29.

Die Ausführung dieses Planes bot Lewin viel Schwierigkeiten, aber er besiegte dieselben, soweit es in seinen Kräften stand, und erreichte, wenn auch nicht das, was er gewünscht hatte, so doch, daß er, ohne sich selbst zu täuschen glauben konnte, die Sache verlohne sich der Mühe nicht.

Eine der Hauptschwierigkeiten war die, daß die Wirtschaft im vollen Gange war und nicht darin gehemmt werden durfte, indem man alles von vorn anfing; man mußte die Maschine mitten im Gange verstellen.

Als er an jenem Abend noch, an welchem er nach Hause gekommen war, dem Verwalter seine Pläne mitgeteilt hatte, erklärte sich dieser mit sichtlichem Vergnügen mit demjenigen Teil der Rede Lewins einverstanden, welcher darlegte, daß alles bisher Gethane sinnlos und unersprießlich gewesen sei. Der Verwalter meinte, er habe das schon längst gesagt, man hätte ihn aber nicht hören wollen. Was den von Lewin gemachten Vorschlag anbetraf, daß er als Anteilhaber, zusammen mit den Arbeitskräften der ganzen Ökonomie beitrete, so zeigte der Verwalter darauf hin nur einen Ausdruck großer Ratlosigkeit und nicht die geringste bestimmte Meinung; er ging vielmehr sogleich dazu über, daß morgen die letzten Kornseime noch hereingebracht werden müßten, und Lewin fühlte, daß es jetzt nicht Zeit für die Sache sei.

In der Rücksprache mit den Bauern hierüber und bei der Vorlegung des Vorschlages der Übergabe von Land nach den neuen Bedingungen, begegnete er der nämlichen Hauptschwierigkeit, daß die Bauern gleichfalls von der laufenden Arbeit des Tages so in Anspruch genommen waren, daß sie keine Zeit hatten, die Vorteile oder Nachteile einer derartigen Unternehmung zu überdenken.

Ein naiver Bauer mit Namen Iwan, der Viehwärter, schien Lewins Projekt vollständig erfaßt zu haben – dahingehend, daß er an den Erträgnissen des Viehhofes mit seiner Familie Anteil haben sollte – und er stimmte dein Unternehmen vollständig bei. Als aber Lewin ihm die künftigen Vorteile zu Gemüte zu führen versuchte, drückte sich auf dem Gesicht Iwans Unruhe und das Bedauern aus, daß er nicht alles dies bis zu Ende anhören könne; und er begann sich geflissentlich etwas zu schaffen zu machen, was keinen Aufschub dulde. Er nahm die Heugabel, um Heu aus der Schafhürde zu stechen, oder er spülte mit Wasser, oder schaffte Mist beiseite.

Eine andere Schwierigkeit bestand in dem unbesieglichen Mißtrauen der Bauern, daß die Absicht des Gutsherrn überhaupt in etwas ganz Anderem bestehen könne, als dem Wunsche, sie soviel als möglich zu rupfen. Sie waren fest überzeugt, daß seine eigentliche Absicht, – was er ihnen auch immer sagen mochte – doch nur gerade in dem liege, was er ihnen nicht mit sagte. Indem sie sich nun gegenseitig aussprachen, redeten sie wohl viel, sagten aber gleichfalls nicht, was ihre eigentliche Absicht war. Dabei aber stellten die Bauern – und hier fühlte Lewin, daß jener gallige Gutsbesitzer recht gehabt hatte – auch noch als erste und festeste Bedingung für jedes Einverständnis ihrerseits, mochte es bestehen worin es wolle, auf, daß sie zu keinerlei neuen landwirtschaftlichen Methoden, mochten diese sein, wie sie wollten, oder zur Verwendung moderner Geräte gezwungen sein sollten. Sie gaben Wohl zu, daß der Dampfpflug schneller arbeite, aber sie fanden tausend Gründe, weshalb sie die Geräte nicht anwenden konnten, und so mußte er, obwohl überzeugt, daß man den Komfort der Landwirtschaft immerhin ein wenig tiefer stellen könne, zu seinem Bedauern auf die Vervollkommnung verzichten, deren Nutzen ein so augenfälliger war. Abgesehen von allen diesen Schwierigkeiten indessen, strebte er seinem Ziele nach und im Herbste ging die Sache, oder es schien ihm doch wenigstens so.

Anfangs dachte Lewin daran, sein ganzes Land, so wie es war, den Bauern, den Knechten und dem Verwalter auf Grund der neuen Gesellschaftsstatuten zu überlassen, aber sehr bald überzeugte er sich, daß dies unmöglich war und faßte den Entschluß, die Ökonomie nur zum Teil zu vergeben. Der Viehhof, der Garten, der Gemüsegarten, die Wiesen, die Felder, die in einige Parzellen geteilt waren, sollten nun getrennte Bereiche bilden. Der naive Viehhirt Iwan, der wie es Lewin schien, die Sache am besten von allen aufgefaßt hatte, bildete sich eine Artjel, die vorzugsweise aus den Mitgliedern seiner Familie bestand und wurde Anteilhaber des Viehhofes. Ein abgelegenes Feld, welches acht Jahre lang unbenutzt gewesen war, wurde mit Beihilfe des klugen Zimmermanns Fjodor Rjezunoff von sechs Bauernfamilien auf Grund der neuen Gesellschaftsordnung übernommen, und der Bauer Schurajeff trat zu den nämlichen Bedingungen in den Besitz der sämtlichen Gemüsegärten. Alles übrige verblieb noch beim Alten, aber diese drei Bereiche bildeten doch schon den Beginn einer neuen Ordnung und beschäftigten Lewin vollständig.

Auf dem Viehhofe ging freilich von nun ab die Sache durchaus nicht besser, als vorher, denn Iwan opponierte eifrig gegen die zu warme Stellung der Kühe und gegen die Herstellung guter Rahmbutter, indem er behauptete, daß eine Kuh bei kühlerer Stellung weniger Futter brauche und daß die von abgerahmter Milch hergestellte Butter vorteilhafter sei; er forderte seine Bezahlung, wie früher, und interessierte sich durchaus nicht dafür, daß das Geld, welches er empfing, nicht ein Lohn war, sondern ein Aufgeld von seinem künftigen Anteil am gemeinsamen Gewinn.

Es war die Wahrheit, daß die Arbeitsgesellschaft des Fjodor Rjezunoff nicht ihre Leistungen verdoppelt hatte, wie dies verabredet worden war, und daß sie sich damit rechtfertigte, daß die Zeit zu kurz bemessen gewesen sei.

Es war die Wahrheit, daß die Bauern dieser Artjel, obwohl sie ausgemacht hatten, die Arbeit nach den neuen Einrichtungen leisten zu wollen, ihr Land nicht als gemeinsam bezeichneten, sondern als verteilt, und mehr als einmal sagten die Mitglieder desselben, ja Rjezunoff selber, zu Lewin: »Wenn Ihr Euch Geld für den Grund und Boden bezahlen ließet, so könntet Ihr ruhiger sein und wir fühlten uns freier.« Außerdem aber schoben die Bauern unter den verschiedensten Vorwänden den mit ihnen vereinbarten Bau eines Viehhofes und einer Trockenscheune auf ihrem Terrain immer wieder hinaus und zogen die Sache bis zum Winter hin.

Es war auch der Fall, daß Schurajeff die übernommenen Gemüsegärten seinerseits wieder in kleineren Partieen an die Bauern verteilen wollte. Er hatte offenbar die Bedingungen falsch, und zwar absichtlich falsch aufgefaßt, unter welchen ihm das Land überlassen worden war.

Lewin empfand freilich auch häufig im Gespräch mit den Bauern und bei der Erklärung aller Vorteile, die sie von dem Unternehmen hätten, daß die Bauern hierbei nur eben dem Klang seiner Stimme lauschten, und dabei recht wohl wußten, sie würden sich von ihm – mochte er sagen, was er wollte – nicht überlisten lassen. Ganz besonders merkte er das, sobald er gerade mit dem klügsten unter den Bauern, mit Rjezunoff, sprach. Er bemerkte hier jenes Spiel in den Augen desselben, welches ihm deutlich den Spott über ihn, sowie die feste Überzeugung zeigte, daß wenn denn einmal Einer übers Ohr gehauen werden solle, jedenfalls nicht er, Rjezunoff, der Dumme sein würde.

Ungeachtet alles dessen aber dachte Lewin, die Sache würde sich schon machen, und er würde den Bauern, wenn er strenge Rechnung führte, und fest auf seinen Grundsätzen beharrte, in der Zukunft schon die Vorteile einer solchen Einrichtung beweisen können, so daß sie alsdann von selbst gehen müsse.

Diese Angelegenheiten, zusammen mit denjenigen, welche die in seinen Händen gebliebene Ökonomie betrafen, und mit der Arbeit an seinem Werke, beschäftigten Lewin den ganzen Sommer hindurch derart, daß er fast kaum auf die Jagd kam. Gegen Ende des August hörte er durch den Knecht, welcher den Sattel zurückbrachte, daß die Oblonskiy nach Moskau gereist seien. Er fühlte, daß er mit seiner Unhöflichkeit, nicht auf das Schreiben Darja Aleksandrownas geantwortet zu haben, an die er nur mit Schamröte zu denken vermochte, die Schiffe hinter sich abgebrannt hatte und nun niemals wieder zu ihnen kommen werde.

In der gleichen Weise war er mit Swijashskiy verfahren, den er verlassen hatte, ohne Abschied zu nehmen. Aber auch zu diesem wollte er niemals wieder kommen. Es war ihm jetzt alles ganz gleichgültig; die Aufgabe der Reorganisation seiner Landwirtschaft beschäftigte ihn so sehr, wie noch nie etwas in seinem Leben. Er las die Bücher, die ihm von Swijashskiy gegeben worden waren, und exzerpierte sich, was er selbst nicht besaß; er las socialökonomische und socialwissenschaftliche Werke über den Gegenstand, fand aber, wie er erwartet hatte, nichts, was sich auf die ihn beschäftigende Aufgabe bezogen hätte.

In den politischökonomischen Werken, so im Mill, den er zuerst mit größtem Eifer studierte, in der Hoffnung, jeden Augenblick die Lösung der ihn beschäftigenden Fragen zu finden, fand er Gesetze, die aus den Verhältnissen der europäischen Wirtschaftslage deduziert waren, aber er vermochte nicht zu ersehen, weshalb diese Gesetze, auf Rußland gar nicht anwendbar, allgemeingültig sein sollten. Ganz das Nämliche fand er in den socialwissenschaftlichen Werken, sie zeigten entweder ausgezeichnete, aber nicht praktisch anwendbare Phantasieen, von denen er schon als Student angezogen worden war – oder Versuche zur Verbesserung der Verhältnisse, in welchen sich Europa befand, und mit denen die Landwirtschaft Rußlands nichts gemein hatte. Die politische Ökonomie sagte, daß die Gesetze, auf welchen sich der Reichtum Europas entwickelt hätte, und noch entwickelte, allgemeingültig und unanfechtbar seien. Die Socialwissenschaft sagte, daß die Entwickelung nach diesen Gesetzen ins Verderben führe. Weder die Eine noch die Andere gab Antwort, oder auch nur den geringsten Fingerzeig für das, was Lewin und alle übrigen russischen Landleute und Grundbesitzer mit ihren Millionen von Händen und Desjatinen Landes thun sollten, um diese für die Hebung des allgemeinen Wohlstandes ergiebiger zu machen.

Nachdem er sich einmal mit seiner Aufgabe befaßt hatte, las er gewissenhaft alles, was sich auf seinen Gegenstand bezog und beschloß, im Herbst ins Ausland zu reisen, um denselben an Ort und Stelle noch zu studieren, zu dem Zwecke, daß es ihm in dieser Frage nicht ebenso gehen möchte, wie es ihm schon so oft in verschiedenen Fragen ergangen war. Wenn er nur erst anfing, den Sinn der Worte seines Nachbars zu erfassen und seine eigene Idee auseinanderzusetzen, falls man ihm plötzlich sagen würde: »Habt Ihr nicht Kaufmann, Jones, Dubois, Mitchelli gelesen? Lest diese, sie haben die Frage behandelt!«

Er erkannte jetzt aber klar, daß weder Kaufmann noch Mitchelli ihm etwas sagen konnten und wußte doch, was er wollte.

Er hatte erkannt daß Rußland herrliches Land besitze, vorzügliche Arbeitskräfte und daß bei manchen Gelegenheiten die Arbeiter und das Land viel produzierten, in der Mehrzahl der Fälle aber, sobald das Kapital nach europäischem Muster angelegt würde, wenig, und daß dies nur daher komme, daß die Arbeiter zwar arbeiten wollten, aber nur nach ihrer eigenen Weise gut arbeiteten, und daß dieser Widerspruch kein zufällig auftretender sei, sondern ein fest bestehender, der seine Begründung im Geiste des Volkes habe.

Er meinte, daß das russische Volk, in seiner Aufgabe, ungeheure unbebaute Landstrecken Zu besiedeln und zu bearbeiten, sich, solange nicht alles Land besiedelt sein würde, an dasjenige Verfahren halte, welches dazu erforderlich war, und daß sein Verfahren durchaus nicht so mangelhaft sei, wie man dies gewöhnlich denke. Dies gedachte er theoretisch in seinem Werke, praktisch in seiner Ökonomie darzulegen.

30.

Mit Ende des September wurde das Holz zum Bau des Viehhofes auf das der Artjel überlassene Areal gebracht; die Butter von den Kühen war verkauft und der Gewinn verteilt worden.

In der Ökonomie ging alles ganz ausgezeichnet, oder es schien Lewin doch so. Zu dem Zwecke aber, alles theoretisch zu erklären und sein schriftliches Werk über die Beziehungen des Volkes zum Boden zu vollenden, welches seiner Idee nach nicht nur eine Umwälzung der politischen Ökonomie herbeiführen, sondern diese Wissenschaft vollständig vernichten und den Anfang zu einer neuen machen mußte, war es noch erforderlich, ins Ausland zu gehen und an Ort und Stelle alles zu studieren, was dort in dieser Richtung gethan worden war, damit er überzeugende Beweise dafür fände, daß alles, was dort gethan worden sei, nicht das sei, was nötig war.

Lewin wartete nur noch die Einbringung des Weizens ab, um Geld zu haben und ins Ausland gehen zu können. Aber große Regengüsse stellten sich ein, die ein Hereinbringen des noch im Felde befindlichen Getreides und der Kartoffeln nicht gestatteten, und so blieb alle Arbeit und selbst die Lieferung des Weizens liegen. Auf dem Wege war der Schmutz undurchdringlich und das Wetter wurde schlechter und schlechter.

Am dreißigsten September zeigte sich früh die Sonne, und Lewin begann sich entschlossen zur Abreise zu rüsten in der Hoffnung auf leidliches Wetter. Er befahl, den Weizen aufzuschütten und sandte den Verwalter zum Kaufmann, um Geld holen zu lassen, während er selbst die Felder abritt, um die letzten Bestimmungen vor der Abreise zu treffen. Nach der Besichtigung aller Arbeiten, durchweicht von den Wasserströmen, die ihm am Halse herunter auf dem ledernen Rock, und an den Stiefelschäften abflössen, aber in heiterster und angeregtester Stimmung, kehrte Lewin gegen Abend nach Hause zurück. Das Unwetter war um diese Zeit noch schlimmer geworden; ein Graupelwetter peitschte das ganz durchnäßte, Ohren und Kopf schüttelnde Pferd so, daß es seitwärts zu gehen begann, Lewin aber unter seinem Baschlik war es ganz wohl zu Mut und heiter schaute er um sich, bald auf die trüben Wasserbäche, die in den Radspuren strömten, bald nach den Wassertropfen, die an jedem überhängenden Aste schwebten, bald auf die weißen Flecken der Graupeln, die auf den Brettern des Steges noch nicht gethaut waren, bald auf das noch saftige fleischige Laub einer Rüster, welches in dichter Masse rings um den entblätterten Baum gefallen war. Ungeachtet der Düsterkeit der ihn umgebenden Natur, fühlte sich Lewin bei ganz besonders guter Laune. Die Gespräche mit den Bauern in einem entfernten Dorfe hatten ihm gezeigt, daß diese sich in die neuen Verhältnisse zu gewöhnen begannen.

Sein alter Hausmeister, bei dem er eingesprochen hatte, um sich zu trocknen, hatte augenscheinlich das Projekt Lewins gebilligt und selbst vorgeschlagen, in eine Artjel für Viehhandel zu treten.

»Man muß sein Ziel nur hartnäckig verfolgen und man erreicht schon was man will,« dachte Lewin, »aber arbeiten und sich mühen ist schon des Preises wert. Diese Sache ist nicht meine eigene, persönliche, es handelt sich hier um eine Frage des allgemeinen Wohles. Die ganze Landwirtschaft und namentlich die Lage des ganzen Volkes muß von Grund aus umgewandelt werden! An Stelle der Armut wird ein allgemeiner Reichtum treten, allgemeine Zufriedenheit; an Stelle der Feindschaft Harmonie und ein Bund im gemeinsamen Interesse. Mit einem Worte, eine unblutige Revolution, aber eine erhabene Revolution, hat von dem kleinen Gebiete unseres Kreises aus begonnen, und wird zunächst im Gouvernement um sich greifen, dann in Rußland selbst – endlich in der ganzen Welt, weil ein richtiger Gedanke nicht unfruchtbar zu bleiben vermag. Dies ist das Ziel, wegen dessen es der Mühe wert ist, zu arbeiten. Daß aber gerade ich es bin, der dies ausführt, ich, Konstantin Lewin, der Nämliche, welcher in der schwarzen Halsbinde zum Balle kam und den die Schtscherbazkaja von sich gewiesen, der so kläglich und nichtig dasteht, – das hat hierbei gar nichts zu sagen. Ich bin überzeugt, daß Franklin sich gleichfalls nichtig gefühlt hat und sich selbst nichts zugetraut haben würde, wenn er an sich selbst zurückdachte. Dies sagt also gar nichts. Auch er hatte ja wohl seine Agathe Michailowna, der er seine Geheimnisse anvertraute.«

Mit diesen Gedanken kam Lewin zu Hause an, als die Dämmerung schon hereingebrochen war.

