Achtes Kapitel

Die Maslow wurde erst gegen sechs Uhr in das Gefängnis zurückgeführt. Sie fühlte sich vollkommen erschöpft. Die unvorhergesehene Strenge des über sie gefällten Urteils hatte sie gleichsam niedergeschmettert; und der lange Weg durch die schlechtgepflasterten Straßen hatte sie vollends betäubt.

Dann fiel sie auch vor Hunger um. In einer der Pausen während der Verhandlung hatten ihre Wärter Brot und harte Eier gegessen; das Wasser war ihr im Munde zusammengelaufen und sie hatten bemerkt, daß sie Hunger hatte; doch aus Schamgefühl hatte sie die Wärter um nichts bitten wollen. Die Verhandlung hatte wieder begonnen und noch über drei Stunden gedauert, so daß die Maslow schließlich vor Ermüdung und Abspannung keinen Hunger mehr spürte. In diesem Zustande hatte sie die Verlesung des Urteils angehört.

Zuerst glaubte sie, sie träume, und hatte sich von der Zwangsarbeit nicht gleich eine Vorstellung machen können. Es erschien ihr wie ein böser Traum, aus dem sie im nächsten Augenblick erwachen mußte. Doch an der ganz natürlichen Art, wie Bekannte, Advokaten, Zeugen und der der ganze Saal die Verlesung ihrer Verurteilung aufgenommen, hatte sie bald gemerkt, daß es wahr war. Nun hatte sie eine Anwandlung von Leidenschaft ergriffen, und sie hatte aus Leibeskräften geschrieen, sie wäre unschuldig. Dann hatte sie gesehen, daß man auch ihren Schrei als etwas Natürliches, vorher Erwartetes aufgenommen, das ihre Lage zu verändern außer stande sei. Sie war in Thränen ausgebrochen und hatte sich jetzt vollständig gefügt, die seltsame und grausame Ungerechtigkeit, die ihr ihr Unglück eingebracht, bis zu Ende zu ertragen.

Eins wunderte sie ganz besonders: daß ein so hartes Urteil von Männern über sie gefällt werden konnte; – von Männern in der Blüte der Jahre, nicht von Greisen; von Männern, die sie während der ganzen Prozeßdauer mit wohlgefälligen Augen angeblickt. Denn mit Ausnahme des Staatsanwalts, dessen Blicke ihr die ganze Zeit über bösartig erschienen waren, hatte sie auch nicht einen ohne Vergnügen angesehen. Und diese Männer, die ihr liebenswürdige Blicke zugeworfen, verurteilten sie jetzt zur Zwangsarbeit, obwohl sie an dem Verbrechen, dessen man sie beschuldigte, unschuldig war! Sie hatte bitterlich geweint, doch schließlich hatten ihre Thränen aufgehört, und als man sie nach der Verhandlung in eine Zelle des Gerichtsgebäudes eingesperrt, bevor sie in das Gefängnis zurückgebracht wurde, hatte sie nur noch an zweierlei gedacht: an Trinken und Rauchen.

Sie war schon einige Zeit in der Zelle allein, als der mit ihrer Aufsicht betraute Gendarm die Thür öffnete und ihr drei Rubel übergab.

»Da, nimm! Eine Dame schickt dir das!«

»Was für eine Dame?«

»Na, nimm! Ich habe mich nicht mit dir zu unterhalten!«

Das Geld schickte der Maslow Frau Kitajeff, ihre Wirtin, die den Nuntius beim Verlassen des Gerichtssaales gefragt hatte, ob sie der Verurteilten etwas Geld geben dürfe. Auf die bejahende Antwort des Nuntius zog sie vorsichtig den dreiknöpfigen Handschuh von ihrer linken Hand, nahm aus der Hintertasche ihres seidenen Rockes eine mit Scheinen und Kleingeld gefüllte Börse, und übergab dem Nuntius einen zwei und einen halben Rubelschein, zusammen mit fünfzig Kopeken Kupfergeld, die dieser Nuntius vor ihren Augen dem Gensdarm einhändigte.

»Geben Sie ihr aber alles, und zwar gleich,« hatte Frau Kitajeff hinzugefügt.

Der Gensdarm hatte sich über diese Bemerkung geärgert, daher seine schlechte Laune gegen die Maslow.

Diese war aber trotzdem beim Anblick des Geldes hocherfreut, denn jetzt konnte sie wenigstens ihren doppelten Wunsch erfüllen.

»Wenn ich mir nur schnell Schnaps und Zigaretten verschaffen kann!« sagte sie sich, und alle ihre Sorgen hatten sich auf diesen einzigen Wunsch beschränkt. Sie hatte so großes Verlangen, Schnaps zu trinken, daß ihr schon bei dem Gedanken ans Trinken das Wasser im Munde zusammenlief, und freudig sog sie den Duft des Tabaks ein, der in Rauchwolken in ihre Zelle drang.

Trotzdem mußte sie noch lange auf die Erfüllung ihres Wunsches warten. Der Aktuar, der sie ins Gefängnis zurückbringen lassen sollte, hatte sie thatsächlich vergessen und sich in einem Gespräch über Politik mit dem dicken Richter und dem Verteidiger verspätet.

Schließlich aber gegen fünf Uhr hatte man sie, nachdem man Kartymkin und die Botschkoff fortgebracht, abgeholt, um sie den beiden Soldaten zu übergeben, die sie am Morgen hergebracht. Als sie dann das Justizgebäude verließ, hatte sie gleich einem der Soldaten die fünfzig Kopeken gegeben und ihn gebeten, ihr Zigaretten, zwei kleine Brote und eine halbe Flasche zu kaufen.

Der Soldat hatte zu lachen angefangen und gesagt: »Na, du leistest dir aber was Ordentliches!« Thatsächlich hatte er die Zigaretten und die kleinen Brötchen gekauft, doch den Schnaps wollte er ihr nicht kaufen. Die Maslow aß eins der Brote auf dem Wege, doch dadurch war sie nur noch hungriger geworden.

Erst nach Sonnenuntergang war sie ins Gefängnis gekommen, und auch da hatte sie noch lange im Flur warten müssen, weil in demselben Augenblick Wärter einen Zug von hundert Gefangenen anbrachten, der aus einer Nachbarstadt hierher überführt worden war.

Es waren darunter rasierte Männer und solche mit langen Bärten, alte und junge Russen und Ausländer. Einigen war der halbe Kopf geschoren, und sie trugen Eisen an den Füßen. Alle aber hatten die Maslow, als sie an ihr vorüberkamen, mit lüsternen Augen angesehen, und mehrere hatten ihr mit begehrlich flammendem Gesicht zugelächelt, waren an sie herangetreten und hatten sie in die Taille gekniffen.

»He, he, he! ein hübsches Mädel! Das ist sicherlich ’ne Moskauer Pflanze!« hatte der eine gesagt.

»Mein Fräulein, alle Hochachtung!« meinte ein anderer augenblinzelnd.

Einer, dessen Vorderkopf rasiert war und der einen ungeheuren Schnurrbart trug, hatte die Vertraulichkeit so weit getrieben, daß er sie umarmte.

»Na, na, ziere dich nur nicht so!« hatte er gesagt, als sie ihn zurückstieß.

»Heda, du Schwein, was thust du da?« rief ein Aufseher, der plötzlich aus dem Gefängnisbureau kam.

Der Sträfling trat, am ganzen Leibe zitternd, sofort zurück, und nun wandte sich der Aufseher zur Maslow:

»Und was hast du hier zu suchen?«

Die Maslow wollte antworten, sie käme aus dem Schwurgerichtssaale; doch sie war so abgespannt, daß sie nicht einmal die Kraft zum Sprechen hatte.

»Sie kommt vom Gericht her, Herr Aufseher,« antwortete einer der Soldaten, indem er die Hand an die Mütze legte.

»Dann führen Sie sie dem Oberaufseher vor! aber schleunigst!«

Der Oberaufseher übernahm die Gefangene, rüttelte sie am Arm, um sie aufzuwecken, und führte sie huldvollst selbst durch die langen Gänge zu dem Saal, den sie am Morgen verlassen hatte.

Dieser Saal war ein großes, neun Arschin langes und sieben Arschin breites Zimmer mit zwei Fenstern; es war nur mit einem alten, vollständig verfallenen Ofen und zwanzig aus schlecht zusammengefügten Brettern hergestellten Betten ausgestattet, die zwei Drittel des Raumes einnahmen. An der Wand hing der Thür gegenüber ein altes, mit einer Schmutzkruste überzogenes Heiligenbild, vor welchem eine Kerze brannte und unter dem ein Immortellenkranz hing. Hinter der Thür links stand ein großer Nachteimer.

Man hatte eben die Abendmusterung vorgenommen und die Gefangenen für die Nacht eingeschlossen.

Der Saal wurde von fünfzehn Personen bewohnt: zwölf Frauen und drei Kindern.

Es war noch hell, und nur zwei Frauen lagen im Bette. Die eine, welche schlief und den Kopf mit einem Mantel bedeckt hatte, war eine wegen Landstreicherei eingesperrte Wirtin, die den ganzen Tag schlief. Die andere, die wegen Diebstahls verurteilt worden, war schwindsüchtig. Sie schlief nicht, blieb aber mit weit aufgerissenen Augen und den Kopf auf ihren zum Kopfkissen gefalteten Mantel gebettet, liegen. Um nicht zu husten, hielt sie mühsam in ihrer Kehle den Speichel zurück, der über ihre Lippen sickerte.

Von den anderen Frauen, von denen die Mehrzahl nur in grobe Leinenhemden gekleidet war, standen sieben, in zwei Gruppen geteilt, an den Fenstern und sahen dem Vorbeimarsch der Gefangenen im Hofe zu. An einem Fenster stand in einer Gruppe von drei Personen die Alte, die mit der Maslow am Morgen durch das Guckfenster in der Thür gesprochen hatte. Man nannte sie die Korablewa. Das war ein Geschöpf mit brummiger Miene, dichten, zusammengewachsenen Augenbrauen, Hautfalten, die unter dem Kinn herabhingen, spärlichen, an den Schläfen ins Graue schimmernden Haaren und einer ganz mit Haaren bewachsenen Warze auf der Wange, außerdem war sie groß, stark und kräftig gebaut. Dieses Weib war zu Gefängnisstrafe verurteilt worden, weil sie ihren Mann ermordet, den sie eines Tages bei der Vergewaltigung seiner Tochter betroffen. Sie war die Aelteste in dem Saale und hatte das Vorrecht, Schnaps zu verkaufen. In diesem Moment nähte sie am Fenster, indem sie die Nadel nach bäurischer Art mit drei Fingern ihrer starken, schwarzen Hand hielt.

Neben ihr saß, ebenfalls mit Nähen beschäftigt, ein kleines, schwarzes Weib mit einer Stumpfnase und kleinen, schwarzen, unstät umherschweifenden Augen. Das war eine Eisenbahnwärterin, die man zu drei Monaten Gefängnis verurteilt hatte, weil sie in einer Nacht ihre Fahne nicht herausgesteckt und dadurch einen Unfall verursacht hatte.

Das dritte Weib war die Fedosja oder Fenitschka, wie ihre Gefährtinnen sie nannten, ein ganz junges, rosiges und weißes Geschöpf mit hellen Kinderaugen und zwei langen blonden Flechten, die sie um ihren kleinen Kopf gewickelt trug. Sie saß im Gefängnis, weil sie versucht hatte, ihren Mann zu vergiften. Sie hatte das thatsächlich am Hochzeitsabende versucht, ohne recht zu wissen, warum. Sie zählte damals sechzehn Jahre, und der Mann, mit dem man sie verheiratet hatte, war ihr verhaßt. Doch in den acht Monaten, die ihrer Verurteilung vorangegangen waren, hatte sie sich nicht allein mit ihrem Manne ausgesöhnt, sondern sich sogar schließlich in ihn verliebt, so daß sie ihm zur Zeit ihrer Verurteilung mit Leib und Seele angehörte, was das Gericht jedoch nicht hinderte, sie trotz der Bitten ihres Mannes und ihrer Schwiegereltern, die während dieser acht Monate eine aufrichtige Zärtlichkeit zu ihr gefaßt hatten, schuldig zu sprechen. Gut, heiter und stets zu lächeln bereit, war diese Fedosja die Bettnachbarin der Maslow, hatte sich bald an sie angeschlossen und überschüttete sie mit Rücksichten und Aufmerksamkeiten.

Zwei andere Weiber saßen nicht weit davon auf einem Bett. Die eine, die etwa vierzig Jahre zählte, war mager und blaß, zeigte aber immer noch einige Spuren früherer Schönheit. Sie hielt in ihren Armen ein kleines Kind, dem sie die Brust gab. Es war eine Bäuerin, die wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt ins Gefängnis gebracht worden war. Eines Tages war die Polizei in ihr Dorf gekommen, um einen ihrer Neffen auszuheben und zum Regiment zu überführen. Die Bauern, die diese Maßregel für ungesetzlich hielten, hatten sich des Stanowojs bemächtigt und den jungen Mann befreit, und dieses Weib war zuerst dem Pferde, auf das man ihren Neffen gesetzt, in die Zügel gefallen. Das andere Weib, das neben ihr saß, war eine alte Bucklige, die schon graue Haare hatte. Sie spielte Haschen mit einem dicken Jungen von vier Jahren, einem rosigen, bausbäckigen Burschen, der unter lautem Lachen um sie herumlief und fortwährend wiederholte: »Kiß, Kiß, du kriegst mich doch nicht!«

Dieses alte Weib war der Beihilfe bei einem Brande schuldig befunden worden, den ihr Sohn angelegt hatte. Sie ertrug ihre Einkerkerung mit größter Ergebung, und beunruhigte sich nur um ihren Sohn und vor allem um ihren Mann, der in ihrer Abwesenheit niemand hatte, der ihn säubern und ihm die Läuse abfangen konnte.

Vier andere Frauen standen an dem zweiten Fenster und lehnten den Kopf an die Eisenstäbe; sie sprachen mit den über den Hof ziehenden Gefangenen, denselben, denen die Maslow kurz vorher im Eingangsflur des Gefängnisses begegnet war. Eins dieser Weiber, das wegen Diebstahls verurteilt worden, war eine große Rothaarige mit welkem Körper, mit gelbem, ganz mit Sommersprossen übersäetem Gesicht. Mit heiserer Stimme schrie sie durch das Fenster allerlei gemeine Worte. Neben ihr stand eine kleine brünette Frau, die mit ihrer langen Taille und ihren kurzen Beinen wie ein Mädchen von zehn Jahren aussah. Ihr Gesicht war rot und voller Flecken, mit großen, schwarzen Augen und dicken, aufgestülpten Lippen, die eine Reihe hervorstehender weißer Zähne zeigten. Sie lachte kreischend, während sie auf die Reden hörte, die ihre Nachbarin mit den Gefangenen im Hofe wechselte. Wegen ihrer auffallenden Häßlichkeit nannte man sie die Schönheit. Hinter ihr stand ein anderes Weib, eine magere, knochige Gestalt von jammervollem Aussehen, eine Unglückliche, die wegen Hehlerei verurteilt worden war; sie sprach kein Wort, sondern beschränkte sich nur manchmal darauf, mit zustimmender Miene zu den Gemeinheiten zu lächeln, die sie mitanhörte. Es war da noch eine vierte Gefangene, die wegen unerlaubten Branntweinverkaufs verurteilt worden war. Das war die Mutter des kleinen Jungen, der mit der Buckligen spielte, und außerdem gehörte ihr noch ein kleines Mädchen von sieben Jahren, die man, da man nicht wußte, wem man sie anvertrauen sollte, bei der Mutter im Gefängnis belassen hatte. Das kleine Mädchen stand bei ihrer Mutter und lauschte eifrig den gemeinen Reden, die aus dem Fenster gerufen wurden. Sie war zart und fein und hatte reizende blaue Augen und zwei fast weiße Haarflechten, die ihr auf den Rücken fielen.

Die zwölfte Gefangene war die Tochter eines Kirchendieners, die ihr neugeborenes Kind in einem Brunnen ertränkt hatte. Sie war ein großes, starkes blondes Mädchen mit wirren Haaren und starrblickenden, runden Augen. Sie ging fortwährend in dem freien Raum zwischen den beiden Betten auf und ab, sah niemand, sprach mit niemand, und stieß nur jedesmal, wenn sie an die Wand kam und sich umdrehen mußte, ein unartikuliertes Knurren aus.

Als die Thür sich öffnete und die Maslow erschien, unterbrach die Kirchendienerstochter ihren Spaziergang einen Augenblick, runzelte die Stirn und betrachtete die »Neue«; dann ging sie wieder, ohne etwas zu sagen, mit ihrem festen Schritte auf und ab. Die Korablewa stach ihre Nadel in den Sack, an dem sie nähte, betrachtete die Maslow durch ihre Brille und rief mit fragender Miene im Baßtone:

»Da ist sie ja! Sie ist wieder da! Und ich glaubte, man würde sie freisprechen!«

Sie nahm ihre Brille ab und legte sie mit ihrer Arbeit auf ihr Bett.

»Und ich sagte eben noch zu der kleinen Tante, man würde sie vielleicht gleich freilassen! So was kommt doch vor! Manchmal geben sie einem sogar Geld!« – fuhr die Eisenbahnwärterin mit singender Stimme fort.

»Sie haben dich also verurteilt?« fragte Fenitschka, und richtete ihre klaren, kindlichen Augen schüchtern auf die Maslow. Dabei verdüsterte sich ihr jugendlich heiteres Gesicht, als wenn sie weinen wollte.

Die Maslow gab keine Antwort. Sie ging auf ihr Bett zu, das neben dem der Korablewa stand und setzte sich.

»Das hätte ich nie erwartet!« sagte Fenitschka und setzte sich neben sie.

Zweites Kapitel

Die Geschichte der Maslow war höchst alltäglich.

Sie war das natürliche Kind einer Bäuerin, die ihrer Mutter in einem Schlosse beim Viehhüten half. Die Bäuerin, die nicht verheiratet war, brachte jedes Jahr ein Kind zur Welt; und wie es in solchem Falle oft passiert, wurden die Kinder sofort nach der Geburt getauft; ihre Mutter nährte sie nicht, weil sie unerwünscht zur Welt gekommen war und ihr bei ihrer Arbeit nur lästig fielen; deshalb starben die armen Kleinen auch bald vor Hunger.

Fünf Kinder waren schon auf diese Weise dahingegangen. Alle waren gleich nach der Geburt getauft worden, die Mutter nährte sie nicht, und sie waren gestorben. Das sechste Kind, das von einem herumziehenden Zigeuner stammte, war ein Mädchen; deshalb wäre ihr aber doch dasselbe Schicksal, wie den fünf ältesten, beschieden gewesen, hätte es der Zufall nicht gefügt, daß eine der beiden alten Damen, denen das Schloß gehörte, einen Augenblick in den Kuhstall trat, um ihre Mägde wegen der Sahne, die nach der Kuh schmeckte, auszuschelten. Im Kuhstall lag die Wöchnerin an der Erde und neben ihr ein schönes, lebensfähiges, gesundes Kind. Die alte Dame schalt die Mägde, weil sie die Sahne so schlecht zubereitet und eine Wöchnerin in den Kuhstall gelassen hatten; als sie aber das Kind bemerkte, ward sie milder und erbot sich sogar, Patenstelle zu vertreten. Dann empfand sie Mitleid mit dem kleinen Mädchen, ließ der Mutter Milch und etwas Geld verabreichen, damit sie es nähren sollte, und so blieb das Kind am Leben. Daher nannten sie die beiden alten Damen auch »die Gerettete«.

Das Kind war drei Jahre alt, als seine Mutter krank wurde und starb, und da die alte Großmutter nichts mit ihm anzufangen wußte, so nahmen es die beiden alten Damen zu sich ins Schloß. Es war mit seinen großen schwarzen Augen ein außergewöhnlich lebhaftes und niedliches Kind; und die beiden Alten hatten Wohlgefallen an ihm. Die jüngere der beiden, die auch die nachsichtigere war, hieß Sophie Iwanowna; das war des Kindes Pate. Die ältere, Marie Iwanowna, hatte mehr Anlage zu Strenge. Sophie Iwanowna putzte die Kleine, brachte ihr das Lesen bei und dachte, eine Gouvernante aus ihr zu machen. Marie Iwanowna dagegen wollte eine Magd, eine hübsche Kammerzofe aus ihr machen; infolgedessen war sie anspruchsvoller, gab dem Kinde Befehle und schlug es manchmal, wenn sie schlechter Laune war. So wuchs die Kleine unter der Einwirkung dieses Doppeleinflusses auf und wurde halb eine Kammerzofe, halb ein Fräulein. Selbst der Name, den man ihr gab, paßte zu diesem Zwitterzustand; man nannte sie weder Katja, noch Katenka, sondern Katuscha. Sie nähte, brachte die Stuben in Ordnung, reinigte die Heiligenbilder mit Kreide, servierte ben Kaffee, wusch die seine Wäsche und durfte ihren Gebieterinnen manchmal Gesellschaft leisten und vorlesen.

Man hatte wiederholt um sie angehalten, doch sie hatte stets Körbe ausgeteilt; verhätschelt, wie sie von dem ruhigen Schloßleben war, fühlte sie, es würde ihr schwer fallen, mit einem Arbeiter oder einem Diener zu leben.

So hatte sie bis zu ihrem siebzehnten Jahr gelebt. Sie trat in ihr neunzehntes, als ein Neffe der beiden Damen ins Schloß kam, der schon vorher einen ganzen Sommer bei seinen Tanten zu gebracht. In ihn hatte sich das junge Mädchen wahnsinnig verliebt. Er war Offizier und wollte sich ein paar Tage ausruhen, bevor er mit seinem Regiment in den Krieg gegen die Türken zog. Am dritten Tage, am Abend vor seinem Fortgange verführte er Katuscha, und zog am nächsten Morgen fort, nachdem er ihr einen Hundertrubelschein zugesteckt.

Seit diesem Augenblick wurde ihr alles lästig; sie dachte nur noch daran, wie sie der Schande, die sie erwartete, entgehen konnte; selbst ihre Gebieterinnen bediente sie nachlässig und widerwillig. Die beiden alten Damen bemerkten ihren Zustand bald. Maria Iwanowna schalt sie ein-, zweimal aus; doch schließlich sahen sie sich, wie sie selbst sagten, gezwungen, »sich von ihr zu trennen,« d. h, sie warfen sie hinaus. Als sie sie verließ, trat sie als Mädchen für alles bei einem Stanowoj 1 in Dienst; doch hier konnte sie nur drei Monate bleiben, denn der Stanowoj, ein alter Mann von über 60 Jahren, begann ihr schon im zweiten Monat den Hof zu machen. Eines Tages, als er sich ganz besonders zudringlich zeigte, nannte sie ihn ein Vieh und einen alten Teufel, und wurde deshalb wegen Frechheit entlassen. Eine andere Stellung zu suchen, daran konnte sie nicht denken, deshalb ging sie in Pension zu einer ihrer Tanten, einer Witwe, die eine Kneipe hatte und außerdem Hebamme war. Ihre Entbindung ging leicht und glücklich von statten. Doch die Hebamme, die ins Dorf zu einer kranken Bäuerin gegangen war, steckte Katuscha mit dem Kindbettfieber an. Das Kind, ein kleiner Junge, wurde ebenfalls krank und in ein Krankenhaus gebracht, starb aber dort gleich unter den Augen der Frau, die ihn hingebracht hatte.

