Zwölftes Kapitel.
Gleich hinter der Frühstücksstation holten wir einen Zug mormonischer Auswanderer von dreiunddreißig Wagen ein. Müde einherschreitend und ihre Viehherde vor sich hertreibend, kamen Dutzende grob gekleideter Männer, Weiber und Kinder mit trübseligen Mienen an uns vorüber, die so wie heute acht endlose Wochen lang Tag für Tag marschiert waren, um eine Strecke zurückzulegen, die wir mit der Post in acht Tagen und drei Stunden durchmessen hatten – siebenhundertachtundneunzig Meilen. Sie waren staubüberzogen und ungekämmt, ohne Kopfbedeckung, zerlumpt und sahen, ach, so müde aus!
Nach dem Frühstück nahmen wir ein Bad im Horse Creek, einem (voreinst) klaren, perlenden Bache – ein sehr schätzenswerter Genuß – denn es kam höchst selten vor, daß unsre rasende Kutsche lange genug hielt, um uns etwas derartiges zu gestatten. Alle vierundzwanzig Stunden wechselten wir zehn- oder zwölfmal die Pferde – oder vielmehr die Maultiere – sechs Maultiere – und dazu brauchten wir fast immer nur vier Minuten. Da ging es lebhaft zu. Sobald unsre Kutsche an der Station angerasselt kam, schritten sechs angeschirrte Maultiere frisch und munter aus dem Stalle; und fast mit Augenblickesschnelle war der alte Zug aus- und der neue eingespannt und wir schon wieder auf und davon.
Während des Nachmittags kamen wir an Sweetwater Creek, Independance Rock, Devils Gate und Devils Gap vorüber. Die letzteren boten eine wilde, hochromantische und interessante Scenerie – wir waren jetzt im Herzen der Felsengebirge. Auch am ›Alkali-‹ oder ›Soda-See‹ kamen wir vorbei; und als der Postillon bemerkte, daß die Mormonen häufig von der Salzseestadt aus hieher kämen, um Saleratus zu holen, kam es uns doch recht zum Bewußtsein, daß wir schon ein hübsches Stückchen Welt durchreist hatten. Erst wenige Tage vorher hätten sie zwei Wagenladungen reinen Saleratus vom Boden des Sees (dieser lag trocken) aufgeschaufelt, der nichts koste und den sie zu Hause für fünfundzwanzig Cents das Pfund verkaufen könnten.
In der Nacht fuhren wir an einer höchst beachtenswerten Merkwürdigkeit vorüber, von der wir seit einem oder zwei Tagen viel hatten reden hören und auf die wir sehr begierig waren. Es war dies sozusagen ein natürlicher Eiskeller. Es war jetzt August und unter Tags glühend heiß, und doch brauchte man auf einer Station den Boden unter einigen Felsbrocken am Bergesabhang nur sechs Zoll tief aufzuscharren, um reine Eisblöcke herauszuschneiden – hart, festgefroren und kristallklar!
Gegen Morgengrauen gingen wir wieder unter Segel, und während wir eben bei aufgezogenen Vorhängen unsere Morgenpfeife genossen und den ersten Schimmer der aufgehenden Sonne betrachteten, wie er an der langen Reihe von Bergkuppen hinschwebte und Zacke um Zacke, Gipfel um Gipfel vergoldete, als wenn der unsichtbare Schöpfer Heerschau über seine Veteranen hielte und diese ihm lächelnd ihren Gruß entböten, kamen wir in Sicht der Südpaßstadt. Der Gasthofbesitzer, der Postmeister, der Grobschmied, der Bürgermeister, der Konstabler, der Stadtmarschall und der ansehnlichste Bürger und Hausbesitzer, sie allesamt kamen freundlich grüßend heraus und wir wünschten ihnen guten Tag. Sie erzählten uns einiges von den Indianern und aus dem Gebirge, und wir berichteten dagegen etwas von den Ebenen. Dann zogen die Herrschaften sich in ihre einsame Größe zurück, während wir zwischen den wolkenumhangenen Felszacken weiter aufwärts kletterten. Die Südpaßstadt bestand aus vier Blockhütten, worunter eine noch unfertige, und zählte zehn Bürger. Der vornehmste derselben vereinigte in seiner Person die sämtlichen oben erwähnten Ämter und Titel. Man denke nur: Gasthofbesitzer, Postmeister, Grobschmied, Bürgermeister, Konstabler, Stadtmarschall und erster Bürger – alles zu einer Person verdichtet und in eine Haut gestopft! Bemis meinte, das sei ein wahrer Allen-Revolver von Würden, sollte der Mann, in seiner Eigenschaft als Postmeister oder als Grobschmied, oder auch am Ende in diesen beiden Eigenschaften mit Tod abgehen, so wäre das vielleicht für die Bürgerschaft noch zu ertragen; müßte er dagegen in all seinen Eigenschaften zugleich sterben, so wäre dies ein ganz entsetzlicher Verlust für die Gemeinde.
