu kochen; löschten das Feuer dann aus, schifften sich wieder ein, ruderten eine Strecke weiter und legten sich dann im Strome vor Anker, während ein Mann bis zum nächsten Morgen Wache hielt.«

Dies geschah Tag für Tag und Nacht für Nacht, und nach Ablauf von zwei Wochen hatten sie kein menschliches Wesen gesehen. Der Fluß war damals eine schreckliche Einöde und ist es auf einem Teile seines Laufes noch heute.

Gegen Ende der zweiten Woche entdeckten sie aber eines Tages im Schlamm am westlichen Ufer menschliche Fußspuren. Man hatte sie vor den Indianern am Flusse gewarnt, die so wild und erbarmungslos wie der Flußdämon sein und alle Fremdlinge vernichten sollten, auch wenn sie von diesen nicht gereizt würden; nichtsdestoweniger marschierten Joliet und Marquette ins Land hinein, um die Urheber der Fußspuren aufzusuchen. Sie fanden sie auch bald und wurden feierlich empfangen und gut behandelt, d. h. falls man von einem feierlichen Empfang reden darf, wenn der Indianerhäuptling, um sich im besten Lichte zu zeigen, seinen letzten Lappen vom Leibe nimmt, sofern es eine gute Behandlung ist, wenn Fisch, Fleischbrühe und andere Speisen, darunter auch Hundefleisch, einem im Überfluß vorgesetzt und diese Dinge einem von den bloßen Fingern der Indianer in den Mund geschoben werden. Am nächsten Morgen begleitete der Häuptling mit sechshundert seiner Stammesgenossen die Franzosen nach dem Flusse zurück und sagte ihnen in freundschaftlicher Weise Lebewohl.

Auf den Felsen oberhalb der jetzigen Stadt Alton fanden die Franzosen einige rohe und phantastische indianische Zeichnungen, die von ihnen beschrieben wurden. Eine kleine Strecke weiter abwärts »stürzte sich ein Strom gelben Schlammes quer in das ruhige blaue Wasser des Mississippi, kochend, brausend und Stämme, Äste und entwurzelte Bäume mit sich führend.« Das war die Mündung des Missouri, »jenes wilden Flusses, der nach seinem tollen Laufe durch ein ungeheures unbekanntes Gebiet des Barbarentums seine trüben Fluten in den Schoß seiner sanfteren Schwester ergießt.«

Dann kamen sie bei der Mündung des Ohio vorbei; sie passierten Rohrdickichte, kämpften gegen die Muskitos, trieben Tag für Tag durch die tiefe Stille und Einsamkeit des Flusses dahin, unter dem dürftigen Schatten der als Notbehelf dienenden Sonnenzelte schlummernd und in der Sonnenhitze bratend; sie trafen noch einen anderen Trupp Indianer, tauschten Höflichkeiten mit denselben aus und erreichten endlich, etwa einen Monat nach dem Aufbruch, die Mündung des Arkansas, wo ihnen eine Schar Wilder mit Kriegsgeheul entgegenstürmte, um sie zu ermorden, doch flehten sie zur heiligen Jungfrau um Hilfe, und anstatt eines Kampfes wurde ein Fest gefeiert, bei welchem freundschaftliche Unterhaltungen geführt und allerlei Kurzweil getrieben wurden.

Nach ihrer Überzeugung hatten sie nachgewiesen, daß der Mississippi sich nicht in den Golf von Kalifornien oder ins atlantische Meer ergösse; sie glaubten, er münde in den Golf von Mexiko, und kehrten um und brachten ihre große Neuigkeit nach Kanada.

Allein der Glaube ist noch kein Beweis, und es war La Salle vorbehalten, diesen Beweis zu liefern. Er wurde in ärgerlicher Weise bald durch diesen, bald durch jenen Unfall aufgehalten, allein schließlich brachte er um das Ende des Jahres 1681 seine Expedition doch in Gang. Mitten im Winter traten er und sein Lieutenant Henry de Tonty, der Sohn Lorenzo Tontys, des Erfinders der Tontine, mit einem Gefolge von achtzehn Indianern, die sie von Neu-England mitgebracht hatten, sowie dreiundzwanzig Franzosen die Reise den Illinois hinab an, und zwar marschierten sie zu Fuß auf der Eisdecke des Flusses hin, während sie ihre Kanoes auf Schlitten hinter sich herzogen.

Nachdem sie beim Peoriasee offenes Wasser getroffen hatten, ruderten sie von dort nach dem Mississippi und wandten dann den Bug ihrer Fahrzeuge nach Süden. Sie arbeiteten sich durch die treibenden Eisfelder, an der Mündung des Missouri und später auch an derjenigen des Ohio vorüber, »glitten an den Einöden der den Fluß einfassenden Sümpfe vorbei und landeten am 24. Februar bei den ›Dritten Chikasaw-Klippen‹, wo sie Halt machten und das Fort Prudhomne anlegten.«

»Dann – erzählt Parkman – schifften sie sich wieder ein, und mit jedem Schritte ihrer abenteuerlichen Reise enthüllte sich ihnen mehr und mehr das Geheimnis dieser ungeheuren neuen Welt. Immer weiter kamen sie in das Reich des Frühlings: das verschleierte Licht der Sonne, die warme schwüle Luft, das zarte Laubwerk, die sich öffnenden Blüten waren ihnen Zeichen des wiedererwachenden Lebens der Natur.«

Tag für Tag trieben sie im Schatten dichter Waldungen die großen Biegungen des Flusses hinab, bis sie endlich bei der Mündung des Arkansas eintrafen. Anfänglich wurden sie von den Eingeborenen dieser Gegend in derselben Weise begrüßt, wie Marquette von ihnen empfangen war – mit dem Getöse der Kriegstrommel und dem Klirren der Waffen. Bei Marquette hatte die heilige Jungfrau die Schwierigkeit beseitigt, bei La Salle geschah dies durch die Friedenspfeife. Der weiße Mann und die Rothaut reichten sich die Hand und unterhielten sich drei Tage lang miteinander. Dann errichtete La Salle vor den staunend zuschauenden Wilden ein Kreuz mit dem französischen Wappen und nahm – nach der unverschämten Sitte jener Zeit – für den König Besitz von dem ganzen Lande, während der fromme Priester die Räuberei mit einer Hymne segnete. Um die Wilden zu retten, erklärte der Priester ihnen ›mittelst Zeichen‹ die Geheimnisse des Glaubens und entschädigte sie auf diese Weise durch mögliche Besitztümer im Himmel für die wirklichen auf Erden, deren man sie soeben beraubt hatte. Und in derselben Weise veranlagte La Salle diese einfachen Kinder des Waldes durch Zeichen dazu, daß sie Ludwig dem Verdorbenen, der sich jenseit des Wassers befand, huldigten. Niemand lächelte über solche kolossale Ironie.

Diese Förmlichkeiten geschahen an der Stelle, wo später die Stadt Napoleon im Staate Arkansas gebaut wurde. Dort wurde das erste Konfiszierungskreuz an den Ufern des großen Flusses errichtet. Die Entdeckungsreise Marquettes und Joliets endet an demselben Orte – der Stelle der zukünftigen Stadt Napoleon. Auch De Soto befand sich, als er in jenen fernen Zeiten den Blick auf den großen Fluß warf, an demselben Orte – der Stelle der zukünftigen Stadt Napoleon im Staate Arkansas. Mithin sind drei von den vier denkwürdigen Ereignissen, welche mit der Entdeckung und Erforschung des mächtigen Stromes verknüpft sind, zufälligerweise an einem und demselben Orte passiert. Es ist ein höchst seltsamer Zufall, wenn man darüber nachdenkt: Frankreich hat das ungeheure Land an dieser Stelle, der Stelle des zukünftigen Napoleon gestohlen, und später mußte Napoleon selbst das Land zurückgeben, allerdings nicht seinen Eigentümern, sondern den sie beerbenden weißen Amerikanern!