Katuschas ganzes Vermögen bestand in 127 Rubeln; 27, die sie sich verdient, und den 100 Rubeln, die ihr ihr Verführer gegeben hatte. Als sie von der Hebamme kam, blieben ihr sechs Rubel. Die Hebamme hatte ihr für ihre Pension auf zwei Monate 40 Rubel abgenommen; 28 Rubel hatte man für die Aufnahme des Kindes ins Hospital bezahlt; 40 Rubel hatte ihr die Hebamme noch als Darlehen abgenommen, um sich eine Kuh zu kaufen; was den Rest von 20 Rubel betraf, so hatte sie Katuscha, – sie wußte selbst nicht wie – in unnützen Einkäufen und Geschenken ausgegeben, so daß sie bei ihrer Genesung ohne Geld dastand und sich eine Stelle suchen mußte. Sie trat bei einem Forsthüter ein. Dieser Forsthüter war verheiratet; doch schon am ersten Tage begann er wie der Stanowoj der jungen Magd den Hof zu machen. Seine Frau bemerkte das bald, und als sie ihn eines Tages allein mit Katuscha in einem Zimmer traf, schlug sie ihr das Gesicht blutig und schickte sie fort, ohne ihr auch nur ihren Lohn zu bezahlen. Katuscha begab sich nun in die Stadt zu einer Base, deren Mann Buchbinder war; derselbe hatte früher gut dagestanden, aber er hatte seine Kundschaft verloren, war ein Trunkenbold geworden und gab alles Geld, das ihm in die Hände fiel, in der Kneipe aus. Seine Frau hatte eine kleine Plätterei, mit deren winzigem Verdienst sie ihre Kinder ernährte und ihren Trunkenbold von Mann erhielt. Sie machte Katuscha den Vorschlag, ihr Handwerk zu lernen. Doch als das junge Mädchen sah, welch‘ anstrengendes Leben die Wäscherinnen führten, die bei ihrer Base arbeiteten, zögerte sie und wandte sich wegen einer Stellung als Dienstmädchen an ein Vermietungsbureau. Sie fand thatsächlich eine Stellung bei einer verwitweten Dame, die mit ihren beiden Söhnen zusammen lebte. Noch ungefähr eine Woche, nachdem sie in dieses Haus eingetreten war, vernachlässigte der älteste Sohn, ein Gymnasiast der sechsten Klasse, der schon einen Anflug von Schnurrbart hatte, seine Studien, um ihr den Hof zu machen. Die Mutter schob alle Schuld auf das hübsche Dienstmädchen und entließ sie.

Es bot sich keine neue Stellung, und als Katuscha eines Tages ins Vermittlungsbureau kam, traf sie dort eine Dame, deren Hände mit Ringen und Armbändern überladen waren. Als diese Dame die Lage der jungen Person erfuhr, gab sie ihr ihre Adresse und forderte sie auf, sie zu besuchen. Die Maslow ging zu ihr. Die Dame empfing sie sehr liebenswürdig, regalierte sie mit Kuchen und süßem Wein und hielt sie bis zum Abend fest. Abends sah Katuscha einen großen Mann mit grauem Bart und langen grauen Haaren ins Zimmer treten, der sich sogleich zu ihr setzte und mit leuchtenden Augen und lächelnden Lippen sie zu examinieren und mit ihr zu scherzen begann. Die Dame nahm ihn im Nebenzimmer einen Augenblick beiseite, dann rief sie sie selber, und sagte ihr, der alte Herr wäre ein Schriftsteller, er hätte viel Geld, und würde ihr alles geben, was sie wollte, wenn sie ihm nur zu gefallen verstünde. Sie gefiel ihm thatsächlich, und der Schriftsteller gab ihr 25 Rubel und versprach, sie oft zu besuchen. Dieses Geld wurde übrigens schnell ausgegeben; Katuscha gab einen Teil ihrer Base als Bezahlung für ihre Pension; für den Rest kaufte sie sich ein Kleid, einen Hut und Bänder. Einige Tage darauf bestimmte ihr der Schriftsteller von neuem ein Rendezvous, zu dem sie auch kam; er gab ihr wieder 25 Rubel und veranlaßte sie, sich einzumieten. In dem Zimmer, das der Schriftsteller für sie genommen, machte die Maslow die Bekanntschaft eines Ladenkommis, eines lustigen Burschen, der in demselben Hofe wohnte. Sie verliebte sich in ihn, und gestand die Sache dem Schriftsteller, der sie sofort verließ; auch der Kommis, der ihr erst die Ehe versprochen, verließ sie bald. Die junge Person hätte gern weiter möbliert gewohnt, doch das wurde ihr nicht gestattet, und so kehrte sie denn zu ihrer Base zurück. Als diese sie in einem modernen Kleide, mit einem schönen Hut und einem Pelzmantel erblickte, empfing sie sie ehrfurchtsvoll und wagte gar nicht mehr, ihr vorzuschlagen, in ihre Plätterei einzutreten, sie glaubte, sie gehöre jetzt einer höheren Gesellschaftsklasse an. Was die Maslow übrigens selber betraf, so konnte für sie nicht mehr die Rede davon sein, in eine Plättanstalt einzutreten. Sie ging höchstens darauf ein, sich vorläufig in dem Zimmer ihrer Base aufzuhalten, und betrachtete mit verachtungsvollem Mitleid das Zuchthausleben, das die Wäscherinnen führten, die da bei dreißig Grad Wärme, bei Winter wie Sommer geöffneten Fenstern bis zur Erschöpfung rieben und plätteten.

Die Maslow hatte sich schon lange Zeit das Rauchen angewöhnt, und in der letzten Zeit ihrer Beziehungen zu dem Kommis hatte sie immer mehr zu trinken angefangen, Der Wein übte seine Anziehungskraft auf sie aus, nicht allein, weil er ihr angenehm schmeckte, sondern vor allem auch, weil er ihr eine Ablenkung bot, und die Stimme des Gewissens zum Schweigen brachte; denn nüchtern langweilte sie sich und schämte sich oft. Die Maslow hatte die Wahl zwischen einer demütigenden Dienstbotenstellung, in der sie aller Wahrscheinlichkeit nach die Nachstellungen der Männer zu erdulden hatte, und einer sicheren, ruhigen, vom Gesetz sogar geschützten Position.

Sie wählte das letztere, und hatte außerdem noch die Empfindung, sie räche sich auf diese Weise an dem Fürsten, der sie verführt, dem Kommis und allen Männern, über die sie sich zu beklagen hatte. Vor allem aber lockte sie – und das trug hauptsächlich zu ihrem Entschlusse bei – der Gedanke, daß sie sich von jetzt ab alle Kleider bestellen konnte, die ihr gefielen, aus Samt, Faille und Seide, wie auch Ballkleider, die Schultern und Arme frei ließen. Als sich die Maslow in Gedanken in einem dekolletierten, hellgelben Seidenkleid mit schwarzen Samtaufschlägen sah, konnte sie der Versuchung nicht länger widerstehen.

Von diesem Tage an begann für sie dieses Leben beständiger Verletzung der göttlichen und menschlichen Gesetze, das Hunderttausende von Frauen heute, nicht allein mit der Erlaubnis, sondern sogar unter dem tatsächlichen Schutze einer für das Wohlergehen ihrer Untergebenen besorgten gesetzlichen Macht führen; dieses herabwürdigende und ungeheuerliche Leben, das nach schrecklichen Leiden unter neun von zehn Malen mit einem vorzeitigen Verfall und Tod endet.

Die Maslow führte dieses Leben über sechs Jahre. Im siebenten Jahre – sie zählte damals 26 Jahre – vollzog sich das Ereignis, infolgedessen sie verhaftet wurde, und das sie nach einer mehrmonatlichen Untersuchungshaft in Gesellschaft von Geschöpfen, deren Beruf der Diebstahl und Mord war, vor die Geschworenen brachte.

  1. Polizeibeamter

Drittes Kapitel

Im Augenblick, da die Maslow in einer Zelle des Gerichtsgebäudes auf einer Bank saß und sich die Schuhe von den Füßen zog, die sie sich, auf dem Wege durch die Stadt wund gelaufen, erwachte derselbe Fürst Dimitri Iwanowitsch Nechludoff, der sie einst verführt hatte, in seinem großen, mit einem weichen Daunenkissen belegten Sprungfederbett. Er richtete sich in seinem, elegant auf der Brust in Fältchen gelegten Hemde aus holländischer Leinewand, nachlässig auf, zündete sich eine Cigarette an und dachte darüber nach, was er am vorigen Tage gethan und was er an diesem thun wollte. Er erinnerte sich an den vorigen Abend, den er bei den Kortschagins zugebracht. Es war ein sehr reiches und sehr angesehenes Ehepaar, dessen Tochter er nach Ansicht aller heiraten mußte. Diese Erinnerung entlockte ihm einen Seufzer; dann warf er die Cigarette fort und streckte die Hand nach einem silbernen Etui aus, um sich eine zweite zu nehmen, doch sofort besann er sich eines anderen, richtete mutig seinen noch müden Körper in die Höhe, streckte seine weißen, mit Haaren übersäeten Beine aus dem Bette und zog seine Pantoffeln an. Dann bedeckte er seine breiten Schultern mit einem seidenen Schlafrock und ging mit schwerfälligem, aber doch lebhaftem Schritte in ein neben dem Schlafzimmer liegendes Toilettenkabinet.

Hier begann er sich zunächst sorgfältig mit einem Pulver seine an mehreren Stellen plombierten Zähne zu bürsten und spülte sie dann mit einem wohlriechenden Wasser aus; dann ging er zu der Marmortoilette und wusch sich mit einer parfümierten Seife die Hände, wobei er mit ganz besonderem Eifer seine langen Nägel reinigte und bürstete, hierauf öffnete er den Hahn der Wasserleitung und wusch sich Gesicht, Ohren und Hals. Darauf ging er in ein drittes Zimmer, in welchem ein Doucheapparat angebracht war; der kalte Wasserstrahl erfrischte seinen muskulösen Körper, der bereits Fett ansetzte. Als er sich mit dem Frottierlaken abgetrocknet hatte, wechselte er das Hemd, zog seine Schuhe an, die wie ein Spiegel leuchteten, setzte sich vor einen Trumeau und begann mit Hilfe einer Doppelbürste zuerst seinen schwarzen Bart und dann seine auf dem Schädel schon recht spärlichen Haare glattzustreichen. Alle Gegenstände, die er bei seiner Toilette benutzte, Wäsche, Kleidungsstücke. Schuhwerk, Kravatte, Nadeln, Manschettenknöpfe, alles war prima Qualität, sehr einfach, durchaus nicht auffällig, sehr solid und sehr teuer.

Ohne sich zu beeilen, beendete Nechludoff seine Toilette; dann begab er sich in den Eßsaal, ein langes Gemach, dessen Parquetboden drei Mann am vorigen Abend gebohnert hatten. In diesem Eßzimmer stand ein ungeheuer großes Büffet aus Eichenholz und ein nicht weniger großer Ausziehtisch, ebenfalls aus Eiche, der mit seinen vier breit ausgedehnten, geschnitzten Füßen, die die Form von Löwenklauen hatten, einen etwas feierlichen Eindruck machte. Auf diesem Tisch, auf dem eine kleine, mit großem Monogramm verzierte Decke lag, hatte man eine silberne Kaffeekanne mit duftendem Kaffee, eine silberne Zuckerschale, ein Milchtöpfchen und einen Korb mit frischen Brötchen, Zwiebäcken und Biscuits gestellt. Endlich lag noch neben dem Gedeck die Morgenpost: Briefe, Zeitungen und eine Lieferung der » Revue des Deux Mondes«. Nechludoff schickte sich an, die Briefe zu öffnen, als durch die auf das Vorzimmer führende Thür eine dicke Frau reiferen Alters in schwarzem Kleide und einer Spitzenhaube auf dem Kopfe ins Zimmer trat. Das war Agrippina Petrowna, die Kammerfrau der alten Fürstin, Nechludoffs Mutter, die kurz vorher in demselben Hause gestorben war. Die Kammerfrau der Mutter war als Haushälterin bei dem Sohne geblieben.

Agrippina Petrowna hatte sich zu wiederholten Malen mit Nechludoffs Mutter längere Zeit im Auslande aufgehalten; sie hatte daher das Auftreten und die Manieren einer Dame. Sie wohnte seit ihrer Kindheit in dem Hause Nechludoff und hatte Dimitri Iwanowitsch gekannt, als er noch »Mitenko« genannt wurde.

»Guten Morgen, Dimitri Iwanowitsch!«

»Guten Morgen, Agrippina Petrowna! Was giebt’s?« fragte Nechludoff.

»Da ist ein Brief für Sie. Die Zofe der Kortschagins hat ihn schon vor längerer Zeit gebracht; sie wartet in meinem Zimmer,« sagte Agrippina Petrowna und reichte ihm mit bedeutungsvollem Lächeln einen Brief.

»Es ist gut; gleich!« sagte Nechludoff, den Brief nehmend. Noch er bemerkte, daß Agrippina Petrowna lächelte und zog die Stirn kraus.

Agrippina Petrownas Lächeln bedeutete, daß sie wußte, der Brief käme von der jungen Prinzessin Kortschagin, mit der sich ihr Herr, wie sie vermutete, verheiraten sollte, und diese Vermutung mißfiel Nechludoff.

»Sagen Sie der Zofe, sie solle noch warten!«

Agrippina verließ das Zimmer, nachdem sie zuvor eine Tischbürste wieder an den richtigen Platz gehängt hatte.

Nechludoff zerriß das parfümierte Kouvert, das ihm Agrippina Petrowna gebracht, und öffnete den Brief, der auf dickem, grauem Papier mit ungleichen Linien in englischer Schrift mit spitzen Buchstaben geschrieben war.

»Hiermit erfülle ich die Verpflichtung, die ich auf mich genommen, Ihnen als Gedächtnis zu dienen,« las er in diesem Briefe, »und erinnere Sie daran, daß Sie heute, am 28. April der Geschworenensitzung beiwohnen müssen und es Ihnen infolgedessen ganz unmöglich sein dürfte, mit uns und Kolossow die Galerie von Z. … zu besichtigen, wie Sie es uns gestern mit Ihrer gewöhnlichen Leichtfertigkeit versprochen hatten, wenn Sie nicht dem Gericht die 300 Rubel Strafe bezahlen wollen, die Sie sich für Ihr Pferd nicht leisten. Ich habe gestern, als Sie fortgegangen waren, gleich daran gedacht. Vergessen Sie es also nicht!«

Auf der andern Seite stand:

»Mama läßt Ihnen sagen, daß Ihr Gedeck bis zur Nacht für Sie liegen bleibt. Kommen Sie auf jeden Fall, wann es auch sein mag!

M. K.«

Nechludoff zog die Stirn kraus. Dieses Billet war eine Fortsetzung des Feldzuges, den die Prinzessin Kortschagin schon seit zwei Monaten unternahm, um ihn in immer schwerer zu lösende Bande einzuschnüren. Andererseits aber hatte er außer der Unentschlossenheit, die an das Cölibat gewöhnte, nur wenig verliebte Männer reiferen Alters stets vor der Ehe empfinden, noch einen andern Grund, weshalb er sich, selbst wenn er zur Ehe entschlossen gewesen wäre, nicht in diesem Augenblick hätte entscheiden können. Dieser Grund hatte natürlich mit der Thatsache, daß Nechludoff Katuscha vor acht Jahren verführt und verlassen, nichts zu thun; er dachte nicht gern daran, und nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, hierin ein Hindernis zu seiner Heirat mit der jungen Prinzessin zu suchen. Der Grund war der, daß Nechludoff geheime Beziehungen zu einer verheirateten Frau unterhielt, die zu brechen er sich allerdings kürzlich entschlossen hatte.

Nechludoff war sehr schüchtern den Frauen gegenüber; und gerade diese Schüchternheit hatte Maria Wassiljewna, der Frau eines Adelsmarschalls, den Wunsch eingegeben, ihn zu ihrem Sklaven zu machen. Sie hatte ihn tatsächlich in eine Liaison verstrickt, die Nechludoff täglich mehr in Anspruch nahm und ihm tagtäglich drückender wurde. Noch zuerst hatte er der Verführung nicht widerstehen können, und später konnte er sich, weil er sich ihr gegenüber schuldig fühlte, nicht entschließen, die Fesseln zu brechen, ohne daß sie damit einverstanden war. Aber anstatt sich damit einverstanden zu erklären, sagte sie ihm, sie würde sich sofort töten, wenn er sie jetzt, da sie ihm alles geopfert, im Stiche ließe.

Unter Nechludoffs Post befand sich gerade an diesem Morgen ein Brief ihres Gatten; der Fürst erkannte die Handschrift und das Siegel. Er errötete und empfand jene Aufwallung, die er beim Nahen der Gefahr stets verspürte. Doch seine Erregung legte sich, als er den Brief geöffnet hatte. Maria Wassiljewnas Gatte, der Adelsmarschall des Bezirks, in welchem die hauptsächlichen Besitzungen der Familie Nechludoff lagen, schrieb dem Fürsten, gegen Ende Mai würde eine außerordentliche Sitzung des Rates, dem er präsidierte, abgehalten werden; er bitte ihn, derselben auf jeden Fall beizuwohnen und ihm »ein bißchen behilflich zu sein«; denn man wollte zwei sehr ernste Fragen beraten, die Schulfrage und die der Bicinalwege, und in beiden Punkten dürfte man sich auf eine lebhafte Opposition von seiten der reaktionären Partei gefaßt machen. Dieser Adelsmarschall war in der That liberal gesinnt; mit einigen anderen Liberalen derselben Art kämpfte er gegen die Reaktion, die immer stärker zu werden drohte; und dieser Kampf nahm ihn vollständig in Anspruch, so daß, er nicht einmal zu bemerken Zeit hatte, daß seine Frau ihn hinterging.

Nechludoff erinnerte sich, welche Angst er schon so oft durchgemacht; er erinnerte sich, wie er sich eines Tages eingebildet, der Mann habe alles entdeckt und sich auf ein Duell mit ihm vorbereitet, bei dem er die Absicht gehabt, in die Luft zu schießen; er durchlebte wieder die schreckliche Szene, die er mit der Frau an jenem Tage gehabt, als sie in ihrer Verzweiflung nach dem Garten gestürzt und auf den Teich zugelaufen war, um sich darin zu ertränken.

»Ich kann jetzt nicht hingehen und nichts unternehmen,« dachte er. Vor acht Tagen hatte er ihr einen Brief geschrieben, in welchem er sich schuldig bekannte und sich zu allem bereit erklärte, um seinen Fehler wieder gut zu machen, zum Schluß aber sagte er, ihre Beziehungen müßten im Interesse der jungen Frau auf immer aufhören. Auf diesen Brief erwartete er eine Antwort, die aber nicht kam. Das Ausbleiben der Antwort erschien ihm übrigens als ein gutes Zeichen. Wäre sie nicht auf den Bruch eingegangen, so hätte sie ihm schon lange geschrieben oder wäre selbst gekommen, wie sie es schon einmal gethan hatte. Nechludoff hatte von einem Offizier gehört, der Maria Wassiljewna den Hof machte und der Gedanke an diesen Nebenbuhler bereitete ihm Qualen der Eifersucht. Gleichzeitig aber freute er sich darüber, denn er hatte dadurch die Hoffnung, sich endlich von einer ihn drückenden Lüge befreien zu können.

Ein anderer Brief, den Nechludoff unter seiner Post fand, war von dem ersten Inspektor der Güter seiner Mutter, die jetzt ihm gehörten. Dieser Inspektor schrieb, Nechludoff müßte um jeden Preis nach seinem Gute kommen, um die Bestätigung seiner Erbschaftsrechte in Empfang zu nehmen, wie auch, um die Frage zu entscheiden, in welcher Weise seine Güter in Zukunft geleitet werden sollten. Die Frage bestand darin, ob die Güter weiter so geleitet werden sollten, wie sie es zu Lebzeiten der verstorbenen Fürstin wurden, oder ob man, wie der Inspektor es dieser geraten und wie er es jetzt dem jungen Fürsten riet, nicht besser that, die Verträge aufzulösen und den Bauern alle Güter, die man ihnen verpachtet hatte, wieder fortzunehmen. Der Inspektor behauptete, die direkte Ausbeutung der Güter würde bedeutend einträglicher sein. Er entschuldigte sich dann, daß er die Absendung der Rente von 3000 Rubel, die dem Fürsten zukam, etwas verzögert habe, er würde diese Summe mit der nächsten Post erhalten; die Verzögerung kam daher, daß der Inspektor die größte Mühe von der Welt hatte, das Geld von den Bauern einzubekommen, die ihre Gewissenlosigkeit so weit trieben, daß man, um sie zur Zahlung zu veranlassen, seine Zuflucht zur Gewalt nehmen mußte.

Dieser Brief war Nechludoff gleichzeitig angenehm und unangenehm. Er empfand es als etwas Angenehmes, sich als Herrn eines Vermögens zu wissen, das sein bisheriges übertraf. Andererseits dagegen erinnerte er sich, daß er sich in seiner ersten Jugend mit der Großherzigkeit und Entschlossenheit seines Alters für die soziologischen Theorien von Spencer und Henry George begeistert hatte; er hatte nicht allein gedacht, erklärt und geschrieben, daß die Erde kein Gegenstand individuellen Eigentums sein dürfe, sondern hatte sogar den Bauern ein kleines Gut geschenkt, das er von seinem Vater ererbt, um seine Handlungen seinen Grundsätzen anzupassen. Jetzt aber, da der Tod seiner Mutter ihn zum Großgrundbesitzer gemacht, hatte er zwischen zwei Entschlüssen zu wählen. Er konnte entweder auf alle seine Güter verzichten, wie er es vor zehn Jahren bei den 200 Hektaren gethan, die er von seinem Vater ererbt, oder er konnte, indem er von seinen Gütern Besitz nahm, die Grundsätze, die er einst aufrecht erhalten, stillschweigend, aber ausdrücklich, als falsch und lügnerisch hinstellen.

Den ersten dieser beiden Entschlüsse zu fassen, war ihm unmöglich, denn seine Besitzungen bildeten sein ganzes Vermögen. Wieder in den Dienst zu treten, hatte er nicht den Mut; und er war zu sehr an sein müßiges und luxuriöses Leben gewöhnt, um darauf verzichten zu können. Dann wäre das Opfer auch unnütz gewesen, denn Nechludoff fühlte nicht mehr die Kraft der Ueberzeugung und die Entschlossenheit, die er in der Jugend besessen hatte.

Doch der zweite Entschluß, die uneigennützigen und großherzigen Vorsätze, auf die er einst so stolz gewesen, ausdrücklich zu verleugnen, dieser Entschluß war ihm unangenehm, und deshalb berührte ihn der Brief seines Inspektors peinlich.

Als Nechludoff sein Frühstück beendet hatte, ging er in sein Kabinet. Er wollte aus der Vorladung ersehen, um wieviel Uhr er im Gerichtsgebäude sein mußte, und außerdem hatte er auch der Prinzessin Kortschagin zu antworten. Er ging, um sich in sein Kabinet zu begeben, durch sein Atelier, wo ein angefangenes Gemälde auf einer Staffelei stand und verschiedene Studien an den Wänden hingen. Der Anblick dieses Bildes, an dem er seit zwei Jahren arbeitete, ohne es vollenden zu können, dieser Studien und des ganzen Ateliers belebte das unaufhörlich stärker werdende Gefühl seiner Ohnmacht, Fortschritte in der Malerei zu machen, und das Bewußtsein seines Talentmangels aufs neue. Er schrieb dieses Gefühl allerdings seinem übertrieben fein entwickelten künstlerischen Geschmack zu; doch er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß er die Armee vor fünf Jahren verlassen hatte, weil er ein großes Talent als Maler in sich zu entdecken geglaubt.

So kam er denn in melancholischer Gemütsverfassung in sein ungeheuer großes Arbeitszimmer, das mit jedem möglichen Zierrat und allen Bequemlichkeiten versehen war. Er schritt auf einen großen Schreibtisch mit etiquettierten Schubladen zu, öffnete die Schublade, die die Bezeichnung »Vorladungen« trug und fand darin sofort die Anzeige, die er suchte. Diese Anzeige sagte ihm, daß er um 11 Uhr im Justizgebäude sein mußte. Nechludoff setzte sich, schloß die Schublade und begann einen Brief, in dem er der Prinzessin sagen wollte, er danke ihr für ihre Einladung, und hoffe, am Nachmittag zum Diner kommen zu können. Nachdem er aber den Brief geschrieben, zerriß er ihn; er war zu intim. Der zweite, den er schrieb, war zu kühl, fast unhöflich, und er zerriß, ihn wieder. Er klingelte, und ein Lakai trat in das Zimmer, ein älterer Mann, mit ernster Miene und rasiertem Gesicht, der eine Schürze von grauem Kaliko trug.

»Lassen Sie mir einen Fiaker kommen.«

»Sofort, Exzellenz!«

»Und sagen Sie der Person, die noch wartet, es ist gut, ich danke, und würde kommen.«

»Es ist nicht sehr passend,« dachte Nechludoff, »aber ich kann nicht schreiben, jedenfalls werde ich sie heute sehen.«

Er kleidete sich an und trat auf die Freitreppe. Der Wagen, den er gewöhnlich nahm, ein eleganter Wagen mit Gummirädern, stand bereits da, und wartete, auf ihn. »Gestern abend,« sagte der Kutscher, sich halb zu ihm wendend – »waren Sie kaum von dem Fürsten Kortschagin weggegangen, als ich ankam. Der Portier meinte: ›Er ist eben fort.‹«

»Sogar die Kutscher kennen meine Beziehungen zu den Kortschagins,« dachte Nechludoff und legte sich von neuem die Frage vor, ob er sich mit der jungen Prinzessin verheiraten sollte oder nicht. Noch immer konnte er sich über diese Frage nicht entscheiden. Zwei Argumente sprachen zu gunsten der Ehe im allgemeinen. Erstens sicherte ihm die Ehe mit der ruhigen Behaglichkeit des häuslichen Herdes ein anständiges, moralisches Leben; zweitens hoffte Nechludoff vor allen Dingen, eine Familie und Kinder würden seinem Leben ein Ziel geben, dem ein solches jetzt fehlte. Gegen die Ehe im allgemeinen sprach andererseits das Gefühl, das wir bereits erwähnt, die Furcht, die den Junggesellen in einem bestimmten Alter die Aussicht, ihre Freiheit zu verlieren, einflößt, sowie auch die unbewußte Angst vor dem Geheimnis, das eine Frauennatur stets umgiebt.

