3.

Nachdem Stefan Arkadjewitsch angekleidet war, besprengte er sich mit Wohlgerüchen, zerrte die Ärmelmanschetten vor, steckte in gewohnheitsmäßiger Bewegung Cigaretten in die Taschen, sein Portefeuille, Streichhölzer, seine Uhr mit doppelter Kette und einem Berloque und schüttelte das Taschentuch auf. Er fühlte sich gesäubert und parfümiert, gesund und äußerlich heiter, ungeachtet seines Unglücks und ging nun nach dem Speisezimmer, wo seiner schon der Kaffee harrte und zugleich mit diesem Briefe und die Akten aus dem Gerichtshof.

Er las die Briefe. Einer war ihm sehr unangenehm; er kam von einem Kaufmanne, der einen Wald aus dem Besitztum seiner Frau gekauft hatte. Dieser Wald mußte unweigerlich verkauft werden, aber jetzt, vor einer Aussöhnung mit ihr, konnte davon keine Rede sein. Das Peinlichste hierbei war, daß sich somit das pekuniäre Interesse mit der Versöhnung seiner Gattin vereinte. Der Gedanke aber, daß er diesem Interesse Rechnung tragen müsse, daß er zum Verkauf des Waldes seiner Frau Verzeihung nachsuchen müßte – dieser Gedanke kränkte ihn.

Nachdem er mit den Briefen fertig war, zog Stefan Arkadjewitsch die Akten an sich; schnell durchblätterte er zwei Aktenstücke, mit einem großen Bleistift Bemerkungen hineinzeichnend und widmete sich alsdann dem Kaffee. Hierbei entfaltete er die noch druckfeuchte Morgenzeitung und vertiefte sich in die Lektüre.

Stefan Arkadjewitsch hielt sich eine liberale Zeitung, nicht von schärfster Farbe, sondern eine von jener Richtung, der die Mehrzahl folgt. Obwohl ihn weder Wissenschaft noch Kunst oder Politik besonders anzogen, so verfolgte er doch aufmerksam alle jene Fragen, mit denen sich die Allgemeinheit, sowie auch seine Zeitung befaßte, und änderte seine Meinungen, sobald dies die große Masse that – oder besser, er veränderte sie nicht, sondern sie änderten sich in ihm, ohne daß er selbst es merkte.

Stefan Arkadjewitsch wählte sich weder Richtungen noch Ansichten, sondern solche kamen ihm von selbst, ganz ebenso, wie er selbst nicht die Façon eines Hutes oder Überziehers wählte, sondern nahm, was man ihm brachte. Eine Ansicht zu haben, war aber für ihn, der in der großen Gesellschaft lebte, bei der Notwendigkeit einer gewissen geistigen Thatkraft, die sich gewöhnlich in den Jahren der Reife entwickelt, ebenso unumgänglich, wie der Besitz eines Hutes. Bot sich ein Grund, die liberale Gesinnung der konservativen vorzuziehen, die ja viele innerhalb seiner Gesellschaftskreise auch besaßen, so geschah dies nicht deshalb, daß er sie für vernünftiger gehalten hätte, sondern deshalb, weil sie sich ihm für seine Lebensformen enger accommodierte. Die liberale Partei sagte, es sei in Rußland alles schlecht, und in der That, Stefan Arkadjewitsch hatte viele Schulden und sein Geld reichte nie zu. Die liberale Partei sagte die Ehe sei eine abgelebte Institution, die unfehlbar der Reorganisierung bedürfe, und in der That, das Familienleben gewährte ihm wenig Annehmlichkeit und zwang ihn zur Lüge und Verstellung, die doch sonst seiner Natur so fremd waren. Die liberale Partei sagte, oder vielmehr, klügelte, die Religion sei nur ein Zaum für den barbarischen Teil der Menschheit, und in der That, Stefan Arkadjewitsch konnte nicht ohne Schmerz in den Füßen ein Gebet anhören, und vermochte nicht zu begreifen, wozu alle die furchterregenden und schwülstigen Worte über jene Welt gemacht würden, wenn das Leben in dieser doch auch so schön sein soll. Bei alledem machte es Stefan Arkadjewitsch, der einen lustigen Scherz liebte, Vergnügen, bisweilen einen friedsamen Menschen damit zu verblüffen, daß, wenn man auch stolz sein könne auf seinen Stammbaum, man deshalb noch nicht bei Rurik damit anzufangen brauche und als ersten Stammvater – den Affen nicht von sich weisen dürfe. So also wurde die liberale Richtung Stefan Arkadjewitsch zur Gewohnheit; er liebte seine Zeitung wie eine Cigarre nach dem Mittagsmahl, wegen des leichten Nebels, den sie in seinem Hirn erzeugte. Er las den Leitartikel, in welchem auseinandergesetzt wurde, daß man in unserer Zeit ein völlig unnützes Gejammer darüber erhebe, als drohe der Radikalismus alle konservativen Elemente zu verschlingen und daß die Regierung verpflichtet sei, Maßregeln zur Unterdrückung der Hydra der Revolution zu treffen; vielmehr liege nach der Meinung der Liberalen die Gefahr nicht in der vermeintlichen Hydra der Empörung, sondern in der Hartnäckigkeit der Tradition, welche den Fortschritt hemmte.

Er las auch einen zweiten Artikel über die Finanzen, in welchem dem Ministerium Seitenhiebe versetzt wurden. Mit der ihm eigenen schnellen Auffassungsgabe verstand er die Bedeutung einer jeden Seitenbemerkung; von wem sie herrührte, für wen sie bestimmt war und auf welchen Umstand sie sich bezog; dies alles verursachte ihm, wie immer, ein gewisses Vergnügen.

Heute indessen wurde dieses Vergnügen vergällt durch die Erinnerung an die Ratschläge der Matrjona Philimonowna und an das Unglück in seinem Hause.

Er las weiterhin auch, daß der Graf Beust wie man höre, nach Wiesbaden gereist sei und ferner, wie man keine grauen Haare mehr zu fürchten habe; auch vom Verkauf eines leichten Wagens und von der Offerte eines jungen Mädchens. Allein alle diese Nachrichten verursachten ihm nicht jenes stille ironische Vergnügtsein, wie vordem.

Nachdem er mit der Zeitung zu Ende war, sowie mit einer zweiten Tasse Mokka und seiner Buttersemmel, erhob er sich, schüttelte die Brosamen der Semmel von seiner Weste ab und reckte mit zufriedenem Lächeln die breite Brust, nicht daß ihm ein besonders angenehmer Gedanke gekommen wäre – nur seine gute Verdauung rief das Lächeln hervor.

Aber dieses zufriedene Lächeln erinnerte ihn sogleich wieder an alles und er wurde nachdenklich.

Zwei Kinderstimmen – Stefan Arkadjewitsch erkannte die Stimmen Grischas, seines kleinsten Söhnchens, und Tanas, seiner ältesten Tochter – wurden hinter der Thür vernehmbar. Die Kinder trugen wohl etwas und hatten dies fallen lassen.

»Ich habe gesagt, daß man auf das Dach doch nicht Passagiere setzen kann!« rief das Mädchen auf englisch, – »heb auf!« –

»Es ist alles durcheinandergeraten,« dachte Stefan Arkadjewitsch, »die Kinder laufen schon allein umher.« Er ging zur Thür und rief. Die Kleinen hatten eine Schatulle hingeworfen, die einen Eisenbahnzug vorstellen sollte; sie eilten nun auf den Vater zu.

Das kleine Mädchen, der Liebling des Vaters lief dreist herein, umarmte ihn und hängte sich lachend an seinen Hals, wie stets sich ergötzend an dem Wohlgeruch des Parfüms, welcher von seinem Backenbart ausströmte. Nachdem es ihm endlich das von der gebückten Stellung gerötete und voll Zärtlichkeit schimmernde Gesicht geküßt und die Händchen zurückgezogen hatte, wollte es fortlaufen, aber der Vater hielt sein Kind zurück.

»Was macht Mama?« frug er, mit der Hand über den glatten zarten Hals der Tochter streichend. »Guten Morgen,« sagte er dann lächelnd zu dem Knaben, der ihn begrüßte.

Er wußte recht wohl, daß er den Knaben weniger liebte und bemühte sich stets, gegen ihn freundlich zu sein, aber der Knabe empfand dies und er hatte kein Lächeln für das kalte Lächeln seines Vaters.

»Mama? Sie ist aufgestanden,« antwortete das Mädchen.

Stefan Arkadjewitsch seufzte auf.

»Das heißt, sie hat wieder die ganze Nacht hindurch nicht geschlafen,« dachte er.

»Ist sie denn heiter?«

Das Mädchen wußte, daß zwischen Vater und Mutter ein Zwist vorgefallen war und die Mutter nicht heiter sein konnte, daß der Vater dies recht wohl wissen müsse und sich nur verstelle, wenn er so leichthin frage. Es errötete über den Vater; er verstand das sofort und errötete gleichfalls.

»Ich weiß nicht,« antwortete sie, »sie hat nicht befohlen, daß wir Unterricht haben sollten, sondern hat uns mit Miß Gule zu Großmama geschickt.«

»Nun, so geh, liebste Tantschurotschka. Doch halt, warte,« sagte er, sie nochmals festhaltend und ihr zartes Händchen streichelnd.

Er nahm vom Kamin eine Düte Konfekt, die er am vorhergehenden Tage dorthin gelegt hatte und reichte ihr zwei Stücken Chokolade, die sie am liebsten aß.

»Soll ich dies dem Grischa geben?« frug das Mädchen, auf das eine Stück weisend.

»Jawohl.« Wiederum streichelte er ihr die Schulter und küßte sie auf das Haar und den Hals bevor er sie entließ.

»Der Wagen ist fertig,« meldete jetzt Matwey, »aber es ist eine Bittstellerin da,« fügte er hinzu.

»Schon lange?« frug Stefan Arkadjewitsch.

»Etwa eine halbe Stunde.«

»Wie oft ist dir gesagt worden, daß du sofort melden sollst!«

»Ich mußte Euch doch vorerst den Kaffee nehmen lassen,« antwortete Matwey mit jenem freundlich dreisten Tone, über den man nicht in Zorn geraten kann.

»Nur dann bitte sie möglichst schnell,« sagte Oblonskiy, mit verdrießlich gerunzeltem Gesicht.

Die Bittstellerin, die Frau eines Stabskapitäns Kalinin, bat um etwas Unmögliches und Sinnloses, aber Stefan Arkadjewitsch ließ sie, seiner Gepflogenheit nach Platz nehmen und hörte sie aufmerksam und ohne ein Wort der Unterbrechung an; hierauf gab er ihr ausführlich Rat, an wen sie sich wenden sollte und in welcher Weise dies zu thun sei, und entwarf ihr sogar selbst schnell und gewandt in seiner zierlichen, schwungvollen, schönen und sorgfältigen Handschrift ein Schreiben an die Persönlichkeit, welche ihr nützlich werden konnte. Nachdem er die Frau des Stabskapitäns entlassen hatte, ergriff er seinen Hut, blieb aber noch eine Weile stehen, nachdenkend, ob er nicht etwas vergessen hätte. Es stellte sich heraus, daß er nichts vergessen, es wäre denn, daß er – seine Frau vergessen wollte. –

»Ach ja!« Er ließ den Kopf hängen, und sein rotes Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. »Soll ich zu ihr gehen, oder nicht?« frug er sich selbst. Eine innere Stimme sagte ihm, es sei nicht nötig zu gehen, da es dort für ihn nichts gebe als Lüge, und daß ihre beiderseitigen Beziehungen unmöglich wieder zu bessern und herzustellen sein würden, da es nicht anging, sie wieder anziehend und liebeerweckend zu machen, oder ihn zum bejahrten, nicht mehr der Liebe fähigen Greise zu verwandeln. Außer Falsch und Lüge konnte es jetzt nichts mehr geben, dieses beides aber war seiner Natur zuwider. »Aber einmal muß es doch werden – so kann es doch nicht bleiben,« sprach er, sich zu ermannen versuchend. Er reckte die Brust heraus, nahm eine Cigarette, steckte sie an und that einige Züge, warf sie hierauf in einen Aschenbecher aus Perlmutter und begab sich mit schnellen Schritten durch den Salon, worauf er eine andere Thür zu dem Schlafzimmer seiner Gattin öffnete.

21.

Zur Theestunde für die Erwachsenen erschien Dolly aus ihrem Zimmer; Stefan Arkadjewitsch kam nicht mit. Er mochte wohl, das Gemach der Gattin verlassend, einen Ausgang nach hinten benutzt haben.

»Ich fürchte, es wird dir oben zu kalt werden,« wandte sich Dolly zu Anna, »und wünschte recht sehr, dich mehr nach unten zu placieren; wir sind uns dann auch näher.«

»O, meinetwegen beunruhige dich nicht,« antwortete Anna, in das Gesicht Dollys blickend und sich bemühend aus ihm herauszulesen, ob die Aussöhnung zustande gekommen sei oder nicht.

»Es wird dir hier zu hell sein,« versetzte die Schwägerin.

»Ich sage dir, daß ich überall schlafen kann und stets wie ein Murmeltier schnarche.«

»Wovon sprecht ihr denn?« frug Stefan Arkadjewitsch, aus dem Kabinett hereintretend und sich an seine Frau wendend.

An seinem Tone erkannten Anna und Kity sofort, daß die Aussöhnung zustande gekommen war.

»Ich will Anna tiefer einlogieren, es müssen aber die Gardinen anders gesteckt werden. Niemand versteht dies jedoch richtig zu machen, ich muß es daher selbst thun,« antwortete Dolly, sich an ihren Gatten wendend.

»Wer weiß ob die schon vollkommen ausgesöhnt sind,« dachte Anna, als sie den kalten ruhigen Ton der Stimme Dollys vernahm.