Und so waren wir denn endlich in dem berühmten Südpasse und rollten lustig über der gemeinen Welt dahin. Wir fuhren auf der höchsten Stelle der Hauptkette des Felsengebirges, nach der wir Tag und Nacht geduldig, unablässig emporgeklettert waren, inmitten einer Versammlung von Bergkönigen, die ihre Häupter zehn-, zwölf-, ja dreizehntausend Fuß erhoben. Diese Sultane des Gebirges trugen Turbane aus zusammengeballten Wolkenmassen, die sich bisweilen in einzelne Fetzen auflösten und zerfranst und zerzaust davonschwebten, ihre langgedehnten Schatten hinter sich her schleifend, bis sie bald wieder an einem Felshorn hängen blieben. Sie hüllten dasselbe eine Zeitlang brütend ein und zogen darauf abermals in Fetzen davon, indem sie die Felsenspitze mit einer flaumigen Decke blendend weißen Schnees zurückließen. Im Vorüberschweben hingen diese riesigen Wolkenfetzen tief herab und fegten dicht über unsern Köpfen hin, so daß die Fransen uns fast das Gesicht streiften und wir dann allemal uns unwillkürlich versucht fühlten zurückzufahren.
Wir rollten lustig weiter und kamen jetzt, auf dem eigentlichen Gipfel, an eine Quelle, welche ihr Wasser durch zwei verschiedene Abflüsse nach entgegengesetzten Richtungen sandte. Wie der Kondukteur erklärte, ging der eine der beiden vor unsern Augen dahinfließenden Bäche geradeswegs durch Hunderte, ja Tausende von Meilen wüsten, öden Landes dem Kalifornischen Busen des stillen Ozeans zu, während der andere die Schneegipfel seiner Geburtsstätte verließ, um eine ähnliche noch mühseligere Reise nach Osten anzutreten. Er plätscherte über die Abhänge und durch die Schluchten des Gebirges, lief weiter zwischen den Ufern des Yellowstone und gelangte endlich im Schoße des Missouri und des Mississippi nach zwei langen Monaten voll von Vergnügen, Abenteuern und Gefahren bis in den Mexikanischen Golf, um dort am Busen der tropischen See zur Ruhe zu gehen und die heimischen Schneegipfel auf ewig zu vergessen.
Ich gab einem Blatt in Gedanken eine Botschaft an die Freunde in der Heimat mit und ließ es in den Bach fallen. Allein da ich keine Postmarke darauf klebte, so ist dasselbe irgendwo unterwegs nicht weiter befördert worden.
Noch oben auf der Höhe holten wir einen Auswandererzug mit vielen Wagen, vielen müden Männern und Weibern und vielen maßleidigen Schafen und Kühen ein. In dem traurig mit Staub überzogenen Reiter, der den Zug anführte, erkannte ich John ***. Von allen Menschen auf der Welt war er der letzte, dem ich auf dem Kamm des Felsengebirges, Tausende von Meilen fern von der Heimat zu begegnen erwartet hätte. Wir waren Schulkameraden und Jahre lang warme Freunde gewesen. Ein Knabenstreich von meiner Seite hatte jedoch die Freundschaft zerrissen, und dieselbe war nicht wieder angeknüpft worden. Der Vorfall, den ich meine, war der folgende. Ich besuchte manchmal einen Zeitungsredakteur, dessen Zimmer drei Treppen hoch lag und auf die Straße ging. Eines Tages erhielt ich von ihm eine Wassermelone, die ich sofort zu verspeisen Anstalt machte, als ich zufällig aus dem Fenster schaute und John gerade unter demselben stehen sah. Ein unwiderstehliches Verlangen wandelte mich an, John die Melone auf den Kopf fallen zu lassen, was ich denn auch sogleich that. Ich hatte den Schaden davon, denn die Melone ging entzwei und John verzieh es mir nie, wir brachen unsern Verkehr völlig ab und kamen auseinander; jetzt, unter solchen Umständen trafen wir uns wieder.
Wir erkannten uns gleichzeitig und drückten uns die Hände so warm, als hätte nie eine Erkältung zwischen uns bestanden und erwähnten dieselbe auch mit keiner Silbe. Alle Empfindlichkeiten waren begraben, und die einfache Thatsache, an dieser einsamen Stelle so ferne der Heimat ein bekanntes Gesicht anzutreffen, genügte, um uns alles vergessen zu lassen außer den angenehmen Erinnerungen. Als wir uns wieder trennen mußten, erklang ein aufrichtiges ›Lebe wohl‹ und ›Gottes Segen mit dir‹ von beiden Seiten.