Zu gunsten der Ehe mit Missy im besonderen (Missy war der Beiname, den die junge Prinzessin Kortschagin, deren richtiger Name Marie war, in intimem Kreise trug) sprach zunächst der Umstand, daß das junge Mädchen aus guter Familie war und sich in allem, von ihren Toiletten angefangen bis zu der Art und Weise, wie sie sprach, ging und lachte, von den »gewöhnlichen« Frauen unterschied, und zwar nicht durch etwas Außergewöhnliches, sondern durch ihre »Vornehmheit«. Er fand keinen andern Ausdruck, um diese Eigenschaft zu bezeichnen, auf die er ganz besonderen Wert legte. Das zweite Argument bestand darin, daß die junge Prinzessin ihn besser zu schätzen wußte, als sonst jemand, und ihn besser verstand; und gerade in der Thatsache, daß sie ihn verstand, das heißt, seine hohen Vorzüge anerkannte, fand Nechludoff den Beweis ihrer Intelligenz und ihres sicheren Urteils. Doch es sprachen auch sehr ernste Argumente gegen die Heirat mit Missy im besonderen; erstens hätte Nechludoff aller Wahrscheinlichkeit nach ein anderes junges Mädchen finden können, das noch »vornehmer« als Missy war; zweitens zählte diese bereits 27 Jahre und hatte wahrscheinlich schon andere Männer geliebt. Dieser Gedanke aber war eine Qual für Nechludoff. Seine Eitelkeit konnte es nicht dulden, daß das junge Mädchen selbst früher einen andern als ihn geliebt hatte. Allerdings konnte er nicht verlangen, sie solle im voraus wissen, daß sie ihm eines Tages im Leben begegnen würde; doch schon der Gedanke, sie hätte einen andern Mann vor ihm lieben können, war für ihn eine Demütigung. So standen die Argumente für und wider gleich; und Buridan verglich sich lachend mit Buridans Esel. Doch trotzdem trieb er es genau so weiter, wie der Esel und wußte nicht, welchem der beiden Heubündel er sich zuwenden sollte.

»Außerdem kann ich ja, solange ich von Marie Wassiljewna keine Antwort erhalten habe und diese Angelegenheit nicht beendet ist, keine Verpflichtung eingehen,« dachte er, und das Gefühl der Notwendigkeit, seinen Entschluß noch hinauszuschieben, machte ihm Vergnügen.

»An all‘ das werde ich später denken,« sagte er sich wieder, während sein Wagen geräuschlos über den Asphalt des Hofes des Justizgebäudes rollte. »Es handelt sich jetzt für mich darum, eine soziale Pflicht mit der mir eigenen Sorgfalt zu erfüllen. Außerdem sind diese Sitzungen auch oft sehr interessant.«

Viertes Kapitel

Als Nechludoff das Gerichtsgebäude betrat, ging es auf den Korridoren schon sehr lebhaft zu. Aufseher liefen mit Papieren hin und her; andere gingen mit ernstem, langsamem Schritte, die Hände auf dem Rücken, auf und nieder. Die Nuntien, die Advokaten, die Anwälte spazierten hin und her, die Bittsteller und die auf freien Fuß belassenen Angeklagten drückten sich demütig an die Wand oder blieben wartend auf den Bänken sitzen.

»Das Bezirksgericht?« fragte Nechludoff einen der Aufseher.

»Was für eins? Kriminal oder Zivil?«

»Ich bin Geschworener!«

»Dann handelt es sich um das Schwurgericht! Das hätten Sie gleich sagen sollen! Gehen Sie nach rechts und dann links die zweite Thür!«

Nechludoff trat in die Korridore.

Vor der Thür, die der Aufseher ihm bezeichnet hatte, standen zwei Männer in eifriger Unterhaltung begriffen. Der eine war ein dicker Kaufmann, der jedenfalls als Vorbereitung auf seine Aufgabe tüchtig gegessen und getrunken hatte; denn er schien in sehr lustiger Gemütsverfassung; der andere war ein Kommis jüdischer Herkunft. Die beiden Männer unterhielten sich von den Wollpreisen, als Nechludoff auf sie zutrat und sie fragte, ob sich hier die Geschworenen versammelten.

»Ja, hier, mein Herr; ganz recht hier! Sie sind jedenfalls auch ein Geschworener, einer unserer Kollegen?« fügte der brave Kaufmann lächelnd und augenblinzelnd hinzu.

»Na, dann werden wir zusammen arbeiten,« fügte, er auf Nechludoffs bejahende Antwort hinzu. – »Baklaschoff von der zweiten Gilde,« sagte er, dem Fürsten seine breite Hand reichend. »Und mit wem habe ich die Ehre?«

Nechludoff nannte seinen Namen und trat in das Geschworenenzimmer.

»Sein Vater war beim Kaiser attachiert,« murmelte der Jude.

»Er hat Vermögen?« fragte der Kaufmann.

»Ein schwerreicher Mann!«

In dem kleinen Geschworenenzimmer waren zehn Männer aus allen Lebensstellungen versammelt. Alle waren eben erst gekommen; die einen saßen, die andern gingen auf und ab. Man betrachtete sich und knüpfte Bekanntschaft an. Da war ein pensionierter Oberst in Uniform, andere Geschworene waren im Gehrock, im Jacket; ein einziger hatte seinen Frack angezogen. Mehrere von ihnen hatten ihre Geschäfte im Stich lassen müssen, um ihre Geschworenenpflicht auszuüben, und beschwerten sich bitter darüber; dabei las man aber doch auf ihren Gesichtern eine stolze Genugthuung und das Bewußtsein, eine hohe soziale Pflicht zu erfüllen.

Als die erste Prüfung beendet war, war man in einfachen Gruppen zusammengetreten. Man unterhielt sich vom Wetter, von dem frühzeitigen Anbruch des Frühlings und den zur Verhandlung kommenden Fällen. Eine große Anzahl von Geschworenen drängte sich danach, mit dem Fürsten Nechludoff Bekanntschaft zu machen, denn sie waren augenscheinlich der Meinung, er wäre ein hervorragender Mensch. Nechludoff fand das berechtigt und natürlich, wie er es stets bei solchem Anlaß that. Hätte man ihn gefragt, warum er sich der Mehrzahl der Menschen überlegen betrachtete, er wäre außer stande gewesen, darauf zu antworten, denn sein Leben hatte in der letzten Zeit namentlich nichts sehr Verdienstliches aufzuweisen gehabt. Er konnte allerdings fließend englisch, französisch und deutsch sprechen; seine Wäsche, sein Anzug, seine Kravatten, seine Manschettenknöpfe kamen stets aus den ersten Geschäften, und waren stets die teuersten, die es gab; doch er selbst behauptete nicht, daß das genügend war, um sich als ein höheres Wesen aufzuspielen. Und doch war er von dem Bewußtsein seiner Bedeutung tief erfüllt; er war überzeugt, daß man ihm die Hochachtung, die man ihm entgegenbrachte, schuldig war, und die Vernachlässigung derselben verletzte ihn wie eine Schmach.

Eine Schmach dieser Art erwartete ihn gerade im Geschworenenzimmer. Unter den Geschworenen befand sich jemand, den er kannte, ein gewisser Peter Gerassimowitsch – seinen Familiennamen hatte Nechludoff nie erfahren – der bei den Kindern seiner Schwester Hauslehrer gewesen war. Dieser Peter Gerassimowitsch hatte inzwischen seine Studien beendet und war jetzt Gymnasiallehrer. Nechludoff hatte ihn wegen seiner Vertraulichkeit, seines selbstgefälligen Lächelns und seiner schlechten Manieren stets unausstehlich gefunden.

»Ach, das Los hat Sie also auch getroffen?« sagte er zu Nechludoff und trat mit lautem Lachen auf ihn zu. »Und Sie haben sich nicht dispensieren lassen?«

»Nie hatte ich die Absicht, mich dispensieren zu lassen,« versetzte Nechludoff trocken.

»Na, das ist ein schöner Zug bürgerlichen Mutes. Sie werden sehen, wie Sie unter dem Hunger leiden werden! Und dabei kann man weder schlafen noch trinken!« fuhr der Professor, noch lauter lachend, fort.

»Dieser Popensohn wird bald anfangen, mich zu duzen!« dachte Nechludoff, gab seinem Gesicht einen so düstern Ausdruck, als hätte er eben den Tod eines seiner Verwandten erfahren, und drehte Peter Gerassamowitsch den Rücken, um sich einer Gruppe zu nähern, die sich um einen hochgewachsenen, glattrasierten, vornehm repräsentierenden Mann gebildet hatte, der etwas zu erzählen schien. Dieser Mann sprach von einem Prozeß, der eben vor dem Zivilgericht verhandelt wurde; er sprach davon, wie ein Mann, der die Sache von Grund aus kennt, und nannte die Richter und Advokaten bei ihren Vornamen. Er erzählte unermüdlich, wie ein berühmter Advokat aus St. Petersburg, der Sache eine ganz andere Wendung gegeben, und eine alte Dame, die vollständig recht hatte, infolge seiner Thätigkeit nunmehr sicher verlieren mußte.

»Ein genialer Mensch!« rief er, als er von dem Advokaten sprach.

Man hörte ihm aufmerksam zu; und einzelne der Geschworenen versuchten, ihre Bemerkungen anzubringen, doch er unterbrach sie sofort, als wüßte nur er genau, wie es damit stände.

Obwohl Nechludoff verspätet ins Gerichtsgebäude gekommen war, mußte er noch sehr lange in dem Geschworenenzimmer bleiben. Eins der Mitglieder des Tribunals war nicht gekommen, und man wartete auf dasselbe, um die Sitzung zu eröffnen.

Der Präsident des Schwurgerichts war dagegen sehr frühzeitig in den Palast gekommen. Dieser Präsident war ein großer, dicker Mann mit langem, grauem Backenbart. Er war verheiratet, führte aber ein sehr ausschweifendes Leben, und seine Frau that dasselbe; sie hatten das Prinzip, sich gegenseitig nicht hinderlich zu sein. Am Morgen dieses Tages hatte der Präsident ein Billet von einer Schweizer Gouvernante erhalten, die früher bei ihm gewohnt hatte und auf der Durchreise nach St. Petersburg ihm schrieb, daß sie ihn zwischen drei und sechs Uhr im Hotel d’Italie erwarten würde. Daher hatte er es eilig, die Tagessitzung so schnell wie möglich anfangen und schließen zu können, um gegen sechs Uhr, zu dieser rothaarigen Klara zu eilen, mit der er im vorigen Sommer einen Roman angesponnen.

Er ging in sein Kabinet, verriegelte die Thür und nahm aus der Schublade eines Schrankes zwei Hanteln, mit denen er zwanzig Bewegungen nach vorn, nach hinten, nach der Seite, nach oben und nach unten machte; dann beugte er dreimal die Kniee und hob die Hanteln über den Kopf.

»Nichts stärkt so sehr als die Hydrotherapie und die Gymnastik,« dachte er und fühlte mit der linken Hand, an der ein goldener Ring glänzte, nach dem Gelenk des rechten Armes. Er wollte eben wieder rollende Bewegungen machen – er hatte sich gewöhnt, diese beiden Hebungen stets vor den etwas langen Sitzungen zu machen, als es an der Thür rüttelte. Es versuchte jemand, sie zu öffnen. Der Präsident versteckte schnell seine Hanteln, öffnete die Thür und sagte: »Entschuldigen Sie!«

Einer der Richter trat ins Zimmer, ein kleiner Mensch mit eckigen Schultern und traurigem Gesicht, der eine goldene Brille trug.

»Nun! es ist Zeit!« sagte er mit scharfer Stimme.

»Ich bin bereit,« versetzte der Präsident und zog seine Amtstracht an. »Aber Mathias Nikitisch kommt noch immer nicht!«

»Er treibt die Gewissenlosigkeit wirklich zu weit,« sagte der Richter, setzte sich ärgerlich und steckte sich eine Cigarette an.

Dieser Richter, ein ungewöhnlich pünktlicher Mensch, hatte am Vormittag eine höchst unangenehme Szene mit seiner Frau gehabt, weil diese das Geld, das er ihr für den Monat gegeben, zu schnell ausgegeben hatte. Sie hatte einen Vorschuß verlangt, und er hatte ihn ihr abgeschlagen; daher die Szene. Die Frau hatte erklärt, unter solchen Umständen würde es kein Essen geben, und hatte ihm vorher erklärt, er habe nichts zu erwarten. Darauf war er fortgegangen und fürchtete nun, sie könne ihre Drohung zur Ausführung bringen, denn er wußte, daß sie zu allem fähig war. »Da soll man ein tadelloses und anständiges Leben führen,« sagte er sich und betrachtete den Präsidenten, diesen von Gesundheit und guter Laune strotzenden dicken Mann, der mit aufgestützten Ellenbogen mit seinen schönen weißen Händen die dichten und sorgfältig gebürsteten Haare seines Backenbartes glattstrich, um sie zu den beiden Seiten seines galonnierten Kragens zu legen. »Er ist stets heiter und zufrieden, ich dagegen habe nur Unannehmlichkeiten!«

In diesem Augenblick trat der Gerichtsschreiber ein und brachte die Akten, die der Präsident verlangt hatte.

»Ich danke Ihnen,« sagte der Präsident und zündete sich ebenfalls eine Cigarette an. »Na, mit welcher Sache wollen wir anfangen?«

»Nun, mit dem Giftmordprozeß, – wenn Sie die Reihenfolge nicht ändern wollen!« versetzte der Gerichtsschreiber.

»Also gut, mit dem Giftmordprozeß,« sagte der Präsident, welcher annahm, das wäre eine sehr einfache Sache, die bis vier Uhr beendet sein konnte, so daß er frei war, zu seiner Schweizerin zu eilen.

»Ist Breuer gekommen?« fragte er den Gerichtsschreiber, der hinausgehen wollte.

»Ich glaube, ja!«

»Dann sagen Sie ihm, wenn Sie ihn treffen, wir fangen mit der Giftmordaffaire an.«

Breuer war der Staatsanwalt, der in dieser Schwurgerichtsperiode die Anklage vertreten sollte.

Thatsächlich traf ihn der Aktuar auf dem Korridor. Den Kopf vornüber geneigt, mit aufgeknöpftem Gehrock, die Aktenmappe unter dem Arm, ging er mit großen Schritten, lief fast, die Hacken zusammenschlagend und in fieberhafter Aufregung den Arm bewegend.

»Michel Petrowitsch fragt, ob Sie bereit sind?« sagte der Aktuar, ihn aufhaltend.

»Natürlich! Ich bin stets bereit. Womit wird angefangen?«

»Mit dem Giftmord!«

»Es ist gut!« versetzte der Staatsanwalt.

Noch tatsächlich fand er durchaus nicht, daß es gut war, er hatte die ganze Nacht in einem Wirtshaus mit andern jungen Leuten Karten gespielt; sie hatten einen Kameraden fortbegleitet; man hatte viel getrunken und bis fünf Uhr morgens gespielt, so daß der junge Staatsanwalt nicht einmal Zeit gefunden hatte, einen Blick in die Akten des Giftmordprozesses zu werfen, der verhandelt werden sollte, Der Aktuar wußte das, und absichtlich hatte er den Präsidenten veranlaßt, mit dieser Sache zu beginnen, die zu studieren der Staatsanwalt keine Zeit gehabt hatte. Dieser Aktuar war ein Liberaler, um nicht zu sagen, ein Radikaler, was ihn aber nicht hinderte, in der Magistratur mit einer Pension von 1200 Rubeln zu dienen und sich sogar um einen Staatsanwaltsposten zu bemühen. Breuer dagegen war konservativ und ein ganz besonders eifriger Orthodoxer, wie die meisten Deutschen, die in Rußland Beamte sind; deshalb hatte der Aktuar, abgesehen davon, daß er ihm seine Stellung beneidete, noch, eine persönliche Antipathie gegen ihn.

»Und die Anklage gegen die Skopsen?« fragte der Aktuar.

»Ich habe erklärt, daß die Verhandlung in Abwesenheit der Zeugen unmöglich ist,« versetzte der Staatsanwalt, »und werde das vor Gericht wiederholen.«

»Was thut das?«

»Unmöglich!« erwiderte der Staatsanwalt, schüttelte den Arm und lief in sein Kabinet.

Er verschob die Klage gegen die Skopsen, 2 nicht wegen der Abwesenheit einiger unbedeutender Zeugen, sondern weil dieser Fall, wenn man ihn in einer großen Stadt, wo die meisten Geschworenen den gebildeten Klassen angehörten, verhandelte, mit einer Freisprechung auszulaufen drohte; daher hatte er sich mit dem Präsidenten dahin verständigt, daß der Fall vor die Geschworenen einer kleinen Stadt gebracht werden sollte, wo die Jury zum großen Teile aus Bauern gebildet wurde und die Verurteilung deshalb leichter durchzusetzen war.

Inzwischen war das Treiben auf den Gängen noch stärker geworden. Die Menge drängte sich namentlich vor dem Zivilgerichtssaal, wo einer jener Fälle verhandelt wurde, die man gewöhnlich als interessant bezeichnet, derselbe, von dem die wichtig thuende Persönlichkeit im Geschworenenzimmer so eingehend gesprochen hatte. Ohne einen Schimmer von Verstand oder moralischem Recht, aber in streng gesetzmäßiger Weise hatte sich ein Advokat des ganzen Vermögens einer alten Dame bemächtigt. Die Klage der alten Frau war vollständig berechtigt. Die Richter wußten das, und noch mehr wußten es der Gegner und sein Advokat, doch dieser Advokat war so geschickt zu Werke gegangen, daß die alte Frau notgedrungen verlieren mußte.

Im Augenblick, da der Aktuar in die Kanzlei hineingehen wollte, sah er gerade vor sich im Korridor die alte Dame, die eben in aller Form rechtens ihres Vermögens beraubt worden war. Es war eine dicke Frau mit ungeheuer großen Blumen auf dem Hut. Sie kam aus dem Sitzungssaal, streckte ihre Hände danach aus und wiederholte fortwährend: »Was soll daraus werden? Was soll daraus werden?« Dann fing sie an, eine sehr verwickelte Geschichte zu erzählen, die mit ihrer Sache gar nichts zu thun hatte. Der Advokat betrachtete die Blumen ihres Hutes, nickte zustimmend mit dem Kopfe und hörte augenscheinlich gar nicht auf sie.

Plötzlich öffnete sich eine kleine Thür und strahlend, sein steifes Hemd auf der tiefausgeschnittenen Weste zeigend, erschien schnellen Schrittes mit zufriedener Miene derselbe berühmte Advokat, der es bewirkt hatte, daß die alte Frau mit den Blumen ohne alle Mittel dastand, und daß der Gegner gegen Zahlung von 10 000 Rubeln, die er ihm für sein Plaidoyer gegeben hatte, 100 000 erhielt, auf die er kein Anrecht hatte. Er ging an der alten Dame vorüber. Aller Augen wandten sich ihm respektvoll zu und er war sich dessen auch klar, doch seine ganze Persönlichkeit schien zu sagen: »Bitte, meine Herren, sparen Sie die Zeichen Ihrer Bewunderung!«

Endlich kam Mathias Nikitisch, der Richter, auf den man wartete. Sofort sahen die Geschworenen den Gerichtsnuntius, einen kleinen, mageren Mann mit zu langem Hals und ungleichmäßigem Gange, in das Zimmer treten, in welchem sie versammelt waren. Dieser Nuntius war übrigens ein braver Mann, der alle seine Studien auf der Universität absolviert hatte; doch er konnte es nirgends aushalten, weil er trank. Vor drei Monaten hatte ihm eine Gräfin, die sich für seine Frau interessierte, diese Stellung als Nuntius im Justizgebäude verschafft, und er hatte sich bis jetzt dort zu halten vermocht, worüber er sich wie über ein Wunder freute.

»Nun, meine Herren, sind alle da?« fragte er, setzte sein Pincenez, bald darüber weg ansah.

»Ich glaube, ja,« versetzte der joviale Kaufmann.

»Wir wollen ‚mal sehen,« sagte der Nuntius.

Er zog eine Liste aus der Tasche und begann die Namen aufzurufen, wobei er die Geschworenen, bald durch sein Pincenez auf und sah die Geschworenen an.

»Der Staatsrat J. M. Nikisoroff?«

»Hier!« versetzte die wichtige Persönlichkeit, die alle Prozesse aus dem Ff. kannte.

»Oberst a. D. Iwan Semenowitsch Iwanoff?«

»Hier!« antwortete der Mann in der Uniform.

»Der Kaufmann zweiter Gilde Peter Baklaschoff?«

»Anwesend!« versetzte der joviale Kaufmann und blickte die ganze Gesellschaft mit freundlichem Lächeln an. »Ich bin bereit!«

»Der Gardehauptmann Fürst Dimitri Nechludoff?«

»Hier!« sagte Nechludoff.

Der Nuntius verneigte sich mit einem Gemisch von Unterwürfigkeit und Liebenswürdigkeit, als wollte er Nechludoff dadurch vor den übrigen Geschworenen auszeichnen. Dann setzte er die Aufzählung fort:

»Der Hauptmann Georg Dimitrijewitsch Dantschenko? Der Kaufmann Gregor Efimowitsch Kuletschoff u.s.w. u.s.w.«

Alle Geschworenen waren anwesend, bis auf zwei.

»Und nun, meine Herren, haben Sie die Güte, in den Schwurgerichtssaal hineinzugehen!« sagte der Nuntius und zeigte mit einladender Miene auf die Thür.

Alle setzten sich in Bewegung und verließen den Saal; ein jeder trat höflich vor der Thür beiseite, um seinen Kollegen durchzulassen.

Der Schwurgerichtssaal war ein großer Saal in länglicher Form, in dessen Hintergrunde eine Estrade von drei Stufen errichtet war. In der Mitte der Estrade stand ein mit einer grünen Decke belegter Tisch mit Franzen von noch dunklerem Grün; hinter dem Tisch erblickte man drei Sessel mit hoher Lehne aus geschnitzter Eiche; hinter diesen Sesseln hing an der Wand in einem vergoldeten Rahmen ein Porträt in schreienden Farben, das den Kaiser in großer Uniform, den Großcordon um den Hals, mit gespreizten Beinen, und eine Hand auf dem Degengriff, darstellte. In dem rechten Winkel hing in einer Nische das Bild des mit Dornen gekrönten Christus; davor stand ein Pult und rechts von der Estrade befand sich das kleine für den Staatsanwalt bestimmte Katheder. Links im Hintergrunde stand der Tisch des Aktuars; davor in der Nähe des Publikums umschloß eine Holzschranke die Anklagebank, die jetzt noch, wie der Rest der Estrade, leer war. Auf der rechten Seite desselben, der Anklagebank gegenüber, warteten eine Reihe von Sesseln auf die Geschworenen, und unter ihnen waren Tische für die Advokaten aufgestellt. Was den andern Teil des Saales betraf, der von der Estrade durch ein Gitter getrennt war, so wurde er von erhöhten Sitzen gebildet, die sich bis zur Hinterwand erhoben. In den ersten Reihen dieser Bänke saßen vier wie Arbeiterinnen oder Dienstmädchen gekleidete Frauen, die von zwei Männern begleitet wurden, die augenscheinlich Arbeiter waren. Diese kleine Gruppe war von der Größe der Estradendekoration tief bewegt, denn sie unterhielten sich nur schüchtern, mit leiser Stimme.

Nachdem der Nuntius die Geschworenen eingeführt und placiert hatte, trat er in die Mitte der Estrade und sagte mit sehr lauter Stimme, die die Anwesenden noch mehr einschüchterte:

»Der Gerichtshof!«

Alle standen auf und die Richter erschienen auf der Estrade. Zuerst der Präsident mit dem schönen Backenbart. Nechludoff erkannte ihn sofort, er hatte ihn vor zwei Jahren auf dem Lande auf einem Balle getroffen, wo dieser Präsident den Kotillon angeführt und die ganze Nacht mit vielem Schneid und Eifer getanzt hatte.