Der Verwalter, der beim Kaufmann gewesen, war angekommen und hatte einen Teil des Geldes für den Weizen mitgebracht. Unterwegs hatte der Verwalter erfahren, daß das Getreide noch überall im Felde stehe, so, daß seine hundertsechzig Haufen im Vergleich zu dem, was die anderen noch draußen hätten, nichts seien.

Nachdem Lewin gegessen hatte, ließ er sich wie gewöhnlich mit dem Buch in der Hand in seinem Sessel nieder und fuhr fort, lesend über seine bevorstehende Reise im Zusammenhang mit seiner Lektüre nachzudenken.

Heute stand die ganze Bedeutung seiner Aufgabe mit besonderer Klarheit vor ihm und wie von selbst ordneten sich in seinem Geiste ganze Perioden zusammen, welche das Wesen seiner Ideen darstellten.

»Das muß ich niederschreiben,« dachte er, »dies soll eine kurze Einleitung, die ich früher für unnötig hielt, bilden.«

Er erhob sich, um zum Schreibtisch zu gehen, und Laska, welcher zu seinen Füßen gelegen hatte, reckte sich, ebenfalls aufstehend, und blickte ihn an, als frage er, wohin er gehen solle. Aber er kam nicht zum Schreiben, weil die Vögte zur Arbeitsbestimmung erschienen waren und Lewin begab sich zu ihnen ins Vorzimmer.

Nach Erledigung dieser Bestimmung, wie der Arbeitsplan für den folgenden Tag genannt wurde und der Anhörung sämtlicher Bauern, die mit ihm zu thun hatten, begab sich Lewin wieder in sein Kabinett und machte sich an die Arbeit. Laska hatte sich unter den Tisch gelegt und Agathe Michailowna saß mit dem Strickstrumpf auf ihrem Platze.

Nachdem er einige Zeit geschrieben hatte, trat Lewin plötzlich mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit das Bild Kitys vor das Auge, ihre Absage und die letzte Begegnung. Er stand auf und begann im Zimmer auf und abzuschreiten.

»Ihr brauchtet Euch nicht so zu langweilen,« begann Agathe Michailowna, »wozu sitzt Ihr hier zu Hause? Ihr müßtet in die warmen Bäder, da geht man jetzt hin!«

»Übermorgen reise ich auch, Agathe Michailowna, ich muß mein Werk zu Ende bringen.«

»O, Euer Werk! Es ist doch nur, daß Ihr die Bauern beschenkt. Die aber sagen höchstens: ›Lohn’s ihm der Zar!‹ Es ist doch zu seltsam, weshalb Ihr Euch soviel um die Bauern sorgt.«

»Ich sorge nicht für sie, sondern handle für mich.«

Agathe Michailowna kannte alle Einzelheiten der Wirtschaftspläne Lewins. Dieser hatte ihr seine Ideen schon häufig mit allen ihren Feinheiten dargelegt und war nicht selten mit ihr in Wortwechsel geraten, wenn er sich mit ihren Erklärungen nicht einverstanden fühlte. Jetzt aber faßte sie das, was er ihr gesagt hatte, ganz anders auf.

»Es ist eine bekannte Sache, daß man auf sein eigenes Heil am meisten bedacht sein muß,« sagte sie mit einem Seufzer. »Da ist der Parthen Djenisytsch; obwohl er weder lesen noch schreiben konnte, ist er doch so gestorben, wie es der liebe Gott jedermann fügen möchte,« fuhr sie fort, von einem unlängst verstorbenen Bauern sprechend, »man hat ihm das Abendmahl und die letzte Ölung gespendet.«

»Davon spreche ich nicht,« sagte Lewin, »ich sagte, daß ich für meinen Vorteil wirke. Mir ist es nützlicher, wenn die Bauern besser arbeiten.«

»Ja, aber was Ihr auch thun mögt, wenn der Bauer ein Faulenzer ist, so werdet Ihr doch nur die Wurst nach der Speckseite werfen; ist er hingegen ein gewissenhafter Mensch, dann wird er ohnehin arbeiten; wenn nicht, so kann man nichts machen.«

»Aber Ihr sagt doch selbst, daß Iwan jetzt den Viehhof besser verwaltet?«

»Ich sage nur das Eine, versetzte Agathe Michailowna, offenbar nicht auf einen plötzlichen Einfall hin, sondern in streng logischer Gedankenfolge, »Ihr müßt heiraten, so steht es!« –

Daß Agathe Michailowna gerade das erwähnte, woran er soeben selbst gedacht hatte, erbitterte und verletzte ihn. Lewin war finster geworden und setzte sich, ohne ihr zu antworten, wieder an seine Arbeit, indem er sich nochmals alles wiederholte, was er über die Bedeutung derselben gedacht hatte. Bisweilen nun lauschte er in der Stille dem Geräusch der Stricknadeln Agathe Michailownas und wieder wurde seine Miene düster, wenn er dessen gedachte, woran er nicht denken mochte.

Um neun Uhr ertönte Schellengeläut und man vernahm das dumpfe Rollen eines Wagens in dem Kot draußen.

»Da kommen wohl Gäste zu Euch; nun, dann wird es ja nicht mehr langweilig sein,« sagte Agathe Michailowna, sich erhebend und nach der Thür schreitend. Lewin überholte sie jedoch. Die Arbeit ging ihm jetzt nicht von statten, und er war froh, daß ein Besuch, mochte es sein, wer da wollte, kam.

Zur Hälfte der Treppe entgegeneilend, vernahm Lewin auf dem Vorsaal das Geräusch eines ihm wohlbekannten Hustens, doch er hörte wegen des Klanges der eigenen Schritte nicht genau, hoffte indessen, daß er sich geirrt haben möchte; gleich darauf erblickte er eine hagere, knochige, wohlbekannte Gestalt, und es schien ihm, als könne er sich nun nicht mehr täuschen, aber gleichwohl hoffte er noch immer, er irre sich, und diese lange Erscheinung, welche dort ihren Pelz ablegte und hustete, sei nicht die seines Bruders Nikolay.

Lewin liebte seinen Bruder, aber immer mit ihm zusammen sein zu sollen, war eine Qual. Jetzt, als Lewin unter dem Einfluß des in ihm auftauchenden Gedankens und der Mahnung Agathe Michailownas in einem ihm selbst nicht erklärlichen Zustande von Ratlosigkeit war, erschien ihm das bevorstehende Wiedersehen mit dem Bruder besonders schwer. Anstatt eines heiteren gesunden fremden Besuches, welcher wie er gehofft hatte, ihn zerstreuen sollte, in seiner geistigen Ratlosigkeit, mußte er den Bruder begrüßen, der ihn durch und durch kannte, der alle seine innersten Empfindungen hervorrufen, und ihn zu einer Aussprache veranlassen konnte, die er auf keinen Fall wünschte.

Auf sich selbst ungehalten über dieses häßliche Gefühl, eilte Lewin in das Vorzimmer, und kaum hatte er den Bruder in der Nähe erblickt, als das Gefühl seiner Enttäuschung sogleich verschwunden war und sich in Mitleid verwandelt hatte.

So erschreckend ihm sein Bruder Nikolay mit seiner Magerkeit und seinem kranken Aussehen schon früher erschienen war, jetzt war er noch mehr abgezehrt, noch geschwächter. Er war zum Skelett geworden, und hing nur noch in der Haut.

Er stand in dem Vorzimmer, mit seinem langen abgezehrten Halse ruckend; indem er sich den Shawl abriß, mit seltsam traurigem Lächeln. Als Lewin dieses friedsame, ergebene Lächeln sah, fühlte er plötzlich, wie ihm ein Schluchzen die Kehle zuschnürte.

»Da, ich bin zu dir gekommen,« begann Lewin mit hohler Stimme, ohne auch nur eine Sekunde die Augen von dem Antlitz des Bruders zu verwenden.

»Ich wollte schon lange kommen, war aber immer unwohl. Jetzt habe ich mich sehr gebessert,« sagte er, seinen Bart mit den langen mageren Handflächen streichend.

»Ja wohl,« versetzte Lewin, und es wurde ihm immer entsetzlicher zu Mut, als er beim Küssen mit den Lippen die Hagerkeit des Körpers seines Bruders fühlte und so nahe dessen seltsam glänzende Augen sah.

Einige Wochen vorher hatte Konstantin Lewin seinem Bruder geschrieben, daß dieser nach dem Verkauf des kleinen Teils des Besitzes, welcher im Hause ungeteilt verblieben war, jetzt seinen Anteil in Höhe von ungefähr zweitausend Rubel in Empfang zu nehmen hätte.

Nikolay sagte ihm nun, er sei wohl gekommen, dieses Geld jetzt in Empfang zu nehmen, hauptsächlich aber, um einmal im alten lieben Neste zu sein, die Erde wieder zu berühren, um, wie die alten russischen Heroen, neue Kraft für weitere Thaten zu schöpfen. Trotz seiner jetzt noch mehr gekrümmten Haltung, trotz der bei seiner Größe frappierenden Abgezehrtheit, waren seine Bewegungen, wie immer, schnell und hastig. Lewin führte ihn in sein Kabinett.

Der Bruder kleidete sich sehr sorgfältig um, was er früher nicht zu thun pflegte; er kämmte seine spärlichen Haare, die aufrecht in der Höhe standen, und stieg dann lächelnd nach oben.

Er befand sich in bester und heiterster Stimmung, so wie sich Lewin seiner aus der Kindheit oft erinnert hatte. Selbst Sergey Iwanowitschs gedachte er heute ohne Groll.

Als er Agathe Michailowna erblickte, begann er mit ihr zu scherzen und frug sie nach den alten Dienstboten. Die Nachricht vom Tode Parthen Djenisytschs wirkte unangenehm auf ihn; auf seinen Zügen malte sich Schrecken, doch ermannte er sich sogleich wieder.

»Nun, er war ja auch schon alt,« sagte er und ging dann auf ein anderes Thema über. »Ich gedenke einen Monat bei dir zuzubringen, auch zwei, und dann nach Moskau zurückzukehren. Du weißt wohl, daß mir Mjachkoff eine Stelle zugesagt hat, und daß ich in den Dienst zu treten beabsichtige. Ich richte jetzt mein Leben ganz anders ein,« fuhr er fort, »du weißt wohl, daß ich jene Frauensperson entlassen habe?«

»Marja Nikolajewna? Wie? Weshalb denn?«

»Ach, sie war ein garstiges Geschöpf, – hat mir eine Masse Unannehmlichkeiten bereitet!« – Er erzählte indessen nicht, welcher Art diese Unannehmlichkeiten gewesen waren. Konnte er doch nicht mitteilen, daß er Marja Nikolajewna deshalb davongejagt hatte, weil der Thee einmal zu schwach gewesen, und namentlich, weil sie ihn wie einen Patienten behandelte. »Ich will infolgedessen jetzt mein Leben völlig umgestalten. Wie alle anderen habe ich natürlich auch Dummheiten begangen, doch mein Zustand – den beklage ich nicht. Wenn ich nur erst gesund bin; und meine Gesundheit hat sich, Gott sei Dank, gebessert.«

Lewin hörte zu und dachte nach, vermochte aber nicht etwas zu finden, was er sagen sollte. Dies mochte wohl auch Nikolay fühlen, denn er begann den Bruder nach dem Geschäftsgang zu fragen. Lewin war froh, von sich selbst sprechen zu können, weil er so reden konnte, ohne dabei zu heucheln. Er berichtete dem Bruder von seinen Plänen und Arbeiten.

Nikolay hörte zu, war aber augenscheinlich wenig interessiert davon. Diese beiden Männer waren so eng miteinander verwandt und standen sich so nahe, daß die kleinste Bewegung, der Ton der Stimme schon, für die beiden mehr besagte, als alles, was sich mit Worten ausdrücken ließ.

Jetzt hatten sie beide einen einzigen Gedanken – die Krankheit und den Tod Nikolays – welcher alles Übrige unterdrückte. Aber weder der Eine noch der Andere wagte davon zu sprechen, und infolgedessen war alles, was sie auch sagen mochten nur Heuchelei, da es nicht ausdrückte, was sie ausschließlich beschäftigte.

Noch nie war Lewin so froh gewesen, daß der Abend zu Ende ging, und man zur Ruhe gehen mußte. Noch nie war er mit einem Fremden, oder bei einem offiziellen Besuch, so unnatürlich, so falsch gewesen, wie er es heute gewesen war. Das Bewußtsein dieser Falschheit und die Reue über sie hatten ihn noch unnatürlicher gemacht. Thränen wollten ihm aufsteigen über seinen sterbenden, geliebten Bruder, und dabei hatte er ein Gespräch anhören und mit ihm führen müssen, wie derselbe fernerhin zu leben gedenke.

Da es im Hause feucht war und man nur ein Zimmer geheizt hatte, so quartierte Lewin seinen Bruder in dem eigenen Schlafzimmer hinter einer spanischen Wand ein.

Der Bruder legte sich nieder und, – schlief er oder schlief er nicht – wälzte sich wie ein Leidender, hustete und murrte vor sich hin, wenn er nicht husten konnte. Bisweilen, wenn er schwer aufatmete, betete er »mein Gott, mein Gott!« Wenn ihn der Auswurf ersticken wollte, rief er gereizt »zum Teufel auch!« Lewin konnte lange nicht schlafen, indem er den Bruder so hörte. Die verschiedensten Gedanken waren in ihm wach, aber der Ausgangspunkt aller dieser Gedanken war nur – der Tod. –

Der Tod, das unvermeidliche Ende von allem, erschien ihm zum erstenmal als eine unabweisbare Macht, und der Tod, welcher hier gegenwärtig war, in dem geliebten Bruder, der im Schlaf stöhnte und nach seiner Art ohne Unterschied durcheinander bald Gott, bald den Satan anrief, war nicht mehr so fern, als es ihm früher geschienen hatte. Er war schon in ihm, und er selbst fühlte dies. Wenn heute nicht, so kam er morgen, wenn morgen nicht, so kam er in dreißig Jahren – als ob sich das nicht völlig gleich bliebe! – Was aber dieser unvermeidliche Tod eigentlich war – das wußte er nicht nur nicht, das hatte er nicht nur nie überlegt, er hatte es vielmehr gar nicht verstanden und nie gewagt, darüber nachzudenken.

»Da arbeite ich, und will etwas vollbringen – und habe vergessen, daß doch alles ein Ende haben wird, daß es – einen Tod giebt!« –

Er saß auf seinem Bette in der Finsternis, gebeugt und die Beine übereinandergeschlagen und sann, den Atem anhaltend in der Anstrengung seines arbeitenden Geistes. Aber je mehr er seinen Geist anstrengte, um so klarer wurde ihm, daß es unzweifelhaft so sei, daß er dies in der That vergessen, einen kleinen Umstand im Leben übersehen hatte – den, daß der Tod kommen und allem ein Ziel setzen werde, sodaß es sich nicht verlohnte, etwas zu unternehmen, und man dabei keinerlei Hilfe schaffen könne. Das war entsetzlich, aber es war so. –

»Aber noch lebe ich doch! Was soll ich daher jetzt thun, was thun?« sprach er zu sich voll Verzweiflung. Er zündete ein Licht an, erhob sich behutsam, ging zum Spiegel und begann sein Gesicht und Haar zu betrachten. Ja, an seinen Schläfen waren graue Haare. Er öffnete den Mund; die Backzähne begannen schlecht zu werden. Er entblößte seine muskulösen Arme – Kraft war viel darin, aber auch sein Nikolay der dort mit den Resten seiner Lunge atmete, hatte einst einen gesunden Körper gehabt. Und plötzlich erinnerte er sich, wie sie sich als Kinder zusammen schlafen gelegt hatten und nur darauf warteten, daß Fjodor Bogdanowitsch zur Thür hinausging, damit sie beide sich mit den Kissen werfen und lachen konnten, so unbändig dabei lachen, daß selbst der Respekt vor Fjodor Bogdanowitsch nicht das überschäumende Bewußtsein des Lebensglückes niederzuhalten vermochte und jetzt – diese eingesunkene, verödete Brust dort, und er selbst, ohne zu wissen, warum er da sei, was kommen werde für ihn.

»Hcha, Hcha, Teufel! –- Was machst du denn dort, daß du nicht schläfst?« rief ihm jetzt die Stimme seines Bruders zu.

»Ich weiß nicht, was das ist, ich kann nicht schlafen!« –

»Nun; ich habe recht gut geschlafen, ich schwitze jetzt gar nicht mehr. Sieh selbst, fühle nur mein Hemd an; kein Schweiß mehr!« Lewin befühlte das Hemd, ging dann hinter die Scheidewand, löschte das Licht wieder aus, konnte aber noch lange den Schlaf nicht finden.

Kaum hatte sich ihm nur einigermaßen die Frage geklärt, wie er leben solle, da war schon eine neue, unlösbare vor ihm erschienen – der Tod.

