19.

Der Irrtum, welcher von Aleksey Aleksandrowitsch dadurch begangen worden war, daß er, indem er sich auf das Wiedersehen mit seinem Weibe vorbereitete, nicht an die Möglichkeit gedacht hatte, ihre Reue könne eine aufrichtige sein, und er könne ihr dann vergeben, sie aber stürbe nicht – dieser Irrtum zeigte sich ihm nach Verlauf zweier Monate nach seiner Rückkehr von Moskau in seiner ganzen Stärke. Der Irrtum aber, der von ihm begangen worden, rührte nicht nur davon her, daß er jene Möglichkeit nicht mit erwogen hätte, sondern auch davon, dah er bis zu jenem Tage des Wiedersehens mit der sterbenden Gattin sein Herz noch gar nicht gekannt hatte. Am Bett des kranken Weibes erst überließ er sich zum erstenmal in seinem Leben jener Empfindung tiefen Mitleides, das in ihm die Leiden anderer hervorriefen, und dessen er sich vordem geschämt hatte als sei es eine verderbliche Schwäche, und das Mitleid mit ihr, die Reue darüber, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und namentlich, die Freude über die gewährte Verzeihung, vollbrachten, was er plötzlich nicht nur als eine Linderung seiner Leiden empfand, sondern auch als eine seelische Beruhigung, die er vordem noch nie an sich kennen gelernt hatte. Plötzlich war er dessen inne geworden, daß eben das, was den Quell seines Schmerzes bildete auch der Quell seiner Seelenfreude wurde; das, was ihm unlösbar erschienen war, so lange er gerichtet, getadelt und gehaßt hatte, das war jetzt offen und klar geworden, nachdem er verziehen hatte und liebte.

Er hatte seinem Weibe verziehen und beklagte es wegen seiner Leiden und seiner Reue. Er hatte Wronskiy verziehen und beklagte denselben, besonders, nachdem die Nachricht von dessen verzweifelter Handlung zu ihm gedrungen war. Er hatte Mitleid auch mit seinem Söhnchen, mehr als früher, und machte sich jetzt Vorwürfe darüber, daß er sich allzuwenig mit ihm beschäftigt hatte. Für das neugeborene kleine Mädchen aber empfand er ein gewisses besonderes Gefühl, nicht nur des Mitleids, sondern selbst der Zärtlichkeit. Anfangs befaßte er sich lediglich aus Mitleid mit dem neugeborenen schwächlichen Kind, das gar nicht seine Tochter war und während der Zeit der Krankheit der Mutter ganz verlassen lag und wahrscheinlich gestorben wäre, hätte er nicht dafür Sorge getragen; – er hatte selbst nicht gewahrt, daß er das Kind liebgewonnen. Mehrmals des Tages begab er sich nach dem Kinderzimmer und saß lange dort, sodaß die Kindfrau und die Amme, anfangs verschüchtert vor ihm, sich an ihn gewöhnten. Bisweilen blickte er halbe Stunden lang auf das saffranrote, dicke, runzelige Gesichtchen des Säuglings, und beobachtete die Bewegungen der faltigen Stirn und der dicken Händchen mit den gespreizten kleinen Fingern, welche mit der Rückseite der Handflächen sich die Äuglein und das Oberteil der Nase rieben. In solchen Momenten besonders fühlte sich Aleksey Aleksandrowitsch sehr ruhig und mit sich selbst zufrieden, und sah in seiner Lage nichts Außergewöhnliches, nichts, was hätte geändert werden müssen.

Je mehr Zeit indessen verstrich, um so klarer erkannte er, daß man ihm, so natürlich ihm auch seine jetzige Lage erscheinen mochte, nicht gestatten würde, in derselben zu verbleiben. Er fühlte wohl, daß außer jener edlen seelischen Macht, die seinen Geist leitete, noch eine andere bestand, eine rohe, die ebensoviel oder noch mehr galt, die sein Leben leitete, und daß diese Macht ihm nicht jene friedsame Ruhe gönnen würde, die er wünschte. Er empfand, daß alle ihn mit fragendem Erstaunen betrachteten, daß man ihn nicht begriff, und von ihm etwas erwartete. Insbesondere fühlte er die Unzulänglichkeit und Unnatürlichst seiner Beziehungen zu seinem Weibe.

Nachdem jene weiche Stimmung verflogen war, die die Nähe des Todes in ihr erzeugt hatte, begann Aleksey Aleksandrowitsch zu bemerken, daß Anna ihn fürchte, sich von ihm belästigt fühlte und ihm nicht offen ins Auge zu blicken vermochte. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben, und doch nicht den Entschluß finden zu können, es ihm auszusprechen, und schien auch ihrerseits wie in einem Vorgefühl, daß die beiderseitigen Beziehungen auf die Dauer nicht haltbar seien, etwas von ihm zu erwarten.

Gegen Ende des Februar ereignete es sich, daß die neugeborene Tochter Annas, ebenfalls Anna genannt, erkrankte. Aleksey Aleksandrowitsch war früh morgens im Kinderzimmer und begab sich, nachdem er befohlen hatte, einen Arzt zu rufen, ins Ministerium. Nach Erledigung seiner Geschäfte kehrte er um vier Uhr nach Hause zurück. Als er ins Kinderzimmer ging, gewahrte er einen schmucken Lakaien in Galons mit Bärenfellpelerine und weißer Rotonde von amerikanischem Hund.

»Wer ist hier?« frug er.

»Die Fürstin Jelisabeta Fjodorowna Twerskaja,« versetzte der Lakai, wie es Aleksey Aleksandrowitsch schien, lächelnd.

In dieser schweren Zeit bemerkte Aleksey Aleksandrowitsch, daß seine Bekannten aus der großen Welt, besonders die Damen, viel Teilnahme für ihn und seine Frau an den Tag legten. Er nahm bei all diesen Bekannten eine mit Mühe unterdrückte Freude über etwas Unbekanntes wahr, dieselbe Freude, die er in den Augen des Rechtsanwalts erblickt hatte, und jetzt in den Augen des Lakaien sah. Alle schienen gewissermaßen in Entzücken zu sein, als wollten sie jemand verheiraten. Wenn man ihm begegnete, frug man mit schlecht verhehlter Schadenfreude nach seinem Befinden.

Die Anwesenheit der Fürstin Twerskaja war Aleksey Aleksandrowitsch sowohl wegen der Reminiscenzen, die mit diesem Namen verknüpft waren, als auch deshalb, weil er sie überhaupt nicht liebte, unangenehm und er ging geradenwegs nach dem Kinderzimmer. In dem ersten Gemach befand sich der kleine Sergey, mit der Brust über den Tisch liegend und die Füße auf dem Stuhl, mit Zeichnen beschäftigt und in heiterem Geplauder. Die Engländerin, welche während der Zeit der Krankheit Annas die Französin abgelöst hatte, und mit einer Stickerei von Mignardisen beschäftigt neben dem Knaben saß, erhob sich hastig und setzte Sergey zurecht. Aleksey Aleksandrowitsch strich glättend mit der Hand über das Haar des Knaben, antwortete auf die Frage der Gouvernante nach dem Befinden seiner Gemahlin und frug, was der Arzt bezüglich des Baby gesagt hätte.

»Der Arzt sagte, es sei keine Gefahr und hat Wannenbäder verschrieben, Herr.«

»Aber das Kind leidet doch noch,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, aufmerksam auf das Geschrei des Kindes im Nebenzimmer horchend.

»Ich glaube, die Amme ist nichts wert, Herr,« antwortete die Engländerin fest.

»Weshalb vermutet Ihr das?« frug er, stehen bleibend.

»Es war ebenso bei der Gräfin Polj, Herr. Man kurierte an einem Kinde herum und es zeigte sich, daß dasselbe einfach hungrig war; die Amme hatte keine Milch, Herr.«

Aleksey Aleksandrowitsch dachte nach und begab sich, nachdem er noch einige Sekunden verharrt hatte, nach der zweiten Thür. Das kleine Kind lag mit zurückgeworfenem Köpfchen, sich auf den Armen der Amme krümmend, und wollte weder die ihm dargebotene schwellende Brust nehmen, noch sich beruhigen lassen, obwohl die Amme und Kinderfrau über den Säugling gebeugt, ihre Besänftigungsversuche vereinten.

»Noch immer nicht besser?« frug Aleksey Aleksandrowitsch.

»Sehr unruhig,« antwortete flüsternd die Kinderfrau.

»Miß Edward meint, daß möglicherweise die Amme keine Milch hat,« fuhr er fort.

»Das glaube ich auch, Aleksey Aleksandrowitsch.«

»Aber weshalb sagt Ihr das nicht?«

»Wem sollte man es sagen? Anna Arkadjewna sind noch immer krank,« versetzte die Kinderfrau mürrisch.

Die Kinderfrau war eine alte Dienerin im Hause, und in diesen einfachen Worten schien Aleksey Aleksandrowitsch ein Hinweis auf seine Situation zu liegen.

Das Kind schrie noch stärker, es zappelte und war schon heißer. Die Kinderfrau winkte mit der Hand, ging zu dem Kinde, nahm es von den Armen der Amme und begann es im Gehen zu wiegen.

»Es wird nötig sein, daß der Arzt die Amme untersucht,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch.

Die dem Augenschein nach gesunde, schmucke Amme brummte in der Besorgnis gekündigt zu bekommen, etwas in den Bart, und barg, verächtlich über den Zweifel an ihrem Milchreichtum lächelnd, den mächtigen Busen. In diesem Lächeln fand Aleksey Aleksandrowitsch wiederum nur einen Hohn über seine Lage.

»Armes Kind,« sagte die Kinderfrau, dem Säugling zuzischelnd, und setzte ihren Weg auf und nieder fort.

Aleksey Aleksandrowitsch ließ sich auf einem Stuhl nieder und schaute mit leidendem kummervollem Ausdruck auf die hin und her gehende Kinderfrau.

Als man das endlich ruhig gewordene Kind in ein tiefes Bettchen gelegt hatte und die Kinderfrau das Kissen geordnet und es verlassen hatte, erhob sich Aleksey Aleksandrowitsch und schritt, mühsam auf den Fußspitzen gehend, zu dem Kinde. Eine Minute hindurch schwieg er und blickte mit dem nämlichen kummervollen Antlitz auf das Kind; plötzlich aber erschien ein Lächeln, welches ihm Haar und Stirnhaut bewegte, auf seinen Zügen und ebenso leise verließ er das Zimmer.

Im Speisezimmer schellte er und befahl dem eintretenden Diener, nochmals nach dem Arzte zu schicken. Es verursachte ihm Verdruß, daß sich sein Weib nicht um dieses reizende kleine Wesen kümmerte, und in diesem Verdruß über sie verspürte er keine Neigung, sich zu ihr zu begeben, wollte er auch nicht die Fürstin Betsy sehen, aber sein Weib hätte befremdet sein können, wenn er, gegen seine Gewohnheit, nicht zu ihr kam, und so begab er sich denn, allerdings nur mit Selbstüberwindung, nach ihrem Schlafgemach. Als er über den weichen Teppich zu der Thür ging, hörte er unwillkürlich ein Gespräch, welches er nicht hören wollte.

– »Wenn er nicht abreiste, so würde ich Eure Weigerung verstehen, ebenso wie die seinige. Aber Euer Mann dürfte doch hierüber erhaben sein,« sagte Betsy.

»Nicht meines Mannes halber, sondern meinetwegen will ich es nicht. Sprecht nicht so« – antwortete erregt die Stimme Annas.

»Ja, aber Ihr müßt doch unbedingt wünschen, von einem Manne Abschied zu nehmen, der sich Euretwegen erschießen wollte« –

»Eben deswegen will ich es ja nicht.«

Aleksey Aleksandrowitsch blieb mit erschrecktem und schuldbewußtem Ausdruck stehen und wollte leise wieder umkehren, allein er kam zu der Ansicht, daß dies seiner unwürdig sei und kehrte wieder um, hustete, und schritt nach dem Schlafzimmer. Die Stimmen verstummten und er trat ein.

Anna saß in einem grauen Hauskleid, mit kurz frisiertem, dicht emporstehenden schwarzen Haar auf dem runden Kopfe, auf einer Couchette. Wie stets, verschwand bei dem Anblick ihres Gatten plötzlich alles Leben von ihren Zügen; sie senkte das Haupt, und blickte unruhig nach Betsy. Diese, nach der nagelneuesten Mode gekleidet, in einem Hute der auf ihrem Haupte schwebte, wie der Schirm über einer Lampe, und in einer taubenblauen Robe mit scharfhervortretenden, schrägen Streifen, die auf der Taille nach der einen Seite hin, auf dem Rock nach der entgegengesetzten liefen, saß neben Anna, ihre plattaufragende Büste steif haltend, und begrüßte, den Kopf senkend, Aleksey Aleksandrowitsch mit satirischem Lächeln.

