Swijashskiy war Kreisrichter in seinem Kreis, fünf Jahre älter, als Lewin und schon lange verheiratet. In seinem Hause lebte eine junge Schwägerin, ein junges Mädchen, welches Lewin sehr sympathisch war. Dieser wußte, daß Swijashskiy und dessen Frau das junge Mädchen gar zu gern an ihn verheiratet hätten, er wußte es zweifellos sicher, wie dies gewöhnlich junge Männer wissen, die heiratsfähig genannt werden, obwohl sich noch niemand entschlossen hat, dies zu äußern. Er wußte aber auch, daß er sie, obwohl er heiraten wollte, und allem Anscheine nach das junge, sehr anziehende Mädchen eine vorzügliche Hausfrau werden mußte, ebensowenig ehelichen würde, – selbst, wenn er nicht in Kity Schtscherbazkaya verliebt gewesen wäre, – als man zum Himmel hinauffliegen kann. Diese Erkenntnis verbitterte ihm das Vergnügen, welches er von seinem Besuch bei Swijashskiy zu haben hoffte.
Als Lewin den Brief desselben mit der Einladung zur Jagd erhalten hatte, fiel ihm dies sogleich wieder ein, aber nichtsdestoweniger urteilte er so, daß alle Absichten Swijashskiys auf ihn doch wohl nur auf einer durch nichts begründeten eigenen Mutmaßung beruhten, und er also immerhin zu ihm fahren könne. Überdies jedoch empfand er auf dem Grund seiner Seele ein Gelüst, sich wiederum einmal zu prüfen, sich wieder an diesem jungen Mädchen zu erproben.
Das häusliche Leben der Swijashskiy war ein im höchsten Grade angenehmes; Swijashskiy selbst, der reinste Typus eines Landmanns, den Lewin nur kannte, war für diesen stets außerordentlich interessant.
Swijashskiy war einer von jenen Menschen, die für Lewin ewig wunderbar blieben, deren Urteil zwar sehr logisch, nie aber selbständig war und seinen eigenen Weg ging, während ihr Leben, außerordentlich bestimmt und fest in seiner Richtung, ebenfalls seinen eigenen Weg ging, vollständig unabhängig und fast stets im Widerspruch mit dem Denken.
Swijashskiy war ein außerordentlich liberaldenkender Mensch. Er blickte auf den Adel herab und hielt die Mehrheit desselben auch nur für geheime, von der Knechtschaft nicht lange erst losgekommene Leibeigene. Er hielt Rußland für ein verlorenes Reich nach Art der Türkei und die Regierung des Landes für so schlecht, daß er sich niemals dazu herbeiließ, ihre Maßnahmen auch nur ernst zu prüfen. Gleichzeitig aber diente er amtlich als ein mustergültiger adliger Beamter und setzte unterwegs stets die Mütze mit der Kokarde und dem roten Streif auf.
Er meinte, daß ein menschenwürdiges Dasein nur im Auslande möglich sei, wohin er auch bei jeder Gelegenheit die sich bot, reiste, betrieb aber nichtsdestoweniger in Rußland eine sehr umfangreiche und vervollkommnete Ökonomie. Mit außerordentlichem Interesse verfolgte er alles, und wußte alles, was in Rußland geschah. Den russischen Bauern hielt er für ein Wesen, welches in seiner Entwickelung auf dem Übergangsstadium vom Affen zum Menschen stand, nichtsdestoweniger aber drückte er bei den Kreiswahlen lieber als jedem anderen den Bauern die Hand und hörte ihre Meinungen an. Er glaubte weder an Tod noch an Leben, war aber dennoch sehr besorgt in der Frage der Verbesserung der Lage der Geistlichkeit, und der Verkürzung ihrer Einkünfte, wobei er namentlich die Kirche in seinem Dorfe im Auge hatte.