»Er stirbt; er wird im Frühjahr sterben; wie kann man ihm helfen? Was soll ich ihm sagen? Was weiß ich darüber? Ich hatte vergessen, daß es so steht.«

32.

Lewin hatte schon seit langem die Beobachtung gemacht, daß, wenn Einem im Umgang mit den Menschen deren allzugroße Zuvorkommenheit und Ergebenheit peinlich wird, sehr schnell auch ein übermäßig anspruchsvolles Wesen und Streitsucht unerträglich wird. Er fühlte, daß dies auch mit seinem Bruder der Fall sein würde; und in der That, die Sanftmut desselben reichte nicht lange aus. Schon vom anderen Morgen an wurde er reizbar und stritt geflissentlich mit dem Bruder, indem er diesen an seinen empfindlichsten Stellen zu treffen versuchte.

Lewin fühlte sich betreten, vermochte aber die Sache nicht zu ändern. Er empfand, daß sie beide nur, wenn sie sich nicht mehr verstellten, sondern aussprächen, was man »vom Herzen herunter« sprechen nennt, das heißt, nur was sie wirklich dachten und fühlten, sich gegenseitig offen einander ins Auge blicken könnten, und Konstantin nur zu sagen hätte »du mußt sterben, sterben!« während Nikolay ihm antworten müßte »ich weiß es, daß ich sterben werde, aber ich fürchte den Tod, ich fürchte, fürchte ihn.« – Mehr würden sie nicht sprechen, wenn sie so nur vom Herzen herunter gesprochen haben würden. Aber so war nicht zu leben, und deshalb versuchte es Konstantin, zu thun, was er für sein ganzes Leben hindurch versucht hatte, ohne es zu können, das, was nach seinen Beobachtungen viele so vortrefflich zu thun verstanden, und ohne das man nicht leben kann: Er versuchte es, nicht das zu sprechen, was er dachte, fühlte aber beständig, daß dies falsch sei, daß der Bruder ihn hierbei ertappe und davon gereizt werde.

Nach Verlauf von drei Tagen forderte Nikolay seinen Bruder auf, ihm seinen Plan nochmals zu entwickeln. Er begann darauf denselben nicht nur zu verwerfen, sondern ihn sogar absichtlich mit dem Socialismus zusammenzubringen.

»Da hast du lediglich einen fremden Gedanken aufgefaßt, ihn aber verballhornistert und willst ihn dem Unmöglichen anpassen.«

»Aber ich sage dir ja, daß er durchaus nichts Allgemeines in sich trägt. Die Socialisten verwerfen das Recht des Privateigentums, des Kapitals, der Erbfolge – ich aber, ohne diese wichtigste Stimula zu verwerfen,« – Lewin selbst war es widerlich, daß er sich derartiger fremder Worte bedienen mußte, aber seit er sich mehr mit seiner Arbeit beschäftigte, begann er unwillkürlich häufig und häufiger nichtrussische Worte zu brauchen – »will nur die Arbeit regeln.«

»Das ist es eben, daß du einen fremden Gedanken aufgefaßt und von ihm alles abgetrennt hast, was seine Bedeutung ausmacht, nun aber versichern willst, es sei dies etwas Neues,« antwortete Nikolay, heftig an seiner Halsbinde zerrend.

»Aber mein Gedanke hat nichts Allgemeines« –

»Denn,« erwiderte Nikolay Lewin mit gehässigem Glanz in den Augen und ironischem Lächeln: »dort liegt doch zum wenigsten ein Reiz darin, ein, wie soll ich sagen, mathematischer – nach seiner Klarheit und unzweifelhaften Richtigkeit. Möglicherweise ist er eine Utopie. Aber zugegeben, daß man aus der ganzen Vergangenheit eine tabula rasa machen könnte, daß es kein Privateigentum mehr gäbe, keine Familie, so wird doch immerhin die Arbeit bestehen, bleiben. »Bei dir aber ist nichts« –

»Weshalb vermischst du die Dinge? Ich bin nie ein Socialist gewesen.«

»Ich aber war es, und finde, daß die Idee verfrüht ist, obwohl sie klug ist, daß sie ihre Zukunft hat, wie das Christentum in den ersten Jahrhunderten.«

»Ich glaube, daß man die Arbeitskraft nur von dem Gesichtspunkt des Naturforschers aus beurteilen darf, das heißt, daß man sie studieren und ihre Eigenschaften erkennen muß.«

»Das ist aber ganz unnütz. Diese Kraft findet von selbst je nach dem Grade ihrer Entwickelung eine bekannte Form für ihre Bethätigung. Es hat überall Knechte gegeben und dann Vögte; auch bei uns giebt es die Gesellschaftsarbeit, die Pacht, die Arbeit auf Tagelohn – was willst du noch?«

Lewin geriet bei diesen Worten plötzlich in Zorn, da er auf dem Grunde seiner Seele die Befürchtung empfand, der Bruder könne recht haben – recht darin, daß er selbst zwischen dem Socialismus und den Ordnungsformen schwanke – was doch schwerlich möglich sein konnte.

»Ich suche Mittel dafür, mit Gewinn zu arbeiten, sowohl für mich selbst, wie für den Arbeiter. Ich will organisieren,« antwortete er heftig.

»Nichts willst du organisieren; du willst einfach originell sein, wie du es Zeit deines Lebens gewesen bist; du willst zeigen, daß du nicht mit den Bauern experimentierst, sondern vielmehr mit der Idee.«

»Nun– denkst du so – lassen wir das! versetzte Lewin, welcher fühlte, daß ihm der Muskel seiner linken Wange bebte, ohne daß er dies unterdrücken konnte.

»Du hattest nie Überzeugungen, und hast auch jetzt keine; nur deine Eigenliebe willst du befriedigen.«

»Schön so; aber verlaß dieses Thema!«

»Ich werde es lassen! Es ist schon längst Zeit dazu! Zum Teufel auch mit dir, ich wünschte, ich wäre gar nicht hergekommen!«

So sehr sich Lewin nun bemühte, den Bruder zu beruhigen, Nikolay wollte nichts hören und sagte, daß er am liebsten gleich wieder fortfahren möchte; Lewin sah, daß dem Bruder das Leben unerträglich geworden war.

Nikolay hatte bereits alle Anstalten zur Abreise getroffen, als Lewin wieder zu ihm kam und ihn bat, zu verzeihen, wenn er ihn gekränkt haben sollte.

»O, diese Großmut!« antwortete Nikolay lächelnd. »Wenn du denn einmal recht behalten willst, so will ich dir dieses Vergnügen gewähren. Du hast recht. Aber ich will dennoch fahren!«

Bei der Abreise selbst küßte ihn Nikolay und sprach, plötzlich seltsam und ernst auf den Bruder blickend:

»Bei alledem; gedenke meiner nicht im Bösen, mein Konstantin!« und seine Stimme schwankte.

Dies waren die einzigen Worte, die aufrichtig gesprochen worden waren. Lewin begriff, daß in diesen Worten der Sinn lag: »Du siehst es und weißt, daß ich sehr krank bin, und wir uns vielleicht niemals wieder sehen.«

Lewin verstand dies und die Thränen strömten ihm aus den Augen. Noch einmal küßte er seinen Bruder, konnte ihm aber nichts mehr antworten, – wußte ihm auch nichts mehr zu sagen. –

Am dritten Tage nach der Abreise des Bruders reiste Lewin nach dem Auslande ab. Als er auf der Eisenbahn mit Schtscherbazkiy, einem Vetter Kitys, zusammentraf, setzte er diesen durch seine Niedergeschlagenheit sehr in Erstaunen.

»Was hast du denn?« frug ihn Schtscherbazkiy.

»Nichts weiter: es giebt ja so wenig Angenehmes auf der Welt.«

»Inwiefern denn wenig? Komm, fahre mit mir nach Paris, in Gesellschaft eines gewissen Mylus. Da sollst du sehen, wie lustig es auf der Welt ist!«

»Nein. Ich bin schon fertig und möchte bald sterben.«

»Das ist doch dein Spaß!« lachte Schtscherbazkiy, »ich bin ja erst im Begriff anzufangen!«

»So meinte ich auch noch vor kurzem, jetzt aber weiß ich, daß ich bald sterbe.«

Lewin sprach damit nur aus, was er wahrhaft gedacht hatte in diesen letzten Tagen. In allem sah er nur den Tod oder die Annäherung an denselben. Aber das von ihm unternommene Werk beschäftigte ihn nur um so mehr. Es galt ihm jetzt, sein Leben irgendwie fertig zu leben, bevor noch der Tod kam. Dunkelheit verschleierte für ihn alles, aber gerade mit dieser Dunkelheit fühlte er, daß der einzige leitende Faden in ihr nur noch sein Werk war, und mit den letzten Kräften widmete er sich diesem, klammerte er sich an ihm an.

 

1.

Die Karenin, Gatte und Gattin, fuhren fort in einem Hause zusammen zu leben: sie sahen sich wohl alltäglich, waren aber einander vollständig entfremdet.

Aleksey Aleksandrowitsch hatte es sich zum Gesetz gemacht, sein Weib alltäglich nur deshalb zu sehen, daß die Dienerschaft kein Recht haben möchte, Vermutungen zu hegen. Die Mittagstafel daheim mied er jedoch. Wronskiy war nie im Hause Aleksey Aleksandrowitschs erschienen, Anna sah ihn aber außerhalb desselben und ihr Gatte wußte dies.

Die Lage war für alle drei peinvoll; und niemand von ihnen würde die Kraft besessen haben, auch nur einen einzigen Tag in derselben auszuhalten, wäre nicht die Erwartung dagewesen, daß sie sich ändern werde, daß alles dies nur eine zeitweilige, bittere und schwere Lage sei, welche vorübergehen würde. Aleksey Aleksandrowitsch wartete, daß diese Leidenschaft vergehen sollte, wie ja alles vergeht, daß alle die Sache vergessen möchten und sein Name nicht geschändet würde. Anna, von welcher diese ganze Situation abhing, und für die dieselbe peinlicher war, als für, alle sonst, ertrug sie, weil sie nicht nur wartete, sondern fest überzeugt war, daß alles dies sehr bald zur Entwickelung und Klärung gelangen müsse. Sie wußte freilich nicht im geringsten, was denn eigentlich die Schwierigkeit lösen solle, aber sie besaß die Überzeugung, daß etwas jetzt und sehr schnell eintreten müsse.

Auch Wronskiy, der sich ihr unwillkürlich fügte, erwartete etwas, das von ihm unabhängig, alle Schwierigkeiten klären müsse.

Inmitten des Winters hatte Wronskiy eine sehr langweilige Woche durchlebt. Er war einem ausländischen, in Petersburg zugereisten Prinzen zubeordert worden, und hatte die Aufgabe, diesem die Sehenswürdigkeiten Petersburgs zu zeigen. Gerade Wronskiy war es, welcher vorgestellt wurde, denn abgesehen davon, daß dieser die Kunst, sich mit Würde und zugleich Ehrerbietung zu benehmen, besaß, war er es auch gewohnt, mit Männern ähnlichen Ranges umzugehen; allein diese Pflicht wurde ihm zu einer sehr schweren. Der Prinz wünschte nichts zu übergehen, bezüglich dessen er in der Heimat gefragt werden konnte, ob er es in Rußland gesehen, ja, er wünschte auch selbst, soviel es möglich war, russischen Vergnügungen beizuwohnen. Wronskiy war nun verpflichtet, ihn hier und dorthin zu führen, und des Vormittags fuhren sie nun, um die Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, des Abends, um an nationalen Vergnügungen teilzunehmen. Der Prinz erfreute sich einer selbst unter Prinzen ungewöhnlichen Gesundheit; sowohl durch leibliche Übungen wie durch gute Pflege seines Körpers hatte er eine solche Kraft erworben, daß er trotz des Übermaßes, mit welchem er sich den Zerstreuungen hingab, frisch aussah wie eine mächtige, grüne holländische Gurke. Der Prinz war viel gereist und hatte gefunden, daß einer der vorzüglichsten Vorteile der modernen Verkehrsbequemlichkeiten die Möglichkeit, nationalen Vergnügungen beiwohnen zu können, bilde.

Er war in Spanien gewesen und hatte dort Serenaden veranstaltet und sich einer Spanierin genähert, welche Mandoline spielte. In der Schweiz hatte er Gemsen gejagt. In England im roten Frack unter Wetten zweihundert Fasanen erlegt. In der Türkei war er in einem Harem gewesen, in Indien hatte er auf Elefanten geritten und in Rußland jetzt wollte er alle echtrussischen Vergnügungen kennen lernen.

Wronskiy, der bei ihm eine Art erster Ceremonienmeister war, kostete es große Mühe, alle die Zerstreuungen, die dem Prinzen von verschiedenen Seiten vorgeschlagen wurden, zu sichten. Da waren die russischen Trabrennen, und die Bärenjagden, die Troiken und die Zigeuner, wie das Topfschlagen. Der Prinz accomodierte sich dem russischen Geiste mit außerordentlicher Leichtigkeit; er beteiligte sich am Topfschlagen, setzte sich eine Zigeunerin auf das Knie und frug, wie es schien, ob dies alles sei, ob nur darin der ganze russische Geist bestehe.

Am meisten von allen diesen russischen Vergnügungen gefielen allerdings dem Prinzen die französischen Schauspielerinnen, eine Balleteuse und der weißgesiegelte Champagner.

Wronskiy hatte Übung im Umgang mit Prinzen, aber – kam es davon, daß er selbst sich in letzter Zeit verändert hatte, oder von der allzu großen Nähe, in welcher er sich zu dem Prinzen befand – diese Woche erschien ihm als eine furchtbar schwere.

Die ganze Woche hindurch hatte er ohne Unterbrechung ein Gefühl empfunden, ähnlich dem eines Menschen, der zu einem gefährlichen Wahnsinnigen gesteckt wird, um zu erproben, ob er diesen wohl fürchtet und infolge der Nähe bei ihm, auch für seinen Verstand fürchten müsse.

Wronskiy empfand beständig den Zwang, nicht eine Sekunde den Ton strenger offizieller Ehrerbietung sinken lassen zu dürfen, damit er keine Schlappe erleide. Dre Umgangsweise des Prinzen gerade mit denjenigen, welche zur Verwunderung Wronskiys darüber aus der Haut fuhren, daß man ihm russische Vergnügungen biete, war eine souveräne. Sein Urteil über die russischen Frauen, die er kennen zu lernen gewünscht hatte, ließen Wronskiy mehr als einmal vor Unwillen erröten, aber der Hauptgrund, weshalb der Prinz für Wronskiy außerordentlich lästig war, war der, daß er in dem Prinzen unwillkürlich sich selbst wieder erkannte, und daß das, was er in diesem Spiegel erkannte, seiner Eigenliebe nicht eben schmeichelte. Der Prinz war ein sehr beschränkter, sehr eingebildeter, sehr gesunder und an sich sehr eigener Mensch, weiter aber nichts. Er war Gentleman, das war er in Wahrheit, und Wronskiy konnte das nicht in Abrede stellen. Er war gleichmütig und nicht kriechend vor Höheren, ungezwungen und einfach im Verkehr mit Gleichstehenden und gutmütig herablassend gegenüber den unter ihm Stehenden. Ganz genau so war aber auch Wronskiy, der das für einen großen Vorzug hielt; in der Umgebung des Prinzen war er doch der tiefer Stehende und die herablassend gutmütige Behandlungsweise ihm gegenüber regte ihn auf.

»Das ist ein dummer Stier; bin ich das auch?« dachte er bei sich.

Wie dem nun sein mochte, als er sich am siebenten Tage von ihm verabschiedete, vor der Abreise des Prinzen nach Moskau, und dessen Dank entgegennahm, war er glücklich, aus dieser peinlichen Lage und von diesem unangenehmen Spiegel erlöst zu sein.

Er verabschiedete sich von ihm auf der Station, bei der Rückkehr von der Bärenjagd, an welcher während einer ganzen Nacht russische Bravour eine Galavorstellung gegeben hatte.

2.

Heimgekommen, fand Wronskiy ein Billet Annas vor.

Sie schrieb: »Ich bin krank und unglücklich. Ich kann nicht ausfahren, kann aber auch nicht länger ohne Euren Anblick sein. Kommt am Abend zu mir. Um sieben Uhr wird Aleksey Aleksandrowitsch zum Rat fahren und bis zehn Uhr dort bleiben.«

Nachdem er eine Minute lang über den seltsamen Umstand, daß sie ihn so direkt zu sich berufe, ungeachtet der Forderung ihres Gatten, daß sie ihn nicht empfangen dürfe, nachgedacht hatte, entschloß er sich, der Einladung zu folgen.

Wronskiy war im Lauf dieses Winters Oberst geworden, aus dem Regiment ausgetreten und lebte jetzt frei. Nachdem er gefrühstückt hatte, warf er sich sogleich auf den Diwan und in fünf Minuten vermischten sich die Erinnerungen der unangenehmen Scenen, wie er sie in den letzten Tagen gesehen hatte, und verbanden sich mit dem Gedanken an Anna und an die Bärenjagd, und er schlief ein. Erst in der Dunkelheit erwachte er wieder, bebend vor Entsetzen. Sofort zündete er eine Kerze an. »Was war das? Wie? Was habe ich Furchtbares im Traume gesehen? Der eine Bauer auf der Bärenjagd, klein, schmutzig, mit wirrem Barte, hatte gearbeitet, indem er sich niederbeugte, und dann plötzlich einige seltsame Worte auf französisch gesprochen. Nun, weiter war es nichts mit dem Traume,« sprach er zu sich selbst. »Aber weshalb war dies nur so furchtbar gewesen?« Lebhaft stellte er sich wiederum den Bauern vor und jene seltsamen französischen Worte, die derselbe gesprochen hatte – und Entsetzen überlief kalt seinen Rücken.

