»Ja; etwas ist an mir widerlich, abstoßend,« dachte Lewin, das Haus der Schtscherbazkiy verlassend und sich zu Fuße nach der Wohnung seines Bruders begebend.

»Ich tauge nicht für meine Mitmenschen; mein Stolz sei daran schuld, sagen sie. Nein; Stolz ist nicht in mir. Wäre es der Fall, dann hätte ich mich nicht in eine solche Situation gebracht.«

Er stellte sich nun Wronskiy vor, den Glücklichen, Guten, Verständigen, den ruhigen Menschen, der wahrscheinlich niemals in einer so furchtbaren Lage gewesen war, in der er selbst sich heute Abend befunden. Ja sie mußte jenen wählen, es mußte so kommen und er hatte sich über niemand und über nichts zu beklagen. Er war selbst schuld. Denn welches Recht besaß er, zu denken, daß sie ihr Leben mit dem seinigen vereinen sollte? Wer war er? Ein gewöhnlicher Mensch den niemand brauchte und der niemand nützlich war.

Er dachte an seinen Bruder Nikolay und mit Freude gab er sich der Erinnerung an ihn hin.

»Hat er nicht recht, daß alles in der Welt schlecht und häßlich ist? Sind wir etwa gerecht gewesen im Urteil über unseren Bruder? Natürlich, vom Standpunkte Prokops, der ihn im zerrissenen Pelze und berauscht gesehen hat, ist er ein Verworfener; aber ich kenne ihn anders; ich kenne seine Seele und weiß, daß wir beide einander ähnlich sind. Und ich, anstatt daß ich gekommen wäre ihn aufzusuchen, bin hierher gekommen, um zu dinieren.«

Lewin trat an eine Laterne, las die Adresse seines Bruders, die er in seiner Brieftasche trug, und rief einen Mietkutscher.

Den ganzen langen Weg zum Bruder Nikolay hin erinnerte er sich nochmals aller Vorkommnisse aus dessen Leben. Er entsann sich, wie sein Bruder auf der Universität und noch ein Jahr nach derselben ungeachtet des Spottes seiner Freunde, wie ein Mönch gelebt hatte, mit Strenge alle Anforderungen des Glaubens erfüllend, des Ritus, der Fasten und alle Vergnügungen meidend, insbesondere den Verkehr mit den Weibern. Dann war er plötzlich umgeschlagen, mit den niedrigsten Geschöpfen in Berührung getreten und hatte sich der zügellosesten Ausschweifung ergeben. Lewin entsann sich ferner eines Ereignisses mit einem Knaben, den Nikolay aus dem Dorfe genommen hatte, um ihn ausbilden zu lassen, den er aber in einem Wutanfall so geschlagen hatte, daß infolge dessen ein Prozeß, unter Anklage zugefügter körperlicher Schädigung begann. Er entsann sich jenes Vorkommnisses mit einem Schüler, an den er Geld verspielt und Wechsel gegeben und welchen er in der Folge diesbezüglich verklagt hatte unter dem Nachweis, daß jener ihn betrogen habe. Es waren dies die Gelder, welche Sergey Iwanowitsch zahlte. Dann dachte er daran, wie Nikolay wegen ungebührlichen Benehmens eine Nacht im Stockhaus untergebracht gewesen, und wie ferner von ihm jener schmähliche Prozeß gegen den Bruder Sergey Iwanowitsch angestrengt worden war, weil ihm dieser nicht seinen Anteil aus dem mütterlichen Erbe ausbezahlt hätte, und schließlich, wie er fortgegangen war, um in einer westlichen Provinz in Dienst zu treten und ihm hier der Prozeß gemacht wurde, weil er den Vorgesetzten geprügelt hatte.

Alles das war unsagbar widerlich, aber Lewin erschien es durchaus nicht so widerlich, wie es denen erscheinen mußte, die Nikolay nicht kannten, von seiner ganzen Lebensgeschichte nichts wußten und nichts von seinem Herzen.