Die Reisenden setzten darauf die Fahrt fort, landeten hier und da, »passierten die später historisch gewordenen Stellen von Vicksburg und Grand Gulf« und besuchten einen mächtigen Häuptling des Tachelandes, dessen ansehnliche Hauptstadt aus Backsteinen bestand, die an der Sonne getrocknet und mit Stroh vermischt waren. Jene Häuser waren meist besser, als man sie heute in der Gegend findet. Die Wohnung des Häuptlings besaß eine Halle von vierzig Quadratfuß Größe, wo derselbe, umgeben von sechzig in weiße Mäntel gehüllten Greisen, Tonty in vollem Staate empfing. Es befand sich auch ein Tempel in der Stadt, von einer Lehmmauer umgeben, die mit den Schädeln der der Sonne geopferten Feinde verziert war.

Darauf besuchten die Reisenden die Natchez-Jndianer in der Nähe der Stelle, wo jetzt die Stadt dieses Namens steht; sie fanden dort »religiösen und politischen Despotismus, eine von der Sonne abstammende privilegierte Klasse, einen Tempel und ein heiliges Feuer«. Es muß ihnen also geschienen haben, als wären sie wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt, nur mit dem Vorteil, daß Ludwig XIV. hier fehlte.

Nach Verlauf einiger weiterer Tage stand La Salle unter seinem Konfiszierungskreuze am Zusammenfluß der Gewässer aus Delaware, Itaska und von den Bergketten am Pazifik mit denjenigen des Golfs von Mexiko: seine Aufgabe war beendet, sein Ziel erreicht. Parkman sagt am Schluß seiner interessanten Schilderung:

»An jenem Tage erhielt das französische Reich einen ungeheuren Zuwachs. Die fruchtbaren Ebenen von Texas, das ungeheure Becken des Mississippi, von den gefrorenen Quellen im Norden bis zu den heißen Küsten des Golfes, von den bewaldeten Abhängen des Alleghanygebirges bis zu den kahlen Spitzen der Felsenberge, ein Gebiet von Savannen und Wäldern, von der Sonnenhitze gespaltenen Wüsten und mit Gras bewachsenen Prairieen, von etwa tausend Flüssen bewässert und von tausend kriegerischen Stämmen bewohnt, kam unter das Szepter des Sultans von Versailles, und zwar durch eine schwache, menschliche Stimme, die kaum eine halbe englische Meile weit zu hören war.«

Der Entwicklung von Handel und Verkehr schien nun nichts mehr im Wege zu stehen. Allein die Ansiedlung längs der Ufer vollzog sich ebenso ruhig, allmählich und langsam, wie die Entdeckung und Erforschung. Es vergingen siebzig Jahre nach der Erforschung des Flusses, ehe seine Ufer eine nennenswerte weiße Bevölkerung hatten, und beinahe weitere fünfzig Jahre, bis der Fluß einen Verkehr bekam. Der erste Verkehr des Stromes fand in großen Leichtern und Flachboten statt, die von den oberen Flüssen nach New-Orleans hinabtrieben oder segelten, dort ihre Ladungen austauschten und in mühevoller Weise vermittelst ›Warpanker‹ und ›Staken‹ zurückgebracht wurden. Eine Reise den Fluß hinab und wieder zurück nahm zuweilen neun Monate in Anspruch. Mit der Zeit nahm dieser Verkehr zu, bis derselbe ganzen Scharen rauher, abgehärteter Leute Beschäftigung gab, ungebildeten aber braven Burschen, welche die fürchterlichsten Strapazen mit seemännischem Stoicismus ertrugen, stark tranken, an rohen Vergnügungen und Faustkämpfen Gefallen fanden, ihr Geld vergeudeten, am Ende der Reise bankerott waren, barbarischen Schmuck liebten und in der fürchterlichsten Weise prahlten; im großen und ganzen aber Leute, die ehrlich, zuverlässig, pflichtgetreu und oft romantisch großmütig waren.

Nach und nach trat dann das Dampfboot auf. Etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre setzten diese Leute ihre Flachbootfahrten stromab noch fort, während die Dampfboote den ganzen Verkehr stromaufwärts besorgten. Die Flachbootbesitzer verkauften ihre Fahrzeuge in New-Orleans und kehrten als Deckspassagiere auf den Dampfern in die Heimat zurück.

Nach einer Weile nahmen die Dampfboote so sehr an Zahl und Schnelligkeit zu, daß sie den ganzen Verkehr bewältigen konnten, und nun ging die Flachbootfahrt ihrer vollständigen Auflösung entgegen. Die Flachbootleute wurden Deckarbeiter, Steuerleute und Lotsen auf den Dampfern, oder suchten, wenn sie auf diesen nicht ankommen konnten, Beschäftigung auf den Pittsburger Kohlenleichtern oder den in den Wäldern am oberen Mississippi gebauten Flößen von Fichtenholz.

In der regsten Zeit der Dampfschiffahrt war der Fluß von einem Ende bis zum anderen mit Kohlenleichtern und Holzflößen bedeckt, die sämtlich von Menschenkraft bewegt wurden und großen Scharen jener vorstehend geschilderten, rauhen Charaktere Beschäftigung gaben. Ich erinnere mich wohl noch der mächtigen Flöße, welche während meiner Knabenzeit alljährlich in ganzen Prozessionen bei Hannibal vorbeizugleiten pflegten, jedes von weißen, lieblich nach Harz duftenden Planken, beinahe einen ›Morgen‹ Fläche einnehmend, bedeckt. Sie hatten meistens eine Mannschaft von zwei Dutzend oder mehr Leuten und trugen auf dem geräumigen Deck drei bis vier Hütten zum Schutz gegen Sturm und Wetter. Die rauhen Manieren und prahlerischen Gespräche der Flößer sind mir ebenfalls noch in guter Erinnerung, da wir oft eine Viertelmeile oder weiter in den Fluß hinaus zu schwimmen pflegten, um auf die Flöße zu klettern und eine Strecke mitzufahren.

Vorwort

Vorwort

Lehr- und Wanderjahre II

Das vorliegende Buch ist lediglich eine Erzählung persönlicher Erlebnisse und erhebt keinen Anspruch auf geschichtlichen Wert oder philosophische Tiefe. Dasselbe enthält die Schilderung eines mehrjährigen bunten Nomadenlebens. Trotzdem bietet das Bändchen einige Belehrung und zwar Belehrung über einen interessanten Abschnitt in der Geschichte des fernen Westens, über welchen bis jetzt noch niemand auf Grund eigener Anschauungen und Erlebnisse Bericht erstattet hat. Ich meine damit Entstehung, Wachstum und Höhepunkt des Silberfiebers in Nevada. Es ist dies eine in mancher Beziehung merkwürdige Erscheinung, die bis jetzt die einzige ihrer Art in jenem Lande geblieben ist und dies voraussichtlich auch für alle Zukunft bleiben wird.

Ja, alles in allem, enthält das Buch sogar recht viel Belehrendes. Es thut mir dies herzlich leid, allein es läßt sich wirklich nicht ändern; die Belehrung dringt mir eben, wie es scheint, zu allen Poren heraus. Ich hätte oft gerne alles darum gegeben, meine Kenntnisse für mich behalten zu können, aber es geht nun einmal nicht. Je mehr ich die Quellen verstopfe, desto mehr Belehrung sickert durch. Deshalb kann ich vom Leser nur Nachsicht, keine Verzeihung erwarten.