»Welcher Unsinn!« dachte er und schaute nach der Uhr.

Es war bereits halb neun. Er schellte seinem Diener, kleidete sich hastig an und begab sich zur Treppe hinab, seinen Traum völlig vergessend und nur noch von der Besorgnis gequält, sich zu verspäten.

Als er vor der Freitreppe der Karenin anlangte, schaute er wieder nach der Uhr und sah, daß es zehn Minuten vor neun war. Ein hoher, schmaler Wagen mit einem Paar grauer Pferde bespannt, stand unter der Einfahrt; er erkannte das Geschirr Annas. »Sie fährt zu mir,« dachte Wronskiy, »und das wäre auch besser gewesen; denn es ist mir unangenehm, dieses Haus zu betreten. Doch gleichviel, ich kann mich nicht verstecken,« und mit jenen ihm von Kindheit an eigenen Manieren eines Menschen, der sich vor nichts scheut, stieg Wronskiy aus dem Schlitten und schritt zur Thür hin.

Die Thür öffnete sich und der Portier, ein Plaid auf dem Arme, rief den Wagen heran. Wronskiy, nicht gewohnt, Kleinigkeiten zu bemerken, gewahrte gleichwohl jetzt den verwunderten Gesichtsausdruck, mit welchem ihn der Portier anblickte.

In der Thür selbst wäre Wronskiy fast mit Aleksey Aleksandrowitsch zusammengestoßen. Die Gasflamme beleuchtete das blutlose, eingefallene Gesicht unter dem schwarzen Hute und die weiße Halsbinde, die aus dem Biberpelz des Überrocks herausschimmerte. Die unbeweglichen, dunklen Augen Karenins richteten sich auf das Gesicht Wronskiys. Dieser verneigte sich und Aleksey Aleksandrowitsch, den Mund ein wenig bewegend, hob die Hand an den Hut und ging vorüber. Wronskiy sah, wie er, ohne aufzublicken, sich in den Wagen setzte, das Plaid und Augenglas durch das Wagenfenster nahm, und sich zudeckte.

Wronskiy betrat das Vorzimmer; seine Brauen waren zusammengezogen und seine Augen erglänzten in bösem und stolzem Glänze.

»Ist das eine Situation!« dachte er, »wenn er kämpfte, seine Ehre wahrte, dann könnte ich handeln, meine Empfindungen äußern; aber diese Schwäche oder vielmehr Erbärmlichkeit – er versetzt mich in die Lage eines Betrügers, während ich dies doch nicht sein wollte und auch nicht sein will!«

Seit der Zeit seiner Aussprache mit Anna im Park der Wrede hatten sich die Ansichten Wronskiys geändert. Sich unwillkürlich den Schwächen Annas unterwerfend, die sich ihm ganz gegeben hatte und nur noch von ihm die Entscheidung über ihr Geschick erwartete, indem sie sich von vornherein allem unterwarf, hatte er längst aufgehört, zu glauben, daß dieses Verhältnis so enden könne, wie er damals dachte. Seine Träume voll Ehrgeiz waren wieder in den Hintergrund getreten, und er ergab sich, aus dem Kreise einer Wirksamkeit tretend, in welchem alles begrenzt war, ganz seiner Empfindung; diese Empfindung aber fesselte ihn fester und fester an sie.

Schon vom Vorzimmer aus vernahm er sich entfernende Schritte. Er erkannte, daß sie ihn erwartet hatte, gelauscht hatte und jetzt in den Salon zurückkehrte.

»Nein!« rief sie aus, als sie seiner ansichtig wurde, und beim ersten Tone ihrer Stimme traten ihr die Thränen in die Augen, »wenn das so fortgehen soll, so wird das Unglück noch viel, viel früher eintreten!«

»Was denn, mein Kind?«

»Was? Ich warte und martere mich, eine Stunde, zwei, – aber nein, ich will, ich kann nicht mit dir hadern. Du konntest wahrscheinlich nicht früher. Nein, ich will es nicht thun!«

Sie legte beide Hände auf seine Schultern und blickte ihn lange mit tiefem, verzücktem und zugleich forschendem Blicke an. Sie prüfte sein Gesicht nach der Zeit, seit welcher sie ihn nicht gesehen hatte. Wie bei jedem Wiedersehen, so verglich sie wieder ihr innerliches Bild von ihm – das unvergleichlich besser, und in der Wirklichkeit unmöglich war – mit ihm, wie er wirklich aussah.

24.

Die Nacht, welche Lewin auf dem Heuhaufen verbracht hatte, war für ihn nicht ohne Früchte gewesen. Die Ökonomie, die er betrieb, widerte ihn jetzt an und er hatte alles Interesse für dieselbe verloren.

Ungeachtet der vorzüglichen Ernte hatte es – wie ihm wenigstens schien – nie soviel Mißgeschick, soviel Reibereien zwischen ihm und den Bauern gegeben, als im gegenwärtigen Jahr, und die Ursache dieser Mißlichkeiten und Reibereien war ihm jetzt völlig klar.

Der Reiz, den er bei der Arbeit selbst empfand, die für ihn daraus hervorgehende Annäherung an die Bauern, der Neid, den er diesen gegenüber, ihrem Leben gegenüber fühlte, der Wunsch, auch zu einem solchen Leben überzugehen, welcher ihm in dieser Nacht schon nicht mehr Wunsch geblieben, sondern Absicht geworden war, deren Einzelheiten betreffs der Verwirklichung er erwogen hatte – alles dies hatte seine Anschauungen über die von ihm geleitete Wirtschaft derart verändert, daß er darin in keiner Beziehung mehr das frühere Interesse zu finden vermochte, daß er nicht umhin konnte, seine wenig freundliche Stellung den Arbeitern gegenüber zu erkennen, welche die eigentliche Grundlage für alles bildete.

Die Herden seiner veredelten Rinder, alle so wie die Pawa war, sein wohlgepflügtes Ackerland, neue Felder mit Gebüsch umsäumt, neunzig Desjatinen tiefgepflügten Düngerlandes und vieles Ähnliche – alles das war ja recht schön, wenn es nur von ihm selbst oder von ihm zusammen mit den Genossen geschaffen worden wäre, mit Leuten, die mit ihm fühlten. Aber er erkannte jetzt klar – seine Arbeit an dem Werke, welches er über Landwirtschaft schrieb, und worin er als das Hauptelement der Ökonomie den Arbeiter hinstellte, half ihm viel dabei – daß die Landwirtschaft, welche er führte, nur ein grausamer und hartnäckiger Kampf zwischen ihm und den Arbeitern war, in welchem sich auf der einen Seite, auf seiner eigenen, das beständige, angestrengte Bestreben zeigte, alles auf eine Weise zur Ausführung zu bringen, die sich nach der Berechnung als die beste erwies – auf der anderen Seite die natürliche Ordnung der Dinge.

Und in diesem Kampfe sah er, daß bei der höchsten Kraftanstrengung seinerseits, und bei dem Mangel jedes Kraftaufwands oder selbst des Bestrebens dazu auf der anderen Seite nur das erreicht wurde, daß die Wirtschaft nicht unnütz geführt, die Gerätschaften, das schöne Vieh und das Land nicht zwecklos abgenutzt wurden.

Die hierbei aufgebotene Energie ging zwar nicht vollkommen verloren, doch er mußte sich jetzt sagen, daß das Ziel dieser Energie ein unwürdiges war, wenn der leitende Gedanke seiner Landwirtschaft zu Tage kam.

Und worin bestand in Wirklichkeit jener Kampf? Er bestand auf jeden Pfennig der Einkünfte – entgegengesetzt konnte er nicht handeln, weil dies für ihn in der Energie nachlassen bedeutet und er dann nicht genug Geld gehabt hätte, seine Arbeiter zu bezahlen, sie aber strebten nur darnach, ruhig und gemächlich arbeiten zu dürfen, also so, wie sie es gewohnt waren. In seinem eigenen Interesse lag es, daß jeder Arbeiter so viel als möglich arbeitete, und dabei auch nicht vergesse, daß er nicht die Futterschwingen zerbreche, oder die Mistgabeln und die Dreschflegel; daß er daran denke, was er thue, in, dem des Arbeiters hingegen, daß er mit größter Muße arbeiten könne, dabei ausruhend und, was die Hauptsache war – sorglos, ohne zu denken, und sich selbst dabei vergessend.

Auf jedem Schritte hatte Lewin das in diesem Sommer wahrgenommen. Er hatte Leute hinausgesandt, damit der Kleber nach dem Heu geschnitten werde und die schlechtesten Desjatinen, die von Gras und Wermut durchstanden waren, und zur Saat nicht gut tauchten, ausgewählt; aber man nahm dafür die besten Felder, mit der Ausrede, daß der Verwalter es so befohlen habe und tröstete ihn damit, daß das Heu ausgezeichnet werden würde. Er aber wußte nur zu gut, daß dies nur davon komme, weil sich diese besseren Felder leichter schnitten. Er hatte eine Maschine hinausgesandt, um das Heu aufschütteln zu lassen, aber man hatte dieselbe schon bei den ersten Reihen defekt gemacht, weil es dem Bauer zu langweilig gewesen war, auf dem Bocke unter den über ihm schwingenden Schaufeln zu sitzen, und ihm geantwortet: »Habt keine Angst, die Weiber werden das Heu schnell wenden.« Die Pflugscharen erwiesen sich als untauglich geworden, weil es den Knechten nicht in den Kopf gekommen war, das Eisen hochzuheben, so daß sie, mit der Fangleine wendend, nur die Pferde abquälten und den Boden ruinierten; aber immer bat man Lewin, nur ruhig zu bleiben.

Die Pferde hatte man in die Weizenfelder gelassen, weil nicht ein einziger der Arbeiter in der Nacht hatte Wache halten wollen. Selbst auf den Befehl hin, es nicht zu thun, wechselten sich die Arbeiter die Nacht hindurch mit der Wache ab und Wanka, der den ganzen Tag gearbeitet hatte, war eingeschlafen. Er bereute nun seinen Fehltritt, sagte aber nur »macht was Ihr wollt«. –

Drei ausgezeichnete Färsen wurden vergiftet, weil man sie ohne Tränke auf das Kleberfeld gelassen hatte, und niemand wollte glauben, daß sie vom Kleber aufgetrieben worden waren, zur Beruhigung aber wurde mitgeteilt, daß bei einem Nachbar hundertundzwölf Stück Vieh innerhalb dreier Tage gefallen seien.

Alles das geschah aber nicht etwa deshalb, weil man Lewin oder seiner Ökonomie etwa übel gewollt hätte, im Gegenteil, er wußte, daß man ihn lieb hatte, ihn als einen einfachen Herrn achtete – was doch als höchstes Lob gilt, – es geschah eben nur deshalb, weil man heiter und sorglos zu arbeiten wünschte und seine Interessen den Leuten nicht nur fremd und unverständlich blieben, sondern ihren eigenen richtigsten Interessen geradezu entgegengesetzt waren. Schon lange hatte Lewin Unzufriedenheit über sein Verhältnis zu dieser Wirtschaft empfunden. Er erkannte, daß sein Fahrzeug leck geworden war, fand aber und suchte auch das Leck nicht, vielleicht um sich mit Vorsatz darüber hinwegzutäuschen. Wäre ihm doch auch nichts anderes übrig geblieben, wenn er sich dessen klar bewußt gewesen wäre. Jetzt aber konnte er sich nicht mehr täuschen; die Wirtschaft wie er sie leitete, war ihm nicht nur nicht mehr interessant, sie ekelte ihn vielmehr an, und er mochte sich nicht mehr mit ihr befassen.

Hierzu war nun das Erscheinen Kity Schtscherbazkajas gekommen, die nur dreißig Werst von ihm entfernt weilte und die er so gern wiedersehen wollte und doch nicht konnte.

Darja Aleksandrowna Oblonskaja hatte ihn eingeladen, wieder zu ihr zu kommen, als er bei ihr gewesen war; er sollte wohl hinkommen, um bei ihrer Schwester seinen Antrag zu erneuern, den sie jetzt, wie sie ihm zu verstehen gab, wahrscheinlich annehmen würde. Lewin selbst erkannte, nachdem er Kity wiedererblickt hatte, daß er nicht aufgehört habe, sie zu lieben; aber er vermochte nicht zu den Oblonskiy zu fahren, wenn er wußte, daß sie sich dort befand.

Der Umstand, daß er ihr eine Erklärung gemacht, und sie ihn zurückgewiesen hatte, zog eine unüberwindliche Schranke zwischen ihnen.

»Ich kann sie nicht mehr bitten, mein Weib zu werden, schon deshalb, weil sie nicht das Weib dessen sein kann, den sie mochte,« sprach er zu sich selbst, und der Gedanke hieran, stimmte ihn kalt und feindselig gegen sie. »Ich werde nicht die Kraft besitzen, mit ihr zu reden ohne die Empfindung, daß ich ihr Vorwürfe machen müßte, um sie anzuschauen, ohne daß sich der Haß in mir regte, und sie selbst wird mich nur mehr hassen, wie das je der Fall sein muß. Wie sollte ich daher jetzt, auch nach dem, was mir Darja Aleksandrowna gesagt hat, zu ihr kommen können? Vermöchte ich denn zu verhehlen, daß ich weiß, was diese mir gesagt hat? Ich kann allerdings voll Großmut kommen, ihr vergeben, sie mir versöhnlich stimmen; ich stehe ja vor ihr in der Rolle des Verzeihenden, der sie seiner Liebe für wert hält. Weshalb mußte mir Darja Aleksandrowna dies auch sagen? Ich hätte Kity doch zufällig wiedersehen können, und dann würde sich alles von selbst gemacht haben; jetzt aber ist das unmöglich, ganz unmöglich.«

Darja Aleksandrowna hatte Lewin ein Billet geschickt, in welchem sie um einen Damensattel für Kity bat. »Man hat mir gesagt, Ihr besäßet einen solchen,« schrieb sie ihm, »und ich hoffe, Ihr bringt ihn selbst?«

Er vermochte dies kaum zu ertragen. Wie konnte ein so kluges, feinsinniges Weib die eigene Schwester derartig erniedrigen? Er schrieb wohl zehn Billets, die er alle wieder zerriß, und schickte dann den Sattel ohne Antwort.

Schreiben, daß er kommen würde, konnte er nicht, weil er nicht kommen konnte; schreiben, daß er nicht kommen könnte, da er abgehalten sei oder verreisen müsse – das wäre noch schlimmer gewesen. –

Er sandte deshalb den Sattel ohne eine Antwort, allerdings im Bewußtsein, daß er damit etwas Beschämendes thue, überließ am andern Tage die ihm immer gleichgültiger werdende Ökonomie seinem Verwalter und fuhr nach einem fernergelegenen Kreis, zu einem Freunde Swijashskiy, welcher ausgezeichnete Entensümpfe besaß und ihm schon längst geschrieben hatte, endlich einmal sein Versprechen zu erfüllen und ihn zu besuchen. Die Jagdgründe im Surowskischen Kreise hatten Lewin schon lange am Herzen gelegen, aber wegen seiner landwirtschaftlichen Pflichten hatte er die Reise immer wieder aufgeschoben. Jetzt freute er sich, sowohl der Nachbarschaft der Schtscherbazkiy, als ganz besonders auch seiner Ökonomie einmal entgehen zu können, und zwar gerade der Jagd halber, die ihm in allem Leid stets der beste Trost gewesen war.

25.

Nach dem Surowskischen Kreis führte keine Eisenbahn, auch keine Poststraße und Lewin fuhr daher in seinem Tarantaß.

Auf der Hälfte des Weges hielt er an, um bei einem reichen Bauern zu füttern. Ein kahlköpfiger, aber noch rüstiger Alter mit breitem fuchsigem Bart, der an den Wangen grau war, öffnete das Thor, sich an den Seitenpfosten schmiegend, um die Troika hereinfahren zu lassen.

Er wies dem Kutscher einen Platz unter einem Vordach auf dem geräumigen, sauberen, in guter Ordnung befindlichen neuen Hofe an und bat dann Lewin in die Stube. Ein sauber gekleidetes junges Weib, Schuhe an den nackten Füßen, scheuerte soeben gebückt den Boden in der neuen Hausflur. Sie erschrak vor dem Hunde, der Lewin folgte und schrie auf, lachte aber sogleich über ihren Schrecken, als sie sah, daß der Hund ihr nicht zu nahe kam. Mit dem entblößten Arme Lewin die Thür zur Stube zeigend, barg sie, sich von neuem niederbeugend, das hübsche Gesicht und fuhr fort zu scheuern.

»Soll ich den Samowar bringen?«

»Ja, bitte.«

Das Zimmer selbst war geräumig; es besaß einen holländischen Ofen und eine Scheidewand. Unter den Heiligenbildern stand ein gemusterter Tisch, eine Bank nebst zwei Stühlen; am Eingang ein Schränkchen mit Geschirr. Die Fensterläden waren geschlossen, Fliegen kaum wahrnehmbar und alles erschien so reinlich, daß Lewin zu besorgen begann, Laska, der unterwegs gelaufen war, und sich in den Pfützen gebadet hatte, möchte den Boden mit den Pfoten besudeln, und dem Hunde einen Platz in der Ecke an der Thür anwies. Nachdem sich Lewin in dem Zimmer umgesehen hatte, ging er nach dem hinteren Hofe. Das junge Weib in den Schuhen lief, die leeren Eimer an dem Schulterjoch schaukeln lassend, vor ihm her, um Wasser am Brunnen zu holen.

