16.

Wronskiy hatte nie ein Familienleben kennen gelernt. Seine Mutter war in ihrer Jugend eine glänzende Dame in der großen Welt gewesen, die zur Zeit ihres Ehestandes und namentlich auch nach demselben viele Romane erlebt hatte, welche die ganze Welt kannte. Seines Vaters konnte er sich fast gar nicht mehr entsinnen; er selbst war im Pagencorps auferzogen worden.

Als sehr junger, glänzender Offizier die Schule verlassend, trat er unvermittelt in den Kreis der petersburgischen Offiziere ein; obwohl er aber nun auch bisweilen in der petersburger Gesellschaft erschien, so lagen doch alle seine Lieblingsinteressen außerhalb dieser Gesellschaft.

In Moskau erfuhr er zum erstenmal, nach einem üppigen und wüsten Leben in Petersburg, den Reiz der Annäherung an sein feingebildetes, liebenswürdiges und unschuldiges Mädchen, das ihn liebte.

Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß etwas Sündhaftes in seinen Beziehungen zu Kity liegen könnte. Auf den Bällen tanzte er vorzugsweise mit ihr und er besuchte ihr Haus; er sprach mit ihr, was man in der Gesellschaft gewöhnlich zu sprechen pflegt, Nichtigkeiten; aber Nichtigkeiten, denen er ohne es vielleicht zu wollen, einen für sie bedeutungsvollen Sinn verlieh.

Obwohl er ihr nie etwas gesagt hatte, was er nicht ebenso gut vor der gesamten Gesellschaft hätte sagen können, empfand er, daß sie immer mehr und mehr in ein Verhältnis von Abhängigkeit von ihm geriet, und je mehr er dessen inne ward, desto angenehmer war es ihm, und seine Empfindung für sie wurde allmählich inniger. Er wußte, daß sein Verhalten gegenüber Kity eine bestimmte Bedeutung hatte, daß es eine Verführung der Weiber ohne Äußerung der Absicht eine Ehe zu schließen war; daß diese Verführungskunst eine jener schlechten Handlungen darstelle, wie sie unter den glänzenden jungen Männern seiner Art gewöhnlich waren. Ihm dünkte, als habe er zuerst diesen Genuß entdeckt und er gefiel sich im Genuß seiner Entdeckung.

Hätte er hören können, was ihre Eltern an diesem Abend sprachen, hätte er sich auf den Anschauungskreis der Familie stellen und so wahrnehmen können, daß Kity unglücklich werden würde wenn er sie nicht heimführte, so wäre er höchlich in Verwunderung geraten und hätte das nicht geglaubt. Er vermochte nicht zu glauben, daß das, was ihm nur ein großes, schönes Vergnügen gewährte, und für sie das höchste bildete, – daß dies sündhaft war. Und noch weniger hätte er daran glauben können, daß er heiraten müßte.

Eine Vermählung hatte er sich noch niemals als Möglichkeit gedacht; er liebte das Familienleben nicht nur nicht, er sah sogar in der Ehe, im Ehemann aber besonders, nach der allgemeinen Anschauung der kalten Sphäre, in der er lebte, etwas Seltsames, Verhaßtes, und vor allem – Lächerliches. Aber wenn auch Wronskiy nicht ahnte, was die Eltern Kitys unter sich sprachen, so empfand er doch an diesem Abend beim Abschiednehmen von den Schtscherbazkiys, daß jenes geheimnisvolle seelische Bündnis zwischen ihm und Kity sich an demselben so sehr gefestigt hatte, daß man sich wohl zu irgend einem Entschluß aufraffen müsse. Was freilich gethan werden konnte oder mußte, das war er nicht imstande, sich klar zu machen.

»Es ist reizend,« dachte er bei sich, als er von den Schtscherbazkiys hinwegging und von ihnen heute wie immer das angenehme Gefühl einer Reinheit und Frische, zum Teil wohl auch dadurch entstanden, daß er den ganzen Abend hindurch nicht geraucht hatte, mit hinwegnehmend und verbunden mit diesem eine ihm neue Empfindung von Rührung über ihre Liebe zu ihm. »Es ist reizend, daß kein Wort von mir oder von ihr gesprochen worden ist, und wir uns doch einander in diesem unhörbaren Gespräch so verstanden haben, daß sie jetzt offenbarer als jemals mir gestanden hat, wie sie mich liebt. Und auf wie liebliche, naive und – was am meisten galt vertrauensvolle Weise hat sie es mir zu verstehen gegeben. Ich selbst fühle mich besser und geläuterter davon. Ich fühle, daß ich ein Herz besitze, daß in mir doch viel Gutes schlummert. Diese guten liebevollen Augen, als sie zu mir sagte: ,Gewiß werde ich auf dem Balle sein.’«

»Aber was weiter thun? Hm – nichts! Ich befinde mich ganz Wohl dabei und sie auch.« Er überlegte nunmehr, wo er den heutigen Abend noch ausfüllen könnte, und ließ alle die Orte Revue passieren, wohin er sich begeben konnte.

»In den Klub? – Spiel und Champagner? – Nein, dahin nicht. Chateaudes fleurs? – Da finde ich Oblonskiy, Couplets und Cancan. Das ist langweilig! Eben deshalb liebe ich ja die Schtscherbazkiy, um mich selbst zu bessern. Also nach Hause denn!«

Er begab sich in sein Logis bei Dussot, ließ ein Souper kommen und begab sich dann zur Ruhe. Er hatte kaum das Haupt auf die Kissen gelegt, als er schon in festen Schlaf versunken war.

17.

Am andern Tage morgens um elf Uhr fuhr Wronskiy auf den Bahnhof der Petersburger Eisenbahn, um die Mutter abzuholen. Das erste Gesicht, das ihm auf den Stufen der großen Treppe in die Augen fiel, war Oblonskiy, der mit dem nämlichen Zuge seine Schwester erwartete.

»Ah, Excellenz!« rief Oblonskiy. »Aus welchem Grunde bist du heute hier?«

»Der Mutter halber,« antwortete Wronskiy mit dem nämlichen Lächeln, welches jedermann hatte, der Oblonskiy begegnete; er drückte diesem die Hand und stieg mit ihm zur Treppe hinauf; »sie muß jetzt mit dem Petersburger Zuge ankommen.«

»Ich habe dich bis zwei Uhr erwartet. Wohin bist du denn gefahren von den Schtscherbazkiys aus?«

»Nach Hause,« versetzte Wronskiy, »ich muß gestehen, es war mir gestern nach dem Besuch bei den Schtscherbazkiys so angenehm zu Mut, daß ich nirgendshin zu fahren noch Lust hatte.«

»Man erkennt die verliebten Jünglinge an den Augen,« deklamierte Stefan Arkadjewitsch ebenso wie er dies früher Lewin gesagt hatte.

Wronskiy lächelte mit einem Ausdruck welcher besagte, daß er dies nicht in Abrede stellen konnte, sprang aber sogleich auf ein anderes Thema über.

»Wen erwartest du denn?« frug er seinerseits.

»Ich? Ich erwarte die beste Frau die es giebt,« sagte Oblonskiy.

»Sieh da!«

» Honny soit qui mal y pense! Meine Schwester Anna!«

»Aha; die Karenina!« rief Wronskiy.

»Du kennst sie ja wohl?«

»Ich glaube – oder sollte es nicht sein? Allerdings, ich kann mich nicht besinnen,« sagte Wronskiy zerstreut, sich unter dem Namen Karenina irgend etwas Affektiertes und Langweiliges vorstellend.

»Aber den Aleksey Aleksandrowitsch, meinen berühmten Schwager kennst du Wohl. Den kennt ja die ganze Welt.«

»Ja, das heißt nur dem Rufe und dem Aussehen nach. Ich weiß daß er ein verständiger, gelehrter und frommer Mann ist. Aber du weißt ja, daß dies nicht in meinem Gesichtskreis – not in my line – liegt,« sagte Wronskiy.

»Er ist ein sehr bedeutender Mann; ein wenig konservativ, aber ein vorzüglicher Mensch,« bemerkte Stefan Arkadjewitsch, »ein vorzüglicher Mensch.«

»Um so besser für ihn,« antwortete Wronskiy lächelnd. – »Nun, bist du hier?« wandte er sich an einen hochgewachsenen alten Diener, der an der Thür stand, den Lakai seiner Mutter.

Wronskiy fühlte sich in letzter Zeit, ungeachtet der ohnehin gegen Alle zu Tage tretenden Freundlichkeit Stefan Arkadjewitschs, verpflichtet, diesem umsomehr mit Zuvorkommenheit zu begegnen, als er nach seiner Auffassung mit Kity in Verbindung stand.

»Wirst du Sonntag nicht ein Souper für die ›Divas‹ geben?« sagte er, ihn lächelnd unter dem Arme fassend.

»Sicherlich. Indessen bist du gestern mit meinem Freunde Lewin bekannt geworden?« frug Stefan Arkadjewitsch.

»Gewiß. Doch zog er sich ziemlich frühzeitig zurück.«

»Er ist ein vorzüglicher Mensch,« fuhr Oblonskiy fort, »habe ich nicht recht?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Wronskiy, »warum es bei allen Moskauern der Fall ist – diejenigen natürlich ausgenommen,« bemerkte er scherzend, »mit denen ich spreche, daß sie etwas Entschiedenes, etwas stets Opponierendes, Jähes, haben, als ob sie einem stets etwas zu fühlen geben wollten.«

»So ist es, ja, ja,« lachte Stefan Arkadjewitsch heiter.

»Nun, kommt der Zug bald?« wandte sich Wronskiy an den Diener.

»Der Zug ist soeben eingefahren,« antwortete dieser.

Das Nahen des Trains zeigte sich in der mehr und mehr zunehmenden Bewegung zu Vorbereitungen auf dem Perron, in dem Hin- und Herlaufen der Träger, dem Erscheinen der Polizeiwachen und Beamten, in dem Vorfahren der Abholenden.

Durch den Winternebel wurden die Arbeiter in ihren Halbpelzen und den weichen plumpen Stiefeln sichtbar, wie sie auf den gewundenen Schienensträngen umherliefen. Der Pfiff der Dampfpfeife ertönte und man vernahm die Bewegung eines schweren Etwas.

»Nein,« sagte Stefan Arkadjewitsch, den es sehr verlangte, Wronskiy von den Absichten Lewins auf Kity Mitteilung zu machen. »Nein, du würdigst meinen Freund Lewin nicht richtig. Er ist ein sehr nervöser Mensch und gewöhnlich erscheint er unangenehm, das ist ja wahr, aber gleichwohl ist er dafür bisweilen wieder höchst liebenswert. Er besitzt eine so ehrenhafte, rechtschaffene Natur und ein goldenes Herz. Gestern aber hatte er eine besondere Ursache,« fuhr Stefan Arkadjewitsch mit bedeutungsvollem Lächeln fort und gänzlich die aufrichtige Empfindung vergessend, die er gestern für den Freund gehabt hatte; dieselbe äußerte sich jetzt in gleicherweise, aber Wronskiy gegenüber. »Ja, eine besondere Ursache war es, infolge deren er sehr glücklich oder sehr unglücklich werden könnte.«

Wronskiy blieb stehen und frug geradezu: »Was heißt das? Hat er etwa gestern deiner belle-soeur eine Liebeserklärung gemacht?«

»Vielleicht,« antwortete Stefan Arkadjewitsch, »mir schien es gestern wenigstens so. »Ja, ja, wenn er gestern schon zeitig den Abendcirkel verlassen hat und nicht bei Laune gewesen ist, so wird es schon so gewesen sein. Er ist schon ziemlich lange verliebt und thut mir aufrichtig leid.«

»Da haben wir’s. Ich glaube übrigens, das Mädchen könnte auf eine bessere Partie reflektieren,« sagte Wronskiy, sich hochaufrichtend und wieder zu gehen beginnend; »doch ich weiß ja freilich nichts,« fügte er dann hinzu. »Das sind schwierige Situationen und daher zieht eben die große Mehrheit lieber die Bekanntschaften mit den Claras ec. vor. Hier äußert sich ein Fehlschlag wenigstens nur insofern, als der Geldbeutel zu klein gewesen ist, dort aber – liegt die Ehre auf der Wagschale. – Indessen, da ist der Zug!« –

In der That pfiff derselbe von fern und nach einigen Minuten erbebte der Perron, und schnaubend in dem von der Kälte nach unten getriebenen Rauch rollte das Dampfroß mit den langsam und stetig sich senkenden und hebenden Kolben des großen Mittelrades und dem sich herabbeugenden, dick angezogenen und reifbedeckten Maschinisten herein. Hinter dem Tender, aber immer langsamer, und den Perron mehr erschütternd, folgte der Bagagewagen mit einem heulenden Hunde und endlich, über kleine Hindernisse springend, kamen die Passagierwaggons.

Ein junger Kondukteur sprang herab, im Laufen einen Pfiff gebend, ihm folgten einzeln die ungeduldigen Passagiere; ein Gardeoffizier in strenger und ernster Haltung um sich blickend, ein beweglicher Kaufmann mit seinem Portefeuille, und heiterem Lachen auf den Zügen – ein Bauer mit einem Sack quer auf den Schultern.

Wronskiy, neben Oblonskiy stehend, musterte die Waggons und die aus ihnen Heraussteigenden; er hatte seine Mutter ganz vergessen; das, was er soeben betreffs Kitys erfahren hatte, regte ihn an und erfreute ihn. Seine Brust dehnte sich unwillkürlich und sein Auge blitzte auf. Er fühlte sich als Sieger.

»Die Gräfin Wronskiy ist in diesem Coupé,« sagte der junge Kondukteur, an Wronskiy herantretend.

Die Worte des Beamten erweckten diesen und brachten ihm die Mutter in Erinnerung und das bevorstehende Wiedersehen mit ihr.

Er achtete seine Mutter im Grund seiner Seele nicht, und, ohne sich eine Rechenschaft geben zu können, weshalb, liebte er sie auch nicht, obwohl er sich nach den Begriffen der Kreise in denen er lebte, seinem Bildungsgange nach andere Beziehungen zu seiner Mutter als die ehrfurchtsvollsten und ergebensten, nicht denken konnte; diese Beziehungen waren äußerlich um so ergebener und achtungsvoller, je weniger er in seinem Innern Achtung und Liebe hegte.

12.

Die junge Fürstin Kity Schtscherbazkaja zählte achtzehn Sommer. Im vergangenen Winter war sie zum erstenmal in der Öffentlichkeit erschienen und ihre Erfolge in der großen Welt waren größer, als diejenigen ihrer beiden älteren Schwestern, größer als die Fürstin selbst erwartet hatte.