Erstes Kapitel

Erstes Kapitel

Mein Bruder war soeben zum ›Sekretär‹ des Territoriums Nevada ernannt worden – einem Amt von solcher Erhabenheit, daß es die Obliegenheiten und Würden eines Schatzmeisters, obersten Rechnungsbeamten, Staatssekretärs und im Fall der Abwesenheit des wirklichen Gouverneurs auch die dieses letzteren in sich vereinigte. Eine Jahresbesoldung von 1800 Dollars und der Titel ›Mr. Secretary‹ verliehen dieser hohen Stellung eine gewisse Großartigkeit. Jung und unerfahren, wie ich war, beneidete ich meinen Bruder. Seine hervorragende und finanziell glänzende Stellung stach mir in die Augen, ganz besonders aber die lange, eigenartige Reise, die er machen, und die wunderbare neue Welt, die er kennen lernen sollte. Er durfte reisen! Ich war niemals – abgesehen von meinen Fahrten auf dem Mississippi – von Hause weg gewesen, und das Wort ›reisen‹ hatte einen verführerischen Reiz für mich. Gar nicht mehr lange sollte es anstehen, und er wäre hundert und aber hundert Meilen weit fort auf den großen Prairieen und Wüsteneien inmitten der Gebirge des fernen Westens, bekäme Büffel, Indianer, Prairiehunde und Antilopen zu sehen und allerlei Abenteuer zu bestehen, würde vielleicht sogar gefangen oder skalpiert; und dieses herrliche Leben nähme niemals ein Ende, er würde alles nach Hause berichten und ein berühmter Mann werden. Weiter würde er die Gold- und Silberminen sehen und vielleicht am Abend nach vollbrachtem Tagewerk zwei oder drei Körbe voll glänzender gold- und silberhaltiger Klumpen draußen am Bergeshang auflesen. Und mit der Zeit würde er gewaltig reich werden, würde auf dem Seewege heimkehren und imstande sein, so ruhig über San Francisko, den Ozean und den Isthmus zu sprechen, als wäre gar nichts dabei, diese Wunderdinge mit eigenen Augen geschaut zu haben. Die Qualen, die ich litt, wenn ich mir sein Glück ausmalte, kann keine Feder schildern. Wie er mir nun auf einmal in aller Seelenruhe die herrliche Stellung als Privatsekretär unter ihm antrug, war es mir, als schwinde Himmel und Erde dahin, und das Firmament rollte sich vor meinen Augen auf wie ein Pergament! Ich hatte keinen Wunsch mehr. Ich war vollkommen zufrieden. Binnen einer oder zwei Stunden war ich reisefertig. Viel einzupacken brauchte ich nicht, indem wir von der Grenze von Missouri aus mit der Überlandpost nach Nevada fuhren und jeder Passagier nur ganz wenig Gepäck mitnehmen durfte. Eine Pacificbahn gab es zu dieser schönen Zeit noch nicht – noch keine Schwelle dazu war gelegt.

Meine Absicht war, nur drei Monate in Nevada zu bleiben – mich länger daselbst aufzuhalten, kam mir nicht in den Sinn. Ich gedachte innerhalb dieser Zeit soviel Neues und Seltsames zu sehen, als nur möglich; und dann schleunigst wieder an meine Geschäfte nach Hause zurückzukehren. Ich ahnte nicht, daß ich das Ende dieses auf drei Monate berechneten Vergnügungsausfluges erst nach sechs oder sieben ungewöhnlich langen Jahren erleben sollte!

Die ganze Nacht träumte ich von Indianern, Wüsten und Silberbarren und am folgenden Tage schifften wir uns rechtzeitig an der Werfte von St. Louis auf einem den Missouri hinauffahrenden Dampfer ein. Wir brauchten sechs Tage von St. Louis nach St. Joseph – eine Fahrt, so träge, so schläfrig und ereignislos, daß dieselbe nicht mehr Eindruck in meinem Gedächtnis hinterlassen hat, als hätte sie sechs Minuten gedauert anstatt ebenso viel Tage. Keine andere Erinnerung ist mir davon geblieben, als an einen verworrenen Knäuel wildgestalteter Baumwurzeln, über welche wir geflissentlich mit dem einen oder andern Rade hinfuhren; an Riffe, auf welche wir immer und immer wieder aufstießen, um uns dann von denselben zurückzuziehen und besseres Fahrwasser aufzusuchen; endlich an Sandbänke, auf denen wir gelegentlich sitzen blieben und eine unfreiwillige Rast hielten, worauf wir dann unsere Krücken hervorholten und darüber hinweg humpelten. Wahrhaftig, das Boot hätte fast ebenso gut zu Land nach St. Joseph fahren können, machte es doch nahezu die ganze Zeit seinen Weg auf dem Trockenen – indem es mit ebenso viel Geduld als Emsigkeit den ganzen Tag über Riffe kletterte und über Baumstümpfe hinrutschte. Der Kapitän meinte, es sei »das reinste Renommierboot«, es fehle ihm nur mehr Schneid und ein größeres Rad. Mir kam es vor, als hätte dasselbe ein paar Stelzen brauchen können, ich war jedoch weise genug, diesen Gedanken nicht laut werden zu lassen.

Zweites Kapitel

Zweites Kapitel

Das erste, was wir an dem Abend unserer glücklichen Ankunft in St. Joseph thaten, war, im Sturmschritt nach dem Postamt zu laufen und uns zwei Karten, jede für 150 Dollars, zur Fahrt mit der Überlandkutsche nach Carson City in Nevada zu nehmen. In der Frühe des nächsten Morgens nahmen wir zunächst hastig ein Frühstück ein und eilten dann nach dem Abfahrtsplatze. Nun zeigte sich eine Widerwärtigkeit, die wir vorher nicht gebührend bedacht hatten, nämlich, daß ein schwerer Reisekoffer nicht für fünfundzwanzig Pfund Gepäck mitgehen kann, weil er eben viel schwerer ist. Aber es half nichts – mehr als fünfundzwanzig Pfund auf die Person war nicht zulässig. So mußten wir unsere Koffer aufschnallen und in gehöriger Schnelligkeit eine Auswahl treffen. Wir packten unsere vorschriftsmäßigen fünfundzwanzig Pfund in einen Mantelsack zusammen und schickten die Koffer zu Schiffe nach St. Louis zurück. Es war ein trauriger Abschied, denn nun hatten wir ja keine Fräcke und weißen Glacéhandschuhe mehr für die Abendgesellschaften bei den Pawnees im Felsengebirge, keine Angströhren und Glanzlederstiefel und was sonst dergleichen für die Ruhe und den Frieden des irdischen Daseins unentbehrliche Dinge sind. Wir waren auf Feldration gesetzt. Wir legten jeder einen schweren, groben Anzug an, dazu ein wollenes Soldatenhemd und Aufschlagstiefel, in den Mantelsack stopfen wir einige weiße Hemden, etwas Unterzeug und dergleichen. Mein Bruder, der Sekretär, nahm ungefähr vier Pfund Regierungsverordnungen und ein sechspfündiges Wörterbuch mit, wir wußten ja nicht, wir armen, grünen Jungen – daß man das alles in San Francisco bestellen und in wenigen Tagen in Carson City haben konnte. Meine Bewaffnung bestand in einem elenden, kleinen, siebenläufigen Revolver von Smith & Wesson mit Kugeln von der Größe homöopathischer Pillen, die alle sieben nötig waren, um einem Erwachsenen genug zu geben. Trotzdem hielt ich denselben für etwas Großartiges und meinte, es sei eine ganz gefährliche Waffe. Er hatte nur einen Fehler – man traf schlechterdings nichts damit. Einer unserer Kondukteure zielte eine zeitlang mit demselben auf eine Kuh, und so lange dieselbe still stand und sich ruhig verhielt, blieb sie unversehrt; sobald sie jedoch anfing sich herumzubewegen und er nach anderen Zielen schoß, kam sie zu Schaden. Der Sekretär hatte zum Schutz gegen die Indianer einen Colt-Revolver umgeschnallt, den er zur Verhütung von Unfällen ohne aufgesetzte Zündhütchen trug. Herr Georg Bemis aber – dies war der Name unseres Reisegeführten, den wir zuvor noch nie gesehen hatten, – war furchtbar gewappnet. Er trug im Gürtel einen Allen-Revolver von jenem ursprünglichen Bau, welcher von respektlosen Menschen gerne als ›Pfefferbüchse‹ bezeichnet wird. Sobald man den Drücker zurückzog, krachte die Pistole los. Beim Zurückziehen des Drückers fing nämlich der Hammer an, sich zu heben und die Trommel sich zu drehen, dann fiel der Hammer sogleich wieder herunter und die Kugel war draußen. Daß man hätte zielen können, während die Trommel herum ging, und das Ziel getroffen hätte, das war bei einem Allenn-Revolver vermutlich auf der ganzen Welt überhaupt noch nicht vorgekommen. Trotzdem war der unseres Georg eine ganz vertrauenswürdige Waffe, indem derselbe, wie einer unserer Postillone später einmal meinte »in jedem Falle irgend etwas traf,« wenn er auch das nicht bekam, worauf er zielte. Und so war es auch. Einmal zielte sein Besitzer mit demselben auf ein an einen Baum genageltes Pique-Aß und traf einen Maulesel, der etwa dreißig Ellen links davon stand. Bemis brauchte den Maulesel nicht, allein der Eigentümer erschien mit einer Doppelbüchse und überredete ihn, denselben trotzdem zu kaufen. Ja, es war eine herrliche Waffe, der ›Allen‹. Manchmal gingen alle sechs Läufe auf einmal los, und dann war man in der ganzen Umgegend nirgends seines Lebens sicher, außer in einiger Entfernung hinter demselben.

