Den ganzen Tag verbrachte Anna zu Hause, das heißt, bei den Oblonskiy. Sie empfing niemanden, obwohl schon mehrere ihrer Bekannten, die von ihrer Ankunft Kunde erhalten hatten, kamen, um sie bereits am nämlichen Tage zu besuchen.

Anna verbrachte den ganzen Morgen mit Dolly und den Kindern. Sie schrieb nur eine kurze Mitteilung an ihren Bruder, daß er jedenfalls daheim zu Mittag speisen möchte. »Komm, Gott hat geholfen!« schrieb sie ihm.

Oblonskiy speiste denn auch daheim; das Gespräch drehte sich um Allgemeinheiten, sein Weib sprach mit ihm, indem sie ihn wieder mit du anredete, was vorher nicht der Fall gewesen war.

In dem Verhältnis des Gatten zu der Gattin herrschte noch die nämliche Entfremdung, aber es war doch schon keine Rede mehr von einer Trennung, und Stefan Arkadjewitsch erkannte, daß die Möglichkeit einer Auseinandersetzung und Aussöhnung jetzt vorhanden sei.

Sogleich nach dem Essen erschien Kity. Sie kannte Anna Arkadjewna, aber nur sehr entfernt, und kam jetzt zu der Schwester nicht ohne die Besorgnis darüber, wie sie von dieser Petersburger Weltdame aufgenommen werden möchte, von der man allgemein so entzückt war. Sie hatte der Anna Arkadjewna indessen gefallen – dies erkannte sie sofort.

Anna interessierte sich augenscheinlich für Kitys Schönheit und Jugend und kaum war Kity selbst zur Besinnung gekommen, da fühlte sie sich nicht nur schon unter deren Einfluß, sie fühlte sich vielmehr verliebt in Anna, wie überhaupt die jungen Mädchen sehr geneigt sind, sich in verheiratete und ältere Damen zu verlieben.

Anna ähnelte durchaus nicht einer Weltdame oder der Mutter eines achtjährigen Knaben; sie hätte eher einem zwanzigjährigen Mädchen geglichen nach der Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen, nach der Frische und der Beweglichkeit, die auf ihren Mienen lag, und die bald in einem Lächeln, bald in ihrem Blicke zum Ausdruck kam, wenn sie nicht gerade ernst dreinschaute. Bisweilen war es auch ein trauernder Ausdruck ihrer Augen, welcher Kity überraschte und anzog. Diese empfand, daß Anna vollständig offen sei und nichts verberge, aber sie empfand auch, daß in ihr eine andere höhere Welt lebe voll Interessen, die ihr selbst unzugänglich waren, und eine in sich abgeschlossene, poetische Natur besaßen.

Nach dem Essen, als Dolly nach ihrem Zimmer gegangen war, erhob sich Anna schnell und trat zu ihrem Bruder, der eine Cigarre rauchte.

»Stefan,« hub sie an, schelmisch blinzelnd und ihn bekreuzend, mit den Augen nach der Thür winkend. »Gehe jetzt und möge dir Gott beistehen.«

Er legte die Cigarre fort, Anna verstehend, und ging zur Thür hinaus.

Als Stefan Arkadjewitsch verschwunden war, wandte sich Anna nach dem Diwan, auf welchem sie sich, von den Kindern umringt niederließ. War es, weil die Kinder gesehen hatten, daß Mama gut mit Tante war, oder war es, daß sie selbst an ihr einen eigentümlichen Reiz verspürten; genug, die beiden ältesten, und nach ihnen die jüngeren, hatten sich wie das gewöhnlich bei Kindern der Fall zu sein pflegt, schon bis zur Mittagstafel hin an die neue Tante gemacht und wichen nicht von ihrer Seite.

Es hatte sich eine Art Spiel unter ihnen arrangiert, welches darin bestand, daß man sich so eng als möglich neben die Tante zu setzen suchte, sich an sie anschmiegte, ihre kleine Hand festhielt, sie küßte, mit ihrem Ringe spielte oder doch wenigstens die Fransen ihres Kleides zu berühren strebte.

»Jetzt wollen wir wieder sitzen, wie vorher,« sagte Anna Arkadjewna, sich auf ihren Platz niederlassend.

Grischa steckte wiederum seinen Kopf unter ihre Hand, schmiegte sich in die Falten ihres Kleides und strahlte vor Stolz und Glück.

»Also jetzt hat man hier wohl einen Ball?« wandte sich Anna an Kity.

»In nächster Woche. Es wird ein schöner Ball werden; einer von jenen auf denen es stets recht lustig ist.«

»Giebt es denn solche, auf denen es stets lustig ist?« frug Anna mit seinem Lächeln.

»Die Frage ist eigentümlich. Gewiß! Bei den Bobwischtscheff ist es stets lustig, bei den Nikitin auch, allerdings bei den Meschkowy ist es immer langweilig. Habt Ihr dies denn noch nicht bemerkt?«

»Nein, mein Kind, für mich giebt es keine solchen Bälle mehr, auf denen es stets lustig ist,« antwortete Anna; Kity gewahrte in ihren Augen wieder jene sonderbare Welt, die ihr nicht zugänglich war.

»Für mich giebt es nur solche, auf denen es zum mindesten langweilig ist.«

»Wie ist das möglich, daß Ihr gar es auf einem Balle langweilig findet?«

»Warum sollte es unmöglich sein, daß gerade ich den Ball langweilig finde?« frug Anna.