Wenn schon die jungen Männer, die auf den Moskauer Bällen tanzten, fast sämtlich in Kity verliebt waren, hatten sich dieser bereits im Lauf der ersten Saison auch zwei ernste Partieen eröffnet, Lewin, und sogleich nach dessen Abreise der Graf Wronskiy.

Das Erscheinen Lewins zu Beginn des Winters, seine häufigen Besuche und seine offenbare Liebe zu Kity waren der Anlaß zu den ersten ernsten Auseinandersetzungen der Eltern Kitys über deren Zukunft, und zu Streitigkeiten zwischen dem Fürsten und der Fürstin.

Der Fürst war auf seiten Lewins; er sagte, daß er für Kity keine bessere Partie wünschen könne; die Fürstin aber, mit der den Frauen eigenen Gewohnheit, die Hauptfrage zu umgehen, war der Ansicht, daß Kity noch viel zu jung sei, Lewin noch in keiner Hinsicht bewiesen habe, daß er ernste Absicht hege, daß Kity keine Neigung zu ihm empfinde c.; die Hauptsache aber sagte sie nicht, nämlich, daß sie auf eine noch bessere Partie für die Tochter warte, und daß Lewin ihr nicht sympathisch war, daß sie ihn nicht verstehe. Als Lewin unerwartet abgereist war, freute sich die Fürstin und sagte triumphierend zu ihrem Gemahl: »Siehst du, ich hatte recht.«

Nachdem Wronskiy erschienen war, geriet sie noch mehr in Freude, in ihrer Meinung bestärkt, Kity müsse nicht einfach nur eine gute Partie machen, sondern eine glänzende.

Für die Mutter gab es gar keine Möglichkeit einer Parallele zwischen Lewin und Wronskiy. Der Mutter gefielen an Lewin dessen seltsame, entschiedene Urteile nicht, seine Plumpheit in der vornehmen Welt, die sich, wie sie annahm, auf Stolz gründete und sein nach ihren Begriffen gleichsam wildes Leben auf dem Dorfe mit seinen Beschäftigungen in der Viehzucht, seinem Verkehr mit den Bauern. Auch dies gefiel ihr nicht sehr, daß er, obwohl in ihre Tochter verliebt, anderthalben Monat hindurch ihr Haus besuchte, als erwarte er etwas; ausschaute, als fürchte er, eine zu große Ehre zu erweisen, wenn er mit einem Antrag käme und nicht begriff, daß man sich erklären müsse, wenn man ein Haus besuche, dessen Tochter heiratsfähig war. Plötzlich, ohne sich zu erklären, war er abgereist.

»Nur gut, daß er nicht zu sehr anziehend gewesen ist, daß Kity sich nicht in ihn verliebt hat,« dachte die Mutter.

Wronskiy hingegen entsprach allen Wünschen derselben. Er war sehr reich, klug, wissend, im Begriff, eine glänzende militärische Hofcarriere zu machen, ein verführerischer Mann. Man konnte keine bessere Partie wünschen.

Auf den Bällen bewarb sich Wronskiy offen um Kith; tanzte mit ihr, besuchte das Elternhaus und es schien wohl kaum an dem Ernste seiner Absichten ein Zweifel obzuwalten. Aber nichtsdestoweniger hatte sich die Mutter den ganzen Winter hindurch in einem Zustande seltsamer Unruhe und Erregung befunden.

Die Fürstin selbst war vor dreißig Jahren, auf die Werbung einer Tante hin in den Stand der Ehe getreten. Ihr Bräutigam, den man schon von vornherein recht wohl kannte, hatte die Braut erblickt, man hatte auch ihn gesehen, die Tante hatte alles erkannt und die wechselseitigen Eindrücke mitgeteilt; diese lauteten günstig und an einem vorherbestimmten Tage wurde den Eltern die erwartete Erklärung gemacht und von ihnen acceptiert. Das alles war äußerst leicht und einfach vor sich gegangen; wenigstens schien es der Fürstin so. Aber an ihren Töchtern hatte sie erfahren, daß es gar nicht so leicht und einfach sei, was so gewöhnlich schien, das Unternehmen, Töchter zu verheiraten. Wie viel Befürchtungen wurden da nicht durchlebt, wie viel Gedanken durchdacht, wie viel Geld verloren, wie viel Zusammenstöße gab es mit ihrem Manne betreffs der Aussteuer der beiden ältesten Töchter, Darjas und Natalys. Jetzt, bei dem ersten Auftreten der jüngsten, durchlebte man die nämlichen Befürchtungen, die nämlichen Zweifel, den nämlichen Streit, diesen aber nur noch größer, als er es bei den älteren Töchtern gewesen war.

Der alte Fürst war, wie alle Väter, besonders feinfühlig in Bezug auf die Ehre und Makellosigkeit seiner Töchter; er war rücksichtslos eifersüchtig auf diese und namentlich auf Kity, die sein Liebling war. Auf jeden Schritt hin verursachte er der Fürstin Scenen, weil sie die Tochter kompromittiert haben sollte. Die Fürstin hatte sich daran gewöhnt, schon von ihren älteren Töchtern her, jetzt aber fühlte sie, daß die Empfindlichkeit des Fürsten eine tiefere Berechtigung besaß.

Sie bemerkte recht wohl, daß sich in den letzten Zeiten vieles in den Manieren der Gesellschaft verändert hatte, daß die Pflichten einer Mutter schwierigere geworden waren. Sie sah, daß die Altersgenossinnen Kitys Cirkel hielten, sich an Kursen beteiligten, freier mit der Männerwelt verkehrten, allein ausfuhren, vielfach nicht mehr knicksten, und, was die Hauptsache war, die feste Überzeugung besaßen, daß die Wahl eines Zukünftigen nur ihre Sache sei, nicht diejenige der Eltern.

»Man giebt uns heutzutage nicht mehr den Männern in die Ehe, wie ehemals,« dachten und sagten alle diese Mädchen und selbst auch alle älteren Leute. Aber wie verheiratet man sie denn dann heutzutage? Die Fürstin fand bei niemand Aufschluß darüber. Die französische Sitte, den Eltern das Geschick der Kinder in die Hände zu legen, war nicht üblich, sie wurde verurteilt. Die englische Sitte, der Tochter völlige Freiheit zu lassen, war ebenfalls nicht in Aufnahme und in der russischen Gesellschaft überhaupt undenkbar. Die russische Sitte der Freiwerbung wurde als unfein betrachtet, jedermann lachte jetzt über sie, die Fürstin selbst sogar; aber gleichwohl wußte niemand, auf welche Weise eine Tochter heiraten könne, und alle, mit denen die Fürstin über dieses Thema ins Gespräch kam, sagten ihr das Eine, man müsse eben in der gegenwärtigen Zeit Abstand nehmen vom Althergebrachten.

Daher müsse man die Jugend allein in die Ehe treten lassen, ohne der Eltern Geleit; vielleicht selbst die jungen Leute sich einrichten lassen, wie sie es verständen. Indessen so gut reden hatten nur diejenigen, welche keine Töchter besaßen, und die Fürstin wußte recht wohl, daß bei einer Annäherung ihre Tochter sich verlieben könne, in jemand verlieben, der sie gar nicht heiraten wollte, oder in jemand, der nicht zu ihrem Gatten taugte. So viel man denn daher der Fürstin zuredete, man müsse jetzt die Jugend sich selbst überlassen, vermochte diese doch nicht, dem Gehör zu schenken, ebenso wie sie nie geglaubt haben würde, daß zu irgend einer Zeit für fünfjährige Kinder geladene Pistolen als bestes Spielzeug gedient hätten. Aus diesem Grunde hegte die Fürstin um Kity mehr Besorgnisse, als dies bei ihren älteren Töchtern der Fall gewesen war.

Sie fürchtete jetzt, Wronskiy könnte sich vielleicht nicht nur damit begnügen, ihrer Tochter den Hof zu machen. Sie gewahrte, daß diese sich in den jungen Mann schon verliebt hatte, aber sie beruhigte sich damit, daß er doch ein Ehrenmann sei und deshalb das Befürchtete nicht thun werde.

Zu gleicher Zeit aber wußte sie auch, wie leicht es in der herrschenden Freiheit des Verkehrs sei, einem jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen, und wie leicht die Männerwelt im allgemeinen auf ein solches Vergehen zu blicken pflege.

In der vergangenen Woche hatte Kity der Mutter ein Gespräch erzählt, welches sie mit Wronskiy während einer Mazurka gehabt hatte. Dieses Gespräch beruhigte die Fürstin zum Teil, aber vollständig nicht» Wronskiy hatte zu Kity gesagt, daß er und sein Bruder so gewöhnt wären, in allem ihrer Mutter sich unterzuordnen, daß sie niemals einen wichtigen Schritt zu unternehmen pflegten, ohne sie um Rat dabei gefragt zu haben.

»Auch jetzt warte ich, wie auf ein besonderes glückliches Ereignis, auf die Ankunft meiner Mutter aus Petersburg,« hatte er gesagt.

Kity erzählte dies, ohne den Worten eine Bedeutung beizulegen, aber die Mutter nahm das Gehörte anders auf. Sie wußte, daß man auf die alte Dame von Tag zu Tag warte, wußte, daß diese erfreut sein werde über die Wahl des Sohnes und es erschien ihr seltsam, daß er, in der Besorgnis vor seiner Mutter, nicht doch eine Erklärung machte. Gleichwohl aber wünschte sie den Ehebund sehr, und vor allem eine Beruhigung in ihren Besorgnissen, so daß sie dem Bericht Vertrauen schenkte.

So bitter wie es ihr auch jetzt war, das Unglück ihrer ältesten Tochter Dolly mit ansehen zu müssen, die sich vorbereitete, den Gatten zu verlassen, so erstickte jetzt doch die Erregung über das sich entscheidende Schicksal ihrer jüngsten Tochter alle anderen Gefühle.

Der heutige Tag hatte nun mit dem Erscheinen Lewins eine neue Sorge gebracht. Sie fürchtete, daß die Tochter, welche wie ihr schien, einmal für Lewin ein Ohr gehabt hatte, aus überspanntem Ehrgefühl Wronskiy abweisen, und daß überhaupt die Ankunft Lewins die Dinge, die so nahe der Entscheidung waren, verwickeln und aufhalten werde.

»Was will er, ist er schon seit Längerem hier angekommen?« frug die Fürstin bezüglich Lewins, als man nach Haus zurückkehrte.

»Heute, maman

»Ich möchte nur das Eine sagen,« begann die Fürstin, und an ihrem ernsten, erregten Gesicht erriet Kity, wovon die Rede sein werde.

»Mama,« begann sie, auffahrend und sich schnell nach der Mutter umwendend, »sprecht, ich bitte um alles, nicht davon: ich weiß, ich weiß alles!«

Sie wünschte dasselbe, was die Mutter wünschte, aber die Motive des Wunsches bei ihrer Mutter beleidigten sie.

»Ich will nur sagen, daß wenn du Einem Hoffnung gegeben hast« –

»Mama, meine Liebe, um Gottes willen, sprecht nicht. Es ist mir so entsetzlich, hiervon zu reden!«

»Ich werde nichts mehr sagen,« antwortete die Mutter, Thränen in den Augen ihrer Tochter bemerkend, »aber eins noch, mein Herzchen: du hast mir versprochen, vor mir kein Geheimnis haben zu wollen. Nicht so?«

»Niemals, Mama, ich werde nie eins haben,« antwortete Kity, errötend und offen ins Antlitz der Mutter blickend. »Aber ich habe jetzt nichts zu sagen – ich – wenn ich auch wollte – ich weiß nichts – was ich sagen sollte – ich weiß nichts.«

»Nein; mit diesen Augen kann man nicht die Unwahrheit sprechen,« dachte die Mutter, lächelnd auf ihres Kindes Erregung und Glück blickend. Die Fürstin lächelte darüber, daß ihm, dem armen Kinde alles das so ungeheuerlich und bedeutungsvoll erscheine, was jetzt in dessen Seele vor sich ging.

23.

Die Wunde Wronskiys war gefährlich, obwohl sie das Herz nicht getroffen hatte. Einige Tage schwebte Wronskiy zwischen Leben und Tod. Als er zum erstenmal wieder imstande war zu sprechen, befand sich nur Warja, die Gattin seines Bruders, in seinem Zimmer.

»Warja,« sagte er, sie streng anblickend, »ich habe mich durch Zufall geschossen; sprich, bitte niemals von der Sache, und erzähle jedermann nur so. O, es war doch zu thöricht!«

Ohne auf seine Worte zu antworten, beugte sich Warja über ihn und schaute ihm mit freudigem Lächeln ins Gesicht. Seine Blicke waren klar, nicht mehr fieberhaft, aber ihr Ausdruck war ernst.

»O, Gott sei Dank!« sagte sie, »hast du nicht Schmerzen?«

»Ein wenig, hier!« Er wies auf die Brust.

»Laß mich dich verbinden.«

Schweigend seine, starken Kinnbacken zusammenbeißend, blickte er sie an, während sie ihn verband. Als sie damit fertig war, sagte er:

»Ich bin nicht im Fieber; also bitte, sieh zu, daß es kein Gerede giebt, als hätte ich mich mit Absicht geschossen.«

»Kein Mensch spricht davon. Ich hoffe nur, daß du dich nicht wieder aus Versehen schießt,« sagte sie mit fragendem Lächeln.

»Ich werde wohl nicht, aber besser wäre es doch gewesen.« –- Er lächelte düster.

Trotz dieser Worte und dieses Lächelns, welches Warja so erschreckte, hatte er, als das Wundfieber vorüber war und sein Zustand sich besserte, gefühlt, daß er von einem Teile seines Grames vollständig befreit war. Mit dieser That hatte er gleichsam die Schande und Entwürdigung von sich abgewaschen, die er vorher empfunden hatte. Jetzt vermochte er ruhig an Aleksey Aleksandrowitsch zu denken. Er erkannte den ganzen Edelmut desselben an, fühlte sich aber selbst nicht mehr erniedrigt, und kam wieder in das alte Geleis zurück. Er sah wieder die Möglichkeit, den Menschen ohne Scham ins Antlitz blicken zu können und konnte wieder leben, im Gängelband seiner Gewohnheiten. Eins aber gab es, was er nicht aus seinem Herzen zu reißen vermochte, obwohl er ununterbrochen dagegen ankämpfte, – das war ein bis zur Verzweiflung gesteigertes Leid darüber, daß er sie nun auf immer verloren hatte. Daß er, nachdem er vor dem Gatten sein Vergehen gebüßt, ihr entsagen mußte und fortan nicht mehr zwischen sie mit ihrer Reue, und ihn, ihren Gatten, treten durfte, das stand fest in seinem Herzen, aber er vermochte nicht, den Schmerz über diesen Verlust seiner Liebe aus demselben herauszureißen, er vermochte nicht jene Minuten der Seligkeit aus seiner Erinnerung zu verwischen, die er mit ihr kennen gelernt, die von ihm damals so wenig gewürdigt worden warm, ihn jetzt aber mit all ihrem Reiz verfolgten.