Lewin vergegenwärtigte sich, daß zu jener Zeit, da Nikolay sich der Religiosität, den Fasten, dem Mönchsleben, und dem Dienste der Kirche hingegeben hatte, um in der Religion Hilfe zu suchen und die Zügel für seine leidenschaftliche Natur, niemand ihm beistand, sondern alle nur – ja Lewin selbst mit – über ihn gelacht hatten. Man hatte ihn verspottet, ihn Noah und Mönch genannt. Als er aber dann zusammenbrach, da hatte ihm keiner beigestanden, sondern sie hatten sich alle mit Schrecken und Abscheu von ihm abgewandt.

Lewin fühlte, daß sein Bruder Nikolay in seiner Seele, auf dem Grunde seines Gemütes, trotz aller Ungeschlachtheiten in seinem Leben, nicht schlechter war, als diejenigen, welche ihn verachteten.

Er trug keine Schuld daran, daß er mit so unbezähmbarem Naturell und einem in gewisser Beziehung beengten Horizont geboren war. Er hatte doch stets gestrebt darnach, gut zu sein!

»Ich werde ihm alles sagen, alles will ich ihm sagen lassen und ihm beweisen, daß ich ihn liebe und daher auch verstehe,« sagte Lewin zu sich selbst, um elf Uhr nachts vor dem auf der Adresse angegebenen Gasthaus vorfahrend.

»Oben, Nr. 12 und 13,« antwortete der Portier auf seine Frage.

»Ist er daheim?«

»Er muß wohl da sein.«

Die Thür zu Nr.12 stand halbgeöffnet und aus ihr heraus quoll in einem lichten Streifen der dichte Qualm von schlechtem und schwachem Tabak. Lewin vernahm eine ihm unbekannte Stimme, erkannte aber alsbald, daß sein Bruder anwesend sei, denn er hörte dessen Husten.

Als er eintrat, sprach die unbekannte Stimme gerade:

»Alles hängt davon ab, inwieweit die Sache verständig und mit Überlegung geführt wird.«

Konstantin Lewin schaute in die Thür und gewahrte, daß ein junger Mann in einer ungeheuren haarigen Pelzmütze und Pelzjacke soeben sprach, während auf dem Sofa ein junges pockennarbiges Weib in einem wollenen Kleid ohne Ärmel und Kragen saß. Sein Bruder war nicht sichtbar.

Konstantin drückte es schwer auf das Herz, als er sich vergegenwärtigte, in welcher Umgebung sein Bruder lebe. Niemand hatte ihn vernommen und so streifte er seine Galoschen ab und lauschte auf das, was der Mann in der Pelzjacke sprach. Er perorierte soeben über ein gewisses Unternehmen.

»Ja; der Teufel mag sie holen, diese privilegierten Stände,« hörte er die Stimme seines Bruders zugleich mit dessen Husten.

»Mascha, bringe uns das Abendbrot, gieb Branntwein wenn noch welcher da ist, sonst schicke darnach.«

Das Weib erhob sich, ging hinter eine Zwischenwand und gewahrte jetzt Konstantin.

»Es ist ein Herr da, Nikolay Dmitritsch,« sprach sie.

»Zu wem will er?« antwortete die Stimme Nikolay Dmitritschs gereizt.

»Ich bin es,« versetzte Konstantin Lewin, in den Lichtkreis tretend.

»Wer ist das, ›ich?‹« wiederholte noch rauher die Stimme Nikolays. Man vernahm, wie er schnell aufstand, wobei er an irgend einem Gegenstande hängen blieb. Lewin erblickte nun vor sich in der Thür die wohlbekannte Gestalt des Bruders, die ihn aber jetzt mit ihrer Wildheit und Krankhaftigkeit, hochgewachsen, abgezehrt und zusammengehockt, mit großen, verstörten Augen, in Schrecken versetzte.

Er war noch hagerer geworden als er vor drei Jahren gewesen, wo Konstantin Lewin ihn zum letztenmal gesehen hatte. Seine Hände erschienen jetzt noch abgezehrter, seine Haare waren dünner geworden, aber dieselben starr ragenden Barthaare bedeckten noch seine Lippen, die nämlichen Augen schauten seltsam und groß auf den Eintretenden.