Hinter ihm erschien der Richter mit der mürrischen Miene; er war noch mürrischer geworden, seit er beim Eintritt in die Sitzung seinem Schwager begegnet war und dieser ihm gesagt hatte, seine Schwester habe ihm eben mitgeteilt, es würde heute abend nichts im Hause zu essen geben.

»Du lieber Gott! Dann werden wir eben in der Kneipe essen müssen,« hatte der Schwager lachend hinzugefügt.

»Ich sehe nicht, was daran so lächerlich ist!« hatte der Richter geantwortet.

Der andere Richter, der immer zu spät kam, war ein Mann mit langem Bart, gutmütigen, dicken, runden Augen und angeschwollenen Backen. Dieser Richter litt an einem Magenkatarrh, und noch an demselben Morgen hatte sein Arzt eine neue Behandlungsweise bei ihm angefangen, die ihn zwang, noch länger als gewöhnlich, zu Hause zu bleiben. Er trat mit vertiefter Miene auf die Estrade und war in der That sehr zerstreut. Er hatte die Gewohnheit, durch alle möglichen Zufallsspiele Antworten auf Fragen zu erraten, die er sich selbst stellte. Diesmal hatte er sich gesagt, wenn die Zahl der Schritte, die er zu machen hatte, um von der Thür seines Kabinets bis zu seinem Sessel zu kommen, durch drei geteilt sein sollte, dann würde seine neue Behandlung ihn von seinem Katarrh befreien; wenn nicht, dann nicht. Es waren im ganzen 26 Schritte; doch im letzten Augenblick mogelte der Richter ein bißchen, machte einen kleinen Schritt mehr und kam so mit 27 Schritten zu seinem Sessel.

Die Gestalten des Präsidenten und der beiden Richter, die sich mit ihren Uniformen und den goldgestickten Kragen auf der Estrade aufrichteten, boten ein höchst imposantes Schauspiel dar. Die Richter waren sich dessen übrigens voll bewußt, und alle drei beeilten sich, als wenn sie sich ihrer Größe schämten, Platz zu nehmen, indem sie vor dem großen, grünen Tische, auf dem man ein dreieckiges Instrument mit dem kaiserlichen Adler, Tintenfässer, Federn, weißes Papier und eine ungeheure Anzahl frisch angespitzter Bleistifte verschiedener Größe gelegt hatte, bescheiden die Augen zu Boden schlagen.

Hinter den Richtern erschien der Staatsanwalt. Auch er ging so schnell wie möglich auf seinen Sessel zu; er hielt noch immer seine Aktenmappe unter dem Arm und fuchtelte mit den Armen. Sobald er sich gesetzt hatte, vertiefte er sich in die Lektüre der Akten und benutzte jede Minute, um seine Rede vorzubereiten. Wir müssen noch erwähnen, daß Breuer erst kürzlich zum Staatsanwalt ernannt worden war und erst zum viertenmale plaidierte. Er war sehr ehrgeizig, gedachte eine schöne Karriere zu machen und hielt es, um zu reüssieren, für unerläßlich, in allen Prozessen, an denen er teilnahm, Verurteilungen durchzusetzen. Er hatte schon den allgemeinen Plan der Anklagerede, die er in dem Giftmordprozeß halten wollte, entworfen; doch er mußte von den Thatsachen des Falles Kenntnis nehmen, um seine Beweisführung zu unterstützen und auszugestalten.

Endlich durchflog der Aktuar, der am entgegengesetzten Ende der Estrade saß und alle Stücke, die er noch zu lesen hatte, vor sich hingelegt hatte, einen verbotenen Zeitungsartikel, den er am vorigen Abend erhalten und bereits einmal gelesen hatte. Er wollte von diesem Artikel mit dem langbärtigen Richter sprechen, der, wie er wußte, in der Politik mit ihm einer Meinung war; und bevor er davon sprach, wollte er ihn genau kennen lernen.

Nachdem der Präsident Papiere durchflogen, stellte er an den Aktuar und den Nuntius einige Fragen, und gab dann, als er von ihnen bejahende Antworten erhalten, den Befehl, die Angeklagten hereinzuführen.

Sofort wurde eine Thür im Hintergrunde geöffnet, und zwei Gendarmen traten, die Pelzmütze auf dem Kopfe und den Säbel in der Hand, ein, hinter ihnen erschienen die drei Angeklagten; zuerst ein sommersprossiger Mann mit roten Haaren, dann zwei Frauen. Der Mann trug Gefangenenkleidung, die für ihn zu groß und zu weit war. Er hielt die Arme an den Körper gepreßt, um die Aermel festzuhalten, die seine Hände sonst verdeckt hätten. Er schien weder die Geschworenen, noch das Publikum zu sehen, und hielt die Augen starr auf die Bank gerichtet, an der er vorüberkam. Als er um sie herumgegangen war, setzte er sich, richtete die Augen auf den Präsidenten und fing an, die Lippen zu bewegen, als wenn er etwas vor sich hinmurmelte.

Die ihm folgende Frau, die ebenfalls Gefängniskleidung trug, mochte etwa 50 Jahre zählen. Sie hatte ein Sträflingstuch um den Kopf gebunden, und ihr blaßgraues Gesicht hätte nichts besonders Merkwürdiges aufzuweisen gehabt, wäre nicht das vollständige Fehlen der Wimpern und Augenbrauen aufgefallen. Sie schien übrigens vollständig ruhig. Als sie auf ihrem Platze angelangt war, strich sie ihr Kleid, das an einem Nagel hängen geblieben war, sorgfältig glatt und setzte sich.

Das andere Weib war die Maslow.

Sobald sie eintrat, richteten sich die Blicke aller im Saale anwesenden Männer auf sie und betrachteten längere Zeit ihr sanftes Gesicht, ihre feine Taille und ihre breite unter dem Leinenkittel stark hervortretende Brust. Selbst der Gensdarm, an dem sie vorüber mußte, sah sie fortwährend an, bis sie sich gesetzt hatte; dann wandte er sich wie im Gefühle einer Schuld ab und blickte nach dem gegenüberliegenden Fenster.

Der Präsident wartete, bis die Angeklagten sich gesetzt hatten, und wandte sich dann zu dem Aktuar. Das gewöhnliche Verfahren begann; der Aufruf der Geschworenen, der Beisitzer, die Verurteilung der Fehlenden zu einer Geldstrafe, die Prüfung der Entschuldigungen und der Ersatz der fehlenden Geschworenen durch Beisitzer. Dann ersuchte der Präsident den Popen, den Geschworenen den Eid abzunehmen.

Dieser Pope war ein großer, kahlköpfiger Greis mit rotem Gesicht, einigen weißen Haaren und einem langen, schlecht gekämmten Bart. Er trug eine bräunliche Soutane, mit einem an einer goldenen Kette hängenden Kreuz, das er mit seinen angeschwollenen, dicken Fingern fortwährend auf der Brust hin- und herdrehte. Er trug auch einen kleinen an der Seite angenähten Orden. Seit 45 Jahren war er Geistlicher und wollte im nächsten Jahre sein Jubiläum feiern, wie es der Erzpriester der Kathedrale kürzlich gethan hatte. Seit der Erbauung des Gerichtsgebäudes war er beim Gericht; er war stolz darauf, mehreren tausend Personen den Eid abgenommen zu haben und selbst noch in seinem Alter zum Wohle des Vaterlandes, der Kirche und auch seiner Familie zu arbeiten, der er außer seinem Hause ein Kapital von wenigstens 30 000 Rubeln in guten Papieren zu hinterlassen gedachte. Nie war ihm der Gedanke gekommen, er könne schlecht handeln, wenn er vor einem Gerichtshofe auf das Evangelium schwören ließ; im Gegenteil, er liebte diese Beschäftigung, die ihm oft Gelegenheit gab, mit vornehmen Personen Bekanntschaft zu machen. So war er an diesem Tage sehr glücklich gewesen, mit dem berühmten Advokaten aus St. Petersburg bekannt zu werden, für den seine Hochachtung noch gestiegen war, als er erfahren hatte, ein einziger Prozeß habe ihm 10 000 Rubel eingebracht.

Sobald der Präsident ihn ermächtigt hatte, den Geschworenen den Eid abzunehmen, hob der alte Pope langsam seine angeschwollenen Beine und schritt auf das vor dem Heiligenbild stehende Pult zu. Die Geschworenen erhoben sich und folgten ihm schnell.

»Einen Augenblick!« sagte der Pope, streichelte das Kreuz mit der rechten Hand und wartete, bis alle Geschworenen näher getreten waren.

Als alle bei dem Heiligenbild standen, neigte der Pope seinen weißen Kopf zur Seite, steckte ihn in das fettige Loch seiner Stola, brachte seine dünnen Haare in Ordnung und sagte, sich zu den Geschworenen wendend: »Erheben Sie die rechte Hand und halten Sie die Finger so!« Gleichzeitig hob er seine dicke Hand hoch und faltete die Finger, als wenn er eine Prise nehmen wollte. »Und jetzt wiederholen Sie mit nur: ›Ich schwöre bei dem Heiligen Evangelium und dem belebenden Kreuz, daß ich in der Sache, in welcher‹ … Halten Sie nicht die Hand herunter,« sagte er, sich an einen jungen Mann wendend, der Miene machte, den Arm herunterzunehmen. Dann fuhr er langsam, bei jedem Worte pausierend, fort: »daß ich in dem Falle, an welchem …«

Die wichtige Persönlichkeit mit dem schönen Backenbart, der pensionierte Oberst, der Kaufmann und die andern Geschworenen hielten den Arm hoch und die Finger genau so gefaltet, wie es der Pope wollte; einige andere dagegen schienen nachlässig und unlustig vorzugehen. Die einen wiederholten die Eidesformel ganz laut mit Ausdruck und Leidenschaft; andere murmelten sie ganz leise, blieben hinter den Worten des Popen im Rückstand und beeilten sich dann, gleichsam erschreckt, ihn einzuholen. Noch alle fühlten sich verlegen, mit Ausnahme des alten Popen, der die heilige Ueberzeugung bewahrte, er vollbringe einen ungeheuer wichtigen und nützlichen Akt.

Nach dem Schwur forderte der Präsident die Geschworenen auf, sich einen Obmann zu wählen. Sofort erhoben sich die Geschworenen von neuem, und begaben sich in ihr Beratungszimmer, wo sich fast alle gleich Cigaretten nahmen und zu rauchen anfingen. Einer schlug vor, die wichtige Persönlichkeit zum Obmann zu wählen, worauf alle sogleich eingingen. Dann warfen die Geschworenen ihre Cigaretten fort und kehrten in den Sitzungssaal zurück. Die wichtige Persönlichkeit erklärte dem Präsidenten, man hätte ihn erwählt, und alle setzten sich wieder auf ihre Sessel mit den hohen Lehnen.

Alles ging ohne Zwischenfall, aber nicht ohne Feierlichkeit vor sich; und diese Feierlichkeit, diese Umstände, diese Formalitäten bestärkten Richter und Geschworene noch in ihrer Ansicht, sie erfüllten eine ernste und würdige, soziale Pflicht. Auch Nechludoff teilte diese Ansicht.

Als die Geschworenen sich gesetzt hatten, hielt der Gerichtspräsident an sie eine Ansprache, um ihnen ihre Rechte, ihre Verpflichtungen und ihre Verantwortlichkeit auseinanderzusetzen. Beim Sprechen veränderte er fortwährend seine Stellung; bald wandte er sich nach rechts, bald nach links, bald lehnte er sich in seinen Sessel zurück oder neigte sich nach vornüber, bald strich er die Blätter auf dem Tische glatt, bald hob er das Falzbein hoch, bald spielte er mit einem der Bleistifte.

Die Rechte der Geschworenen bestanden nach seinen Worten darin, daß sie den Angeklagten durch Vermittlung des Präsidenten Fragen vorlegen und die Beweisstücke prüfen und berühren durften. Ihre Verpflichtung bestand darin, daß sie gerecht, nach bestem Wissen und Gewissen urteilen mußten. Endlich bestand ihre Verantwortlichkeit darin, daß sie sich, falls sie, ihre Beratungen nicht geheim hielten oder in der Ausübung ihrer Thätigkeit mit Fremden in Verbindung traten, der Strenge der Gesetze aussetzten.

Die Richter hörten das alles mit ernster Aufmerksamkeit an. Der Kaufmann, der einen starken Branntweingeruch um sich her verbreitete, nickte bei jedem Satze zustimmend mit dem Kopfe.

Als der Präsident seine Ansprache beendet, wandte er sich den Angeklagten zu:

»Simon Kartymkin, stehen Sie auf!«

Simon zuckte nervös zusammen und seine Lippen bewegten sich schneller.

»Ihr Name?«

»Simon Petrowitsch Kartymkin,« versetzte der Angeklagte, der sich seine Antworten augenscheinlich schon vorher zurechtgelegt, in einem Zuge mit schwerfälliger Stimme.

»Ihr Stand?«

»Ich bin Bauer!«

»Aus welchem Gouvernement? Aus welchem Bezirk?«

»Aus dem Gouvernement Tula, Bezirk Krapivo, Gemeinde Kupianskoj, Dorf Borki.«

»Wie alt?«

»34 Jahre; ich bin achtzehnhundert …«

»Welcher Religion?«

»Wir gehören der russischen orthodoxen Religion an.«

»Verheiratet?«

»Wir haben uns nie verheiratet!«

»Was betrieben Sie für ein Gewerbe?«

»Ich war im Korridor des Mauritania-Hotels angestellt.«

»Haben Sie schon vor Gericht gestanden?«

»Ich habe nie vor Gericht gestanden, denn, wie ich lebte …«

»Sie haben nie vor Gericht gestanden?«

»So wahr es einen Gott giebt, nie!«

»Haben Sie eine Abschrift der Anklage erhalten?«

»Ja, die habe ich erhalten!«

»Setzen Sie sich! Euphemia Iwanowna Botschkoff!« fuhr der Präsident, sich an eine der Frauen wendend, fort.

Doch Simon blieb noch immer stehen und verdeckte die Botschkoff.

»Kartymkin, setzen Sie sich!«

Kartymkin blieb noch immer stehen. Er setzte sich erst, als der Nuntius ihm, den Kopf neigend und die Augen weit aufreißend, mit tragischer Miene den Befehl erteilte, er solle Platz nehmen.

Nun setzte sich der Angeklagte mit derselben Hast, mit der er aufgestanden war, hüllte sich in seinen Mantel und begann wieder, die Lippen zu bewegen.

»Ihr Name?«

Mit einem Seufzer der Abspannung, wie jemand, der sich ärgert, daß er immer dasselbe wiederholen muß, wandte sich der Präsident der ältesten der beiden Frauen zu, ohne sie auch nur anzusehen, und ohne den Blick von einem Papier zu erheben, das er in der Hand hielt. Diese Prozedur war ihm so vertraut geworden, daß er, um schneller damit fertig zu werden, zweierlei zu gleicher Zeit thun konnte.

Die Botschkoff zählte 43 Jahre. Stand: Bürgerin; Beruf: Kammerfrau in dem nämlichen Hotel Mauritania. Sie hatte nie vor Gericht gestanden und die Anklageakte erhalten. Auf die Fragen des Präsidenten antwortete sie mit herausfordernder Keckheit, als wenn sie sagen wollte: »Jawohl, ich bin die Euphemia Botschkoff; ich habe die Anklageakte erhalten; ich rühme mich dessen und erlaube niemandem, darüber zu lachen!« Sie wartete nicht, bis man ihr sagte, sie solle sich setzen, sondern setzte sich gleich, als das Verhör vorüber war.

»Ihr Name?« sagte der Präsident, sich mit ganz besonderer Freundlichkeit an die andere Angeklagte wendend.

»Sie müssen aufstehen!« fügte er in gütigem Tone hinzu, als er bemerkte, daß die Maslow sitzen blieb. Sie stand auf und betrachtete entschlossen, mit geradem Kopfe und vorgestreckter Brust, ohne zu antworten, den Präsidenten mit ihren naiven, schwarzen Augen.

»Wie nennt man Sie?«

Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.

»Man nannte mich Ljuba!« erwiderte sie.

Nechludoff, der sich inzwischen sein Pincenez aufgesetzt, betrachtete die Angeklagte während ihres Verhörs. »Das ist unmöglich,« dachte er, während er die Augen auf das Gesicht der Angeklagten richtete. »Sie heißt Ljuba; das ist nicht derselbe Name! Doch diese wunderbare Aehnlichkeit!«

Der Präsident wollte zu einer andern Frage übergehen; doch der Richter mit der Brille sagte ihm ganz leise einige Worte, die ihn zu verblüffen schienen. Er wandte sich zu der Angeklagten und fragte:

»Wie? Ljuba? Sie sind doch unter einem andern Namen eingetragen?«

Die Angeklagte schwieg.

»Ich frage Sie, wie ist Ihr richtiger Name?«

»Ihr Taufname?« setzte der Richter mit der Brille hinzu.

Sie murmelte etwas, ohne den Blick von dem Präsidenten zu verwenden.

»Sprechen Sie lauter!«

»Früher hieß ich Katharina!«

»Das ist unmöglich,« sagte sich Nechludoff wieder, aber er zweifelte jetzt nicht mehr und war sicher, daß sie es war, die Zofe Katuscha, die er einst geliebt, aufrichtig geliebt, die er später in einem Augenblick der Thorheit verführt, dann verlassen, und an die zu denken er bis dahin stets vermieden hatte, weil ihm die Erinnerung zu peinlich war und ihn zu tief demütigte, denn sie zeigte ihm, wie feig, wie gemein er, der sich auf seine Rechtschaffenheit so viel eingebildet hatte, sich gegen dieses Weib benommen hatte!

Ja, sie war es! Er bemerkte jetzt, klar und deutlich, auf ihrem Gesicht jene geheimnisvolle Eigentümlichkeit, die in jedem Gesicht liegt, die es von allen andern unterscheidet und etwas einzig Dastehendes, Besonderes aus ihm macht.

Trotz der krankhaften Blässe und der Abmagerung fand er diese Eigentümlichkeit in allen Zügen des Gesichts, im Munde, in den etwas schielenden Augen, in der Stimme, vor allem aber in dem wirren Blick wieder, in dem freundlichen Ausdruck, nicht allein des Gesichts, sondern der ganzen Persönlichkeit.

»Sie hätten das gleich sagen sollen!« erklärte der Präsident, noch immer in demselben sanften Tone, so unwiderstehlich war der Zauber, den sie ausübte. – »Und wie ist Ihr Vorname?«

»Ich bin ein natürliches Kind,« versetzte die Maslow.

»Das thut nichts; wie hat man Sie nach Ihrem Paten genannt?«

»Michaelowna!«

»Aber welches Verbrechen kann sie denn nur begangen haben,« fragte sich Nechludoff atemlos.

»Und Ihr Familienname, Ihr Zuname?« fuhr der Präsident fort.

»Man nannte mich ›die Gerettete.‹«

»Wie?«

»Die Gerettete,« versetzte sie mit leisem Lächeln. »Man nannte mich auch nach dem Namen meiner Mutter Maslow.«

»Ihr Stand?«

»Bürgerin!«

»Orthodoxer Religion?«

»Ja, orthodox!«

»Und welchen Beruf? Welches Gewerbe betrieben Sie?«

»Das wissen Sie wohl selber!« erwiderte die Maslow, wandte einen Moment die Augen ab und fing dann wieder an, den Präsidenten zu betrachten. Eine heiße Röte stieg ihr ins Gesicht.

Es lag etwas so Außergewöhnliches in dem Ausdruck ihres Gesichts, etwas so Schreckliches und Herzzerreißendes in ihren Worten und dem schnellen Blick, den sie auf die Anwesenden warf, dass der Präsident den Kopf senkte, und einen Augenblick ein allgemeines Schweigen in dem Saale herrschte. Dieses Schweigen wurde von einem aus dem Hintergrunde des Saales kommenden Lachen unterbrochen; der Nuntius gebot Schweigen, während der Präsident wieder den Kopf erhob und das Verhör fortsetzte.

»Sie haben noch nie vor Gericht gestanden?«

»Nie,« versetzte die Maslow seufzend mit leiser Stimme.

»Sie haben die Anklageakte zugestellt erhalten?«

»Ja,« erwiderte sie.

»Setzen Sie sich!«

Die Angeklagte raffte ihr Kleid auf, wie die Frauen in Balltoilette ihre Schleppen hochnehmen, setzte sich und steckte ihre Hände in die Ärmel ihres Kittels, ohne den Präsident mit den Augen zu verlassen. Ihr Gesicht hatte wieder seine ruhige Blässe angenommen. Man nahm die Aufzählung der Zeugen vor, ließ, dieselben hinausgehen, beschäftigte sich dann mit dem Gerichtsarzt, den man zu den Zeugen in den Saal schickte, wo sie warten mußten, bis man sie wieder hereinrief.

Dann erhob sich der Aktuar und begann die Verlesung der Anklage. Er las mit lauter und deutlicher Stimme, doch so schnell, daß seine Worte nur ein dumpfes, einschläferndes Geräusch erzeugten.

Die Richter drehten sich auf ihren Sesseln hin und her und warteten in sichtlicher Ungeduld auf die Beendigung der Verlesung. Einer der Gensdarmen hatte große Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken.

Auf der Anklagebank bewegte Kartymkin noch fortwährend die Lippen; die Botschkoff saß mit vollständig ruhiger Miene da und schob zeitweise mit dem Finger ihre Haare unter das Kopftuch; die Maslow blieb unbeweglich, die Augen auf den Aktuar gerichtet, sitzen; zwei- oder dreimal stieß, sie einen Seufzer aus und veränderte die Lage ihrer Hände.

Nechludoff, der in der ersten Reihe der Geschworenen auf seinem hohen Sessel saß, betrachtete noch immer die Maslow, und in seiner Seele vollzog sich eine tiefe und schmerzliche Arbeit.

Die Anklageakte lautete folgendermaßen: Am 17 Oktober 188.., meldete der Wirt des Mauritania-Hotels in dieser Stadt den plötzlichen Tod eines in diesem Hotel logierenden sibirischen Kaufmanns zweiter Gilde, Namens Ferapont Smjelkoff. Der von dem Arzt der vierten Abteilung ausgestellte Totenschein besagte, daß der Tod Smjelkoffs infolge eines durch übermäßigen Genuß spirituöser Getränke hervorgerufenen Herzschlages eingetreten war; und die Leiche Smjelkows wurde drei Tage nach dem Tode regelrecht bestattet. Am vierten Tage nach dem Hinscheiden Smjelkoffs lenkte ein Geschäftsfreund und Landsmann des letzteren, der sibirische Kaufmann Timotschin, der aus St. Petersburg kam und sich nach den näheren Umständen des Todesfalles erkundigt hatte, den Verdacht darauf, daß Smjelkoff keines natürlichen Todes gestorben war. Derselbe wäre vielmehr von Verbrechern vergiftet worden, die sich dann eines Brillantringes und einer bedeutenden Geldsumme bemächtigt, die Smjelkoff in seinem Besitz hatte und die sich in dem nach seinem Tode aufgenommenen Inventar nicht vorfand.

Es wurde infolgedessen eine Untersuchung eingeleitet, die folgendes zu Tage förderten:

1. Daß der besagte Smjelkoff nach Wissen des Wirtes des Mauritania-Hotels und auch des Prokuristen des Kaufmanns Starikoff, mit dem Emjelkoff bei seiner Ankunft in der Stadt geschäftlich zu thun gehabt, eine Summe von 3800 Rubeln in seinem Besitz haben mußte, die er in einem Bankhause der Stadt erhoben, während man andererseits nach seinem Tode in seinem Koffer und in seiner Brieftasche nur 312 Rubel und 16 Kopeken vorfand. Es wurde festgestellt

2. daß Smjelkoff den Tag vor seinem Tode mit der unverehelichten Ljubka zusammen gewesen war, die zweimal sein Zimmer betreten hatte;

3. daß besagte Ljubka ihrer Wirtin einen Brillantring abgelassen hatte, der dem Kaufmann Smjelkoff gehört;

4. daß die Dienstfrau des Hotels, Euphemia Botschkoff, am Tage nach dem Tode des Kaufmanns Smjelkoff eine Summe von 1800 Rubel auf ihr Konto bei der Handelsbank hatte eintragen lassen;

5. daß der Hoteldiener, Simon Kartymkin, nach der Aussage der Ljubka ihr einige Pulver übergeben und ihr angeraten hatte, dieselben in den Branntwein zu schütten, die der Kaufmann Smjelkoff trinken sollte, was die Ljubka nach ihrem eigenen Geständnis gethan hat.