»O, es ist genug so, Dolly, mach dir nicht zu viel Umstände,« sagte Stefan Arkadjewitsch, »wenn du aber willst, so werde ich selbst alles thun.«

»Aha, es muß wohl so sein; sie sind versöhnt,« dachte Anna.

»Ich weiß schon, wie du alles thust,« erwiderte Dolly, »du sagst dem Matwey, er möge thun, was sich gar nicht ausführen läßt, fährst dann fort von hier und er bringt alles durcheinander;« das gewohnte spöttische Lächeln verzog die Mundwinkel Dollys bei diesen Worten.

»Die Versöhnung ist vollständig, vollständig,« dachte Anna, »Gott sei gedankt!« und in der Freude darüber, daß sie die Ursache derselben war, trat sie zu Dolly hin und küßte dieselbe.

»Es ist ganz und gar kein Grund vorhanden, wegen dessen du mich und den Matwey so über die Achsel ansehen könntest,« sagte Stefan Arkadjewitsch, mit kaum merkbarem Lächeln sich zu seinem Weibe wendend.

Den ganzen Abend hindurch war Dolly, wie stets, ein wenig zu einem gewissen leichten Spotte gegen ihren Gatten gestimmt, doch dieser selbst befand sich in sehr zufriedener und heiterer Stimmung, gleichwohl aber nicht so weit, daß er damit gezeigt hätte, er habe nach erlangter Verzeihung seinen Fehltritt schon vergessen.

Um halb zehn Uhr abends wurde jedoch die ausnehmend lustige und angenehme Unterhaltung im Familienkreis beim Theetisch der Oblonskiy durch ein dem Anschein nach höchst harmloses Ereignis plötzlich gestört; dieses harmlose Ereignis erschien indessen allen aus einem unbekannten Grunde seltsam.

Als man von den allgemeinen petersburger Verhältnissen sprach, stand Anna Karenina plötzlich schnell auf.

»Sie befindet sich in meinem Album,« sagte sie, »und ich werde sogleich auch meinen Sergey zeigen,« fügte sie mit dem stolzen Lächeln der Mutter hinzu.

Um die zehnte Stunde, wo sie für gewöhnlich von ihrem Söhnchen Abschied nahm und ihn sogar oft selbst, bevor sie etwa auf einen Ball fuhr, zu Bett brachte, befiel sie Traurigkeit darüber, daß sie jetzt so weit von ihm entfernt sei. Wovon man auch sprechen mochte, sie blieb unzugänglich und ihre Gedanken schweiften fortwährend zu ihrem lockigen Sergey zurück. Jetzt wollte sie wenigstens sein Bildnis betrachten und von ihm reden. Unter dem ersten besten Vorwand der sich bot, erhob sie sich und ging mit ihrem elastischen energischen Gang nach dem Album. Die Treppe nach oben führte auf einen kleinen Vorsaal und ging dann als geheizte Zwischentreppe nach ihrem Zimmer.

Gerade zur Zeit, als sie den Salon verließ, wurde im Vorzimmer die Glocke laut.

»Wer mag das sein?« frug Dolly. »Nach mir wäre es noch zu zeitig, es wird erst spater jemand kommen,« setzte sie bemerkend hinzu.

»Wahrscheinlich ist es ein Beamter mit Akten,« meinte Stefan Arkadjewitsch. Als Anna an der Treppe vorüberschritt, kam soeben der Diener herauf, um den Ankömmling zu melden; dieser selbst stand aber bereits bei der Hauslampe.

Anna erkannte sofort beim Hinabschauen Wronskiy, und ein seltsames Gefühl der Freude gemischt mit dem des Schmerzes regte sich plötzlich in ihrem Herzen.

Er stand, ohne den Überrock abzulegen und zog etwas aus der Tasche. In diesem Augenblick, als sie soeben die Mitteltreppe erreicht hatte, hob er die Augen, erkannte sie und auf seinen Zügen malte sich ein Ausdruck von Verlegenheit und Erschrecken.

Sie ging, das Haupt leicht geneigt weiter; hinter sich aber vernahm sie die laute Stimme Stefan Arkadjewitschs, der Wronskiy bat, einzutreten, und die halblaute, geschmeidige und ruhige Stimme Wronskiys, welcher ablehnte.

Als Anna mit dem Album zurückkam, war er schon wieder gegangen, und Stefan Arkadjewitsch erzählte, er sei gekommen, um sich bezüglich eines Diners zu erkundigen, welches am folgenden Tage einer anreisenden Standesperson gegeben werden sollte.

»Er wollte um keinen Preis eintreten, und ist überhaupt ein wenig Sonderling,« äußerte Stefan Arkadjewitsch.

Kity wurde rot; sie dachte daran, daß sie allein wisse, weshalb er gekommen sei und nicht habe eintreten wollen.

»Er wird bei uns gewesen sein,« dachte sie, »und, mich daselbst nicht antreffend, vermutet haben, daß ich hier sei. Er wird nicht eingetreten sein weil er zu spät sich erinnert, hat, daß auch Anna anwesend ist.«

Man blickte sich gegenseitig an, ohne weiter zu sprechen und beschäftigte sich alsdann mit dem Betrachten des Albums.

Es lag zwar nichts Ungewöhnliches oder Besonderes darin, daß jemand zu seinem Freunde kam um halb zehn Uhr abends, um einige Details über ein geplantes Essen einzuholen, dabei aber nicht in das Zimmer trat; indessen gleichwohl erschien dies allen seltsam, und am meisten von allen seltsam und von übeler Vorbedeutung erschien es Anna Karenina.

22.

Der Ball hatte soeben begonnen, als Kity mit ihrer Mutter die große, mit Blumen garnierte und von gepuderten Lakaien in roten Röcken besetzte, lichtüberflutete Treppe betrat. Aus den Sälen ertönte ein beständiges, gedämpftes Geräusch von Bewegungen, gleich dem Summen in einem Bienenstock, und als die beiden auf dem Vorsaale zwischen den Laubbäumen vor einem Spiegel die Frisur und Toilette ordneten, wurden aus dem Saale die behutsamen, aber künstlerischen Töne der Violinen des Orchesters, welches den ersten Walzer intonierte, hörbar. Ein greiser Staatsrat, der seinen eisgrauen Backenbart vor einem anderen Spiegel ordnete und eine Fülle von Wohlgerüchen um sich her verbreitete, traf mit ihnen auf der Treppe zusammen und trat zur Seite, offenbar interessiert von Kity, die ihm noch unbekannt war.

Ein bartloser Jüngling, einer von jenen jungen Lebemännern, die der alte Fürst Schtscherbazkiy Wachteln und Zungendrescher nannte, in einer außerordentlich weit ausgeschnittenen Weste ordnete seine weiße Krawatte und verbeugte sich vor ihnen, kehrte aber dann, vorüberschreitend, wieder um und bat Kity um eine Quadrille.

Die erste Quadrille war schon an Wronskiy vergeben, sie mußte also die zweite dem jungen Mann bewilligen. Auch ein Offizier der sich soeben die Handschuhe zuknöpfte und seitwärts nach der Thür trat, liebäugelte, seinen Schnurrbart streichend mit der rosigen Kity.

Obwohl die Toilette, Frisur und alle übrigen Vorbereitungen zum Balle Kity eine Menge Mühe und Kopfzerbrechen verursacht hatten, so ging sie jetzt in ihrem engsitzenden Tüllkleid mit rosenrotem Überwurf so frei und einfach zu Balle, als ob alle diese Rosetten und Spitzen, alle die Einzelheiten in der Toilette sie und ihrem Dienstpersonal nicht eine Minute von Aufmerksamkeit gekostet hätten, als ob sie in diesem Tüll geboren sei, in diesen Spitzen mit der hohen Frisur, der Rose mit den zwei Blättchen obenauf.

Als die alte Fürstin vor dem Eintritt in den Saal noch an der Tochter ein zurückgeschlagenes Band an der Taille ordnen wollte, wandte sich Kity leicht seitwärts. Sie fühlte, daß alles an ihr gut sein müsse und graziös und daß es nicht nötig sei, noch etwas zu verbessern.

Kity hatte heute einen ihrer sogenannten glücklichen Tage. Das Kleid drückte nirgends, nirgends war eine Spitze am Besatz losgegangen, die Rosetten hatten sich nicht geknittert oder waren gar abgerissen, die rosenroten Schuhchen mit den hohen Absätzen drückten nicht, sondern machten das kleine Füßchen beweglich. Die dichten Büschel der blonden Haare auf dem kleinen Köpfchen hielten sich in bester Ordnung, die Knöpfe an dem hohen Handschuh der ihre Hand umgab ohne deren Form zu verändern, waren alle drei zugeknöpft, keiner war abgesprungen. Ein schwarzsamtnes Medaillonband umschloß recht zart den Hals. Dieses Samtband war reizend; und als Kity daheim in dem Spiegel auf ihren Hals geblickt hatte, war es ihr vorgekommen, als ob dieser Sammet spräche.

In allem anderen konnte ein Zweifel herrschen, aber der Sammet war wunderschön.

Kity lächelte auch hier, auf dem Balle, als sie auf ihn im Spiegel schaute. Auf ihren entblößten Schultern und Armen empfand Kity ein Gefühl marmorner Kälte, ein Gefühl, welches sie besonders liebte.

Ihr Auge blitzte und die roten Lippen konnten nicht umhin, zu lächeln im Bewußtsein ihrer verführerischen Schönheit.

Sie war noch nicht in den Saal getreten zu der tüllbandspitzen- und blumenbesetzten Schar der Damen, welche der Engagements zum Tanze harrten – Kity hatte nie in diesem Kreis gegolten – als man sie schon zum Walzer engagierte; und gerade der beste Kavalier war es, der sie engagiert hatte, der erste Kavalier in der Ballkohorte, der berühmte Maitre de bal und Ceremonienmeister, verheiratet aber hübsch und eine stattliche Erscheinung, Jegoruschka Korsunskiy.

Er hatte soeben die Gräfin Banina verlassen, mit welcher er die erste Walzertour getanzt hatte, als er, sein Reich überblickend, das heißt einige der tanzenden Paare, die eintretende Kity gewahrte, zu ihr hineilte mit jenem eigentümlichen, nur den Balldirigenten charakteristischen zwanglosen Pasgang, und sich verneigend, ohne zu fragen ob sie dies wünsche, die Hand erhob, um die zarte Taille zu umfangen.

Sie blickte um sich, wem sie ihren Fächer übergeben könne und lächelnd nahm die Dame des Hauses ihn in Empfang.

»Wie herrlich, daß Ihr rechtzeitig gekommen seid,« sagte er zu ihr, ihre Taille umfangend, »was ist das auch für eine Manier, dieses so späte Erscheinen.«

Sie legte, sich vorbeugend, die Linke auf seine Schulter und die kleinen Füßchen in den rosenroten Schuhen begannen sich schnell, leicht und im Takt zu bewegen nach der Musik, auf dem glatten Parkett.

»Man ruht förmlich aus, mit Euch im Walzer,« sagte er zu Kity nach den ersten langsamen Pas des Walzers.

»Reizend, welche Leichtigkeit – Präcision –,« sagte er zu ihr; es war das Nämliche, was er fast allen guten Bekannten zu sagen pflegte.

Sie lächelte bei seinem Lobe und schaute dabei über seine Schulter in den Saal.

Kity war hier keine erst Neuauftretende, auf welcher bei einem Balle aller Augen ruhen wie auf einer Zaubererscheinung; sie war auch keine Dame, die alle Bälle ausgekostet hatte, alle Gesichter auf denselben so kannte, daß sie von ihnen gelangweilt wurde, sondern stand in der Mitte von beidem.

In der linken Ecke des Saales gewahrte sie die Creme der Gesellschaft gruppiert. Da war die bis zur Unmöglichkeit dekolletierte Schönheit Liddy, die Frau Korsunskiys, da war die Herrin des Hauses, da glänzte mit seiner Platte Kriwin, der stets dort war, wo sich die Creme der Gesellschaft befand. Hierher wagten die jungen Männer nur zu schauen, nicht zu kommen; hier fand sie mit ihren Augen Stefan und dann erblickte sie die reizende Gestalt und das Köpfchen Annas in schwarzsamtnem Kleid.

Auch er war dort.

Kity hatte ihn nicht gesehen seit jenem Abend, da sie Lewin ihre Absage gegeben hatte. Mit ihren scharfblickenden Augen hatte sie ihn sogleich erkannt, und sogar bemerkt, daß er auch nach ihr schaue.

»Nun wie wäre es, noch eine Tour? Oder seid Ihr ermüdet?« frug Korsunskiy leicht schnaufend.

»Nein; ich danke.«

»Wohin darf ich Euch führen?«

»Die Karenina ist dort, scheint es; führt mich zu ihr!«

»Wohin Ihr befehlt.«

Korsunskiy walzte, den Schritt mäßigend, gerade auf den Trupp in der linken Ecke des Saales zu, indem er wiederholt ausrief: » Pardon, mes dames, pardon, pardon, mes dames!« und lavierte zwischen dem Meer von Spitzen, Tüll und Bändern hindurch, ohne auch nur an der kleinsten Kante hängen zu bleiben. Er wendete seine Dame so kurz, daß deren zarte Füßchen in den roten Strümpfen à jour zum Vorschein kamen und sich ihre Schleife löste, wie ein Fächer ausgebreitet, gerade die Kniee des alten Kriwin bedeckend. Korsunskiy verbeugte sich, richtete seine ausgeschnittene Brust steif empor und gab seiner Dame die Hand, um sie zu Anna Arkadjewna zu führen.

Kity war errötet, sie nahm die Schleife von den Knieen Kriwins und suchte dann, etwas schwindlig geworden, Anna.

Diese war nicht im Lilakleid, wie es Kity so sehr gewünscht hatte, sondern in einem schwarzen, niedrig ausgeschnittenen Sammetkleid, welches ihre plastischen wie altes Elfenbein schimmernden, vollen Schultern und die Büste sehen ließ, sowie die runden Arme mit den zarten seinen Gelenken.