Manche saure Stunde lang waren wir die langgestreckten Schultern des Felsengebirges hinaufgeklettert – jetzt ging es wieder abwärts. Und es ging in keinem schlechten Tempo.
Wir ließen die schneebedeckten Windriver Berge und das Uinta-Gebirge hinter uns und jagten weiter, stets durch prächtige Landschaften, aber auch gelegentlich an langen Reihen von Maultier- und Ochsengerippen vorüber – Denkmälern der gewaltigen Auswanderung früherer Tage – und da und dort bemerkte man senkrecht in die Erde gesteckte Pfähle und kleine Steinhaufen, welche, wie der Postillon sagte, die Ruheplätze wertvollerer Überreste bezeichneten. Für ein Grab konnte es keinen einsameren Platz geben. Hier herrschte der Cayote und der Rabe – damit ist die völlig trostlose Einöde genügend bezeichnet. In feuchten, trüben Nächten strömte von diesen verstreuten Gerippen ein fahles, gespenstiges Glühlicht aus, so daß die öde Fläche an manchen Stellen wie von schwachem Mondschein beleuchtet dalag. Diese Erscheinung rührte von dem in den Knochen enthaltenen Phosphor her. Allein trotz dieser wissenschaftlichen Erklärung konnte man sich doch eines Schauders nicht erwehren, wenn man an einem dieser gespenstischen Lichter vorüberkam und sich vorstellte, daß dasselbe von einem Totenschädel ausging.
Um Mitternacht fing es an zu regnen, wie ich es noch nie in meinem Leben gesehen habe – das heißt, ich sah auch diesmal nichts davon, weil es zu finster war. Wir zogen die Vorhänge fest herunter und verstopften die Fenster sogar noch mit Kleidungsstücken, aber der Regen strömte demungeachtet an Dutzend Stellen herein. Da war kein Entrinnen. Zog man seine Füße aus einem Strom heraus, so geriet man mit dem Oberkörper in einen andern; und brachte man diesen beiseite, so traf er einen sonst irgendwo. Strampelte man sich aus den triefend nassen Decken heraus und setzte sich auf, so mußte man sich einen Wasserfall ins Genick fließen lassen. Inzwischen irrte unsere Kutsche über eine Ebene voll gähnender Löcher hin; der Postillon war nämlich nicht imstande, eine Spanne weit zu sehen und konnte sich nicht auf der Straße halten; und der Sturm peitschte so unbarmherzig, daß es keine Möglichkeit gab, die Pferde zum Stillstehen zu bringen. Sobald das Unwetter etwas nachließ, machte sich der Kondukteur mit einer Laterne auf, um die Straße zu suchen, und fiel dabei gleich in einen etwa vierzehn Fuß tiefen Abgrund hinab, wobei ihm seine Laterne nachflog wie eine Sternschnuppe. Sobald er Boden unter den Füßen hatte, schrie er wie toll: »Nur nicht daher kommen!« worauf der Postillon, der über den Abhang blickte, hinter welchem jener verschwunden war, mit beleidigter Miene versetzte: »Halten mich scheint’s für einen verdammten Esel?«
Über eine Stunde brauchte der Kondukteur, bis er die Straße aufgefunden hatte, – daraus konnten wir entnehmen, wie weit wir uns verirrt hatten und was uns alles hätte begegnen können. An zwei Stellen verfolgte er die Spuren unsrer Räder bis hart an den Rand drohender Gefahr. Ich war immer froh darüber, daß wir in jener Nacht nicht umkamen.
An unserm zehnten Reisetage morgens setzten wir über den Green River, einen schönen, breiten, klaren Fluß, in dem wir so tief steckten, daß das Wasser bis an den oberen Rand unseres Postsackbettes reichte. Wir mußten auf Vorspannpferde warten, um uns das steile Ufer hinaufziehen zu lassen. Es war recht kühles Wasser, das uns übrigens nirgends nässer zu machen vermochte, als wir zuvor schon waren.
Auf der Green River-Station nahmen wir unser Frühstück ein – warme Biskuits, frische Antilopensteaks und Kaffee – die einzige ordentliche Mahlzeit, die wir zwischen den Vereinigten Staaten und der Salzseestadt zu kosten bekamen, und die einzige, für die wir wirklich dankbar waren. Man stelle sich nur die einförmige Abscheulichkeit der dreißig vorhergehenden vor und man wird es begreifen, daß dies eine einfache Frühstück nach so vielen Jahren noch wie ein Wartturm in meiner Erinnerung emporragt.