Auf Befragen des Untersuchungsrichters erklärte die Ljubka, der Kaufmann Smjelkoff habe sie aus dem Freudenhaus in das Hotelzimmer geschickt, das er in der »Mauritania« bewohnte, um dort Geld zu holen; sie habe den Koffer des Kaufmanns mit dem Schlüssel geöffnet, den er ihr gegeben, und daraus, wie er es ihr gefügt, 40 Rubel genommen. Sie hat erklärt, kein anderes Geld genommen zu haben, was Simon Kartymkin und Euphemia Botschkoff, in deren Gegenwart sie den Koffer geöffnet und wieder geschlossen, bezeugen konnten.

Was die Vergiftung Smjelkoffs betraf, so hat die Ljubka erzählt, daß sie tatsächlich, als sie zum zweitenmal in das Zimmer des Kaufmanns Smjelkoff zurückgekommen war, demselben in ein Glas Cognac, das er trinken sollte, ein Pulver geschüttet habe, das ihr Simon Kartymkin gegeben; sie habe aber geglaubt, dieses Pulver wäre ein einfaches Schlafmittel und sie habe es hineingeschüttet, damit der Kaufmann einschlafe und sie schnell ihrer Wege gehen lasse. Sie hatte hinzugefügt, sie habe kein Geld genommen, Smjelkoff hätte ihr den Ring selbst gegeben, nachdem er sie geschlagen, um sie am Fortgehen zu hindern.

Auf Befragen des Untersuchungsrichters haben die Angeklagten, Euphemia Botschkoff und Simon Kartymkin folgendes ausgesagt:

Euphemia Botschkoff hat erklärt, sie wisse absolut nichts von dem Verschwinden des Geldes, hätte das Zimmer des Kaufmanns nicht betreten, und nur die Ljubka hätte dasselbe betreten. Sie hat behauptet, wenn eine Summe Geldes dem Kaufmann entwendet worden wäre, so hätte sie die Ljubka fortgenommen, denn diese wäre mit dem Schlüssel des Koffers ins Zimmer gekommen. (Bei dieser Stelle der Anklage zuckte die Maslow zusammen und wandte sich, indem sie den Mund öffnete, als wolle sie einen Schrei ausstoßen, nach der Botschkoff um.) Nach dem Ursprung der bei der Bank deponierten 1800 Rubel befragt, hat sie erklärt, dieses Geld habe sie und Simon, mit dem sie sich verheiraten wollte, im Laufe von zwölf Jahren erspart.

Simon Kartymkin hat zuerst gestanden, daß er im Einverständnis mit der Botschkoff und auf Anstiften der Maslow, der der Kaufmann den Schlüssel zu seinem Koffer gegeben, eine große Summe Geldes gestohlen, die zwischen ihm, der Maslow und der Botschkoff geteilt worden war; er hat auch gestanden, daß er der Maslow ein weißes Pulver gegeben, um den Kaufmann einzuschläfern. Doch in dem zweiten Verhör hat er jede Teilnahme an dem Diebstahl des Geldes wie an der Übergabe des Pulvers abgeleugnet und die ganze Schuld der Maslow zugeschrieben. Nach dem von der Botschkoff bei der Bank eingezahlten Gelde befragt, hat auch er geantwortet, dieses Geld hätten sie gemeinsam in zwölfjährigem Dienste verdient, es wäre das Produkt der ihnen von den Gästen gespendeten Trinkgelder.

Die Autopsie der Leiche des Kaufmanns Smjelkoff, die dem Gesetz entsprechend vorgenommen worden, hat das Vorhandensein einer gewissen Quantität Gift in den Eingeweiden ergeben.

Es folgten dann in dem Anklageakte der Bericht über die Konfrontationen, die Zeugenaussagen u. s. w., und die Anklage endete wie folgt:

Infolgedessen werden Simon Kartymkin, Bauer, 34 Jahre alt; Euphemia Botschkoff, 43 Jahre alt, und Katharina Michaelowna Maslow, 27 Jahre alt, angeklagt, am 16. Oktober 188.., dem Kaufmann Smjelkoff eine Summe von 2500 Rubeln gemeinsam gestohlen und besagtem Smjelkoff, um die Spuren ihres Diebstahls zu tilgen, Gift eingegeben zu haben, woraus der Tod desselben erfolgte.

Diese Vergehen sind im Artikel 1455 des Strafgesetzbuches vorgesehen; infolgedessen werden Simon Kartymkin, Euphemia Botschkoff und Katharina Maslow vor das Bezirksgericht unter Hinzuziehung von Geschworenen gestellt.

Als der Aktuar die Vorlesung beendet, ordnete er die Blätter des eben verlesenen Aktes, setzte sich und strich mit beiden Händen über seine langen schwarzen Haare. Alle Anwesenden stießen einen Seufzer der Erleichterung aus; und jeder hatte die angenehme Empfindung, die Verhandlung wäre nunmehr eröffnet, alles würde gleich aufgeklärt und der Gerechtigkeit Genüge gethan werden. Nur Nechludoff hatte nicht dieses Gefühl; er dachte mit Entsetzen an das Verbrechen, das die Maslow, die er vor zehn Jahren als unschuldig gekannt, hatte begehen können.

Als die Verlesung der Anklage beendet war, wandte sich der Präsident, nachdem er die Ansicht seiner Kollegen eingeholt, zu Kartymkin mit einem Gesicht, als wenn er sagen wollte: »Jetzt werden wir alles ganz genau bis in die kleinsten Einzelheiten erfahren.«

»Simon Kartymkin!« sagte er, sich nach links neigend, Simon Kartymkin stand auf, schob die Aermel seines Mantels in die Höhe und trat vor, ohne das Bewegen der Lippen einzustellen.

»Sie sind angeklagt, dem Kaufmann Smjelkoff am 16, Oktober 188.., im Einverständnis mit Euphemia Botschkoff und Katharina Maslow eine ihm gehörige Summe Geldes gestohlen, sich dann Arsenik verschafft und Katharina Maslow veranlaßt zu haben, dasselbe in das Getränk des Kaufmanns Smjlelkoff zu gießen, was sie gethan hat und was den Tod desselben zur Folge hatte.«

»Sie bekennen sich schuldig?« schloß der Präsident, sich nach rechts neigend.

»Das ist unmöglich, denn unser Beruf …«

»Das werden Sie später erklären. Sie bekennen sich schuldig?«

»Das ist unmöglich; ich habe nur …«

»Das werden Sie uns später erklären, Sie bekennen sich schuldig?« wiederholte der Präsident mit ruhiger, doch strenger Stimme.

»Das ist unmöglich, weil, …«

Wieder wandte sich der Nuntius nach Simon Kartymkin um und unterbrach ihn mit einem tragischen »Stille!«

Der Präsident nahm mit einem Gesicht, welches besagte, dieser Teil der Sache wäre beendet, seinen Ellenbogen vom Tische und wandte sich zu Euphemia Botschkoff:

»Euphemia Botschkoff, Sie sind beschuldigt, dem Kaufmann Smjelkoff am 16. Oktober 188.., eine Summe Geldes, sowie einen Ring aus seinem Koffer gestohlen zu haben; Sie haben dann, nachdem Sie das Produkt des Diebstahls unter sich geteilt, dem Kaufmann Smjelkoff Arsenik eingegeben, woran er gestorben ist. Sie bekennen sich schuldig?«

»Ich bin vollständig unschuldig,« versetzte die Angeklagte mit harter und kecker Stimme. »Ich habe sogar nicht einmal das Zimmer betreten, und sie hat sicherlich alles allein gethan.«

»Das werden Sie uns später erzählen,« sagte der Präsident von neuem mit seiner ruhigen und festen Stimme. »Sie bekennen sich also nicht schuldig?«

»Ich habe kein Geld genommen, habe kein Gift eingegeben und das Zimmer gar nicht betreten! Hätte ich es betreten, so hätte ich die da hinaus geworfen.«

»Sie bekennen sich nicht schuldig?«

»Nein!«

»Gut!«

»Katharina Maslow,« sagte der Präsident jetzt, sich zu der anderen Angeklagten wendend, »Sie sind angeklagt, ein Zimmer des Hotels Mauritania mit dem Kofferschlüssel des Kaufmanns Smjelkoff betreten, aus diesem Koffer Geld und einen Ring gestohlen zu haben…«

Der Präsident unterbrach sich in seiner Phrase, um auf die Worte zu hören, die ihm der Richter zur Linken ins Ohr sagte; derselbe machte ihn darauf aufmerksam, daß eins der Beweisstücke, die auf der Liste notiert waren, ein Fläschchen, auf dem Tische fehlte… »Wir werden das gleich sehen,« murmelte der Präsident zur Antwort und setzte dann seine Phrase wie eine auswendig gelernte Lektion fort:

…»Aus diesem Koffer einen Ring und Geld gestohlen und das Produkt des Diebstahls mit ihren beiden Komplizen geteilt zu haben; Sie sind mit dem Kaufmann Smjelkoff in das Hotel zurückgekehrt, und haben ihm vergifteten Branntwein zu trinken gegeben. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Ich bin unschuldig,« versetzte die Angeklagte sofort, »Wie ich von Anfang an gesprochen, so spreche ich noch jetzt: ich habe nichts genommen, nichts, nichts, gar nichts! Den Ring hat er mir selbst geschenkt!«

»Sie bekennen sich nicht schuldig, die 2600 Rubel genommen zu haben?« fragte der Präsident.

»Ich habe nichts weiter genommen, als die 40 Rubel!«

»Und Sie bekennen sich auch nicht schuldig, das Pulver in das Glas des Kaufmanns Smjelkoff geschüttet zu haben?«

»Doch, das gestehe ich ein. Aber ich dachte, dieses Pulver wäre, wie man mir gesagt hatte, zum Einschläfern bestimmt, und könnte keinen Schaden anrichten. Wäre ich denn im stande, jemand zu vergiften?« fügte sie stirnrunzelnd hinzu.

»Sie bekennen sich also nicht schuldig, das Geld und den Ring des Kaufmanns Smjelkoff entwendet zu haben; doch andrerseits gestehen Sie, daß Sie das Pulver hineingeschüttet haben.«

»Das gestehe ich, doch ich glaubte, es wäre ein Pulver zum Einschläfern. Ich gab es ihm nur, damit er einschlafen sollte, nur darum.«

»Sehr gut!« unterbrach der Präsident, von den erzielten Resultaten augenscheinlich befriedigt. – »Erzählen Sie uns jetzt, wie die Sache vor sich gegangen ist!« fuhr er, sich in seinen Sessel zurücklehnend und die beiden Hände auf den Tisch legend, fort. »Erzählen Sie uns alles, was Sie wissen! Ein aufrichtiges Geständnis kann Ihre Lage mildern.«

Die Maslow sah den Präsidenten noch immer an; doch sie schwieg und errötete, und man sah es ihr an, daß sie sich bemühte, ihre Schüchternheit zu besiegen.

»Na, erzählen Sie uns, wie die Sache vor sich gegangen ist!«

»Wie sie vor sich gegangen ist?« fragte die Maslow hastig. »Er kam zu mir, bot mir zu trinken an und ging dann wieder fort.«

In diesem Augenblick erhob sich der Staatsanwalt ein wenig und stützte sich auf seinen Ellenbogen. »Sie wünschen eine Frage zu stellen?« fragte der Präsident, und gab ihm auf seine bejahende Antwort zu verstehen, daß er sprechen könnte. »Die Frage, die ich stellen möchte, ist folgende: kannte die Angeklagte Simon Kartymkin schon vorher?« fragte der Staatsanwalt feierlich, ohne die Maslow anzublicken. Als er dann die Frage gestellt, biß er die Lippen zusammen und zog die Stirn kraus. Die Maslow warf einen erschrockenen Blick auf den Staatsanwalt.

»Simon? Ja, den kannte ich,« sagte sie.

»Ich möchte wissen, worin die Beziehungen der Angeklagten zu Kartymkin bestanden? Sahen Sie sich oft?«

»Worin unsere Beziehungen bestanden? Er empfahl mich den Hotelgästen, aber das waren keine Beziehungen,« versetzte die Maslow, und ließ einen unruhigen Blick von dem Staatsanwalt zu dem Präsidenten und umgekehrt schweifen.

»Sollte sie mich erkannt haben?« dachte Nechludoff, auf dem die Augen der Angeklagten eine Sekunde haften geblieben waren, und das Blut strömte ihm ins Gesicht, doch die Maslow hatte ihn unter den anderen Geschworenen nicht bemerkt, und ihre erschrockenen Blicke schnell wieder dem Staatsanwalt zugewendet.

»Die Angeklagte leugnet also, in näheren Beziehungen zu Kartymkin gestanden zu haben? Es ist gut, ich habe weiter nichts zu fragen.«

Der Staatsanwalt nahm seinen Ellenbogen vom Tische, und begann etwas zu schreiben. In Wahrheit schrieb er gar nichts, sondern begnügte sich damit, mit seiner Feder über die Anklage zu fahren. Doch er hatte gesehen, daß die Staatsanwälte und Advokaten sich nach jeder von ihnen gestellten Frage stets in ihren Reden Bemerkungen notierten, die bestimmt waren, ihren Gegner zu erdrücken.

Der Präsident, der sich während dieser Zeit ganz leise mit dem Richter mit der Brille unterhalten, wandte sich sofort wieder zu der Angeklagten und fragte, sein Verhör fortsetzend:

»Und was ist dann vor sich gegangen?«

»Es war in der Nacht,« erklärte die Maslow, die wieder bei dem Gedanken, sie hätte nur mit dem Präsidenten allein zu thun, Mut faßte. »Ich war in mein Zimmer gegangen und wollte mich schlafen legen, als das Dienstmädchen Bertha zu mir sagte: ›Geh hinunter, dein Kaufmann ist schon wieder da!‹ Er war wirklich da, und wollte Wein trinken, hatte aber kein Geld und schickte mich ins Hotel, um welches zu holen. Er hatte mir gesagt, wo sein Geld läge und wieviel ich nehmen sollte. Da bin ich denn gegangen.«

Der Präsident unterhielt sich weiter leise mit seinem Nachbar, und hatte nicht gehört, was die Maslow eben gesagt. Um aber zu beweisen, daß er doch alles gehört, glaubte er, ihre letzten Worte wiederholen zu müssen:

»Sie sind gegangen, und dann?«

»Ich bin ins Hotel gegangen und habe alles gethan, was der Kaufmann mir gesagt hatte; ich habe vier rote Zehnrubelscheine genommen,« sagte die Maslow und unterbrach sich von neuem, als überfiele sie eine plötzliche Furcht, dann fuhr sie fort: »Ich bin nicht allein in das Zimmer hineingegangen, sondern habe Simon Michaelowitsch gerufen, und die da auch,« sagte sie, auf die Botschkoff deutend, hinzu.

»Sie lügt! ich bin nicht hineingegangen,« rief die Botschkoff, doch der Nuntius unterbrach sie.

»In ihrer Gegenwart habe ich die vier roten Scheine genommen!«

»Ich möchte wissen, ob die Angeklagte, als sie die 40 Rubel nahm, gesehen hat, wieviel Geld sich in dem Koffer befand?« fragte der Staatsanwalt von neuem.

»Ich habe nichts gesehen, höchstens, daß Hundertrubelscheine drin lagen.«

»Und dann haben Sie das Geld zurückgebracht?« fuhr der Präsident, auf seine Uhr sehend, fort.

»Ja!«

»Und dann?«

»Dann hat mich der Kaufmann wieder auf sein Zimmer kommen lassen!« sagte die Maslow.

»Hm! und wie haben Sie ihm das Pulver eingegeben?« fragte der Präsident.

»Ich habe es in ein Glas geschüttet, und er hat es getrunken!«

»Und warum haben Sie es ihm gegeben?«

»Um von ihm fortzukommen!« sagte sie seufzend, »Ich ging auf den Korridor und sagte zu Simon Michaelowitsch: ›Wenn er mich nur fortließe‹. Und Simon Michaelowitsch meinte: ›Uns langweilt er auch. Geben wir ihm ein Schlafpulver‹. Ich glaubte, es wäre ein ganz harmloses Pulver und nahm es, um es in sein Glas zu schütten. Als ich wieder hineinkam, befand er sich im Alkoven und befahl mir, ihm Cognac zu bringen. Da nahm ich die Flasche fine Champagne vom Tisch, füllte zwei Gläser für mich und ihn, schüttete das Pulver in sein Glas und brachte es ihm. Ich glaubte, es wäre ein Schlafmittel, und er würde einschlafen, doch um keinen Preis hätte ich es ihm gegeben, hätte ich gewußt …«

»Nun, wie sind Sie denn in den Besitz des Ringes gelangt?« fragte der Präsident. »Wann hat er ihn Ihnen gegeben?«

»Als ich fortgehen wollte, hat er mich auf den Kopf geschlagen, so daß mir der Kamm zerbrochen ist. Ich habe zu weinen angefangen, da hat er seinen Ring vom Finger gezogen und ihn mir geschenkt!«

In diesem Augenblick erhob sich der Staatsanwalt von neuem und bat um die Erlaubnis, noch einige Fragen stellen zu dürfen.

»Ich möchte wissen,« sagte er zunächst, »wie lange die Angeklagte im Zimmer des Kaufmanns Smjelkoff geblieben ist?«

Von neuem bemächtigte sich ein plötzlicher Schreck der Maslow. Sie ließ ihren unruhigen Blick von dem Staatsanwalt zu dem Präsidenten wandern, und versetzte schnell:

»Ich erinnere mich nicht mehr – eine Zeit lang.«

»Ah! und die Angeklagte hat wohl auch vergessen, ob sie, als sie von dem Kaufmann Smjelkoff kam, noch ein anderes Zimmer des Hotels betreten hat?«

Die Maslow dachte einen Augenblick nach und versetzte dann:

»In das Nebenzimmer, das leer war, bin ich hineingegangen!«

»Und weshalb sind Sie dort hineingegangen?« fragte der Staatsanwalt, der sich plötzlich umdrehte und sich direkt an sie wendete.

»Um auf den Fiaker zu warten.«

»Ist Kartymkin auch mit der Angeklagten in das Zimmer getreten; ja oder nein?«

»Ja!«

»Und warum?«

»Es war noch Cognac in der Flasche, und den haben wir zusammen getrunken.«

»Hat die Angeklagte über irgend etwas mit Simon gesprochen?«

»Ich habe über gar nichts gesprochen! Ich habe alles gesagt, was vorgefallen ist,« erklärte sie.

»Ich habe nichts mehr zu fragen,« sagte der Staatsanwalt zum Präsidenten; darauf fing er hastig an, seine Rede zu skizzieren und sich zu notieren, daß die Angeklagte selbst gestanden hatte, in ein leeres Zimmer mit ihrem Komplizen hineingegangen zu sein.

Es trat eine Pause ein.

»Sie haben nichts weiter zu sagen?«

»Ich habe alles gesagt, was geschehen ist,« wiederholte die Maslow, seufzte und setzte sich nieder.

Nun notierte sich der Präsident etwas auf seinen Papieren, hörte auf eine Mitteilung, die ihm einer der Beisitzer ins Ohr flüsterte, erklärte die Sitzung auf 20 Minuten für aufgehoben, erhob sich hastig und verließ den Saal.

Der Beisitzer, der mit ihm gesprochen, war der Richter mit dem langen Bart und den gutmütigen, großen Augen; dieser Beamte verspürte eine leichte Magenverstimmung und hatte den Wunsch ausgesprochen, eine Stärkung zu sich zu nehmen. Deshalb hatte der Präsident die Sitzung aufgehoben.

Nach dem Präsidenten und den Richtern erhoben sich auch die Geschworenen sofort und zogen sich mit der angenehmen Empfindung, bereits einen guten Teil des geheiligten Werkes, mit dem die Gesellschaft sie betraut, vollbracht zu haben, in ihr Beratungszimmer zurück.

Nechludoff setzte sich, als er in das Geschworenenzimmer getreten war, ans Fenster und begann zu träumen.

  1. Sekte, welche die Selbstverstümmelung betreibt.

Fünftes Kapitel

Ja, es war Katuscha, und Nechludoff erinnerte sich, unter welchen Verhältnissen er sie kennen gelernt hatte!

Als er sie zum erstenmal gesehen, hatte er eben sein drittes Universitätsjahr beendet und sich bei seinen Tanten niedergelassen, um seine Doktorarbeit in Ruhe vorzubereiten. Er verbrachte die Sommermonate gewöhnlich mit Mutter und Schwester in dem Schloß, das die erstere in der Gegend von Moskau besaß. Doch in diesem Jahre hatte seine Schwester sich verheiratet und seine Mutter war ins Ausland, ins Seebad gegangen. Nechludoff hatte sie nicht begleiten können, da er an seiner Doktorarbeit zu schreiben hatte, und darum hatte er sich entschlossen, den Sommer bei seinen Tanten zuzubringen. Er wußte, hier würde er die für seine Arbeit notwendige Ruhe finden, ohne daß ihn etwas ablenkte; er wußte auch, daß seine Tanten ihn sehr lieb hatten, und er liebte auch sie und ihr einfaches altmodisches Leben.

Er befand sich damals in der begeisterten Gemütsverfassung eines Menschen, der zum erstenmal die Bedeutung und Schönheit des Lebens nach seinem vollen Wert erkennt; er hatte kurz vorher die soziologischen Schriften von Spencer und Henry George gelesen, und der Eindruck, den sie auf ihn gemacht, war um so stärker, als die Fragen, die darin behandelt wurden, ihn direkt angingen, denn seine Mutter war Eigentümerin einer großen Besitzung. Sein Vater hatte thatsächlich kein Vermögen gehabt, doch seine Mutter hatte ihm als Mitgift ungefähr 10 000 Deßjatinen Land zugebracht, von denen der größte Teil ihm eines Tages zufallen sollte. Und nun entdeckte er zum erstenmal, wie grausam und ungerecht das System des Privatgrundbesitzes war!

Da er von Natur aus zu denen gehörte, denen das im Namen eines moralischen Bedürfnisses gebrachte Opfer einen wahren Genuß bereitet, so hatte er sich sofort entschlossen, für seinen Teil auf sein Eigentumsrecht zu verzichten, und den Bauern sein eigenes Besitztum, das heißt, das von seinem Vater ererbte kleine Gut abzutreten. In diesem Sinne hatte er übrigens auch seine Doktorarbeit abgefaßt und das Grundeigentum darin behandelt. Das Leben das er auf dem Lande bei seinen Tanten führte, war äußerst regelmäßig. Er stand sehr früh, manchmal um 5 Uhr morgens auf, badete sich in dem kleinen Fluß, der am Fuße der Hügel dahinfloß, und kehrte dann durch die noch taufeuchten Wiesen nach dem alten Hause zurück. Nach dem Frühstück arbeitete er oder ging wieder aus und durchstreifte bis 11 Uhr die Felder. Vor dem Essen schlummerte er ein bißchen im Garten; bei der Tafel belustigte und entzückte er seine Tanten durch seine unermüdliche Fröhlichkeit; abends las er wieder oder blieb im Salon bei seinen Tanten, die ihm das Patiencelegen beibrachten. Oft konnte er in der Nacht, namentlich in den Mondnächten, nicht einschlafen, denn die in ihm brausende, jugendliche Lebensfreude hielt ihn wach; dann ging er bis zum Tagesanbruch in den Garten und überließ sich seinen Träumen.

So war sein Leben ruhig und glücklich während des ersten Monats bei den Tanten verflossen, und während dieses ganzen Monats hatte er das junge Mädchen nicht einmal beachtet, das halb als Mündel seiner Tanten, halb als Kammerzofe neben ihm lebte. Unter der Obhut seiner Mutter aufgewachsen, besaß er noch zu 19 Jahren die naive Unschuld eines Kindes. Er dachte an die Frauen nur vom Standpunkte der Heirat, und alle die, die sich mit ihm nicht verheiraten konnten, waren für ihn keine Frauen, sondern nur »Leute«. In demselben Sommer, am Tage vor Himmelfahrt, besuchte eine Dame aus der Nachbarschaft die beiden alten Fräuleins in Begleitung ihrer Kinder und eines Malers ländlicher Herkunft, eines Freundes ihres Sohnes. Nach dem Thee veranstalteten die jungen Leute auf einer frisch abgemähten Wiese vor dem Hause einen Wettlauf. Katuscha wurde aufgefordert, am Spiele teilzunehmen, und kurz darauf mußte Nechludoff mit ihr zusammen laufen. Sie war reizend, und wie alle andern sah auch er sie mit Wohlgefallen; doch der Gedanke, es könne sich zwischen ihm und ihr eine intimere Beziehung herausbilden, war ihm nicht in den Sinn gekommen.