In der Frauenfrage stand er auf seiten derjenigen, welche die volle Freiheit des Weibes und insbesondere deren Recht auf die Arbeit vertraten, aber er lebte mit seiner Gattin so, daß jedermann ihr gemütvolles, kinderloses Familienleben lieb gewann; und er hatte das Leben seiner Frau so gestaltet, daß sie nichts weiter that, nichts thun konnte, als mit ihrem Manne gemeinsam die Sorge zu teilen, wie sie am besten und angenehmsten die Zeit zubrächten.
Hätte Lewin nicht die Eigenschaft besessen, sich die Menschen nach ihrer besten Seite zu erklären, so würde der Charakter Swijashskiys für ihn keine Schwierigkeiten und keine Fragen offen gelassen haben, er würde sich betreffs derselben einfach gesagt haben: »Er ist entweder ein Narr oder ein Lump« und alles wäre ihm klar gewesen.
Aber er vermochte ihn nicht einen Narren zu nennen, weil Swijashskiy ohne Zweifel nicht nur sehr klug, sondern auch sehr gebildet war und diese Bildung in einer ungewöhnlich natürlichen Weise zur Schau trug.
Es gab nichts, was er nicht kannte, aber er zeigte seine Kenntnis nur dann, wenn er dazu genötigt war. Noch weniger hätte Lewin sagen können, daß er ein Lump sei, weil Swijashskiy ohne Zweifel ein ehrenhafter, guter, verständiger Mann war, welcher heiter und lebenslustig beständig in der Ausübung eines Berufes stand, der von seiner gesamten Umgebung hoch geschätzt wurde, und weil er wahrscheinlich noch niemals bewußt etwas Schlechtes gethan hatte oder hätte thun können.
Lewin bemühte sich, ihn zu verstehen, ohne es dahin zu bringen, und immer wieder schaute er auf ihn und sein Leben, wie auf ein lebendes Rätsel.
Beide Gatten waren befreundet mit Lewin, und dieser hatte sich daher gestattet, Swijashskiy zu prüfen, seine Lebensanschauung bis auf den Grund zu erforschen, allein stets war sein Bemühen vergeblich gewesen. Stets wenn Lewin versuchte, tiefer in die entfernter liegenden Räume des geistigen Bereichs Swijashskiys einzudringen, bemerkte er, daß dieser in eine leichte Verwirrung geriet; ein kaum bemerkbarer Schrecken drückte sich in seinem Blicke aus, gleichsam als ob er fürchtete, Lewin möchte ihn fassen – und er führte in gutmütiger und launiger Weise einen Gegenschlag.
Jetzt, nach seiner Ernüchterung in Sachen der Landwirtschaft, war Lewin ein Besuch bei Swijashskiy ganz besonders willkommen. Nicht nur, daß ihn der Anblick dieses glücklichen, mit sich selbst und allen zufriedenen liebenden Taubenpaares, und ihres wohlgegründeten Nestes in freundlichere Stimmung versetzte, verlangte es ihn, der sich von seinem eigenen Dasein so unbefriedigt fühlte, jetzt auch in Swijashskiy jenes Geheimnis zu ergründen, welches diesem solche Klarheit, Bestimmtheit und Lebenslust verlieh.
Dann aber wußte Lewin auch, daß er bei Swijashskiy benachbarte Gutsbesitzer sehen würde, und es interessierte ihn nun ganz besonders, von der Landwirtschaft zu erfahren und die Gespräche über die Ernte, das Dingen der Feldarbeiter und dergleichen hören zu können, welche ihm, wenn er auch wußte, daß man dies in gewissem Sinne als simpel bezeichnete, jetzt am allerwichtigsten schienen.
»Dies war ja vielleicht nicht nötig unter der Herrschaft des Leibeigenschaftsgesetzes, ist meinetwegen nicht von Bedeutung für England. Für beide Fälle wären Grundgesetze vorhanden; aber jetzt, wo in Rußland alles sich umwälzte, und eben erst zur Ordnung kam, zeigte sich die Frage, wie man mit diesen Grundgesetzen nun auskommen solle, als die einzig wichtige hier,« dachte Lewin.