Kity merkte, daß Anna recht wohl wußte, welche Antwort kommen müsse.

»Nun deswegen, weil Ihr doch stets die Schönste von allen dabei sein würdet!«

Anna besaß die Fähigkeit, erröten zu können. Sie errötete daher und sagte:

»Das ist zunächst nicht der Fall, und dann, selbst wenn dem so wäre, warum?«

»Ihr werdet doch auf den Ball fahren?« frug Kity.

»Ich denke, es wird nicht zu umgehen sein. – Da nimm ihn,« sagte sie zu Tanja, welche ihr den leicht von ihrem weißen Finger herabgehenden Ring abgezogen hatte.

»Ich werde mich sehr freuen, wenn Ihr mitkommt, denn ich möchte Euch gar zu gern auf dem Balle sehen.«

»Nun, wenn denn einmal gefahren sein muß, so werde ich mich mit dem Gedanken trösten, daß dies eben Euch Vergnügen macht. Grischa, zerr‘ nicht so, bitte; sie haben mich schon ganz derangiert,« sprach sie, eine in Unordnung geratene Haarflechte, mit der Grischa gespielt hatte wieder zurechtsteckend.

»Ich denke mir Euch auf dem Ball in Lila.«

»Weshalb gerade in Lila?« lächelte Anna. »Kinder geht jetzt, geht! Hört ihr? Miß Goul ruft euch zum Thee,« fuhr sie fort, die Kinder von sich losmachend und sie nach dem Speisesalon dirigierend. »Ich weiß übrigens, weshalb Ihr mich zu der Teilnahme am Balle einladet. Ihr versprecht Euch viel von demselben und wünscht, daß jedermann dort und Teilhaber dabei sein möchte.«

»Woher wißt Ihr das? Allerdings.«

»O, wie schön ist doch Euer Alter,« fuhr Anna fort, »ich entsinne mich noch jenes blauen Nebels, ähnlich dem, der sich über die Berge der Schweiz lagert, jenes Nebels, der alles in dieser glückseligen Zeit überdeckt, da die Kindheit für uns aufgehört hat und aus ihrem grenzenlosen Kreise des Glückes und der Lust ein Weg, enger und enger werdend, in Heiterkeit und Scherz in diese Ensilade hineinführt, obwohl er hell und angenehm erscheint. Wer hätte diesen Weg nicht durchschritten?

Kity lächelte schweigend, »sie hat ihn gewiß zurückgelegt, was gäbe ich nicht darum, könnte ich ihren ganzen Roman in Erfahrung bringen,« dachte sie und vergegenwärtigte sich dabei das unpoetische Äußere Aleksey Aleksandrowitschs, ihres Gatten.

»Ich bin schon in einigem unterrichtet, Stefan erzählte mir davon; ich gratuliere; er gefällt mir sehr,« fuhr Anna fort, »ich traf mit Wronskiy auf der Eisenbahn zusammen.«

»Ah; er war dort?« frug Kity errötend, »was hat Euch Stefan erzählt?«

»Er hat mit mir nur leichthin geplaudert; ich wäre sehr froh gewesen – Gestern bin ich mit der Mutter Wronskiys hierher gereist,« fuhr sie fort, »und diese hat mir in einem fort von ihm erzählt, er ist ihr Liebling. Ich weiß, wie leidenschaftlich Mütter für ihre Kinder eingenommen sein können, aber« –

»Was hat Euch denn seine Mutter erzählt?«

»O, viel! Ich weiß wohl, daß er ihr Liebling ist, aber es ist trotzdem auch sichtbar, daß er auch der vollendete Kavalier ist. Nun, zum Beispiel hat sie mir erzählt, daß er sein ganzes Besitztum seinem Bruder überlassen wollte, daß er bereits in seiner Jugend eine ungewöhnliche That vollbracht habe, indem er ein Weib aus dem Wasser errettete. Mit einem Worte, er ist ein Heros,« sagte Anna lächelnd, und sich dabei der zweihundert Rubel erinnernd, die er auf der Station geschenkt hatte.

Doch von diesen erzählte sie nichts, weil es ihr unangenehm war, an das Vorkommnis zurückzudenken. Sie empfand, daß in der Sache etwas auf sie selbst Weisendes gelegen hatte etwas, das nicht hätte sein dürfen.

»Sie hat mich lebhaft gebeten, zu ihr zu kommen,« fuhr Anna fort, »und ich werde mich freuen, die liebe alte Dame wiedersehen zu können. Morgen gedenke ich daher zu ihr zu fahren. Indessen – Gott sei gedankt – Stefan bleibe lange bei Dolly im Kabinett,« fügte sie alsdann hinzu, das Thema wechselnd und sich erhebend; wie es Kity schien, mochte sie mit irgend etwas unzufrieden sein.

»Nein, ich will zuerst zur Tante! Nein ich! Nein ich!« schrieen jetzt die Kinder, welche mit Theetrinken fertig waren und wieder zur Tante Anna geeilt kamen.

»Alle zusammen sollen bei mir sein!« rief diese, ihnen lachend entgegenlaufend und sie umarmend, worauf sie die ganze Schar der sich tummelnden und vor Lust laut hinausschreienden Kinder über den Haufen warf.