Zum Schutz gegen Frostwetter im Gebirge nahmen wir zwei oder drei Wolldecken mit. Was Luxusgegenstände betraf, so waren wir bescheiden; außer ein paar Pfeifen und fünf Pfund Rauchtabak nahmen wir keine solchen mit. Dagegen hatten wir zwei große Lederflaschen bei uns, um darin zwischen den Stationen auf der großen Ebene Wasser mitzuführen, außerdem nahmen wir noch ein Säckchen mit Silbergeld mit für die täglichen Ausgaben beim Frühstück und Mittagessen. Um acht Uhr befand sich alles reisefertig auf der anderen Seite des Flusses. Wir hüpften in den Wagen, ein Peitschenknall des Kutschers, und wir rasselten dahin und ließen die ›Staaten‹ hinter uns.

Es war ein prachtvoller Sommermorgen und die ganze Landschaft erglänzte im Sonnenschein. Dabei war es so frisch und lustig, und wir hatten ein Gefühl der Befreiung von Sorgen und Verantwortlichkeiten aller Art, das uns beinahe die Empfindung gab, als seien all die Jahre, die wir in der heißen Stadt unter Qual und Arbeit verbracht hatten, verloren und weggeworfen. Wir schoben uns weiter durch Kansas und nach Verlauf von anderthalb Stunden waren wir schon ziemlich weit auf der großen Ebene. Hier begann gerade das wellenförmige Gelände – eine großartige Folge regelmäßiger Hebungen und Senkungen, soweit das Auge reichte – ein Wogen und Schwellen, gewaltig, wie auf dem Busen des Ozeans nach dem Sturm. Dazwischen allenthalben Kornfelder, durch ihr tieferes Grün die endlose Grasfläche unterbrechend; dann aber verlor dieses wasserlose Meer plötzlich wieder seine wogende Oberfläche, um sich siebenhundert Meilen weit, flach wie die Dielen eines Stubenbodens, hinzustrecken.

Unsere Kutsche war ein großer schwankender und schaukelnder Kasten mächtigen Kalibers – eine gewaltige Wiege auf Rädern. Sie wurde von sechs hübschen Pferden gezogen, und neben dem Kutscher saß der ›Kondukteur‹, unter dessen Leitung bestimmungsgemäß das Ganze stand, soferne ihm die Besorgung der Briefpost, der Packereien, des Eilguts sowie der Passagiere oblag. Wir drei waren bis jetzt die einzigen. Wir saßen innen auf dem Rücksitz. Fast der ganze übrige Innenraum war von Postsäcken eingenommen, wir nahmen nämlich die liegengebliebene Post von drei Tagen mit. Eine senkrechte Wand von Poststücken, an welche wir fast mit den Knieen anstießen, erhob sich beinahe bis zum Dach des Wagens. Auf dem letzteren war ebenfalls ein großer Haufen davon aufgeschnallt. Die vordere wie die hintere Schoßkelle waren damit angefüllt. Siebenundzwanzighundert Pfund davon hatten wir bei uns, wie der Kutscher sagte – »ein wenig für Brigham, für Carson und Frisco, aber das Meiste für die Indianer, die gewaltig eklig werden, wenn sie nicht immer eine Masse Zeug zu lesen haben.« Dabei verzog er jedoch sein Gesicht gräßlich, offenbar als Einleitung zu einem markerschütternden Ausbruch seiner Heiterkeit, und daran merkten wir, daß seine Bemerkung spaßhaft gemeint gewesen war, und hatte besagen sollen, wir würden unsere Postsachen zum größten Teile irgendwo auf der Ebene für die Indianer oder anderweitige Liebhaber abladen.

Alle zehn Meilen wechselten wir die Pferde, einen Tag wie den andern, und flogen lustig auf der harten ebenen Straße dahin. So oft der Wagen hielt, sprangen wir hinaus, um unsere Beine zu recken, und so fand uns die Nacht noch frisch und unermüdet.

Nach dem Abendessen stieg eine Frauensperson ein, die ungefähr fünfzig Meilen weiter zu Hause war und wir drei andern mußten nun abwechselnd beim Kutscher und Kondukteur Platz nehmen. Offenbar gehörte sie nicht zu den gesprächigen weiblichen Wesen. Da saß sie in dem immer mehr verblassenden Dämmerlicht und heftete ihre starren Augen auf eine Stechfliege, die sich an ihrem Arm festsog, dann erhob sie langsam die andere Hand, bis sie die Entfernung richtig abgemessen hatte, und versetzte ihr einen Schlag, der eine Kuh hätte zu Boden strecken können; hierauf betrachtete sie den Leichnam mit ruhiger Befriedigung – sie fehlte ihre Fliege niemals und traf ihr Ziel mit todbringender Sicherheit. Die Leiche beseitigte sie nie, ließ sie vielmehr als Köder liegen. Ich saß neben dieser grimmen Sphinx und sah zu, wie sie dreißig bis vierzig Fliegen totschlug – sah zu und wartete auf ein Wort aus ihrem Munde, jedoch vergeblich. So begann ich selbst endlich die Unterhaltung. Ich sagte:

»Die Stechfliegen sind recht schlimm hier herum, Madam.«

»Ah was!«

»Wie meinten Sie, Madam?«

»Ah was!«

Nun wurde sie munter und sagte, um sich blickend:

»Ich will verdammt sein, wenn ich euch Kerle nicht für Taubstumme gehalten habe. Ja, bei Gott. Da bin ich gesessen und gesessen und habe Fliegen totgeschlagen und mir den Kopf zerbrochen, was euch fehlt. Erst dachte ich, ihr wäret taubstumm, dann, ihr wäret krank oder verrückt oder so ‚was, und nach und nach kam ich darauf, ihr müsset ein paar traurige Narren sein, die nichts zu reden wissen. Woher kommt ihr?«