Die Jagd zeigte sich schlechter, als Lewin erwartet hatte. Die Sümpfe waren ausgetrocknet und Vögel waren gar nicht da. Er strich einen ganzen Tag im Walde und brachte nur drei Stück, dafür aber, wie gewöhnlich von der Jagd, eine ausgezeichnete Eßlust, gute Laune und jenen Zustand geistiger Frische mit, von welchem bei ihm jede starke körperliche Bewegung begleitet war.
Auf der Jagd, während er, wie es schien eigentlich an nichts dachte, fiel ihm gleichwohl jener Alte mit seiner Familie wieder ein, und der empfangene Eindruck forderte von ihm nicht nur Aufmerksamkeit, sondern vielmehr die Ausscheidung von etwas Unbestimmten, das damit verbunden war.
Am Abend beim Thee entwickelte sich in der Gegenwart zweier Gutsbesitzer, welche in Vormundschaftsgeschäften gekommen waren, das hochinteressante Gespräch, welches Lewin erwartet hatte.
Dieser saß neben der Hausfrau am Theetisch und mußte mit derselben und mit der jungen Schwägerin, welche ihm gegenüber saß, der Unterhaltung pflegen.
Die Hausfrau war ein Weib mit rundem Gesicht, blond und nicht groß; sie erglänzte förmlich mit ihrem Lächeln und ihren Grübchen. Lewin bemühte sich, durch sie die Lösung des ihm so wichtigen Rätsels zu erfahren, das ihr Gatte für ihn bildete; aber er hatte nicht die volle Freiheit seiner Gedanken, weil er sich in einer für ihn qualvoll peinlichen Situation befand. Qualvoll peinlich war sie ihm, weil ihm gegenüber die junge Schwägerin in einer eigens für ihn, wie ihm schien, angelegten Robe saß, mit einem eigenartigen, in Gestalt eines länglichen Vierecks angebrachten Ausschnitt auf der weißen Büste. Dieser viereckige Ausschnitt war es, der abgesehen davon, daß die Brust schneeweiß war – oder gerade eben deswegen, weil sie es war, – Lewin die Freiheit des Denkens raubte.
Er stellte sich vor – wahrscheinlich fälschlich – dieser Ausschnitt da könnte eigens für ihn gemacht sein und hielt sich nicht für berechtigt darauf zu blicken, bemühte sich vielmehr, ihn nicht zu sehen. Er fühlte aber, daß er schon damit sich etwas vorzuwerfen habe, daß der Ausschnitt überhaupt gemacht worden war.
Lewin schien, als täusche er jemand, als müsse er etwas erklären, aber als ginge diese Erklärung nicht gut an, und so kam es, daß er beständig errötete, in Unruhe war und sich in Verlegenheit befand. Seine Verlegenheit aber teilte sich auch der hübschen jungen Schwägerin mit. Die Hausfrau indessen schien das gar nicht zu bemerken, indem sie die Schwägerin absichtlich mit ins Gespräch zog.
»Ihr sagt,« fuhr die Hausfrau in der begonnenen Unterhaltung fort, »daß meinen Mann alles was russisch ist, nicht interessierte. Im Gegenteil, er befindet sich zwar recht wohl im Auslande, aber nirgends doch so, wie hier. Hier erst fühlt er sich ganz in seiner Sphäre. Er hat soviel zu thun und besitzt die Fähigkeit, sich für alles zu interessieren. Ach, wäret Ihr noch nicht in unserer Schule?«
»Ich habe sie gesehen. Das Haus ist von Epheu umrankt?«
»Das ist Nastasjas Werk,« antwortete die Hausfrau, auf ihre Schwester weisend.
»Unterrichtet Ihr selbst?« frug Lewin, sich bemühend, an dem viereckigen Ausschnitt vorbeizusehen, und dabei fühlend, daß er, wohin er in dieser Richtung auch blickte, den Ausschnitt sehen müsse.