»Bei mir geht es hurtig!« rief der Alte heiter, zu Lewin kommend. »Nicht wahr Herr, Ihr fahrt zu Nikolay Iwanowitsch Swijashskiy? Er kommt auch bisweilen zu mir,« begann er gesprächig sich auf das Geländer der Treppe stützend. Mitten in der Erzählung des Alten von seiner Bekanntschaft mit Swijashskiy kreischte das Thor und auf den Hof herein kamen Arbeiter vom Felde mit Pflugscharen und Eggen. Die Pferde, welche an die Pflüge und Eggen gespannt waren, erschienen wohlgefüttert und stattlich; die Knechte gehörten augenscheinlich zur Familie, es waren zwei junge Männer in Kattunhemden und Mützen; die beiden anderen waren Mietlinge und trugen Tuchhemden, der eine war schon bejahrt, der andere noch jung.

Die Freitreppe verlassend, begab sich der Alte zu den Pferden und machte sich daran sie auszuspannen.

»Was habt Ihr denn geackert?« frug Lewin.

»Kartoffeln gepflügt. Wir haben unser eigenes Land. Du Tjodot, laß den Wallach nicht los, bringe ihn an den Brunnen, wir wollen einen anderen einspannen.«

»Vater, ich habe angeordnet, die Pflugeisen zu nehmen; hast du welche mitgebracht?« frug der an Wuchs größere der beiden Burschen, augenscheinlich ein Sohn des Alten.

»Im Schlitten,« antwortete dieser, die im Kreis zusammengenommenen Zügel auf die Erde niederwerfend. »Du kannst sie anbringen, während zu Mittag gegessen wird.«

Das freundliche junge Weib ging mit den gefüllten, ihr die Schultern niederziehenden Eimern wieder in den Flur, noch einige Weiber, junge hübsche, mittleren Alters, und alte und häßliche, mit und ohne Kinder, erschienen jetzt.

Der Samowar sang lustig; das Gesinde und die Familienmitglieder, welche die Pferde eingestellt hatten, kamen zur Mittagsmahlzeit. Lewin holte aus dem Wagen seinen Mundvorrat und lud den Alten ein, mit ihm zusammen Thee zu trinken.

»Ach, wir haben ja heute schon getrunken,« erwiderte der Alte, augenscheinlich die Einladung mit Vergnügen aufnehmend, »aber zur Gesellschaft.«

Beim Thee erfuhr Lewin die ganze Geschichte der Ökonomie des Alten. Derselbe hatte vor zehn Jahren von seiner Gutsherrin hundertundzwanzig Desjatinen Land gepachtet, im vergangenen Jahre dasselbe erkauft und weitere dreihundert von einem benachbarten Gutsbesitzer gepachtet. Einen kleinen Teil des Landes, den schlechtesten, hatte er selbst wieder verpachtet, während er einige vierzig Desjatinen Feldes mit seiner Familie und zwei gemieteten Knechten selbst bebaute.

Der Alte klagte, daß die Geschäfte schlecht gingen, aber Lewin verstand, daß er sich nur nach dem üblichen Tone beschwerte, und seine Ökonomie in voller Blüte stand. Hätte sie schlecht gestanden, dann würde er nicht Ackerboden zu hundertundfünf Rubeln gekauft, nicht drei Söhnen und einem Neffen Frauen gegeben, sich nicht nach zwei überstandenen Feuersbrünsten immer besser und besser entwickelt haben.

Ungeachtet der Klage des Alten war es offenbar, daß er einen berechtigten Stolz auf seinen Wohlstand, auf seine Söhne, Neffen, seine Schwiegertöchter, Pferde und Kühe und besonders darauf hegte, daß dieses ganze Hauswesen so gut stand.

Aus dem Gespräch mit dem Alten erfuhr Lewin, daß auch dieser sich Neuerungen gegenüber nicht ablehnend verhielt. Er baute viel Kartoffeln und seine Kartoffeln, welche Lewin bei der Ankunft gesehen hatte, hatten schon abgeblüht, während die Lewins erst zu blühen begannen.

Er hatte die Kartoffeln mit »der Pflüge« gepflügt, wie er den Pflug nannte, den er beim Gutsbesitzer gekauft hatte und Weizen gesät. Die unbedeutende Kleinigkeit, daß der Alte, den Roggen jätend, mit dem Gejäteten die Pferde füttere, setzte Lewin ganz besonders in Erstaunen. Wie oft hatte er selbst, indem er sah, wie das schöne Krautfutter verkam, es aufsammeln lassen wollen, aber stets hatte es sich als unmöglich erwiesen. Dieser Bauer hier that es, und konnte das Futter nicht genug loben.

»Was sollten sonst die Weiber machen? Sie tragen die Haufen an den Weg und der Wagen fährt sie herein!«

»Bei uns Gutsbesitzern geht freilich alles schlecht, mit den Knechten,« sagte Lewin, dem Alten ein Glas Thee reichend.

»Danke,« sagte derselbe, nahm das Glas, wies aber den Zucker von sich, indem er auf ein liegengebliebenes von ihm angebissenes Stück zeigte. »Wie soll man mit den Arbeitern verfahren? Es kommt alles auf dieselbe Mißwirtschaft heraus. Da ist der Swijashskiy. Wir kennen sein Land; es ist ausgezeichnet – und doch brüstet er sich mit seiner Ernte nicht. Das kommt eben alles von der unrichtigen Behandlung.«

»Aber du wirtschaftest doch auch mit Gesinde?«

»Wir führen nur Bauernwirtschaft, und bekümmern uns um alles selbst. Ist ein Arbeiter schlecht, so wird er fortgejagt.«

»Batjuschka, Phinogen hat gesagt, ich soll Euch des Teers halber holen,« sagte die Frau, mit den Schuhen an den Füßen, welche wieder eintrat.

»So ist es Herr!« antwortete der Alte aufstehend, bekreuzte sich mehrmals und dankte Lewin, worauf er hinausging.

Als Lewin in die Gesindestube kam, um seinen Kutscher zu rufen, erblickte er die ganze Bauernfamilie bei Tische. Die Weiber bedienten im Stehen. Ein jüngerer, blühend aussehender Sohn, mit vollen Backen seinen Brei kauend, mochte soeben etwas Lustiges erzählt haben, denn alle lachten, und besonders lustig lachte das Weib in den Schuhen, indem es Schtschi in eine Tasse goß.

Mochte es sein, daß das freundliche Gesicht der Bäuerin in den Schuhen besonders viel zu jenem Eindruck der Behaglichkeit beitrug, den dieses Bauernheim auf Lewin machte, der Eindruck war jedenfalls ein so tiefer, daß sich dieser nicht von ihm loszumachen vermochte. Auf dem ganzen Wege von dem Alten aus bis zu Swijashskiy kam ihm immer wieder die Erinnerung an jenen Hausstand, gerade als ob etwas in demselben seine besondere Beachtung erforderte.

26.

Swijashskiy war Kreisrichter in seinem Kreis, fünf Jahre älter, als Lewin und schon lange verheiratet. In seinem Hause lebte eine junge Schwägerin, ein junges Mädchen, welches Lewin sehr sympathisch war. Dieser wußte, daß Swijashskiy und dessen Frau das junge Mädchen gar zu gern an ihn verheiratet hätten, er wußte es zweifellos sicher, wie dies gewöhnlich junge Männer wissen, die heiratsfähig genannt werden, obwohl sich noch niemand entschlossen hat, dies zu äußern. Er wußte aber auch, daß er sie, obwohl er heiraten wollte, und allem Anscheine nach das junge, sehr anziehende Mädchen eine vorzügliche Hausfrau werden mußte, ebensowenig ehelichen würde, – selbst, wenn er nicht in Kity Schtscherbazkaya verliebt gewesen wäre, – als man zum Himmel hinauffliegen kann. Diese Erkenntnis verbitterte ihm das Vergnügen, welches er von seinem Besuch bei Swijashskiy zu haben hoffte.

Als Lewin den Brief desselben mit der Einladung zur Jagd erhalten hatte, fiel ihm dies sogleich wieder ein, aber nichtsdestoweniger urteilte er so, daß alle Absichten Swijashskiys auf ihn doch wohl nur auf einer durch nichts begründeten eigenen Mutmaßung beruhten, und er also immerhin zu ihm fahren könne. Überdies jedoch empfand er auf dem Grund seiner Seele ein Gelüst, sich wiederum einmal zu prüfen, sich wieder an diesem jungen Mädchen zu erproben.

Das häusliche Leben der Swijashskiy war ein im höchsten Grade angenehmes; Swijashskiy selbst, der reinste Typus eines Landmanns, den Lewin nur kannte, war für diesen stets außerordentlich interessant.

Swijashskiy war einer von jenen Menschen, die für Lewin ewig wunderbar blieben, deren Urteil zwar sehr logisch, nie aber selbständig war und seinen eigenen Weg ging, während ihr Leben, außerordentlich bestimmt und fest in seiner Richtung, ebenfalls seinen eigenen Weg ging, vollständig unabhängig und fast stets im Widerspruch mit dem Denken.

Swijashskiy war ein außerordentlich liberaldenkender Mensch. Er blickte auf den Adel herab und hielt die Mehrheit desselben auch nur für geheime, von der Knechtschaft nicht lange erst losgekommene Leibeigene. Er hielt Rußland für ein verlorenes Reich nach Art der Türkei und die Regierung des Landes für so schlecht, daß er sich niemals dazu herbeiließ, ihre Maßnahmen auch nur ernst zu prüfen. Gleichzeitig aber diente er amtlich als ein mustergültiger adliger Beamter und setzte unterwegs stets die Mütze mit der Kokarde und dem roten Streif auf.

Er meinte, daß ein menschenwürdiges Dasein nur im Auslande möglich sei, wohin er auch bei jeder Gelegenheit die sich bot, reiste, betrieb aber nichtsdestoweniger in Rußland eine sehr umfangreiche und vervollkommnete Ökonomie. Mit außerordentlichem Interesse verfolgte er alles, und wußte alles, was in Rußland geschah. Den russischen Bauern hielt er für ein Wesen, welches in seiner Entwickelung auf dem Übergangsstadium vom Affen zum Menschen stand, nichtsdestoweniger aber drückte er bei den Kreiswahlen lieber als jedem anderen den Bauern die Hand und hörte ihre Meinungen an. Er glaubte weder an Tod noch an Leben, war aber dennoch sehr besorgt in der Frage der Verbesserung der Lage der Geistlichkeit, und der Verkürzung ihrer Einkünfte, wobei er namentlich die Kirche in seinem Dorfe im Auge hatte.

In der Frauenfrage stand er auf seiten derjenigen, welche die volle Freiheit des Weibes und insbesondere deren Recht auf die Arbeit vertraten, aber er lebte mit seiner Gattin so, daß jedermann ihr gemütvolles, kinderloses Familienleben lieb gewann; und er hatte das Leben seiner Frau so gestaltet, daß sie nichts weiter that, nichts thun konnte, als mit ihrem Manne gemeinsam die Sorge zu teilen, wie sie am besten und angenehmsten die Zeit zubrächten.

Hätte Lewin nicht die Eigenschaft besessen, sich die Menschen nach ihrer besten Seite zu erklären, so würde der Charakter Swijashskiys für ihn keine Schwierigkeiten und keine Fragen offen gelassen haben, er würde sich betreffs derselben einfach gesagt haben: »Er ist entweder ein Narr oder ein Lump« und alles wäre ihm klar gewesen.

Aber er vermochte ihn nicht einen Narren zu nennen, weil Swijashskiy ohne Zweifel nicht nur sehr klug, sondern auch sehr gebildet war und diese Bildung in einer ungewöhnlich natürlichen Weise zur Schau trug.

Es gab nichts, was er nicht kannte, aber er zeigte seine Kenntnis nur dann, wenn er dazu genötigt war. Noch weniger hätte Lewin sagen können, daß er ein Lump sei, weil Swijashskiy ohne Zweifel ein ehrenhafter, guter, verständiger Mann war, welcher heiter und lebenslustig beständig in der Ausübung eines Berufes stand, der von seiner gesamten Umgebung hoch geschätzt wurde, und weil er wahrscheinlich noch niemals bewußt etwas Schlechtes gethan hatte oder hätte thun können.

Lewin bemühte sich, ihn zu verstehen, ohne es dahin zu bringen, und immer wieder schaute er auf ihn und sein Leben, wie auf ein lebendes Rätsel.

Beide Gatten waren befreundet mit Lewin, und dieser hatte sich daher gestattet, Swijashskiy zu prüfen, seine Lebensanschauung bis auf den Grund zu erforschen, allein stets war sein Bemühen vergeblich gewesen. Stets wenn Lewin versuchte, tiefer in die entfernter liegenden Räume des geistigen Bereichs Swijashskiys einzudringen, bemerkte er, daß dieser in eine leichte Verwirrung geriet; ein kaum bemerkbarer Schrecken drückte sich in seinem Blicke aus, gleichsam als ob er fürchtete, Lewin möchte ihn fassen – und er führte in gutmütiger und launiger Weise einen Gegenschlag.

Jetzt, nach seiner Ernüchterung in Sachen der Landwirtschaft, war Lewin ein Besuch bei Swijashskiy ganz besonders willkommen. Nicht nur, daß ihn der Anblick dieses glücklichen, mit sich selbst und allen zufriedenen liebenden Taubenpaares, und ihres wohlgegründeten Nestes in freundlichere Stimmung versetzte, verlangte es ihn, der sich von seinem eigenen Dasein so unbefriedigt fühlte, jetzt auch in Swijashskiy jenes Geheimnis zu ergründen, welches diesem solche Klarheit, Bestimmtheit und Lebenslust verlieh.

Dann aber wußte Lewin auch, daß er bei Swijashskiy benachbarte Gutsbesitzer sehen würde, und es interessierte ihn nun ganz besonders, von der Landwirtschaft zu erfahren und die Gespräche über die Ernte, das Dingen der Feldarbeiter und dergleichen hören zu können, welche ihm, wenn er auch wußte, daß man dies in gewissem Sinne als simpel bezeichnete, jetzt am allerwichtigsten schienen.

»Dies war ja vielleicht nicht nötig unter der Herrschaft des Leibeigenschaftsgesetzes, ist meinetwegen nicht von Bedeutung für England. Für beide Fälle wären Grundgesetze vorhanden; aber jetzt, wo in Rußland alles sich umwälzte, und eben erst zur Ordnung kam, zeigte sich die Frage, wie man mit diesen Grundgesetzen nun auskommen solle, als die einzig wichtige hier,« dachte Lewin.

Die Jagd zeigte sich schlechter, als Lewin erwartet hatte. Die Sümpfe waren ausgetrocknet und Vögel waren gar nicht da. Er strich einen ganzen Tag im Walde und brachte nur drei Stück, dafür aber, wie gewöhnlich von der Jagd, eine ausgezeichnete Eßlust, gute Laune und jenen Zustand geistiger Frische mit, von welchem bei ihm jede starke körperliche Bewegung begleitet war.

Auf der Jagd, während er, wie es schien eigentlich an nichts dachte, fiel ihm gleichwohl jener Alte mit seiner Familie wieder ein, und der empfangene Eindruck forderte von ihm nicht nur Aufmerksamkeit, sondern vielmehr die Ausscheidung von etwas Unbestimmten, das damit verbunden war.

Am Abend beim Thee entwickelte sich in der Gegenwart zweier Gutsbesitzer, welche in Vormundschaftsgeschäften gekommen waren, das hochinteressante Gespräch, welches Lewin erwartet hatte.

Dieser saß neben der Hausfrau am Theetisch und mußte mit derselben und mit der jungen Schwägerin, welche ihm gegenüber saß, der Unterhaltung pflegen.

Die Hausfrau war ein Weib mit rundem Gesicht, blond und nicht groß; sie erglänzte förmlich mit ihrem Lächeln und ihren Grübchen. Lewin bemühte sich, durch sie die Lösung des ihm so wichtigen Rätsels zu erfahren, das ihr Gatte für ihn bildete; aber er hatte nicht die volle Freiheit seiner Gedanken, weil er sich in einer für ihn qualvoll peinlichen Situation befand. Qualvoll peinlich war sie ihm, weil ihm gegenüber die junge Schwägerin in einer eigens für ihn, wie ihm schien, angelegten Robe saß, mit einem eigenartigen, in Gestalt eines länglichen Vierecks angebrachten Ausschnitt auf der weißen Büste. Dieser viereckige Ausschnitt war es, der abgesehen davon, daß die Brust schneeweiß war – oder gerade eben deswegen, weil sie es war, – Lewin die Freiheit des Denkens raubte.

Er stellte sich vor – wahrscheinlich fälschlich – dieser Ausschnitt da könnte eigens für ihn gemacht sein und hielt sich nicht für berechtigt darauf zu blicken, bemühte sich vielmehr, ihn nicht zu sehen. Er fühlte aber, daß er schon damit sich etwas vorzuwerfen habe, daß der Ausschnitt überhaupt gemacht worden war.

Lewin schien, als täusche er jemand, als müsse er etwas erklären, aber als ginge diese Erklärung nicht gut an, und so kam es, daß er beständig errötete, in Unruhe war und sich in Verlegenheit befand. Seine Verlegenheit aber teilte sich auch der hübschen jungen Schwägerin mit. Die Hausfrau indessen schien das gar nicht zu bemerken, indem sie die Schwägerin absichtlich mit ins Gespräch zog.