»Ah,« machte sie, wie verwundert, »das freut mich ja außerordentlich, daß Ihr zu Haus seid. Ihr zeigt Euch ja gar nicht und ich habe Euch nicht gesehen seit der Krankheit Annas! Freilich habe ich gehört – Eure großen Sorgen! – Ja, Ihr seid ein bewundernswürdiger Mann!« sagte sie mit bedeutungsvoller und höflicher Miene, gleich als wollte sie ihn mit einem Orden der Großmut für seine Handlungsweise an der Gattin belohnen.

Aleksey Aleksandrowitsch verbeugte sich kalt, küßte seiner Frau die Hand und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

»Es scheint, als ob mir besser wäre,« sagte diese, seinem Blicke ausweichend.

»Aber Ihr habt noch etwas wie Fieberröte im Gesicht,« fuhr er fort, das Wort »Fieber« besonders hervorhebend.

»Ich habe gewiß zu viel mit ihr gesprochen,« bemerkte Betsy; »und fühle, daß dies ein Egoismus meinerseits gewesen ist. Ich werde sogleich aufbrechen.«

Sie erhob sich, doch Anna, plötzlich errötend, ergriff schnell ihre Hand.

»Nein, bleibt noch, bitte. Ich muß Euch sagen – nein, Euch,« wandte sie sich an Aleksey Aleksandrowitsch und die Röte überzog ihr Hals und Stirn – »ich will und kann vor Euch kein Geheimnis haben,« fügte sie hinzu.

Aleksey Aleksandrowitsch knackte mit den Fingern und ließ den Kopf sinken.

»Betsy hat mir mitgeteilt, daß Graf Wronskiy zu uns zu kommen wünscht, um sich von uns vor seiner Abreise nach Taschkent zu verabschieden.« Sie blickte ihren Gatten nicht an und hastete augenscheinlich, alles herauszusagen, so schwer es ihr auch werden mochte, »ich habe geantwortet, daß ich ihn nicht empfangen könne.«

»Ihr habt gesagt, liebste Freundin, daß dies von Aleksey Aleksandrowitsch abhängen würde,« verbesserte Betsy.

»O nein; ich vermag ihn nicht zu empfangen und dies führte auch zu nichts« – sie hielt plötzlich inne und schaute fragend auf ihren Gatten, der sie nicht anblickte. »Mit einem Worte, ich will nicht« – –

Aleksey Aleksandrowitsch rückte näher und wollte ihre Hand ergreifen. Bei der ersten Bewegung zog sie jedoch ihre Hand von der seinen zurück, die, feucht und mit den großen, hervortretenden Adern, sie suchte, drückte sie ihm aber dann, augenscheinlich voll Selbstüberwindung.

»Ich danke Euch sehr für Euer Vertrauen, doch« – antwortete er, mit Verwirrung und Verdruß empfindend, daß er das, was er so leicht und klar vor sich selbst entscheiden konnte, in Gegenwart der Fürstin Twerskaja nicht zu bestimmen vermochte, da diese für ihn eine Personifizierung jener rohen Macht war, die in den Augen der Welt sein Leben beherrschte und ihn verhinderte, sich seiner Empfindung der Liebe und Vergebung ganz zu weihen. Er stockte und schaute die Fürstin Twerskaja an.

»Nun, lebt wohl dann, Liebste,« sagte Betsy, sich erhebend. Sie küßte Anna und ging, Aleksey Aleksandrowitsch begleitete sie.

»Aleksey Aleksandrowitsch! Ich kenne Euch als einen wahrhaft edelsinnigen Mann,« sagte Betsy, in dem kleinen Salon stehen bleibend und ihm nochmals auffallend stark die Hand drückend. »Ich bin nur eine fremde Person hier, aber ich liebe Anna und achte Euch so sehr, daß ich mir einen Rat erlauben möchte. Empfangt ihn doch. Aleksey Wronskiy ist die personifizierte Ehrenhaftigkeit; er wird nach Taschkent gehen.«

»Ich danke Euch, Fürstin, für Eure Teilnahme und Ratschläge. Aber die Frage, ob meine Frau jemand empfangen kann oder nicht, muß diese selbst entscheiden.«

Er sprach dies, nach seiner Gewohnheit die Brauen mit Würde emporziehend, dachte aber sofort daran, daß es, wie auch seine Worte lauten mochten, eine Würde in seiner Lage nicht mehr geben könne. Und dies erkannte er auch an dem verhaltenen, bösen und sarkastischen Lächeln, mit welchem Betsy ihn nach diesen Worten anblickte.

20.

Aleksey Aleksandrowitsch entließ Betsy mit einer Verbeugung im Salon und ging wieder zu seinem Weibe. Anna hatte gelegen, als sie jedoch seine Schritte vernahm, die sitzende Stellung wie vorher eingenommen und blickte ihn nun erschreckt an. Er sah, daß sie geweint hatte.

»Ich danke dir sehr für dein Vertrauen zu mir,« wiederholte er in russischer Sprache sanft die auf französisch in Gegenwart Betsys geäußerten Worte, und ließ sich neben ihr nieder. Als er russisch sprach und sie dabei mit »du« anredete, versetzte Anna dieses »du«, in unbezwingbare Erregung. »Ich bin dir sehr dankbar für deinen Entschluß; auch ich glaube, daß, da er abreist, nicht mehr das geringste Bedürfnis für den Grafen Wronskiy vorhanden ist, hierher zu kommen. Übrigens« –

»Das habe ich ja schon gesagt – wozu es noch einmal wiederholen?« unterbrach ihn Anna plötzlich, mit einer Gereiztheit, die sie nicht imstande war, zu unterdrücken. »Nicht das geringste Bedürfnis,« dachte sie, »soll für einen Menschen vorhanden sein, zu kommen, um Abschied zu nehmen von dem Weibe, welches er liebt, für welches er untergehen wollte und sich vernichtet hat, und das nicht ohne ihn zu leben vermag. Nicht die geringste Notwendigkeit!« Sie preßte die Lippen aufeinander und senkte die blitzenden Augen nieder auf seine Hände mit den aufgetretenen Adern, die sich langsam aufeinander rieben. »Wir wollen nie mehr davon reden,« fügte sie, ruhiger geworden, hinzu.

»Ich habe es dir freigestellt, die Frage zu entscheiden, und freue mich sehr, zu sehen« – begann Aleksey Aleksandrowitsch.

– »Daß mein Wunsch mit dem Euren übereinstimmt,« vollendete Anna schnell, erbittert, daß er so langsam sprach, während sie doch schon im voraus alles wußte, was er sagen würde.

»Ja,« bestätigte er, »und die Fürstin Twerskaja mischt sich völlig unberufen in die schwierigsten Familienangelegenheiten. Im Besonderen« –

»Ich glaube an nichts von alledem, was man über sie spricht,« sagte Anna schnell, »ich weiß nur, daß sie mich aufrichtig liebt.«

Aleksey Aleksandrowitsch seufzte und schwieg. Sie spielte mit den Quasten ihres Hauskleides, den Blick auf ihn gerichtet voll des quälenden Gefühls jenes physischen Ekels vor ihm, wegen dessen sie sich selbst Vorwürfe machte, und den sie doch nicht zu überwinden vermochte. Jetzt wünschte sie nur noch Eins – erlöst zu sein von seiner erkältenden Gegenwart.

»Ich habe soeben nach dem Arzte geschickt,« hub Aleksey Aleksandrowitsch wieder an.

»Ich bin gesund; wozu einen Arzt für mich?«

»Nicht so: die Kleine schreit: die Amme soll zu wenig Milch haben.«

»Weshalb hast du denn mir nicht erlaubt, das Kind zu nähren, obwohl ich dich darum anflehte? Es bleibt sich gleich,« – Aleksey Aleksandrowitsch verstand, was das »Gleich« bedeutete – »es ist ein kleines Kind und man läßt es verhungern.« Sie schellte und befahl, das Kind zu bringen, »ich habe darum gebeten, es nähren zu dürfen; man hat es mir nicht gestattet, und macht mir jetzt doch Vorwürfe.«

»Ich mache keinen Vorwurf« –

»Nein. Ihr nicht! Mein Gott! Warum bin ich nicht gestorben?« Sie brach in Schluchzen aus. »Vergieb mir, ich war gereizt, ich bin ungerecht« – sagte sie, zur Besinnung kommend; »aber geh« –

»Nein! Das kann nicht so bleiben,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch entschlossen zu sich selbst, als er seine Frau verließ. Noch nie war ihm die Unmöglichkeit seiner Lage in den Augen der Welt und die Abneigung seines Weibes vor ihm, sowie überhaupt die Macht jener rohen, geheimnisvollen Kraft, welche im Widerspruch mit seiner seelischen Stimmung, sein Leben leitete und die Ausführung ihres Willens, die Veränderung seiner Beziehungen zu seinem Weibe forderte – mit solcher Deutlichkeit vor Augen getreten, als heute. Er erkannte klar, daß die gesamte Gesellschaft und sein Weib nicht minder, von ihm etwas heischten, was aber – er konnte es nicht erfassen. – Er fühlte nur, daß sich hierüber in seiner Seele ein Gefühl des Zornes regte, welches seine Ruhe vernichtete und das ganze Verdienst seiner heroischen Handlungsweise. Er hatte gemeint, daß es für Anna am besten war, wenn sie die Beziehungen zu Wronskiy abbrach, aber, wenn jedermann fand, daß dies unmöglich sein würde, so war er bereit, dieses Verhältnis sogar aufs neue zu gestatten, sobald es nur nicht durch sichtbare Folgen geschändet würde; er wollte die beiden nicht voneinander trennen und doch auch seine eigene Situation nicht ändern. So übel diese auch erscheinen mochte, sie war doch noch besser, als ein Bruch, bei welchem er in eine unentwirrbare, schmähliche Stellung geriet und sich selbst alles dessen beraubte, was er liebte. Er fühlte sich ohnmächtig; er wußte im voraus, daß alle gegen ihn sein würden und man ihm nicht gestatten würde, zu thun, was ihm jetzt so naturgemäß und gut erschien, sondern ihn zwinge, auszuführen, was schlecht war, ihnen aber als pflichtgemäß erschien.

21.

Betsy hatte den Saal noch nicht verlassen, als ihr Stefan Arkadjewitsch, soeben von Jelisejeff kommend, wo es frische Austern gegeben hatte, in der Thür begegnete.

»Ah, Fürstin! Welch angenehmes Zusammentreffen!« rief er aus. »Ich war bei Euch!«

»Leider nur für eine Minute, da ich soeben wegfahre,« erwiderte Betsy lächelnd, ihren Handschuh anziehend.

»Verzieht, Fürstin, mit dem Anziehen des Handschuhs – laßt mich Eure schöne Hand küssen. Für nichts bin ich der Rückkehr zu den alten Sitten so dankbar, als für den Handkuß.« Er küßte Betsys Hand, »wann werden wir uns wiedersehen?«

»Leichtfuß!« antwortete Betsy lächelnd.

»O; ich bin sehr viel wert, denn ich bin ein Mensch von Bedeutung geworden, da ich nicht nur meine eigenen, sondern auch fremde Familienangelegenheiten in Ordnung bringe,« sagte er mit wichtiger Miene.

»Ah, das freut mich sehr,« versetzte Betsy, die sogleich verstand, daß er von Anna sprach, und in den Saal zurückkehrend, traten sie in eine Ecke. »Er wird sie umbringen,« raunte ihm Betsy bedeutungsvoll zu, »das ist doch unmöglich, unmöglich!« –

»Es freut mich sehr, daß Ihr so denkt,« antwortete Stefan Arkadjewitsch kopfschüttelnd und mit ernsthaftem, wehmütigem und mitleidigem Ausdruck, »ich bin deswegen von Petersburg hergekommen.«

»Die ganze Stadt spricht davon,« sagte sie, »es ist eine unmögliche Situation, Anna schwindet mehr und mehr dahin, und begreift nicht, daß sie eine von jenen grauen ist, welche mit ihren Empfindungen nicht tändeln dürfen. Es ist hier nur Eines von zwei Dingen möglich: Entweder man nimmt sie mit fort und handelt energisch, oder – Ehescheidung. – Diese Lage aber erdrückt sie.«

»Ja, ja wohl – so ist es,« – sagte Oblonskiy seufzend, »deswegen bin ich eben hergekommen – das heißt, nicht eigentlich deswegen – ich bin Kammerherr geworden – nun, – und da muß man Dankvisiten abstatten. Aber die Hauptsache ist doch die Ordnung dieser Angelegenheit.«

»Gott helfe Euch dabei,« antwortete Betsy.

Nachdem Stefan Arkadjewitsch die Fürstin Betsy bis auf den Flur hinaus begleitet und ihr nochmals die Hand oberhalb des Handschuhs, wo der Puls schlägt geküßt, ihr auch nochmals eine solche Menge schlüpfriger Albernheiten vorgelogen hatte, daß sie nicht mehr wußte, ob sie böse werden oder lachen sollte, begab sich Stefan Arkadjewitsch zu seiner Schwester. Er fand diese in Thränen.