»Ja, ich habe selbst unterrichtet und unterrichte noch, wir haben aber auch eine gute Lehrerin. Selbst das Turnen wird geübt.«
– »Danke; keinen Thee weiter,« – sagte Lewin, und fühlte, daß er damit eine Unhöflichkeit beding; nicht mehr imstande, die Unterhaltung noch weiterzuführen, erhob er sich errötend. »Ich höre da ein sehr anziehendes Gespräch,« fuhr er fort und trat an das andere Ende des Tisches, an welchem der Hausherr mit den beiden Gutsbesitzern saß.
Swijashskiy saß mit der Seite am Tische, mit der einen aufgestemmten Hand die Tasse führend, mit der anderen seinen Bart in die Hand nehmend, um ihn bis an die Nase zu heben und dann wieder herabzulassen, als ob er daran riechen wollte. Mit seinen blitzenden schwarzen Augen schaute er gerade den einen der Gutsbesitzer, ein Mann mit grauem Schnurrbart, an, welcher in Erregung geraten war, und fand augenscheinlich Belustigung an dessen Rede.
Der Gutsbesitzer beklagte sich über das Volk, und Lewin war es klar, daß Swijashskiy eine Antwort auf diese Klage wisse, die mit einem Schlag den Sinn der ganzen Rede illusorisch machte, daß er aber nur in seiner Situation diese Erwiderung, nicht äußern könne und nun nicht ohne Vergnügen den komischen Vortrag des Gutsbesitzers anhören müsse.
Dieser, der Mann im grauen Schnurrbart, war offenbar ein eingefleischter Vertreter der Leibeigenschaft; er war auf dem Dorfe alt geworden und ein leidenschaftlicher Dorfregent. Die Anzeichen hierfür erblickte Lewin schon an seinem Anzug, der nach alter Mode gearbeitet war, in dem abgeschabten Überrock in welchem er sich augenscheinlich nicht behaglich fühlte, und in seinen klugen, zusammengekniffenen Augen, in seiner glatten russischen Rede, in dem selbstbewußten, augenscheinlich durch lange Gewohnheit befehlerisch gewordenen Tone und den energischen Bewegungen seiner großen, geröteten und gebräunten Hände, an denen ein alter Trauring steckte.
27.
»Wenn es mir nur nicht leid thäte, das zu verlassen, was ich habe – es steckt zu viel Arbeit darin – verkaufen und dann fortreisen, wie Nikolay Iwanowitsch, um die ’schöne Helena‘ zu hören,« sagte der Gutsbesitzer mit einem Lächeln, welches sein kluges greises Gesicht angenehm erhellte.
»Aber Ihr laßt es ja doch nicht im Stich,« antwortete Swijashkiy, müßt also doch wohl wissen, warum!«
»Meine Absicht ist nur die, zu Hause wohnen zu bleiben, ohne etwas kaufen oder pachten zu lassen! Da hofft man immer, daß das Volk zur Erkenntnis kommen soll. Aber glaubt mir – es ist in ihm nur eitel Trunksucht und Ausschweifung. Alles ist dahin, kein Bauer hat mehr ein Pferd oder eine Kuh! Alles verhungert und gleichwohl – dingt Ihr Euch Knechte, so bringen sie Euch Schaden und obenein kriegt man es noch mit dem Friedensrichter zu thun!«
»Und dafür beklagt Ihr Euch auch noch über den Friedensrichter?« frug Swijashskiy.
»Ich mich beklagen? Um keinen Preis der Welt! Es gehen ja wohl Gerüchte um, daß er einen Tadel nicht eben gern sieht. So zum Beispiel in meiner Brennerei! Da nahmen Leute Handgeld, und ich soll sie heute noch wiederkommen sehen! Was thät nun der Friedensrichter? Er rechtfertigte sie. Er hält sich nur an das Kreisgericht und den Ältesten, und das Kreisgericht spricht ihn nach altem Herkommen von einer Verantwortung frei. Wäre es aber auch nicht so – nun, dann gäbe ich dennoch am Liebsten alles auf und ginge bis ans Ende der Welt.«
Der Gutsbesitzer wollte offenbar Swijashskiy necken, dieser aber geriet nicht nur nicht in Erregung, sondern schien vielmehr sein Ergötzen daran zu haben.