»Ihr sagt,« fuhr die Hausfrau in der begonnenen Unterhaltung fort, »daß meinen Mann alles was russisch ist, nicht interessierte. Im Gegenteil, er befindet sich zwar recht wohl im Auslande, aber nirgends doch so, wie hier. Hier erst fühlt er sich ganz in seiner Sphäre. Er hat soviel zu thun und besitzt die Fähigkeit, sich für alles zu interessieren. Ach, wäret Ihr noch nicht in unserer Schule?«

»Ich habe sie gesehen. Das Haus ist von Epheu umrankt?«

»Das ist Nastasjas Werk,« antwortete die Hausfrau, auf ihre Schwester weisend.

»Unterrichtet Ihr selbst?« frug Lewin, sich bemühend, an dem viereckigen Ausschnitt vorbeizusehen, und dabei fühlend, daß er, wohin er in dieser Richtung auch blickte, den Ausschnitt sehen müsse.

»Ja, ich habe selbst unterrichtet und unterrichte noch, wir haben aber auch eine gute Lehrerin. Selbst das Turnen wird geübt.«

– »Danke; keinen Thee weiter,« – sagte Lewin, und fühlte, daß er damit eine Unhöflichkeit beding; nicht mehr imstande, die Unterhaltung noch weiterzuführen, erhob er sich errötend. »Ich höre da ein sehr anziehendes Gespräch,« fuhr er fort und trat an das andere Ende des Tisches, an welchem der Hausherr mit den beiden Gutsbesitzern saß.

Swijashskiy saß mit der Seite am Tische, mit der einen aufgestemmten Hand die Tasse führend, mit der anderen seinen Bart in die Hand nehmend, um ihn bis an die Nase zu heben und dann wieder herabzulassen, als ob er daran riechen wollte. Mit seinen blitzenden schwarzen Augen schaute er gerade den einen der Gutsbesitzer, ein Mann mit grauem Schnurrbart, an, welcher in Erregung geraten war, und fand augenscheinlich Belustigung an dessen Rede.

Der Gutsbesitzer beklagte sich über das Volk, und Lewin war es klar, daß Swijashskiy eine Antwort auf diese Klage wisse, die mit einem Schlag den Sinn der ganzen Rede illusorisch machte, daß er aber nur in seiner Situation diese Erwiderung, nicht äußern könne und nun nicht ohne Vergnügen den komischen Vortrag des Gutsbesitzers anhören müsse.

Dieser, der Mann im grauen Schnurrbart, war offenbar ein eingefleischter Vertreter der Leibeigenschaft; er war auf dem Dorfe alt geworden und ein leidenschaftlicher Dorfregent. Die Anzeichen hierfür erblickte Lewin schon an seinem Anzug, der nach alter Mode gearbeitet war, in dem abgeschabten Überrock in welchem er sich augenscheinlich nicht behaglich fühlte, und in seinen klugen, zusammengekniffenen Augen, in seiner glatten russischen Rede, in dem selbstbewußten, augenscheinlich durch lange Gewohnheit befehlerisch gewordenen Tone und den energischen Bewegungen seiner großen, geröteten und gebräunten Hände, an denen ein alter Trauring steckte.

27.

»Wenn es mir nur nicht leid thäte, das zu verlassen, was ich habe – es steckt zu viel Arbeit darin – verkaufen und dann fortreisen, wie Nikolay Iwanowitsch, um die ’schöne Helena‘ zu hören,« sagte der Gutsbesitzer mit einem Lächeln, welches sein kluges greises Gesicht angenehm erhellte.

»Aber Ihr laßt es ja doch nicht im Stich,« antwortete Swijashkiy, müßt also doch wohl wissen, warum!«

»Meine Absicht ist nur die, zu Hause wohnen zu bleiben, ohne etwas kaufen oder pachten zu lassen! Da hofft man immer, daß das Volk zur Erkenntnis kommen soll. Aber glaubt mir – es ist in ihm nur eitel Trunksucht und Ausschweifung. Alles ist dahin, kein Bauer hat mehr ein Pferd oder eine Kuh! Alles verhungert und gleichwohl – dingt Ihr Euch Knechte, so bringen sie Euch Schaden und obenein kriegt man es noch mit dem Friedensrichter zu thun!«

»Und dafür beklagt Ihr Euch auch noch über den Friedensrichter?« frug Swijashskiy.

»Ich mich beklagen? Um keinen Preis der Welt! Es gehen ja wohl Gerüchte um, daß er einen Tadel nicht eben gern sieht. So zum Beispiel in meiner Brennerei! Da nahmen Leute Handgeld, und ich soll sie heute noch wiederkommen sehen! Was thät nun der Friedensrichter? Er rechtfertigte sie. Er hält sich nur an das Kreisgericht und den Ältesten, und das Kreisgericht spricht ihn nach altem Herkommen von einer Verantwortung frei. Wäre es aber auch nicht so – nun, dann gäbe ich dennoch am Liebsten alles auf und ginge bis ans Ende der Welt.«

Der Gutsbesitzer wollte offenbar Swijashskiy necken, dieser aber geriet nicht nur nicht in Erregung, sondern schien vielmehr sein Ergötzen daran zu haben.

»Wir führen unsere Wirtschaft ohne diese Maßnahmen, ich, Lewin und der Herr da,« antwortete er dann lächelnd, auf den anderen Gutsbesitzer weisend.

»Ja, bei Michail Petrowitsch geht es schon, aber fragt nur, wie! Ist denn das ein rationelles Wirtschaften?« sagte der Gutsbesitzer, sichtlich mit dem Ausdruck »rationell« kokettierend.

»Meine Wirtschaft ist einfach,« sagte Michail Petrowitsch, »Gott sei Dank. Meine Wirtschaft bemüht sich nur, daß zu den Steuern im Herbste das Geld daliegt. Kommen ja Bauern und sagen: Batjuschka, Vater, gieb uns Frist zur Zahlung! Nun die Bauern sind dann auch meine Nebenmenschen, und sie jammern einen. Ich lasse ihnen das erste Drittel nach und sage, ›Kinder, denkt daran, ich habe Euch geholfen, nun helft auch mir, wenn ich Euch brauche.‹ Da kommt nun der Haferschnitt, die Heuernte, die Kornernte und man macht aus, wie viel sie nach ihrer Zinsschuld dabei zu arbeiten haben. Aber freilich giebt es auch Gewissenlose unter ihnen.«

Lewin, der diese patriarchalischen Gepflogenheiten längst kannte, wechselte mit Swijashskiy einen Blick und fiel Michail Petrowitsch ins Wort, indem er sich wiederum an den Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart wandte.

»Aber wie glaubt Ihr denn,« frug er, »daß eine Ökonomie jetzt bewirtschaftet werden müsse?«

»Sie muß so geführt werden, wie es Michail Petrowitsch thut; entweder um die Hälfte losschlagen oder den Bauern leihen, das ginge eben noch – aber freilich wird dadurch der allgemeine Wohlstand des Adels vernichtet. Während mein Land unter der Arbeit der Leibeigenen und durch gute Wirtschaft das Neunfache trug, bringt es jetzt nur das Dreifache. Die Emancipation hat Rußland zu Grunde gerichtet!«

Swijashskiy blickte mit lachenden Augen auf Lewin, er machte diesem sogar ein kaum merkliches Zeichen des Spottes; aber Lewin fand diese Worte des Gutsbesitzers nicht lächerlich; er verstand sie besser, als er Swijashskiy begriff. Vieles von dem, was der Gutsbesitzer noch weiter sprach, in der Darlegung, weshalb Rußland durch die Emancipation der Bauern ruiniert sei, erschien ihm sogar sehr wahr, und ihm selbst neu und unwiderleglich.

Der Gutsbesitzer sprach augenscheinlich nur seinen eigenen Gedanken aus – was ja so selten vorkommt – und es war ein Gedanke, auf den er nicht in dem Wunsche, sein müßiges Hirn zu beschäftigen geführt worden war, sondern ein solcher, der ihm aus den Verhältnissen seines Lebens, das er in ländlicher Einsamkeit hingebracht hatte, erwachsen und nach allen Seiten hin überdacht worden war.

»Es handelt sich, wenn Ihr gefälligst Einsicht nehmen wollt, darum, daß jeglicher Fortschritt sich nur durch die Gewalt vollzieht,« sagte er, offenbar im Wunsche zu zeigen, daß er Bildung besitze. »Nehmt die Reformen eines Peter, einer Katharina, Aleksanders; nehmt die Geschichte Europas her! Hier ist der Fortschritt im Bauernstande nur um so bedeutender! Um allein von der Kartoffel zu reden – selbst die hat mit Gewalt bei uns eingeführt werden müssen! Hat man doch selbst mit dem Pfluge auch nicht immer gepflügt! Man hat ihn auch erst eingeführt, vielleicht zur Zeit der Lehnfürstentümer, aber jedenfalls mit Gewalt! Einst, zu unserer Zeit, haben wir Grundbesitzer unter dem Leibeigenschaftsgesetz unsere Wirtschaft mit Vervollkommnungen geführt, mit allen möglichen Gerätschaften, aber alles das hatten wir durch unsere Kraft eingebürgert, die Bauern waren anfangs dagegen, dann erst begannen sie, uns nachzuahmen! Jetzt, nachdem das Leibeigenschaftsgesetz beseitigt ist, hat man uns diese Macht benommen, und unsere Wirtschaft, die auf einen hohen Standpunkt gehoben worden war, muß wieder bis auf das wildeste Urzeitverhältnis zurücksinken. So fasse ich es auf!«

»Wozu so. Wenn es rationell ist, so könnt Ihr doch durch Verpachten weiter wirtschaften,« bemerkte Swijashskiy.

»Wir haben ja keine Macht mehr dazu. Mit wem sollen wir denn arbeiten, bitte ich Euch?«

»Nun, wir haben ja die Arbeitskraft – das hauptsächlichste Element der Ökonomie,« dachte Lewin.

»Mit Arbeitern.«

»Die Arbeiter wollen nicht gut arbeiten, oder mit guten Gerätschaften hantieren. Unser Arbeiter versteht nur eines – sich zu berauschen wie das liebe Vieh, und im Rausche alles zu ruinieren, was man ihm in die Hände giebt. Die Pferde vergiftet er, das gute Zaumzeug zerreißt er, die Maschinen macht er defekt. Er ärgert sich über alles, was nicht nach seinem Kopfe ist. Daher kommt es, daß der ganze Stand der Landwirtschaft zurückgegangen ist. Das Land liegt öde, ist mit Unkraut überwuchert oder unter die Bauern verteilt, und dort, wo man Millionen von Tschetwert produziert hat, produziert man heute nur noch nach hunderttausenden. Der allgemeine Wohlstand ist vermindert. Hätte man mit Überlegung das gethan, daß« –

Er begann nun seinen Plan der Befreiung zu entwickeln, nach welchem alle diese Übelstände vermieden werden könnten.

Lewin interessierte dies nicht, als jener indessen geendet hatte, kam er auf seinen ersten Standpunkt zurück und sagte zu Swijashskiy gewendet und sich bemühend, diesen zur Äußerung seiner eigentlichen Meinung zu veranlassen:

»Daß der Stand der Landwirtschaft zurückgegangen ist, und daß bei unseren Beziehungen zu den Arbeitern keine Möglichkeit, erfolgreich eine rationelle Ökonomie zu betreiben vorhanden ist – ist vollständig richtig,« sprach er.

»Das finde ich nicht,« erwiderte Swijashskiy ziemlich ernst, »ich sehe nur das Eine, daß wir die Ökonomie nicht zu treiben verstehen, und daß, im Gegenteil, die Landwirtschaft, die wir unter dem Leibeigenschaftsgesetz betrieben haben, nicht gerade zu hoch entwickelt war, sondern vielmehr zu niedrig stand. Wir hatten da keine Maschinen, kein gutes Arbeitsvieh, keine eigentliche Methode und verstehen nicht zu rechnen. Fragt einmal den Landbesitzer; er wird nicht wissen, was für ihn von Vorteil oder Nachteil ist!«

»Nun, die italienische Buchführung,« sagte der eine Gutsbesitzer sarkastisch. »Da giebt es keinen Gewinn, soviel man auch rechnen mag, denn man verdirbt ja alles!«

»Warum alles verderben? Wenn man Euch Eure alten russischen Geräte zerbricht, so kann man meine neuen Dampfmaschinen nicht zerbrechen. Euer Rennpferd von toskanischem Blut, das kann man Euch wohl verderben, aber führt nur ehrliche kräftige Landpferde ein, die werden sie Euch nicht zu Schanden richten. So ist es mit allem! Ihr wollt die Ökonomie eben höher bringen, als notwendig ist.«

»Das ließe sich ja hören, Nikolay Iwanowitsch; Ihr habt gut reden, aber wenn ich nun einen Sohn auf der Universität zu erhalten habe, kleinere Kinder auf dem Gymnasium erziehen lasse – da kann ich doch keine Rassepferde kaufen.«

»Nun, da giebt es ja doch Banken.«

»Um auch das Letzte unter den Hammer kommen zu lassen? Nein, ich danke.«

»Ich kann nicht zugeben, daß es nötig oder möglich wäre, den Stand der Ökonomie noch mehr zu erhöhen,« ergriff Lewin das Wort. »Ich beschäftige mich damit, und habe die Mittel dazu, aber ich habe nichts auszurichten vermocht, und die Banken, – ich weiß nicht, wozu die nützen sollen. Ich wenigstens habe – wofür ich auch immer Geld in der Ökonomie verausgabte – nur mit Mißerfolg gearbeitet; bezüglich des Viehs mit Mißerfolg, wie bezüglich der Maschinen.«

»Das ist ganz richtig,« bestätigte der Gutsherr im grauen Bart, voll Genugthuung lächelnd.

»Ich stehe hierin auch nicht allein,« fuhr Lewin fort, »sondern befinde mich dabei im Einklang mit allen Gutsbesitzern, die rationell wirtschaften; alle diese, mit wenigen Ausnahmen, arbeiten mit Verlusten. Nun, Ihr aber sagt uns jetzt, was Eure Ökonomie macht. Ist sie gewinnbringend?« frug Lewin und bemerkte im selben Moment, im Blicke Swijashskiys wieder jenen huschenden Ausdruck des Erschreckens, den er schon gewahrt hatte, als er tiefer in die verborgenen Falten des Geistes von Swijashskiy einzudringen gewünscht hatte.

Die Frage war von seiten Lewins nicht völlig mit gutem Gewissen gestellt worden. Die Hausfrau hatte ihm soeben beim Thee erzählt, daß man jetzt im Sommer einen Deutschen von Moskau eingeladen hatte, welcher Kenner der Buchführung war und für den Preis von fünfhundert Rubel ihnen die Wirtschaftsführung revidierte; derselbe hatte gefunden, daß die Ökonomie mit dreitausend und einigen Rubeln Verlust arbeite. Sie wußte es nicht ganz genau, aber der Deutsche schien die Sache bis zur Viertelkopeke ausgerechnet zu haben.

Der eine Gutsherr hatte bei der Erwähnung des Nutzertrags in der Wirtschaft Swijashskiys gelächelt, offenbar weil er wußte, wie hoch sich der Gewinn seines Nachbars und Kreisoberhauptes belaufen könne.

»Möglich schon, daß sie nicht ergiebig ist,« versetzte Swijashskiy. »Dies beweist aber nur, daß ich entweder ein schlechter Ökonom bin, oder mein Kapital zur Erhöhung meiner Rente aufwende.«

»Ach, die Rente,« rief Lewin voll Schrecken. »Es mag eine Rente in Europa geben, wo das Land infolge der auf dasselbe verwendeten Arbeit besser geworden ist, bei uns aber wird alles Land von der darauf verwendeten Arbeit nur noch schlechter, das heißt, man entkräftet es und es erzielt daher keine Rente.«

»Inwiefern nicht? Haben doch ein Gesetz dafür?«

»Dann stehen wir außerhalb dieses Gesetzes. Eine Rente schafft für uns keine Abklärung, sondern nur noch mehr Verwirrung. Aber sagt uns doch dann wenigstens, wie die Theorie der Rentenwirtschaft vielleicht« –

»Wünscht Ihr Molken? Mascha, bringe uns doch Molken oder Himbeeren hierher,« wandte sich Swijashskiy plötzlich an seine Frau. »Die Himbeere steht heuer außerordentlich lange.«

In heiterster Laune erhob sich Swijashskiy und schritt selbst hinaus, offenbar in der Annahme, daß das Gespräch abgebrochen sei, und zwar gerade hier, wo es Lewin erst beginnen zu wollen schien.

Da letzterer somit seines Gegenübers verlustig gegangen war, führte er die Unterhaltung mit dem Gutsherrn fort, indem er sich bemühte, diesem zu beweisen, die gesamte Schwierigkeit erwachse daraus, daß man nicht die Eigenschaften und Gepflogenheiten der Arbeitenden erkennen wolle: der Gutsbesitzer war indessen, wie fast alle selbständig und unabhängig denkenden Menschen, schwer empfänglich für die Annahme einer fremden Meinung, und blieb seiner eigenen mit leidenschaftlicher Überzeugung getreu.