Ungeachtet der von Heiterkeit übersprudelnden Stimmung, in welcher sich Stefan Arkadjewitsch befand, ging dieser doch natürlich sogleich zu jenem gefühlvollen, poetisch verzückten Ton über, der zu ihrer Gemütsverfassung paßte. Er frug sie nach ihrem Befinden und wie sie den Morgen verbracht habe.

»Sehr, sehr schlecht; es ist Tag und Nacht so und stets so gewesen, wird auch so bleiben,« antwortete sie.

»Mir scheint, du giebst dich dem Trübsinn hin; das muß man abschütteln, man muß dem Leben ins Gesicht schauen. Ich weiß Wohl, daß das schwer ist, allein« –

»Ich habe gehört, daß die Frauen die Männer selbst wegen ihrer Laster lieben,« begann Anna plötzlich, »aber ich hasse ihn wegen seiner Tugend. Ich vermag nicht mit ihm zu leben; verstehe mich, sein Anblick wirkt physisch auf mich und ich gerate außer mir. Ich kann nicht, ich kann nicht mit ihm leben! Was soll ich nun thun? Ich war unglücklich und dachte, ich könne nicht noch unglücklicher werden, aber diesen entsetzlichen Zustand, welchen ich jetzt durchlebe, habe ich mir nicht vorstellen können. Wirst du es glauben, daß ich ihn, Wohl Wissend, daß er ein guter, ausgezeichneter Mensch ist, und ich nicht den Fingernagel von ihm wert bin – dennoch hasse? Ich hasse ihn ob seines Edelmuts. Mir aber bleibt nichts übrig, als« –

Sie wollte sagen »der Tod«, doch Stefan Arkadjewitsch ließ sie nicht ausreden.

»Du bist krank und aufgeregt,« sagte er, »glaube mir, du übertreibst ungeheuer. Es ist durchaus nichts so Furchtbares bei der Sache.«

Stefan Arkadjewitsch lächelte. Niemand an Stefan Arkadjewitschs Stelle, würde sich, mit einer so verzweifelten Aufgabe betraut, ein Lächeln erlaubt haben – ein Lächeln wäre roh erschienen – aber in seinem Lächeln lag soviel Gutmütigkeit und fast weibliche Zärtlichkeit, daß dasselbe nicht verletzte, sondern weich stimmte und besänftigte. Seine halblaute, beruhigende Rede und sein Lächeln wirkte mildernd und stillend wie Mandelöl. Auch Anna empfand dies bald.

»Nein, Stefan,« sagte sie, »ich bin verloren, verloren! Schlimmer noch als verloren. Ich bin noch nicht verloren, ich kann nicht sagen, daß alles zu Ende sei – im Gegenteil, ich fühle, daß es noch nicht vorbei ist. Ich bin einer gespannten Saite gleich, die springen muß. Aber noch ist es nicht vorbei – es wird entsetzlich enden.«

»Nicht doch; man kann die Saite behutsam nachlassen. Es giebt keine Situation aus der sich nicht ein Ausweg fände.«

»Ich habe gedacht und gedacht, aber nur einen gefunden«

Er erkannte wiederum an ihrem schreckenvollen Blick, daß dieser einzige Ausweg, nach ihrer Meinung, der Tod sei, und ließ sie abermals nicht ausreden.

»Keineswegs,« sagte er, »gestatte. Du kannst deine Lage nicht so erkennen, wie ich. Laß mich dir aufrichtig meine Meinung äußern.« Er lächelte abermals vorsichtig in seiner süßen Art. »Ich will zunächst damit beginnen: Du hast einen Mann geheiratet, der zwanzig Jahre älter ist als du. Du hast diesen Mann ohne Liebe geheiratet oder vielmehr, ohne die Liebe kennen gelernt zu haben. Dies war ein Fehler, wollen wir sagen.«

»Ein furchtbarer Fehler,« sagte Anna.

»Doch ich wiederhole: Derselbe ist eine vollendete Thatsache; du hattest darauf – ich will sagen – das Unglück, deinen Mann nicht zu lieben. Dies ist ein Unglück, auch das ist eine vollendete Thatsache. Dein Mann hat das anerkannt und dir verziehen.« Er hielt nach jedem Satze inne, eine Erwiderung erwartend, doch sie entgegnete nichts. »So steht es, jetzt aber ist die Frage, kannst du fortfahren, mit deinem Manne zusammenzuleben? Wünschest du das? Wünscht er das?«

»Ich weiß nichts, nichts.«

»Aber du selbst hast doch gesagt, daß du ihn nicht ausstehen kannst.«

»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich stelle das in Abrede; ich weiß nichts und begreife nichts.«

»Aber erlaube doch« –

»Du kannst das nicht verstehen. Ich fühle, daß ich mit dem Kopfe zuerst in einen Abgrund hinabstürze und mich nicht retten darf; es auch nicht kann.«

»O doch, wir wollen dir ein Falltuch unterbreiten und dich auffangen. Ich begreife dich, begreife, du kannst es nicht auf dich nehmen, deinen Wünschen, deinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.«

»Ich wünsche nichts, gar nichts – nur das Eine, es möchte bald vorbei sein.«

»Aber er sieht und weiß das ja. Denkst du denn, er litte etwa weniger als du? Du marterst dich und er martert sich, und was soll daraus hervorgehen? Da eine Trennung alles löst« – Stefan Arkadjewitsch brachte diesen wichtigen Gedanken nicht ohne Überwindung heraus und blickte sie jetzt bedeutungsvoll an.

Sie antwortete nicht und schüttelte nur verneinend ihr frisiertes Haupt, aber an dem Ausdruck des plötzlich in der alten Schönheit wieder aufglänzenden Gesichts erkannte er, daß sie die Scheidung nur deshalb nicht wünschte, weil sie ein solches Glück für unmöglich hielt.

»Ihr thut mir unsäglich leid, und wie glücklich würde ich sein, könnte ich die Sache in Ordnung bringen,« fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, schon kühner lächelnd. »Sprich nicht, sprich gar nichts! Wenn mir doch Gott die Gabe verliehen hätte, so zu reden, wie ich fühle. Ich werde zu deinem Manne gehen.« Anna blickte ihn mit sinnenden, glänzenden Augen an, ohne etwas zu erwidern.«

13.

Als man sich von der Tafel erhoben hatte, wollte Lewin Kity in den Salon folgen, doch fürchtete er, ihr könne dies nicht angenehm sein als eine allzugroße Offenheit in seinen Aufmerksamkeiten für sie. Er blieb also im Kreise der Männer zurück, an dem allgemeinen Gespräch teilnehmend. Gleichwohl aber fühlte er, ohne Kity zu sehen, ihre Bewegungen, ihre Blicke und den Platz, an welchem sie sich im Salon befinden mochte.

Sofort und ohne die geringste Selbstüberwindung erfüllte er das Versprechen, welches er ihr gegeben hatte, stets gut über alle Menschen denken und alle lieben zu wollen.

Das Gespräch drehte sich um das Gemeingutwesen, in welchem Peszoff eine gewisse besondere Basis erblickte. Lewin war weder mit Peszoff, noch mit seinem Bruder im Einverständnis, welcher letztere wieder nach seiner Weise die Bedeutung der russischen Obschtschina zugleich anerkannte wie verwarf, allein er sprach mit, um sie zu versöhnen und ihre gegenseitigen Einwände zu mildern. Er interessierte sich ganz und gar nicht für das, was er selbst sprach, und noch weniger für das, was jene äußerten, er wünschte nur das Eine – daß es ihnen und Allen überhaupt wohl und angenehm sein möchte. Er wußte jetzt, was allein für ihn von Bedeutung war, und dieses Eine war anfangs dort drüben im Salon gewesen, hatte sich aber dann genähert und war in der Thür stehen geblieben. Ohne sich umzuwenden, fühlte er den auf sich gerichteten Blick und ein Lächeln, und nun mußte er sich umwenden. Sie stand in der Thür mit Schtscherbazkiy und blickte ihn an.

»Ich dachte, Ihr wolltet zum Klavier gehen?« sagte er, zu ihr hintretend. »Das fehlt mir freilich auf dem Lande, die Musik.«

»Ach nein; wir kamen nur mit der Absicht, Euch zu rufen, und ich danke Euch,« sagte sie, ihn mit einem Lächeln, als wäre dies ein Geschenk, belohnend, »daß Ihr gekommen seid. Was ist es doch für ein Vergnügen, zu debattieren? Es überzeugt doch einmal keiner den andern!«

»Es ist wahr,« versetzte Lewin, »pflegt es doch meistenteils so zu sein, daß man gerade über das am heftigsten streitet, was man nicht zu begreifen vermag, und was doch gerade unser Gegner beweisen will.«

Lewin hatte auch bei Debatten zwischen den klügsten Geistern häufig bemerkt, daß nach außerordentlichen Anstrengungen, einem mächtigen Aufwand von logischen Feinheiten und Worten, die Streitenden schließlich zu der Einsicht gekommen waren, daß das, was sie lange einander zu beweisen gestrebt hatten, ihnen längst schon, bereits von Anfang der Diskussion an, bekannt gewesen war, daß sie aber den Unterschied liebten und deswegen nicht nennen wollten, was sie vertraten, um eben nicht niederdebattiert zu werden. Er hatte oft die Erfahrung gemacht, daß man im Lauf einer Debatte das erfaßt, was der Gegner vertritt, und dieses selbst ebenfalls vertritt; man räumt dann ein und alle Argumente werden, als unnütz, hinfällig; er hatte aber auch bisweilen umgekehrt erfahren, daß man schließlich ausspricht, was man selbst vertritt und für das man auf Argumente sann. Wenn dieser Fall eintrat, und man sich gut und offen ausdrückte, da gab plötzlich der Gegner nach und stand von der weiteren Debatte ab. Dies eben wollte er sagen.

Sie legte die Stirn in Falten und bemühte sich, ihn zu verstehen, doch kaum hatte er begonnen, zu erklären, da hatte sie ihn schon begriffen.

»Ich verstehe; man muß erkannt haben, wofür man streitet, was man vertritt; dann erst ist es möglich« –

Sie hatte seinen schlecht ausgedrückten Gedanken vollständig erfaßt. Lewin lächelte freudig; dieser Übergang aus dem verwickelten wortreichen Kampfe mit Peszoff und seinem Bruder zu dieser lakonischen und klaren, fast ohne Worte gegebenen Mitteilung der kompliziertesten Ideen war ihm überraschend.

Schtscherbazkiy verließ die beiden und Kity ging zu einem aufgestellten Spieltisch, ließ sich hier nieder, nahm ein Stück Kreide zur Hand und begann damit auf dem neuen grünen Tuch Kreise zu zeichnen.

Man hatte die bei Tisch gepflogene Unterhaltung über die Freiheit und die Arbeit der Frauen wieder aufgenommen. Lewin war der Meinung Darja Aleksandrownas, daß ein Mädchen, welches nicht heiratete, für sich einen weiblichen Wirkungskreis in der Familie finde. Er stützte dies damit, daß keine einzige Familie der Dienste einer Helferin entraten könne, daß in jeder unbemittelten oder bemittelten Familie Ammen wären und auch sein müßten, gleichviel ob sie gemietet ist, oder der Familie angehört.

»Nun,« antwortete Kith, errötend, aber nur um so freier mit ihren treuherzigen Augen auf ihn blickend, »das Mädchen kann doch auch so gestellt sein, daß sie nicht ohne Erniedrigung in eine Familie geht; ich selbst« –

Er verstand ihren Wink.

»Ja, ja,« erwiderte er, »ja, ja, Ihr habt recht, Ihr habt recht!«

Und er hatte jetzt alles verstanden, was Peszoff bei Tische über die Freiheit der Frauen auseinandergesetzt hatte, allein dadurch, daß er in dem Herzen Kitys noch die Furcht vor dem Mägdedienst und der Erniedrigung sah und in seiner Liebe zu ihr diese Furcht vor der Erniedrigung mit empfand und so mit einem Schlage von seinen Einwürfen Abstand nahm.

Eine Pause trat ein; Kity zeichnete noch immer mit der Kreide auf dem Tische. Ihre Augen schimmerten in stillem Glanze, und indem er ihre Stimmung zu teilen suchte, empfand er in seinem ganzen Wesen eine mehr und mehr wachsende, beglückende Aufregung.

»Ah, da habe ich den ganzen Tisch vollgemalt!« sagte Kity und machte, die Kreide niederlegend, eine Bewegung, als wollte sie aufstehen.

»Wie, soll ich jetzt allem hier bleiben ohne sie?« dachte er mit Schrecken und ergriff nun seinerseits die Kreide; »bleibt doch,« sagte er, sich an den Tisch setzend. »Schon lange habe ich Euch nach etwas fragen wollen!«

Er blickte ihr offen in die freundlichen, wenn auch erschreckten Augen.

»Bitte schön, fragt.«

»Nun,« begann er, und schrieb mit Kreide eine Anzahl Anfangsbuchstaben auf den Tisch: »A. I. M. A. E. K. N. S. H. D. O. D.« – Diese Buchstaben bedeuteten: »Als Ihr mir antwortetet ›es kann nicht sein‹, so hieß das, ›niemals‹ oder nur ›damals‹?« –

Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie diesen verwickelten Satz hätte verstehen können, aber er schaute sie mit einem Ausdruck an, der bewies, daß sein Leben davon abhinge, oh sie diese Worte verstehe oder nicht.