»Wir führen unsere Wirtschaft ohne diese Maßnahmen, ich, Lewin und der Herr da,« antwortete er dann lächelnd, auf den anderen Gutsbesitzer weisend.
»Ja, bei Michail Petrowitsch geht es schon, aber fragt nur, wie! Ist denn das ein rationelles Wirtschaften?« sagte der Gutsbesitzer, sichtlich mit dem Ausdruck »rationell« kokettierend.
»Meine Wirtschaft ist einfach,« sagte Michail Petrowitsch, »Gott sei Dank. Meine Wirtschaft bemüht sich nur, daß zu den Steuern im Herbste das Geld daliegt. Kommen ja Bauern und sagen: Batjuschka, Vater, gieb uns Frist zur Zahlung! Nun die Bauern sind dann auch meine Nebenmenschen, und sie jammern einen. Ich lasse ihnen das erste Drittel nach und sage, ›Kinder, denkt daran, ich habe Euch geholfen, nun helft auch mir, wenn ich Euch brauche.‹ Da kommt nun der Haferschnitt, die Heuernte, die Kornernte und man macht aus, wie viel sie nach ihrer Zinsschuld dabei zu arbeiten haben. Aber freilich giebt es auch Gewissenlose unter ihnen.«
Lewin, der diese patriarchalischen Gepflogenheiten längst kannte, wechselte mit Swijashskiy einen Blick und fiel Michail Petrowitsch ins Wort, indem er sich wiederum an den Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart wandte.
»Aber wie glaubt Ihr denn,« frug er, »daß eine Ökonomie jetzt bewirtschaftet werden müsse?«
»Sie muß so geführt werden, wie es Michail Petrowitsch thut; entweder um die Hälfte losschlagen oder den Bauern leihen, das ginge eben noch – aber freilich wird dadurch der allgemeine Wohlstand des Adels vernichtet. Während mein Land unter der Arbeit der Leibeigenen und durch gute Wirtschaft das Neunfache trug, bringt es jetzt nur das Dreifache. Die Emancipation hat Rußland zu Grunde gerichtet!«
Swijashskiy blickte mit lachenden Augen auf Lewin, er machte diesem sogar ein kaum merkliches Zeichen des Spottes; aber Lewin fand diese Worte des Gutsbesitzers nicht lächerlich; er verstand sie besser, als er Swijashskiy begriff. Vieles von dem, was der Gutsbesitzer noch weiter sprach, in der Darlegung, weshalb Rußland durch die Emancipation der Bauern ruiniert sei, erschien ihm sogar sehr wahr, und ihm selbst neu und unwiderleglich.
Der Gutsbesitzer sprach augenscheinlich nur seinen eigenen Gedanken aus – was ja so selten vorkommt – und es war ein Gedanke, auf den er nicht in dem Wunsche, sein müßiges Hirn zu beschäftigen geführt worden war, sondern ein solcher, der ihm aus den Verhältnissen seines Lebens, das er in ländlicher Einsamkeit hingebracht hatte, erwachsen und nach allen Seiten hin überdacht worden war.
»Es handelt sich, wenn Ihr gefälligst Einsicht nehmen wollt, darum, daß jeglicher Fortschritt sich nur durch die Gewalt vollzieht,« sagte er, offenbar im Wunsche zu zeigen, daß er Bildung besitze. »Nehmt die Reformen eines Peter, einer Katharina, Aleksanders; nehmt die Geschichte Europas her! Hier ist der Fortschritt im Bauernstande nur um so bedeutender! Um allein von der Kartoffel zu reden – selbst die hat mit Gewalt bei uns eingeführt werden müssen! Hat man doch selbst mit dem Pfluge auch nicht immer gepflügt! Man hat ihn auch erst eingeführt, vielleicht zur Zeit der Lehnfürstentümer, aber jedenfalls mit Gewalt! Einst, zu unserer Zeit, haben wir Grundbesitzer unter dem Leibeigenschaftsgesetz unsere Wirtschaft mit Vervollkommnungen geführt, mit allen möglichen Gerätschaften, aber alles das hatten wir durch unsere Kraft eingebürgert, die Bauern waren anfangs dagegen, dann erst begannen sie, uns nachzuahmen! Jetzt, nachdem das Leibeigenschaftsgesetz beseitigt ist, hat man uns diese Macht benommen, und unsere Wirtschaft, die auf einen hohen Standpunkt gehoben worden war, muß wieder bis auf das wildeste Urzeitverhältnis zurücksinken. So fasse ich es auf!«
»Wozu so. Wenn es rationell ist, so könnt Ihr doch durch Verpachten weiter wirtschaften,« bemerkte Swijashskiy.