Die Sphinx war keine Sphinx mehr! Die Brunnen der großen Tiefe waren bei ihr aufgegangen und sie ließ alle neun Redeteile vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf uns herab regnen, bildlich gesprochen, und übergoß uns mit einer solchen trostlosen Sintflut trivialen Geschwätzes, daß aus der tosenden Wüste von grammatischen Fehlern und schlechter Aussprache nicht einmal eine Felsspitze oder Zacke mehr hervor schaute, an die sich eine Erwiderung hätte knüpfen lassen. Was mußten wir erdulden! Stunde für Stunde machte sie fort, bis es mir leid that, daß ich überhaupt die Moskitofrage eröffnet und ihr damit den Anstoß gegeben hatte. Erst, als sie gegen Tagesanbruch an ihrem Ziele anlangte, hörte sie endlich auf; beim Aussteigen weckte sie uns (wir waren nämlich eben ein wenig eingenickt) und sagte:

»Nun, steiget in Cottenwood aus, ihr Kerle, und bleibet ein paar Tage dort liegen, ich komme dann abends eine Weile hinüber, und wenn es euch recht ist, daß ich hie und da ein Wort dazwischen rede, so bin ich bereit dazu. Die Leute werden euch sagen, daß ich für eine Hinterwäldlerin immer etwas Vornehmes und Besonderes an mir gehabt habe, und so bin ich auch gegen das Lumpenpack und so muß ein Weibsbild auch sein, wenn sie was sein will, aber wenn Leute daherkommen, die meinesgleichen sind, so bin ich, glaub‘ ich, eigentlich ein ganz zuthuliches Kühlein.«

Wir beschlossen, in Cottenwood nicht liegen zu bleiben.

  1. Brigham Joung, das bekannte Oberhaupt der Mormonen.
  2. Abkürzung von San Francisco.

Drittes Kapitel

Drittes Kapitel

Etwa anderthalb Stunden vor Tagesanbruch rollten wir sanft dahin – so sanft, daß unsere Wiege nur ganz leise und sachte schaukelte. Dies hatte uns allmählich in Schlaf gelullt und unser Bewußtsein umnebelt, als plötzlich etwas unter uns nachgab! Wir hatten wohl eine undeutliche Empfindung davon, die Sache ließ uns jedoch gleichgültig. Jetzt hielt der Wagen an. Wir hörten Kutscher und Kondukteur draußen mit einander reden; sie suchten nach einer Laterne und fluchten, weil sie dieselbe nicht finden konnten – aber wir nahmen keinen Anteil an dem etwaigen Vorkommnis; der Gedanke an diese Leute, die draußen in der finstern Nacht beschäftigt waren, erhöhte nur unser Gefühl von Behaglichkeit und wir schmiegten uns fest in unser Nest hinter den herabgelassenen Vorhängen. Inzwischen hatten sich die beiden, nach dem Geräusch zu schließen, an eine Untersuchung gemacht und man hörte die Stimme des Kutschers sagen: »Bei Gott, der Schwungriemen ist gebrochen!«

Dies riß mich mit einemmale völlig aus dem Schlafe – wie dies stets der Fall ist, wenn das unklare Gefühl über einen kommt, daß ein Mißgeschick passiert ist. Ich hatte noch nicht lange darüber nachgedacht, was wohl ein ›Schwungriemen‹ sein könne, als einer der Vorhänge aufgehoben wurde und das Gesicht des Kondukteurs am Fenster erschien, wobei seine Laterne ihren Schein auf uns und unsere Wand von Postsachen warf. Er sagte: »Herrschaften, Sie werden einen Augenblick aussteigen müssen, der Schwungriemen ist auseinander!« Wir kletterten hinaus in ein frostiges Nebelgeriesel und fühlten uns recht unbehaglich und verdrießlich. Als ich entdeckte, daß der sogenannte Schwungriemen die feste Vereinigung von Riemen und Federn sei, auf denen die Kutsche sich schaukelt, sagte ich zu dem Kutscher: »Ich erinnere mich nicht, je in meinem Leben einen so abgenutzten Schwungriemen gesehen zu haben. Wie ist es denn gekommen?« –

»Nun, es ist gekommen, weil man einer einzigen Kutsche die Post von drei Tagen aufgeladen hat – dadurch ist es gekommen! Und gerade hierher sind alle die Zeitungssäcke adressiert, die wir für die Indianer hinauswerfen sollten, damit sie ‚was zum lesen haben und Ruhe halten. Es ist ein wahres Glück, denn es ist ja so höllisch finster, daß ich unversehens vorbeigefahren sein würde, wäre der Schwungriemen nicht gerissen.«

Ich wußte, daß er jetzt wieder an einem seiner Lachkrämpfe laborierte, obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, da er sich zu seiner Arbeit bückte; ich wünschte ihm gute Verrichtung und wandte mich zu den anderen, um ihnen beim Ausladen der Postsäcke zu helfen. Als alles heraus war, bildete es eine hohe Pyramide. Nachdem der Schwungriemen ausgebessert war, füllten wir die beiden Schoßkellen wieder, legten aber oben hinauf nichts mehr und innen hinein nur halb soviel, als zuvor drinnen gewesen war. Der Kondukteur drückte sämtliche Sitzlehnen hinab und füllte die Kutsche von einem Ende zum andern bis zur halben Höhe mit Postsachen an. Wir legten laut Verwahrung ein, denn so hatten wir keine Sitze mehr. Allein der Kondukteur war gescheiter als wir und meinte, ein Bett sei mehr wert als Sitze und außerdem sei bei dieser Einrichtung der Schwungriemen vor Schaden sicher. Jetzt verzichteten wir gerne auf unsere Sitze. Dieses Faulbett war unendlich viel besser. Es verschaffte mir in der Folge manchen recht heiteren Tag, wenn ich auf demselben ausgestreckt in den Statuten und dem Wörterbuch las und mich dabei an dem seltsamen Herumhüpfen der Buchstaben ergötzte. Der Kondukteur erklärte schließlich noch, er wolle von der nächsten Station aus jemand zur Bewachung der zurückgelassenen Poststücke schicken; dann ging es weiter.

Es war jetzt eben Morgendämmerung, und als wir unsere ermüdeten Beine ihrer vollen Länge nach auf den Postsachen ausgestreckt hatten und durch die Fenster über die weiten, öden, grünen, in kühlen, rauchartigen Nebel gehüllten Grasflächen nach dem verheißungsvollen Lichtstreifen am östlichen Himmelsrande hinschauten, ging das vollkommene Wohlbehagen, das wir empfanden, in ein stilles, seliges Entzücken über. Rasselnd sauste der Wagen die Straße entlang, der Luftzug blies die Vorhänge auf und ließ unsere aufgehängten Röcke höchst vergnüglich flattern; die Wiege schaukelte und schwankte großartig, dazu erklang als Musik das Trappeln der Pferdehufe, das Peitschenknallen des Postillons und sein anfeuerndes ›Hü, Hussa‹! Der Boden unter uns und die Bäume an der Straße schienen uns im Vorüberfliegen ein stummes Hurrah zuzurufen, um dann plötzlich zu erlahmen und uns mit einem Ausdruck nachzublicken, von dem man nicht recht wußte, war es Teilnahme oder Neid oder was sonst; und als wir nun so dalagen, die Friedenspfeife rauchend, und alle diese Herrlichkeiten mit den Jahren unseres früheren mühseligen Stadtlebens verglichen, fühlten wir, daß es nur ein vollkommen befriedigendes Glück auf der Welt gebe und daß uns das zuteil geworden.