Serpuchowskiy hatte für ihn eine Ordre nach Taschkent ausgedacht, und ohne das geringste Schwanken stimmte Wronskiy diesem Vorschlag bei. Aber je näher die Zeit der Abreise kam, um so schwerer wurde ihm das Opfer, welches er für das brachte, was er als seine Pflicht erachtete.

Seine Wunde war geheilt und er fuhr schon aus, um Vorbereitungen für seine Abreise nach Taschkent zu treffen.

»Nur ein einziges Mal noch sie wiedersehen und dann sich vergraben, sterben,« dachte er, und äußerte diesen Gedanken bei seinen Abschiedsvisiten gegen Betsy. Mit dieser Mission war Betsy zu Anna gefahren und hatte ihm die abschlägliche Antwort überbracht.

»Um so besser,« dachte Wronskiy, nachdem er diese Nachricht erhalten. »Es war eine Schwäche, die meine letzte Kraft noch aufgerieben hätte.«

Am andern Tage kam Betsy frühmorgens selbst zu ihm und teilte ihm mit, daß sie durch Oblonskiy den sichern Bescheid erhalten habe, Aleksey Aleksandrowitsch reiche die Scheidung ein, und Wronskiy daher Anna sprechen könne.

Ohne sich darum zu kümmern, daß er Betsy wieder hätte hinausbegleiten müssen, fuhr Wronskiy, alle seine Vorsätze vergessend, und ohne zu fragen, wann er sie sehen konnte, oder wo ihr Mann sei, sofort zu den Karenin.

Er eilte die Treppe hinauf, ohne zu hören oder zu sehen und lief schnellen Schrittes, sich kaum soweit mäßigend, daß er nicht rannte, in ihr Zimmer. Ohne daran zu denken oder zu bemerken, ob jemand im Zimmer sei oder nicht, umarmte er sie und bedeckte ihr Gesicht, Hals und Arme mit Küssen.

Anna war auf dieses Wiedersehen vorbereitet und hatte darüber nachgedacht, was sie ihm mitteilen wollte, aber es gelang ihr nicht, auch nur etwas hiervon herauszubringen; seine Leidenschaftlichkeit hatte auch sie erfaßt. Sie wollte ihn und sich beruhigen, aber es war schon zu spät, seine Empfindungen hatten sich ihr mitgeteilt. Ihre Lippen bebten so stark, daß sie lange Zeit nicht zu reden vermochte.

»Ja du hast mich übermannt und ich bin die Deine,« sagte sie endlich, seine Hände an ihren Busen pressend.

»So mußte es sein!« sagte er, »so lange wir leben, soll es so sein. Ich weiß dies jetzt!«

»Es ist wahr,« antwortete sie, mehr und mehr erbleichend und seinen Kopf umfangend.

»Alles wird vorübergehen, alles, und wir werden glücklich sein! Unsere Liebe, wenn sie noch stärker werden könnte, würde wachsen dadurch, daß in ihr etwas Furchtbares liegt,« fuhr er fort, den Kopf hebend und lächelnd seine festen Zähne zeigend.

Sie mußte diesem Lächeln antworten – nicht seinen Worten, wohl aber seinen liebevollen Blicken. Sie ergriff seine Hand und strich sich selbst damit über ihre kaltgewordenen Wangen und das kurzfrisierte Haar.

»Ich erkenne dich nicht wieder mit diesen kurzen Haaren. Du bist so hübscher geworden, mein Kleiner, aber wie bist du bleich!«

»Ja, ich bin sehr schwach,« sagte sie lächelnd, und ihre Lippen bebten.

»Wir werden nach Italien gehen und du wirst dich da erholen,« antwortete er.

»Sollte es möglich sein, daß wir Mann und Frau würden, wir allein, eine Familie mit dir?« sagte sie, ihm nahe in die Augen schauend.

»Mich setzte nur in Erstaunen, wie dies einmal anders sein konnte.«

»Stefan sagt, daß mein Mann mit allem einverstanden sei, aber ich vermag seine Großmut nicht anzunehmen,« sagte sie, nachdenklich an dem Gesicht Wronskiys vorbeischauend. »Ich will die Scheidung nicht, mir ist jetzt alles gleichgültig. Nur weiß ich nicht, was er über Sergey beschließen wird.«

Er vermochte nicht zu begreifen, wie sie in diesem Augenblick des Wiedersehens an ihren Sohn und die Ehescheidung denken konnte. War ihr denn nicht alles gleichgültig?

»Sprich nicht davon, denke nicht,« versetzte er, ihre Hand in der seinen wendend und sich bemühend, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch sie schaute ihn noch immer nicht an.

»Ach, warum bin ich nicht gestorben; es wäre besser gewesen!« sprach sie und ohne daß sie schluchzte, liefen ihr die Thränen über beide Wangen; doch sie bemühte sich, zu lächeln, um ihn nicht zu verstimmen.

Die ehrende und gefährliche Ordre nach Taschkent abzulehnen, war nach den früheren Begriffen Wronskiys schmachvoll und unmöglich gewesen. Jetzt aber schlug er dieselbe, ohne sich eine Minute zu besinnen, aus und ging, die Mißbilligung seiner Handlungsweise seitens seiner Vorgesetzten bemerkend, auf Urlaub.

Nach Verlauf eines Monats war Aleksey Aleksandrowitsch allein mit seinem Söhnchen in seinem Hause. Anna und Wronskiy waren in das Ausland gereist, ohne die Ehescheidung erlangt zu haben, und hatten sich definitiv von ihm losgesagt.

Ende des ersten Bandes.

13.

Kity empfand nach der Mittagsmahlzeit, bis zum Einbruch des Abends hin ein Gefühl ähnlich dem, wie es der Jüngling vor der Schlacht hat. Ihr Herz pochte mächtig und ihre Gedanken wollten sich durchaus nicht um einen festen Punkt konzentrieren lassen.

Sie fühlte, daß der heutige Abend, an welchem sie sich zum erstenmal beide wieder begegnen sollten, ein entscheidender für ihr Geschick werden würde, und sie stellte sich unaufhörlich die beiden Männer im Geiste vor, bald jeden einzeln, bald beide nebeneinander. Entsann sie sich der Vergangenheit, so verweilte sie mit Vergnügen und wohliger Empfindung bei der Erinnerung an ihre Beziehungen zu Lewin. Die Erinnerungen an ihre Kindheit und an die Freundschaft Lewins mit ihrem seligen Bruder gaben ihren Beziehungen zu ihm einen eigenartigen, poetischen Reiz. Seine Liebe zu ihr, von der sie überzeugt war, erschien ihr schmeichelhaft und verursachte ihr Freude. Und es fiel ihr nicht schwer, sich Lewins zu erinnern.

In ihre Gedanken an Wronskiy hingegen mischte sich etwas wie Schwerfälligkeit, obwohl er im höchsten Maße Weltmann und von sehr ruhiger Haltung war; gleichsam als wäre etwas Falsches dabei – nicht in ihm, denn er war sehr treuherzig und freundlich, sondern in ihr, während sie sich bezüglich Lewins vollkommen ruhig und klar erschien. Dachte sie jedoch allein an die Zukunft mit Wronskiy, so entstand dafür vor ihr eine Perspektive von Glück und Glanz, während ihr über der mit Lewin nur ein Nebel zu liegen schien.

Als sie emporstieg, um sich für den Abend umzukleiden, und in den Spiegel schaute, bemerkte sie mit Freude, daß sie heute einen ihrer besten Tage habe und sich im vollen Besitz aller ihrer Kräfte befinde – dies war ihr ja auch so nötig für das Bevorstehende. Sie fühlte in ihrem Inneren ihre äußere Ruhe und war sich einer freien Grazie in ihren Bewegungen bewußt.

Um halb acht Uhr – sie war soeben in den Salon getreten – meldete der Diener »Konstantin Dmitritsch Lewin!«

Die Fürstin war noch in ihren Räumen, der Fürst war ebenfalls noch nicht erschienen.

»Sei’s drum,« dachte Kity und alles Blut trat ihr zum Herzen. Sie erschrak ob ihrer Blässe, als sie in den Spiegel geblickt hatte.

Jetzt wußte sie sicher, daß er nur deshalb frühzeitiger ankam, um sie allein zu treffen und ihr seinen Antrag zu machen. Mit dieser Erkenntnis aber erschien ihr die ganze Angelegenheit zum erstenmale in einem ganz anderen, neuem Lichte. Jetzt erst erkannte sie, daß die Frage nicht sie allein anging, mit wem sie glücklich sein könnte und wen sie liebte, sondern daß sie in dieser Minute einen Mann schmerzlich treffen sollte, den sie wirklich liebte. Wie hart sollte sie ihn treffen; und warum? Darum, weil er, ein guter Mensch, sie liebte, eine Leidenschaft zu ihr gefaßt hatte.

Indessen, es war nichts zu thun; wie es die Pflicht erheischte, so mußte gehandelt werden.

»Mein Gott, muß ich denn aber selbst ihm dies sagen?« dachte sie, »soll ich ihm sagen, daß ich ihn nicht liebe? Das wäre ja eine Unwahrheit. Was soll ich also nun sagen? Etwa, daß ich einen anderen liebte? Das ist unmöglich. Ich werde fliehen, forteilen!«

Sie war bereits bis zur Thür gelangt, als sie seine Schritte vernahm.

»Nein, das ist nicht ehrenhaft; was habe ich zu fürchten? Ich habe nichts Schlechtes gethan! Was sein soll, muß sein! Ich will die Wahrheit sagen, mit ihm kann ich nicht falsch verfahren. Da ist er!« sprach sie zu sich selbst, seine kraftvolle Gestalt mit den blitzend auf sie gerichteten Augen zaghaft eintreten sehend. Sie blickte ihm offen ins Antlitz, als wolle sie ihn um Schonung bitten, und reichte ihm ihre Hand.

»Ich komme nicht zur rechten Zeit, wie mir scheint, ein wenig zu früh,« hub er an, im leeren Salon Umschau haltend. Als er gewahrte, daß seine Hoffnungen sich erfüllt hatten, daß nichts ihn hindere, sich auszusprechen, wurden seine Mienen düster.

»O nein,« antwortete Kity, an einem Tische Platz nehmend.

»Ich wollte eben, daß ich Euch allein anträfe,« begann er, ohne sich zu setzen und ihren Blick vermeidend, um seine Fassung nicht zu verlieren.

»Mama wird sogleich erscheinen. Sie war gestern sehr ermüdet, gestern –« Sie sprach, ohne recht zu wissen, was ihre Lippen hervorbrachten, und ohne den beschwörenden und bittenden Blick von ihm zu wenden.

Er schaute sie an; sie errötete und verstummte.

»Ich sagte Euch schon, daß ich selbst nicht wisse, ob ich für längere Zeit hierher gekommen wäre – daß dies von Euch abhängt« – –

Sie neigte das Haupt tiefer und tiefer, ohne zu wissen, was sie auf das Kommende zu antworten haben würde.

»Dies hängt von Euch ab,« wiederholte er; »ich wollte sagen – ich wollte sagen – ich bin deshalb gekommen, damit – Ihr mein Weib würdet« – sagte er, ohne zu wissen, was er sprach; aber im Gefühl, daß er das Furchtbare gesprochen hatte, stockte er und schaute sie an.

Sie atmete schwer, ohne den Blick zu ihm zu erheben; ein Entzücken durchrieselte sie; ihre Seele war voll Glück. Nie hätte sie erwartet, daß das Geständnis seiner Liebe zu ihr auf sie einen so mächtigen Eindruck machen würde. Doch dies währte nur einen Augenblick; sie erinnerte sich Wronskiys und sie erhob ihre hellen, offenen Augen zu Lewin; als sie sein verzweiflungsvolles Gesicht bemerkte, antwortete sie:

»Es kann nicht sein – vergebt mir.«

Wie nahe war sie noch vor einer Minute ihm gewesen, wie wertvoll war sie ihm da noch für das Leben – und wie fremd stand sie jetzt vor ihm, wie weit!

»Es mußte so kommen,« sprach er, ohne sie anzublicken.

Er verneigte sich und wollte gehen.

14.

In diesem Moment erschien die Fürstin. Auf ihrem Antlitz malte sich Erschrecken, als sie die beiden allein erblickte, mit ihren zerstreuten Mienen.

Lewin verbeugte sich vor ihr, ohne ein Wort zu reden. Kity schwieg, ohne das Auge zu erheben. »Gott sei Dank, sie hat refüsiert,« dachte die Mutter und ihr Gesicht erglänzte in dem gewohnten Lächeln, mit dem sie des Donnerstags ihre Gäste zu bewillkommen Pflegte. Sie ließ sich nieder und begann Lewin über das Leben auf dem Lande zu befragen. Auch er nahm Platz, die Ankunft der Gäste erwartend, um so unbemerkt den Salon verlassen zu können.

Nach Verlauf von fünf Minuten erschien eine Freundin Kitys, die im vergangenen Winter geheiratet hatte, die Gräfin Nordstone.

Sie war ein mageres, gelbliches krankhaftes und nervenschwaches Geschöpf mit schwarzen, blitzenden Augen. Sie liebte Kity und ihre Liebe zu derselben drückte sich – wie gewöhnlich die Liebe der Verheirateten zu Unverheirateten – in dem Wunsch aus, Kity einen Mann zu verschaffen, der ihrem Ideal von Glück entspräche; sie wünschte Kity mit Wronskiy zu vereinen. Lewin, dem sie im Anfang des Winters häufig begegnet war, war ihr stets unsympathisch gewesen, und ihre stete Beschäftigung bei einer Begegnung mit ihm war die, sich über ihn lustig zu machen.

»Ich liebe es, wenn er von der Höhe seines Selbstgefühls auf mich herabblickt, entweder seine geistvolle Unterhaltung mit mir abbricht, weil ich ihm zu dumm bin, oder sich zu mir herabläßt. Ich liebe das sehr, wenn, er sich so herabläßt, und bin froh, daß er mich nicht ausstehen kann,« äußerte sie sich über ihn.

Sie hatte recht, denn Lewin konnte sie in der That nicht ausstehen und blickte verächtlich auf sie, weil sie sich – was sie sich als Vorzug anrechnete – mit ihrer Nervenschwäche brüstete, mit ihrer vornehmen Geringschätzung, ihrer Indifferenz gegenüber allem Derberen und Prosaischen.