»Wir haben ja keine Macht mehr dazu. Mit wem sollen wir denn arbeiten, bitte ich Euch?«
»Nun, wir haben ja die Arbeitskraft – das hauptsächlichste Element der Ökonomie,« dachte Lewin.
»Mit Arbeitern.«
»Die Arbeiter wollen nicht gut arbeiten, oder mit guten Gerätschaften hantieren. Unser Arbeiter versteht nur eines – sich zu berauschen wie das liebe Vieh, und im Rausche alles zu ruinieren, was man ihm in die Hände giebt. Die Pferde vergiftet er, das gute Zaumzeug zerreißt er, die Maschinen macht er defekt. Er ärgert sich über alles, was nicht nach seinem Kopfe ist. Daher kommt es, daß der ganze Stand der Landwirtschaft zurückgegangen ist. Das Land liegt öde, ist mit Unkraut überwuchert oder unter die Bauern verteilt, und dort, wo man Millionen von Tschetwert produziert hat, produziert man heute nur noch nach hunderttausenden. Der allgemeine Wohlstand ist vermindert. Hätte man mit Überlegung das gethan, daß« –
Er begann nun seinen Plan der Befreiung zu entwickeln, nach welchem alle diese Übelstände vermieden werden könnten.
Lewin interessierte dies nicht, als jener indessen geendet hatte, kam er auf seinen ersten Standpunkt zurück und sagte zu Swijashskiy gewendet und sich bemühend, diesen zur Äußerung seiner eigentlichen Meinung zu veranlassen:
»Daß der Stand der Landwirtschaft zurückgegangen ist, und daß bei unseren Beziehungen zu den Arbeitern keine Möglichkeit, erfolgreich eine rationelle Ökonomie zu betreiben vorhanden ist – ist vollständig richtig,« sprach er.
»Das finde ich nicht,« erwiderte Swijashskiy ziemlich ernst, »ich sehe nur das Eine, daß wir die Ökonomie nicht zu treiben verstehen, und daß, im Gegenteil, die Landwirtschaft, die wir unter dem Leibeigenschaftsgesetz betrieben haben, nicht gerade zu hoch entwickelt war, sondern vielmehr zu niedrig stand. Wir hatten da keine Maschinen, kein gutes Arbeitsvieh, keine eigentliche Methode und verstehen nicht zu rechnen. Fragt einmal den Landbesitzer; er wird nicht wissen, was für ihn von Vorteil oder Nachteil ist!«
»Nun, die italienische Buchführung,« sagte der eine Gutsbesitzer sarkastisch. »Da giebt es keinen Gewinn, soviel man auch rechnen mag, denn man verdirbt ja alles!«
»Warum alles verderben? Wenn man Euch Eure alten russischen Geräte zerbricht, so kann man meine neuen Dampfmaschinen nicht zerbrechen. Euer Rennpferd von toskanischem Blut, das kann man Euch wohl verderben, aber führt nur ehrliche kräftige Landpferde ein, die werden sie Euch nicht zu Schanden richten. So ist es mit allem! Ihr wollt die Ökonomie eben höher bringen, als notwendig ist.«
»Das ließe sich ja hören, Nikolay Iwanowitsch; Ihr habt gut reden, aber wenn ich nun einen Sohn auf der Universität zu erhalten habe, kleinere Kinder auf dem Gymnasium erziehen lasse – da kann ich doch keine Rassepferde kaufen.«
»Nun, da giebt es ja doch Banken.«
»Um auch das Letzte unter den Hammer kommen zu lassen? Nein, ich danke.«
»Ich kann nicht zugeben, daß es nötig oder möglich wäre, den Stand der Ökonomie noch mehr zu erhöhen,« ergriff Lewin das Wort. »Ich beschäftige mich damit, und habe die Mittel dazu, aber ich habe nichts auszurichten vermocht, und die Banken, – ich weiß nicht, wozu die nützen sollen. Ich wenigstens habe – wofür ich auch immer Geld in der Ökonomie verausgabte – nur mit Mißerfolg gearbeitet; bezüglich des Viehs mit Mißerfolg, wie bezüglich der Maschinen.«
»Das ist ganz richtig,« bestätigte der Gutsherr im grauen Bart, voll Genugthuung lächelnd.