Sie blickte ihn ernst an; dann stemmte sie die gerunzelte Stirn auf die Hand und begann zu lesen. Bisweilen blickte sie auf ihn, ihn mit ihrem Blick befragend »ist es das, was ich mir denke?«

»Ich habe verstanden,« sagte sie errötend.

»Was ist dies für ein Wort?« frug er, auf das N weisend, mit welchem er das Wort »niemals« bezeichnet hatte.

»Dieses Wort bedeutet ›niemals‹, sagte sie – »aber das ist nicht wahr!«

Schnell wischte er das Geschriebene hinweg, reichte ihr die Kreide und stand auf. Sie schrieb: »I. K. D. N. A. A.« –

Dolly hatte sich völlig über den Schmerz, der ihr durch das Gespräch mit Aleksey Aleksandrowitsch verursacht worden war, getröstet, als sie die beiden da bemerkte: Kity, die Kreide in der Hand mit schämigem, glücklichem Lächeln zu Lewin aufblickend und zu dessen schöner Gestalt, wie er über den Tisch gebeugt stand, seinen flammenden Blick bald auf den Tisch, bald auf sie richtend. Plötzlich erhellten sich seine Züge; er hatte verstanden; das Geschriebene bedeutete: »Ich konnte damals nicht anders antworten.«

Er blickte sie scheu und fragend an,

»Nur damals?«

»Ja,« antwortete ihm ihr Lächeln.

»Und – jetzt?« frug er.

»Lest hier. Ich werde sagen, was ich wünsche; sehr wünsche!«

Sie schrieb die Anfangsbuchstaben: »D. W. D. V. U. V. K. W. G. I.«, das sollte bedeuten: »Daß wir doch vergeben und vergessen könnten, was gewesen ist!«

Er nahm die Kreide mit zitternden Fingern, zerbrach sie und schrieb die Anfangsbuchstaben des folgenden: »Ich habe weder zu vergessen, noch zu vergeben; ich habe nie aufgehört, Euch zu lieben!«

Sie blickte ihn an mit unverändertem Lächeln.

»Ich habe verstanden,« antwortete sie flüsternd.

Er setzte sich nieder und schrieb einen langen Satz. Sie verstand alles und frug ihn nicht, ob sie richtig verstanden habe; sie nahm die Kreide und antwortete sogleich.

Lange Zeit vermochte er nicht zu erkennen, was sie geschrieben hatte, und er blickte ihr häufig in die Augen. Es wurde ihm dunkel vor Glück. Es gelang ihm nicht, die Worte zu interpretieren, die sie meinte, aber in ihren wunderschönen, von Seligkeit schimmernden Augen erkannte er alles, was ihm zu wissen nötig war, und er schrieb drei Buchstaben, war aber noch nicht fertig damit, als sie schon seiner Hand nachgelesen hatte und selbst vollendete, indem sie als Antwort ein »Ja« niederschrieb.

»Spielt Ihr da ›Sekretär‹?« frug jetzt herantretend der alte Fürst. »Wir müssen nun fort, wenn du rechtzeitig ins Theater willst.«

Lewin erhob sich und begleitete Kity bis zur Thür.

In ihrer Unterhaltung war alles gesagt worden; es war nun ausgesprochen, daß sie ihn liebte, und ihren Eltern mitteilen wolle, daß er morgen früh zu ihnen kommen würde.

14.

Als Kity weggefahren und Lewin allein geblieben war, empfand dieser eine solche Unruhe in ihrer Abwesenheit, eine so unerträgliche Sehnsucht, so schnell als möglich die Zeit bis zum Morgen des anderen Tages hinzubringen, wo er sie wiedersehen sollte um sich für immer mit ihr zu vereinen, daß er vor den noch verbleibenden vierzehn Stunden, die ihm noch ohne sie bevorstanden, wie vor dem Tode erschrak. Er mußte um jeden Preis mit jemand sprechen, und um nicht einsam zu sein, um sich über die Zeit hinwegzutäuschen, wäre Stefan Arkadjewitsch für ihn der willkommenste Partner gewesen; aber dieser fuhr, wie er sagte, zu einem Abend, in Wirklichkeit jedoch nach dem Ballett. Lewin hatte ihm nur sagen können, daß er glücklich sei und ihn liebe und nie, nie vergessen werde, was er für ihn gethan. Der Blick und das Lächeln Stefan Arkadjewitschs bewiesen Lewin, daß jener dieses Gefühl verstehe, wie er es zu verstehen hatte.

»Nun, wäre es jetzt nicht Zeit zum Sterben?« antwortete Stefan Arkadjewitsch, Lewin gerührt die Hand drückend.

»Nie!« antwortete dieser.

Darja Aleksandrowna hatte ihn gleichfalls beim Abschied förmlich beglückwünscht, und gesagt: »Wie freue ich mich, daß Ihr wieder mit Kity zusammengetroffen seid: man muß eben alte Freundschaften hochhalten!«

Lewin waren diese Worte Darjas unangenehm gewesen. Sie konnte ja doch nicht verstehen, wie erhaben dies alles, wie unzugänglich es für sie war, und sie durfte daher nicht wagen, es zu erwähnen. Lewin verabschiedete sich, gesellte sich aber, um nicht allein sein zu müssen, zu seinem Bruder.

»Wohin fährst du?«

»In eine Sitzung.«

»Ich begleite dich – geht es?«

»Warum nicht? Komm mit,« antwortete Sergey Iwanowitsch lächelnd, »was ist denn eigentlich heute mit dir?«

»Mit mir? Mit mir ist das Glück,« antwortete Lewin, das Fenster des Wagens herablassend in welchem sie fuhren. »Fühlst du dich hier wohl? Es ist schwül. Mit mir ist das Glück. Weshalb hast du nie geheiratet?« –

Sergey Iwanowitsch lächelte.

»Das freut mich sehr; sie scheint ein reizendes Mädchen« – begann er.

– »Sprich nicht so, nicht so, nicht so,« rief Lewin, ihn mit beiden Händen am Kragen seines Pelzes fassend. – »Ein reizendes Mädchen!« – Das waren so einfache, prosaische Worte, so wenig seiner Empfindung entsprechend.

Sergey Iwanowitsch begann heiter zu lachen, was bei ihm selten der Fall war.

»Nun, aber ich darf doch sagen, daß ich mich sehr darüber freue.«

»Das darf man erst morgen, morgen; jetzt weiter nichts! Nichts, gar nichts; schweig also,« versetzte Lewin, und fügte dann hinzu, »ich liebe dich sehr; werde ich denn der Sitzung mit beiwohnen können?«

»Versteht sich, kannst du.«

»Wovon ist denn heute die Rede?« frug Lewin, der fortwährend lächelte.

Sie langten in der Sitzung an. Lewin hörte zu, als der Sekretär mit stockender Stimme das Protokoll verlas, welches er augenscheinlich selbst nicht verstand; doch bemerkte Lewin an den Zügen dieses Sekretärs, welch ein lieber, guter und prächtiger Mensch er war. Augenscheinlich wurde ihm das an der Weise, wie er, das Protokoll verlesend, aus dem Kontext kam und in Verwirrung geriet. Es begannen hierauf die Verhandlungen. Man debattierte über gewisse Summen und über die Aufführung einiger Essen. Sergey Iwanowitsch kritisierte beißend zwei Mitglieder der Sitzung und sprach lange und erfolgreich; ein anderes Mitglied, welches sich Notizen auf einem Papier gemacht hatte, geriet anfangs ins Schwanken, replizierte ihm aber dann sehr boshaft und gleichwohl freundlich.

Darauf sprach auch Swijashskiy – der gleichfalls hier war – gut und gediegen. Lewin hörte ihnen zu und erkannte klar, daß weder die besprochenen Summen und die Essen da wären, noch, daß die Sprecher wirklich in Erregung geraten wären, sondern alle so gut seien, so vorzügliche Menschen, und alles so gut und friedlich unter ihnen vor sich ginge. Sie selbst störten niemand und alle befanden sich wohl. Bemerkenswert erschien es Lewin, daß sie ihm alle jetzt durch und durch erkennbar waren; er erkannte an kleinen, früher unbemerkbar gewesenen Anzeichen den Geist eines jeden Einzelnen, und sah klar, daß sie alle gut waren. Insbesondere liebte heute jedermann Lewin ganz außerordentlich. Er nahm dies an der Art und Weise wahr, wie man mit ihm sprach, wie freundlich und liebevoll selbst die Unbekannten alle nach ihm blickten.

»Nun, was sagst du, bist du zufrieden?« frug ihn Sergey Iwanowitsch.

»Sehr. Ich hätte nie gedacht, daß dies so interessant sein würde! Herrlich; sehr gut!«

Swijashskiy erschien jetzt bei Lewin und lud ihn zum Thee zu sich ein. Lewin vermochte nicht mehr zu begreifen, noch sich zu entsinnen, worüber er mit Swijashskiy unzufrieden gewesen war, und was er in demselben gesucht hatte. Er war doch ein ganz verständiger und wunderbar guter Mensch.

»Sehr erfreut,« versetzte er und frug nach Gattin und Schwägerin. Durch einen seltsamen Gedankengang, indem nämlich in seiner Vorstellungskraft der Gedanke an die junge Schwägerin Swijashskiys sich mit dem an einen Ehebund verknüpfte, kam es ihm bei, daß er niemand besser von seinem Glück erzählen könne, als der Frau und der Schwägerin Swijashskiys, und so freute er sich darauf, zu diesen fahren zu können.

Swijashskiy erkundigte sich bei ihm über den Gang der Dinge auf dem Dorfe, wie stets so auch jetzt nicht die geringste Möglichkeit annehmend, daß man etwas erfinden könne, was in Europa noch nicht erfunden sei; aber dies war Lewin jetzt durchaus nicht unangenehm. Im Gegenteil empfand er, daß Swijashskiy recht habe, daß sein ganzes Unternehmen eitel sei, und erkannte die bewundernswerte Weichheit und Zartheit, mit welcher Swijashskiy die weitere Ausführung darüber, daß er eine richtige Anschauung vertrat, mied. Die Damen Swijashskiys waren ausnehmend liebenswürdig. Lewin schien es, als ob sie schon alles wüßten, und mit ihm empfänden, und nur aus Zartgefühl nicht davon sprächen. Er verblieb eine Stunde, zwei, drei bei ihnen, im Gespräch über verschiedene Dinge, und doch hatte er dabei immer das im Sinne, was ihm die Seele erfüllte, und er merkte nicht, daß er seine Umgebung entsetzlich langweilte und es längst die Zeit war, wo man sich zur Ruhe begab.

Swijashskiy begleitete ihn bis in das Vorzimmer, gähnend und verwundert über die seltsame Stimmung des Freundes. Es war zwei Uhr.

Lewin kehrte in das Hotel zurück und erschrak bei dem Gedanken daran, daß er jetzt allein mit seiner Ungeduld die ihm noch verbleibenden zehn Stunden werde ausfüllen müssen.

Der jourhabende Diener zündete ihm eine Kerze an und wollte gehen, aber Lewin hielt ihn zurück. Dieser Lakai, von dem Lewin früher nicht Notiz genommen hatte, er hieß Jegor, zeigte sich als ein sehr verständiger und angenehmer, und, was die Hauptsache war, guter Mensch.

»Es ist schwer, Jegor, wenn man nicht schlafen darf, he?« –

»Was ist zu thun! Das ist einmal unsere Pflicht. Die Herren haben ja ein ruhigeres Leben; aber wir müssen rechnen.«

Es zeigte sich, daß Jegor Familie hatte; drei Knaben und eine Tochter, welche Nähterin war und die er an einen Commis in einem Kürschnergeschäft verheiraten wollte.

Lewin setzte hierbei Jegor seine Ansicht darüber auseinander, daß in einem Ehebund die Hauptsache die Liebe sei und man mit dieser stets glücklich sein werde, weil das Glück nur in sich selbst bestehe.

Jegor hörte aufmerksam zu; er verstand offenbar die Idee Lewins vollkommen, aber zu ihrer Bekräftigung machte er eine für Lewin unerwartet kommende Bemerkung, daß er, wenn er bei guten Herren gedient habe, stets mit seinen Herren zufrieden gewesen sei, und daß er auch jetzt mit seinem Herrn völlig zufrieden sei, obwohl derselbe ein Franzose wäre.

»Ein erstaunlich guter Mensch,« dachte Lewin.

»Nun, und als du heiratetest, Jegor, hast du da dein Weib geliebt?«

»Wie hätte ich sie nicht lieben sollen?« versetzte Jegor.

Lewin erkannte, daß Jegor sich ebenfalls in einem Zustande der Aufregung befand, und Lust hatte, ihm alle seine innersten Empfindungen mitzuteilen.