Zwischen Nordstone und Lewin bestand jene in der Welt so häufige Erscheinung daß sich zwei Menschen, dem Äußeren nach in den freundschaftlichsten Beziehungen zu einander stehend, bis zu einem Grade verachten, daß sie nicht mehr ernst miteinander verkehren können und nicht imstande sind, noch eine gegenseitige Kränkung zu empfinden.

Die Gräfin Nordstone eilte Lewin sogleich entgegen.

»Ah, Konstantin Dmitritsch! Wieder zurückgekehrt nach unserem ausschweifenden Babylon,« begann sie, ihm die kleine gelbe Hand reichend, und sich seiner Worte erinnernd, die er im Beginne des Winters geäußert hatte, Moskau sei ein Babylon. »Das Babylon hat sich gebessert, aber Ihr seid schlechter geworden!« fügte sie hinzu, lächelnd auf Kity blickend.

»Es ist mir sehr schmeichelhaft Gräfin, daß Ihr Euch meiner Worte so wohl entsinnt,« versetzte Lewin, bereit, den Hieb zu parieren und sogleich in sein scherzhaft gegnerisches Verhältnis zur Gräfin Nordstone tretend, »wahrscheinlich haben sie recht schwer auf Euch eingewirkt.«

»Ah gewiß; ich schreibe ja alles nieder. Nun, Kity, bist du wieder Schlittschuh gefahren?«

Sie begann jetzt, mit Kity zu sprechen. So schlecht gewählt jetzt auch die Zeit sein mochte, sich zu verabschieden, so wollte Lewin doch lieber diese Taktlosigkeit begehen, als den ganzen Abend hindurch hier zu bleiben und Kity sehen zu müssen, die nur selten nach ihm hinschaute und seine Blicke vermied. Er wollte sich erheben, allein die Fürstin, wohl bemerkend daß er sich schweigend verhielt, wandte sich an ihn.

»Seid Ihr für längere Zeit nach Moskau gekommen? Ihr seid doch Wohl im Friedensgericht und da wird sich ein langer Aufenthalt nicht ermöglichen lassen?«

»Nein, Fürstin, ich befasse mich jetzt nicht mehr mit dem Zemstwo,« antwortete er. »Ich bin für einige Tage hierher gekommen.«

»Mit dem ist es nicht ganz richtig,« dachte die Gräfin Nordstone, sein strenges, ernstes Gesicht bemerkend; »es scheint ihm etwas nicht in den Kram zu passen. Doch ich werde ihn blamieren; ich habe es gar zu gern, ihn als Narren hinstellen zu können vor Kity; und ich werde es thun.«

»Konstantin Dmitritsch,« begann sie zu Lewin, »sagt mir doch, ich bitte recht schön – was hat das zu bedeuten – Ihr wißt doch ja alles. Bei uns in Kaluga haben alle die Bauern und alle die Weiber alles vertrunken, was sie hatten, und zahlen uns jetzt keine Steuern mehr. Was hat das zu bedeuten? Ihr lobt doch die Bauern sonst stets!« –

In diesem Augenblick trat eine Dame in den Salon und Lewin erhob sich.

»Entschuldigt mich, Gräfin, aber ich weiß in der Sache wahrhaftig nichts zu sagen,« versetzte er, den Blick nach dem der Dame folgenden Offizier richtend.

»Dies muß Wronskiy sein,« dachte Lewin, und blickte nach Kity, um sich hierüber Gewißheit zu verschaffen. Diese war Wronskiys schon ansichtig geworden und schaute jetzt nach Lewin. An dem einen unwillkürlich aufglänzenden Blicke ihrer Augen erkannte Lewin, daß Kity diesen Mann liebte, und er erkannte dies so sicher, als hätte sie es ihm mit Worten ausgesprochen. Aber was war das für ein Mann?

Jetzt, – mochte es gut sein, oder nicht, – mußte Lewin noch länger bleiben; er mußte erfahren, was dies für ein Mensch war, den Kity liebte. Es giebt Menschen, die ihren in irgend einer beliebigen Sache glücklicheren Nebenbuhler von vornherein bereit sind, alles Gute was in ihm ist, abzusprechen, und allein das Schlechte in ihm wahrzunehmen. Es giebt aber auch im Gegensatz hierzu Menschen, die um jeden Preis wünschen, in diesem glücklicheren Nebenbuhler diejenigen Eigenschaften zu entdecken, vermöge deren sie selbst überwunden würden, und sie suchen dann in ihm, mit schmerzlicher Angst im Herzen, allein das Gute.

Lewin gehörte zu dieser Art von Menschen; aber es fiel ihm nicht schwer, das Gute und Anziehende an Wronskiy zu entdecken; es fiel ihm von selbst in die Augen.

Wronskiy war nicht groß, ein stämmiger brünetter junger Mann mit freundlichem, hübschen und außerordentlich ruhigem und entschlossenen Gesichtsausdruck. In seinem Antlitz und in seiner Erscheinung, von den kurzgeschnittenen schwarzen Haaren und dem frischrasierten Kinn an bis zu der weiten, nagelneuen Uniform war alles an ihm einfach und doch zugleich schön. Der eintretenden Dame den Vortritt lassend, schritt Wronskiy auf die Fürstin zu und wandte sich dann an Kity. Während er zu dieser hintrat, erglänzten seine hübschen Augen in einem besonderen, zarten Feuer, und mit kaum bemerkbaren, glücklichen und bescheiden triumphierenden Lächeln – so schien es wenigstens Lewin – verbeugte er sich ehrfurchtsvoll und ritterlich und reichte ihr seine ziemlich kleine, aber breite Hand.

Nachdem er alle anderen begrüßt und einige Worte gewechselt hatte, setzte er sich, ohne auch nur ein einziges Mal nach Lewin zu schauen, der keinen Blick von ihm verwandte.

»Gestattet, daß ich bekannt mache,« hub jetzt die Fürstin an, auf Lewin weisend: »Konstantin Dmitritsch Lewin – Graf Aleksey Kyrillowitsch Wronskiy.« –

Wronskiy erhob sich, freundlich auf Lewin blickend und ihm die Hand drückend. »Ich hätte mit Ihnen heuer im Winter dinieren müssen, scheint mir,« begann er mit seinem guten und offenherzigen Lächeln, »aber Ihr waret so unerwartet auf das Land gereist.«

»Konstantin Dmitritsch verachtet und haßt das Stadtleben und uns, die Städter,« warf die Gräfin Nordstone ein.

»Meine Worte müssen doch recht sehr auf Euch eingewirkt haben, da Ihr derselben so sehr gedenkt,« sagte Lewin, wurde aber rot, da ihm einfiel, daß er diese Worte bereits vorher gesprochen hatte.

Wronskiy blickte Lewin an und dann die Gräfin Nordstone und lächelte.

»Haltet Ihr Euch stets auf dem Lande auf?« frug er, »ich sollte meinen, im Winter ist das langweilig?«

»Es ist nicht langweilig, wenn man Beschäftigung hat und mit mir selbst langweile ich mich nicht,« antwortete Lewin fest.

»Ich liebe das Dorf,« fuhr Wronskiy fort, sich den Anschein gebend, als bemerke er den Ausdruck und den Ton Lewins nicht.

»Aber ich hoffe doch, Graf, daß Ihr nie einverstanden damit sein würdet, stets daselbst zu leben,« rief die Gräfin Nordstone.

»Ich weiß nicht, da ich das Landleben auf die Dauer nicht erprobt habe. Ich empfand stets ein seltsames Gefühl,« antwortete Wronskiy, »aber nirgends habe ich mich so gesehnt, in Langerweile, nach dem Dorfe, dem russischen Dorfe mit seinen Bastschuhen und Muschiks, als zur Zeit, da ich mit Mama einen Winter in Nizza verlebte. Nizza ist an und für sich langweilig, Ihr wißt es ja; selbst Neapel, Sorrento sind nur für kurze Zeit schön. Gerade dort gedenkt man besonders lebhaft Rußlands und vor allem des Dorfes. Jene Orte sind gleichsam« –

Er sprach weiter, zu Kity wie zu Lewin gewendet und seine ruhigen und freundlichen Blicke von einem auf den andern gleiten lassend; er sagte offenbar das, was er eben dachte. Da er bemerkte, daß die Gräfin Nordstone etwas einwerfen wollte, hielt er inne, ohne den angefangenen Satz zu vollenden und begann, dieser aufmerksames Gehör zu schenken.

Das Gespräch verstummte keine Minute, so daß die alte Fürstin, welche stets für den Fall eintretenden Mangels an einem Gesprächsthema zwei schwere Geschütze in Reserve hatte, nämlich die klassische und die reale Bildung und die allgemeine Militärpflicht, gar nicht in die Lage kam, dieselben auffahren zu müssen, während die Gräfin Nordstone keine Gelegenheit finden konnte, sich an Lewin zu reiben.

Dieser bezeugte keine Lust, in das allgemeine Gespräch einzugreifen; er sagte jeden Augenblick zu sich selbst, er müsse nun fort, und dennoch ging er nicht gleichwie in der Erwartung irgend eines Ereignisses.

Die Unterhaltung kam jetzt auf Tischrücken und Geister, und die Gräfin Nordstone, welche an den Spiritismus glaubte, begann von Wundern zu erzählen die sie gesehen haben wollte.

»O, Gräfin, bringt mich, ich bitte Euch um aller Heiligen Willen, mit den Geistern in Verbindung! Noch niemals habe ich etwas Ungewöhnliches erlebt, und suche doch allüberall darnach,« sagte Wronskiy lächelnd.

»Gut, nächsten Sonnabend,« versetzte die Gräfin Nordstone, »Ihr aber, Konstantin Dmitritsch, glaubt Ihr denn an die Geister?« frug sie Lewin.

»Weshalb fragt Ihr mich? Ihr wißt ja doch wohl, was ich antworten werde.«

»Ich wünsche aber Eure Meinung zu hören.«

»Meine Meinung ist nur die,« versetzte Lewin, »die sich bewegenden Stühle beweisen, daß die sogenannte gebildete Gesellschaft nicht höher steht als der Muschik. Dieser glaubt an den bösen Blick, an die Behexung, wir aber« –

»Nun, Ihr glaubt nicht?«

»Ich kann es nicht, Gräfin!«

»Aber wenn ich selbst gesehen habe« –

»Auch die alten Weiber erzählen, daß sie Kobolde gesehen haben.«

»So denkt Ihr also, ich spreche die Unwahrheit?«

Sie lachte nicht gut.

»Siehst du, Mama, Konstantin Dmitritsch sagt, er könne nicht daran glauben,« sagte Kity, über Lewin errötend; dieser verstand das, und wollte, noch mehr in Erregung geratend, antworten, allein Wronskiy mit seinem offenen, heiteren Lächeln, kam dem Gespräch sogleich zu Hilfe, da es unangenehm zu werden drohte.

»Ihr gebt eine Möglichkeit absolut nicht zu?« frug er, »weshalb nicht? Wir räumen doch die Existenz der Elektricität, die wir noch nicht näher kennen, ein; weshalb sollte da nicht auch eine neue Kraft die uns noch unbekannt ist, vorhanden sein können, welche« – –

»Als die Elektricität entdeckt wurde,« erwiderte Lewin schnell, »so war nur deren Offenbarung entdeckt und es blieb Geheimnis, woher sie stamme und was sie bewirke; Jahrhunderte aber vergingen, bevor man an ihre Verwendung dachte. Die Spiritualisten hingegen begannen damit, daß ihnen ihre Tische etwas aufschrieben, daß die Geister zu ihnen kamen, und dann erst sagten sie, es sei dabei eine unerforschte Kraft vorhanden.«

Wronskiy hörte aufmerksam auf Lewins Worte, wie er es eben stets that; augenscheinlich von denselben interessiert.

»Ganz wohl; aber die Spiritualisten sagen, wir wissen jetzt nicht was für eine Kraft hier wirkt, aber es ist eine und unter bestimmten Vorbedingungen tritt sie auf. Mögen doch nun die Gelehrten entdecken, worin diese Kraft besteht. Nein, nein, ich sehe nicht ein, warum nicht eine neue Kraft vorhanden sein könnte, wenn« –

»Da aber,« unterbrach ihn Lewin, »bei der Elektricität stets, sobald man Bernstein an Wolle reibt, sich jene bekannte Erscheinung zeigt, hier dies aber nicht jedesmal der Fall ist, so ist diese neue Kraft wahrscheinlich doch Wohl keine – Naturerscheinung.« –

Wohl in der Empfindung, daß das Gespräch einen für die Gesellschaft zu ernsten Charakter annehme, erwiderte Wronskiy nichts hierauf, sondern lächelte nur heiter in dem Bemühen, das Thema zu wechseln, und wandte sich an die Damen.

»Machen wir sogleich eine Probe, Gräfin,« sagte er; doch Lewin wollte aussprechen, wie er dachte.

»Ich meine,« fuhr er fort, »daß jener Versuch der Spiritualisten, ihre Wunder mit einer neuen Kraft zu erklären, völlig unglücklich ist. Sie sprechen unverhohlen von einer geistigen Kraft und wollen diese materiellen Versuchen unterwerfen.«

Alle warteten, daß er enden sollte, und er selbst empfand das.

»Ich glaube, Ihr würdet ein vorzügliches Medium sein,« sagte die Gräfin Nordstone, »Ihr habt so etwas Verzücktes.«

Lewin öffnete den Mund und wollte etwas antworten, errötete aber nur und schwieg.

»Machen wir sofort einen Versuch, mit den Tischen, Fürstin, ist es gestattet?« frug Wronskiy, welcher aufstand und mit den Augen nach einem Tische suchte.

Kity hatte sich hinter ihrem kleinen Tische erhoben und begegnete, seitwärtstretend, den Augen Lewins. Sie empfand ein tiefes Mitgefühl mit ihm, umsomehr, als sie sich selbst als die Ursache semes Unglücks betrachtete. »Wenn Ihr mir verzeihen könnt, so verzeiht,« bat ihr Blick, »ich bin so glücklich.«

»Ich hasse euch alle und mich,« antwortete sein Auge und er griff nach seinem Hut. Aber er sollte noch nicht von hier weggelangen. Man wollte sich soeben um das Tischchen gruppieren, und Lewin war im Begriff, zu gehen, als der alte Fürst hereintrat und, nachdem er die Damen begrüßt hatte, sich zu Lewin wandte.

»Ah,« begann er erfreut, »auf längere Zeit hier? Ich wußte ja noch gar nichts von deiner Anwesenheit. Sehr erfreut, Euch zu sehen.«

Der alte Fürst sprach Lewin bald mit du bald mit Ihr an; er umarmte ihn und bemerkte im Gespräch mit ihm gar nicht Wronskiy, welcher sich erhoben batte und ruhig wartete, bis sich der Fürst an ihn wenden würde.