Das ganze Kleid war mit venetianischer Guipure besetzt. Auf dem Kopfe in ihrem schwarzen Haar das nur ihr eigenes war, befand sich eine kleine Ranke von Stiefmütterchen und eine zweite eben solche auf dem schwarzen Bande des Gürtels zwischen weißen Spitzen.

Ihre Frisur war wenig auffallend; bemerklich waren nur jene kecken kurzen krausen Löckchen die sie so schön machten und sich stets auf ihrem Nacken und an den Schläfen hervordrängten. Auf ihrem runden kräftigen Halse ruhte eine Perlenschnur.

Kity hatte Anna täglich gesehen, sie war verliebt in sie und stellte sie sich unfehlbar nur in Lila vor. Als sie jetzt aber Anna in Schwarz erblickte, empfand sie, daß sie deren ganze Schönheit noch nicht erkannt hatte.

Jetzt erst sah sie sie als eine ihr völlig neue, unerwartete Erscheinung, jetzt erst erkannte sie, daß Anna nicht in Lila gehen konnte, daß ihr Reiz hauptsächlich darin bestehe, daß sie stets persönlich aus der Toilette heraustrete und diese selbst nie an ihr sichtbar sein dürfe.

In der That war das schwarze Kleid mit den kostbaren Spitzen nicht sichtbar vor ihr selbst; es bildete nur den Rahmen und man sah sie allein, einfach, natürlich, schön und doch zugleich heiter und lebhaft.

Sie stand wie immer, sich sehr aufrecht haltend, und sprach gerade als Kity zu dem Trupp herantrat, mit dem Herrn des Hauses, leicht das Haupt zu diesem hinwendend.

»Nein, ich werfe keinen Stein,« antwortete sie diesem soeben, – »obwohl ich es nicht verstehe,« fuhr sie fort, die Schultern ziehend und sich alsdann sogleich zu Kity wendend mit einem zärtlichen Lächeln von Gönnerschaft. Mit flüchtigem Weiberblick ihre Toilette musternd, machte ihr Haupt eine kaum bemerkbare, aber für Kity verständliche, ihre Erscheinung und Schönheit billigende Kopfbewegung.

»Seid Ihr nicht tanzend schon in den Saal gekommen?« sagte sie.

»Sie ist eine meiner treuesten Helferinnen,« meinte Korsunskiy, Anna Arkadjewna begrüßend, die er früher noch nie gesehen hatte. »Die junge Fürstin hilft stets den Ball heiter und schön zu gestalten. Anna Arkadjewna, eine Tour Walzer?« fügte er hinzu, sich verneigend.

»Ihr kennt euch schon?« frug der Hausherr.

»Mit wem wäre ich nicht bekannt? Ich und mein Weib wir sind wie weiße Wölfe; alle kennen uns,« versetzte Korsunskiy. »Also eine Tour Walzer, Anna Arkadjewna!«

»Ich tanze nicht, wenn man es umgehen kann, zu tanzen,« antwortete diese.

»Aber heute läßt es sich eben nicht umgehen!« lachte Korsunskiy.

In diesem Augenblick trat Wronskiy herzu.

»Nun, wenn es also unmöglich ist, heute nicht zu tanzen, wohlan denn,« sagte sie, ohne Wronskiys Gruß zu bemerken und schnell die Hand auf Korsunskiys Schulter legend.

»Weshalb ist sie wohl ungehalten auf ihn?« dachte Kity, als sie bemerkte, wie Anna absichtlich der Verbeugung Wronskiys nicht dankte.

Dieser begab sich zu Kity und erinnerte sie an ihre erste Quadrille unter dem Bedauern, daß er so lange Zeit nicht das Vergnügen gehabt, sie zu sehen.

Kity blickte lächelnd nach der tanzenden Anna Karenina und lauschte dabei Wronskiys Worten.

Sie hatte erwartet, daß er sie zum Walzer engagieren werde, aber er that es nicht, und sie blickte ihn deshalb verwundert an. Er errötete und engagierte sie sogleich, aber kaum hatte er ihre zarte Taille umfaßt, als die Musik plötzlich abbrach.

Kity blickte ihm ins Gesicht, das ihr jetzt so nahe war, und noch lange nachher, mehrere Jahre darauf, schnitt ihr dieser Blick, voll von Liebe, mit dem sie ihn damals angeschaut, und auf den er ihr nicht antwortete, mit quälender Beschämung in ihr Herz.

»Pardon, Pardon, Walzer, Walzer!« rief Korsunskiy vom anderen Ende des Saales her und die erste, ihm begegnende Dame ergreifend, begann er zu tanzen.

23.

Wronskiy tanzte mit Kity mehrere Touren. Nach Beendigung des Walzers ging diese zu ihrer Mutter und kaum hatte sie einige Worte mit der Gräfin Nordstone gewechselt, als Wronskiy ihr schon folgte, um für die erste Quadrille zu bitten.

Während der Dauer dieses Tanzes wurde kein Gespräch von Bedeutung gepflogen, die Unterhaltung drehte sich fast ununterbrochen bald um die Korsunskiy, Mann und Frau, die er sehr ergötzlich zu schildern wußte, als gutmütige vierzigjährige Kinder, bald um ein projektiertes Gesellschaftstheater und nur einmal wurde ihr die Unterhaltung empfindlich, als er bezüglich Lewins frug, ob dieser noch anwesend sei und hinzufügte, derselbe habe ihm sehr gefallen.

Kity hatte sich indessen auch nicht viel von der Quadrille versprochen; sie sehnte sich vielmehr mit ganzem Herzen nach der Mazurka und in dieser, meinte sie, müsse sich alles entscheiden.

Daß er sie während der Quadrille nicht für die Mazurka engagiert hatte, beunruhigte sie nicht, denn sie war überzeugt, sie würde dieselbe ebenso mit ihm tanzen, wie auf den früheren Bällen, und schlug mindestens fünf Herren den Tanz aus unter dem Vorgeben, sie tanze ihn schon.

Der ganze Ball bis zu der letzten Quadrille war für Kity ein zauberhaftes Traumgesicht anmutiger Farben, Töne und Bewegungen. Sie tanzte nur dann nicht, wenn sie zu sehr ermüdet war, und um Erholung bat. Als sie jedoch die letzte Quadrille mit einem langweiligen jungen Manne tanzte, dem sie nicht hatte absagen können, bildete ihr vis-a-vis Wronskiy mit Anna Karenina.

Sie hatte Anna nicht wiedergesehen seit deren Erscheinen hier und jetzt zeigte sich diese wieder völlig anders und unerwartet. Sie entdeckte in ihr, die ihr selbst so gut bekannt war, den Zug der Eitelkeit auf Erfolge. Sie sah, wie Anna trunken war von dem Wein des durch sie erweckten Festrausches.

Sie kannte dieses Gefühl und kannte seine Merkmale; sie gewahrte diese Merkmale an Anna; sie sah den bebenden, lohenden Glanz in deren Augen, das Lächeln der Seligkeit und Verzückung, das unwillkürlich ihre Lippen kräuselte, die sichere Grazie, Wahrheit und Eleganz ihrer Bewegungen.

»Wer lebt in ihr?« frug sie sich selbst. »Sind es alle, oder ist es einer?« Und ohne ihrem jungen Tänzer beizustehen, der sich abquälte in der Unterhaltung während des Tanzes, den Faden, den er verloren, wiederzufinden, sich äußerlich aber den lustig schallenden Kommandos Korsunskiys unterordnend, der bald alles in grand rond, oder in chaine verwandeln ließ, beobachtete sie, und ihr Herz wurde ihr schwerer und schwerer. »Nein, das ist nicht die Verehrung des Haufens, welche sie trunken gemacht hat, das ist die Verzückung über einen Einzelnen. Und dieser Eine, wer war es? Sollte Er selbst es sein?«

Jedesmal, wenn er mit ihr sprach, glänzte ein freudiges Funkeln auf in ihren Augen, kräuselte ein Lächeln des Glückes ihre roten Lippen.

Sie schien sich zu bemühen, ihrerseits diese Kennzeichen der Freude nicht hervortreten zu lassen, aber sie erschienen von selbst auf ihrem Gesicht. Und wie verhielt er sich dazu?

Kity blickte nach ihm hin und erschrak. Das, was ihr so klar auf dem Spiegel des Gesichts Annas erschienen war, das gewahrte sie jetzt auch auf seinen Zügen. Wohin war seine stets ruhige, feste Haltung, der unbewegt stoische Ausdruck seines Gesichts gelangt? Nein, jetzt, jedesmal, wenn er mit ihr sprach, nickte ihr sein Haupt leise zu, als wünsche es zu fallen vor ihr, und in seinem Blick lag ein Ausdruck der Ergebenheit und zugleich der Besorgnis »ich will dich nicht kränken«, es war, als spräche sein Blick stets »aber retten möchte ich mich vor dir, ohne daß ich weiß, wie«.

Auf seinen Zügen lag ein Ausdruck, wie sie ihn noch niemals zuvor an ihm wahrgenommen hatte.

Sie sprachen beide von gemeinsamen Bekannten, führten die denkbar langweiligste Unterhaltung, und dennoch schien es Kity, als wenn jedes Wort, das von ihnen gesprochen wurde, nicht nur ihr Schicksal besiegelte, sondern auch das jener beiden.

Seltsam, daß, obwohl sie in der That nur davon sprachen, wie lächerlich Iwan Iwanowitsch mit seinem Französischen sei, oder daß man für die kleine Helene eine bessere Partie suchen müsse, ihre Worte dennoch für sie selbst eine gewisse Bedeutung hatten, und sie dies ganz ebenso fühlten wie Kity.

Der ganze Ball, die ganze Umgebung, alles hüllte sich in Nebel in der Seele Kitys, und nur die strenge Schule der Erziehung die sie durchlaufen hatte, erhielt sie aufrecht und lieh sie das thun, was man von ihr forderte, das heißt, tanzen, auf Fragen antworten, reden, ja selbst lächeln.

Vor dem Beginn der Mazurka indessen, als man schon anfing die Stühle zu stellen und einige Paare sich aus den kleinen Räumen nach dem großen Saale bewegten, überkam Kity ein Augenblick der Verzweiflung und des Schreckens.

Sie hatte fünf Tänzern abgesagt und sollte jetzt die Mazurka gar nicht tanzen. Es war auch keine Hoffnung mehr, daß man sie noch engagierte, weil sie einen allzugroßen Erfolg in der Gesellschaft davongetragen hatte, und deshalb niemand in den Kopf kommen konnte, daß sie bis jetzt noch nicht engagiert sei. Man mußte also Mama sagen, daß man sich unwohl fühle und nach Haus fahren, dazu aber mangelte ihr die Kraft, sie fühlte sich gebrochen.

Sie begab sich nach der Stille eines kleinen Nebenraumes und sank hier in einen Lehnsessel. Der luftige Rock des Kleides hob sich wie eine Wolke um ihre zarte Taille; die eine unbekleidete, schmächtige und zarte Mädchenhand kraftlos herabgesunken, verschwand in den Falten der rosenfarbenen Tunika, in der anderen Hand hielt sie den Fächer und fächelte sich mit schnellen heftigen Bewegungen das glühende Antlitz.

Aber mochte sie auch dem Schmetterling gleichen, der sich soeben im Grase niederließ und im Begriff ist, die Flügel wieder zu recken und weiterzuflattern – eine furchtbare Verzweiflung lastete ihr auf dem Herzen.

»Aber vielleicht kann ich mich noch irren, vielleicht verhält es sich gar nicht so,« dachte sie und stellte sich nochmals alles im Geiste vor, was sie gesehen hatte.

»Aber Kity, was ist denn das?« frug die Gräfin Nordstone, die unhörbar auf dem Teppich zu ihr herangetreten war. »Ich verstehe das nicht!«

Kitys Unterlippe begann zu zucken; das Mädchen erhob sich schnell.

»Kity, tanzest du die Mazurka nicht?«

»Nein, nein,« antwortete Kity mit einer Stimme, in welcher Thränen zitterten.

»Er hatte sie in meiner Gegenwart um die Mazurka gebeten,« sagte die Gräfin Nordstone, in der Annahme, Kity werde wohl verstehen, wer Er und Sie sei. »Sie hat aber geantwortet, ob er denn nicht mit der jungen Fürstin Schtscherbazkaja die Mazurka tanzte!«

»O, mir ist alles gleichgültig,« versetzte Kity.

Niemand als sie selbst verstand ihre Lage, niemand wußte, daß sie gestern einen Mann den sie vielleicht liebte, von sich gewiesen, weil sie einem anderen vertraut hatte.

Die Gräfin Nordstone fand Korsunskiy mit dem sie eine Mazurka getanzt hatte und befahl ihm Kity zu engagieren.

Kity tanzte im ersten Paar und zu ihrem Glück brauchte sie hier nicht zu reden, da Korsunskiy die ganze Zeit über Hin- und herlief und von seiner Eigenschaft als Herr des Balles Gebrauch machte. Wronskiy und Anna befanden sich ihr ziemlich gegenüber.

Sie beobachtete beide mit ihren scharfen Augen, sah sie nahe zusammen als sie Paare bildeten und je langer sie sie beobachtete, umsomehr überzeugte sie sich, daß ihr Unglück vollkommen sei.

Sie sah, wie jene beiden sich völlig allein fühlten inmitten des überfüllten Saales und auf dem Gesicht Wronskiys, welches stets so fest und unabhängig erschien, gewahrte sie jenen sie verwirrenden Ausdruck der Selbstverlorenheit und Ergebung, welcher eher dem Gesichtsausdruck eines klugen Hundes ähnlich war, der sich einer bösen That bewußt ist.