Nach dem Frühstück auf einer Station, deren Namen mir entfallen ist, kletterten wir drei auf den Sitz hinter dem Kutscher und überließen dem Kondukteur unser Bett zu einem Schläfchen. Als mich die Sonne allmählich schläfrig machte, legte ich mich auf dem Wagendach auf das Gesicht, hielt mich an dem dünnen Eisengeländer fest und gab mich eine Stunde oder mehr dem Schlafe hin. Man wird sich darnach eine Vorstellung von der unvergleichlichen Güte der dortigen Straßen machen, können. Instinktmäßig greift man im Schlafe nach dem Gitter, sobald der Wagen stößt; so lange derselbe bloß wiegt und schaukelt, ist dieses gar nicht nötig. Die Kutscher und Kondukteure der Überlandpost schliefen bei guter Straße oft auf ihrem Sitz in einem Zuge dreißig bis vierzig Minuten lang, während wir acht bis zehn Meilen in der Stunde machten. Das habe ich oft mit angesehen. Es war ganz ungefährlich. Unfehlbar wird sich der Schlafende am Gitter halten, wenn der Wagen stößt. Die Leute hatten strengen Dienst und konnten nicht fortwährend wach bleiben.

Wir fuhren nun nach einander durch Marysville über den Big Blue und den Little Sandy, dann etwa nach einer weiteren Meile waren wir in Nebraska. Nach wiederum etwa einer Meile befanden wir uns am Big Sandy – hundertachtzig Meilen von St. Joseph. Gegen Sonnenuntergang erblickten wir das erste Exemplar eines Tieres, das auf der ganzen zweitausend Meilen langen Strecke von Kansas bis hart an den stillen Ozean unter dem Namen Eselskaninchen bekannt ist. Dieser Name ist ganz bezeichnend. Es gleicht völlig einem gewöhnlichen Kaninchen, nur ist es um ein Drittel größer oder wohl auch doppelt so groß, hat im Verhältnis zu seiner Größe längere Beine und die widersinnigsten Ohren, welche die Natur irgend einem Geschöpfe angesetzt hat außer dem Esel. Wenn es ruhig dasitzt und an seine Sünden denkt oder geistesabwesend ist oder keine Gefahr ahnt, so ragen seine mächtigen Ohren weithin sichtbar auf; allein das Brechen eines Zweiges genügt, um ihm einen tödlichen Schrecken einzujagen und dann legt es seine Ohren hübsch zurück und drückt sich heimwärts, Man sieht zunächst nichts mehr von ihm als seine langgestreckte, graue Gestalt, die blitzschnell durch die niedrigen Salbeibüsche hinschießt. Der Kopf ist aufgerichtet, die Augen stehen gerade aus und die Ohren sind ein wenig nach hinten gesenkt. An letztern bemerkt man stets, wo das Tier sich befindet. Dann und wann setzt es mit seinen langen Beinen hoch über die verdorrten Büsche weg mit einem gewaltigen Sprung, um den ein Pferd es beneiden könnte. Nach einiger Zeit verfällt es in einen anmutigen, gestreckten Trab, um plötzlich in rätselhafter Weise zu verschwinden. Es hat sich hinter einen Salbeibusch geduckt, wo es lauschend und zitternd sitzen bleibt, bis man ihm aus sechs Fuß nahe ist, um dann abermals auf und davon zu gehen. Will man das Tier jedoch in seiner ganzen bezaubernd großartigen Schnelligkeit bewundern, so muß man auf dasselbe schießen.

Wir jagten unser Exemplar gehörig ins Bockshorn, wie unser Kondukteur sich ausdrückte. Der Sekretär jagte es mit einem Schuß aus seiner Waffe auf, dann begann ich mit der meinen nach ihm zu spucken und zugleich krachte die ganze Breitsite des alten ›Allen‹ prasselnd los, und da ist es denn nicht zu viel gesagt, daß das Kaninchen rein toll war. Es senkte die Ohren, hob den Schwanz und verschwand mit Blitzesschnelligkeit in der Richtung auf St. Francisco. Lange nachher hörten wir es noch durch die Luft sausen. Wann wir zuerst auf Salbeigebüsch trafen, weiß ich nicht mehr, allein da ich dasselbe einmal erwähnt habe, so kann ich es auch gleich beschreiben. Das ist leicht gethan, denn man braucht sich nur einen knorrigen, ehrwürdigen Eichbaum zu einem Strauche von zwei Fuß Höhe verkleinert zu denken samt seiner rauhen Rinde, seinem Laubwerk, seinen gewundenen Ästen, kurz allem, was dazu gehört, um sich eine genaue Vorstellung vom Salbeibusch zu machen. Es ist der König der Wälder in höchst zierlicher Miniaturausgabe, dieser Salbeibusch. Sein Laub ist von einem gräulichen Grün und verleiht der Wüste und dem Gebirge allerorten diesen Farbenton. Die Blätter riechen und schmecken wie die des zahmen Salbei. Der Strauch ist eine merkwürdig zähe Pflanze und wächst mitten im tiefen Sande wie in kahlem Felsgestein, wo außerdem vom ganzen Pflanzenreiche höchstens noch das sogenannte Bunchgras sein Fortkommen suchen würde. (Dies letztere wächst an den frostigen Bergabhängen Nevadas und der angrenzenden Gebiete und bietet selbst im Winter unter dem Schnee ein treffliches Viehfutter, das nach der Versicherung der Viehzüchter an Nährwert fast alle sonst bekannten Sorten von Gras und Heu übertrifft.)

Die Büsche stehen drei bis sechs oder sieben Fuß weit von einander und überziehen Gebirge und Wüsten des fernen Westens bis hart an die kalifornische Grenze. Kein Baum irgend welcher Gattung auf Hunderte von Meilen, überhaupt kein Pflanzenwuchs, ist in der richtigen Wüste zu finden, außer dem Salbeibusch und seinem Vetter, dem ›Greasewood‹, der sich kaum merklich von jenem unterscheidet. Lagerfeuer und warmes Nachtessen wären in der Wüste nicht denkbar ohne den freundlichen Salbeibusch. Die Dicke seines Stammes bewegt sich zwischen der Stärke eines Knaben- und der eines Mannesarmes und seine gekrümmten Zweige erreichen die Hälfte dieser Stärke – alles gutes, gesundes, hartes Holz, dem Eichenholz ganz nahekommend.

Wenn man sich lagert, ist das erste, Salbeiholz zu schneiden, und in wenigen Minuten liegt ein reichlicher Haufen zum Gebrauche fertig da. Man gräbt ein Loch von je einem Fuß Breite, einem Fuß Länge und zwei Fuß Tiefe, und verbrennt dann das kleingemachte Salbeiholz in demselben, bis das Loch an den Rand mit glühenden Kohlen gefüllt ist. Dann beginnt das Kochen, bei dem es ohne Rauch und folglich auch ohne Fluchen abgeht. Ein solches Feuer hält mit nur wenigem Nachlegen die ganze Nacht vor; es giebt auch ein höchst gemütliches Lagerfeuer, bei dem man die allerunmöglichsten Erlebnisse glaublich, belehrend und unterhaltend findet.