»Mein Leben ist gleichfalls wunderbar gewesen. Von Jugend auf,« begann er mit glänzenden Augen und offenbar von der Aufgeregtheit Lewins angesteckt, so wie ja die Leute auch vom Gähnen angesteckt werden.

In dem nämlichen Moment ertönte indessen die Glocke; Jegor ging und Lewin blieb allein zurück. Er hatte fast nichts zu sich genommen bei dem Essen, den Thee und das Abendessen bei Swijashskiy zurückgewiesen, und mochte doch nicht an ein Abendbrot denken. Er hatte die ganze vorige Nacht nicht geschlafen, und mochte doch nicht an Schlaf denken. In dem Zimmer war es kühl, und doch war es ihm drückend heiß. Er öffnete beide Fenster und setzte sich auf den Tisch, den Fenstern gegenüber. Über einem mit Schnee bedeckten Dache war ein durchbrochenes Kreuz mit Ketten sichtbar und über demselben sich erhebend das Sternbild des Fuhrmanns mit der gelben, hellschimmernden Kapella. Er blickte bald nach dem Kreuz, bald nach dem Sternbild, sog die frische kalte Winterluft in sich ein, die gleichmäßig ins Zimmer hereinströmte, und hing wie im Traume den in seiner Vorstellungskraft aufsteigenden Bildern und Erinnerungen nach. Um vier Uhr vernahm er Schritte auf dem Korridor und schaute nach der Thür; ein ihm bekannter Spieler, Mjaskin, kam aus seinem Klub heim. Mißgestimmt, griesgrämig und hustend ging er vorüber.

»Armer Unglücklicher,« dachte Lewin und Thränen traten ihm in die Augen in der Liebe und dem Mitleid mit diesem Menschen. Er wollte mit ihm sprechen, ihn trösten, aber indem er sich besann, daß er nur mit dem Hemd bekleidet sei, sah er davon ab und setzte sich wieder an das Fenster, um sich in der kalten Luft zu baden, und nach jenem seltsam geformten, schweigsamen, und für ihn doch so bedeutungsvollen Kreuz, sowie dem sich erhebenden, hellschimmernden Gestirn zu schauen.

Um sieben Uhr wurde das Geräusch der Fußbodenfeger vernehmbar, man schellte nach einer Dienstleistung; Lewin fühlte, daß es ihn zu frieren begann. Er schloß das Fenster, wusch sich, kleidete sich an und ging zur Straße hinab.

15.

Auf der Straße war alles noch öde. Lewin begab sich nach dem Hause der Schtscherbazkiy. Die Hauptpforten waren geschlossen, alles schlief noch. Er kehrte um, ging wieder nach seinem Zimmer und bestellte Kaffee. Der jourhabende Lakai, nicht mehr Jegor, brachte ihm denselben. Lewin wollte ein Gespräch mit ihm anknüpfen, aber man schellte nach dem Diener und dieser ging. Er versuchte es nun, den Kaffee zu sich zu nehmen und Semmel in den Mund zu stecken, allein sein Mund wußte durchaus nicht, was er mit der Semmel beginnen sollte. Lewin spie sie wieder aus, legte seinen Paletot an und ging wieder fort. Es war zehn Uhr geworden, als er zum zweitenmal an der Freitreppe der Schtscherbazkiy ankam. Man war im Hause soeben wach geworden und der Koch ging gerade nach dem Küchenbedarf; es hieß also mindestens noch zwei Stunden warten.

Die ganze Nacht und den Morgen hatte Lewin vollständig ohne Bewußtsein verlebt und er fühlte sich auch gänzlich den Verhältnissen des materiellen Lebens entrückt. Den ganzen Tag hindurch hatte er nichts zu sich genommen, zwei Nächte nicht geschlafen, mehrere Stunden ausgekleidet in der Kälte zugebracht – und fühlte sich dennoch nicht nur frisch und gesund wie noch nie, – er fühlte sich gleichsam unabhängig von seinem Körper. Er bewegte sich ohne Anstrengung der Muskeln und empfand, daß er alles unternehmen könnte. Er war überzeugt, daß er in die Luft fliegen oder die Ecke eines Hauses vom Platze bewegen könnte, wenn es nötig gewesen wäre.

Während der ihm noch verbleibenden Zeit strich er in den Straßen umher, unaufhörlich nach der Uhr blickend und nach allen Seiten schauend.

Was er dabei sah, das hat er in der Folge nie wieder gesehen. Kinder, welche zur Schule gingen, blaue Tauben, welche von den Dächern auf den Trottoir herabgeflogen kamen, und Semmeln die mit Mehl bestreut, eine unsichtbare Hand auslegte, zogen ihn an.

Diese Semmeln, die Tauben und zwei Knaben waren für ihn überirdische Geschöpfe. Alles kam zu gleicher Zeit; ein Knabe lief nach einer Taube und blickte Lewin lächelnd an, die Taube schlug mit den Flügeln und flatterte davon, in der Sonne schimmernd und in den die Luft erfüllenden Schneekrystallen, und aus einem kleinen Fensterchen duftete es nach frischgebackenem Brot und hier wurden die Semmeln ausgelegt.

Alles das zusammengenommen war so außergewöhnlich lieblich, daß Lewin vor Freude lachen und weinen mußte. Nachdem er einen großen Bogen um den Gazetnyj-Pereulok und die Kislowka gemacht hatte, kam er endlich wiederum in seinem Hotel an und setzte sich nun, die Uhr vor sich hinlegend, nieder, um die zwölfte Stunde zu erwarten.

In dem Nebenzimmer sprach man über Maschinen und Schwindel, wobei Morgenhusten erschallte. Die da drüben wußten wohl noch gar nicht, daß der Zeiger bereits nach der Zwölf rückte. Der Zeiger war herangerückt und Lewin ging auf die Freitreppe hinaus. Die Kutscher wußten augenscheinlich alles; mit glücklichen Gesichtern umringten sie Lewin, ihm ihre Dienste um die Wette anbietend. Lewin wählte einen, versprach den übrigen, um ihnen nicht zu nahe zu treten, daß er sie ein andermal benutzen werde, und ließ sich zu den Schtscherbazkiy fahren. Der Kutscher sah vorzüglich aus in seinem weißen, aus dem Kaftan hervorstehenden, knapp am roten starken Halse anliegenden Hemdkragen. Der Schlitten dieses Kutschers war hoch, schlank: ein Schlitten wie ihn Lewin später nie wieder fuhr und auch das Pferd war gut und willig – kam aber nicht von der Stelle. –

Der Kutscher kannte das Haus der Schtscherbazkiy und nachdem er sich außerordentlich respektvoll zu dem Fahrgast gewendet und »tprru« gemacht hatte, hielt er vor der Einfahrt still.

Der Portier der Schtscherbazkiy wußte augenscheinlich auch schon alles. Das war ersichtlich an dem Lächeln seiner Augen und an dem Tone, wie er sagte: »Recht lange nicht dagewesen, Konstantin Dmitritsch!« Der wußte nicht nur alles, o nein, der triumphierte sogar schon augenscheinlich und bemühte sich nur, seine Freude zu verbergen. Als Lewin ihm in die alten guten Augen blickte, gewahrte er noch etwas ganz Neues in seinem Glück.

»Ist man schon aufgestanden?«

»Bitte, bitte! Bleibt nur hier!« sagte er lächelnd, als Lewin umkehren wollte, um seinen Hut zu holen. Das hatte etwas zu bedeuten.

»Wem soll ich Euch melden?« frug ein Diener.

Der Diener, obgleich noch jung und einer von den neuen Bediensteten und ein Fant, war dennoch ein sehr guter und ganz hübscher Mensch, und wußte jedenfalls auch schon alles.

»Der Fürstin, dem Fürsten, der jungen Fürstin,« sagte Lewin.

Die erste Person, welche er erblickte, war Mademoiselle Linon. Sie schritt soeben durch den Saal und ihre Locken und ihr Gesicht glänzten. Er hatte kaum mit ihr zu sprechen begonnen, als plötzlich hinter der Thür das Rauschen eines Kleides ertönte und Mademoiselle Linon den Augen Lewins entschwand, während diesen selbst ein freudiger Schrecken über die Nähe seines Glückes überkam.

Mademoiselle Linon war fortgeeilt und hatte sich, ihn allein lassend, nach einer zweiten Thür begeben. Kaum war sie verschwunden, da ertönten schnell geflügelte Schritte auf dem Parkett, und sein Glück, sein Leben – er selbst– das Bessere seiner selbst, das, was er so lange gesucht und ersehnt hatte – schnell, schnell nahte es ihm. Sie kam nicht selbst, sondern mit unsichtbarer Macht ward sie zu ihm gezogen.

Er sah nun ihre klaren, treuen Augen, erschreckt von der nämlichen Freude der Liebe, die auch ihn und sein eignes Herz erfüllte. Diese Augen leuchteten näher und näher, sie blendeten ihn mit ihrem Liebesglanz. Dicht neben ihm blieb sie stehen, ihn berührend; ihre Arme hoben sich und schlangen sich um seine Schultern.

Sie hatte alles gethan, was sie thun konnte; sie war zu ihm geeilt und hatte sich ihm ganz gegeben, schämig, wonnevoll. Er umfing sie und preßte seine Lippen auf ihren Mund, der seinen Kuß suchte.

Auch sie hatte die ganze Nacht hindurch nicht geschlafen, und seiner den ganzen Morgen lang geharrt.

Vater und Mutter waren ohne Widerspruch einverstanden gewesen, glücklich in ihres Kindes Glück. Nun erwartete sie ihn; sie wollte als die Erste ihm ihr beiderseitiges Glück verkünden, und so hatte sie sich vorbereitet, ihn zu empfangen, und sich ihres Gedankens gefreut, obwohl sie schüchtern und verschämt werdend, selbst nicht recht wußte, was sie eigentlich thun sollte. Da hörte sie seine Schritte und seine Stimme, und wartete hinter der Thür, bis Mademoiselle Linon hinausgegangen sein würde, – und diese ging. Sie selbst aber, ohne sich zu bedenken oder sich selbst zu fragen nach dem Wie oder Was, eilte zu ihm und that was sie nun gethan hatte.

»Wir wollen zu Mama gehen!« sagte sie, ihn am Arme nehmend.

Lange vermochte er nichts zu sagen; weniger deswegen, weil er fürchtete, mit einem Worte die Erhabenheit seiner Empfindung zu beeinträchtigen, als deshalb, weil er, sobald er etwas sagen wollte, statt der Worte Thränen der Glückseligkeit sich hervordrängen fühlte. Er ergriff ihre Hand und küßte dieselbe.

»Ist es denn wahr?« sprach er endlich mit leiser Stimme, »ich kann es nicht glauben, daß du mich liebst.«

Sie lächelte bei diesem »du«, und über die Schüchternheit, mit welcher er sie anschaute.

»Ja,« sagte sie dann, bedeutungsvoll und langsam; »ich bin so glücklich.«

Ohne seinen Arm loszulassen, trat sie in den Salon. Die Fürstin atmete bei dem Anblick der beiden schnell auf und brach sogleich in Thränen aus; sogleich aber begann sie auch zu lächeln, und trat ihnen mit so energischen Schritten, wie sie Lewin nicht erwartet hätte, entgegen, den Kopf Lewins umfangend, ihn küssend, und seine Wange mit ihren Thränen netzend. »So ist denn alles gut! Wie freue ich mich! Liebe sie! Ich bin sehr glücklich – Kity!«

»Das hat sich ja recht schnell gemacht!« sagte der alte Fürst, sich bemühend, unbewegt zu erscheinen, aber Lewin bemerkte doch, daß seine Augen feucht waren, als er sich zu ihm wandte. »Lange, immer habe ich dies gewünscht!« sagte der Fürst, Lewin bei der Hand nehmend und ihn an sich ziehend, »schon damals, als jener Windbeutel dachte« –

– »Papa!« rief Kity, ihm den Mund mit der Hand verschließend.

»Nun, ich werde nicht plaudern,« fuhr er fort; »ich bin sehr, sehr gl– ei, ei, was ich doch für ein Dummkopf bin« –

Er umarmte Kity, küßte ihr Antlitz und ihre Hand, dann wiederum das Gesicht und segnete sie.

Lewin erfaßte ein neues Gefühl von Liebe zu dem Manne, der ihm fremd gewesen war – dem greisen Fürsten – als er gewahrte, wie Kity lange und innig seine fleischige Hand küßte.

16.

Die Fürstin saß im Lehnstuhl, schweigend und lächelnd, der Fürst neben ihr. Kity stand an dem Sessel des Vaters, noch immer seine Hand nicht freigebend. Alle schwiegen.

Die Fürstin verlieh dieser Stimmung, zuerst Worte und setzte alle Gedanken und Empfindungen in Lebensfragen um. Gleichwohl aber erschien dies ihnen allen seltsam und sogar unangenehm im ersten Augenblick.