Nach der Spielregel mußten sie sich beim Laufen anfassen, und der junge Maler sollte versuchen, sie zu haschen. »Es wird mir schwer werden, die beiden einzuholen«, dachte er, und dabei lief er doch mit seinen kurzen und etwas krummen, aber kräftigen und muskulösen Muschikbeinen sehr gut.

»Eins, zwei, drei!« – er gab das Zeichen, indem er in die Hände klatschte. Katuscha näherte sich lächelnd Nechludoff, ergriff kräftig mit ihrer kleinen Hand die seinige und lief schnell nach links, wobei man das Rauschen ihres gestärkten Rockes vernahm.

Auch Nechludoff war ein guter Läufer, und da er sich ebenfalls von dem Maler nicht fangen lassen wollte, so war er Katuscha schnell vorangelaufen, und befand sich jetzt am Ende der Wiese. Hier drehte er sich um und sah, daß der Maler Katuscha verfolgte; sie aber entwischte ihm und entfernte sich immer mehr nach links. Dort befand sich ein Syringengebüsch, hinter das niemand laufen sollte, doch Katuscha lief dorthin, um nicht erwischt zu werden, und Nechludoff, ihr Partner, mußte ihr nacheilen. Er hatte vergessen, daß sich neben dem Syringengebüsch ein mit Nesseln bewachsener Graben befand. Er stolperte, verletzte sich die Hände, machte sich an dem Tau naß, der bereits auf den Blättern lag, und fiel in den Graben, sprang aber gleich wieder lachend auf und lief mit einem Satz hinter die Syringen.

Katuscha, aus deren großen, schwarzen Augen das Lächeln noch nicht verschwunden, war, stürzte ihm entgegen, und sie reichten sich die Hände.

»Was giebt’s denn, Sie sind gestolpert?« fragte sie und sah ihn mit ihren großen Augen lächelnd an, während sie sich mit einer Hand die Haare glatt strich.

»Ich hatte diesen Graben ganz vergessen,« versetzte Nechludoff, – ebenfalls lächelnd und ohne ihre Hand loszulassen. Als sie sich ihm dann näherte, drückte er ihr ganz unbewußt stark die Hand, und küßte sie auf den Mund.

Schnell machte das junge Mädchen ihre Hand los und trat ein paar Schritte zurück; dann pflückte sie zwei Syringenzweige, hielt sie zur Kühlung an ihre brennenden Wangen und trat wieder zu den andern Spielern.

Von diesem Augenblick an änderte sich das Verhältnis zwischen Nechludoff und Katuscha. Sobald sie in das Zimmer trat, in dem er sich befand, sobald er aus der Ferne ihr rosa Kleid und ihre weiße Schürze bemerkte, ging für ihn die Sonne auf; alles erschien ihm interessant, heiter, bedeutend, und er hatte Freude am Leben. Auch sie empfand dasselbe. Und nicht nur die Anwesenheit oder das Kommen Katuschas wirkte so auf Nechludoff; schon der Gedanke an sie machte ihn glücklich, während sie bei dem Gedanken an ihn vor Freude strahlte. Hatte Nechludoff zufällig von seiner Mutter einen Brief erhalten, der ihn bekümmerte, wollte es mit seiner Arbeit nicht recht gehen, litt er unter einem Anfall von Melancholie, wie ihn alle jungen Leute haben, dann dachte er nur an Kutuscha, und seine Sorgen verschwanden.

Katuscha hatte viel im Hause zu thun, doch sie arbeitete schnell und las viel in ihren Mußestunden. Nechludoff lieh ihr die Romane von Dostojewsky und Turgenjeff, und ganz besonders entzückten sie die »Frühlingswogen« des letzteren.

Mehrmals wechselten sie täglich einige Worte, wenn sie sich im Korridor, auf der Freitreppe und im Hofe trafen, manchmal sahen sie sich auch im Beisein der Wirtschafterin Matrena Pawlowna in der Küche, wo Nechludoff seinen Thee einnahm und vesperte. Waren sie dagegen allein, so wollte die Unterhaltung nicht von statten gehen. Ihre Augen fingen gleich an, von ganz anderen und weit interessanteren Dingen als ihre Lippen zu sprechen; sie schwiegen, es überfiel sie eine gewisse Verlegenheit, und sie trennten sich bald.

Dieses neue Verhältnis zog sich die ganze Zeit über hin, da Nechludoff bei seinen Tanten blieb. Die Tanten bemerkten es, wurden unruhig und glaubten, ihre Schwägerin, die Mutter des jungen Mannes, in einem ihrer Briefe darauf aufmerksam machen zu müssen. Maria Iwanowna fürchtete, Dimitri unterhielte ein galantes Verhältnis mit Katuscha, doch diese Furcht war unbegründet, denn Nechludoff dachte an ein derartiges Verhältnis gar nicht. Er liebte Katuscha wohl, aber vollständig unschuldig. Und diese Liebe hätte genügt, ihn sowohl wie sie vor einem Fehltritt zu schützen.

Die zweite Tante, Sophie Iwanowna fürchtete, Dimitri könne mit seinem entschlossenen Charakter eines Tages auf den Gedanken kommen, das junge Mädchen trotz ihrer Herkunft und ihrer Stellung zu heiraten. Diese Befürchtung war thatsächlich weit mehr begründet, als die der anderen Tante; denn als Maria Iwanowna ihren Neffen zu sich beschied und ihm mit größter Vorsicht zu verstehen gab, sein Verkehr mit Katuscha mißfiele ihr, und dann hinzufügte, es wäre schlecht, ein junges Mädchen, das man nicht heiraten könne, in sich verliebt zu machen, da versetzte er in entschlossenem Tone:

»Warum sollte ich mich denn nicht mit Katuscha verheiraten können?«

Tatsächlich hatte er an die Möglichkeit dieser Heirat nie gedacht. Er war von dem aristokratischen Gefühl, das Männern seiner Stellung die Ehe mit jungen Mädchen wie Katuscha verbietet, tief durchdrungen, doch infolge seiner Unterhaltung mit der Tante meinte er, daß man sich recht wohl mit Katuscha verheiraten könne. Der Gedanke gefiel ihm sogar, und er sagte: »Schließlich ist Katuscha eine Frau wie jede andere; warum soll ich sie nicht heiraten, wenn ich sie liebe?«

Indessen hielt er sich nicht bei dem Gedanken auf, denn wenn er auch fühlte, daß er Katuscha liebe, so hatte er doch die Ueberzeugung, er würde später im Leben eine andere Frau finden, die ihm bestimmt war, die er noch inniger und die auch ihn noch inniger lieben würde. Als er aber am Tage seiner Abfahrt Katuscha auf der Freitreppe neben seinen Tanten stehen sah, als er die großen, schwarzen, thränenüberströmten Augen des jungen Mädchens zärtlich auf sich gerichtet sah, da hatte er die klare und deutliche Empfindung, daß an diesem Tage etwas sehr Schönes, Kostbares, das nie wiederkehren würde, für ihn zu Ende ging, und es überfiel ihn eine tiefe Traurigkeit.

»Adieu, Katuscha,« sagte er ganz leise zu ihr hinter dem Rücken seiner Tanten, bevor er in den Wagen stieg.

»Adieu, Dimitri Iwanowitsch,« sagte sie mit ihrer singenden Stimme, bemühte sich, die Thränen zurückzuhalten, die ihr aus den Augen stürzten und entfloh in den Vorflur, um sich in Ruhe ausweinen zu können.

Drei Jahre vergingen, ohne daß Nechludoff Katuscha wiedersah, und als er sie nach diesen drei Jahren auf einem Urlaub wiedersah, den er bei seinen Tanten verlebte – er war nämlich zum Offizier in der Garde ernannt worden – da war er ein ganz anderer Mensch, als der, der einst mit dem jungen Mädchen dieses naive Liebesverhältnis unterhalten.

Früher war er ein selbstloser, uneigennütziger Jüngling, der für das nach seiner Ansicht Gute jedes Opfer zu bringen bereit war; jetzt war er ein Egoist und ein Wüstling, der sich nur noch um sein eigenes Vergnügen kümmerte. Früher erschien ihm die Welt als ein Rätsel, das zu lösen er mit jugendlichem Feuer bemüht war; jetzt erschien ihm alles in der Welt klar und einfach, und alles schien sich den Bedingungen seines Lebens unterordnen zu müssen. Früher hielt er es für bedeutend und notwendig, mit der Natur und den Menschen, die vor ihm gedacht, gelebt und gefühlt, den Philosophen und Dichtern der Vergangenheit, übereinzustimmen; jetzt hielt er es für wichtig und notwendig, mit seinen Kameraden im Einverständnis zu leben und sich den gesellschaftlichen Gewohnheiten seiner Kreise anzupassen.

Früher sah er in dem Weibe ein geheimnisvolles, reizendes Geschöpf; jetzt hatte das Weib, jedes Weib – bis auf seine Verwandten und die Frauen seiner Freunde – in seinen Augen eine sehr klare und deutliche Bedeutung, denn sie war ihm nur ein Instrument eines schon wohlbekannten Genusses. Früher brauchte er fast gar kein Geld und gab kaum den dritten Teil des ihm von seiner Mutter ausgesetzten Zuschusses aus; er konnte auf die väterliche Erbschaft verzichten, und sie den Bauern schenken; jetzt genügten ihm die 1500 Rubel nicht einmal, die ihm seine Mutter gab, und es war schon mehr als einmal zwischen ihm und ihr zu unangenehmen Auseinandersetzungen in Geldfragen gekommen.

Diese große Umwandlung, die sich in ihm vollzogen, kam ganz einfach daher, daß er nicht mehr an sich selbst, sondern nur noch an die andern glaubte. Er hatte aber den Glauben an sich selbst aufgegeben, um nur noch den andern zu vertrauen, weil ihm das Leben mit dem Glauben an sich selbst zu schwer erschien; denn um im Vertrauen auf sich selbst zu leben, mußte er nicht an den Nutzen seiner eigenen selbstsüchtigen, nur für das Vergnügen sorgenden Person denken, sondern mußte fast immer im Gegenteil gegen die Interessen dieser Person handeln. Lebte er dagegen im Vertrauen auf die andern, so brauchte er gar keine eigenen Bestimmungen zu treffen, denn es war schon alles im voraus zu seinem Vorteile bestimmt. Außerdem setzte er sich, wenn er an sich glaubte, fortwährend der Mißbilligung der Menschen aus; vertraute er dagegen den andern, so durfte er gewiß sein, das Lob seiner Umgebung zu ernten.

Als sich Nechludoff mit der Wahrheit, der Bestimmung des Menschen, der Armut und dem Reichtum beschäftigte, nannte seine ganze Umgebung diese Beschäftigung unvernünftig und lächerlich; seine Mutter, seine Tanten nannten ihn mit milder Ironie »unsern lieben Philosophen«; las er dagegen Romane, erzählte er pikante Anekdoten, sprach er von dem neuesten Lustspiel im französischen Theater, dann fand ihn jeder reizend. Wenn er, um seine Bedürfnisse einzuschränken, ein Jacket vom vorigen Jahre trug oder keinen Wein trank, so warf ihm jeder vor, er isoliere sich und wolle aus Eitelkeit originell erscheinen; gab er aber für seine Vergnügungen mehr Geld aus, als er hatte, jagte er und veranstaltete Zechgelage, so billigte jeder sein Verhalten; und hatte er es sich in den Kopf gesetzt, sein Zimmer ganz besonders luxuriös auszustatten, dann beeilte sich jeder, ihm wertvolle Gegenstände zu schenken. Als Nechludoff das kleine, von seinem Vater ererbte Gut den Bauern geschenkt, weil er es für ungerecht hielt, Land zu besitzen, hatte sein Entschluß die ganze Familie erschreckt und ihm von seiten seiner Umgebung endlosen Spott und Vorwürfe eingebracht. Man hatte ihm fortwährend erzählt, seine Schenkung habe die Bauern arm, nicht aber reich gemacht, sie hätten im Dorfe drei Schenken errichtet und die Arbeit völlig im Stich gelassen. Als Nechludoff dagegen in die kaiserliche Garde eintrat, und im Verkehr mit der vornehmsten Gesellschaft so viel Geld auszugeben anfing, daß seine Mutter auf ihr Kapital hatte Vorschuß nehmen müssen, da hatte sich die alte Fürstin wohl ein bißchen geärgert, sich aber im Grunde ihres Herzens gefreut, weil sie es natürlich und richtig fand, daß sich ein junger Mensch austobe.

In der ersten Zeit hatte Nechludoff gegen diese Lebensweise gekämpft, doch der Kampf war ihm schwer geworden, weil alles, was er für gut hielt, als er an sich selbst glaubte, von den andern für schlecht und unvernünftig gehalten wurde, während umgekehrt alles, was ihm schlecht erschien, in den Augen seiner Umgebung als vortrefflich galt. So hatte Nechludoff schließlich nachgegeben; er hatte nicht mehr an sich selbst, sondern nur noch an die andern geglaubt. Zuerst war ihm dieser Verzicht auf sich selbst schwer geworden; doch dieser erste Eindruck hatte nicht lange gedauert; er hatte zu rauchen, zu trinken angefangen, und schließlich bei dem Gedanken, er brauche sich jetzt nur noch um das Urteil der andern zu kümmern, eine wahre Erleichterung empfunden.

Nun hatte sich Nechludoff mit seinem leidenschaftlichen Wesen dem neuen Leben, das seine Umgebung führte, vollständig überlassen, und die Stimme, die etwas anderes von ihm verlangte, ganz und gar unterdrückt. Diese Veränderung hatte bei seiner Ankunft in St. Petersburg begonnen und war bei seinem Eintritt in das Gardekorps vollzogen.

»Wir sind bereit, unser Leben zu opfern, und infolgedessen ist das sorglose und heitere Leben, das wir führen, nicht nur entschuldbar, sondern sogar unerläßlich. Also wären wir unsinnig, wollten wir ein anderes führen!«

So sagte sich Nechludoff unbewußt während dieser Lebensperiode und freute sich, daß, er sich von all‘ dem Zwang befreit, den er sich in seiner Jugend auferlegt. In diesem Zustande befand er sich, als er drei Jahre nach seiner ersten Begegnung mit Katuscha, gerade, als er in den Krieg gegen die Türken ziehen wollte, in das Haus seiner Tanten zurückkehrte.

Nechludoff hatte mehrere Gründe, sich bei seinen Tanten aufzuhalten. Erstens lag ihre Besitzung auf dem Wege zu seinem Regiment; dann hatten ihn die beiden alten Damen auch sehr gebeten, sie zu besuchen; vor allem aber hatte er Katuscha wiedersehen wollen.

Er kam in den letzten Tagen des März, am Charfreitag, bei Tauwetter, in strömendem Regen, so daß er sich ganz durchnäßt und aufgeweicht, dabei aber kräftig und guter Dinge, wie stets zu dieser Zeit seines Lebens, fühlte.

»Wenn sie nur noch da ist!« dachte er, als er in den mit Schnee geschmolzenen Hof trat und das alte ihm so wohlbekannte, aus Ziegeln erbaute Haus erkannte. »Wenn sie doch auf der Schwelle zu meinem Empfange erscheinen möchte!«

Auf der Schwelle erschienen zwei barfüßige Mägde, die Eimer herbeischleppten und augenscheinlich die Dielen scheuern wollten. Von Katuscha war keine Spur zu entdecken, und Nechludoff kam nur der alte Kammerdiener Tichon entgegen, der offenbar auch mit Reinemachen beschäftigt war, denn er hatte eine Schürze umgebunden. Im Salon wurde er von Sophie Iwanowna empfangen, die einen gelben Mantel und eine Haube trug.

»Wie nett, daß du gekommen bist!« sagte Sophie Iwanowna, ihn umarmend. »Marie ist etwas leidend; sie hat sich heut‘ morgen in der Kirche angestrengt; wir waren nämlich zur Beichte!«

»Guten Tag, Tante Sonja,« sagte Nechludoff, ihr die Hand küssend; »entschuldigen Sie, ich habe Sie ganz naß gemacht!«

»Kleide dich schnell in deinem Zimmer um. Du bist ganz durchgeweicht. Und du hast ja schon einen Schnurrbart . . . Katuscha, Katuscha! schnell! man soll Kaffee machen!«

»Gleich!« versetzte eine heitere Stimme vom Gange her, und Nechludoffs Herz schlug fröhlich. Das war sie! Sie war noch da! Und in demselben Augenblick zeigte sich die Sonne zwischen den Wolken.

Fröhlich folgte Nechludoff Tichon, der ihn in dasselbe Zimmer führte, das er früher bewohnt. Gern hätte er den alten Diener nach Katuscha ausgefragt, wie es ihr ginge, was sie treibe und ob sie schon verlobt wäre. Noch Tichon war gleichzeitig so ehrerbietig und würdevoll und wollte Nechludoff selbst das Wasser aus dem Kruge über die Hände gießen, daß dieser ihn nicht nach dem jungen Mädchen zu fragen wagte, und sich nur nach seinen Enkeln, dem alten Pferde und dem Wachhunde Polkan erkundigte. Alle waren noch am Leben und wohlauf, bis auf Polkan, der im vorigen Jahre von der Tollwut befallen worden war.

Nechludoff zog sich gerade um, als er einen leichten Schritt auf dem Gange vernahm und es an die Thür klopfte. Nechludoff erkannte den Schritt und das Klopfen, nur sie ging und klopfte so! Schnell warf er seinen nassen Mantel über die Schultern und rief: »Herein!«

Sie war’s, Katuscha; noch immer so wie sonst, aber noch hübscher und reizender, als früher. Ihre Augen schimmerten naiv, und sie trug wie sonst eine auffallend saubere, weiße Schürze. Jetzt brachte sie ihm von seinen Tanten eine wohlriechende Seife und zwei Handtücher.

»Seien Sie willkommen, Dimitri Iwanowitsch!« sagte sie mit einer gewissen Verlegenheit, während sie heftig errötete.

»Ich grüße dich! . . . ich grüße Sie!« – Er wußte nicht, ob er »Du« oder »Sie« sagen sollte; und fühlte, wie auch er rot wurde. »Es geht Ihnen gut?«

»Gott sei Dank, ja! Ihre Tanten schicken Ihnen Ihre Lieblingsseife,« fuhr sie fort, legte die Seife auf den Tisch und breitete die Handtücher über die Stuhllehne.

»Dimitri Iwanowitsch hat seine mitgebracht!« bemerkte Tichon in feierlichem Tone und zeigte dem jungen Mädchen das große Necessaire mit Silberbeschlägen, das Nechludoff auf dem Tisch geöffnet hatte und das eine Menge Fläschchen, Bürsten, Pulver, Parfüms und Toilettengegenstände enthielt.

»Sagen Sie meinen Tanten, ich danke ihnen. Ach, wie freue ich mich, gekommen zu sein!« fügte Nechludoff hinzu, denn er fühlte, daß in seiner Seele plötzlich wieder alles hell und klar wie früher geworden war.

Sie antwortete nicht, lächelte aber und verließ das Zimmer. Die beiden Tanten, die Nechludoff stets vergöttert, empfingen ihn diesmal noch liebevoller als gewöhnlich. Dimitri zog in den Krieg; er konnte verwundet und getötet werden! Das zerriß den beiden alten Damen das Herz.

Nechludoff hatte zuerst nur einen Tag bleiben wollen; doch als er Katuscha wiedersah, beschloß er, auch noch den Ostersonntag bei ihr zu verleben, und telegraphierte seinem Kameraden Tschembock, den er nach Odessa bestellt hatte, er solle ihn von seinen Tanten abholen.

Im ersten Augenblick, da er Katuscha wiedergesehen, waren die alten Empfindungen wieder in ihm erwacht. Wie früher sah er nicht ohne Rührung die weiße Schürze des jungen Mädchens; er sah mit Vergnügen ihr Lächeln und hörte ihre Stimme und das Geräusch ihrer Schritte; er blieb nicht gleichgiltig bei dem Blick ihrer schwarzen Augen, besonders, wenn sie lächelte; wie früher konnte er nicht ohne Verwirrung mit ansehen, wie sie in seiner Gegenwart errötete. Von neuem war er verliebt, doch nicht so wie früher, wo ihm seine Liebe ein Geheimnis geblieben, wo er sich selbst nicht zu gestehen gewagt, daß er verliebt war, und wo er überzeugt war, man könne nur einmal lieben; jetzt wußte er, daß er verliebt war, und wußte auch, worin diese Liebe bestand und was daraus entstehen konnte.

Wie in einem jeden lebten auch in Nechludoff zwei Menschen, der moralische Mensch, der sein Wohl nur im Wohle der andern suchte, und der tierische Mensch, der nur sein eigenes Wohl suchte und das der ganzen Welt zu opfern bereit war. In dem Zustand selbstsüchtiger Thorheit, in dem er sich zu dieser Zeit befand, hatte der tierische Mensch in ihm die Oberhand gewonnen und den andern vollständig erstickt. Doch als er Katuscha wiedergesehen, und seine alten Gefühle für sie wieder in ihm erwacht waren, erhob der moralische Mensch das Haupt und forderte sein Recht, so daß sich in den nächsten zwei Tagen ein unaufhörlicher Kampf in ihm abspielte. Er wußte, daß es seine Pflicht war, abzureisen, daß es schlecht war, seinen Aufenthalt bei den Tanten zu verlängern und daß nichts Gutes dabei herauskommen konnte; doch er empfand so viel Glück und Vergnügen, daß er nicht mehr auf die Stimme des Gewissens hörte und blieb.

Am Sonnabend abend vor Ostern segnete der Priester mit dem Diakon und dem Meßner, wie es üblich, die Brote; mit großer Mühe waren sie, wie sie erzählten, durch die infolge des Tauwetters entstandenen Sümpfe gekommen; der Weg von der Kirche bis zu dem Hause der alten Damen betrug drei Werst. Nechludoff wohnte der Ceremonie mit seinen Tanten und der ganzen Dienerschaft bei. Er betrachtete fortwährend Katuscha, die mit dem Weihkessel in der Hand bei der Thür stand. Nachdem er der Sitte gemäß mit dem Priester und seinen Tanten drei Küsse getauscht, wollte er wieder in sein Zimmer gehen, als er auf dem Gange die Stimme der alten Wirtschafterin Matrena Pawlowna vernahm, die sich mit Katuscha zur Mitternachtsmesse begeben wollte, um dort der Nachtmesse und der Einsegnung der Brote beizuwohnen. »Ich will auch hin!« sagte sich Nechludoff.

Den Weg im Schlitten oder Wagen zurückzulegen, war nicht möglich. Nechludoff ließ das alte Pferd satteln, das er früher auf seinen Spazierritten benutzt, zog seine glänzende Uniform und seinen Offiziersmantel an; dann ritt er auf dem dicken, zu gut genährten Pferde, das fortwährend wieherte, durch Schnee und Schmutz nach der Dorfkirche.

Diese nächtliche Messe sollte für Nechludoff auf ewig eine der süßesten und stärksten Erinnerungen seines Lebens bilden.

Als er nach langem Ritt im Dunkel endlich den Hof der Kirche betrat, hatte der Gottesdienst schon begonnen.

Die Bauern, die in dem Reiter den Neffen von Marie Iwanowna erkannten, führten ihn an einen trockenen Ort, wo er absteigen konnte, brachten sein Pferd fort und öffneten ihm die Kirchenthür. Die Kirche war schon drückend voll.

Rechts standen die Männer. Die Alten in Jacken, die sie selbst genäht, die Beine mit weißen Leinewandstreifen umwickelt; die jungen in ganz neuen Tuchjacken, mit einer hellen Schleife um die Lenden und großen Stulpstiefeln an den Füßen. Links standen die Frauen, den Kopf mit Seidentüchern bedeckt, in Samtjacken mit roten Aermeln und blauen, grünen, roten Röcken und eisenbeschlagenen Stiefeln an den Füßen. Die ältesten hatten sich bescheiden in den Hintergrund gestellt, mit ihren weißen Kopftüchern und grauen Jackets. Zwischen ihnen und den jungen Frauen standen die Kinder in Feiertagsgewändern.

Die Männer schlugen das Kreuz; die Frauen, besonders die älteren, drückten, während sie eifrig das mit Kerzen umstellte Heiligenbild betrachteten, die gefalteten Finger auf die Stirn, die Schultern und den Bauch, während ihre Lippen fortwährend Gebete murmelten. Die Kinder folgten dem Beispiel der großen Personen, und beteten eifrig, besonders, wenn sich die Blicke der Eltern auf sie richteten.