Anna lächelte und ihr Lächeln pflanzte sich auf ihn über. Sie wurde nachdenklich, da wurde er ernst. Eine fast übernatürliche Kraft hielt Kitys Augen auf das Gesicht Annas gerichtet.

Diese war verführerisch in ihrem einfachen, schwarzen Kleid: verführerisch waren ihre vollen Arme mit den Bracelets, reizend der kräftige Hals mit der Perlenschnur, reizend die sich ringelnden Locken der locker gewordenen Frisur, reizend die graziösen, leichten Bewegungen der kleinen Füße und Hände, reizend dieses schöne Gesicht mit seiner Lebhaftigkeit – aber es lag etwas Furchtbares und Hartes in ihrem Reiz. –

Kity beobachtete sie noch mehr als vorher, und im selben Maße stieg ihr Leid. Sie fühlte sich zerschmettert und ihr Gesicht verlieh dem Ausdruck. Als Wronskiy ihrer ansichtig wurde, während der Mazurka mit ihr zusammentreffend, erkannte er sie nicht sogleich – so sehr hatte sie sich verändert.

»Ein reizender Ball!« sagte er zu ihr, um doch etwas zu sagen.

»Ja,« versetzte Kity.

Inmitten der Mazurka, bei der Wiederholung einer Figur, die Korsunskiy ganz neu ausgedacht hatte, trat Anna in die Mitte eines Kreises, nahm zwei Kavaliere und rief eine Dame und Kity zu sich.

Kity blickte erschrocken auf sie, und näherte sich. Anna schaute sie mit den Augen blinzelnd an und lächelte, ihr die Hand drückend. Als sie aber bemerkte, daß Kitys Züge ihr nur mit dem Ausdruck der Verzweiflung und des Staunens antworteten, wandte sie sich ab von ihr und unterhielt sich heiter mit der anderen Dame.

»Ja, etwas Fremdes, Dämonisches und zugleich Verführerisches liegt in ihr,« sagte Kity zu sich selbst.

Anna wollte nicht zum Essen bleiben, allein der Hausherr begann sie zu bitten.

»Genug nun, Anna Arkadjewna,« sagte Korsunskiy, und nahm ihren entblößten Arm unter den Ärmel seines Frackes; »o welche Idee habe ich für den Cotillon! Un bijou!« –

Er bewegte sich ein Stück weiter in dem Bestreben, sie mit sich zu ziehen. Der Hausherr lächelte billigend dazu.

»Nein; ich werde nicht bleiben,« antwortete Anna lächelnd, aber trotz des Lächelns erkannten Korsunskiy wie der Hausherr an dem entschiedenen Tone, mit welchem sie antwortete, daß sie nicht bleiben werde.

»Nein, nein; ich habe in Moskau auf Eurem einen Balle schon mehr getanzt, als ich in Petersburg deu ganzen Winter hindurch tanze,« sagte Anna, auf den neben ihr stehenden Wronskiy blickend. »Ich muß mich vor der Rückreise noch erholen.«

»Fahrt Ihr entschieden morgen schon wieder weg?« frug Wronskiy.

»Ja, ich denke,« versetzte Anna, gleichsam wie in Verwunderung über die Verwegenheit seiner Frage; aber der nicht zu dämpfende, bebende Glanz ihrer Augen und ihres Lächelns versengten ihn, als sie dies sprach.

Anna Arkadjewna blieb nicht zum Essen da, sondern fuhr weg.

24.

»Ja; etwas ist an mir widerlich, abstoßend,« dachte Lewin, das Haus der Schtscherbazkiy verlassend und sich zu Fuße nach der Wohnung seines Bruders begebend.

»Ich tauge nicht für meine Mitmenschen; mein Stolz sei daran schuld, sagen sie. Nein; Stolz ist nicht in mir. Wäre es der Fall, dann hätte ich mich nicht in eine solche Situation gebracht.«

Er stellte sich nun Wronskiy vor, den Glücklichen, Guten, Verständigen, den ruhigen Menschen, der wahrscheinlich niemals in einer so furchtbaren Lage gewesen war, in der er selbst sich heute Abend befunden. Ja sie mußte jenen wählen, es mußte so kommen und er hatte sich über niemand und über nichts zu beklagen. Er war selbst schuld. Denn welches Recht besaß er, zu denken, daß sie ihr Leben mit dem seinigen vereinen sollte? Wer war er? Ein gewöhnlicher Mensch den niemand brauchte und der niemand nützlich war.

Er dachte an seinen Bruder Nikolay und mit Freude gab er sich der Erinnerung an ihn hin.

»Hat er nicht recht, daß alles in der Welt schlecht und häßlich ist? Sind wir etwa gerecht gewesen im Urteil über unseren Bruder? Natürlich, vom Standpunkte Prokops, der ihn im zerrissenen Pelze und berauscht gesehen hat, ist er ein Verworfener; aber ich kenne ihn anders; ich kenne seine Seele und weiß, daß wir beide einander ähnlich sind. Und ich, anstatt daß ich gekommen wäre ihn aufzusuchen, bin hierher gekommen, um zu dinieren.«

Lewin trat an eine Laterne, las die Adresse seines Bruders, die er in seiner Brieftasche trug, und rief einen Mietkutscher.

Den ganzen langen Weg zum Bruder Nikolay hin erinnerte er sich nochmals aller Vorkommnisse aus dessen Leben. Er entsann sich, wie sein Bruder auf der Universität und noch ein Jahr nach derselben ungeachtet des Spottes seiner Freunde, wie ein Mönch gelebt hatte, mit Strenge alle Anforderungen des Glaubens erfüllend, des Ritus, der Fasten und alle Vergnügungen meidend, insbesondere den Verkehr mit den Weibern. Dann war er plötzlich umgeschlagen, mit den niedrigsten Geschöpfen in Berührung getreten und hatte sich der zügellosesten Ausschweifung ergeben. Lewin entsann sich ferner eines Ereignisses mit einem Knaben, den Nikolay aus dem Dorfe genommen hatte, um ihn ausbilden zu lassen, den er aber in einem Wutanfall so geschlagen hatte, daß infolge dessen ein Prozeß, unter Anklage zugefügter körperlicher Schädigung begann. Er entsann sich jenes Vorkommnisses mit einem Schüler, an den er Geld verspielt und Wechsel gegeben und welchen er in der Folge diesbezüglich verklagt hatte unter dem Nachweis, daß jener ihn betrogen habe. Es waren dies die Gelder, welche Sergey Iwanowitsch zahlte. Dann dachte er daran, wie Nikolay wegen ungebührlichen Benehmens eine Nacht im Stockhaus untergebracht gewesen, und wie ferner von ihm jener schmähliche Prozeß gegen den Bruder Sergey Iwanowitsch angestrengt worden war, weil ihm dieser nicht seinen Anteil aus dem mütterlichen Erbe ausbezahlt hätte, und schließlich, wie er fortgegangen war, um in einer westlichen Provinz in Dienst zu treten und ihm hier der Prozeß gemacht wurde, weil er den Vorgesetzten geprügelt hatte.

Alles das war unsagbar widerlich, aber Lewin erschien es durchaus nicht so widerlich, wie es denen erscheinen mußte, die Nikolay nicht kannten, von seiner ganzen Lebensgeschichte nichts wußten und nichts von seinem Herzen.

Lewin vergegenwärtigte sich, daß zu jener Zeit, da Nikolay sich der Religiosität, den Fasten, dem Mönchsleben, und dem Dienste der Kirche hingegeben hatte, um in der Religion Hilfe zu suchen und die Zügel für seine leidenschaftliche Natur, niemand ihm beistand, sondern alle nur – ja Lewin selbst mit – über ihn gelacht hatten. Man hatte ihn verspottet, ihn Noah und Mönch genannt. Als er aber dann zusammenbrach, da hatte ihm keiner beigestanden, sondern sie hatten sich alle mit Schrecken und Abscheu von ihm abgewandt.

Lewin fühlte, daß sein Bruder Nikolay in seiner Seele, auf dem Grunde seines Gemütes, trotz aller Ungeschlachtheiten in seinem Leben, nicht schlechter war, als diejenigen, welche ihn verachteten.

Er trug keine Schuld daran, daß er mit so unbezähmbarem Naturell und einem in gewisser Beziehung beengten Horizont geboren war. Er hatte doch stets gestrebt darnach, gut zu sein!

»Ich werde ihm alles sagen, alles will ich ihm sagen lassen und ihm beweisen, daß ich ihn liebe und daher auch verstehe,« sagte Lewin zu sich selbst, um elf Uhr nachts vor dem auf der Adresse angegebenen Gasthaus vorfahrend.

»Oben, Nr. 12 und 13,« antwortete der Portier auf seine Frage.

»Ist er daheim?«

»Er muß wohl da sein.«

Die Thür zu Nr.12 stand halbgeöffnet und aus ihr heraus quoll in einem lichten Streifen der dichte Qualm von schlechtem und schwachem Tabak. Lewin vernahm eine ihm unbekannte Stimme, erkannte aber alsbald, daß sein Bruder anwesend sei, denn er hörte dessen Husten.

Als er eintrat, sprach die unbekannte Stimme gerade:

»Alles hängt davon ab, inwieweit die Sache verständig und mit Überlegung geführt wird.«

Konstantin Lewin schaute in die Thür und gewahrte, daß ein junger Mann in einer ungeheuren haarigen Pelzmütze und Pelzjacke soeben sprach, während auf dem Sofa ein junges pockennarbiges Weib in einem wollenen Kleid ohne Ärmel und Kragen saß. Sein Bruder war nicht sichtbar.

Konstantin drückte es schwer auf das Herz, als er sich vergegenwärtigte, in welcher Umgebung sein Bruder lebe. Niemand hatte ihn vernommen und so streifte er seine Galoschen ab und lauschte auf das, was der Mann in der Pelzjacke sprach. Er perorierte soeben über ein gewisses Unternehmen.

»Ja; der Teufel mag sie holen, diese privilegierten Stände,« hörte er die Stimme seines Bruders zugleich mit dessen Husten.

»Mascha, bringe uns das Abendbrot, gieb Branntwein wenn noch welcher da ist, sonst schicke darnach.«

Das Weib erhob sich, ging hinter eine Zwischenwand und gewahrte jetzt Konstantin.

»Es ist ein Herr da, Nikolay Dmitritsch,« sprach sie.

»Zu wem will er?« antwortete die Stimme Nikolay Dmitritschs gereizt.

»Ich bin es,« versetzte Konstantin Lewin, in den Lichtkreis tretend.

»Wer ist das, ›ich?‹« wiederholte noch rauher die Stimme Nikolays. Man vernahm, wie er schnell aufstand, wobei er an irgend einem Gegenstande hängen blieb. Lewin erblickte nun vor sich in der Thür die wohlbekannte Gestalt des Bruders, die ihn aber jetzt mit ihrer Wildheit und Krankhaftigkeit, hochgewachsen, abgezehrt und zusammengehockt, mit großen, verstörten Augen, in Schrecken versetzte.

Er war noch hagerer geworden als er vor drei Jahren gewesen, wo Konstantin Lewin ihn zum letztenmal gesehen hatte. Seine Hände erschienen jetzt noch abgezehrter, seine Haare waren dünner geworden, aber dieselben starr ragenden Barthaare bedeckten noch seine Lippen, die nämlichen Augen schauten seltsam und groß auf den Eintretenden.

»Ah, mein Kostja!« rief er diesem plötzlich zu, den Bruder erkennend, und seine Augen strahlten in freudigem Glanze auf; aber in derselben Sekunde schaute er auch auf den jungen Mann und machte dann eine Konstantin nur zu gut bekannte heftige Bewegung mit dem Kopfe und Halse, als wenn ihn das Halstuch drückte.

Ein Ausdruck völliger Wildheit, Krankhaftigkeit und doch Härte lagerte sich auf seinen abgezehrten Zügen.

»Ich habe doch dir und Sergey Iwanowitsch geschrieben, daß ich Euch nicht kenne und nicht kennen will. Was willst du also, was wünschest du!«

Er war also doch ganz anders, als Konstantin ihn sich vorgestellt hatte. Das Fühlbarste und Abstoßendste in seinem Charakter, was den Verkehr mit ihm so schwierig machte, hatte Konstantin Lewin ganz vergessen gehabt, als er des Bruders gedachte; jetzt aber, als er dessen Gesicht wieder erblickte, da fiel ihm – namentlich als er diese krampfhafte Kopfbewegung gewahrte – alles wieder ein.

»Ich komme nicht zu dir, weil ich etwas von dir wünschte,« antwortete Lewin schüchtern, »ich bin nur gekommen, um dich einmal zu sehen.«

Die Verzagtheit des Bruders stimmte Nikolay sichtlich zugänglicher. Er zuckte die Lippen.

»Ah, dazu kommst du?« antwortete er, »nun, tritt ein, setze dich. Willst du Abendbrot mit essen? Mascha, bring drei Portionen. Oder nein, halt; weißt du denn, wer das ist?« wandte er sich an seinen Bruder, auf den Fremden im Halbpelz weisend, »das ist Herr Krizkiy, mein Freund noch von Kieff her, ein sehr interessanter Mensch. Man sucht ihn, verstehst du, seitens der Polizei, weil er kein Niedriger sein will.«

Nach seiner Gewohnheit ließ Nikolay den Blick auf sämtliche im Zimmer befindliche Anwesende herumgleiten. Als er bemerkt hatte, daß das Weib, welches schon an der Thür stand, gehen wollte, rief er ihm zu: »Halt, habe ich gesagt!«

Mit jener Unsicherheit, jener zusammenhanglosen Sprechweise, die Konstantin am Bruder längst kannte, begann er jetzt, wiederum alle der Reihe nach musternd, die Geschichte Krizkiys zu erzählen, und berichtete, wie man diesen von der Universität relegiert habe, weil er einen Verein zur Unterstützung armer Studierender und Sonntagsschulen gegründet hatte; wie er dann Lehrer an der Volksschule geworden, aber auch hier verjagt, endlich aus Gründen dem Gericht in die Hände gefallen sei.