Er verblieb beharrlich dabei, daß der russische Bauer ein Vieh sei und das Viehische liebte, daß, um ihn dieser traurigen Lage zu entreißen, Gewalt nötig sei, und, wenn diese nicht, der Stock, während die Welt gleichwohl so liberal geworden sei, daß man die tausendjährige Rute plötzlich mit Advokaten und Haftstrafen vertauscht habe, bei denen man die unnützen stinkenden Bauern noch mit guter Suppe füttere und ihnen die Luft nach Kubikfuß berechne.

»Weshalb glaubt Ihr,« fuhr Lewin fort, sich bemühend, auf seine Frage zu kommen, »daß es unmöglich sei, eine Beziehung zur Arbeitskraft zu finden, mit deren Hilfe die Arbeit nutzbringend würde?«

»Dies wird beim russischen Volke niemals der Fall sein. Es giebt keine Autorität mehr!« versetzte der Gutsherr.

»Aber dann können doch neue Bedingungen gefunden werden?« sagte jetzt Swijashskiy, der Molken gegessen hatte und eine Cigarette rauchend, soeben zu den Disputierenden zurückkehrte. »Sämtliche mögliche Beziehungen zur Arbeitskraft sind schon bestimmt und geprüft worden,« sagte er, »der Rest von alter Barbarei bricht von selbst in sich zusammen, die Leibeigenschaft ist aufgehoben, und so bleibt denn nur die freie Arbeit noch, deren Formen bestimmt und fertig sind, so daß sie nur angenommen zu werden brauchen. Arbeiter, Tagelöhner und Pächter – aus dem werdet Ihr nicht herauskommen.«

»Aber Europa ist unzufrieden mit diesen Formen.«

»Es ist unzufrieden und sucht neue, und es wird solche wahrscheinlich auch finden.«

»Ich spreche nur davon,« bemerkte Lewin, »weshalb wir dieselben nicht unsererseits suchen können?«

»Weil dies ebenso wäre, als wenn wir aufs neue Methoden für den Bau von Eisenbahnen erfinden wollten. Sie sind eben schon fertig und ausgedacht.«

»Und wie, wenn sie uns nicht anstünden, wenn sie unbeholfen wären?« Er bemerkte wiederum jenen Ausdruck des Erschreckens in den Augen Swijashskiys.

»Ja, dieses bekannte ›wir könnten es schon gefunden haben, was Europa noch sucht!‹ Ich kenne es schon, doch entschuldigt, kennt Ihr denn alles, was in Europa bezüglich der Arbeiterfrage gethan worden ist?«

»Nein, nur wenig.«

»Diese Frage beschäftigt jetzt die ersten Geister Europas. Es ist die Richtung Schultze-Delitzschs. Dann haben wir die ganze ungeheure Litteratur der Arbeiterfrage, der liberalsten Richtung Lassalles; Mühlhausens Projekt ist bereits eine Thatsache, kennt Ihr es schon?«

»Einen Begriff habe ich davon, doch nur einen dunkeln.«

»O, Ihr wollt doch nur sagen, daß Ihr alles das nicht weniger genau kennt, wie ich. Allerdings bin ich nicht Professor der Nationalökonomie, aber der Gegenstand hat mich interessiert, und wahrhaftig, falls er Euch interessieren sollte – beschäftigt Euch nur damit!«

»Und wohin sind jene Männer gelangt?« –

– »Entschuldigung!« –

Die Gutsbesitzer hatten sich zum Aufbruch erhoben und Swijashskiy, Lewin wiederum mit dessen unangenehmer Gewohnheit zu erkunden, was sich in den verstecktesten Winkeln seines Geisteslebens verberge, sitzen lassend, ging, um seine Gäste hinauszubegleiten.

 

28.

Es war Lewin an diesem Abend unerträglich langweilig geworden in der Gesellschaft der Damen. Wie nie zuvor, regte ihn der Gedanke auf, daß jene Unzufriedenheit mit der Ökonomie, die er jetzt empfand, nicht ausschließlich ihn in seiner Lage beherrsche, sondern einer allgemeinen Situation entspringe, in welcher sich Rußland befinde, daß die Schaffung einer gewissen Bestimmung für die Arbeiter nicht mehr eine Idee bleibe, sondern eine Aufgabe werde, welche unbedingt zu lösen sei. Ihm schien es, daß man diese Aufgabe lösen könne und versuchen müsse, dies zu thun.

Nachdem er sich von den Damen verabschiedet, und versprochen hatte, noch den nächsten ganzen Tag dazubleiben, in der Absicht, nach dem Walde zu reiten, um hierselbst einen interessanten Wildbruch anzusehen, begab sich Lewin noch vor dem Schlafengehen in das Kabinett des Hausherrn, um sich Bücher über die Arbeiterfrage zu holen, die ihm Swijashskiy empfohlen hatte.

Das Kabinett Swijashskiys war ein sehr geräumiges Gemach, mit Bücherschränken besetzt, in welchem sich zwei Tische befanden. Der eine, ein massiver Schreibtisch, stand in der Mitte; der andere, von runder Form, war ringsum um die auf ihm stehende Lampe mit den neuesten Nummern von Zeitungen und Journalen in verschiedenen fremden Sprachen bedeckt. Auf dem Schreibtisch befand sich ein Regal mit Kästen, welche durch goldige Schilder für Kategorien verschiedener Art ausgezeichnet waren.

Swijashskiy langte die Bücher herunter und setzte sich in seinen Rollsessel.

»Wonach seht Ihr?« frug er Lewin, der vor dem runden Tische stehen geblieben, die Journale musterte. »Ach ja, dort ist ein sehr interessanter Aufsatz,« fügte Swijashskiy, betreffs eines Journals, welches Lewin in Händen hielt, hinzu. »Es wird darin gezeigt,« fuhr er mit freundlicher Lebhaftigkeit fort, »daß der hauptsächlichste Urheber der Trennung Polens durchaus nicht Friedrich gewesen ist. Es wird gezeigt« – mit der ihm eigenen Klarheit entwickelte er nun in Kürze diese neuen, sehr wichtigen und interessanten Enthüllungen.

Ungeachtet dessen, daß Lewin jetzt vor allem doch nur der Gedanke an seine Landwirtschaft beschäftigte, frug er sich doch, während er dem Hausherrn zuhörte, »was lebt nur in diesem Manne? Warum, warum ist ihm die Teilung Polens interessant?«

Nachdem Swijashskiy geendet hatte, frug Lewin unwillkürlich: »Und was ergiebt sich hieraus?« Aber es ergab sich nichts. Es war eben einfach interessant, was in dem Artikel »gezeigt« worden war. Swijashskiy erklärte nichts und fand es auch nicht für notwendig zu erklären, warum ihm die Abhandlung interessant war.

»Mich hat übrigens jener heißspornige Gutsbesitzer, sehr interessiert,« sagte Lewin hierauf seufzend, »er ist klug und sagte viel Wahres.«

»Ach geht doch! Ein eingefleischter geheimer Anhänger der Leibeigenschaft, wie sie es alle noch sind!« erwiderte Swijashskiy.

»Alle, deren Oberhaupt Ihr seid!«

»Ja; aber nur, daß ich sie nach der anderen Seite hinüberzuleiten suche,« sagte Swijashskiy und lachte.

»Mich hat dies Eine sehr interessiert,« fuhr Lewin fort; »daß er damit recht hat, daß unser Werk, das heißt das der rationellen Ökonomie, nicht gedeiht, während allein das Geschäft der Halsabschneider blüht. Wer ist daran schuld?«

»Natürlich wir selbst, und demgemäß ist es nicht richtig, daß unser Werk nicht gediehe. Wasiltschikoff kommt vorwärts« –

»Mit seiner Fabrik« –

»Ich weiß indessen gar nicht, was Euch in Verwunderung setzt. Das Volk befindet sich auf einem so niederen Grad materieller und moralischer Entwickelung, daß es offenbar gegen alles anstreben muß, was ihm fremdartig erscheint. In Europa gedeiht die rationelle Ökonomie deshalb, weil das Volk gebildet ist; wir müßten also vielleicht auch erst das Volk bilden – das ist das ganze Geheimnis.« –

»Aber wie sollen wir das Volk bilden?«

»Dazu sind drei Dinge erforderlich: Schulen, wieder Schulen, und nochmals Schulen.«

»Aber Ihr selbst habt doch gesagt, daß das Volk auf einer niederen Stufe der materiellen Entwickelung steht; inwiefern sollen da die Schulen helfen?«

»Wißt, Ihr erinnert mich an jene Anekdote von dem Rat der einem Kranken erteilt wurde. Dem war ein Purgativ verschrieben worden – man gab es ihm – es wird schlimmer; man versucht Blutegel – es wird schlimmer; er soll zu Gott beten – es wird schlimmer. So geht es uns beiden! Ich verordne Staatsökonomie. Ihr sagt, da wird es nur schlimmer; ich verordne Socialismus – da wird es auch schlimmer: Bildung – da auch!« –

»Wodurch sollten uns die Schulen helfen?«

»Sie werden dem Volke andere Ansprüche verleihen.«

»Dies ist es, was ich eben nie verstanden habe,« rief Lewin eifrig, »wie sollen die Schulen dem Volke beistehen können, seine materielle Lage zu verbessern. Ihr sagt, die Schule, die Bildung erweckt in dem Volke neue Bedürfnisse. Um so schlimmer wäre doch das, da das Volk alsdann nicht in der Lage sein wird, diese zu befriedigen! In welcher Beziehung könnten denn die Kenntnisse im Rechnen, Lesen, und in der Bibelkunde zur Verbesserung seiner materiellen Lage beitragen? Das habe ich mir nie begreiflich machen können. Vorgestern Abend begegnete ich einem Weibe mit einem Säugling an der Brust. Ich frug es, wohin es ginge. Das Weib antwortete: »Ich war bei der Hebamme; dem Kleinen ist es so auf die Brust gefallen, da habe ich ihn mit hingenommen, daß sie ihn heile.« Ich frug, ,wie heilt ihn denn die Hebamme?« – »Nun, sie setzt das Kind zu den Hühnern auf die Stange und spricht etwas dazu.«

»Nun, da sagt Ihr es ja selbst. Eben damit sie das Kind nicht mehr zur Heilung auf die Hühnersteige trage, ist es nötig, daß« – lächelte heiter Swijashskiy.

»O nein!« antwortete Lewin ärgerlich, »diese Heilung sollte nur ähnlich erscheinen mit der Heilung des Volkes durch die Schulen. Das Volk ist arm und ungebildet; das sehen wir so klar, wie die Bäuerin die Krankheit ihres Kindes sah, da das Kind schrie. Wie nun dieser Armut und Unbildung Schulen abhelfen sollen, das ist mir so unbegreiflich, wie ich nicht verstehen kann, auf welche Weise die Hühner auf der Steige das Kind heilen könnten. Es ist nötig, in dem Abhilfe zu schaffen, wodurch das Volk wirklich elend ist!«

»Nun, da stimmt Ihr wenigstens mit Spencer überein, den Ihr so wenig liebt. Der sagt auch, die Bildung könne nur eine Folge großen Wohlstandes und großer Bequemlichkeit im Leben sein – häufiger Waschungen – wie er sagt, nicht aber eine Folge des Schreiben- und Lesenkönnens.«

»So, so; nun, da bin ich sehr froh, oder vielmehr im Gegenteil, gar nicht froh, daß ich hierin mit Spencer übereinstimme; aber das weiß ich ja schon lange. Die Schulen werden uns nicht helfen, wohl aber wird dies eine ökonomische Verfassung, bei welcher das Volk wohlhabender wird, mehr Muße hat – dann können auch Schulen existieren.«

»Gleichwohl sind doch die Schulen in ganz Europa obligatorisch.«

»Ihr befindet Euch darin doch in Übereinstimmung mit Spencer?« frug Lewin.

In den Blicken Swijashskiys erschien wieder jener Ausdruck des Erschreckens, als er lächelnd erwiderte:

»Nein, diese Geschichte mit dem Bauernweib ist vorzüglich! Solltet Ihr sie nicht schon gehört haben?«

Lewin sah ein, daß er auf diese Weise ebenfalls nicht den Zusammenhang des Lebens dieses Mannes mit seinen Ideen werde finden können. Es war ihm selbst ganz gleichgültig, wohin ihn seine Anschauungen führten; ihm selbst handelte es sich nur um eine Spekulation, und es war ihm unangenehm, daß ihn diese Spekulation in eine Sackgasse führte. Dies konnte er nicht vertragen und er entzog sich dem, indem er das Gespräch auf etwas Anderes, Angenehmes, Heiteres hinüberleitete.

Alle Eindrücke dieses Tages hatten Lewin stark erregt. Dieser freundliche Swijashskiy, der seine Gedanken nur im Interesse der gesellschaftlichen Anstandspflicht für sich behielt, und offenbar noch ganz andere, Lewin unbekannte Grundsätze des Lebens beobachtete – er, der mit einem Haufen, dessen Name Legion war, die allgemeine Meinung vermittelst ihm persönlich doch fremder Ideen leitete; dann dieser heißblütige Gutsherr, der völlig auf dem rechten Wege war mit seinen Urteilen, die ihm durch das Leben selbst abgedrungen worden waren, aber im Unrechte mit seinem Zorn gegen eine ganze Volksklasse – noch dazu die beste – Rußlands; endlich seine eigene Unzufriedenheit mit seiner Wirksamkeit und die dunkle Hoffnung, doch noch eine Besserung für alles das finden zu können, alles das vereinigte sich in ihm zu einem Gefühle innerer Unruhe und der Erwartung einer nahen Entscheidung.

Als er sich in dem ihm zugewiesenen Zimmer allein befand, konnte er, auf der Sprungfedermatratze liegend, die ihm unverhofft, sobald er eine Bewegung machte die Hände oder Füße emporschnellte, lange den Schlaf nicht finden. Kein Gespräch mit Swijashskiy hatte Lewin, so viel des Geistreichen wohl auch gesprochen sein mochte, interessiert, Wohl aber forderten die Darlegungen des Gutsbesitzers nähere Überlegung. Er vergegenwärtigte sich nochmals unwillkürlich alle seine Worte und berichtigte in seiner Vorstellungskraft alles das, was er jenem geantwortet hatte.

»Ja, ich hätte ihm sagen müssen: Ihr sprecht, unsere Landwirtschaft komme nicht vorwärts, weil der Bauer alle Vervollkommnungen hasse, und man sie mit Gewalt dazu treiben müsse; wenn die Landwirtschaft ohne diese Vervollkommnung nicht denkbar wäre, hättet Ihr recht, aber sie kommt dennoch nur dort vorwärts, wo der Arbeiter im Einklang mit seinen Gepflogenheiten thätig ist. Eure und meine Unzufriedenheit mit der Ökonomie beweist, daß wir, oder die Arbeiter die Schuld tragen. Wir haben uns schon lange nach unserer Weise, nach europäischer Mode eingerichtet, ohne nach den Eigenschaften der Arbeitskraft zu fragen. Versuchen wir es doch einmal, die Kraft des Arbeiters nicht als idealen Begriff Arbeitskraft anzuerkennen, sondern vielmehr als den russischen Bauern mit seinen Instinkten, und richten wir unsere Ökonomie demgemäß ein! Stellt Euch vor, hätte ich ihm sagen müssen, daß Eure Ökonomie so geführt wurde, daß Ihr das Mittel fändet, Eure Arbeiter für den Erfolg ihrer Thätigkeit zu interessieren und Ihr hättet das Durchschnittsmaß in der Vervollkommnung gefunden, welches jene anerkennen, und erzieltet, ohne den Boden auszumergeln, das Doppelte oder Dreifache gegen früher. Ihr teiltet das Land nun in Hälften, und gebt die eine Hälfte der Arbeitskraft, so wird der Überschuß der Euch verbliebe, immer noch größer sein und die Arbeitskraft erhielte auch mehr. Um dies aber auszuführen, ist es nötig, die Lage der Ökonomie beiseite zu lassen und die Arbeiter mit Interesse für den Ertrag derselben zu erfüllen. Wie ist das nun auszuführen? Diese Frage will bis in die Einzelheiten beleuchtet sein, aber es ist unzweifelhaft, daß sie lösbar ist.«

Der Gedanke versetzte Lewin in starke Erregung. Er konnte die halbe Nacht nicht schlafen und überlegte sich die Einzelheiten in der Ausführung der Idee.

Er wollte nun nicht erst am nächsten Tage abreisen, sondern entschloß sich jetzt, gleich am Morgen früh nach Hause zurückzukehren.

Überdies hatte jene junge Schwägerin mit dem viereckigen Ausschnitt vorn im Kleid in ihm ein Gefühl erregt, welches dem der Scham und der Reue über eine begangene Dummheit sehr ähnlich war. Die Hauptsache war jetzt, daß er heimfahren müsse, ohne unterwegs auszuspannen; er mußte den Bauern sein neues Projekt vorlegen, bevor noch die Wintersaat in die Erde kam, damit er diese schon nach den neuen Grundsätzen ernten könne. Er hatte beschlossen, seine gesamte bisherige Landwirtschaftsmethode umzuändern.

9.

Um vier Uhr verließ Lewin, das Pochen seines Herzens fühlend, den Wagen vor dem Zoologischen Garten und begab sich auf einem Nebensteig zum Berg, und der Schlittenbahn hinauf, in der sicheren Erwartung, K:ty dort zu finden, da er den Wagen der Schtscherbazkiy schon vor der Auffahrt bemerkt hatte.