Nechludoff trat in die Kirche. In der Mitte stand die Aristokratie. Da war ein Gutsbesitzer mit seiner Frau und seinem Sohn im Matrosenanzug, der Stanowoj, der Telegraphist, ein Kaufmann in hohen Stulpstiefeln, der Starost mit seiner Medaille und rechts vom Pult hinter der Frau des Gutsbesitzers Matrena Pawlowna, die ein Kleid mit auffallenden Farben und einen gestreiften Shawl trug. Neben ihr stand Katuscha in weißem Kleide mit plissiertem Mieder. Ein blauer Gürtel schnürte ihre Taille ein und Nechludoff sah, daß, sie in ihren schwarzen Haaren eine rote Schleife trug.

Alles sah festlich, feierlich, fröhlich und schön aus; der Priester mit seinem silbernen Chorhemd mit aufgenähtem Goldkreuz, der Diakon und der Meßner mit ihren gold- und silberbestickten Stolen, die fröhlichen Gesänge der Chorknaben, die Art, wie der Priester jeden Augenblick eine Kerze erhob, um die Anwesenden zu segnen und wie alle von Zeit zu Zeit wiederholten: »Christ ist erstanden! Christ ist erstanden!« Was war alles schön, doch noch weit schöner war Katuscha mit ihrem weißen Kleide und ihrem blauen Gürtel, und ihrer roten Schleife in den schwarzen Haaren.

Ohne daß er sich umzuwenden brauchte, fühlte Nechludoff, daß sie ihn sah. Er ging ganz nahe an ihr vorbei, als er auf den Altar zuschritt. Er hatte ihr nichts zu sagen, sagte aber doch, als er an ihr vorbeikam:

»Meine Tante läßt Ihnen sagen, daß erst nach der zweiten Messe zu Abend gespeist wird.«

Katuscha strömte das Blut ins Gesicht und ihre Augen blieben mit glücklichem Lächeln auf ihm haften.

»Ich weiß,« erwiderte sie.

In diesem Augenblick kam der Meßner, der zum Gabeneinsammeln durch die Menge schritt, an Katuscha vorüber und streifte sie, ohne sie zu sehen, mit seiner Stola. Doch Nechludoff sah bestürzt, daß dieser Meßner nicht begriff, daß alles, was in der Kirche, was in der Welt geschah, nur für Katuscha geschah, daß sie allein nicht unbemerkt bleiben durfte, daß sie der Mittelpunkt des Weltalls war. Für sie glänzte das Gold des Heiligenbildes, für sie brannten die Kerzen des Kronleuchters, für sie erhoben sich diese fröhlichen Gesänge: »Freut euch, ihr Menschen!« Alles Gute und Schöne auf Erden war nur für sie bestimmt; und Katuscha mußte das zweifellos auch begreifen. Das empfand Nechludoff, als er die anmutigen Formen des jungen Mädchens in dem weißen Kleide und dies von ernster Freude verklärte Gesicht erblickte, dessen Ausdruck ihm verriet, daß es in ihr ebenso jubelte, wie in ihm.

Schon war die Nacht heller geworden, doch die Sonne zeigte sich noch nicht. Die Menge, die die Kirche verließ, strömte über den Hof, doch Katuscha erschien noch immer nicht und Nechludoff blieb stehen, um sie zu erwarten.

Noch immer strömte das Volk heraus; die Fliesen dröhnten unter den genagelten Schuhen. Ein Greis mit wackelndem Kopfe, der alte Koch Maria Iwanownas, hielt Nechludoff auf und küßte ihn dreimal; dann reichte ihm seine Frau, ein altes, ganz runzliges Weib, ein bemaltes Ei in gelbem Safran. 3 Hinter ihm erschien lächelnd ein kräftiger, junger Muschik, der eine neue Jacke mit grünem Gürtel trug.

»Christ ist erstanden!« sagte er mit gutmütigem Lächeln, schlang seine Arme um Nechludoffs Hals und küßte ihn dreimal auf den Mund. Während dieser ein braunbemaltes Ei von dem Muschik, der ihn umarmt, erhielt, sah er das bunte Kleid der Matrena Pawlowna aus der Kirche treten und hinter diesem erschien der liebe, kleine Schwarzkopf mit der roten Schleife.

Katuscha bemerkte ihn sofort, und er sah, daß sie von neuem errötete.

In der Vorhalle blieb sie stehen, um den Bettlern Almosen zu spenden. Einer der Bettler, ein Unglücklicher, der an der Stelle der Nase eine große, rote Wunde hatte, näherte sich ihr. Sie holte etwas aus ihrem Kleide, trat ohne den geringsten Widerwillen auf ihn zu und küßte ihn dreimal. Während dessen kreuzten sich ihre Augen mit denen Nechludoffs, als wollten sie fragen: »Thue ich recht?« – »Ja, gewiß, Geliebte, alles ist gut und schön; ich liebe dich!«

Die beiden Frauen gingen die Stufen hinunter, und Nechludoff eilte ihnen entgegen. Er hatte nicht die Absicht, ihnen frohes Fest zu wünschen, konnte aber nicht umhin, sich Katuscha zu nähern.

»Christ ist erstanden!« sagte Matrena Pawlowna lächelnd; dann wischte sie sich mit ihrem Taschentuch den Mund und hielt dem jungen Mann ihre Wange hin.

»Er ist in Wahrheit erstanden !« versetzte Nechludoff und küßte sie. Dann warf er einen Blick auf Katuscha, die wieder rot wurde und auf ihn zutrat.

»Christ ist erstanden, Dimitri Iwanowitsch!« sprach sie.

»Er ist in Wahrheit erstanden!« entgegnete er. Sie küßten sich zweimal und hielten inne; dann küßten sie sich lächelnd zum drittenmal.

»Sie gehen nicht zum Priester?« fragte Nechludoff.

»Nein, wir wollen hier warten, Dimitri Iwanowitsch,« versetzte sie, mühsam sprechend.

Ihre Brust hob sich im Fieber, und fortwährend sah sie ihn mit ihren schüchternen, unschuldigen und zärtlichen Augen an.

In der Liebe zwischen Mann und Weib giebt es stets eine Minute, wo diese Liebe ihren höchsten Grad erreicht und nichts Sinnliches oder Ueberlegtes kennt. Diese Minute hatte Nechludoff in dieser Osternacht kennen gelernt. Jetzt, da er im Geschworenenzimmer saß, versuchte er sich an alle Umstände zu erinnern, unter denen er Katuscha gesehen und diese Minute, die wieder vor ihm erstand, löschte alles übrige aus! Ach, wäre er doch bei dem Gefühl geblieben, das er in jener Osternacht empfand.

»Ja, alles, was sich Schreckliches zwischen uns abgespielt, ist erst nach dieser Osternacht gekommen!« dachte er, als er im Geschworenenzimmer am Fenster saß.

Als Nechludoff aus der Kirche kam, speiste er mit seinen Tanten. Um sich von seiner Abspannung zu erholen, trank er, wie er es im Regiment gewöhnt war, mehrere Gläser Wein und Schnaps. Dann ging er wieder in sein Zimmer, streckte sich, ohne sich auszuziehen, auf seinem Bett aus und schlief sofort ein. Es klopfte an die Thür, und er erwachte. An der Art des Klopfens erkannte er, daß sie es war. Er sprang vom Bett und rief, sich die Augen reibend:

»Katuscha, bist du’s? Komm herein!«

Sie öffnete die Thür und sagte:

»Man ruft Sie zum Frühstück!«

Sie trug dasselbe weiße Kleid, aber ohne die Schleife in den Haaren. Sie sah ihm in die Augen und ihr Gesicht strahlte, als wenn sie ihm etwas Außerordentliches und Fröhliches mitgeteilt hätte.

»Ich komme gleich,« versetzte er.

Sie blieb noch eine Minute, ohne etwas zu sagen, und plötzlich stürzte Nechludoff auf sie zu. Noch in demselben Augenblick drehte sie sich schnell um und entfloh auf den Korridor.

»Wie dumm von mir, daß ich sie nicht zurückgehalten habe!« sagte sich Nechludoff und verließ das Zimmer, um sie einzuholen.

»Halt! Katuscha!« rief er ihr zu, und sie drehte sich um.

»Was giebt’s?« fragte sie, und hörte auf zu lächeln.

»Nichts giebt es, aber…«

Er beherrschte sich, überlegte sich, wie sich alle Männer seiner Gesellschaftsklasse benehmen würden, und faßte sie um die Taille.

Sie blieb stehen und sagte, ihm in die Augen sehend, blutrot und dem Weinen nahe:

»Das ist nicht recht, Dimitri Iwanowitsch; das ist nicht recht!«

Dann schob sie den Arm, der sie umschlungen hielt, mit ihren kleinen, kräftigen Händen zurück.

Nechludoff ließ sie los. Er hatte plötzlich eine Empfindung nicht nur der Scham und des Unbehagens, sondern auch des Widerwillens gegen sich selbst. In diesem Moment hätte er an sich glauben können, doch er begriff nicht, daß diese Scham und dieser Widerwille der Ausdruck seiner Seele waren; er bildete sich vielmehr ein, seine Dummheit spräche aus ihm, und es wäre seine Pflicht, wie jeder andere zu handeln.

Von neuem verfolgte er Katuscha, faßte sie um die Taille und drückte ihr einen Kuß auf den Hals.

Dieser Kuß hatte mit denen, die er ihr früher gegeben, nichts gemein; sein jetziger Kuß hatte etwas Schreckliches, und das fühlte sie auch.

»Was thun Sie?« rief sie mit entsetzter Stimme, riß sich los und entfloh, so schnell sie konnte.

Nechludoff begab sich in das Eßzimmer. Seine Tanten saßen in großer Toilette mit dem Arzt und einer Nachbarin bereits bei Tische. Alles ging wie sonst zu, doch in Nechludoffs Seele grollte der Sturm. Er verstand nicht, was man ihm sagte, antwortete verkehrt, und dachte stets nur an Katuscha. Plötzlich vernahm er ihren Schritt auf dem Gange, und von diesem Augenblick an hörte er nichts weiter mehr. Als sie in den Saal trat, sah er sie nicht an, fühlte aber mit seinen ganzen Wesen ihre Anwesenheit.

Nach dem Essen ging er gleich wieder in sein Zimmer. Erregt ging er lange auf und ab, und lauschte, in der Erwartung, Katuschas Schritt zu vernehmen, auf das leiseste Geräusch im Hause. Das in ihm lebende Tier hatte nicht nur das Haupt erhoben, sondern das liebende, selbstlose Wesen, das er bei seinem ersten Aufenthalt, und noch am Morgen desselben Tages in der Kirche gewesen war, vollständig unterdrückt. Jetzt herrschte nur noch das Tier in seiner Seele.

Obwohl er dem jungen Mädchen fortwährend nachspionierte, konnte er sie den ganzen Tag über nicht ein einziges Mal allein sprechen. Sie wich ihm offenbar aus. Gegen Abend aber mußte sie ein Zimmer neben dem seinigen betreten. Der Arzt wollte bis zum nächsten Morgen bleiben, und Katuscha hatte den Auftrag erhalten, ein Zimmer für ihn für die Nacht herzurichten. Als Nechludoff ihre Schritte vernahm, schlich er geräuschlos und den Atem anhaltend, als wolle er ein Verbrechen begehen, in das Zimmer, in das sie hineingegangen war.

Katuscha hatte die beiden Hände in einen Ueberzug gesteckt und wollte eben ein Kissen hineindrücken, als sie hörte, wie die Thür sich öffnete. Sie wandte sich nach Nechludoff um und lächelte ihm zu, doch das war nicht mehr ihr vertrauensvolles und fröhliches Lächeln von früher, das war ein klägliches, entsetztes Lächeln. Es schien Nechludoff zu sagen, daß das, was er that, schlecht war, und daß er es nicht thun durfte. Und tatsächlich hielt Nechludoff einen Augenblick inne; der Kampf der beiden Männer in ihm entspann sich von neuem. Zum letztenmal hörte er, aber nur schwach, die Stimme seiner aufrichtigen Liebe zu ihr, die ihm von ihr, ihren Gefühlen und ihrem Leben sprach. Doch sofort sagte ihm eine andere Stimme: »Gieb acht; du wirst dir dein Vergnügen entgehen lassen!« Diese erste Stimme erstickte die andere. Entschlossen schritt er auf das junge Mädchen zu, und ein bestialisches, unwiderstehliches Gefühl bemächtigte sich seiner.

»Dimitri Iwanowitsch, mein Liebling, lassen Sie mich bitte,« sagte sie mit flehender Stimme. »Matrena Pawlowna kommt!« fügte sie, sich losreißend, hinzu.

Es kam tatsächlich jemand.

»Höre! ich werde in der Nacht zu dir kommen« flüsterte ihr Nechludoff zu. »Du wirst allein sein, nicht wahr?«

»Was wollen Sie? Warum? Nein, nein! Das ist nicht recht,« sagte sie; doch nur ihre Lippen sprachen das; ihre ganze erregte, erschütterte Persönlichkeit redete anders.

Matrena Pawlowna trat in das Zimmer. Sie brachte Handtücher für den Arzt. Sie warf Nechludoff einen vorwurfsvollen Blick zu und schalt Katuscha aus, die es vergessen hatte, die Servietten zu holen.

Nechludoff ging schnell hinaus, doch er schämte sich nicht mehr. An Matrena Pawlownas Blick hatte er gesehen, daß sie ihn im Verdacht hatte und daß das, was er that, schlecht war; doch der bestialische Instinkt, der an die Stelle seiner alten Liebe für Katuscha getreten war, beherrschte ihn jetzt und herrschte allein in ihm. Er fühlte, daß er diesen Instinkt befriedigen mußte, und dachte nur noch an die Mittel dazu.

Den ganzen Abend war er unruhig; bald ging er zu seinen Tanten, bald trat er in sein Zimmer oder auf die Freitreppe hinaus. Und er hatte nur den einen Gedanken, Katuscha wiederzusehen, Diese aber wich ihm aus, und Matrena Pawlowna verlor ihn nicht aus den Augen.

So verging der ganze Abend, und die Nacht brach herein. Der Arzt ging zur Ruhe, und die Tanten traten in ihr Zimmer. Nechludoff wußte, daß Matrena Pawlowna in diesem Augenblick bei seinen Tanten war, denen sie beim Ausziehen half. Katuscha mußte also allein in der Küche sein.

Wieder ging Nechludoff auf die Freitreppe hinaus, Die Nacht war dunkel, feucht, warm, und die ganze Luft erfüllte der weiße Nebel, den der schmelzende Schnee im Frühling hervorbringt. Vom Fluß her vernahm man, hundert Schritt vom Hause, ein seltsames Geräusch; das Eis brach.

Nechludoff stieg die Freitreppe hinunter und ging, durch die Lachen des geschmolzenen Schnees watend, bis zum Küchenfenster. Das Herz klopfte ihm so stark, daß er es hörte.

In der Küche brannte eine kleine zitternde Lampe. Katuscha saß allein am Tische und starrte nachdenklich vor sich hin. So blieb sie mehrere Minuten, erhob dann die Augen, lächelte und nickte, als wenn sie mit sich selbst spräche; darauf legte sie die Hände auf den Tisch und starrte wieder vor sich hin.

Er betrachtete sie weiter und lauschte dabei unwillkürlich auf die Schläge seines Herzens und auf das seltsame Geräusch, das vom Flusse herkam. So blieb er vor dem Fenster stehen und beobachtete auf dem müden und sinnenden Gesicht Katuschas die Spuren der Arbeit, die sich in ihr vollzog; er hatte Mitleid mit ihr, doch seltsamerweise bestärkte ihn dieses Mitleid nur noch mehr in seinem Wunsche.

Er klopfte aus Fenster, und wie von einem elektrischen Schlage getroffen erbebte sie am ganzen Körper und Schrecken malte sich aus ihren Zügen. Dann sprang sie auf, stürzte nach dem Fenster und drückte das Gesicht an die Scheiben. Der Ausdruck der Angst verschwand auch nicht, als sie Nechludoff erkannte. Sie sah ernster aus, als der junge Mann sie je gesehen hatte. Erst als er ihr zulächelte, lächelte auch sie; und sie that das nur aus Unterwürfigkeit, denn er sah wohl, daß in ihrer Seele keine Freude, sondern einzig und allein nur Furcht und Entsetzen lebte.

Er machte ihr ein Zeichen, sie solle zu ihm auf den Hof kommen; doch sie schüttelte den Kopf und blieb am Fenster stehen. Wieder drückte er sein Gesicht an die Scheibe und wollte ihr zurufen, sie solle herauskommen; doch in demselben Augenblick wandte sie sich nach der Thür um. Jedenfalls hatte sie jemand gerufen.

Nechludoff entfernte sich vom Fenster. Der Nebel war so dicht geworden, daß man fünf Schritt weit die Fenster nicht sehen konnte, sondern nur eine große, dunkle Masse, aus der das rote Licht einer Lampe strahlte. Plötzlich krähte ein Hahn; andere antworteten ihm auf dem Hofe; und wieder andere ließen im Dorfe ihr Gekrähe ertönen, das in einem und demselben lauten Lärm verschmolz. Rings umher war alles still; nur der Fluß setzte sein Werk fort.

Nechludoff ging vor dem Hause ein paarmal auf und ab und näherte sich dann wieder dem Küchenfenster. Beim Lampenschein sah er Katuscha wieder am Tische sitzen. Noch kaum war er näher getreten, als sie die Augen auf das Fenster richtete. Er klopfte, und sie verließ sofort die Küche; er hörte, wie sich die Thür knirschend öffnete und wieder schloß. Er lief nach der Freitreppe und umschlang sie sofort, ohne ein Wort zu sprechen, Sie schmiegte sich an ihn an, erhob den Kopf und bot ihre Lippen seinem Kusse dar. So blieben sie an der Ecke des Hauses an einer trockenen Stelle stehen; und Nechludoff fühlte, wie das Verlangen nach ihr immer stärker wurde. Plötzlich hörten sie wieder die Thür gehen, und Matrena Pawlownas zornige Stimme rief in die Nacht hinaus: »Katuscha!« Sie entriß sich seinen Armen und lief zur Küche. Er hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde; dann wurde wieder alles still, und das rote Licht der Lampe erlosch.

Nechludoff näherte sich dem Fenster; doch er konnte nichts sehen. Er klopfte; niemand gab Antwort. Er ging ins Haus in sein Zimmer, legte sich aber nicht schlafen. Eine halbe Stunde später zog er seine Stiefel aus und ging nach Katuschas Schlafzimmer. Als er an Matrena Pawlownas Zimmer vorüberkam, hörte er, wie die alte Wirtschafterin ruhig schnarchte. Schon wollte er seinen Weg fortsetzen, als Matrena Pawlowna zu husten anfing und sich auf ihrem Bette umdrehte. So vergingen fünf Minuten. Als wieder alles schwieg und er wieder das Schnarchen der Alten vernahm, setzte Nechludoff leise seinen Weg fort. Endlich stand er vor Katuschas Thür. Kein Atemzug ließ sich hören; offenbar schlief sie nicht. Doch kaum hatte er »Katuscha« geflüstert, als sie zur Thür stürzte und ihn in zornigem Tone gehen hieß.

»Wo denken Sie hin? Ihre Tanten werden wach werden!« sprachen ihre Lippen; doch ihr ganzes Wesen sprach: »Ich gehöre dir mit Leib und Seele!« und nur das allein hörte Nechludoff.

»Ich bitte dich, öffne nur auf eine Minute!«

Es trat eine Pause ein; dann hörte Nechludoff, wie eine Hand im Dunkel nach dem Riegel tastete. Die Thür öffnete sich, und Nechludoff trat ins Zimmer. – – –

Als er sie verließ, ging er auf die Freitreppe hinaus und blieb dort stehen, um sich die Bedeutung des Vorgefallenen klar zu machen.

Draußen war es heller geworden; der Nebel begann zu fallen, und hinter dem Nebel erschien der Halbmond.

»Was ist das?« fragte sich Nechludoff. »Ist mir ein großes Glück oder ein großes Unglück widerfahren?«

»Ah bah!« sagte er sich , »das ist immer so; und jeder thut es!«

Dann ging er beruhigt in sein Zimmer, legte sich nieder und schlief sofort ein.

Am nächsten Tage, dem Ostersonntag, holte ihn sein Freund Tschembock von seinen Tanten ab. Schön, glänzend und heiter entzückte er die alten Damen buchstäblich durch seine Beredtsamkeit, Höflichkeit, Freigebigkeit, und besonders durch die Zuneigung, die er für Nechludoff hegte. Seine Freigebigkeit gefiel ihnen zwar, doch sie fanden sie etwas übertrieben. Sie wunderten sich, als er einem blinden Bettler einen Rubel gab, den Dienern auf einen Schlag 15 Rubel schenkte und ohne Zögern ein Batisttaschentuch im Mindestwerte von 15 Rubel zerriß, um einer Magd den Fuß zu verbinden, den sie sich blutig gerissen hatte. Die würdigen Tanten hatten so etwas noch nie gesehen; sie wußten außerdem nicht, daß dieser Tschembock 200 000 Rubel Schulden hatte; da er fest entschlossen war, dieselben nie zu bezahlen, so kam es ihm auf 25 Rubel mehr oder weniger nicht an.

Tschembock verbrachte übrigens nur einen Tag bei den Tanten und reiste schon am Abend mit Nechludoff ab. Sie konnten ihren Aufenthalt nicht länger ausdehnen, da die Frist fast schon abgelaufen war.

Nechludoff dachte an diesem ersten Tage nur an die vorige Nacht. Zwei Gefühle kämpften in seiner Brust; einerseits gefiel er sich darin, den sinnlichen Genuß wieder wachzurufen und war stolz darauf, sein Ziel glücklich erreicht zu haben; andererseits hatte er die Empfindung, eine Dummheit begangen zu haben, die er wieder gut machen mußte, und zwar nicht in Katuschas Interesse, sondern in seinem eigenen, denn in dem Zustande der selbstsüchtigen Thorheit, in dem er sich damals befand, konnte Nechludoff nur an sich denken. Er fragte sich, was man wohl sagen würde, wenn man erführe, wie er sich dem jungen Mädchen gegenüber benommen, dachte aber keineswegs daran, was sie empfinden, noch was ihr zustoßen könnte.

So war er zum Beispiel sehr neugierig, ob Tschembock seine Beziehungen zu Katuscha erraten hätte.

»Also darum hast du plötzlich eine so große Zuneigung zu deinen Tanten gefaßt?« sagte Tschembock, als er das junge Mädchen erblickte, »Ich glaube, an deiner Stelle hätte ich meinen Urlaub auch verlängert; das ist ja eine wahre Schönheit!«

Nechludoff dachte nun, daß es doch eigentlich sehr vorteilhaft für ihn war, jetzt wegfahren zu müssen, denn so konnte er die Beziehungen abbrechen, die er doch nur sehr schwer hätte aufrecht erhalten können. Er dachte ferner daran, daß es seine Pflicht war, Katuscha Geld zu geben, nicht ihretwegen oder um ihr zu Hilfe zu kommen, sondern weil das jeder Ehrenmann unter solchen Umständen thut.

Nach dem Essen erwartete er sie auf dem Korridor, Sie wurde blutrot, als sie ihn erblickte und wollte entfliehen, indem sie auf die halboffenstehende Zimmerthür Matrenas zeigte. Doch er hielt sie am Arm zurück und sagte, während er ihr ein Kouvert, in das er einen Hundertrubelschein gelegt, in die Hand zu stecken versuchte:

»Ich wollte dich um Verzeihung bitten … da, nimm …«

Sie betrachtete das Kouvert, runzelte die Stirn und stieß die Hand des jungen Mannes zurück.

»Da nimm,« murmelte er und steckte ihr das Kouvert in das Mieder. Dann zog auch er die Stirn kraus, seufzte, als wenn er sich verletzt hätte, und lief in sein Zimmer, wo er noch lange Zeit auf und nieder ging. Doch was sollte er thun, handelte nicht jeder ebenso? Hatte nicht Tschembock ebenso bei einer Gouvernante gehandelt, die er verführt? Hatte nicht sein Onkel Gregor dasselbe gethan? War nicht sein Vater ebenso verfahren, als ihm eine Bäuerin den natürlichen Sohn schenkte, der jetzt noch lebte? Wenn es alle so trieben, so mußte man eben auch so handeln. Mit solchen Gründen suchte er sich zu beruhigen, ohne daß es ihm aber vollständig gelang. Die Erinnerung an die letzte Zusammenkunft mit Katuscha brannte auf seinem Gewissen. Im tiefsten Grunde seines Herzens fühlte er, daß er so gemein, so häßlich und grausam gehandelt, daß er von jetzt ab nicht nur das Recht verloren, jemanden zu beurteilen, sondern überhaupt einem Menschen ins Gesicht zu sehen. Trotzdem war er gezwungen, sich als einen Mann von Adel, Ehre und Großmut zu betrachten, denn nur um diesen Preis konnte er das Leben, das er führte, fortsetzen. Dazu gab es aber nur ein einziges Mittel; er durfte an das, was er gethan, nicht denken.