»Ihr wäret an der Universität Kiew?«, frug Konstantin Lewin Krizkiy um das nach der Erzählung Nikolays eingetretene peinliche Schweigen zu brechen.

»Ja, dort war ich.«, antwortete Krizkiy verbissen.

»Und das Weib dort,« fiel diesem Nikolay Lewin in die Rede, auf die Frau weisend, »ist meine Freundin für das Leben, Marja Nikolajewna. Ich habe sie aus einem gewissen Hause genommen,« er ruckte wieder mit dem Hals als er dies sagte, dann fuhr er fort mit erhobener Stimme und drohender Miene, »aber ich liebe und achte sie, bitte mir aus, daß, wer mich kennen will, sie liebt und achtet. Es thut nichts, wer mein Weib ist; ganz gleich. Also du weißt jetzt, mit wem du es zu thun hast, und falls du denkst, du erniedrigst dich hier, so ist dort Gott und meine Schwelle!«

Wiederum liefen seine Augen fragend über alle Anwesenden hin.

»Weshalb sollte ich mich erniedrigen, ich verstehe dich nicht.«

»So laß also, Mascha, das Abendessen bringen; drei Portionen, Wein und Branntwein. Oder nein, halt – Nein – es ist nicht nötig – doch geh, geh!« –

25.

»Sieh einmal,« fuhr er fort, vor Anstrengung die Stirne runzelnd; es wurde ihm offenbar schwer, sich vorzustellen, was er jetzt eigentlich sagen oder thun solle.

»Siehst du dort«, er wies in eine Ecke des Gemachs auf einige eiserne Stangen, die zusammengebunden waren. »Siehst du das dort? Dies ist der Anfang eines neuen Werkes, an das wir gehen wollen; es handelt sich um die Errichtung einer produktiven Arbeitergenossenschaft.«

Konstantin hörte kaum etwas. Er sah nur das leidende, abgezehrte Gesicht und es wurde ihm weh und weher zu Mut, so daß er nicht imstande war, dem ein aufmerksames Ohr zu leihen, was sein Bruder ihm von der Arbeitergenossenschaft berichtete.

Er sah, daß diese Genossenschaft nur ein Anker werden sollte zur Errettung vor der Selbstverachtung. Nikolay Lewin sprach weiter:

»Du weißt ja, daß das Kapital den Arbeiter erdrückt. Die Arbeiter, die wir haben, die Bauern, tragen alle Last der Arbeit und sind so gestellt, daß sie, wie viel sie auch immer arbeiten mögen, nicht aus ihrer Stellung als menschliche Tiere herauskommen können.

All den Gewinn des Arbeiterlohnes, für den sie ihre Lage verbessern, und sich auch eine Ruhezeit gönnen könnten und infolge davon auch eine Bildung – all den Überschuß dieses Ertrags nehmen ihnen die Kapitalisten hinweg Die Gesellschaft ist jetzt so eingerichtet, daß die Kaufleute, die Gutsherren umsomehr zu genießen haben, je mehr jene arbeiten, und sie werden stets arbeitendes Ackervieh bleiben. Diese Einrichtung aber muß geändert werden.« schloß Nikolay und blickte dabei fragend auf den Bruder.

»Naturlich,« versetzte dieser mit einem Blick auf die Röte, welche auf den hervorstehenden Backenknochen des Bruders erschienen war.

Wir wollen nämlich eine Schlossergenossenschaft errichten, in welcher alle Erzeugnisse und der Ertrag, sowie die hauptsächlichsten Instrumente zur Arbeit, gemeinsam sein sollen.«

»Und wo soll diese Arbeitergesellschaft ihren Sitz haben?« frug Konstantin Lewin.

»Im Dorfe Wosdremo, im Gouvernement Kasan.«

»Weshalb denn auf einem Dorfe? Auf den Dörfern, scheint mir, giebt es doch schon genug zu thun. Was soll eine Schlossergesellschaft auf einem Dorfe?«

»Nun, deshalb, weil die Bauern jetzt noch die nämlichen Sklaven sind, die sie von jeher waren; dir und Sergey Iwanowitsch freilich wird es unangenehm sein, daß sie dieser Knechtschaft entrissen werden sollen,« versetzte Nikolay Lewin, von der Entgegnung aufgebracht.

Konstantin Lewin seufzte, und blickte zu gleicher Zeit in dem düsteren, schmutzigen Raume umher. Sein Seufzer schien Nikolay noch mehr zu erregen.

»Ich kenne deine und Sergey Iwanowitschs aristokratische Anschauungen, und weiß, daß er zumal alle seine Verstandeskräfte dazu anwendet, um die herrschenden Übelstände zu rechtfertigen.«

»O nein, indessen wozu sprichst du von Sergey Iwanowitsch,« antwortete lächelnd Lewin.

»Sergey Iwanowitsch? Nun dazu!« rief plötzlich bei der Nennung dieses Namens Nikolay Lewin aus, »ich will dir sagen wozu! Aber was soll ich dir sagen? Es ist immer dasselbe! Warum bist du zu mir gekommen? Du verachtest doch diese Umgebung, also gut denn, und nun geh mit Gott, geh!« rief er, von seinem Stuhle aufstehend, »geh, geh!«

»Ich verachte gar nichts,« antwortete Lewin mild, »und ich streite ja gar nicht.«

In diesem Augenblick kehrte Marja Nikolajewna zurück. Nikolay Lewin blickte heftig erregt auf sie und sie trat schnell zu ihm hin und flüsterte ihm etwas zu.

»Ich bin leidend und daher reizbar geworden,« fuhr er beruhigt und schwer atmend fort, »später aber erzähle mir von Sergey Iwanowitsch und seinem Artikel. Es steht solch ein Unsinn darin, so viel Lüge, so viel Selbsttäuschung! Was kann er schreiben von der Gerechtigkeit der Menschheit! Er, der diese gar nicht kennt! Habt Ihr den Aufsatz gelesen?« wandte er sich an Krizkiy, indem er sich an dem Tische niederließ und bis auf die Hälfte desselben die darauf verstreut umherliegenden Cigaretten wegschob, um Platz zu bekommen.

»Ich habe ihn nicht gelesen,« antwortete Krizkiy finster, augenscheinlich keine Lust verspürend, in das Thema mit einzugreifen.

»Weshalb denn nicht?« wandte sich Nikolay Lewin jetzt gereizt an Krizkiy.

»Weil ich nicht für nötig halte, damit Zeit zu verlieren.«

»Das heißt bitte sehr, woher wißt Ihr denn, daß Ihr damit nur Zeit verliert? Vielen freilich ist der Artikel gar nicht zugänglich; er ist ihnen zu hoch geschrieben. Ich aber – bei mir ist es etwas anderes – ich lese alle seine Ideen heraus und weiß, wo die Schwächen liegen.«

Alle schwiegen. Krizkiy erhob sich langsam und griff nach seinem Hute.

»Wollt Ihr nicht mit zu Abend essen? Nun, lebt wohl, also morgen mit dem Schlosser!«

Kaum war Krizkiy gegangen, als Nikolay Lewin zu lächeln begann und mit den Augen zwinkerte.

»Auch schlecht,« sagte er, »ich sehe schon …«

In diesem Augenblick rief Krizkiy von der Thür her nochmals nach Nikolay.

»Was willst du noch?« antwortete dieser und folgte Krizkiy mit auf den Korridor hinaus. Lewin, mit Marja Nikolajewna allein zurückbleibend wandte sich an diese:

»Lebt Ihr schon lange bei meinem Bruder?« frug er sie.

»Es geht jetzt in das zweite Jahr. Seine Gesundheit ist sehr schwach geworden, er trinkt wohl zu viel,« antwortete sie.

»Was trinkt er denn?«

»Branntwein, und der ist ihm sehr schädlich.«

»Soviel trinkt er davon?« flüsterte Lewin.

»Ja,« antwortete Marja, schüchtern nach der Thüre schauend, in welcher jetzt Nikolay Lewin wieder erschien.

»Wovon habt Ihr gesprochen?« frug er stirnrunzelnd und den verstörten Blick von einem auf den andern schweifen lassend. »Wovon?« wiederholte er.

»Von nichts Wichtigem,« versetzte Konstantin in einiger Verlegenheit.

»Ihr wollt nur nicht sprechen so wie Ihr möchtet. Übrigens Hast du gar nichts mit ihr zu reden. Sie ist eine Magd und du bist ein Herr,« fuhr er fort, wiederum mit dem Halse ruckend. »Du hast alles verstanden und weißt alles zu würdigen, das sehe ich wohl, und du stellst dich auf den Standpunkt des Mitleids meinen Irrungen gegenüber.« sagte er darauf, seine Stimme erhebend.

»Nikolay Dmitritsch, Nikolay Dmitritsch,« flüsterte abermals Marja Nikolajewna, an ihn herantretend.

»Gut, schon gut. Aber was wird mit unserem Abendessen? Da kommt er ja schon,« sagte Nikolay, den Diener gewahrend, welcher mit dem Servierbrett hereintrat.

»Hierher, setze hierher,« rief er heftig und ergriff sogleich den Branntwein, füllte ein Glas und leerte es gierig. »Trink, willst du nicht?« wandte er sich dann an seinen Bruder, gleichsam neu auflebend. »Nun laß uns von Sergey Iwanowitsch sprechen. Ich sehe dich doch gern bei mir. Was du auch dort sprechen mögest, wir beide sind uns nicht so ganz entfremdet. Also trink und erzähle mir, was du machst,« fuhr er fort, gierig ein Stück Brot mit den Zähnen zermalmend und ein zweites Glas Branntwein darauf einschenkend. »Wie befindest du dich?«

»Einsam auf meinem Dorfe, wie ich schon früher lebte; ich beschäftige mich mit meinem Gutswesen,« antwortete Konstantin, mit Schrecken auf die Gier blickend, mit welcher sein Bruder aß und trank. Er bemühte sich indessen, seine Aufmerksamkeit nicht zu Tage treten zu lassen.

»Weshalb heiratest du denn nicht?«

»Es ist noch nicht dazu gekommen,« antwortete Konstantin errötend.

»Warum nicht? Mit mir – ist es vorbei. Ich habe mein Leben verdorben. Das Eine habe ich schon früher gesagt und werde ich stets behaupten; hätte man mir damals mein Erbteil gegeben, als ich es brauchte, dann würde mein ganzes Leben ein anderes geworden sein.«

Konstantin beeilte sich, der Unterhaltung eine neue Richtung zu geben.

»Weißt du schon, daß dein Wanjuschka bei mir in Pokrowsko auf dem Kontor ist?« sagte er.

Nikolay reckte seinen Hals und versank in Nachdenken.

»Ja, sage mir doch, wie geht es in Pokrowsko? Steht unser Haus noch, was machen die Birken und die Felder? Lebt der Gärtner Philipp noch? Ich besinne mich noch auf die Laube und das Sofa darin! Sieh nur zu, daß nichts im Hause verändert wird, aber – heirate möglichst bald und führe alles wieder so ein wie es vordem gewesen ist. Dann werde ich auch zu dir kommen wenn dein Weib gut ist.«

»Komm doch jetzt zu mir,« antwortete Lewin, »wir könnten es uns so bequem machen!«

»Ich würde wohl zu dir kommen, wenn ich wüßte, daß ich Sergey Iwanowitsch nicht bei dir fände.«

»Du wirst ihn nicht treffen. Ich lebe vollständig unabhängig von ihm.«

»Ja, aber was du auch sagen mögest, du müßtest doch wählen zwischen ihm und mir,« beharrte Nikolay, dem Bruder schüchtern in die Augen blickend.

Die Zaghaftigkeit rührte Konstantin.

»Wenn du em offenes Bekenntnis von mir haben willst in dieser Beziehung, so werde ich dir sagen, daß ich in euerem Zwist mit Sergey Iwanowitsch weder deine, noch die andere Partei ergriffen habe. Ihr befindet euch beide im Unrecht; du hattest dies mehr der äußeren Form nach, er mehr nach dem inneren Gehalt der Sache.«

»Ah! Du hast es erkannt, du hast es erkannt?« rief freudig erregt Nikolay aus.

»Ich persönlich aber, wenn du auch das wissen willst, ziehe mir die Freundschaft mit dir vor, denn« –

»Denn, denn?« –

Konstantin vermochte nicht zu sagen, daß er den Bruder deswegen lieber habe, weil derselbe unglücklich war und ihm Freundschaft nötig sei. Aber Nikolay verstand selbst, daß er eben dies sagen wollte, und widmete sich unter Stirnrunzeln wieder der Flasche.

»Es ist genug jetzt, Nikolay Dmitritsch,« sagte Marja Nikolajewna, die fleischige Hand nach der Flasche ausstreckend.

»Laß los! Laß mich gehen, oder – ich schlage dich!« rief er.

Marja Nikolajewna lächelte mit sanftem, gutmütigem Ausdruck der sich auch Nikolay selbst bald mitteilte, und nahm ihm den Branntwein weg.

»Du denkst wohl, die hier versteht nichts?« sagte er, »sie versteht alles das besser, als wir alle. Nichtwahr, es liegt etwas Gutes, Liebes in ihr?«

»Ihr wäret früher wohl nicht in Moskau?« wandte sich Lewin an sie, um ihr einige Worte zu sagen.

»Sprich sie nicht mit ›Ihr‹ an, sie fürchtet sich davor. Seit der Zeit, da sie verurteilt wurde, weil sie das Haus des Lasters verlassen wollte, hat sie mit Ausnahme des Friedensrichters niemand wieder mit ›Ihr‹ angeredet. Mein Gott, was ist das für ein Unsinn in der Welt!« rief er plötzlich aus. »Diese neuen Einrichtungen, diese Friedensrichter, diese Zemstwos, was ist das alles für Unsinn!«

Er begann hierauf alles was er gegen die neuen Institutionen auf dem Herzen hatte, herunterzusprechen.