»Wann wird es denn nun geschehen? Wir müssen die Verlobung feiern und bekannt machen. Und wenn soll die Hochzeit sein? Wie denkst du, Alexander?«

»Hier ist er,« antwortete der alte Fürst, auf Lewin zeigend, »die Hauptperson in dieser Frage.«

»Wann?« frug Lewin, errötend. »Morgen. Wenn Ihr mich fragt, so könnten wir nach meiner Meinung heute einsegnen und morgen Hochzeit machen.«

»Genug, mon cher, das sind Dummheiten,«

»Also denn in acht Tagen?«

»Er ist ja wie verrückt.«

»Nun, weshalb denn?«

»Aber ich bitte Euch!« fiel die Mutter ein, heiter lächelnd über diese Eilfertigkeit, »und die Aussteuer?«

»Muß da wirklich erst eine Aussteuer und anderes noch dabei sein?« dachte Lewin voll Schrecken. »Indessen kann die Aussteuer oder die Einsegnung und alles übrige – etwa mein Glück zerstören? Nichts kann es zerstören!« Er blickte Kity an und bemerkte, daß diese von dem Gedanken an die Aussteuer nicht im geringsten verletzt war; »wahrscheinlich muß es also so sein,« dachte er nun.

»Ich verstehe allerdings gar nichts von solchen Dingen, und äußerte nur meinen Wunsch,« sagte er, sich entschuldigend.

»So wollen wir also überlegen. Jetzt können wir die Einsegnung und die öffentliche Anzeige vornehmen.«

Die Fürstin trat zu ihrem Gatten, küßte ihn und wollte gehen, er aber hielt sie zurück, umfing sie, und küßte sie mehrmals zärtlich und lächelnd wie ein jugendlich Verliebter. Die beiden Alten gerieten offenbar einen Augenblick in Verwirrung und wußten nicht recht, ob sie wieder ineinander verliebt waren, oder ob nur ihre Tochter liebte. Als der Fürst und die Fürstin gegangen waren, trat Lewin zu seiner Braut, und ergriff sie bei der Hand. Er hatte jetzt seine Selbstbeherrschung wiedergefunden und konnte nun sprechen; er hatte ihr soviel zu sagen. Aber doch sagte er durchaus nicht das, was er hätte sagen sollen.

»Wie hätte ich ahnen können, daß es doch noch in Erfüllung gehen würde! Nimmermehr habe ich dies gehofft, aber in meiner Seele war ich stets davon überzeugt,« sprach er, »und ich glaube, daß dies schon vorher bestimmt gewesen ist.«

»Und ich?« versetzte sie, »selbst damals« – sie stockte, fuhr aber dann fort, ihn mit ihren treuen Augen fest anblickend, »selbst damals, als ich mein Glück von mir wies, habe ich stets Euch allein geliebt, doch ich war verleitet. Ich muß es aussprechen – – könnt Ihr vergessen?«

»Vielleicht ist es zum Glück gewesen. Ihr müßt mir viel vergeben. Ich muß Euch gestehen« – er wollte das Eine von dem mitteilen, was er ihr mitzuteilen beschlossen hatte, und er hatte beschlossen, ihr von dem ersten Tage ab zweierlei mitzuteilen, das Eine, daß er nicht mehr so rein sei, wie sie; das Andere, daß er keinen Glauben habe. Es war dies peinlich, aber er hielt sich für verpflichtet, ihr dies und das andere zu sagen. »Doch nein; nicht jetzt, später!« sagte er.

»Gut: also später; aber Ihr werdet es mir sicher sagen. Ich fürchte nichts. Ich muß alles wissen. Jetzt ist alles gut!«

»Gut geworden ist das, daß Ihr mich nehmt, wie ich auch sein mag, daß Ihr mich nicht von Euch weist; nicht wahr?« ergänzte er.

»Jawohl!« –

Das Gespräch wurde durch den Eintritt der Mademoiselle Linon unterbrochen, welche, obwohl verschmitzt, so doch zeitlich lächelnd kam, ihren geliebten Zögling zu beglückwünschen. Sie war noch nicht wieder hinaus, da kam schon die Dienerschaft zur Beglückwünschung. Dann erschienen die Verwandten und nun begann jener selige Taumel, aus dem Lewin nun bis zum nächsten Tage nach seiner Hochzeit nicht mehr herauskam. Ihm selbst war es dabei beständig unbehaglich, langweilig zu Mut, allein die Aufregung über sein Glück wuchs mehr und mehr. Er fühlte beständig, daß von ihm jetzt vieles gefordert würde, was er noch nicht kenne – – er that alles, was man ihm sagte und dies alles verursachte ihm ein Gefühl des Glückes.

Er glaubte, daß sein Brautstand nichts Ähnliches mit demjenigen anderer haben würde, und die demselben sonst eigenen Umstände sein ganz besonderes Glück stören möchten; aber es kam so, daß er eben nur das Nämliche that, was alle anderen thun, und sein Glück wurde dadurch nur erhöht und gestaltete sich mehr und mehr zu einem ganz besonderen, das nichts Ähnliches je gehabt haben oder noch haben mochte.

»Nun wollen wir aber Konfekt essen,« meinte Mademoiselle Linon und Lewin fuhr sogleich fort, um Konfekt einzukaufen.

»Ah, sehr erfreut über Euer Glück,« sagte Swijashskiy, »ich rate Euch, die Bouquets bei Thomin zu holen.«

»Muß ich?« und er fuhr zu Thomin.

Sein Bruder sagte ihm, daß er Geld werde aufnehmen müssen, da viel Ausgaben, Geschenke, nötig werden würden. »Geschenke sind erforderlich?« frug er und eilte zu Fuld.

Und bei dem Konditor, wie bei Thomin und bei Fuld gewahrte er, daß man ihn erwartet habe, sich über ihn freue und über sein Glück frohlocke, wie es alle thaten, mit denen er in diesen Tagen zu thun hatte. Außergewöhnlich erschien ihm, daß jedermann ihn nicht nur liebte, sondern auch alle, die ihm früher nicht sympathisch gewesen waren, kühle und gleichgültige Menschen, von ihm entzückt waren, sich ihm in allem fügten, mit seinen Empfindungen zart und taktvoll umgingen und seine Überzeugung teilten, daß er der glücklichste Mensch auf Erden wäre, weil seine Braut noch mehr als die Vollkommenheit selbst sei.

Ganz das Nämliche empfand auch Kity. Als die Gräfin Nordstone sich erlaubte, Andeutungen zu machen, daß sie eigentlich etwas Besseres gewünscht hätte, geriet Kity in Zorn und legte ihr so eifrig, so überzeugt dar, daß es etwas Besseres als Lewin in der Welt nicht geben könne, daß die Gräfin Nordstone dies anerkennen mußte und in Gegenwart Kitys Lewin nicht mehr ohne ein Lächeln des Entzückens begegnete.

Die Erklärung, welche von ihm in Aussicht gestellt worden war, bildete das einzige Ereignis von Bedeutung in dieser Zeit. Lewin beriet sich mit dem alten Fürsten und übergab, nachdem er dessen Urteil gehört hatte, Kity sein Tagebuch, in welchem alles aufgezeichnet stand, was ihn bedrückte. Er hatte dieses Tagebuch eigens im Hinblick auf eine künftige Braut geschrieben. Zweierlei eben bedrückte seine Seele; er war nicht mehr unschuldig, und er glaubte nicht. Das Geständnis seines Unglaubens ging ungerügt vorüber. Kity war religiös, hatte nie an den Wahrheiten der Religion gezweifelt, aber sein äußerer Unglaube berührte sie dennoch nicht im geringsten. Sie kannte durch ihre Liebe seine ganze Seele, und in seiner Seele sah sie, was sie sehen wollte; daß aber sein seelischer Zustand noch ungläubig sein heißen könnte, war ihr gleichgültig. Das zweite Geständnis hingegen ließ sie in bittere Thränen ausbrechen.

Nicht ohne inneren Kampf hatte ihr Lewin sein Tagebuch übergeben. Er wußte, daß zwischen ihm und ihr kein Geheimnis bestehen könne und dürfe, und deshalb hatte er beschlossen, daß es auch so sein müsse. Doch gab er dabei sich selbst nicht Rechenschaft darüber, wie seine Handlungsweise auf sie wirken könne; er versetzte sich nicht in sie selbst. Als er indessen an diesem Abend vor dem Theater zu der Familie kam, in ihr Zimmer trat und das verweinte, durch das von ihm verursachte und nicht mehr gut zu machende Leid verzweifelnde, klägliche, liebe Gesicht erblickte, da erkannte er den Abgrund, der seine befleckte Vergangenheit von ihrer Taubenunschuld trennte, und er erschrak über das, was er gethan hatte.

»Nehmt sie, nehmt diese furchtbaren Bücher weg!« sagte sie, die vor ihr auf dem Tische liegenden Hefte wegstoßend. »Weshalb habt Ihr sie mir gegeben? Aber nein; es ist besser so,« fügte sie hinzu, Mitleid mit seiner verzweiflungsvollen Miene empfindend; »und doch ist es furchtbar, furchtbar!« –

Er ließ den Kopf hängen und blieb stumm; er vermochte nichts zu sagen.

»Ihr verzeiht mir nicht,« flüsterte er.

»Doch, ich habe vergeben – aber es ist furchtbar.«

Sein Glück war so groß, daß dieses Geständnis es nicht zerstörte, sondern ihm vielmehr nur eine neue Färbung verlieh. Sie hatte ihm vergeben, aber seitdem erachtete er sich ihrer noch viel weniger würdig, neigte er sich moralisch noch viel tiefer vor ihr, schätzte er sein unverdientes Glück noch viel höher.

10.

Peszoff liebte es, bis aufs Äußerste zu diskutieren und wurde nicht von den Worten Sergey Iwanowitschs befriedigt, umsoweniger, als er das Unrichtige in seiner eigenen Meinung fühlte.

»Ich habe durchaus nicht,« sagte er bei der Suppe, zu Aleksey Aleksandrowitsch gewendet, »die Dichte der Bevölkerung allein gemeint, sondern diese in Verbindung mit gewissen Grundlagen, nicht mit Prinzipien.«

»Mir scheint,« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch langsam und nachlässig, »daß dies ein und dasselbe wäre. Nach meiner Meinung kann auf ein anderes Volk nur der einwirken, welcher den höheren Bildungsgrad besitzt, welcher« –

»Und hierum dreht sich eben die Frage,« fiel mit tiefem Baß Peszoff ein, der fortwährend ungeduldig zu Worte zu kommen gesucht hatte, und wie es schien, stets seine ganze Seele in das legte, worüber er sprach – »wo liegt die höchste Bildung? Die Engländer, Franzosen, Deutschen, wer von ihnen befindet sich auf dem höchsten Grade der Bildung? Wer soll den andern nationalisieren? Wir sehen, daß der Rhein sich gallisiert hat und die Deutschen stehen deshalb doch nicht weniger in Wert!« rief er, »hier handelt es sich um ein anderes Gesetz!«

»Mir scheint, als ob der Einfluß stets auf seiten der wahren Bildung läge,« bemerkte Aleksey Aleksandrowitsch, leicht die Brauen in die Höhe ziehend.

»Aber worin sollen wir die Kennzeichen wahrer Bildung suchen?« frug Peszoff.

»Ich glaube, daß diese Kennzeichen bekannt sind,« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch.

»Sind sie vollständig bekannt?« warf mit seinem Lächeln Sergey Iwanowitsch ein. »Es ist jetzt anerkannt, daß die echte Bildung nur die rein klassische sein kann, und doch sehen wir das verstockte Streiten von dieser und von jener Seite, und es läßt sich nicht leugnen, daß auch das gegnerische Lager starke Argumente zu seinen Gunsten aufführen kann.«

»Ihr seid Anhänger der klassischen Bildung, Sergey Iwanowitsch, – wollt Ihr Rotwein?« sagte Stefan Arkadjewitsch.

»Ich spreche meine Meinung weder über diese noch über jene Bildung aus,« antwortete Sergey Iwanowitsch mit einem Lächeln der Herablassung, wie man es einem Kinde gegenüber hat, und schob sein Glas hin, »ich sage nur, daß beide Richtungen gewichtige Argumente für sich haben,« fuhr er dann fort, sich zu Aleksey Aleksandrowitsch wendend, »ich bin Anhänger der klassischen Bildung infolge meiner Erziehung, aber in diesem Streit über die Frage vermag ich persönlich keine Stellung für mich zu finden. Ich sehe keine klaren Beweise, weshalb der klassischen Bildung der Vorzug vor der realen gegeben wird.«

»Die Naturwissenschaften haben ebensoviel pädagogisch bildenden Einfluß!« behauptete Peszoff. »Nehmt nur die Astronomie, nehmt die Botanik, die Zoologie mit ihrem System allgemeiner Gesetze!«

»Ich kann nicht völlig hiermit übereinstimmen,« erwiderte Aleksey Aleksandrowitsch; »mir scheint, man muß unbedingt zugeben, daß schon der Prozeß der Erlernung der Sprachformen selbst besonders günstig auf die geistige Entwickelung einwirkt. Außerdem aber läßt sich auch nicht leugnen, daß der Einfluß der klassischen Schriftsteller ein im höchsten Grade ethischer ist, während sich leider mit dem Unterricht in den Naturwissenschaften jene schädlichen und irrigen Lehrmeinungen, die einen Krebsschaden unserer Zeit darstellen, verbinden.«

Sergey Iwanowitsch wollte etwas erwidern, allein Peszoff unterbrach ihn mit seinem tiefen Basse, und begann eifrig die Unrichtigkeit dieser Meinung nachzuweisen. Sergey Iwanowitsch wartete ruhig ab, bis er zu Worte kommen konnte, die siegreiche Entgegnung augenscheinlich schon in Bereitschaft haltend.