»Ah, mein Kostja!« rief er diesem plötzlich zu, den Bruder erkennend, und seine Augen strahlten in freudigem Glanze auf; aber in derselben Sekunde schaute er auch auf den jungen Mann und machte dann eine Konstantin nur zu gut bekannte heftige Bewegung mit dem Kopfe und Halse, als wenn ihn das Halstuch drückte.

Ein Ausdruck völliger Wildheit, Krankhaftigkeit und doch Härte lagerte sich auf seinen abgezehrten Zügen.

»Ich habe doch dir und Sergey Iwanowitsch geschrieben, daß ich Euch nicht kenne und nicht kennen will. Was willst du also, was wünschest du!«

Er war also doch ganz anders, als Konstantin ihn sich vorgestellt hatte. Das Fühlbarste und Abstoßendste in seinem Charakter, was den Verkehr mit ihm so schwierig machte, hatte Konstantin Lewin ganz vergessen gehabt, als er des Bruders gedachte; jetzt aber, als er dessen Gesicht wieder erblickte, da fiel ihm – namentlich als er diese krampfhafte Kopfbewegung gewahrte – alles wieder ein.

»Ich komme nicht zu dir, weil ich etwas von dir wünschte,« antwortete Lewin schüchtern, »ich bin nur gekommen, um dich einmal zu sehen.«

Die Verzagtheit des Bruders stimmte Nikolay sichtlich zugänglicher. Er zuckte die Lippen.

»Ah, dazu kommst du?« antwortete er, »nun, tritt ein, setze dich. Willst du Abendbrot mit essen? Mascha, bring drei Portionen. Oder nein, halt; weißt du denn, wer das ist?« wandte er sich an seinen Bruder, auf den Fremden im Halbpelz weisend, »das ist Herr Krizkiy, mein Freund noch von Kieff her, ein sehr interessanter Mensch. Man sucht ihn, verstehst du, seitens der Polizei, weil er kein Niedriger sein will.«

Nach seiner Gewohnheit ließ Nikolay den Blick auf sämtliche im Zimmer befindliche Anwesende herumgleiten. Als er bemerkt hatte, daß das Weib, welches schon an der Thür stand, gehen wollte, rief er ihm zu: »Halt, habe ich gesagt!«

Mit jener Unsicherheit, jener zusammenhanglosen Sprechweise, die Konstantin am Bruder längst kannte, begann er jetzt, wiederum alle der Reihe nach musternd, die Geschichte Krizkiys zu erzählen, und berichtete, wie man diesen von der Universität relegiert habe, weil er einen Verein zur Unterstützung armer Studierender und Sonntagsschulen gegründet hatte; wie er dann Lehrer an der Volksschule geworden, aber auch hier verjagt, endlich aus Gründen dem Gericht in die Hände gefallen sei.

»Ihr wäret an der Universität Kiew?«, frug Konstantin Lewin Krizkiy um das nach der Erzählung Nikolays eingetretene peinliche Schweigen zu brechen.

»Ja, dort war ich.«, antwortete Krizkiy verbissen.

»Und das Weib dort,« fiel diesem Nikolay Lewin in die Rede, auf die Frau weisend, »ist meine Freundin für das Leben, Marja Nikolajewna. Ich habe sie aus einem gewissen Hause genommen,« er ruckte wieder mit dem Hals als er dies sagte, dann fuhr er fort mit erhobener Stimme und drohender Miene, »aber ich liebe und achte sie, bitte mir aus, daß, wer mich kennen will, sie liebt und achtet. Es thut nichts, wer mein Weib ist; ganz gleich. Also du weißt jetzt, mit wem du es zu thun hast, und falls du denkst, du erniedrigst dich hier, so ist dort Gott und meine Schwelle!«

Wiederum liefen seine Augen fragend über alle Anwesenden hin.

»Weshalb sollte ich mich erniedrigen, ich verstehe dich nicht.«

»So laß also, Mascha, das Abendessen bringen; drei Portionen, Wein und Branntwein. Oder nein, halt – Nein – es ist nicht nötig – doch geh, geh!« –