Konstantin Lewin hörte ihn an; aber die Negierung jedes höheren Sinnes in allen gesellschaftlichen Institutionen, welche er ja mit ihm teilte und oft ausgesprochen hatte, war ihm jetzt unangenehm im Munde des Bruders.

»In jener Welt werden wir alles Ersehnte haben,« sagte er im Scherz.

»In jener Welt? O, ich liebe diese nicht. Ich liebe sie nicht,« wiederholte er, das verstörte, wilde Auge auf seinem Bruder ruhen lassend. Es ist ja freilich wahr, daß es, wenn man all den Greuel und Wirrwarr, den fremden sowohl wie seinen eigenen, verlassen könnte, recht gut sein würde, aber ich fürchte den Tod, ich fürchte mich entsetzlich vor dem Sterben!« Er schauerte zusammen. »Trinke doch etwas. Willst du lieber Champagner? Oder wollen wir ein wenig ausfahren? Zu den Zigeunern! Weißt du, ich liebe gar zu sehr die Zigeuner und die russischen Lieder!«

Seine Zunge begann zu locken, und er sprang von einem Thema auf das andere über. Konstantin sowohl wie Marja vermochte ihn nur mit Mühe zu überreden, daß er nicht ausfuhr und beide brachten alsdann den völlig berauschten zur Ruhe.

Marja versprach Konstantin, im Falle der Not zu schreiben und Nikolay auch bewegen zu wollen, daß er zu dem Bruder käme, um bei diesem zu leben.

20.

Den ganzen Tag verbrachte Anna zu Hause, das heißt, bei den Oblonskiy. Sie empfing niemanden, obwohl schon mehrere ihrer Bekannten, die von ihrer Ankunft Kunde erhalten hatten, kamen, um sie bereits am nämlichen Tage zu besuchen.

Anna verbrachte den ganzen Morgen mit Dolly und den Kindern. Sie schrieb nur eine kurze Mitteilung an ihren Bruder, daß er jedenfalls daheim zu Mittag speisen möchte. »Komm, Gott hat geholfen!« schrieb sie ihm.

Oblonskiy speiste denn auch daheim; das Gespräch drehte sich um Allgemeinheiten, sein Weib sprach mit ihm, indem sie ihn wieder mit du anredete, was vorher nicht der Fall gewesen war.

In dem Verhältnis des Gatten zu der Gattin herrschte noch die nämliche Entfremdung, aber es war doch schon keine Rede mehr von einer Trennung, und Stefan Arkadjewitsch erkannte, daß die Möglichkeit einer Auseinandersetzung und Aussöhnung jetzt vorhanden sei.

Sogleich nach dem Essen erschien Kity. Sie kannte Anna Arkadjewna, aber nur sehr entfernt, und kam jetzt zu der Schwester nicht ohne die Besorgnis darüber, wie sie von dieser Petersburger Weltdame aufgenommen werden möchte, von der man allgemein so entzückt war. Sie hatte der Anna Arkadjewna indessen gefallen – dies erkannte sie sofort.

Anna interessierte sich augenscheinlich für Kitys Schönheit und Jugend und kaum war Kity selbst zur Besinnung gekommen, da fühlte sie sich nicht nur schon unter deren Einfluß, sie fühlte sich vielmehr verliebt in Anna, wie überhaupt die jungen Mädchen sehr geneigt sind, sich in verheiratete und ältere Damen zu verlieben.

Anna ähnelte durchaus nicht einer Weltdame oder der Mutter eines achtjährigen Knaben; sie hätte eher einem zwanzigjährigen Mädchen geglichen nach der Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen, nach der Frische und der Beweglichkeit, die auf ihren Mienen lag, und die bald in einem Lächeln, bald in ihrem Blicke zum Ausdruck kam, wenn sie nicht gerade ernst dreinschaute. Bisweilen war es auch ein trauernder Ausdruck ihrer Augen, welcher Kity überraschte und anzog. Diese empfand, daß Anna vollständig offen sei und nichts verberge, aber sie empfand auch, daß in ihr eine andere höhere Welt lebe voll Interessen, die ihr selbst unzugänglich waren, und eine in sich abgeschlossene, poetische Natur besaßen.

Nach dem Essen, als Dolly nach ihrem Zimmer gegangen war, erhob sich Anna schnell und trat zu ihrem Bruder, der eine Cigarre rauchte.

»Stefan,« hub sie an, schelmisch blinzelnd und ihn bekreuzend, mit den Augen nach der Thür winkend. »Gehe jetzt und möge dir Gott beistehen.«

Er legte die Cigarre fort, Anna verstehend, und ging zur Thür hinaus.

Als Stefan Arkadjewitsch verschwunden war, wandte sich Anna nach dem Diwan, auf welchem sie sich, von den Kindern umringt niederließ. War es, weil die Kinder gesehen hatten, daß Mama gut mit Tante war, oder war es, daß sie selbst an ihr einen eigentümlichen Reiz verspürten; genug, die beiden ältesten, und nach ihnen die jüngeren, hatten sich wie das gewöhnlich bei Kindern der Fall zu sein pflegt, schon bis zur Mittagstafel hin an die neue Tante gemacht und wichen nicht von ihrer Seite.

Es hatte sich eine Art Spiel unter ihnen arrangiert, welches darin bestand, daß man sich so eng als möglich neben die Tante zu setzen suchte, sich an sie anschmiegte, ihre kleine Hand festhielt, sie küßte, mit ihrem Ringe spielte oder doch wenigstens die Fransen ihres Kleides zu berühren strebte.

»Jetzt wollen wir wieder sitzen, wie vorher,« sagte Anna Arkadjewna, sich auf ihren Platz niederlassend.

Grischa steckte wiederum seinen Kopf unter ihre Hand, schmiegte sich in die Falten ihres Kleides und strahlte vor Stolz und Glück.

»Also jetzt hat man hier wohl einen Ball?« wandte sich Anna an Kity.

»In nächster Woche. Es wird ein schöner Ball werden; einer von jenen auf denen es stets recht lustig ist.«

»Giebt es denn solche, auf denen es stets lustig ist?« frug Anna mit seinem Lächeln.

»Die Frage ist eigentümlich. Gewiß! Bei den Bobwischtscheff ist es stets lustig, bei den Nikitin auch, allerdings bei den Meschkowy ist es immer langweilig. Habt Ihr dies denn noch nicht bemerkt?«

»Nein, mein Kind, für mich giebt es keine solchen Bälle mehr, auf denen es stets lustig ist,« antwortete Anna; Kity gewahrte in ihren Augen wieder jene sonderbare Welt, die ihr nicht zugänglich war.

»Für mich giebt es nur solche, auf denen es zum mindesten langweilig ist.«

»Wie ist das möglich, daß Ihr gar es auf einem Balle langweilig findet?«

»Warum sollte es unmöglich sein, daß gerade ich den Ball langweilig finde?« frug Anna.

Kity merkte, daß Anna recht wohl wußte, welche Antwort kommen müsse.

»Nun deswegen, weil Ihr doch stets die Schönste von allen dabei sein würdet!«

Anna besaß die Fähigkeit, erröten zu können. Sie errötete daher und sagte:

»Das ist zunächst nicht der Fall, und dann, selbst wenn dem so wäre, warum?«

»Ihr werdet doch auf den Ball fahren?« frug Kity.

»Ich denke, es wird nicht zu umgehen sein. – Da nimm ihn,« sagte sie zu Tanja, welche ihr den leicht von ihrem weißen Finger herabgehenden Ring abgezogen hatte.

»Ich werde mich sehr freuen, wenn Ihr mitkommt, denn ich möchte Euch gar zu gern auf dem Balle sehen.«

»Nun, wenn denn einmal gefahren sein muß, so werde ich mich mit dem Gedanken trösten, daß dies eben Euch Vergnügen macht. Grischa, zerr‘ nicht so, bitte; sie haben mich schon ganz derangiert,« sprach sie, eine in Unordnung geratene Haarflechte, mit der Grischa gespielt hatte wieder zurechtsteckend.

»Ich denke mir Euch auf dem Ball in Lila.«

»Weshalb gerade in Lila?« lächelte Anna. »Kinder geht jetzt, geht! Hört ihr? Miß Goul ruft euch zum Thee,« fuhr sie fort, die Kinder von sich losmachend und sie nach dem Speisesalon dirigierend. »Ich weiß übrigens, weshalb Ihr mich zu der Teilnahme am Balle einladet. Ihr versprecht Euch viel von demselben und wünscht, daß jedermann dort und Teilhaber dabei sein möchte.«

»Woher wißt Ihr das? Allerdings.«

»O, wie schön ist doch Euer Alter,« fuhr Anna fort, »ich entsinne mich noch jenes blauen Nebels, ähnlich dem, der sich über die Berge der Schweiz lagert, jenes Nebels, der alles in dieser glückseligen Zeit überdeckt, da die Kindheit für uns aufgehört hat und aus ihrem grenzenlosen Kreise des Glückes und der Lust ein Weg, enger und enger werdend, in Heiterkeit und Scherz in diese Ensilade hineinführt, obwohl er hell und angenehm erscheint. Wer hätte diesen Weg nicht durchschritten?

Kity lächelte schweigend, »sie hat ihn gewiß zurückgelegt, was gäbe ich nicht darum, könnte ich ihren ganzen Roman in Erfahrung bringen,« dachte sie und vergegenwärtigte sich dabei das unpoetische Äußere Aleksey Aleksandrowitschs, ihres Gatten.

»Ich bin schon in einigem unterrichtet, Stefan erzählte mir davon; ich gratuliere; er gefällt mir sehr,« fuhr Anna fort, »ich traf mit Wronskiy auf der Eisenbahn zusammen.«

»Ah; er war dort?« frug Kity errötend, »was hat Euch Stefan erzählt?«

»Er hat mit mir nur leichthin geplaudert; ich wäre sehr froh gewesen – Gestern bin ich mit der Mutter Wronskiys hierher gereist,« fuhr sie fort, »und diese hat mir in einem fort von ihm erzählt, er ist ihr Liebling. Ich weiß, wie leidenschaftlich Mütter für ihre Kinder eingenommen sein können, aber« –

»Was hat Euch denn seine Mutter erzählt?«

»O, viel! Ich weiß wohl, daß er ihr Liebling ist, aber es ist trotzdem auch sichtbar, daß er auch der vollendete Kavalier ist. Nun, zum Beispiel hat sie mir erzählt, daß er sein ganzes Besitztum seinem Bruder überlassen wollte, daß er bereits in seiner Jugend eine ungewöhnliche That vollbracht habe, indem er ein Weib aus dem Wasser errettete. Mit einem Worte, er ist ein Heros,« sagte Anna lächelnd, und sich dabei der zweihundert Rubel erinnernd, die er auf der Station geschenkt hatte.

Doch von diesen erzählte sie nichts, weil es ihr unangenehm war, an das Vorkommnis zurückzudenken. Sie empfand, daß in der Sache etwas auf sie selbst Weisendes gelegen hatte etwas, das nicht hätte sein dürfen.

»Sie hat mich lebhaft gebeten, zu ihr zu kommen,« fuhr Anna fort, »und ich werde mich freuen, die liebe alte Dame wiedersehen zu können. Morgen gedenke ich daher zu ihr zu fahren. Indessen – Gott sei gedankt – Stefan bleibe lange bei Dolly im Kabinett,« fügte sie alsdann hinzu, das Thema wechselnd und sich erhebend; wie es Kity schien, mochte sie mit irgend etwas unzufrieden sein.

»Nein, ich will zuerst zur Tante! Nein ich! Nein ich!« schrieen jetzt die Kinder, welche mit Theetrinken fertig waren und wieder zur Tante Anna geeilt kamen.

»Alle zusammen sollen bei mir sein!« rief diese, ihnen lachend entgegenlaufend und sie umarmend, worauf sie die ganze Schar der sich tummelnden und vor Lust laut hinausschreienden Kinder über den Haufen warf.

16.

Wronskiy hatte nie ein Familienleben kennen gelernt. Seine Mutter war in ihrer Jugend eine glänzende Dame in der großen Welt gewesen, die zur Zeit ihres Ehestandes und namentlich auch nach demselben viele Romane erlebt hatte, welche die ganze Welt kannte. Seines Vaters konnte er sich fast gar nicht mehr entsinnen; er selbst war im Pagencorps auferzogen worden.

Als sehr junger, glänzender Offizier die Schule verlassend, trat er unvermittelt in den Kreis der petersburgischen Offiziere ein; obwohl er aber nun auch bisweilen in der petersburger Gesellschaft erschien, so lagen doch alle seine Lieblingsinteressen außerhalb dieser Gesellschaft.

In Moskau erfuhr er zum erstenmal, nach einem üppigen und wüsten Leben in Petersburg, den Reiz der Annäherung an sein feingebildetes, liebenswürdiges und unschuldiges Mädchen, das ihn liebte.

Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß etwas Sündhaftes in seinen Beziehungen zu Kity liegen könnte. Auf den Bällen tanzte er vorzugsweise mit ihr und er besuchte ihr Haus; er sprach mit ihr, was man in der Gesellschaft gewöhnlich zu sprechen pflegt, Nichtigkeiten; aber Nichtigkeiten, denen er ohne es vielleicht zu wollen, einen für sie bedeutungsvollen Sinn verlieh.

Obwohl er ihr nie etwas gesagt hatte, was er nicht ebenso gut vor der gesamten Gesellschaft hätte sagen können, empfand er, daß sie immer mehr und mehr in ein Verhältnis von Abhängigkeit von ihm geriet, und je mehr er dessen inne ward, desto angenehmer war es ihm, und seine Empfindung für sie wurde allmählich inniger. Er wußte, daß sein Verhalten gegenüber Kity eine bestimmte Bedeutung hatte, daß es eine Verführung der Weiber ohne Äußerung der Absicht eine Ehe zu schließen war; daß diese Verführungskunst eine jener schlechten Handlungen darstelle, wie sie unter den glänzenden jungen Männern seiner Art gewöhnlich waren. Ihm dünkte, als habe er zuerst diesen Genuß entdeckt und er gefiel sich im Genuß seiner Entdeckung.

