Neunzehntes Kapitel.
Am siebzehnten Tage kamen wir an den höchsten Berggipfeln, die wir bis jetzt erblickt hatten, vorüber, und obwohl der Tag sehr heiß war, folgte demselben eine wirklich kalte Nacht, gegen welche wir uns kaum mit unsern Decken zu schützen vermochten.
Am neunzehnten Tage begegneten wir auf der Station am Neese River den Leuten, die an der Telegraphenlinie nach dem Osten arbeiteten, und gaben eine Depesche an Se. Excellenz Gouverneur Nye zu Carson City auf. (Entfernung: hundertsechsundfünfzig Meilen.)
Am selben Tage kamen wir durch die große amerikanische Wüste vierzig denkwürdige Meilen grundlosen Sandes, in den die Wagenräder sechs Zoll bis einen Fuß tief einsanken. Den größten Teil dieser Strecke legten wir zu Fuß zurück, indem wir neben dem Wagen hergingen. Es war ein entsetzliches Ringen mit dem Sand und zugleich mit dem Durste, denn wir hatten kein Wasser. Von einem Ende dieser Wüste bis zum andern war die Straße ganz weiß von Ochsen- und Pferdeknochen. Ich könnte fast ohne Übertreibung behaupten, daß wir die vierzig Meilen weit Schritt für Schritt den Fuß auf einen Knochen hätten setzen können. Die ganze Wüste war ein ungeheurer Friedhof. Und die Hemmketten, Radschuhe und vermodernden Reste von Fuhrwerken waren fast ebenso dicht gesäet wie die Knochen. Ich glaube, die Hemmketten, die da vor unsern Augen verrosteten, hätten in jedem Staat der Union von einer Grenze zur andern gereicht. Geben uns diese Trümmer nicht ungefähr eine schwache Vorstellung von den furchtbaren Leiden und Entbehrungen, welche die frühesten Einwanderer nach Kalifornien zu erdulden hatten?
Am Rand der Wüste liegt der Carson-See, auch ›Carson-Sink‹ genannt, ein seichter, trübseliger Wasserspiegel von achtzig bis hundert Meilen Umfang. Der Carsonfluß mündet in denselben, um zu verschwinden – geheimnisvoll versinkt er im Boden und erblickt nie das Licht der Sonne wieder – denn der See hat keinerlei Ausfluß.
Es giebt mehrere Flüsse in Nevada, die dasselbe rätselvolle Geschick haben. Sie münden in verschiedene Seen oder ›Sinks‹ und werden nicht mehr gesehen. Der Carson-, Humbold-, Walter- und Mono-See sind große Wasserbecken ohne jeden sichtbaren Abfluß. Fortwährend fließt Wasser hinein, keines sieht man je abfließen, und doch bleiben sie stets eben voll, ohne abzunehmen oder überzulaufen. Was aus ihrem Überfluß wird, weiß nur der Schöpfer.
Am Westrand der Wüste machten wir einen Augenblick Halt in Ragtown. Es bestand aus einem einzigen Blockhause und ist auf der Karte nicht verzeichnet. Dabei fällt mir etwas ein. Gleich nach unserer Abfahrt von Julesburg, am Platte, saß ich beim Postillon. Dieser fing an:
»Ich kann Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen, wenn Sie gern zuhören wollen. Horace Greeley fuhr einstmals auf dieser Straße. Beim Abgang von Carson City sagte er zum Postillon, Hank Monk, er habe sich verbindlich gemacht, in Placerville einen Vortrag zu halten und wünsche dringend, rasch vorwärts zu kommen. Hank Monk ließ seine Peitsche knallen und fuhr in rasendem Tempo davon. Der Wagen hüpfte so schrecklich auf und nieder, daß alle Knöpfe an Horacens Rock absprangen und er schließlich geradezu mit dem Kopf durch die Wagendecke fuhr. Jetzt rief er Hank Monk zu und bat ihn, doch langsamer zu thun, er habe es jetzt nicht mehr so eilig als vor einer Weile. Aber Hank Monk meinte: ›Bleiben Sie nur ruhig sitzen, Horace, ich will Sie schon bei Zeiten hinbringen!‹ – und Sie können darauf wetten, daß er ihn zu rechter Zeit hinbrachte, das heißt, was noch von ihm übrig war.«
Einen oder zwei Tage darauf lasen wir an der Straßenkreuzung einen Mann aus Denver auf, der uns allerlei über die Umgegend und die Goldgruben von Gregory erzählte. Es schien ein recht unterhaltender Mensch zu sein, der über die Verhältnisse in Colorado gut Bescheid wußte. Nach einer Weile begann er:
»Ich kann Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen. Horace Greeley fuhr einstmals auf dieser Straße. Beim Abgang von Carson City sagte er zum Postillon, Hank Monk, er habe sich verbindlich gemacht, in Placerville einen Vortrag zu halten und wünsche dringend, rasch vorwärts zu kommen. Hank Monk ließ seine Peitsche knallen und fuhr in rasendem Tempo davon. Der Wagen hüpfte so schrecklich auf und nieder, daß alle Knöpfe an Horacens Rock absprangen und er schließlich geradezu durch die Wagendecke fuhr. Jetzt rief er Hank Monk zu und bat ihn, doch langsamer zu thun, er habe es jetzt nicht mehr so eilig als vor einer Weile. Aber Hank Monk meinte: ›Bleiben Sie nur ruhig sitzen, Horace, ich will Sie schon bei Zeiten hinbringen!‹ – und Sie können darauf wetten, daß er ihn zu rechter Zeit hinbrachte, das heißt, was noch von ihm übrig war.«