»Aber,« begann er, sich mit seinem Lächeln an Karenin Wendend, »man muß doch sicherlich damit einverstanden sein, daß es schwierig ist, alle Vorteile und Nachteile dieser und der anderen Wissenschaften abzuwägen, und daß die Frage, welche vorzuziehen sei, nicht so schnell und endgültig entschieden wäre, wenn nicht auf seiten der klassischen Bildung jener Vorzug bestände, den Ihr soeben genannt habt, der ethische oder – disons le mot – der antinihilistische Einfluß.«

»Ohne Zweifel.«

»Befände sich nicht dieser Vorzug des antinihilistischen Einflusses auf seiten der klassischen Wissenschaften, so müßten wir eher nachdenken, müßten die Argumente für beide Richtungen abwägen,« sagte Sergey Iwanowitsch fein lächelnd, »und würden dieser und der anderen Richtung Spielraum lassen müssen. Nun aber wissen wir, daß in diesen Pillen der klassischen Bildung die Heilkraft des Antinihilismus liegt, und werden diese daher kühnlich unseren Patienten verschreiben. Und warum sollten sie eine Heilwirkung nicht besitzen?« schloß er, sein attisches Salz streuend.

Bei der Erwähnung der Pillen Sergey Iwanowitschs lachte alles, und ausnehmend laut und lustig Turowzin, der nur auf den witzigen Punkt gewartet hatte, während er dem Gespräch zuhörte.

Stefan Arkadjewitsch hatte sich nicht verrechnet, als er Peszoff mit einlud. Wo dieser war, konnte die geistreiche Unterhaltung nicht für eine Minute verstummen und kaum hatte Sergey Iwanowitsch mit seinem Scherz das Thema erschöpft, als Peszoff schon sogleich ein neues aufstellte.

»Man kann aber auch nicht damit einverstanden sein,« sagte er, »daß etwa die Regierung dieses Ziel verfolgen möchte. Die Regierung wird augenscheinlich von allgemeinen Erwägungen geleitet, und bleibt den Einflüssen gegenüber indifferent, welche die ergriffenen Maßregeln im Gefolge haben können. Zum Beispiel die Frage der Frauenemancipation müßte für höchst gefahrdrohend gehalten werden, und doch öffnet die Regierung die Studienkurse und Universitäten für das weibliche Geschlecht.«

Die Unterhaltung war nun sofort auf das neue Thema der Frauenemancipation übergesprungen.

Aleksey Aleksandrowitsch gab dem Gedanken Ausdruck, daß die Bildung des weiblichen Geschlechts gewöhnlich mit der Frage der Frauenemancipation vermengt würde und nur deshalb für schädlich erachtet werden könne.

»Ich glaube im Gegenteil, daß diese beiden Fragen untrennbar miteinander verbunden sind,« bemerkte Peszoff, »hier liegt ein Trugschluß vor. Das Weib ist der Rechte beraubt wegen seines Mangels an Bildung, der Mangel an Bildung aber rührt her von seiner Rechtlosigkeit. Man darf es nicht vergessen, daß die Sklaverei des Weibes so mächtig und alt ist, daß wir oft nicht einmal den Abgrund erkennen wollen, der die Weiber von uns trennt.«

»Ihr habt da von Rechten gesprochen,« meinte Sergey Iwanowitsch, welcher gewartet hatte, bis Peszoff schwieg, »wohl von den Rechten auf Arbeit in den Ämtern der Geschworenen, Polizeidirektoren, der Beamten, Parlamentsmitglieder« –

»Ohne Zweifel.«

»Aber wenn die Frauen, in einem seltenen Ausnahmefall, auch diese Ämter erlangen sollten, so scheint mir dann immer noch, als hättet Ihr da den Ausdruck ›Rechte‹ nicht richtig angewendet. Richtiger wäre dann, zu sagen ›Pflicht‹. Jedermann wird zugeben, daß wir in der Ausübung irgend eines Amtes als Geschworene oder Telegraphenbeamte, empfinden, daß wir damit einer Pflicht Genüge leisten, und demnach ist es richtiger, sich dahin auszudrücken, daß die Frauen die Übernahme von Pflichten anstreben, und zwar auf vollständig gesetzmäßige Weise. Man kann sich zu diesem ihrem Wunsche, an der allgemeinen Wirksamkeit des Mannes mit hilfreich zu werden, nur zustimmend verhalten.«

»Vollständig richtig,« bestätigte Aleksey Aleksandrowitsch, »die Frage ist, glaube ich, nur die, ob sie zur Erfüllung dieser Pflichten auch die Fähigkeit besitzen!«

»Wahrscheinlich werden sie sehr wohl fähig sein,« behauptete Stefan Arkadjewitsch, »sobald einmal die Bildung unter ihnen verbreitet sein wird. Wir sahen dies« –

»Ist mir’s gestattet – ein Sprichwort?« – frug jetzt der Fürst mit seinen kleinen schelmischen Augen blinzelnd, welcher schon lange dem Gespräch zugehört hatte; »in der Gegenwart meiner Töchter darf ich schon so sprechen: »Lange Haare« –

»Ganz so hat man auch über die Neger gedacht, bevor sie befreit waren,« rief Peszoff hitzig.

»Ich finde es nur seltsam, daß die Weiber neue Pflichten suchen,« sagte Sergey Iwanowitsch, »da wir doch leider sehen, daß die Männer gewöhnlich den ihren aus dem Wege gehen.«

»Die Pflichten sind eben verknüpft mit Rechten: Macht, Reichtum und Würden – das suchen die Weiber,« sagte Peszoff.

»So käme es also auf dasselbe heraus, daß ich das Recht beanspruchte, auch Amme zu sein und mich gekränkt fühlen könnte, daß man die Weiber dafür bezahlt und mich nicht,« sagte der alte Fürst.

Turowzin schüttelte sich unter lautem Gelächter, und Sergey Iwanowitsch bedauerte, daß nicht er das gesagt hatte. Selbst Aleksey Aleksandrowitsch lächelte.

»Ja, aber der Mann kann doch nicht ein Kind nähren,« bemerkte Peszoff, »sondern nur das Weib« –

»O nein; ein Engländer hat einmal auf dem Schiffe sein Kind gesäugt,« sagte der alte Fürst, welcher sich diese Ungezwungenheit in der Unterhaltung vor seinen Töchtern gestattete.

»So viele solcher Engländer es geben mag, so viele Beamte wird es wohl auch nur unter den Weibern geben, antwortete Sergey Iwanowitsch.

»Ja. Aber was soll ein Mädchen thun, welches nicht Familie hat,« frug jetzt Stefan Arkadjewitsch, der an die Tschibisowa dachte, welche er die ganze Zeit über dabei im Auge gehabt hatte, und mit Peszoff übereinstimmte, so daß er diesem beistand.

»Wenn Ihr die Geschichte eines solchen Mädchens näher prüft, so werdet Ihr finden, daß dasselbe entweder seine Familie oder eine Schwester verließ, wo sie einen weiblichen Beruf hätte haben können!« mischte sich hier plötzlich Darja Alexandrowna voll Erbitterung ins Gespräch; wahrscheinlich hatte sie erraten, welches Mädchen Stefan Arkadjewitsch im Sinn gehabt hatte.

»Aber wir treten doch für Grundsätze, für Ideale ein,« rief mit tönendem Baß Peszoff, »das Weib hingegen will nur ein Recht auf Unabhängigkeit, das Recht auf Bildung haben, und es fühlt sich beengt, bedrückt durch das Bewußtsein der Unmöglichkeit einer Erfüllung dieses Wunsches.«

»Ich bin nur davon beengt und bedrückt, daß man mich nicht in die Kinderbewahranstalt als Amme aufnimmt,« sagte der alte Fürst noch, zum großen Ergötzen Turowzins, der lachend einen Spargel mit dem dicken Ende in die Sauce fallen ließ.

 

11.

Jedermann hatte an der allgemeinen Unterhaltung teil genommen, mit Ausnahme von Kity und Lewin. Als man anfangs von dem Einfluß sprach, den ein Volk auf das andere habe, kam Lewin unwillkürlich das in den Kopf, was er über den Gegenstand zu sagen hatte; aber, diese Ideen, welche für ihn früher so wichtig gewesen waren, schimmerten jetzt nur noch wie Traumbilder in seinem Kopf und hatten auch nicht das geringste Interesse mehr für ihn. Es schien ihm sogar seltsam, weshalb die Leute hier sich so emsig mühten, über etwas zu reden, was niemand nützen konnte. Für Kity hätte doch ganz ebenso, wie es schien, das was man über die Rechte und die Bildung der Frauen sprach, von Interesse sein müssen; wie oft hatte sie darüber nachgesonnen, wenn sie ihrer Freundin Warenka im Ausland gedachte, und an deren drückende Abhängigkeit; wie oft hatte sie selbst daran gedacht, was mit ihr geschehen würde, wenn sie nicht heiratete und wie oft hatte sie hierüber mit der Schwester gestritten. Jetzt aber interessierte sie dies nicht im geringsten mehr. Sie hatte ihre eigene Unterhaltung mit Lewin, nicht eine eigentliche Unterhaltung, sondern eine gewisse geheime Korrespondenz, die beide mit jeder Minute mehr näherte und in ihnen die Empfindung eines süßen Erschreckens vor dem noch Unbekannten, in das sie eintraten, erzeugte.

Lewin erzählte zuerst auf die Frage Kitys, wie er sie im vergangenen Jahre hätte im Wagen sehen können, da er von der Heuernte gekommen und ihr auf der Landstraße begegnet sei.

»Es war früh, sehr früh am Morgen und Ihr waret wohl so eben erwacht. Maman schlief noch in ihrer Ecke. Es war ein wundervoller Morgen. Ich ging und dachte, wer mag denn das sein, dort im Wagen. Eine herrliche Tschetwjorka mit Schellen; – in einem Augenblick kamet Ihr vorüber; ich sah durch das Fenster – da saßet Ihr, mit beiden Händen die Bänder des Häubchens haltend und schienet über irgend Etwas in tiefem Nachdenken zu sein,« erzählte er lächelnd. »Wie gern wüßte ich, woran Ihr damals gedacht habt. An etwas Wichtiges?«

»Sollte ich nicht sehr unordentlich ausgesehen haben? « dachte Kity; als sie indessen das entzückte Lächeln gewahrte, welches die Erinnerung an diese Einzelheiten auf seinen Zügen hervorrief, da empfand sie, daß im Gegenteil der Eindruck, den sie hervorgebracht, nur ein sehr guter gewesen sei. Sie errötete und lächelte freudig.

»Ich entsinne mich wirklich nicht mehr.«

»Wie herzlich lacht doch dieser Turowzin!« sagte Lewin, freundlich dessen feuchtschimmernde Augen und den sich schüttelnden Körper betrachtend.

»Ihr kennt ihn seit langem?« frug Kity.

»Wer sollte ihn nicht kennen?«

»Ich sehe, daß Ihr glaubt, er sei ein garstiger Mensch.«

»Nicht schlecht; aber unbedeutend.«

»Das ist nicht wahr! Und Ihr dürft fortan nicht mehr so über ihn denken;« sagte Kity, »ich selbst hegte nur eine sehr geringe Meinung von ihm, aber er ist ein äußerst lieber und wunderbar gutmütiger Mensch. Sein Herz ist – wie Gold.« –

»Wie habt Ihr denn sein Herz erkennen können?«

»Ich bin mit ihm sehr befreundet und kenne ihn recht gut. Im vergangenen Sommer, bald darnach, als Ihr bei uns gewesen waret,« sagte sie mit schuldbewußtem und zugleich treuherzigem Lächeln, »lagen bei Dolly sämtliche Kinder am Scharlach darnieder und da hat er sie doch besucht. Und stellt Euch vor,« sprach sie flüsternd, »so sehr hat sie ihm leid gethan, daß er dort geblieben ist und ihr in der Pflege der Kinder beigestanden hat! Ja; drei Wochen hat er so bei uns verlebt und ist wie eine gute Wärterin mit den Kindern gewesen. – Ich erzähle Konstantin Dmitritsch von Turowzin beim Scharlachfieber,« sagte sie, sich nach ihrer Schwester hinbeugend.

»Ja; das war wunderbar, reizend!« versetzte Dolly, nach Turowzin schauend und diesem freundlich zulächelnd, welcher merkte, daß man von ihm sprach. Lewin blickte noch einmal nach Turowzin und geriet in Erstaunen, daß er vorher nicht all den Reiz dieses Mannes wahrgenommen hatte.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber ich werde niemals wieder übel über die Menschen denken,« sagte er alsdann heiter, und sprach dabei aufrichtig aus, was er jetzt fühlte.