Um fünf Uhr nachmittags erreichten wir Fort Bridger, hundertsiebzehn Meilen vom Südpaß und tausendfünfundzwanzig von St. Joseph entfernt. Zweiundfünfzig Meilen weiter, in der Nähe des Eingangs zum Echo Cañon, stießen wir auf sechzig Soldaten der Vereinigten Staaten von Camp Floyd. Dieselben hatten den Tag vorher auf drei- oder vierhundert Indianer gefeuert, die sich ihrer Überzeugung nach in keiner guten Absicht zusammengeschart hatten. In dem darauffolgenden Gefechte waren vier Indianer zu Gefangenen gemacht und der Haupthaufen vier Meilen weit gejagt, aber niemand getötet worden. Wir wollten zuerst aussteigen und uns den sechzig Soldaten anschließen; als wir uns jedoch überlegten, daß die Indianer vierhundert Mann stark seien, beschlossen wir, weiterzufahren und uns den Rothäuten zuzugesellen.
Der Echo-Cañon hat eine Länge von zwanzig Meilen. Er hatte das Ansehen einer langen, ebenen, engen Straße, die sich allmählich senkte und von ungeheuren, senkrecht aufsteigenden, roh gefügten Mauern, an vielen Stellen vierhundert Fuß hoch und von Türmen wie mittelalterliche Burgen überragt, eingeschlossen war. Es war die tadelloseste Wegstrecke im ganzen Gebirge, so daß der Postillon meinte, da wolle er sein Gespann einmal laufen lassen. Dies that er denn auch; und wenn die Eilzüge nach dem Stillen Ozean jetzt etwa noch rascher durchsausen, als wir damals mit unserer Postkutsche, so beneide ich die Passagiere um ihr Vergnügen. Es war, als ob wir nicht mehr auf Rädern fuhren, sondern nur noch flögen, und die Postsachen schwebten geradezu frei in der Luft. Ich bin kein Freund von Übertreibungen, und wenn ich etwas sage, so ist es auch so.
Indes, die Zeit drängte. Um vier Uhr nachmittags langten wir auf der Höhe des Big Mountain, fünfzehn Meilen von der Salzseestadt, an, während eben die sinkende Sonne die Welt mit ihren Strahlen verklärte und sich plötzlich ein wunderbares Panorama von Berggipfeln, das alles bisher Geschaute übertraf, vor unsern Blicken ausbreitete. Über uns wölbte sich ein glänzender Regenbogen, während wir das erhabene Bild betrachteten. Selbst der Postillon hielt seine Pferde an, um zu schauen.
Vielleicht eine halbe Stunde später wechselten wir die Pferde und speisten bei einem mormonischen ›Würgengel‹ zu Abend. ›Würgengel‹ sind, soviel ich verstand, ›Heilige des jüngsten Tages‹, die von der Kirche mit der besonderen Aufgabe betraut sind, beständig für das Verschwinden solcher Bürger zu sorgen, die sich überlästig gemacht haben. Ich hatte viel von diesen mormonischen Würgengeln und von ihren dunkeln, blutigen Thaten gehört, so daß ich beim Betreten dieses Hauses auf einen gehörigen Schauder gefaßt war. Aber, o wehe, all unsre Romantik war sofort verflogen – wir trafen nichts als einen lärmenden, gemeinen, schimpfenden Schurken! Mordgierig genug war er vielleicht wohl, um das Amt eines Würgers zu versehen, aber wer möchte sich wohl irgend eine Art von Engel ohne alle Würde und Hoheit vorstellen? Wer wollte sich einen Engel in unsauberem Hemd und ohne Hosenträger gefallen lassen? Und wer könnte einem Engel Ehrfurcht zollen, der wiehert, statt zu lachen, und aufschneidet wie ein Bukanier?
Noch mehr solcher Schufte waren da – Kameraden des ersteren; außerdem auch ein anständig aussehender, großer, wohlgewachsener junger Mann von vielleicht dreißig Jahren. Eine Schar schlampiger Weiber trippelte eilig mit Kaffeekannen, Tellern voll Brot und sonstigem Zubehör zum Abendessen hin und her, und das sollten die Frauen des Engels sein oder wenigstens einige derselben. Und natürlich war es so; denn wären sie gemietete ›Aushilfen‹ gewesen, sie hätten sich dieses über sie Hineinwettern und Fluchen von dem himmlischen Engel gewiß nicht gefallen lassen.
Dies war die erste Bekanntschaft, die wir mit der ›eigentümlichen Einrichtung‹ des Westens – wie der Mormonenstaat diplomatisch bezeichnet wird – machten, und dieselbe war nicht gerade einnehmender Art. Wir hielten uns mit deren Beobachtung auch nicht weiter auf, sondern eilten weiter, der Heimat der ›Heiligen des jüngsten Tages‹, der Burg des Propheten, der Hauptstadt des einzigen absoluten Alleinherrschers in Amerika – der Großen Salzseestadt, zu. Da die Nacht hereinbrach, so nahmen wir Herberge im Salzseehotel und packten unsere Sachen aus.