In Fort Bridger nahmen wir ein paar Tage darauf einen Kavalleriewachtmeister an Bord, einen sehr netten Menschen von echt soldatischem Wesen. Nirgends auf unserer langen Reise trafen wir sonst jemand, der uns einen solchen Vorrat an kurzer und guter Belehrung über militärische Dinge verschafft hätte. Es war ganz überraschend, in diesen verlassenen Einöden unseres Landes einen Mann von untergeordnetem Rang zu finden, der mit allem, was für seinen Lebensberuf zu wissen von Nutzen sein kann, so gründlich vertraut und dabei so anspruchslosen Wesens war. Volle drei Stunden hörten wir ihm mit ungemindertem Interesse zu. Schließlich kam er auf das Reisen über den Kontinent zu sprechen und auf einmal begann er:
»Ich kann Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen« – und erzählte wiederum wörtlich wie oben bis zu den Worten: »was noch von ihm übrig war.«
Acht Stunden nach unserer Abreise von der Salzseestadt stieg auf einer Zwischenstation ein Mormonenprediger ein – ein artiger Mann mit sanfter Stimme und freundlichem Wesen, zu dem jeder Fremde sich beim ersten Anblick hingezogen fühlen mußte. Nie kann ich den Ausdruck in seinen Augen vergessen, als er mit einfachen Worten die Wanderungen und grausamen Leiden seines Volkes schilderte. Keine Kanzelberedsamkeit war je so rührend und so schön, als das Bild, das dieser Fremdling von der Wanderung der ersten Mormonen durch die Prairieen entwarf, wie sie sich kummervoll nach dem Land ihrer Verbannung durchschlugen und ihren einsamen Pfad mit Gräbern bezeichneten und mit Thränen benetzten. Seine Worte ergriffen uns dergestalt, daß wir es alle als Erleichterung empfanden, als die Unterhaltung in eine heiterere Bahn einlenkte und man auf die Natureigentümlichkeiten des seltsamen Landes, in dem wir uns befanden, zu sprechen kam.
Ein Gegenstand nach dem andern wurde in angenehmer Weise erörtert, bis endlich der Fremde begann:
»Ich kann Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen« – wörtlich wie oben bis zu den Worten: »was noch von ihm übrig war.«
Zehn Meilen hinter Ragtown fanden wir einen armen Wanderer, der sich zum Sterben niedergelegt hatte. Er war so lange gegangen, als er es imstande war, allein seine Glieder hatten ihm schließlich den Dienst versagt. Hunger und Ermüdung hatten ihn überwältigt. Es wäre unmenschlich gewesen, ihn hier liegen zu lassen. Wir bezahlten für ihn Fahrgeld bis nach Carson und hoben ihn in den Wagen. Es dauerte eine kleine Weile, bis er die ersten entschiedenen Lebenszeichen gab, aber durch Reiben und Einflößen von Branntwein brachten wir ihn zuletzt einigermaßen zum Bewußtsein. Dann gaben wir ihm ein wenig zu essen, und nach und nach schien er seine Lage zu begreifen und ein Ausdruck von Dankbarkeit milderte den starren Blick seiner Augen. Wir machten es ihm auf dem Postbeutel-Bett so bequem als möglich und richteten ihm aus unsern Röcken ein Kopfkissen her. Er schien sehr dankbar dafür zu sein. Dann schaute er uns ins Gesicht und sagte mit schwacher Stimme, in der etwas wie zarte Rührung bebte:
»Meine Herren, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie haben mir das Leben gerettet; und wenn ich Ihnen dies auch niemals vergelten kann, so fühle ich doch, daß ich Ihnen wenigstens eine Stunde Ihrer langen Reise leichter zu machen vermag. Ich nehme an, Sie sind mit dieser großen Heerstraße nicht bekannt, ich dagegen bin ganz vertraut damit. In diesem Zusammenhang kann ich Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen, wenn Sie sie gerne hören wollen. Horace Greeley –«
Ich unterbrach ihn nachdrücklich mit den Worten: »Fremder Dulder, fahren Sie fort, wenn Sie es verantworten können. Sie sehen in mir den traurigen Schatten einer ehemals kraftvollen stolzen Männergestalt. Was hat mich so weit gebracht? Die Geschichte, die Sie eben auf der Zunge hatten. Langsam aber sicher hat diese alte langweilige Anekdote mir die Kräfte ausgesogen, die Gesundheit untergraben, das Leben ausgedörrt. Haben Sie Mitleid mit meiner Hilflosigkeit. Verschonen Sie mich nur damit und erzählen Sie mir lieber statt dessen vom jungen George Washington und seiner kleinen Axt.«
Wir waren gerettet, nicht aber unser Kranker. Bei dem Versuch, die Anekdote bei sich zu behalten, verfiel er in krampfhafte Zuckungen und verschied in unsern Armen.