»Ich stehe hierin auch nicht allein,« fuhr Lewin fort, »sondern befinde mich dabei im Einklang mit allen Gutsbesitzern, die rationell wirtschaften; alle diese, mit wenigen Ausnahmen, arbeiten mit Verlusten. Nun, Ihr aber sagt uns jetzt, was Eure Ökonomie macht. Ist sie gewinnbringend?« frug Lewin und bemerkte im selben Moment, im Blicke Swijashskiys wieder jenen huschenden Ausdruck des Erschreckens, den er schon gewahrt hatte, als er tiefer in die verborgenen Falten des Geistes von Swijashskiy einzudringen gewünscht hatte.
Die Frage war von seiten Lewins nicht völlig mit gutem Gewissen gestellt worden. Die Hausfrau hatte ihm soeben beim Thee erzählt, daß man jetzt im Sommer einen Deutschen von Moskau eingeladen hatte, welcher Kenner der Buchführung war und für den Preis von fünfhundert Rubel ihnen die Wirtschaftsführung revidierte; derselbe hatte gefunden, daß die Ökonomie mit dreitausend und einigen Rubeln Verlust arbeite. Sie wußte es nicht ganz genau, aber der Deutsche schien die Sache bis zur Viertelkopeke ausgerechnet zu haben.
Der eine Gutsherr hatte bei der Erwähnung des Nutzertrags in der Wirtschaft Swijashskiys gelächelt, offenbar weil er wußte, wie hoch sich der Gewinn seines Nachbars und Kreisoberhauptes belaufen könne.
»Möglich schon, daß sie nicht ergiebig ist,« versetzte Swijashskiy. »Dies beweist aber nur, daß ich entweder ein schlechter Ökonom bin, oder mein Kapital zur Erhöhung meiner Rente aufwende.«
»Ach, die Rente,« rief Lewin voll Schrecken. »Es mag eine Rente in Europa geben, wo das Land infolge der auf dasselbe verwendeten Arbeit besser geworden ist, bei uns aber wird alles Land von der darauf verwendeten Arbeit nur noch schlechter, das heißt, man entkräftet es und es erzielt daher keine Rente.«
»Inwiefern nicht? Haben doch ein Gesetz dafür?«
»Dann stehen wir außerhalb dieses Gesetzes. Eine Rente schafft für uns keine Abklärung, sondern nur noch mehr Verwirrung. Aber sagt uns doch dann wenigstens, wie die Theorie der Rentenwirtschaft vielleicht« –
»Wünscht Ihr Molken? Mascha, bringe uns doch Molken oder Himbeeren hierher,« wandte sich Swijashskiy plötzlich an seine Frau. »Die Himbeere steht heuer außerordentlich lange.«
In heiterster Laune erhob sich Swijashskiy und schritt selbst hinaus, offenbar in der Annahme, daß das Gespräch abgebrochen sei, und zwar gerade hier, wo es Lewin erst beginnen zu wollen schien.