Hätte er hören können, was ihre Eltern an diesem Abend sprachen, hätte er sich auf den Anschauungskreis der Familie stellen und so wahrnehmen können, daß Kity unglücklich werden würde wenn er sie nicht heimführte, so wäre er höchlich in Verwunderung geraten und hätte das nicht geglaubt. Er vermochte nicht zu glauben, daß das, was ihm nur ein großes, schönes Vergnügen gewährte, und für sie das höchste bildete, – daß dies sündhaft war. Und noch weniger hätte er daran glauben können, daß er heiraten müßte.

Eine Vermählung hatte er sich noch niemals als Möglichkeit gedacht; er liebte das Familienleben nicht nur nicht, er sah sogar in der Ehe, im Ehemann aber besonders, nach der allgemeinen Anschauung der kalten Sphäre, in der er lebte, etwas Seltsames, Verhaßtes, und vor allem – Lächerliches. Aber wenn auch Wronskiy nicht ahnte, was die Eltern Kitys unter sich sprachen, so empfand er doch an diesem Abend beim Abschiednehmen von den Schtscherbazkiys, daß jenes geheimnisvolle seelische Bündnis zwischen ihm und Kity sich an demselben so sehr gefestigt hatte, daß man sich wohl zu irgend einem Entschluß aufraffen müsse. Was freilich gethan werden konnte oder mußte, das war er nicht imstande, sich klar zu machen.

»Es ist reizend,« dachte er bei sich, als er von den Schtscherbazkiys hinwegging und von ihnen heute wie immer das angenehme Gefühl einer Reinheit und Frische, zum Teil wohl auch dadurch entstanden, daß er den ganzen Abend hindurch nicht geraucht hatte, mit hinwegnehmend und verbunden mit diesem eine ihm neue Empfindung von Rührung über ihre Liebe zu ihm. »Es ist reizend, daß kein Wort von mir oder von ihr gesprochen worden ist, und wir uns doch einander in diesem unhörbaren Gespräch so verstanden haben, daß sie jetzt offenbarer als jemals mir gestanden hat, wie sie mich liebt. Und auf wie liebliche, naive und – was am meisten galt vertrauensvolle Weise hat sie es mir zu verstehen gegeben. Ich selbst fühle mich besser und geläuterter davon. Ich fühle, daß ich ein Herz besitze, daß in mir doch viel Gutes schlummert. Diese guten liebevollen Augen, als sie zu mir sagte: ,Gewiß werde ich auf dem Balle sein.’«

»Aber was weiter thun? Hm – nichts! Ich befinde mich ganz Wohl dabei und sie auch.« Er überlegte nunmehr, wo er den heutigen Abend noch ausfüllen könnte, und ließ alle die Orte Revue passieren, wohin er sich begeben konnte.

»In den Klub? – Spiel und Champagner? – Nein, dahin nicht. Chateaudes fleurs? – Da finde ich Oblonskiy, Couplets und Cancan. Das ist langweilig! Eben deshalb liebe ich ja die Schtscherbazkiy, um mich selbst zu bessern. Also nach Hause denn!«

Er begab sich in sein Logis bei Dussot, ließ ein Souper kommen und begab sich dann zur Ruhe. Er hatte kaum das Haupt auf die Kissen gelegt, als er schon in festen Schlaf versunken war.

17.

Am andern Tage morgens um elf Uhr fuhr Wronskiy auf den Bahnhof der Petersburger Eisenbahn, um die Mutter abzuholen. Das erste Gesicht, das ihm auf den Stufen der großen Treppe in die Augen fiel, war Oblonskiy, der mit dem nämlichen Zuge seine Schwester erwartete.

»Ah, Excellenz!« rief Oblonskiy. »Aus welchem Grunde bist du heute hier?«

»Der Mutter halber,« antwortete Wronskiy mit dem nämlichen Lächeln, welches jedermann hatte, der Oblonskiy begegnete; er drückte diesem die Hand und stieg mit ihm zur Treppe hinauf; »sie muß jetzt mit dem Petersburger Zuge ankommen.«

»Ich habe dich bis zwei Uhr erwartet. Wohin bist du denn gefahren von den Schtscherbazkiys aus?«

»Nach Hause,« versetzte Wronskiy, »ich muß gestehen, es war mir gestern nach dem Besuch bei den Schtscherbazkiys so angenehm zu Mut, daß ich nirgendshin zu fahren noch Lust hatte.«

»Man erkennt die verliebten Jünglinge an den Augen,« deklamierte Stefan Arkadjewitsch ebenso wie er dies früher Lewin gesagt hatte.

Wronskiy lächelte mit einem Ausdruck welcher besagte, daß er dies nicht in Abrede stellen konnte, sprang aber sogleich auf ein anderes Thema über.

»Wen erwartest du denn?« frug er seinerseits.

»Ich? Ich erwarte die beste Frau die es giebt,« sagte Oblonskiy.

»Sieh da!«

» Honny soit qui mal y pense! Meine Schwester Anna!«

»Aha; die Karenina!« rief Wronskiy.

»Du kennst sie ja wohl?«

»Ich glaube – oder sollte es nicht sein? Allerdings, ich kann mich nicht besinnen,« sagte Wronskiy zerstreut, sich unter dem Namen Karenina irgend etwas Affektiertes und Langweiliges vorstellend.

»Aber den Aleksey Aleksandrowitsch, meinen berühmten Schwager kennst du Wohl. Den kennt ja die ganze Welt.«

»Ja, das heißt nur dem Rufe und dem Aussehen nach. Ich weiß daß er ein verständiger, gelehrter und frommer Mann ist. Aber du weißt ja, daß dies nicht in meinem Gesichtskreis – not in my line – liegt,« sagte Wronskiy.

»Er ist ein sehr bedeutender Mann; ein wenig konservativ, aber ein vorzüglicher Mensch,« bemerkte Stefan Arkadjewitsch, »ein vorzüglicher Mensch.«

»Um so besser für ihn,« antwortete Wronskiy lächelnd. – »Nun, bist du hier?« wandte er sich an einen hochgewachsenen alten Diener, der an der Thür stand, den Lakai seiner Mutter.

Wronskiy fühlte sich in letzter Zeit, ungeachtet der ohnehin gegen Alle zu Tage tretenden Freundlichkeit Stefan Arkadjewitschs, verpflichtet, diesem umsomehr mit Zuvorkommenheit zu begegnen, als er nach seiner Auffassung mit Kity in Verbindung stand.

»Wirst du Sonntag nicht ein Souper für die ›Divas‹ geben?« sagte er, ihn lächelnd unter dem Arme fassend.

»Sicherlich. Indessen bist du gestern mit meinem Freunde Lewin bekannt geworden?« frug Stefan Arkadjewitsch.

»Gewiß. Doch zog er sich ziemlich frühzeitig zurück.«

»Er ist ein vorzüglicher Mensch,« fuhr Oblonskiy fort, »habe ich nicht recht?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Wronskiy, »warum es bei allen Moskauern der Fall ist – diejenigen natürlich ausgenommen,« bemerkte er scherzend, »mit denen ich spreche, daß sie etwas Entschiedenes, etwas stets Opponierendes, Jähes, haben, als ob sie einem stets etwas zu fühlen geben wollten.«

»So ist es, ja, ja,« lachte Stefan Arkadjewitsch heiter.

»Nun, kommt der Zug bald?« wandte sich Wronskiy an den Diener.

»Der Zug ist soeben eingefahren,« antwortete dieser.

Das Nahen des Trains zeigte sich in der mehr und mehr zunehmenden Bewegung zu Vorbereitungen auf dem Perron, in dem Hin- und Herlaufen der Träger, dem Erscheinen der Polizeiwachen und Beamten, in dem Vorfahren der Abholenden.

Durch den Winternebel wurden die Arbeiter in ihren Halbpelzen und den weichen plumpen Stiefeln sichtbar, wie sie auf den gewundenen Schienensträngen umherliefen. Der Pfiff der Dampfpfeife ertönte und man vernahm die Bewegung eines schweren Etwas.

»Nein,« sagte Stefan Arkadjewitsch, den es sehr verlangte, Wronskiy von den Absichten Lewins auf Kity Mitteilung zu machen. »Nein, du würdigst meinen Freund Lewin nicht richtig. Er ist ein sehr nervöser Mensch und gewöhnlich erscheint er unangenehm, das ist ja wahr, aber gleichwohl ist er dafür bisweilen wieder höchst liebenswert. Er besitzt eine so ehrenhafte, rechtschaffene Natur und ein goldenes Herz. Gestern aber hatte er eine besondere Ursache,« fuhr Stefan Arkadjewitsch mit bedeutungsvollem Lächeln fort und gänzlich die aufrichtige Empfindung vergessend, die er gestern für den Freund gehabt hatte; dieselbe äußerte sich jetzt in gleicherweise, aber Wronskiy gegenüber. »Ja, eine besondere Ursache war es, infolge deren er sehr glücklich oder sehr unglücklich werden könnte.«

Wronskiy blieb stehen und frug geradezu: »Was heißt das? Hat er etwa gestern deiner belle-soeur eine Liebeserklärung gemacht?«

»Vielleicht,« antwortete Stefan Arkadjewitsch, »mir schien es gestern wenigstens so. »Ja, ja, wenn er gestern schon zeitig den Abendcirkel verlassen hat und nicht bei Laune gewesen ist, so wird es schon so gewesen sein. Er ist schon ziemlich lange verliebt und thut mir aufrichtig leid.«

»Da haben wir’s. Ich glaube übrigens, das Mädchen könnte auf eine bessere Partie reflektieren,« sagte Wronskiy, sich hochaufrichtend und wieder zu gehen beginnend; »doch ich weiß ja freilich nichts,« fügte er dann hinzu. »Das sind schwierige Situationen und daher zieht eben die große Mehrheit lieber die Bekanntschaften mit den Claras ec. vor. Hier äußert sich ein Fehlschlag wenigstens nur insofern, als der Geldbeutel zu klein gewesen ist, dort aber – liegt die Ehre auf der Wagschale. – Indessen, da ist der Zug!« –

In der That pfiff derselbe von fern und nach einigen Minuten erbebte der Perron, und schnaubend in dem von der Kälte nach unten getriebenen Rauch rollte das Dampfroß mit den langsam und stetig sich senkenden und hebenden Kolben des großen Mittelrades und dem sich herabbeugenden, dick angezogenen und reifbedeckten Maschinisten herein. Hinter dem Tender, aber immer langsamer, und den Perron mehr erschütternd, folgte der Bagagewagen mit einem heulenden Hunde und endlich, über kleine Hindernisse springend, kamen die Passagierwaggons.

Ein junger Kondukteur sprang herab, im Laufen einen Pfiff gebend, ihm folgten einzeln die ungeduldigen Passagiere; ein Gardeoffizier in strenger und ernster Haltung um sich blickend, ein beweglicher Kaufmann mit seinem Portefeuille, und heiterem Lachen auf den Zügen – ein Bauer mit einem Sack quer auf den Schultern.

Wronskiy, neben Oblonskiy stehend, musterte die Waggons und die aus ihnen Heraussteigenden; er hatte seine Mutter ganz vergessen; das, was er soeben betreffs Kitys erfahren hatte, regte ihn an und erfreute ihn. Seine Brust dehnte sich unwillkürlich und sein Auge blitzte auf. Er fühlte sich als Sieger.

»Die Gräfin Wronskiy ist in diesem Coupé,« sagte der junge Kondukteur, an Wronskiy herantretend.

Die Worte des Beamten erweckten diesen und brachten ihm die Mutter in Erinnerung und das bevorstehende Wiedersehen mit ihr.

Er achtete seine Mutter im Grund seiner Seele nicht, und, ohne sich eine Rechenschaft geben zu können, weshalb, liebte er sie auch nicht, obwohl er sich nach den Begriffen der Kreise in denen er lebte, seinem Bildungsgange nach andere Beziehungen zu seiner Mutter als die ehrfurchtsvollsten und ergebensten, nicht denken konnte; diese Beziehungen waren äußerlich um so ergebener und achtungsvoller, je weniger er in seinem Innern Achtung und Liebe hegte.

18.

Wronskiy folgte dem Beamten zu dem Waggon; er blieb an dem Eingang ins Coupé stehen, um einer heraussteigenden Dame Raum zu geben.

Mit dem gewöhnlichen Takte des Weltmannes erkannte Wronskiy auf, den ersten Blick in dem Äußern der Dame, daß diese den höchsten Ständen angehörte. Er entschuldigte sich und trat dann in den Waggon, fühlte aber eine Versuchung in sich, nochmals ihr nachzublicken, nicht etwa deshalb, weil sie sehr schön gewesen wäre, nicht wegen ihrer vorzüglichen und decenten Grazie, die über der ganzen Figur lag, sondern deshalb, weil in dem Ausdruck ihrer wohlwollenden Züge, als sie an ihm vorübergeschritten war, etwas ausnehmend Freundliches und Mildes gelegen hatte.

Als er sich umwandte, drehte auch sie das Haupt rückwärts. Ihre glänzenden grauen Augen, die dunkel unter den dichten Wimpern hervorschauten, hafteten aufmerksam auf seinem Gesicht, als habe sie ihn erkannt, dann aber schweiften ihre Augen auf den vorüberwallenden Haufen, als suche sie jemand in diesem.