Es war ein klarer, frostiger Tag. Vor der Auffahrt standen reihenweise die Equipagen, Schlitten und Landauer. Geputztes Volk, schimmernd im Glänze der Sonne in seinen Hüten, drängte sich vor dem Eingang und in den sauber gepflegten Wegen zwischen den kleinen russischen Häusern mit den geschnitzten Architraven; die alten, knorrigen Birken des Gartens, deren Geäst mit Schnee belastet war, schienen gleichsam in neue Feiertagskleider gehüllt zu stehen.

Lewin begab sich auf dem Wege hin nach der Schlittenbahn; er sprach dabei sich selbst zu, er dürfe nicht in Aufregung geraten und müsse Ruhe bewahren. Was sollte diese Aufregung? Um was handelte es sich doch? Thorheit, die Unruhe mußte verstummen! So wandte er sich an sein Herz. Aber je mehr er sich bemühte sich zu beherrschen, desto mehr Schwierigkeit verursachte es ihm, zu atmen.

Ein Bekannter begegnete ihm und rief ihn an, aber Lewin erkannte gar nicht, wer es sei. Er ging zu den Bergen hin, auf welchen die Ketten der losgelassenen und heraufgezogenen kleinen Schlitten kreischten; Lachen und heitere Stimmen ertönten auf den hinabgleitenden kleinen Schlitten. Er trat noch näher hinzu, vor ihm lag die Eisbahn und inmitten der Masse der auf ihr sich Tummelnden erkannte er sogleich – sie.

Er erkannte, daß sie da war, an der Freude und dem Schrecken der sein Herz ergriff. Sie stand im Gespräch mit einer Dame am entgegensetzten Ende der Eisbahn. Ihr Äußeres in der Garderobe zeigte nichts besonderes, auch ihre Haltung nicht, aber Lewin war es so leicht gewesen, sie allein inmitten dieses Haufens zu entdecken, als wäre sie eine Rose unter Nesseln. Alles wurde von ihr erhellt, sie war nur ein Lächeln, das seine gesamte Umgebung bestrahlte.

»Kann ich denn hinübergehen über das Eis, zu ihr hintreten?« überlegte er. Der Platz, auf dem sie stand, erschien ihm als ein unzugängliches Heiligtum und eine Minute lang blieb er wie eingewurzelt stehen; so beängstigend überkam es ihn. Es kostete ihn alle Anstrengung, sich klar zu machen, daß rings um sie herum Menschen aller Art sich bewegten, und daß er recht gut auch hingehen könne, um mit denselben zu rollen.

Er ging hinab, es lange vermeidend, einen Blick nach ihr zu richten, – wie man die Sonne meidet – aber er schaute sie doch gleich der Sonne, wollte er sie auch nicht sehen.

Auf dem Eise hatten sich an diesem Tage der Woche und um die gegenwärtige Zeit nur Leute aus einem bestimmten Kreise, die sich sämtlich kannten, versammelt.

Da waren Meister des Schlittschuhlaufes, die mit ihrer Kunst kokettierten, Lernende, die hinter Stuhlschlitten schüchtern und ungeschickt sich bewegten, Knaben, und Greise die aus Gesundheitsrücksichten sich Bewegung machen wollten.

Sie alle erschienen Lewin als auserwählt Glückliche, weil sie dort waren, in ihrer Nähe. Alle die Fahrenden aber schienen mit völligem Gleichmut sie zu überflügeln oder einzuholen, sie sprachen selbst mit ihr, und ergötzten sich, völlig unabhängig von ihr, allein dahingegeben dem Genuß der vortrefflichen Eisbahn und des herrlichen Wetters.

Nikolay Schtscherbazkiy, der Vetter Kitys, in einem kurzen Jaquet und engsitzenden Beinkleidern, saß mit seinen Schlittschuhen an den Füßen auf einer Bank und rief beim Erblicken Lewins:

»Oho, da kommt ja der erste Schlittschuhläufer von Rußland! Bleibt Ihr lange hier? Das Eis ist ausgezeichnet, legt Schlittschuhe an!«

»Ich habe gar keine,« antwortete Lewin, verwundert über diese Kühnheit und Ungezwungenheit in ihrer Gegenwart, und ohne die Angebetete eine Sekunde aus den Augen zu verlieren, obwohl er gar nicht nach ihr hinzuschauen schien.

Da empfand er, daß die Sonne sich ihm näherte; sie war in der Ecke, aber kurz die kleinen Füßchen setzend in den hohen Stiefelchen, augenscheinlich verlegen werdend, kam sie auf ihn zu. Ein wie besessen mit den Armen in der Luft herumfuchtelnder, sich tief zur Erde beugender Junge in russischem Anzug überholte sie; sie fuhr nicht ganz sicher. Kity nahm die Hände aus dem kleinen Muff der an einer Schnur hing, hielt sie empor und lächelte Lewin in seinem Schrecken, den sie jetzt erkannte, zu.

Als sie die Umfahrt beendet hatte, gab sie sich mit eigensinnigem Ausstrich einen Ruck und fuhr gerade auf Schtscherbazkiy zu, dessen Arm sie ergriff, während sie Lewin dabei zulächelte. Sie war schöner, als er vermutet hatte. Wenn er ihrer dachte, konnte er sie sich in ihrer ganzen Erscheinung vorstellen, besonders den ganzen Reiz dieses mit dem Ausdruck kindlicher Offenheit und Herzensgüte begabten, Blondköpfchens, das so keck auf den schönen jungfräulichen Schultern saß. Die Kindlichkeit ihres Gesichtsausdrucks im Vereine mit der zarten Schönheit ihrer Taille, bildeten insbesondere einen Reiz bei ihr, den er recht wohl zu würdigen verstand.

Was ihn aber immer an ihr zu verwirren pflegte, das war der Ausdruck ihrer Augen, die sanft, ruhig und ehrlich schauten und namentlich ihr Lächeln, das Lewin stets in eine Zauberwelt versetzte, in der er sich beseligt, weich gestimmt fühlte, bei dem er sich der halbvergessenen Tage seiner frühesten Kindheit entsann.

»Seid Ihr schon lange hier?« frug sie, ihm die Hand hinreichend. »Danke bestens,« fügte sie hinzu, als er ihr das Taschentuch aufhob, welches ihrem Muff entfallen war.

»Ich? Nein, noch nicht lange – seit gestern – oder vielmehr heute – bin ich angekommen,« versetzte Lewin, der ihre Frage vor Erregung nicht so schnell verstanden hatte. »Ich wollte zu Euch fahren,« fuhr er sogleich fort, indem er sich erinnerte, mit welcher Absicht er sie aufgesucht hatte, aber er geriet in Verwirrung und errötete. »Ich wußte nicht, daß Ihr Schlittschuh laufen könnt – und Ihr lauft gut!«

Sie blickte ihn aufmerksam an, als wünsche sie, die Ursache seiner Verwirrung zu erfahren.

»Ich muß Euer Lob hochschätzen. Es hat sich hier die Tradition erhalten, daß Ihr der beste Schlittschuhläufer wäret, den es gäbe,« antwortete sie, mit der kleinen Hand in dem schwarzen Handschuh, die Reifnadeln abschüttelnd, welche auf den Muff gefallen waren.

»Ja, einst bin ich leidenschaftlich gern gefahren; ich hatte es bis zur Vollkommenheit bringen wollen.«

»Ihr treibt Wohl alles leidenschaftlich, wie mir scheint,« sagte sie lächelnd. »Ich möchte in der That gern einmal sehen, wie Ihr rollt. Legt Schlittschuhe an und laßt uns zusammen fahren!«

»Zusammen fahren! Ist es denn möglich?« dachte Lewin, sie anschauend. »Sogleich,« antwortete er laut, »lege ich Schlittschuhe an.«

»Ihr waret lange nicht bei uns, Herr,« sagte der Bahninhaber, Lewins Fuß haltend und den Absatz desselben anschraubend. »Nach Euch hat es hier keinen^ Meister wieder gegeben unter den Herren. Ist es so gut?« frug er, den Riemen anziehend.

»Gut, gut, nur schnell wenn ich bitten darf,« antwortete Lewin, mit Mühe ein Lächeln der Glückseligkeit unterdrückend, das ihm wider Willen aufstieg. »Ja,« dachte er, »das ist Leben, das ist Glück! Zusammen! hat sie gesagt, laßt uns vereint fahren. Soll ich jetzt mit ihr reden? Aber ich fürchte mich ja fast, ihr zu gestehen, daß ich glücklich bin, glücklich schon in der Hoffnung. Was dann? Doch, es muß sein, es muß sein! Weg mit der Schwäche!«

Lewin trat auf seine Füße, legte den Überrock ab und auf dem holperigen Eise bei dem Häuschen ansetzend, lief er hinaus auf die spiegelnde Fläche und fuhr ohne Hast, ganz wie seinem eigenen Willen gehorchend und seinen Lauf mäßigend dahin. Dann näherte er sich voll Befangenheit; ihr Lächeln aber machte ihn wieder sicher.

Sie gab ihm die Hand und beide fuhren nun miteinander, ihren Lauf allmählich beschleunigend; und je schneller sie fuhren, desto stärker drückte sie seine Hand.

»Unter Euch würde ich bald ausgelernt haben, ich habe solch ein Vertrauen zu Euch,« sagte sie.

»Auch ich fühle mich sicher, wenn Ihr Euch auf mich stützet,« antwortete er, erschrak aber sogleich über das, was er gesagt hatte und errötete. Und in der That, sowie er nur diese Worte herausgebracht hatte, verlor ihr Gesicht, wie die Sonne die hinter die Wolken geht, all seine Freundlichkeit, und Lewin erkannte auf ihrem Gesicht jenes bekannte Spiel, welches das Arbeiten der Gedanken andeutet; auf ihrem glatten Antlitz erschien eine Falte.

»Haben Sie etwas übel aufgenommen? Doch – eigentlich habe ich gar nicht das Recht so zu fragen,« wandte er sich schnell an sie.

»Warum hätte ich etwas übel aufzunehmen? O nein, dem ist durchaus nicht so,« versetzte sie kühl, fügte aber dann sogleich hinzu, »habt Ihr Mademoiselle Linon gesehen?«

»Noch nicht.«

»Geht doch zu ihr; sie liebt Euch so sehr.«

»Was soll das heißen?« dachte Lewin, »ich habe sie gekränkt, Herr, steh mir bei!« Er lief zu der alten Französin hin mit den weißen Locken, die drüben auf der Bank saß. Lächelnd und ihre falschen Zähne zeigend, begrüßte sie ihn als alten Freund.

»Ja, ja, wir sind gewachsen,« sagte sie, mit den Augen auf Kity weisend, »und wir werden alter. Tiny bear ist groß geworden!« fuhr die Französin lachend fort und erinnerte ihn damit an seinen Scherz über die jungen Herrinnen, die er einst die drei Bären aus dem englischen Märchen genannt hatte. »Wißt Ihr noch, wie Ihr zu sagen pflegtet.«

Er konnte sich durchaus nicht mehr hierauf besinnen, aber sie lachte nunmehr schon ins zehnte Jahr über jenen Scherz und sie liebte denselben.

»Nun, fahrt nur immer zu, fahrt. Unsere Kity hat gut Schlittschuhlaufen gelernt, nicht wahr?«

Als Lewin wieder zu Kity zurückkehrte, war ihr Gesicht nicht mehr so ernst, ihre Augen blickten wieder so ehrlich und freundlich, aber ihm schien es, als läge in ihrer Freundlichkeit ein seltsamer, nachdenklich ruhiger Ton. Auch er wurde nachdenklich. Er begann von der alten Gouvernante und von ihren Eigenheiten zu sprechen; sie aber frug ihn nach seinem Leben.

»Ist es Euch nicht zu langweilig auf dem Dorfe?« sagte sie.

»O nein; langweilig ist es da nicht; ich habe sehr viel zu thun,« antwortete er ihr, empfindend, daß sie ihn ihrem ruhigen Tone unterordnete, dem zu entweichen er sich nie imstande fühlen würde, obwohl es im Beginn des Winters war.

»Seid Ihr für längere Zeit hierher gekommen?« frug Kity.

»Ich weiß noch nicht,« antwortete er, ohne zu überlegen, was er sprach.

Der Gedanke, daß er wiederum unverrichteter Sache von dannen gehen werde, falls er sich dem nämlichen ruhigen Freundschaftston hingeben würde, wie sie, kam ihm in den Kopf und er entschloß sich, Mut Zu fassen.

»Inwiefern wißt Ihr das nicht?«

»Ich weiß nicht. Es hängt dies ganz von Euch ab,« sagte er, erschrak aber sofort über seine eigenen Worte.

Hörte sie diese nicht, oder wollte sie sie nicht hören, aber sie schien zu straucheln, stieß zweimal mit dem Füßchen auf das Eis und fuhr dann hinweg von ihm. Sie schwebte zu Mademoiselle Linon, sagte ihr einige Worte und begab sich dann nach dem Häuschen, wo die Damen ihre Schlittschuhe ablegten.

»Mein‘ Gott, was habe ich angerichtet, mein Gott! Hilf mir und rate mir,« sagte Lewin zu sich, gleichsam betend, und dabei zugleich in der Empfindung des Bedürfnisses nach einer heftigen Bewegung, ausstreichend und nach auswärts und innen Kreise ziehend.

In diesem Augenblicke kam ein junger Mann, der beste der jüngeren Schlittschuhläufer, die Cigarette im Munde, auf seinen Schlittschuhen aus dem Café heraus; er lief, eilte auf den Schlittschuhen die Stufen herab, lachend und springend und flog dann auf dem Eise davon, ohne die freie Haltung seiner Arme zu verändern.

»Aha, ein neues Kunststückchen,« sagte Lewin, und lief sofort nach oben um das neue Kunststückchen zu versuchen.

»Fallt nicht, das will geübt sein!« rief ihm Nikolay Schtscherbazkiy zu.

Lewin trat auf einen Vortritt, und sprang herab, bei der ungewohnten Übung das Gleichgewicht mit den Armen haltend. Auf der letzten Stufe blieb er hängen und berührte leicht das Eis mit der Hand, machte aber eine heftige Bewegung, schnellte auf und flog lachend hinaus auf die Fläche.

»Ein wackerer Bursch,« dachte Kity dabei, als sie aus dem Häuschen heraustrat in der Begleitung der Mademoiselle Linon. Sie blickte dabei mit stillem Lächeln nach ihm hinüber, wie nach einem lieben Bruder. »Bin ich denn schuld, habe ich etwas Übles gethan? Man sagt, das sei Koketterie. Ich weiß, daß ich ihn nicht liebe, und doch bin ich gern in seiner Gesellschaft, er ist so wacker. Warum sagte er das auch gerade?« dachte sie.

Als Lewin Kity mit ihrer Mutter, die ihr auf den Stufen entgegenkam, fortgehen sah, blieb er, errötet von der schnellen Bewegung, stehen und versank in Nachdenken. Er schnallte die Schlittschuhe ab und holte dann Mutter und Tochter am Ausgange des Gartens ein.

»Sehr erfreut, Euch wiederzusehen,« sagte die Fürstin, »Donnerstag, wie ja immer, empfangen wir.«

»Nicht heute vielleicht auch?«

»Wird uns sehr angenehm sein,« versetzte die Fürstin trocken.

Diese Trockenheit erbitterte Kity, und diese konnte sich nicht enthalten, die Kälte ihrer Mutter zu mildern. Sie wandte das Haupt nach ihm um und sprach lächelnd:

»Auf Wiedersehen.«

In diesem Augenblick erschien Stefan Arkadjewitsch, den Hut schief auf der Seite mit glänzenden Mienen und Augen, wie ein wohlgelaunter Sieger im Garten. Als er sich indessen der Tante genähert hatte, antwortete er mit schuldbewußtem Gesicht auf ihre Fragen betreffs des Befindens von Dolly. Nachdem er so halblaut und zerknirscht mit der Tante eine Weile gesprochen hatte, warf er sich wieder in die Brust, und nahm Lewin unter dem Arme.

»Nun, was thun wir, wollen wir fahren?« frug er, »ich habe immer an dich gedacht und bin sehr, sehr glücklich, daß du gekommen bist,« sprach er, Lewin bedeutungsvoll ins Auge blickend.

»Fahren wir, fahren wir,« antwortete dieser beglückt, ohne den Klang der Stimme aus dem Ohre zu verlieren, die da gesagt hatte, »auf Wiedersehen«. Er sah noch das Lächeln mit welchem die Worte gesprochen worden waren.

»Gehen wir nach England oder in die Eremitage?«

»Mir ganz gleichgültig.«

»Nun, also nach ›England‹«, fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, »England« deshalb wählend, weil er daselbst mehr Schulden hatte, als in der Eremitage. Er hielt es daher nicht für geraten, dieses Hotel zu meiden. »Du hast wohl einen Kutscher? Gut, ich habe nämlich meinen Wagen entlassen.«

Die beiden Freunde legten schweigend den ganzen Weg zurück. Lewin dachte an das, was jene Veränderung im Gesichtsausdruck Kitys bedeutet haben mochte, und er überzeugte sich bald, es sei Hoffnung für ihn vorhanden, bald geriet er in Mutlosigkeit und erkannte klar, seine Hoffnung sei sinnlos. Nichtsdestoweniger fühlte er sich aber als einen ganz anderen Menschen, nicht mehr demjenigen ähnlich, der er gewesen war just bis zu jenem Lächeln hin, zu jenen Worten »auf Wiedersehen«!

Stefan Arkadjewitsch stellte während dessen das Menü des Diners zusammen. »Liebst du nicht turbot?« frug er Lewin während der Fahrt.

»Was sagtest du?« frug Lewin, » turbot? O ja, ich liebe den turbot außerordentlich.«