Kity fühlte, daß nach alledem, was geschehen war, Lewin die Liebenswürdigkeit ihres Vaters nur peinlich sein mußte. Sie gewahrte auch, wie steif ihr Vater der Verbeugung Wronskiys dankte und wie letzterer mit freundlicher Verlegenheit auf ihren Vater schaute, sich vergeblich bemühend, zu begreifen wie und weshalb es möglich geworden war, ihm mit unfreundlicher Stimmung zu begegnen, und errötete.

»Fürst, lasset jetzt den Konstantin Dmitritsch frei,« sagte die Gräfin Nordstone, »wir wollen ein Experiment machen.«

»Was für ein Experiment? Tischrücken? Nun, es entschuldigen wohl die Damen und Herren, wenn ich nach meiner Meinung das Ringspiel doch noch heiterer finde,« antwortete der Fürst, auf Wronskiy blickend in der Vermutung, dieser könnte Anstalten dazu treffen. »Das Ringspiel hat doch wenigstens noch Sinn.«

Wronskiy schaute befremdet auf den Fürsten mit seinen festen Blicken, dann aber begann er sofort, mit kaum bemerkbarem Lächeln sich an die Gräfin Nordstone wendend, von dem in der nächsten Woche bevorstehenden großen Balle zu reden.

»Ich hoffe, Ihr werdet dort sein?« wandte er sich auch an Kity.

Der alte Fürst hatte sich kaum von Lewin weggewendet, als dieser unbemerkt den Salon verließ. Der letzte Eindruck, den er von diesem Abend mit hinwegnahm, war das lächelnde, glückstrahlende Gesicht Kitys, wie sie Wronskiy auf seine Frage nach dem Balle antwortete.

15.

Nachdem der Abend sein Ende erreicht hatte, erzählte Kity der Mutter von ihrem Gespräch mit Lewin, und sie freute sich, ungeachtet alles Mitleids, das sie für Lewin empfand, in dem Gedanken, daß ihr doch ein »Antrag« gemacht worden war.

Es bestand für sie kein Zweifel, daß sie gehandelt hatte, wie es ihr zukam. Aber noch im Bett vermochte sie lange Zeit den Schlaf nicht zu finden.

Ein bestimmter Eindruck verfolgte sie unablässig, es war das Antlitz Lewins mit den zusammengezogenen Brauen und den finster traurig unter ihnen hervorblickenden guten Augen, wie er stand, ihrem Vater zuhörend und nach ihr hinüberblickend und nach Wronskiy. Sie empfand so viel Mitleid mit ihm, daß Thränen in ihr Auge traten, doch sie vergegenwärtigte sich sogleich, für wen sie ihn eintauschte. Lebhaft stellte sie sich jenes männliche, feste Antlitz vor Augen, das mit so edler Ruhe und in einer so aus allem hervorleuchtenden Güte jedermann entgegenblickte. Sie vergegenwärtigte sich die Liebe dessen, den sie selbst liebte, es wurde ihr wieder fröhlich ums Herz, und mit einem Lächeln des Glückes legte sie sich endlich wieder auf ihr Kissen.

»Schade, schade, aber was ist zu thun? Ich habe keine Schuld,« sprach sie zu sich selbst, eine innere Stimme aber sprach noch anders. Ob in derselben die Reue lag darüber, daß sie Lewin hierher gezogen, oder darüber, daß sie ihm eine Absage gegeben hatte – sie wußte es selbst nicht. Ihr Glück wurde von Zweifeln vergiftet. »Herr Gott erbarme dich, erbarme dich,« betete sie für sich selbst, indem sie einschlummerte.

Zur nämlichen Stunde spielte sich unten in dem kleinen Kabinett des Fürsten eine jener so häufig zwischen den Gatten sich wiederholenden Scenen ab, betreffs der Lieblingstochter.

»Wie? Da hast du es!« rief der Fürst, mit den Händen fuchtelnd, und dann seinen Pelz von weißem Eichhorn zusammennehmend, »da habt Ihr es, daß Ihr weder Stolz noch Würde besitzt, die Tochter mit dieser niedrigen, albernen Freiwerbung kompromittiert und unglücklich macht!«

»Aber um Gottes willen, Fürst, was habe ich gethan,« antwortete die Fürstin, fast weinend.

Sie war so glücklich und zufrieden nach dem Gespräch mit ihrer Tochter gewesen, war jetzt nach ihrer Gewohnheit zum Fürsten gekommen, um diesem gute Nacht zu wünschen und hatte, ohne die Absicht ihm von Lewins Antrag zu erzählen oder von Kitys Absage, ihrem Gatten nur angedeutet, daß ihr die Angelegenheit mit Wronskiy völlig sicher zu stehen scheine, daß sich dieselbe entscheiden werde, sobald dessen Mutter angekommen sein würde – da, bei diesen Worten, war der Fürst plötzlich aufgefahren und hatte ihr die härtesten Worte zugerufen.

»Was Ihr gethan habt? Ihr sollt es wissen: Erstens lockt Ihr einen Bräutigam an; ganz Moskau wird davon reden, und mit Recht. Wenn Ihr Abendcirkel haltet, so ladet jedermann ein, nicht aber nur die heiratslustigen jungen Männer. Ladet dann alle jungen Leute in Moskau ein und laßt sie tanzen, aber nicht nur, wie heute, die Bräutigams die Ihr mit unserer Tochter zusammenbringt. Das zu sehen, ist entehrend für mich und Ihr habt es so weit gebracht, dem Kinde den Kopf zu verdrehen. Lewin ist ein tausendmal besserer Mensch! Jener petersburger Fant hingegen ist einer wie in der Maschine gemacht; diese Leute sind alle nach einem Schlag, sind alle Nichts. Wäre er selbst ein Prinz von Geblüt, meine Tochter braucht niemanden!«

»Aber was habe ich gethan?«

»Nun,« rief der Fürst ingrimmig.

»Ich erkenne das Eine, daß, wenn es nach dir geht,« unterbrach ihn die Fürstin, »wir niemals unsere Tochter verheiraten werden. Wenn dem so ist, dann können wir nur auf das Dorf gehen.«

»Es wäre auch besser so.«

»Halt ein. Suche ich denn nach jemand? Durchaus nicht! Ein junger Mann von angenehmen Wesen hat sich in sie verliebt, und sie, scheint es –«

»Ah, da scheint Euch etwas! Wie denn nun, wenn sie sich tatsächlich verliebt hat, er aber ebensowenig gewillt wäre, sie zu heiraten, wie ich es etwa bin? O, der Spiritualismus, o, das Nizza, ach, der Ball,« – der Fürst, sich stellend, als ahme er sein Weib nach, kniete mit jedem dieser Worte. »Dies ist der Weg, auf dem wir die Katinka unglücklich machen, auf dem sie sich in der That etwas in den Kopf setzen kann.«

»Aber aus welchem Grunde denkst du denn?« –

»Ich denke gar nichts; ich weiß nur: dafür haben wir Augen, die Weiber aber nicht. Ich sehe nur den Mann an, welcher ernste Absichten hat, dies ist Lewin; ich sehe aber auch die Wachtel, den Zungendrescher, der sich nur zerstreuen will.«

»Ah, das setzest du dir doch auch nur in den Kopf.«

»Nun, entsinnest du dich, – jetzt ist es freilich zu spät – wie es mit der Dolly war?«

»Genug, genug, wir wollen nicht weiter davon reden,« hemmte die Fürstin seinen Redefluß, der unglücklichen Dolly gedenkend.

»Laß gut sein; schlaf wohl!«

Sie bekreuzten beide einander und küßten sich; dann verließen sich die Gatten im Gefühl, daß jeder von ihnen bei seiner eigenen Meinung blieb.

Die Fürstin war anfänglich fest überzeugt gewesen, daß der heutige Abend über das Schicksal Kitys entschieden habe und daß kein Zweifel über die Absichten Wronskiys mehr obwalten könne, aber die Worte des Gatten beunruhigten sie jetzt, und als sie in ihren Gemächern angelangt war, wiederholte sie ganz ebenso wie Kity voll Schrecken’vor der verborgenen Zukunft mehrmals in ihrem Innern die Worte: »O Gott erbarme dich, erbarme dich!«

17.

Unwillkürlich in seiner Vorstellungskraft noch einmal die Eindrücke musternd, die er in den Gesprächen während des Essens und nach demselben erhalten hatte, kehrte Aleksey Aleksandrowitsch nach seinem einsamen Zimmer zurück.

Die Worte Darja Aleksandrownas über die Verzeihung hatten in ihm nur Verdruß verursacht. Die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit jenes christlichen Gebotes auf seinen Fall war eine viel zu schwierige Frage, über welche sich nicht leichthin sprechen ließ; und diese Frage war von Aleksey Aleksandrowitsch bereits längst in verneinendem Sinne entschieden worden. Aus alledem was heute gesagt worden war, fielen ihm vor allem die Worte des einfältigen, guten Turowzyn wieder ein »er hat mannhaft gehandelt, gefordert und seinen Gegner ins Jenseits befördert«. Jedermann stimmte dem offenbar bei, wenn man es auch wohl aus Höflichkeit, nicht aussprach.

»Übrigens, die Sache ist in Ordnung, es giebt nichts mehr darüber nachzudenken,« sprach er zu sich selbst, und indem er nun nur noch an seine bevorstehende Abreise und die Revisionsangelegenheit dachte, begab er sich auf sein Zimmer und frug den ihn begleitenden Portier, wo sein Diener sei. Der Portier berichtete, daß der Diener soeben erst fortgegangen wäre. Aleksey Aleksandrowitsch befahl Thee, setzte sich an den Tisch, und begann die Reiseroute zu kombinieren.

»Zwei Telegramme,« sagte der Diener, welcher wieder zurückkam und in das Zimmer trat. »Entschuldigung, Excellenz, ich war soeben erst fortgegangen.«

Aleksey Aleksandrowitsch ergriff die Telegramme und öffnete sie. Das erste enthielt die Nachricht von der Ernennung Stremoffs für den nämlichen Posten, den Karenin angestrebt hatte. Er warf die Depesche fort, erhob sich, rot geworden, und begann im Zimmer auf und abzuschreiten. » Quos vult perdere dementat,« sprach er vor sich hin, unter dem » quos« jene Männer verstehend, die für diese Ernennung gewirkt hatten.

Nicht das war ihm ärgerlich, daß er jenes Amt nicht erhalten, daß man ihn offenbar übergangen hatte – es war ihm unverständlich, wunderbar, daß man nicht erkannte, daß jener Schwätzer und Phrasenheld, Stremoff, weniger als jeder andere befähigt dazu sei. Wie konnte man übersehen, daß man sich und das »Prestige« mit dieser Ernennung stürzte.

»Wohl noch etwas Weiteres der Art,« sprach er gallig vor sich hin, die zweite Depesche öffnend. Das Telegramm kam von seiner Frau. Die Unterschrift mit dem blauen Stift, »Anna«, fiel ihm zuerst ins Auge: »Ich sterbe; ich bitte und beschwöre dich, zu mir zu kommen; mit deiner Vergebung werde ich ruhiger sterben,« las er.

Mit verächtlichem Lächeln warf er das Telegramm beiseite. Daß hier eine Täuschung, eine Falle vorlag, wie es ihm in der ersten Minute erschien, konnte nicht dem geringsten Zweifel unterliegen.

»Es giebt keine Täuschung, vor der sie zurückschreckte! Sie muß niederkommen, wahrscheinlich liegt sie krank an den Wehen. Aber welche Absicht haben sie? Nun, ihr Kind legitim machen zu lassen, mich zu kompromittieren und die Ehescheidung zu hintertreiben!« dachte er. »Aber es ist doch da gesagt, ›ich sterbe‹« – er las nochmals das Telegramm durch und jäh durchzuckte ihn der richtige Sinn dessen, was in demselben gesagt war: »wie, wenn es wahr wäre,« sagte er zu sich selbst, »wenn es wahr wäre, daß sie in der Minute des Leidens und der Nähe des Todes aufrichtig bereute, und ich, es dennoch für eine Täuschung haltend, die Rückkehr abschlüge? Das würde nicht nur hartherzig sein, es würde mich nicht nur jedermann verurteilen – – nein, sogar eine Thorheit meinerseits wäre es!«

»Peter, den Wagen! Ich will nach Petersburg,« befahl er dem Diener.

Aleksey Aleksandrowitsch hatte beschlossen, nach Petersburg zurückzufahren und sein Weib zu sehen. War ihre Krankheit ein Betrug, so wollte er schweigend wieder von dannen gehen, war sie wirklich dem Tode nahe, wünschte sie ihn vor demselben nochmals zu sehen, so wollte er ihr vergeben falls er sie noch unter den Lebenden träfe, oder ihr die letzte Pflicht erweisen, falls er zu spät käme.

So lange er sich unterwegs befand, dachte er nicht weiter an das, was er zu thun habe. Mit einem Gefühl von Ermüdung und körperlicher Unbehaglichkeit, welches von der im Waggon verbrachten Nacht herrührte, fuhr Aleksey Aleksandrowitsch im Morgennebel Petersburgs den verödeten Newskiyprospekt hinab und starrte vor sich hin, ohne an das zu denken, was ihn erwartete. Er vermochte nicht, daran zu denken, weil er bei der Vorstellung dessen, was da kommen sollte, die Annahme nicht von sich weisen konnte, daß ihr Tod mit einem Schlage die ganze Schwierigkeit seiner Lage lösen würde.

Die Bäcker, die noch geschlossenen Läden, die Nachtdroschken, die Dvorniks, welche die Trottoire kehrten, – alles das huschte, an seinen Augen vorüber und er beobachtete alles, in dem Bestreben, den Gedanken an das zu ersticken, was ihn erwarte, was er nicht zu wünschen wagte und doch wünschte.

Er fuhr an der Freitreppe vor. Ein Mietkutscher und ein Wagen mit einem schlafenden Kutscher standen vor der Einfahrt. Als Aleksey Aleksandrowitsch den Treppensaal betrat, faßte er, gleichsam wie aus einem versteckten Winkel seines Hirns heraus einen letzten Entschluß und rüstete sich mit diesem; er, lautete: Wenn eine Täuschung vorliegt, – ruhige Verachtung und Abreise; wenn Wahrheit – den Takt wahren.«

Der Portier öffnete die Thür, noch bevor Aleksey Aleksandrowitsch geläutet hatte. Petroff, sonst auch Kapitonitsch gerufen, bot einen seltsamen Anblick in seinem alten Überrock ohne Krawatte und in Pantoffeln.