An diesem kurzen Blick hatte Wronskiy die zurückgehaltene Lebhaftigkeit bemerkt, die auf ihrem Antlitz lag und aus den blitzenden Augen sprühte, aus dem leisen Lächeln sprach, das ihre roten Lippen kräuselte. Etwas gleichsam Übermütiges schien ihr Wesen so zu erfüllen, daß es sich wohl wider ihren Willen bald im Glanz ihrer Augen, bald in ihrem Lächeln ausprägte. Sie schien absichtlich das Feuer ihrer Augen zu dämpfen, aber es leuchtete ihr zum Trotz dann aus dem kaum bemerkbaren Lächeln.

Wronskiy trat in den Waggon. Seine Mutter, eine alte hagere Dame mit schwarzen Augen und Locken, kniff die Augen zusammen, als sie den Sohn erblickte und kräuselte leicht die schmalen Lippen. Sie erhob sich vom Polster, übergab ihrer Zofe ein Beutelchen und reichte dem Sohne die kleine dürre Hand, worauf sie ihn, seinen Kopf mit der Hand hebend, küßte.

»Hast du mein Telegramm erhalten? Bist du Wohl? Gott sei Dank?«

»Glücklich angekommen?« antwortete der Sohn, sich neben sie setzend und unwillkürlich einer Damenstimme vor der Thür draußen lauschend. Er wußte, daß dies die Stimme jener Dame sei, die ihm bei seinem Eintritt begegnet war.

»Ich bin aber dennoch nicht mit Euch einverstanden,« sprach die Stimme jener Dame.

»Das ist so petersburgische Ansicht, Gnädigste!«

»Nicht eine petersburgische Ansicht, sondern ein Frauenblick,« antwortete sie.

»Nun, Ihr erlaubt doch – Eurer Hand einen Kuß« –

»Auf Wiedersehen, Iwan Petrowitsch. Aber seht doch einmal zu, ob nicht mein Bruder hier ist, und sendet ihn dann zu mir,« fuhr die Dame fort, dicht an der Thür stehend und alsdann aufs neue in das Coupé tretend.

»Nun, habt Ihr Euren Bruder angetroffen?« frug die Gräfin Wronskaja, sich an die Dame wendend.

Wronskiy erkannte jetzt, daß diese die Karenina sein müsse.

»Euer Bruder ist hier,« sagte er, sich erhebend. »Entschuldigt mich, ich habe Euch nicht erkannt, denn unsere Bekanntschaft war von so kurzer Dauer,« fuhr er fort, sie begrüßend, »daß Ihr Euch meiner wahrscheinlich nicht mehr entsinnen werdet.«

»O doch;« ich würde Euch erkannt haben, da ich mit Eurer Mama wohl die ganze Route über von Euch gesprochen habe,« antwortete sie, jetzt endlich ihrer Lebhaftigkeit die sich nach außen drängte, gestattend, in einem Lächeln zu erscheinen. »Aber mein Bruder ist doch wohl nicht hier?«

»Rufe ihn, Aljoscha,« sagte die alte Gräfin.

Wronskiy trat ans den Perron hinaus und rief: »Oblonskiy, hier!«

Karenina erwartete aber ihren Bruder nicht erst, sondern eilte, sobald sie seiner ansichtig geworden, mit schnellen leichten Schritten aus dem Waggon. Kaum war der Bruder an sie herangetreten, so umfing sie voll Gewandtheit und Grazie die Wronskiy frappierte, mit dem linken Arm seinen Hals, zog ihn schnell an sich und küßte ihn herzlich.

Wronskiy musterte sie, ohne den Blick von ihr wegzuwenden und lächelte, ohne zu wissen, weshalb. Doch, sich erinnernd, daß die Mutter ihn erwarte, trat er wieder in den Waggon.

»Nicht wahr, sie ist reizend?« frug ihn dieselbe. »Ihr Gatte hat sie in meine Gesellschaft gegeben und ich habe mich darüber sehr gefreut. Ich habe mich während der ganzen Fahrt mit ihr unterhalten. Du aber – sagt man nicht – vous filez le parfait amour. Tant mieux, mon cheri, tant mieux

»Ich weiß nicht, worauf Ihr hinzielt, maman,« antwortete der Sohn kühl. »Aber wollen wir jetzt gehen, maman

Die Karenina trat in diesem Augenblick nochmals in das Coupé, um sich von der Gräfin zu verabschieden.

»Nun Gräfin, Ihr habt den Sohn gefunden, ich den Bruder,« scherzte sie heiter, »meine Erzählungen wären nunmehr alle erschöpft, und weiter hatte ich nichts mehr zu berichten.«

»O nein,« versetzte die Gräfin, sie an der Hand nehmend, »mit Euch möchte ich rund um die Erde reisen und ich könnte mich nicht langweilen. Ihr seid eine von jenen lieben Frauen mit denen man gern spricht und gern schweigt. Aber an Euern Sohn denkt nicht, Ihr müßt Euch von ihm doch einmal trennen.« –

Karenina stand unbeweglich, sie hielt sich außerordentlich steif aufgerichtet und ihre Äugen lächelten.

»Anna Karenina,« begann die Gräfin, ihrem Sohne eine Erklärung gebend, »hat ein Söhnchen, von acht Jahren wohl, und sie möchte sich niemals von ihm trennen; es schmerzt sie nun, daß sie es hat verlassen müssen.«

»Ja, wir haben die ganze Zeit über nur von unseren Söhnen gesprochen,« sagte die Karenina, »die Gräfin von dem ihren, und ich von dem meinen,« und wieder spielte hell ein Lächeln über ihr Antlitz, ein schmeichelndes Lächeln, das ihm galt.

»Wahrscheinlich wird Euch dies sehr schmerzlich gewesen sein,« sagte er, im Fluge den koketten Blick auffangend, den sie ihm zuwarf. Sie schien indessen nicht gewillt zu sein, das Gespräch in dieser Weise weiterzuführen und wandte sich an die alte Gräfin:

»Ich danke Euch herzlich; ich selbst weiß nicht recht, wie mir der gestrige Tag verflogen ist; auf Wiedersehen denn, Gräfin.«

»Adieu, liebste Freundin,« versetzte die Gräfin, »laßt mich Euer liebes Gesichtchen küssen. Ich bin eine offenherzige alte Frau und sage es gerade heraus, daß ich Euch lieb gewonnen habe.«

So gedrechselt dieser Satz auch sein mochte, die Karenina glaubte diesen Worten offenbar und freute sich über sie. Sie errötete, verbeugte sich leicht und bot ihr Antlitz den Lippen der Gräfin, dann richtete sie sich wieder auf und gab mit jenem Lächeln, welches zwischen Augen und Lippen zu wechseln schien, Wronskiy die Hand. Er drückte das kleine ihm gebotene Händchen und freute sich, wie über etwas ganz Besonderes, über den energischen Gegendruck mit dem sie fest und unverhohlen antwortete.

Schnell schritt sie hierauf hinaus mit seltsamer Leichtigkeit die ziemlich volle Gestalt bewegend.

»Sehr lieb,« sagte die alte Gräfin.

Das Nämliche dachte ihr Sohn. Er begleitete sie mit seinen Augen so lange, wie ihre graziöse Figur sichtbar blieb, und ein Lächeln lag auf seinen Zügen.

Durch das Fenster sah er, wie sie sich zu ihrem Bruder begab, ihren Arm in den seinen legte und lebhaft mit ihm zu sprechen begann, augenscheinlich von einem Thema, das ihn selbst, Wronskiy, herzlich wenig betreffen mochte; dies aber war ihm fast ärgerlich.

»Nun, Mama, seid Ihr denn bei recht guter Gesundheit?« wiederholte er seine frühere Frage, sich wieder an die Mutter wendend.

»Es geht recht wohl, ausgezeichnet. Alexander war äußerst lieb und Marie ist sehr hübsch geworden; sehr interessant.«

Sie begann von neuem davon zu erzählen, daß sie vor allem in Anspruch genommen worden sei von der Taufe eines Enkels, zu welcher sie nach Petersburg zu dem ältesten ihrer Söhne gereist war.

»Da ist ja Laurenz,« sagte Wronskiy, durch das Fenster schauend, »jetzt können wir gehen, wenn du willst.«

Ein alter Diener, welcher mit der Gräfin gereist war, erschien im Coupé, um zu melden, daß alles bereit sei, und die Gräfin erhob sich, um zu gehen.

»Komm; jetzt sind nur noch wenig Personen auf dem Perron,« sagte Wronskiy.

Die Zofe ergriff das Arbeitsbeutelchen und den Schoßhund, der Diener und ein Träger das übrige Gepäck, und Wronskiy nahm seine Mutter am Arme; als sie bereits den Waggon verlassen hatten, kamen plötzlich einige Leute mit erschreckten Gesichtern an ihnen vorübergelaufen; auch der Stationschef erschien in seiner Mütze von auffallender Farbe. Augenscheinlich war etwas Ungewöhnliches vorgefallen; das Volk von dem Train kam zurück.

»Was giebt es denn! Was ist! – Es ist jemand unter den Zug geraten! – Er ist zerquetscht!« hörte man verschiedene Stimmen unter den Vorübereilenden.

Stefan Arkadjewitsch, die Schwester am Arme, und beide ebenfalls mit erschreckten Gesichtern, waren stehen geblieben und hatten sich das Volk vermeidend, nach dem Coupé zurückgewandt.

Die Damen traten wieder hinein, Wronskiy aber und Stefan Arkadjewitsch mischten sich unter die Menge, um Näheres über den Unglücksfall zu erfahren.

Ein Weichenwärter – mochte er berauscht oder vor der starken Kälte zu sehr vermummt gewesen sein – hatte den rückwärts sich bewegenden Zug nicht wahrgenommen, und war überfahren worden.

Noch bevor Wronskiy und Oblonskiy zurückgekehrt waren, hatten die Damen diese Einzelheiten schon von dem Diener erfahren.

Oblonskiy und Wronskiy sahen beide den unförmlich gewordenen Leichnam und der Erstere war augenscheinlich hiervon tief ergriffen. Er wurde traurig und schien fast in der Stimmung zu sein, Thränen zu vergießen.

»O, welches Entsetzen! Ach, Anna, hättest du das gesehen, o welch ein Unglück!« rief er aus.

Wronskiy schwieg; sein hübsches Gesicht war nur ernst, aber es blieb vollkommen ruhig.

»Hättet Ihr das gesehen, Gräfin,« fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, »auch sein Weib war dabei. Es war ein furchtbarer Anblick, dieses zu sehen. Es warf sich über den Toten; man sagt, er allein habe seine sehr zahlreiche Familie erhalten. Dies ist das Unglück!« –

»Kann man denn nicht etwas thun für die Frau?« frug die Karenina in aufgeregt flüsterndem Tone.

Wronskiy blickte sie an und verließ sogleich den Waggon.

»Ich werde sofort wiederkommen, maman,« sagte er, sich an der Thür nochmals umwendend.

Als er nach Verlauf mehrerer Minuten zurückkam, hatte sich Stefan Arkadjewitsch bereits mit der Gräfin über die neue Sängerin unterhalten, während diese gespannt nach der Waggonthür schaute, den Sohn erwartend.

»Jetzt wollen wir gehen,« sagte Wronskiy, hereintretend.

Sie gingen alle zusammen hinaus. Wronskiy ging voran mit seiner Mutter; hinter dieser Karenina mit ihrem Bruder. Am Eingang trat der Stationsvorsteher an Wronskiy heran? der von ihm eingeholt worden war.

»Ihr habt meinem Vertreter zweihundert Rubel eingehändigt. Wollt doch die Güte haben zu bestimmen, für wen das Geld ausgesetzt sein soll?«

»Der Witwe,« antwortete Wronskiy, die Achsel ziehend, »ich begreife nicht, wie darnach noch gefragt werden kann.«

»Ihr habt gegeben?« rief Oblonskiy hinten aus und fügte hinzu, die Hand der Schwester drückend: »Das ist doch charmant, charmant; er ist doch ein herrlicher Mensch, habe ich nicht recht? Meine Hochachtung, Gräfin!«

Er blieb mit der Schwester stehen, um deren Zofe ausfindig zu machen. Als sie hinaustraten, war der Wagen der Wronskiy schon abgefahren, die Leute unterhielten sich noch immer über den Unglücksfall, der sich soeben ereignet hatte.

»Es ist ein entsetzlicher Tod,« sagte ein vorübergehender Herr, »man sagt, er sei in zwei Stücke zerfahren gewesen.«

»Aber ich glaube, im Gegenteil, der leichteste war es, da er augenblicklich tot gewesen ist,« meinte ein anderer.

»Daß man sich solches nicht zur Warnung dienen läßt,« ein dritter.

Die Karenina setzte sich in den Wagen und Stefan Arkadjewitsch gewahrte mit Verwunderung, daß ihre Lippen bebten und sie nur mit Mühe die Thränen unterdrückte.

»Was ist dir, Anna?« frug er.

»Ein böses Anzeichen.«

»Thorheiten, du bist glücklich angekommen, das ist die Hauptsache. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir von dir verspreche.«

»Kennst du Wronskiy schon lange?« frug sie.

»Ja. Du weißt, daß wir hoffen, er möchte Kity heiraten.«

»Ja wohl,« versetzte Anna leise. »Aber jetzt wollen wir einmal von deinen Angelegenheiten reden,« fügte sie hinzu, den Kopf schüttelnd, gleichsam als wollte sie etwas Äußerliches abschütteln, was sie bedrückte und störte. »Laß uns jetzt von deinen Angelegenheiten sprechen; ich habe dein Schreiben erhalten und bin daraufhin gekommen.«

»Ganz recht. Meine ganze Hoffnung bist du,« sagte Stefan Arkadjewitsch.

»Nun, so erzähle mir denn alles.«

Stefan Arkadjewitsch begann zu erzählen.

Nachdem man daheim angelangt war, hob Oblonskiy die Schwester aus den Wagen, seufzte, drückte ihr die Hand und begab sich ins Amt.