Ich weiß jetzt, daß ich selbst vom stärksten Mann in jener ganzen Gegend nicht hätte verlangen sollen, was ich diesem bloßen Schatten eines Menschen zumutete, denn nach siebenjährigem Aufenthalt an der Küste des Stillen Ozeans weiß ich, daß kein Postillon oder Reisender auf der Überlandroute jemals diese Anekdote verkorkt bei sich behalten hat, ohne daran zu ersticken. Innerhalb von sechs Jahren reiste ich dreizehnmal mit der Post über die Gebirgszüge zwischen Nevada und Kalifornien hin und her und hörte dabei diese nicht umzubringende Geschichte vierhundertein- oder zweiundachtzigmal mit an. Ich habe ein Verzeichnis darüber in meinem Besitz. Die Postillone erzählten sie stets, die Kondukteure, die Wirte erzählten sie, jeder gerade einsteigende Passagier erzählte sie, sogar die Chinesen und wilden Indianer erzählten sie nach. Ich habe es erlebt, daß sie mir ein und derselbe Postillon an einem Nachmittag zwei- oder dreimal erzählte. Sie ist mir im Gewande jeder der vielen Sprachen entgegengetreten, die Babel der Welt vermacht hat, und gewürzt mit den Düften von Whiskey, Brandy, Bier, Eau de Cologne, Sozodont, Tabak, Knoblauch, Zwiebeln und Heuschrecken, kurz von allem, was auf der langen Liste aller Dinge, welche durch Mund und Nase des Menschen eingehen, einen Duft an sich hat. Nie habe ich eine Geschichte so oft zu riechen bekommen, als diese, und nie habe ich eine gerochen, die so verschiedenartig roch. Und dabei war es nicht einmal möglich, sie am Geruch zu erkennen, weil sie jedesmal, so oft man meinte, man habe ihren Geruch los, wieder mit einem andern Duft auftrat. Bayard Taylor hat über diese uralte Geschichte geschrieben, Richardson hat sie veröffentlicht, desgleichen Jones, Smith, Johnson und Roß Browne und jedes sonstige, Korrespondenzen liefernde Wesen, das irgend einmal zwischen Julesburg und S. Francisco den Fuß auf die große Überlandroute setzte; ja, wie man mir sagt, steht sie sogar im Talmud. Ich habe sie in neun verschiedenen Sprachen gedruckt gelesen; wie es heißt, bedient sich die Inquisition in Rom derselben, und jetzt vernehme ich mit betrübtem Herzen, daß sie in Musik gesetzt werden soll. Das halte ich nicht für erlaubt.
Die Überlandpost geht nicht mehr, und das Geschlecht der Postillone ist ausgestorben. Ich möchte wissen, ob sie diese Urgroßvatergeschichte ihren Nachfolgern, den Eisenbahnbremsern und Schaffnern, vermacht haben, und ob diese letzteren den schutzlosen Reisenden noch immer damit verfolgen, bis er zu der Überzeugung gelangt, die wahren Wunder der Küste des Stillen Ozeans seien nicht in Yosemite und den Riesenbäumen, sondern in Hank Monk und seinem Abenteuer mit Horace Greeley zu erblicken.
Und was diese abgedroschene Anekdote noch unausstehlicher macht, das ist, daß das Abenteuer, das sie verherrlicht, sich niemals zugetragen hat. Wäre die Geschichte gut, so läge in diesem scheinbaren Mangel gerade ihr größter Vorzug, denn Schöpferkraft gehört zur Größe; was hat dagegen derjenige verdient, der mutwillig eine solche platte Mär verbricht? Wollte ich sagen, was nach meinem Dafürhalten mit ihm geschehen sollte, man würde es übertrieben finden. Aber was steht im Propheten Daniel Kapitel 16? Aha! –