»Was macht deine Herrin?«

»Es hat sich gestern glücklich entschieden.«

Aleksey Aleksandrowitsch blieb stehen und erblich. Er erkannte jetzt klar, mit welcher Innigkeit er ihren Tod gewünscht hatte.

»Und ihr Befinden?«

Karney in der Morgenschürze kam zur Treppe herab.

»Es geht sehr schlecht,« antwortete er, »gestern war Ärzterat; auch jetzt ist ein Arzt da.«

»Nimm das Gepäck,« befahl Aleksey Aleksandrowitsch und trat in das Vorzimmer, mit einer gewissen Erleichterung infolge der Nachricht, daß doch noch immer eine Hoffnung auf ihren Tod vorhanden sei.

An den Kleiderhaken hing ein Uniformrock. Aleksey Aleksandrowitsch bemerkte dies und frug.

»Wer ist da?«

»Der Arzt, – – die Hebamme und Graf Wronskiy.«

Aleksey Aleksandrowitsch betrat die inneren Gemächer. Im Salon befand sich niemand; aus ihrem Kabinett erschien auf den Schall seiner Schritte hin die Wehfrau in einem Häubchen mit lila Bändern.

Sie trat zu Aleksey Aleksandrowitsch und nahm ihn mit der Vertraulichkeit, welche bei der Nähe des Todes stets erscheint, am Arme, um ihn ins Schlafzimmer zu führen.

»Gott sei Dank, daß Ihr gekommen seid. Nur von Euch und immer wieder von Euch spricht sie,« sagte sie.

»Schnell Eis!« ertönte aus dem Schlafzimmer befehlerisch die Stimme des Arztes.

Aleksey Aleksandrowitsch trat in ihr Kabinett. An ihrem Tische saß, seitwärts gegen die Rücklehne, Wronskiy auf einem niedrigen Stuhl und weinte, das Gesicht mit den Händen bedeckend. Er war emporgesprungen bei dem Klang der Stimme des Arztes, nahm die Hände vom Gesicht und gewahrte Aleksey Aleksandrowitsch. Als er des Gatten ansichtig wurde, geriet er in so mächtige Verwirrung, daß er sich wieder niederließ, und den Kopf zwischen die Schultern zog, als wünsche er zu verschwinden; doch machte er eine Anstrengung über sich selbst, erhob sich wieder und sagte:

»Sie stirbt. Die Ärzte haben gesagt, es sei keine Hoffnung. Ich stehe ganz in Eurer Gewalt, aber gestattet mir, hier zu bleiben – ich bin wie gesagt, Euch ganz zu Willen, ich« –

Als Aleksey Aleksandrowitsch die Thränen Wronskiys erblickte, fühlte er eine Anwandlung von jener inneren Fassungslosigkeit, welche der Anblick fremder Leiden stets in ihm hervorrief, und er schritt, sein Gesicht abwendend und ohne zu Ende zu hören, hastig nach der Thür. Aus dem Schlafgemach wurde die Stimme Annas vernehmbar, welche etwas sprach. Ihre Stimme klang heiter und lebhaft und zeigte außerordentlich ausgeprägte Artikulierung. Aleksey Aleksandrowitsch ging ins Schlafzimmer und näherte sich dem Bett. Sie lag mit dem Gesicht ihm zugewandt. Die Wangen brannten von Röte, die Augen glänzten und die kleinen weißen Hände ragten aus den Manschetten der Nachtjacke hervor und spielten mit dem Zipfel des Deckbettes. Es schien, als sei sie nicht nur gesund und munter, sondern auch bei bester Stimmung. Sie sprach schnell, klangvoll und mit auffallend strenger und empfundener Betonung.

»Weil Aleksey, – ich spreche von Aleksey Aleksandrowitsch – welch ein seltsames, furchtbares Geschick, daß sie beide Aleksey heißen, nicht wahr? – Aleksey mir es nicht verweigert hätte. Wenn ich vergäße, würde er vergeben. Aber weshalb kommt er nicht? Er ist gut, er weiß es selbst nicht, wie gut er ist. O, mein Gott, welch eine Sehnsucht ich habe! Gebt mir schnell Wasser! Ach; das wird ihr, meinem Töchterchen schädlich sein! Nun gut: gebt ihm nur eine Amme! Ich bin ja damit einverstanden; es ist sogar besser. Er wird kommen und Schmerz empfinden, wenn er sie sieht. Gebt sie mir!« –

»Anna Arkadjewna, er ist da. Hier ist er!« sprach die Wehfrau, ihre Aufmerksamkeit auf Aleksey Aleksandrowitsch zu lenken suchend.

»O, Welche Thorheit!« fuhr Anna fort, ohne ihren Mann wahrzunehmen. »Aber so gebt mir doch das Mädchen, gebt mir es doch! Er ist noch nicht gekommen. Ihr sagt nur, daß er mir nicht verzeiht, weil Ihr ihn nicht kennt. Niemand hat ihn gekannt; nur ich, und selbst mir ist dies schwer geworden. Sein Auge, müßt Ihr wissen, – Sergey hat es gerade so; aber ich kann es nicht sehen, deshalb. Habt Ihr Sergey zu essen gegeben? Ich weiß schon, sie werden ihn alle vergessen! Er freilich würde ihn nicht vergessen. Sergey muß in das Eckzimmer gebracht werden und bittet Mariette, bei ihm zu schlafen.«

Plötzlich krümmte sie sich zusammen, verstummte und hob die Hände vor das Gesicht, als erwarte sie voll Schrecken einen Schlag – sie hatte ihren Gatten erblickt.

»Nein, nein,« begann sie wieder, »ich fürchte ihn nicht, ich fürchte den Tod. Aleksey, komme hierher! Ich habe dich so ersehnt, weil ich keine Zeit mehr habe; mir ist nicht viel Zeit zum Leben mehr übrig, bald wird das Fieber wieder beginnen und ich kann dann nichts mehr verstehen. Jetzt aber verstehe ich noch alles, alles, und sehe alles.«

Das finster gerunzelte Gesicht Aleksey Aleksandrowitschs nahm einen Ausdruck von Leiden an; er ergriff ihre Hand und wollte etwas antworten, er brachte aber nichts hervor; seine Unterlippe zitterte, doch noch immer kämpfte er mit seiner Bewegung, nur bisweilen schaute er sie an. Aber jedesmal, wenn er sie anblickte, sah er ihre Augen, die auf ihn gerichtet waren mit so friedsamer, verzückter Milde, wie er sie noch nie in ihnen wahrgenommen hatte.

»Warte, du weißt nicht – wartet, wartet« – sie hielt inne, als wenn sie ihre Gedanken sammeln wollte. »Ja,« begann sie dann, »ja, ja, ja, das wollte ich sagen. Wundere dich nicht über mich! Ich bin noch immer dieselbe – aber in mir ist noch eine andere, die fürchte ich; sie hat sich in jenen Mann verliebt und ich wollte dich hassen, konnte aber die nicht vergessen, die ich gewesen bin. Ich bin jetzt nicht mehr diese; ich bin jetzt die eigentliche, ganz so wie ich bin. Ich sterbe jetzt, und weiß, daß ich sterben muß; frage nur den dort. Ich fühle das jetzt, dort sind sie, mit Centnern an den Händen, an den Füßen, den Fingern; Fingern – hu, wie groß! Aber es wird bald alles vorbei sein. Nur Eins brauche ich noch: verzeihe du mir, verzeihe mir ganz! Ich bin ein furchtbares Weib, aber mir hat meine Amme erzählt, es wäre einst eine heilige Märtyrerin gewesen – wie nannte man sie doch – die war noch schlechter! Ich werde auch nach Rom gehen, dort ist eine große Einöde, da werde ich niemand mehr stören, nur meinen Sergey will ich mit mir nehmen und mein Töchterchen. Doch nein, du kannst mir nicht vergeben, ich weiß, das läßt sich nicht vergeben. Nein, nein, geh von mir, du bist zu gut für mich!« Sie hielt mit der einen ihrer glühenden Hände seine Rechte, mit der anderen stieß sie ihn von sich.

Die innere Ratlosigkeit Aleksey Aleksandrowitschs war mehr und mehr gewachsen und jetzt bis zu einem solchen Grade gestiegen, daß er schon aufhörte, sie noch zu bekämpfen, er fühlte plötzlich, daß das, was er für seelische Fassungslosigkeit hielt, im Gegenteil eine edle seelische Stimmung war, die ihm plötzlich ein neues, noch nie von ihm empfundenes Glück verlieh. Er dachte nicht daran, daß ihm jenes Gesetz des Christen, dem er sein ganzes Leben hindurch folgen wollte, vorschrieb, daß er vergeben und seine Feinde lieben solle, sondern ein erhebendes Gefühl von Liebe und Vergebung für seine Feinde erfüllte ihm die Seele. Er siel auf die Kniee nieder, und seinen Kopf auf ihr Handgelenk legend, das ihn wie Feuer durch das Kamisol sengte, schluchzte er auf wie ein Kind. Sie umfing seinen kahlen Kopf, näherte sich ihm und richtete ihre Augen mit herausforderndem Stolz empor.

»So ist er, ich habe es gewußt! Jetzt vergebt mir alle, vergebt! Sie sind wiedergekommen, weshalb gehen sie nicht? Nehmt mir doch diese Pelze ab!«

Der Arzt nahm ihr die Hände weg, legte sie sorglich auf die Wen, und deckte sie bis an die Schultern zu. Gehorsam legte sie sich und schaute mit glänzendem Blick vor sich hin.

»Merke dir das Eine; ich brauchte nur Verzeihung und weiter will ich nichts. Aber weshalb kommt Er denn nicht?« fuhr sie fort, sich nach der Thür zu Wronskiy wendend, »komm doch her, komm! Gieb ihm die Hand.«

Wronskiy trat an den Rand des Bettes und bedeckte, nachdem er Anna wieder gesehen, das Gesicht von neuem mit den Händen.

»Befreie dein Gesicht und blicke ihn an. Er ist ein Heiliger,« sagte sie. »Ja, befreie, befreie dein Gesicht!« gebot sie heftig, Aleksey Aleksandrowitsch, mach ihm das Gesicht frei. Ich will es sehen!«

Aleksey Aleksandrowitsch nahm die Hände Wronskiys und entfernte sie von dessen Gesicht, welches erschreckend erschien mit seinem Ausdruck von Schmerz und Scham, der auf ihm lag.

»Gieb ihm die Hand. Verzeihe ihm!«

Aleksey Aleksandrowitsch reichte ihm seine Hand, ohne die Thränen zurückhalten zu können, die ihm aus den Augen strömten.

»Gott sei gedankt, Gott sei gedankt!« begann sie wieder, »jetzt ist alles bereit. Die Füße nur noch ein klein wenig mehr strecken. So, so ist es schön. Wie diese Blumen doch geschmacklos gemacht sind, so ganz unähnlich dem Veilchen,« sagte sie, auf die Tapete weisend. »Mein Gott, mein Gott, wann wird es vorüber sein. Gebt mir Morphium. Doktor, Morphium! Mein Gott. Mein Gott!« –

 

Der Arzt und seine Kollegen hatten gesagt, es sei ein Wochenbettfieber, in welchem unter hundert Fällen neunundneunzig mit dem Tode enden. Den ganzen Tag hindurch hatte Fieber, Delirium und Bewußtlosigkeit geherrscht und um Mitternacht lag die Kranke ohne Empfindung und fast ohne Puls. Man erwartete jede Minute das Ende.

Wronskiy war nach Haus gefahren, erschien aber am Morgen wieder, um sich zu erkundigen, und Aleksey Aleksandrowitsch, ihm im Vorzimmer entgegentretend, sagte: »Bleibt hier, es könnte sein, daß sie nach Euch früge,« worauf er ihn selbst in das Kabinett seiner Frau geleitete. Am Morgen war wiederum jene Aufregung, Lebhaftigkeit und Hast in Denken und Sprechen eingetreten, und hatte abermals mit Bewußtlosigkeit geendet. Am dritten Tage war es ebenso und die Ärzte äußerten, daß nunmehr Hoffnung sei.

An diesem Tage trat Aleksey Aleksandrowitsch in das Kabinett, in welchem Wronskiy saß und ließ sich, die Thüre abschließend, diesem gegenüber nieder.

»Aleksey Aleksandrowitsch,« begann Wronskiy in dem Gefühl, daß jetzt die Erklärung nahe, »ich kann weder etwas sprechen, noch etwas verstehen. Schont mich. So schwer Euch zu Mute sein mag; glaubt mir, mir ist es noch furchtbarer.«

Er wollte sich erheben, doch Aleksey Aleksandrowitsch ergriff seine Hand und sagte:

»Ich ersuche Euch, mich anzuhören; dies ist unbedingt notwendig. Ich muß Euch meine Empfindungen offenbaren, die nämlich, welche mich geleitet haben und leiten werden, damit Ihr Euch in mir nicht irrt. Ihr wißt, daß ich zur Ehescheidung entschlossen bin und sogar schon den Anfang mit derselben gemacht habe. Ich verhehle vor Euch nicht, daß ich im Beginn unentschlossen war und Qualen empfunden habe, ich gestehe Euch, daß mich der Wunsch, an Euch wie an Ihr Rache zu nehmen, verfolgt hat. Als ich jenes Telegramm erhielt, kam ich hierher mit ganz den nämlichen Empfindungen, – sage ich lieber – mit dem Wunsche, daß sie sterben möge. Aber« – er verstummte, im Zweifel ob er jenem sein Gefühl enthüllen solle oder nicht – »aber ich habe sie wiedergesehen und ihr vergeben. Das Glück der Verzeihung aber hat mir auch meine Pflicht gewiesen. Ich habe vollständig vergeben. Ich will auch die andere Wange noch darbieten, das Hemd noch hingeben, da man mir den Rock genommen. Ich bitte Gott nur darum, daß er mir nicht die schöne Empfindung rauben möge, die das Vergeben gewährt.«

Die Thränen standen ihm in den Äugen, deren Heller ruhiger Blick Wronskiy in Verwirrung brachte.

»Das ist mein Standpunkt. Ihr könnt mich nun in den Kot treten, mich zum Gegenstand des Gelächters vor der Welt machen, ich werde sie nicht verlassen, und Euch nie ein Wort des Vorwurfes sagen,« fuhr Aleksey Aleksandrowitsch fort. »Meine Pflicht ist mir klar vorgezeichnet; ich muß mit ihr weiter leben und werde es thun! Sollte sie wünschen, Euch zu sehen, so werde ich es Euch zu wissen thun, jetzt aber, glaube ich, ist es besser, Ihr entfernt Euch.« –

Er erhob sich und Schluchzen unterbrach seine Worte. Auch Wronskiy war aufgestanden und blickte ihn, gebrochen und zusammengesunken von unten herauf an. Er verstand die Gefühle Aleksey Aleksandrowitschs nicht, fühlte aber, daß sie etwas Erhabenes hatten, ja etwas für seine Lebensanschauung Unerreichbares.