Der Salbeistrauch liefert also ein vorzügliches Brennholz, als Nährpflanze dagegen verfehlt er seinen Zweck völlig. Kein anderes Wesen verträgt dessen Geschmack als der Esel und sein Bastardkind, das Maultier. Allein das beweist nichts für seine Eßbarkeit, denn diese letzteren sind ja auch imstande, Fichtenholz, Anthracitkohle, Feilspähne, Bleiröhren, alte Flaschen oder was ihnen sonst gerade mundgerecht kommt, zu verzehren und dann mit dankerfüllten Mienen vom Schauplatz abzutreten, als wäre es ein Austernschmaus gewesen. Dem Maultier, dem Esel und dem Kamel ist alles recht zur vorübergehenden Befriedigung ihres unersättlichen Hungers. In Syrien an den Jordanquellen ging einst ein Kamel während des Aufschlagens der Zelte hinter meinen Überzieher, den es mit kritischem Auge und mit einem Interesse durchmusterte, als hätte es vor, sich einen ebensolchen zu bestellen; nachdem es sich denselben dann in seiner Eigenschaft als Kleidungsstück genügend eingeprägt hatte, faßte es ihn als Nahrungsmittel ins Auge. Es trat mit dem einen Fuß darauf, riß sich den einen Ärmel mit den Zähnen ab, und kaute an demselben so lange fort, bis es ihn allmählich drunten hatte, und dabei öffnete und schloß es die ganze Zeit über abwechselnd die Augen wie in himmlischer Verzückung, als hätte es in seinem ganzen Leben nichts so gutes geschmeckt wie diesen Überzieher. Nach mehrfachem Schmatzen ging es an den andern Ärmel. Hierauf kostete es den Sammtkragen, und zwar mit einem so verklärten Lächeln, daß man deutlich sah, es betrachte diesen Teil als das zarteste Stück an einem Überzieher. Jetzt kamen die Schöße daran, in deren Taschen einige Zündhütchen. Hustenzucker und ein Stück Feigenpaste aus Konstantinopel steckten. Dabei fiel eine Anzahl Papiere heraus, und es machte sich gleich darüber her, – es waren meine für die heimischen Zeitungen bestimmten Manuskripte. Allein damit hatte es einen gefährlichen Boden betreten. Es traf in diesen Schriftstücken auf ein solides Wissen, das ihm doch ziemlich schwer im Magen lag, dazwischen hinein bekam es dann und wann einen Witz zu schlucken, worüber es sich schüttelte, bis ihm die Zähne wackelten; die Sache wurde jetzt allmählich bedenklich für das Tier, allein es hielt seine Beute voll Mut und Vertrauen fest, bis es zuletzt über Behauptungen stolperte, die selbst ein Kamel nicht ungestraft verschlucken kann. Es begann zu würgen und nach Luft zu schnappen, die Augen traten ihm heraus, es spreizte die Vorderbeine – und nach etwa einer Viertelminute fiel es um, so steif wie eine Hobelbank, und starb unter unbeschreiblichen Zuckungen. Ich ging hin und nahm ihm das Manuskript aus dem Maul, dabei fand ich, daß das empfindliche Geschöpf an einer der mildesten und zahmsten Behauptungen erstickt war, die ich je einem vertrauensvollen Publikum vorgesetzt hatte.

Vor dieser Abschweifung von meinem Gegenstand hatte ich eben noch bemerken wollen, daß man gelegentlich auch Salbeibüsche von fünf bis sechs Fuß Höhe mit entsprechendem Gezweige und Belaubung findet, allein zwei bis zweieinhalb Fuß ist das Gewöhnliche.

Der Fluß und seine Geschichte.

Der Fluß und seine Geschichte.

Es lohnt sich wohl der Mühe, von dem Mississippi zu lesen; er ist kein gewöhnlicher Fluß, sondern in jeder Beziehung merkwürdig. Betrachtet man den Missouri als seinen Hauptarm, so ist er der längste Fluß der Welt, volle viertausenddreihundert englische Meilen lang. Auch kann man mit Sicherheit behaupten, daß er der gekrümmteste Fluß der Welt ist, da er auf einem Teile seines Weges eintausenddreihundert Meilen weit fließt, um eine Entfernung zurückzulegen, welche in der Luftlinie nur sechshundertundfünfundsiebzig Meilen beträgt. Er ergießt dreimal so viel Wasser ins Meer wie der St. Lorenzstrom, fünfundzwanzigmal so viel wie der Rhein und dreihundertundachtunddreißigmal so viel wie die Themse. Kein anderer Strom entwässert ein so ungeheures Becken; er entnimmt sein Wasser achtundzwanzig Staaten und Territorien zwischen Delaware an der atlantischen Küste und Idaho an den Abhängen des Stillen Meeres, eine Entfernung von fünfundvierzig Längengraden. Der Mississippi nimmt das Wasser von vierundfünfzig geringeren Flüssen, die für Dampfboote schiffbar sind, und von einigen hundert, welche von Leichtern und Flachbooten befahren werden, in sich auf und führt es dem Golf zu. Das Areal des von ihm entwässerten Beckens ist so groß wie der Flächenraum von England, Wales, Schottland, Irland, Frankreich, Spanien, Portugal, Deutschland, Österreich, Italien und der Türkei zusammen, und fast das ganze weite Gebiet ist fruchtbar, das eigentliche Mississippithal sogar in hohem Grade.

Der Mississippi ist ein bemerkenswerter Fluß auch insofern, als er nach der Mündung zu nicht breiter wird, sondern sich verengert: er wird schmäler und tiefer. Von der Mündung des Ohio bis zu einem Punkte, etwa halbwegs abwärts nach dem Meere, beträgt die Breite bei hohem Wasserstande durchschnittlich eine englische Meile; von da verringert sich die Breite bis zum Meere stetig, bis sie bei den ›Pässen‹, oberhalb der Mündung, nur noch wenig mehr als eine halbe Meile ist. Am Ausfluß des Ohio ist die Tiefe des Mississippi siebenundachtzig Fuß; dann nimmt sie allmählich zu, bis sie eben oberhalb der Mündung einhundertundneunundzwanzig Fuß erreicht.

Ebenso ist der Unterschied beim Steigen und Fallen des Wassers, zwar nicht auf dem oberen, aber auf dem unteren Laufe des Flusses bemerkenswert. Bis nach Natchez (dreihundertundsechzig englische Meilen oberhalb der Mündung) hinab ist das Steigen ein ziemlich gleichmäßiges – etwa fünfzig Fuß: bei Bayou La Fourche steigt der Fluß aber nur vierundzwanzig, bei New-Orleans fünfzehn und gerade oberhalb der Mündung sogar nur zwei und einen halben Fuß.

Nach den Berichten erfahrener Fachleute entleert der Mississippi alljährlich vierhundertundsechs Millionen Tonnen Schlamm in den Golf von Mexiko, ein Quantum, das, zu einem festen Körper vereinigt, einen Flächenraum von einer englischen Quadratmeile bedecken und eine Höhe von zweihunderteinundvierzig Fuß haben würde. Die Schlammablagerungen lassen das Land allmählich anwachsen, doch geschieht dies nur sehr langsam, da dasselbe in den zweihundert Jahren, welche verflossen sind, seitdem der Fluß seinen Platz in der Geschichte eingenommen hat, nur um eine Drittelmeile vorgerückt ist. Die Gelehrten meinen, daß die Mündung des Flusses früher bei Baton Rouge, wo das hügelige Terrain aufhört, gelegen habe und daß die zweihundert Meilen Land zwischen dem genannten Punkte und dem Golf vom Flusse angeschwemmt worden seien. Daraus würde sich ohne Mühe das Alter dieses Landes auf einhundertundzwanzigtausend Jahre berechnen lassen.