Da letzterer somit seines Gegenübers verlustig gegangen war, führte er die Unterhaltung mit dem Gutsherrn fort, indem er sich bemühte, diesem zu beweisen, die gesamte Schwierigkeit erwachse daraus, daß man nicht die Eigenschaften und Gepflogenheiten der Arbeitenden erkennen wolle: der Gutsbesitzer war indessen, wie fast alle selbständig und unabhängig denkenden Menschen, schwer empfänglich für die Annahme einer fremden Meinung, und blieb seiner eigenen mit leidenschaftlicher Überzeugung getreu.
Er verblieb beharrlich dabei, daß der russische Bauer ein Vieh sei und das Viehische liebte, daß, um ihn dieser traurigen Lage zu entreißen, Gewalt nötig sei, und, wenn diese nicht, der Stock, während die Welt gleichwohl so liberal geworden sei, daß man die tausendjährige Rute plötzlich mit Advokaten und Haftstrafen vertauscht habe, bei denen man die unnützen stinkenden Bauern noch mit guter Suppe füttere und ihnen die Luft nach Kubikfuß berechne.
»Weshalb glaubt Ihr,« fuhr Lewin fort, sich bemühend, auf seine Frage zu kommen, »daß es unmöglich sei, eine Beziehung zur Arbeitskraft zu finden, mit deren Hilfe die Arbeit nutzbringend würde?«
»Dies wird beim russischen Volke niemals der Fall sein. Es giebt keine Autorität mehr!« versetzte der Gutsherr.
»Aber dann können doch neue Bedingungen gefunden werden?« sagte jetzt Swijashskiy, der Molken gegessen hatte und eine Cigarette rauchend, soeben zu den Disputierenden zurückkehrte. »Sämtliche mögliche Beziehungen zur Arbeitskraft sind schon bestimmt und geprüft worden,« sagte er, »der Rest von alter Barbarei bricht von selbst in sich zusammen, die Leibeigenschaft ist aufgehoben, und so bleibt denn nur die freie Arbeit noch, deren Formen bestimmt und fertig sind, so daß sie nur angenommen zu werden brauchen. Arbeiter, Tagelöhner und Pächter – aus dem werdet Ihr nicht herauskommen.«
»Aber Europa ist unzufrieden mit diesen Formen.«
»Es ist unzufrieden und sucht neue, und es wird solche wahrscheinlich auch finden.«
»Ich spreche nur davon,« bemerkte Lewin, »weshalb wir dieselben nicht unsererseits suchen können?«
»Weil dies ebenso wäre, als wenn wir aufs neue Methoden für den Bau von Eisenbahnen erfinden wollten. Sie sind eben schon fertig und ausgedacht.«
»Und wie, wenn sie uns nicht anstünden, wenn sie unbeholfen wären?« Er bemerkte wiederum jenen Ausdruck des Erschreckens in den Augen Swijashskiys.
»Ja, dieses bekannte ›wir könnten es schon gefunden haben, was Europa noch sucht!‹ Ich kenne es schon, doch entschuldigt, kennt Ihr denn alles, was in Europa bezüglich der Arbeiterfrage gethan worden ist?«
»Nein, nur wenig.«
»Diese Frage beschäftigt jetzt die ersten Geister Europas. Es ist die Richtung Schultze-Delitzschs. Dann haben wir die ganze ungeheure Litteratur der Arbeiterfrage, der liberalsten Richtung Lassalles; Mühlhausens Projekt ist bereits eine Thatsache, kennt Ihr es schon?«
»Einen Begriff habe ich davon, doch nur einen dunkeln.«
»O, Ihr wollt doch nur sagen, daß Ihr alles das nicht weniger genau kennt, wie ich. Allerdings bin ich nicht Professor der Nationalökonomie, aber der Gegenstand hat mich interessiert, und wahrhaftig, falls er Euch interessieren sollte – beschäftigt Euch nur damit!«
»Und wohin sind jene Männer gelangt?« –
– »Entschuldigung!« –
Die Gutsbesitzer hatten sich zum Aufbruch erhoben und Swijashskiy, Lewin wiederum mit dessen unangenehmer Gewohnheit zu erkunden, was sich in den verstecktesten Winkeln seines Geisteslebens verberge, sitzen lassend, ging, um seine Gäste hinauszubegleiten.