13.

Nach seinem Gespräch mit Aleksey Aleksandrowitsch ging Wronskiy zur Freitreppe des Hauses Karenin hinaus und blieb dann stehen, sich nur mühsam besinnend, wo er war, und wohin er gehen oder fahren solle. Er fühlte sich beschämt, erniedrigt, schuldbeladen und der Möglichkeit beraubt, sich von dieser Schmach reinwaschen zu können. Er fühlte sich herausgeschleudert aus der Bahn, welche er bisher so stolz und so frei verfolgt hatte. Alle seine ihm so fest erschienenen Gepflogenheiten und Lebensgesetze hatten sich plötzlich als trügerisch und unbrauchbar erwiesen. Der hintergangene Ehemann, der bisher nur das bemitleidenswerte Geschöpf repräsentiert hatte, der zufällig vorhandene, etwas komische Stein des Anstoßes für sein Glück, war plötzlich, durch sie selbst herbeigerufen, auf eine Höhe erhoben worden, wie sie nur eine Leidenschaft einzugeben vermochte, die ebenso tief war, wie die für ihn – und dieser Mann zeigte sich auf seiner Höhe nicht bös, nicht tückisch, nicht lächerlich geworden, sondern gut, offen und erhaben. Dies vermochte Wronskiy allerdings nicht nachzuempfinden. Die Rollen aber waren plötzlich vertauscht. Wronskiy fühlte Jenes Höhe und die eigene Erniedrigung, Jenes Gerechtigkeit und seine Falschheit. Er fühlte, daß jener Mann großmütig war selbst in seinem Schmerz, er aber niedrig und kleinlich in seinem Betrug. Diese Erkenntnis seiner Niedrigkeit jedoch vor dem Manne, den er mit Unrecht verachtete, bildete nur einen kleinen Teil seines Kummers. Er fühlte sich jetzt vielmehr unsagbar unglücklich darüber, daß seine Leidenschaft zu Anna, die wie ihm geschienen hatte, in der letzten Zeit kühler geworden war, jetzt da er wußte daß er sie auf ewig verloren hatte, mächtiger wurde, als sie je gewesen. Er hatte Anna ganz erkannt in der Zeit ihrer Krankheit, ihre Seele kennen gelernt, und es schien ihm nun, als ob er sie überhaupt bis dahin noch gar nicht geliebt habe. Jetzt, da er sie erkannt hatte, begann er erst sie zu lieben, Wie man sie lieben muß; er war vor ihr erniedrigt worden und hatte sie für immer verloren, in ihr nichts zurücklassend, als eine schmähliche Erinnerung an ihn. Am entsetzlichsten aber von allem war ihm jene lächerliche, entwürdigende Situation gewesen, als Aleksey Aleksandrowitsch ihm die Hände von dem schambedeckten Gesicht gezogen hatte. Nun stand er auf der Freitreppe des Hauses der Karmin wie ein Verlorener, und wußte nicht, was er beginnen sollte.

»Wünscht Ihr einen Mietkutscher?« frug ihn der Portier.

»Ja, einen Kutscher!«

Als er nach Haus gekommen war, nach drei schlaflosen Nächten, warf sich Wronskiy, ohne sich auszukleiden, das Gesicht nach unten, auf das Sofa, und legte die Arme übereinander und seinen Kopf darauf. Sein Kopf war schwer; Bilder und Erinnerungen, die seltsamsten Gedanken wechselten in ihm mit außerordentlicher Schnelle und Schärfe ab, bald war es die Arznei, die er der Kranken eingoß, oder auf den Löffel schüttete, bald waren es die weißen Hände der Wehfrau, oder die seltsame Stellung Aleksey Aleksandrowitschs auf dem Boden vor dem Bett.

»Schlafen und Vergessen!« sprach er zu sich mit der ruhigen Zuversicht eines gesunden Menschen, daß er, wenn er ermüdet wäre, und schlafen wolle, auch sofort den Schlaf finden werde. Und in der That, im nämlichen Augenblick verwirrten sich auch schon seine Gedanken und er versank in den Abgrund des Vergessens. Die Wogen des Meeres dieses Traumlebens waren schon über seinem Haupte zusammengeschlagen, als plötzlich, gleichsam eine mächtige Ladung von Elektricität gegen ihn frei wurde. Er erschrak derartig zusammen, daß er mit dem ganzen Körper auf den Sprungfedern des Diwans emporschnellte und, sich auf die Hände stützend, voll Schrecken auf die Knie sprang. Seine Augen waren weit geöffnet, als ob er nie geschlafen hätte. Die Schwere seines Kopfes wie die Mattigkeit seiner Glieder, die er noch eine Minute vorher empfunden hatte, war plötzlich verschwunden.

»Ihr könnt mich in den Kot treten,« hörte er die Worte Alekseys Aleksandrowitschs und er sah diesen vor sich stehen, sah das Antlitz Annas in Fieberröte und mit den funkelnden Augen, voll Zärtlichkeit und Liebe nicht auf ihn schauend, sondern auf Aleksey Aleksandrowitsch. Er sah auch seine eigene wie ihm schien einfältige und lächerliche Erscheinung, als Aleksey Aleksandrowitsch ihm die Hände vom Gesicht wegnahm. Von neuem streckte er die Füße aus; er warf sich auf den Diwan in der früheren Lage und schloß die Augen.

»Schlafen, schlafen,« wiederholte er für sich selbst. Aber mit geschlossenen Augen sah er das Gesicht Annas nur noch deutlicher, so, wie es ihm an jenem denkwürdigen Tage vor dem Rennen erschienen war.

»Es ist nicht und soll nicht sein, und sie wünscht es aus ihrer Erinnerung zu tilgen. Ich aber vermag nicht zu leben ohne sie. Wie könnten wir uns aussöhnen – wie könnten wir uns aussöhnen?« sprach er laut zu sich selbst und wiederholte diese Worte unbewußt. Ihre Wiederholung hielt das Auftauchen neuer Bilder und Erinnerungen fern, welche, er fühlte es, sich in seinem Kopfe drängten; sie hielt indessen seine Phantasie nicht lange in Schranken. Wiederum begannen, einer nach dem anderen in außerordentlicher Schnelligkeit seine seligsten Augenblicke an ihm vorüberzugleiten, und mit ihnen zusammen die soeben stattgehabte Erniedrigung. »Nimm ihm die Hände weg,« sagte die Stimme Annas. Er nahm sie ihm herunter und er selbst empfand noch den Ausdruck von Schmach und Blödheit auf seinem Gesicht.

Er lag noch immer, zu schlafen versuchend, obwohl er fühlte, daß nicht die geringste Hoffnung dafür vorhanden war, und wiederholte sich flüsternd zufällige Worte irgend eines Gedankens, um dadurch das Auftauchen neuer Bilder abzuwehren. Er lauschte aufmerksam hin, da vernahm er in seltsamem, wahnsinnigem Geflüster die Wiederholung der Worte: »Ich verstand sie nicht zu würdigen, ich verstand sie nicht zu benutzen, ich verstand sie nicht zu würdigen, ich verstand sie nicht zu benutzen.« –

»Was ist das? Bin ich von Sinnen?« frug er sich selbst; »vielleicht gar. Wovon kommt man denn um den Verstand, weshalb erschießt man sich?« so antwortete er sich und erblickte, die Augen öffnend, voll Verwunderung neben seinem Kopfe ein Kissen, welches von Warja, der Frau seines Bruders gestickt worden war.Er berührte die Quaste desselben und versuchte an Warja zu denken, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte, aber an etwas Abliegendes zu denken, wurde ihm peinlich.

»Nein, ich muß schlafen!« Er zog das Kissen heran und drückte seinen Kopf in dasselbe, aber er mußte schon eine Anstrengung machen, um die Augen geschlossen zu halten. Er sprang auf und setzte sich aufrecht. »Die Sache ist vorüber für mich,« sprach er zu sich, »jetzt heißt es nachdenken was zu thun ist. Was bleibt mir?« Sein Gedächtnis durchflog schnell sein Leben, wie es sich ohne die Liebe zu Anna zeigte.

»Ehrgeiz? Wie Serpuchowskiy? Die hohe Welt? Der Hof?« Bei keinem der Gedanken vermochte er zu verweilen. Alles das hatte früher Bedeutung für ihn gehabt, jetzt aber war nichts mehr davon da. Er erhob sich von dem Sofa, legte seinen Überrock ab, schnallte den Säbelgurt auf, entblößte die rauche Brust, um freier atmen zu können und schritt durchs Zimmer hin. »So verliert man den Verstand,« wiederholte er, »und so erschießt man sich – damit man sich nicht zu schämen braucht,« – fügte er langsam hinzu.

Er ging zur Thür und verschloß dieselbe; dann begab er sich mit starrem Blick und fest zusammengebissenen Zähnen zum Tisch, ergriff einen Revolver, musterte ihn, drehte ihn auf den geladenen Lauf, und versank in Nachdenken. Zwei Minuten später senkte er das Haupt mit dem Ausdruck einer geistigen Kraftanstrengung; er stand, den Revolver in der Hand unbeweglich und sann. »Natürlich,« sprach er zu sich selbst, als hätte ihn ein logischer, fortlaufender, klarer Gedankengang zu einem nicht mehr anzuzweifelnden Schluß geführt. Und in der That war dieses überzeugungsvolle »natürlich« für ihn nur eine letzte Wiederholung genau des nämlichen Kreises von Erinnerungen und Vorstellungen, den er schon zum zehntenmale wohl in dieser einen Zeitstunde durchlaufen hatte.

Die nämlichen Erinnerungen an ein auf immer verlorenes Glück war es, die nämliche Vorstellung der Zwecklosigkeit dessen, was ihm noch alles im Leben bevorstand, immer die nämliche Erkenntnis seiner Entwürdigung. Immer gleich lautete daher auch die logische Folgerung aus diesen Vorstellungen und Empfindungen.

»Natürlich,« fuhr er fort, als ihn sein Geist zum drittenmale durch den nämlichen Trugkreis von Erinnerungen und Gedanken hindurchgeführt hatte. Er legte den Revolver auf der linken Seite der Brust an und eine heftige Bewegung mit der ganzen Hand machend, als wollte er sie plötzlich zur Faust zusammenballen, drückte er am Hahn.

Er vernahm nicht den Knall des Schusses; nur ein mächtiger Schlag vor die Brust warf ihn um. Er wollte sich an dem Tischrand halten, ließ den Revolver fallen, begann zu schwanken und fand sich auf dem Boden sitzend, erstaunt um sich schauend. Er erkannte sein Zimmer nicht, schaute von unten her auf die gekrümmten Füße des Tisches, auf den Papierkorb und das Tigerfell. Die eiligen knarrenden Tritte des Dieners, der nach dem Salon eilte, brachten ihn zur Besinnung. Er machte eine Anstrengung zu denken und erkannte, daß er sich auf dem Fußboden befinde, erkannte, indem er das Blut auf dem Tigerfell und auf seiner Hand gewahrte, daß er sich geschossen habe.

»Dumm; nicht tot,« sprach er, mit der Hand nach dem Revolver tastend. Der Revolver lag neben ihm –er suchte weiter weg. Während dieses Suchens wandte er sich auf die andere Seite, brach aber, nicht mehr bei Kräften das Gleichgewicht halten zu können, im Blute schwimmend zusammen.

Der elegante Lakai im Backenbart, der sich so oft schon seinen Bekannten gegenüber über die Schwäche seiner Nerven beklagt hatte, war so erschrocken, als er seinen Herrn am Boden liegend erblickte, daß er denselben verblutend liegen ließ und nach Beistand forteilte. Nach Verlauf einer Stunde kam Warja, die Frau des Bruders und mit Hilfe von drei Ärzten, nach welchen sie nach allen Seiten gesandt hatte, und die gleichzeitig angekommen waren, brachte diese den Verwundeten ins Bett und blieb zur Pflege bei ihm.

19.

Der Irrtum, welcher von Aleksey Aleksandrowitsch dadurch begangen worden war, daß er, indem er sich auf das Wiedersehen mit seinem Weibe vorbereitete, nicht an die Möglichkeit gedacht hatte, ihre Reue könne eine aufrichtige sein, und er könne ihr dann vergeben, sie aber stürbe nicht – dieser Irrtum zeigte sich ihm nach Verlauf zweier Monate nach seiner Rückkehr von Moskau in seiner ganzen Stärke. Der Irrtum aber, der von ihm begangen worden, rührte nicht nur davon her, daß er jene Möglichkeit nicht mit erwogen hätte, sondern auch davon, dah er bis zu jenem Tage des Wiedersehens mit der sterbenden Gattin sein Herz noch gar nicht gekannt hatte. Am Bett des kranken Weibes erst überließ er sich zum erstenmal in seinem Leben jener Empfindung tiefen Mitleides, das in ihm die Leiden anderer hervorriefen, und dessen er sich vordem geschämt hatte als sei es eine verderbliche Schwäche, und das Mitleid mit ihr, die Reue darüber, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und namentlich, die Freude über die gewährte Verzeihung, vollbrachten, was er plötzlich nicht nur als eine Linderung seiner Leiden empfand, sondern auch als eine seelische Beruhigung, die er vordem noch nie an sich kennen gelernt hatte. Plötzlich war er dessen inne geworden, daß eben das, was den Quell seines Schmerzes bildete auch der Quell seiner Seelenfreude wurde; das, was ihm unlösbar erschienen war, so lange er gerichtet, getadelt und gehaßt hatte, das war jetzt offen und klar geworden, nachdem er verziehen hatte und liebte.

Er hatte seinem Weibe verziehen und beklagte es wegen seiner Leiden und seiner Reue. Er hatte Wronskiy verziehen und beklagte denselben, besonders, nachdem die Nachricht von dessen verzweifelter Handlung zu ihm gedrungen war. Er hatte Mitleid auch mit seinem Söhnchen, mehr als früher, und machte sich jetzt Vorwürfe darüber, daß er sich allzuwenig mit ihm beschäftigt hatte. Für das neugeborene kleine Mädchen aber empfand er ein gewisses besonderes Gefühl, nicht nur des Mitleids, sondern selbst der Zärtlichkeit. Anfangs befaßte er sich lediglich aus Mitleid mit dem neugeborenen schwächlichen Kind, das gar nicht seine Tochter war und während der Zeit der Krankheit der Mutter ganz verlassen lag und wahrscheinlich gestorben wäre, hätte er nicht dafür Sorge getragen; – er hatte selbst nicht gewahrt, daß er das Kind liebgewonnen. Mehrmals des Tages begab er sich nach dem Kinderzimmer und saß lange dort, sodaß die Kindfrau und die Amme, anfangs verschüchtert vor ihm, sich an ihn gewöhnten. Bisweilen blickte er halbe Stunden lang auf das saffranrote, dicke, runzelige Gesichtchen des Säuglings, und beobachtete die Bewegungen der faltigen Stirn und der dicken Händchen mit den gespreizten kleinen Fingern, welche mit der Rückseite der Handflächen sich die Äuglein und das Oberteil der Nase rieben. In solchen Momenten besonders fühlte sich Aleksey Aleksandrowitsch sehr ruhig und mit sich selbst zufrieden, und sah in seiner Lage nichts Außergewöhnliches, nichts, was hätte geändert werden müssen.