Noch in einer anderen Beziehung ist der Mississippi bemerkenswert, nämlich durch seine Neigung, wunderbare Sprünge zu machen und schmale Landzungen zu durchschneiden, um auf diese Weise seinen Lauf zu begradigen und zu verkürzen. Mehr als einmal hat er sich mit einem einzigen Sprunge um dreißig englische Meilen verkürzt! Diese Richtwege haben seltsame Folgen gehabt: es sind dadurch verschiedene am Fluß gelegene Städte mitten in ländliche Distrikte hinein versetzt und vor ihnen Sandbarren und Wälder aufgebaut worden. Die Stadt Delta hat sonst drei Meilen unterhalb Vicksburg gelegen: ein vor einiger Zeit vom Flusse eingeschlagener Richtweg hat die Lage aber radikal geändert, denn Delta liegt jetzt zwei Meilen oberhalb Vicksburg.

Beide genannten Städte sind durch jenen Durchbruch vom Flusse ins Land hinein versetzt worden. Ein solcher Richtweg des Flusses zerstört zuweilen sogar die Staatsgrenzen: beispielsweise kann ein Mann, der heute im Staate Mississippi lebt, infolge eines über Nacht erfolgten Durchbruches sich und sein Land morgen auf der andern Seite des Flusses wiederfinden, wo er im Gebiete des Staates Louisiana ist und unter dessen Gesetzen steht! Passierte derartiges in den früheren Zeiten am oberen Lauf des Flusses, so konnte es vorkommen, daß ein Sklave auf solche Weise von Missouri nach Illinois versetzt und zum freien Manne wurde.

Der Mississippi verändert sein Bett aber nicht allein durch diese Durchbrüche, sondern auch noch in anderer Weise, und zwar dadurch, daß er sich seitwärts bewegt. Bei ›Hard Times‹ im Staate Louisiana fließt der Fluß jetzt zwei englische Meilen westlich von der Stelle, die er früher einnahm. Eine Folge davon ist, daß der ursprüngliche Ort dieser Niederlassung sich jetzt nicht mehr im Staate Louisiana befindet, sondern am andern Ufer, im Staate Mississippi liegt. Fast die ganze eintausenddreihundert englische Meilen lange Strecke des alten Mississippi, welche La Salle vor zweihundert Jahren mit seinen Kanoes befuhr, ist jetzt guter, fester, trockener Boden. An einzelnen Stellen fließt der Mississippi jetzt rechts, an anderen links von seinem alten Bette.

Während der Schlamm des Mississippi an der Mündung, wo die Wogen des Golfs ihn in Bewegung halten, nur langsam Land ansetzt, geschieht dies an besser geschützten Stellen weiter aufwärts um so viel schneller: beispielsweise maß die Propheteninsel vor dreißig Jahren nur eintausendfünfhundert Acker, die seitdem jedoch von dem Flusse um siebenhundert vermehrt worden sind.

Verlassen wir nun die physische Geschichte des Mississippi und wenden uns seiner historischen zu, wenn man so sagen darf. Die Welt und die Bücher pflegen das Wort ›neu‹ so oft in Verbindung mit unserem Lande zu gebrauchen, daß man bald den dauernden Eindruck gewinnt, als sei an demselben überhaupt nichts Altes. Wir wissen natürlich, daß es in der amerikanischen Geschichte einige verhältnismäßig alte Daten giebt, allein die bloßen Ziffern vermögen unserem Geiste keine richtige Idee, kein bestimmtes Bild von der Zeitperiode, welche sie repräsentieren, zu geben. Wenn einer sagt, daß De Soto, der erste Weiße, welcher den Mississippistrom sah, ihn im Jahre 1542 erblickte, so ist das eine Bemerkung, welche eine bloße Thatsache angiebt, ohne sie zu erklären: es ist dasselbe, wie wenn man die Dimensionen der untergehenden Sonne nach astronomischen Maßen und ihre Farben mit den wissenschaftlichen Namen angiebt; man hat dann die bloße Thatsache des Sonnenunterganges, kann sich von demselben aber kein Bild machen. Ebenso hat das Datum 1542 an und für sich für uns wenig oder gar keine Bedeutung; erst wenn man einige benachbarte historische Daten und Thatsachen um dasselbe gruppiert, gewinnt es Perspektive und Farbe und zeigt, daß es zu denjenigen amerikanischen Daten gehört, die ein ganz respektables Alter besitzen.

De Soto warf nur einen flüchtigen Blick auf den Fluß, starb dann und wurde von seinen Priestern und Soldaten in demselben begraben. Man sollte meinen, daß die Priester und Soldaten – nach damaliger spanischer Sitte – die Dimensionen des Flusses um das zehnfache vergrößert und dadurch andere Abenteurer veranlaßt hätten, sofort aufzubrechen, um ihn zu erforschen. Allein als ihre Schilderungen die Heimat erreichten, erregten sie keineswegs solch große Neugier, vielmehr verflossen volle einhundertunddreißig Jahre, bis der zweite Weiße den Mississippi besuchte. Heutigen Tages läßt man keinen so langen Zeitraum vorübergehen, wenn jemand etwas Wunderbares geschaut oder erlebt hat. Entdeckte jetzt jemand einen Bach in der Nähe des Nordpols, so würden Europa und Amerika sofort fünfzehn Expeditionen dorthin senden, die eine, um den Bach zu erforschen, die übrigen vierzehn, um sich gegenseitig aufzusuchen. Schon länger als einhundertundfünfzig Jahre waren an der atlantischen Küste Ansiedelungen der Weißen gewesen. Diese Leute standen in innigster Verbindung mit den Indianern: im Süden wurden letztere von den Spaniern beraubt, abgeschlachtet, zu Sklaven gemacht und bekehrt; weiter hinauf trieben die Engländer Tauschhandel mit den Indianern um Perlen und wollene Decken und schenkten ihnen die Zivilisation und den Branntwein; und in Kanada brachten die Franzosen ihnen die Elementarlehren bei, schickten Missionare zu ihnen und zogen zeitweilig ganze Stämme nach Quebec und später nach Montreal, um ihnen Pelze abzukaufen. Diese verschiedenen Gruppen von Weißen mußten notwendigerweise von dem großen Flusse des fernen Westens vernommen haben; sie hatten auch tatsächlich von ihm gehört, aber in so flüchtiger und unbestimmter Weise, daß sie sich kaum ein Bild von dem Lauf, den Verhältnissen und der Lage des Stromes machen konnten. Gerade das Geheimnisvolle der Sache hätte die Neugier anfachen und zur Nachforschung anspornen sollen, allein das geschah nicht. Offenbar wollte zufälligerweise niemand solchen Fluß haben, niemand brauchte ihn, niemand war neugierig auf ihn, und so blieb denn der Mississippi anderthalb Jahrhunderte lang außerhalb des Marktes und ungestört. Auch De Soto suchte, als er den Mississippi auffand, keinen Fluß und hatte im Augenblick keine Verwendung dafür; infolgedessen maß er ihm auch keinen Wert bei und schenkte ihm keine besondere Beachtung.

Schließlich kam der Franzose La Salle auf den Gedanken, den Fluß aufzusuchen und zu erforschen. Sobald jemand auf eine vernachlässigte, aber wichtige Idee verfällt, tauchen bekanntlich stets allenthalben Leute auf, welche von demselben Gedanken beseelt sind, und so geschah es auch hier.

Naturgemäß wirft sich da die Frage auf: Weshalb wollten diese Leute den Fluß jetzt haben, nachdem niemand ihn während der vorhergehenden fünf Generationen gewollt hatte? Offenbar weil man zu dieser späteren Zeit ein Mittel, ihn nutzbar zu machen, entdeckt zu haben meinte, denn man war zu der irrtümlichen Annahme gelangt, der Mississippi ergösse sich in den Golf von Kalifornien und böte daher einen kürzeren Weg für die Reise von Kanada nach China, während man vorher viel richtiger angenommen hatte, daß derselbe in das atlantische Meer oder die virginische See münde.