12.

In dem angeregten Gespräch über die Frauenrechte tauchten auch Fragen über die Ungleichheit der Rechte in der Ehe auf, welche in Gegenwart der Damen heikler Natur waren. Peszoff hatte im Verlauf des Essens diese Fragen mehrmals gestreift, aber Sergey Iwanowitsch und Stefan Arkadjewitsch wichen denselben vorsichtig aus.

Als man sich vom Tische erhob und die Damen hinausgegangen waren, wandte sich Peszoff, der ihnen nicht folgte, an Aleksey Aleksandrowitsch und begann, diesem die wichtigste Ursache dieser Ungleichheit darzulegen. Die Ungleichheit unter Gatten bestand nach seiner Meinung darin, daß die Untreue des Weibes und die des Mannes von dem Gesetz und von der gesellschaftlichen Meinung nicht in gleichem Maße bestraft würden.

Stefan Arkadjewitsch trat schnell zu Aleksey Aleksandrowitsch, und lud ihn zum Rauchen ein.

»Danke, ich rauche nicht,« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch ruhig und wandte sich, als ob er absichtlich zu zeigen wünschte, daß er dieses Thema nicht fürchte, mit kühlem Lächeln wieder an Peszoff.

»Ich glaube, daß die Gründe für diese Anschauung in der natürlichen Beschaffenheit der Dinge selbst liegen,« sagte er und wollte sich in den Salon begeben, aber da sprach ihn Plötzlich Turowzin an, der sich zu ihm wandte.

»Habt Ihr denn von Prjatschnikoff gehört?« frug Turowzin, lebhaft geworden von dem genossenen Champagner und schon lange auf die Gelegenheit wartend, das ihn beengende Schweigen brechen zu können, »Wasja Prjatschnikoff,« fuhr er mit seinem gutmütigen Lächeln auf den feuchten roten Lippen, sich vorzugsweise an den bedeutendsten der Gäste, Aleksey Aleksandrowitsch wendend fort, »man hat mir erzählt, daß er sich in Twer mit Kwytskiy geschlagen und diesen getötet hat.«

Wie es stets scheinen will, als ob man gerade an eine wunde Stelle nur gleichsam absichtlich stoße, so fühlte Stefan Arkadjewitsch, daß die Unterhaltung jetzt unglücklicherweise jeden Augenblick eine wunde Stelle in Aleksey Aleksandrowitsch berührte. Er wollte den Schwager deshalb abermals wegführen, allein Aleksey Aleksandrowitsch frug selbst voll Neugier weiter.

»Weshalb hat sich Prjatschnikoff geschlagen?«

»Wegen seines Weibes. Er hat mannhaft gehandelt, jenen gefordert, und ihn ins Jenseits befördert!«

»Ah,« machte Aleksey Aleksandrowitsch gleichmütig und begab sich alsdann, die Brauen in die Höhe ziehend, in den Salon.

»Wie freue ich mich, daß Ihr gekommen seid,« sagte Dolly zu ihm mit ängstlichem Lächeln, indem sie ihm in dem Zwischensalon entgegentrat, »ich habe etwas mit Euch zu sprechen, nehmen wir hier ein wenig Platz.«

Aleksey Aleksandrowitsch ließ sich mit dem nämlichen Ausdruck von Gleichgültigkeit, welchen ihm die emporgezogenen Brauen verliehen, neben Darja Aleksandrowna nieder und lächelte gezwungen.

»Um so angenehmer,« – sagte er, »als auch ich Euch um Entschuldigung bitten und mich zugleich verabschieden wollte. Ich muß morgen früh reisen.«

Darja Aleksandrowna war fest überzeugt von der Unschuld Annas und sie fühlte, wie sie bleich wurde und ihr die Lippen vor Zorn über diesen kalten gefühllosen Menschen zu beben begannen, der so ruhig entschlossen war, ihre unschuldige Freundin dem Verderben zu übergeben.

»Aleksey Aleksandrowitsch,« sagte sie, mit verzweifelter Entschlossenheit ihm ins Auge blickend, »ich habe Euch nach Anna gefragt und Ihr habt mir nicht geantwortet. Wie befindet sie sich?«

»Sie scheint sich wohl zu befinden, Darja Aleksandrowna,« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch, ohne sie anzublicken.

»Aleksey Aleksandrowitsch, verzeiht mir, ich habe nicht das Recht – aber ich liebe und achte Anna wie eine Schwester; ich bitte und beschwöre Euch, mir zu sagen, was zwischen Euch beiden vorgefallen ist? Wessen beschuldigt Ihr sie?«

Aleksey Aleksandrowitsch runzelte die Stirn und senkte den Kopf, das Auge fest geschlossen.

»Ich glaube, Euer Gatte hat Euch die Ursachen mitgeteilt, wegen deren ich es für erforderlich erachte, meine bisherigen Beziehungen zu Anna Arkadjewna zu ändern,« sagte er, ohne ihr ins Auge zu blicken und mürrisch nach dem durch den Salon schreitenden Schtscherbazkiy schauend.

»Ich glaube es nicht; glaube es nicht und kann es nicht glauben!« fuhr Dolly mit energischer Gebärde, ihre knöchernen Finger vor sich hin ringend, dann erhob sie sich schnell und legte ihre Hand auf den Ärmel Aleksey Aleksandrowitschs. »Man stört uns hier. Kommt doch gefälligst mit hierher!«

Die Erregung Dollys wirkte auch auf Aleksey Aleksandrowitsch ein. Dieser stand auf und folgte ihr gehorsam in das Unterrichtszimmer. Hier ließen sie sich an einem Tische nieder, dessen Wachstuchüberzug von Federmessern zerschnitten war.

»Ich glaube es nicht, glaube es nicht!« fuhr Dolly fort, indem sie sich bemühte, seinen Blick, der sie mied, aufzufangen.

»Es ist unmöglich, an Thatsachen nicht zu glauben, Darja Aleksandrowna,« antwortete er, das Wort Thatsachen betonend.

»Aber was hat sie denn gethan?« frug Dolly, »was hat sie denn eigentlich gethan?«

»Sie hat ihre Pflicht vernachlässigt und ihren Gatten verraten. Das hat sie gethan,« sagte er.

»Nein, nein, das kann nicht sein! Nein, bei Gott, Ihr irrt,« fuhr Dolly fort, mit den Händen an ihre Schläfen fühlend und die Augen schließend.

Aleksey Aleksandrowitsch lächelte kalt, nur mit den Lippen, mit der Absicht, ihr und sich selbst damit die Festigkeit seiner Überzeugung zu beweisen; diese glühende Verteidigung öffnete die Wunde in ihm nur weiter, ohne daß sie ihn irre zu machen vermochte. Er begann mit großer Lebhaftigkeit:

»Es ist sehr schwierig, sich zu irren, wenn ein Weib selbst ihrem Manne die Mitteilung davon macht; wenn sie erklärt, daß acht Jahre ihres Lebens und ein Sohn – daß alles das ein Irrtum gewesen sei, und daß sie von neuem zu leben beginnen will,« sagte er erbittert, durch die Nase schluchzend.

»Anna und das Laster, – das kann ich nicht vereinen, das vermag ich nicht zu glauben!«

»Darja Aleksandrowna,« fuhr er fort, jetzt voll in ihr erregtes, gutes Antlitz blickend, und fühlend, daß ihm die Zunge unwillkürlich freier wurde, »gar viel hätte ich darum gegeben, einen Zweifel noch möglich bleiben zu lassen. So lange ich noch zweifelte, da war es mir zwar schwer ums Herz, aber doch leichter, als jetzt. Als ich noch zweifelte, hatte ich noch die Hoffnung, jetzt aber giebt es keine Hoffnung mehr, und doch zweifle ich noch an allem. Ich zweifle so an allem, daß ich meinen Sohn hasse und bisweilen nicht glaube, er sei mein Kind. Ich bin sehr unglücklich.«

Er hätte dies nicht noch zu sagen brauchen. Darja Aleksandrowna erkannte es, sobald sie ihm ins Gesicht geblickt hatte und er begann ihr leid zu thun. Ihr Glaube an die Unschuld ihrer Freundin war erschüttert.

»Ach, das ist schrecklich, schrecklich! Aber solltet Ihr Euch Wirklich zur Ehescheidung entschlossen haben?«

»Ich bin zum letzten Schritt entschlossen, mir bleibt weiter nichts übrig.«

»Weiter nichts übrig, nichts übrig,« wiederholte sie mit Thränen in den Augen. »Nein, o nein,« sagte sie. »Es ist furchtbar gerade bei dieser Art von Leid, daß man hier nicht, wie bei jedem anderen, bei einem Verlust oder Todesfall, sein Kreuz tragen kann, sondern handeln muß,« sagte er, gleichsam ihre Gedanken erratend. »Man muß sich aus dieser erniedrigenden Lage losmachen, in die man versetzt worden ist, denn es geht nicht an, zu Dreien zu leben.«

»Ich verstehe, ich verstehe recht wohl,« sagte Dolly und senkte das Haupt. Sie schwieg und dachte an sich selbst, an ihre unglückliche Ehe; dann erhob sie plötzlich wieder den Kopf mit energischer Gebärde und faltete beschwörend die Hände »aber wartet noch; Ihr seid doch ein Christ, denkt an sie selbst, was soll aus ihr werden, wenn Ihr sie verlaßt?«

»Ich habe schon gedacht, Darja Aleksandrowna; ich habe viel gedacht,« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch. Auf seinem Gesicht waren rote Flecken erschienen und die trüben Augen richteten sich voll auf sie. Darja Aleksandrowna empfand jetzt aus voller Seele Mitleid mit ihm. »Ich habe es gethan, nachdem mir durch sie selbst meine Schande offenbart worden war – ich hatte noch alles beim Alten gelassen. – Ich hatte ihr die Möglichkeit zur Besserung gegeben und bemühte mich, sie zu retten. Aber was geschah? Nicht einmal die leichteste Bedingung hat sie erfüllt – die Beobachtung des Anstandes« – sagte er voll Erbitterung. »Man kann aber nur einen Menschen retten, welcher nicht untergehen will; ist nun die ganze Natur so verderbt, so ausschweifend, daß der Untergang selbst ihr noch als Rettung erscheint, – was ist dann noch zu thun?« –

»Alles; aber nicht die Scheidung!« antwortete Darja Aleksandrowna.

»Was denn dann – Alles?«

»Nein! Das wäre zu entsetzlich! Sie würde ein verlorenes Weib sein und untergehen.«

»Aber was kann ich thun?« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, die Schultern und die Brauen hochziehend. Die Erinnerung an den letzten Fehltritt seines Weibes hatte ihn so aufgebracht, daß er wieder kalt wurde, wie er es im Anfang des Gesprächs gewesen war. »Ich danke Euch sehr für Eure Teilnahme, allein es wird Zeit für mich« – er erhob sich bei diesen Worten.

»Ach, bleibt doch noch! Ihr dürft sie nicht verderben! Wartet noch, ich will Euch von mir erzählen. Ich habe geheiratet und mein Mann hat mich betrogen; in Zorn und Eifersucht wollte ich alles verlassen, und wollte selbst – – aber ich bin zur Besinnung gekommen. Und wer hatte dies erreicht? Anna hat mich gerettet. Meine Kinder gedeihen nun, mein Mann ist seiner Familie zurückgegeben und fühlt sein Unrecht, er wird sittenreiner, besser und ich lebe. – Ich habe ihm vergeben, und auch Ihr müßt vergeben!«

Aleksch Aleksandrowitsch hörte ihr wohl zu, aber ihre Worte wirkten nicht mehr auf ihn. In seiner Seele hatte sich wiederum der ganze Groll von jenem Tage geregt, an welchem er sich zur Scheidung entschlossen. Er schüttelte sich und begann mit durchdringender lauter Stimme:

»Vergeben kann ich nicht – will ich auch nicht – denn ich halte es für widerrechtlich. Alles habe ich für dieses Weib gethan, und alles hat es in den Kot getreten, der ihr nicht fremd ist. Ich bin kein böser Mensch, ich habe nie jemand gehaßt, sie aber hasse ich mit aller Kraft meiner Seele und ich kann ihr schon deshalb nicht vergeben, weil ich sie zu sehr hasse wegen all des Bösen, das sie mir gethan!« Thränen der Wut lagen in seiner Stimme, als er dies sagte.

»Liebet, die Euch hassen,« flüsterte Darja Aleksandrowna. Aleksch Aleksandrowitsch lächelte verächtlich. Er hatte das längst gewußt, aber es konnte auf seinen Fall nicht angewendet werden.

»Liebet, die Euch hassen, – aber diejenigen, die man selbst haßt, kann man doch nicht lieben! Verzeiht, wenn ich Euch verstimmt haben sollte, wir haben ja ein jeder genug des Leides!«

Wieder in Besitz seiner Selbstbeherrschung gelangt, verabschiedete sich Aleksch Aleksandrowitsch ruhig und ging.