Je mehr Zeit indessen verstrich, um so klarer erkannte er, daß man ihm, so natürlich ihm auch seine jetzige Lage erscheinen mochte, nicht gestatten würde, in derselben zu verbleiben. Er fühlte wohl, daß außer jener edlen seelischen Macht, die seinen Geist leitete, noch eine andere bestand, eine rohe, die ebensoviel oder noch mehr galt, die sein Leben leitete, und daß diese Macht ihm nicht jene friedsame Ruhe gönnen würde, die er wünschte. Er empfand, daß alle ihn mit fragendem Erstaunen betrachteten, daß man ihn nicht begriff, und von ihm etwas erwartete. Insbesondere fühlte er die Unzulänglichkeit und Unnatürlichst seiner Beziehungen zu seinem Weibe.

Nachdem jene weiche Stimmung verflogen war, die die Nähe des Todes in ihr erzeugt hatte, begann Aleksey Aleksandrowitsch zu bemerken, daß Anna ihn fürchte, sich von ihm belästigt fühlte und ihm nicht offen ins Auge zu blicken vermochte. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben, und doch nicht den Entschluß finden zu können, es ihm auszusprechen, und schien auch ihrerseits wie in einem Vorgefühl, daß die beiderseitigen Beziehungen auf die Dauer nicht haltbar seien, etwas von ihm zu erwarten.

Gegen Ende des Februar ereignete es sich, daß die neugeborene Tochter Annas, ebenfalls Anna genannt, erkrankte. Aleksey Aleksandrowitsch war früh morgens im Kinderzimmer und begab sich, nachdem er befohlen hatte, einen Arzt zu rufen, ins Ministerium. Nach Erledigung seiner Geschäfte kehrte er um vier Uhr nach Hause zurück. Als er ins Kinderzimmer ging, gewahrte er einen schmucken Lakaien in Galons mit Bärenfellpelerine und weißer Rotonde von amerikanischem Hund.

»Wer ist hier?« frug er.

»Die Fürstin Jelisabeta Fjodorowna Twerskaja,« versetzte der Lakai, wie es Aleksey Aleksandrowitsch schien, lächelnd.

In dieser schweren Zeit bemerkte Aleksey Aleksandrowitsch, daß seine Bekannten aus der großen Welt, besonders die Damen, viel Teilnahme für ihn und seine Frau an den Tag legten. Er nahm bei all diesen Bekannten eine mit Mühe unterdrückte Freude über etwas Unbekanntes wahr, dieselbe Freude, die er in den Augen des Rechtsanwalts erblickt hatte, und jetzt in den Augen des Lakaien sah. Alle schienen gewissermaßen in Entzücken zu sein, als wollten sie jemand verheiraten. Wenn man ihm begegnete, frug man mit schlecht verhehlter Schadenfreude nach seinem Befinden.

Die Anwesenheit der Fürstin Twerskaja war Aleksey Aleksandrowitsch sowohl wegen der Reminiscenzen, die mit diesem Namen verknüpft waren, als auch deshalb, weil er sie überhaupt nicht liebte, unangenehm und er ging geradenwegs nach dem Kinderzimmer. In dem ersten Gemach befand sich der kleine Sergey, mit der Brust über den Tisch liegend und die Füße auf dem Stuhl, mit Zeichnen beschäftigt und in heiterem Geplauder. Die Engländerin, welche während der Zeit der Krankheit Annas die Französin abgelöst hatte, und mit einer Stickerei von Mignardisen beschäftigt neben dem Knaben saß, erhob sich hastig und setzte Sergey zurecht. Aleksey Aleksandrowitsch strich glättend mit der Hand über das Haar des Knaben, antwortete auf die Frage der Gouvernante nach dem Befinden seiner Gemahlin und frug, was der Arzt bezüglich des Baby gesagt hätte.

»Der Arzt sagte, es sei keine Gefahr und hat Wannenbäder verschrieben, Herr.«

»Aber das Kind leidet doch noch,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, aufmerksam auf das Geschrei des Kindes im Nebenzimmer horchend.

»Ich glaube, die Amme ist nichts wert, Herr,« antwortete die Engländerin fest.

»Weshalb vermutet Ihr das?« frug er, stehen bleibend.

»Es war ebenso bei der Gräfin Polj, Herr. Man kurierte an einem Kinde herum und es zeigte sich, daß dasselbe einfach hungrig war; die Amme hatte keine Milch, Herr.«

Aleksey Aleksandrowitsch dachte nach und begab sich, nachdem er noch einige Sekunden verharrt hatte, nach der zweiten Thür. Das kleine Kind lag mit zurückgeworfenem Köpfchen, sich auf den Armen der Amme krümmend, und wollte weder die ihm dargebotene schwellende Brust nehmen, noch sich beruhigen lassen, obwohl die Amme und Kinderfrau über den Säugling gebeugt, ihre Besänftigungsversuche vereinten.

»Noch immer nicht besser?« frug Aleksey Aleksandrowitsch.

»Sehr unruhig,« antwortete flüsternd die Kinderfrau.

»Miß Edward meint, daß möglicherweise die Amme keine Milch hat,« fuhr er fort.

»Das glaube ich auch, Aleksey Aleksandrowitsch.«

»Aber weshalb sagt Ihr das nicht?«

»Wem sollte man es sagen? Anna Arkadjewna sind noch immer krank,« versetzte die Kinderfrau mürrisch.

Die Kinderfrau war eine alte Dienerin im Hause, und in diesen einfachen Worten schien Aleksey Aleksandrowitsch ein Hinweis auf seine Situation zu liegen.

Das Kind schrie noch stärker, es zappelte und war schon heißer. Die Kinderfrau winkte mit der Hand, ging zu dem Kinde, nahm es von den Armen der Amme und begann es im Gehen zu wiegen.

»Es wird nötig sein, daß der Arzt die Amme untersucht,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch.

Die dem Augenschein nach gesunde, schmucke Amme brummte in der Besorgnis gekündigt zu bekommen, etwas in den Bart, und barg, verächtlich über den Zweifel an ihrem Milchreichtum lächelnd, den mächtigen Busen. In diesem Lächeln fand Aleksey Aleksandrowitsch wiederum nur einen Hohn über seine Lage.

»Armes Kind,« sagte die Kinderfrau, dem Säugling zuzischelnd, und setzte ihren Weg auf und nieder fort.

Aleksey Aleksandrowitsch ließ sich auf einem Stuhl nieder und schaute mit leidendem kummervollem Ausdruck auf die hin und her gehende Kinderfrau.

Als man das endlich ruhig gewordene Kind in ein tiefes Bettchen gelegt hatte und die Kinderfrau das Kissen geordnet und es verlassen hatte, erhob sich Aleksey Aleksandrowitsch und schritt, mühsam auf den Fußspitzen gehend, zu dem Kinde. Eine Minute hindurch schwieg er und blickte mit dem nämlichen kummervollen Antlitz auf das Kind; plötzlich aber erschien ein Lächeln, welches ihm Haar und Stirnhaut bewegte, auf seinen Zügen und ebenso leise verließ er das Zimmer.

Im Speisezimmer schellte er und befahl dem eintretenden Diener, nochmals nach dem Arzte zu schicken. Es verursachte ihm Verdruß, daß sich sein Weib nicht um dieses reizende kleine Wesen kümmerte, und in diesem Verdruß über sie verspürte er keine Neigung, sich zu ihr zu begeben, wollte er auch nicht die Fürstin Betsy sehen, aber sein Weib hätte befremdet sein können, wenn er, gegen seine Gewohnheit, nicht zu ihr kam, und so begab er sich denn, allerdings nur mit Selbstüberwindung, nach ihrem Schlafgemach. Als er über den weichen Teppich zu der Thür ging, hörte er unwillkürlich ein Gespräch, welches er nicht hören wollte.

– »Wenn er nicht abreiste, so würde ich Eure Weigerung verstehen, ebenso wie die seinige. Aber Euer Mann dürfte doch hierüber erhaben sein,« sagte Betsy.

»Nicht meines Mannes halber, sondern meinetwegen will ich es nicht. Sprecht nicht so« – antwortete erregt die Stimme Annas.

»Ja, aber Ihr müßt doch unbedingt wünschen, von einem Manne Abschied zu nehmen, der sich Euretwegen erschießen wollte« –

»Eben deswegen will ich es ja nicht.«

Aleksey Aleksandrowitsch blieb mit erschrecktem und schuldbewußtem Ausdruck stehen und wollte leise wieder umkehren, allein er kam zu der Ansicht, daß dies seiner unwürdig sei und kehrte wieder um, hustete, und schritt nach dem Schlafzimmer. Die Stimmen verstummten und er trat ein.

Anna saß in einem grauen Hauskleid, mit kurz frisiertem, dicht emporstehenden schwarzen Haar auf dem runden Kopfe, auf einer Couchette. Wie stets, verschwand bei dem Anblick ihres Gatten plötzlich alles Leben von ihren Zügen; sie senkte das Haupt, und blickte unruhig nach Betsy. Diese, nach der nagelneuesten Mode gekleidet, in einem Hute der auf ihrem Haupte schwebte, wie der Schirm über einer Lampe, und in einer taubenblauen Robe mit scharfhervortretenden, schrägen Streifen, die auf der Taille nach der einen Seite hin, auf dem Rock nach der entgegengesetzten liefen, saß neben Anna, ihre plattaufragende Büste steif haltend, und begrüßte, den Kopf senkend, Aleksey Aleksandrowitsch mit satirischem Lächeln.

»Ah,« machte sie, wie verwundert, »das freut mich ja außerordentlich, daß Ihr zu Haus seid. Ihr zeigt Euch ja gar nicht und ich habe Euch nicht gesehen seit der Krankheit Annas! Freilich habe ich gehört – Eure großen Sorgen! – Ja, Ihr seid ein bewundernswürdiger Mann!« sagte sie mit bedeutungsvoller und höflicher Miene, gleich als wollte sie ihn mit einem Orden der Großmut für seine Handlungsweise an der Gattin belohnen.

Aleksey Aleksandrowitsch verbeugte sich kalt, küßte seiner Frau die Hand und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

»Es scheint, als ob mir besser wäre,« sagte diese, seinem Blicke ausweichend.

»Aber Ihr habt noch etwas wie Fieberröte im Gesicht,« fuhr er fort, das Wort »Fieber« besonders hervorhebend.

»Ich habe gewiß zu viel mit ihr gesprochen,« bemerkte Betsy; »und fühle, daß dies ein Egoismus meinerseits gewesen ist. Ich werde sogleich aufbrechen.«

Sie erhob sich, doch Anna, plötzlich errötend, ergriff schnell ihre Hand.

»Nein, bleibt noch, bitte. Ich muß Euch sagen – nein, Euch,« wandte sie sich an Aleksey Aleksandrowitsch und die Röte überzog ihr Hals und Stirn – »ich will und kann vor Euch kein Geheimnis haben,« fügte sie hinzu.

Aleksey Aleksandrowitsch knackte mit den Fingern und ließ den Kopf sinken.

»Betsy hat mir mitgeteilt, daß Graf Wronskiy zu uns zu kommen wünscht, um sich von uns vor seiner Abreise nach Taschkent zu verabschieden.« Sie blickte ihren Gatten nicht an und hastete augenscheinlich, alles herauszusagen, so schwer es ihr auch werden mochte, »ich habe geantwortet, daß ich ihn nicht empfangen könne.«

»Ihr habt gesagt, liebste Freundin, daß dies von Aleksey Aleksandrowitsch abhängen würde,« verbesserte Betsy.

»O nein; ich vermag ihn nicht zu empfangen und dies führte auch zu nichts« – sie hielt plötzlich inne und schaute fragend auf ihren Gatten, der sie nicht anblickte. »Mit einem Worte, ich will nicht« – –

Aleksey Aleksandrowitsch rückte näher und wollte ihre Hand ergreifen. Bei der ersten Bewegung zog sie jedoch ihre Hand von der seinen zurück, die, feucht und mit den großen, hervortretenden Adern, sie suchte, drückte sie ihm aber dann, augenscheinlich voll Selbstüberwindung.

»Ich danke Euch sehr für Euer Vertrauen, doch« – antwortete er, mit Verwirrung und Verdruß empfindend, daß er das, was er so leicht und klar vor sich selbst entscheiden konnte, in Gegenwart der Fürstin Twerskaja nicht zu bestimmen vermochte, da diese für ihn eine Personifizierung jener rohen Macht war, die in den Augen der Welt sein Leben beherrschte und ihn verhinderte, sich seiner Empfindung der Liebe und Vergebung ganz zu weihen. Er stockte und schaute die Fürstin Twerskaja an.

»Nun, lebt wohl dann, Liebste,« sagte Betsy, sich erhebend. Sie küßte Anna und ging, Aleksey Aleksandrowitsch begleitete sie.

»Aleksey Aleksandrowitsch! Ich kenne Euch als einen wahrhaft edelsinnigen Mann,« sagte Betsy, in dem kleinen Salon stehen bleibend und ihm nochmals auffallend stark die Hand drückend. »Ich bin nur eine fremde Person hier, aber ich liebe Anna und achte Euch so sehr, daß ich mir einen Rat erlauben möchte. Empfangt ihn doch. Aleksey Wronskiy ist die personifizierte Ehrenhaftigkeit; er wird nach Taschkent gehen.«

»Ich danke Euch, Fürstin, für Eure Teilnahme und Ratschläge. Aber die Frage, ob meine Frau jemand empfangen kann oder nicht, muß diese selbst entscheiden.«

Er sprach dies, nach seiner Gewohnheit die Brauen mit Würde emporziehend, dachte aber sofort daran, daß es, wie auch seine Worte lauten mochten, eine Würde in seiner Lage nicht mehr geben könne. Und dies erkannte er auch an dem verhaltenen, bösen und sarkastischen Lächeln, mit welchem Betsy ihn nach diesen Worten anblickte.