Die neue Existenz, die sich ihm eröffnete, das Reisen, die Kameraden, der Krieg machten ihm die Sache leicht, und je mehr Zeit verging, desto mehr vergaß er, so daß er schließlich alles vergessen hatte.

Dennoch schnürte sich ihm das Herz zusammen, als er mehrere Monate nach dem Kriege wieder seine Tanten besuchte und dort erfuhr, Katuscha wäre nicht mehr bei ihnen, hätte das Haus kurz nach seiner Abreise verlassen, ein Kind zur Welt gebracht und wäre nach Aussage der beiden alten Damen vollständig verkommen. Als die Tanten ihm das erzählten, hatten sie hinzugefügt, Katuscha wäre, bevor sie sie verließ, völlig verdorben; sie wäre überhaupt eine lasterhafte und schlechte Natur wie ihre Mutter.

Dieses Urteil von seiten der beiden Tanten gefiel Nechludoff, denn er fühlte sich dadurch gewissermaßen gerechtfertigt und beruhigt. Trotzdem hatte er zuerst die Absicht gehabt, Katuscha und das Kind zu suchen; da ihm aber im Grunde genommen die Erinnerung an sein Benehmen immer noch peinlich war und er sich dessen schämte, so that er die beabsichtigten Schritte nicht, vergaß seine Schuld noch mehr und dachte schließlich gar nicht mehr daran.

Jetzt aber rief ihn ein merkwürdiger Zufall wieder alles ins Gedächtnis zurück und brachte ihm die Selbstsucht, Grausamkeit und Gemeinheit zum Bewußtsein, die es ihm ermöglicht hatten, mit einem solchen Verbrechen auf der Seele neun Jahre lang ruhig zu leben. Doch noch war ihm das Bewußtsein seiner Unwürdigkeit durchaus nicht klar geworden, und in diesem Augenblick dachte er nur an die Mittel, einer Entdeckung vorzubeugen, damit Katuscha und ihr Verteidiger ihn in den Augen aller andern nicht bloßstellen konnten.

  1. Es ist beim russischen Volke üblich, sich beim Austausch der Ostereier, dreimal auf den Mund zu küssen.

Auferstehung   1. Band


Auferstehung   1. Band

Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündiget, vergeben? Ist es genug siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzig mal siebenmal.
(Ev. Matth. 18, 21–22.)

Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?
(Ev. Matth. 7, 5.)

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
(Ev. Johannis 8, 7.)

Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen.
(Ev. Luc. 8, 40.)

Vorwort

Es erfüllt den Herausgeber von »Kürschners Bücherschatz« mit berechtigtem Stolze, das großartige Werk Leo Tolstois in W. Thals trefflicher Uebersetzung hierdurch zuerst und in jeder Hinsicht weitesten Kreisen zugänglich machen zu können. Es geschieht im Vertrauen auf die Unbefangenheit und die Reife des Lesers, dem hier ein so vollständig Anderes entgegentritt, daß er auch eines anderen Maßstabes und vor allem eines freien und unbefangenen Blickes bedarf, um dem Ungewöhnlichen gegenüber den rechten Standpunkt zu gewinnen. Tolstoi schreibt mit der Wahrheit des großen und lauteren Charakters, voll Liebe für die Menschheit, als Vertreter heiligster Sache. Er zeigt dabei, was die Verhältnisse zu zeigen ihn zwingen, aber nur Böswilligkeit und Unlauterkeit des Herzens können daran Anstoß nehmen, kein Einsichtiger wird verkennen, daß gerade diese Wege gegangen werden mußten, um zu diesem Ende zu gelangen. Der Eisenbahnzug, den der Dichter im letzten Kapitel seines Werkes den Steppen Sibiriens entgegenrollen läßt, gemahnt an den Train, der am Schlusse eines der gewaltigen Rougon-Macquart-Romane Zolas führerlos der Grenze zueilt, aber während dieser seine Insassen sicherem Untergange zuführt, dämmert jenem das erlösende Morgenrot der Auferstehung entgegen!

Des Dichters Absicht ist, in einer Art von Epilog auch die letzten Einzelheiten dieser Auferstehung, zu dem das ganze Werk hinleitet, zu behandeln. Führt er sie aus, soll auch diese Arbeit des russischen Dichters und Apostels der Menschlichkeit den Lesern des Bücherschatzes nicht vorenthalten bleiben.

Joseph Kürschner.

Vorwort

Die »Auferstehung«, das letzte Werk bei Grafen Leo Tolstoi, das wir in deutscher Uebertragung dem Publikum bieten, darf wohl als eine Kulturthat unserer Jahrhundertwende bezeichnet werden, und wohl selten hat ein Werk schon vor seinem Erscheinen so viel Erregung hervorgerufen, wie gerade dieses. Selbst das Aufsehen, das die »Kreutzersonate« vor etwa zehn Jahren erregte, ist nicht damit zu vergleichen. Noch während damals die Meinungen vielfach geteilt waren und viele Bewunderer des Schriftstellers zu den Ausführungen des Philosophen und Moralisten den Kopf schüttelten, ist man wohl diesmal in der Beurteilung der »Auferstehung« so ziemlich einer Meinung, daß Tolstoi die Welt – nicht nur sein engeres Vaterland – mit einem Kunstwerk ersten Ranges beschenkt hat, das jeder Büchersammlung zur höchsten Ehre gereicht, Selbst der heikle Stoff kann nichts daran ändern, denn nur die dringendste Notwendigkeit hat den Dichter veranlaßt, in die Nachtseiten des Lebens hinabzusteigen, und zudem behandelt er die heikelsten Dinge mit einem so sittlichen Ernste, einer mit größter Wahrheitsliebe Hand in Hand gehenden Decenz, die ihn von vielen seiner großen Kollegen unterscheidet! Wie ganz anders hätte Zola, Annunzio oder ein deutscher Naturalist denselben Stoff behandelt! Unsere einsichtsvollen Leser werden es uns Dank wissen, daß wir nur geringe Milderungen vorgenommen und den Gedanken des Meisters nicht durch sinnlose Streichungen und Verbesserungen verballhornt haben! – Ist doch das Werk Tolstois eine Meisterschöpfung, die der Bewunderung eines Jeden, würdig ist, und Bewunderung erfaßt uns allein schon, wenn wir sehen, welche Fülle von Gebieten Tolstoi im Rahmen seines Romans behandelt! Alle Einrichtungen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens werden kritisch beleuchtet und mit unerbittlicher Sonde untersucht; die ganze überfirnißte Hohlheit der vornehmen Welt, die unvermeidlichen Schäden der russischen Gesetzgebung, die im Formelkram befangen, selbst die Rehabilitierung eines Unschuldigen nicht zuläßt, sondern ihn eher nach Sibirien verschickt, als einen Fehler zugiebt, die unmenschliche Behandlung der Gefangenen, dieser blutrote Faden, der sich seit Jahrhunderten durch die Geschichte Rußlands zieht, die ungerechte Verteilung der Güter, die den Bauern zum willenlosen Sklaven des Feudalherrn herabdrückt und den russischen Muschik trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft zum Werkzeug der »Herrschaft« macht und in Elend und Knechtschaft noch auf lange Zeit erhalten wird – das alles findet in Tolstoi, der hier die Theorie Henry Georges zu der seinen gemacht hat, einen leidenschaftlichen Ankläger.

Aber man glaube nicht etwa, daß der Verfasser über der Tendenz das Werk selbst vernachlässigt hat. Im Gegenteil! Es ist eine bis in kleinste Detail spannende und hochinteressante Kriminalgeschichte, der Roman einer unschuldig zu Zwangsarbeit Verurteilten, und man kann sagen, daß Tolstoi, der Siebzigjährige, sich mit diesem Werke selbst übertroffen hat und daß die »Auferstehung« sogar »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« in den Schatten stellt. Trotz aller Einfachheit des Stils hat er es verstanden, eine an dramatischen Scenen unendlich reiche Handlung zu erfinden oder vielmehr nicht zu erfinden, denn seine Heldin ist eine lebende Figur und ihre Geschichte leider nur zu wahr, und selbst Alexander Dumas und Eugène Sue, diese Meister der »spannenden Effekte«, haben nichts Interessanteres und Packenderes geboten, als dieses so unendlich einfache und natürliche Werk. Alle Figuren leben, sie sind wirklich gesehene Menschen, keine ins Uebermäßige vergrößerte Edelgestalten oder titanenhaften Schurken, wie sie der Verfasser des »Monte Christo« und auch Victor Hugo in seinem »Glöckner von Notre Dame« schufen. Hier haben wir Typen vor uns, die uns jeden Tag auf der Straße begegnen, die uns gerade darum so ergreifen und rühren, weil ihre Schicksale, ihre Leiden und Freuden uns menschlich nahe gehen, weil wir sie verstehen und begreifen, wie sie der Dichter verstanden und begriffen hat. Mit diesem Werke hat sich Tolstoi – unabhängig von seinen früheren Schriften – ein unvergängliches Denkmal in der Litteraturgeschichte geschaffen, und hätte er nichts weiter als die »Auferstehung« verfaßt, es würde doch auf ihn das Wort des Dichters passen:

»Es wird die Spur von seinen Erdentagen
nicht in Aeonen untergehen«

Der Uebersetzer

Erstes Kapitel

Vergeblich bemühten sich einige hunderttausend Menschen, die auf kleinem Raum vereinigt waren, die Erde zu verstümmeln, auf der sie lebten; umsonst erdrückten sie die Erde unter Steinen, damit nichts aufkeimen konnte; umsonst rissen sie das kleinste Grashälmchen aus; umsonst verpesteten sie die Luft mit Petroleum und Steinkohle; umsonst beschnitten sie die Bäume; umsonst jagten sie die Tiere und Vögel fort; der Frühling war, selbst in der Stadt, immer noch der Frühling. Die Sonne strahlte; das Gras begann wie neubelebt wieder zu wachsen, nicht nur auf dem Rasen des Boulevards, sondern auch zwischen den Straßenrinnsteinen; die Birken, Pappeln und Maulbeerbäume entfalteten ihre feuchten und duftenden Blätter; die Linden zeigten ihre dicken, fast schon platzenden Knospen; die Krähen, Sperlinge und Tauben arbeiteten lustig an ihren Nestern; die Bienen und Fliegen summten an den Wänden und freuten, sich, daß die gute warme Sonne wiedergekehrt war. Alles war lustig, die Pflanzen, die Insekten, die Vögel, die Kinder. Nur die Menschen fuhren fort, sich und andere zu quälen und zu betrügen. Nur die Menschen meinten, nicht dieser Frühlingsmorgen, nicht diese himmlische Weltenschönheit, die zur Freude aller lebenden Wesen geschaffen war und sie alle zum Frieden, zur Eintracht und Zärtlichkeit zurückführen sollte, wäre wichtig und heilig, nein, wichtig und heilig wäre nur das, was sie selbst ersonnen, um sich gegenseitig zu quälen und zu betrügen.

So wurde es auch in dem Bureau des Gouvernementsgefängnisses nicht für wichtig und heilig erachtet, daß die Freude und Wonne des Frühlings den Menschen beschieden war, sondern daß die Beamten dieses Bureaus am vorigen Abend ein mit einem Siegel verschlossenes, am Kopfe mit vielen Nummern versehenes Blatt erhalten hatten, das sie anwies, an demselben Morgen des 28. April 9 Uhr drei Angeklagte, zwei Frauen und einen Mann, jeden getrennt, nach dem Justizgebäude zu bringen, und zwar behufs ihrer Aburteilung. Dieser Anweisung zufolge trat am 28. April um 8 Uhr morgens ein alter Wärter in den düsteren und stinkenden Korridor der Frauenabteilung. Sofort eilte ihm die Aufseherin der Abteilung, ein Geschöpf von kränklichem Aussehen, das eine graue Nachtjacke und einen schwarzen Rock trug, entgegen und sagte:

»Sie wollen die Maslow holen?«

Dann ging sie mit dem Wärter auf eine der zahlreichen, auf den Korridor führenden Thüren zu. Der Wärter steckte mit, lautem Klirren einen dicken Schlüssel in die Thür, die beim Oeffnen einen noch gräßlicheren Gestank aus dem Gange entströmen ließ und rief dann:

»Maslow! Nach dem Justizgebäude!«

Damit schloß er die Thür, blieb unbeweglich stehen und wartete auf die Frau, die er gerufen hatte.

Einige Schritte weiter, auf dem Gefängnishofe, konnte man eine reinere und belebendere Luft atmen, die der Frühlingswind von den Feldern hereintrug. Doch in dem Gefängniskorridor war die Luft drückend und ungesund, es roch nach Theer, Feuchtigkeit und Fäulnis, und niemand konnte diese Luft einatmen, ohne sofort eine düstere Traurigkeit zu empfinden. Das fühlte auch die Aufseherin der Abteilung, so sehr sie auch an diese verpestete Luft gewöhnt war. Sie kam vom Hofe und verspürte, als sie den Korridor kaum betreten hatte, ein Gemisch von Unbehagen und Müdigkeit.

Hinter der Thür, im Zimmer der Gefangenen, herrschte große Aufregung; man hörte Stimmen, Gelächter und Schritte nackter Füße.

»Na, vorwärts, tummle dich!« rief der alte Wärter und öffnete von neuem die Thür.

Einen Augenblick später kam eine kleine, aber wohlgebaute, junge Frau schnell aus dem Zimmer. Sie trug einen grauen Leinenkittel über ihrer Nachtjacke und ihrem weißen Rock. An den Füßen hatte sie leinene Strümpfe und grobe Gefangenenschuhe. Ein weißes Tuch bedeckte ihren Kopf und ließ einige Locken sorgfältig frisierter schwarzer Haare sehen. Auf dem ganzen Gesicht der Frau lag jene eigentümliche Blässe, die man nur bei Personen bemerkt, die sich lange Zeit in einem geschlossenen Raum aufgehalten haben. Noch um so mehr trat in der matten Blässe der Haut der Glanz der beiden großen, schwarzen Augen hervor, von denen eines ein bißchen schielte; das Ganze machte den Eindruck einer freundlichen Anmut. Die junge Frau hielt sich sehr gerade, so daß ihre starke Brust hervortrat.

Auf dem Korridor neigte sie leicht den Kopf und sah dem alten Aufseher fest in die Augen; dann blieb sie stehen und schien bereit, jedem Befehle zu gehorchen. Indessen schickte sich der Wärter an, die Thür wieder zu schließen, als sich diese noch einmal öffnete und das düstere Gesicht eines alten Weibes erschien. Dasselbe hatte weiße Haare und war barhäuptig. Die Alte begann leise auf die Maslow einzusprechen; doch der Wärter stieß sie schnell in die Stube zurück und schloß die Thür. Nun näherte sich die Maslow einem in der Thür angebrachten Guckfenster; und das Gesicht des alten Weibes zeigte sich sofort auf der andern Seite. Man hörte durch die Thür eine heisere Stimme:

»Gieb acht, und habe vor allen Dingen keine Furcht!

Leugne alles; halt‘ dich gut; das ist die Hauptsache!«

»Ah bah,« versetzte die Maslow kopfschüttelnd, »eins oder das andere, das ist alles eins! Es kann mir nichts Schlimmeres passieren, als was ich jetzt habe!«

»Na, gewiß ist es eins und nicht zwei,« sagte der alte Wärter, auf seine geistreiche Bemerkung äußerst stolz. »Na, vorwärts, folge mir!«

Der Kopf des alten Weibes verschwand von dem Guckfenster, und die Maslow betrat, mit leichtem Schritt hinter dem alten Wärter hergehend, den Korridor. Sie gingen die Steintreppe hinunter, an den stinkenden, lärmenden, Sälen der Männerabteilung vorbei, wo neugierige Blicke sie auf ihrem Wege durch die Thürluken beobachteten, und kamen endlich in das Gefängnisbureau. Dort standen bereits zwei Soldaten, mit dem Gewehr im Arm, die auf die Gefangenen warteten, um sie nach dem Gerichtsgebäude zu bringen. Der Aktuar schrieb etwas ein und übergab einem Soldaten ein stark nach Tabak riechendes Blatt Papier. Der Soldat steckte es in den Aermelaufschlag seines Mantels, blinzelte seinem Gefährten, auf die Maslow deutend, pfiffig zu und stellte sich zu ihrer Rechten, während der andere Soldat auf die linke Seite trat. So verließen sie das Bureau, gingen durch den äußeren Hof des Gefängnisses, durchschritten das Gitter und standen bald auf dem Straßenpflaster der Stadt.

Die Kutscher, Ladenbesitzer, Arbeiter und Beamte blieben unterwegs stehen und betrachteten neugierig die Gefangene. Mehrere dachten kopfschüttelnd: »Das kommt vom schlechten Lebenswandel, wenn man nicht so brav ist, wie wir!« Auch, die Kinder blieben stehen, doch in ihre Neugier mischte sich eine gewisse Angst, und sie beruhigten sich kaum bei dem Gedanken, daß die Verbrecherin ja von Soldaten bewacht wurde, so daß sie nicht mehr schaden konnte. Ein Bauer, der auf der Straße Kohlen verkaufte, trat auf sie zu, machte das Zeichen des Kreuzes und wollte dem Weibe eine Kopeke geben; doch die Soldaten litten es nicht, weil sie nicht wußten, ob es gestattet war.

Die Maslow bemühte sich, so schnell zu gehen, wie es ihre des Gehens ungewohnten Füße, die von den schweren Gefängnisschuhen noch mehr gehindert wurden, gestatteten. Ohne den Kopf zu bewegen, beobachtete sie die Leute, die sie beim Vorübergehen ansahen, und freute sich, der Gegenstand so großer Aufmerksamkeit zu sein; sie sog auch mit Behagen die sanfte Frühlingsluft ein, als sie aus der ungesunden Gefängnisatmosphäre kam. Als sie an einem Mehlladen vorüberkam, vor dem einige Tauben herumstolzierten, stieß sie an eine blaue Holztaube mit dem Fuße an. Der Vogel flatterte auf und berührte das Gesicht des jungen Weibes, das den Hauch seiner Flügel auf ihrer Wange spürte. Sie lächelte, stieß aber gleich darauf einen Seufzer aus, als ihr das Gefühl ihrer traurigen Lage wieder in den Sinn kam.

Fünfzehntes Kapitel

Bei seinem Erwachen durchlebte Nechludoff mit einem Schlage alles wieder, was ihm am vorigen Tage begegnet war, und von neuem bemächtigte sich seiner das Entsetzen. Trotzdem fühlte er sich entschlossener als je, das angefangene Werk fortzusetzen, unbekümmert um die Folgen. In dieser Gemütsverfassung begab er sich um neun Uhr morgens zu dem Vizegouverneur Maslinnikoff. Er wollte ihn um die Erlaubnis bitten, im Gefängnis nicht allein die Maslow, sondern auch den Sohn jener alten Frau zu sprechen, von dem die Maslow ihm erzählt hatte; und auch die Bogoduschoffska wollte er aufsuchen und zu diesem Zweck um die Erlaubnis nachsuchen.

Nechludoff kannte Maslinnikoff seit langer Zeit vom Regiment her, wo der zukünftige Vizegouverneur Zahlmeister gewesen war. Er war damals ein ehrenhafter und gewissenhafter Offizier, der in der Welt nichts weiter sah und sehen wollte, als sein Regiment und die kaiserliche Familie. Er hatte dann die Armee verlassen, um in die Verwaltung einzutreten, und zwar auf Drängen seiner Frau, einer sehr reichen und geschickten Person, die eine glänzende Versorgung für ihn im Civildienste im Auge hatte. Diese Frau machte sich über ihren Mann lustig und behandelte ihn wie einen kleinen dressierten Hund, Nechludoff hatte sie im vorigen Winter besucht, sie jedoch so uninteressant gefunden, daß er seitdem nicht wieder hingegangen war.

Er fand Maslinnikoff genau so wieder, wie er ihn stets gekannt. Es war, noch immer dasselbe dicke und nichtssagende Gesicht, dieselbe Korpulenz, dieselbe übertrieben elegante Kleidung.

Bei Nechludoffs Anblick geriet er vor Freude außer sich und rief:

Das lasse ich mir gefallen, das ist nett von dir, daß du gekommen bist. Ich werde dich zu meiner Frau bringen, das trifft sich wunderbar, ich habe gerade noch zehn Minuten vor der Sitzung Zeit. Mein Chef ist abwesend, und ich übe jetzt die Funktionen des Gouverneurs aus,« erklärte er eitel.

»Ich komme geschäftlich zu dir …«

»Wieso?« fragte Maslinnikoff und nahm plötzlich einen äußerst strengen Ton an.

»Also höre. In dem alten Regierungsgefängnis befindet sich eine Person, für die ich mich sehr interessiere, und ich möchte gern außer im gemeinsamen Sprechzimmer und außerhalb der gewöhnlichen Besuchsstunden mit ihr sprechen können. Man hat mir gesagt, das hänge von dir ab.«

»Natürlich, und es versteht sich von selbst, mein Lieber, daß ich dir nichts abschlage,« erwiderte der dicke Mann, indem er seine beiden Hände auf Nechludoffs Kniee legte. »Und was du von mir verlangst, ist durchaus nicht unmöglich, denn für den Augenblick bin ich Khalif.«

»Du kannst mir also ein Papier geben, auf Grund dessen ich sie jede Stunde sprechen kann?«

»Es ist eine Frau?«

»Ja, sie ist zur Zwangsarbeit verurteilt, aber ungerecht …«

» Ah! voilà bien les jurés, ils n’en font pas d’autres!« sagte Maslinnikoff, der plötzlich ohne die geringste Ursache französisch zu reden anfing.

»Ich weiß,« fuhr er fort, »wir haben in dieser Hinsicht verschiedene Meinungen. Doch was soll man dagegen thun, c’est mon opinion bien arrêtée! Du bist wohl immer noch liberal?«

»Ich weiß nicht, ob ich liberal bin oder nicht,« erwiderte Nechludoff, »doch ich weiß, daß unsere heutige Justiz mit allen ihren Fehlern doch besser als die frühere ist.«

»Du hast dich an einen Advokaten gewendet?«

»Ja, an Fajnitzin.«

Bei diesen Worten schnitt Maslinnikoff eine Grimasse. »Welch merkwürdiger Gedanke, sich gerade an den zu wenden!«

Der Vizegouverneur konnte es Fajnitzin nicht vergessen, daß er ihn gezwungen hatte, in einem Prozeß als Zeuge zu erscheinen, wo er ihn eine halbe Stunde lang vor dem ganzen Saale zur Zielscheibe seines Spottes gemacht.

»Ich hätte dir nicht geraten, dich mit dem zu befassen, c’est un homme taré

»Ich habe dich noch um etwas anderes zu bitten,« sagte Nechludoff, ohne scheinbar auf ihn zu hören. »Ich habe früher ein junges Mädchen, eine Erzieherin, gekannt … Die Unglückliche befindet sich heute ebenfalls im Gefängnis und hat mir sagen lassen, sie wünsche mich zu sprechen. Kannst du mir auch für sie eine Erlaubnis geben?«

»In welcher Sektion befindet sich deine Erzieherin?«

»Wie man mir gesagt hat, in der politischen.«

»Ja, siehst du, das Recht, die politischen Gefangenen zu besuchen, wird nur den Eltern gestattet. Doch höre, ich werde dir eine allgemeine Erlaubnis geben. Je sais que tu n’en abuseras pas. Und wie sieht deine Protégée aus? Jolie

»Gräßlich häßlich!«

Maslinnikoff schüttelte mißbilligend den Kopf, nahm einen Bogen Stempelpapier und fing an zu schreiben.

»Du sollst sehen, welche schöne Ordnung im Gefängnis herrscht … und es ist durchaus nicht bequem, da Ordnung zu halten, besonders jetzt, da die Säle überfüllt sind und wir viel Zuchthaussträflinge haben. Doch ich wache streng über alles, das interessiert mich sehr. Du wirst sehen, wie gut alles eingerichtet ist und wie alle zufrieden sind. Die Hauptsache ist, man muß diese Leute zu nehmen wissen. In der letzten Zeit hat einmal ein Fall von Insubordination stattgefunden; jeder andere hätte das an meiner Stelle als Meuterei angesehen und ein Unglück angerichtet, dagegen ist bei mir alles gut vorübergegangen. Vor allem muß man Nachsicht und Autorität zu gleicher Zeit besitzen, das ist alles.«

»Darauf verstehe ich mich nicht,« versetzte Nechludoff, »ich bin nur zweimal ins Gefängnis gegangen und muß dir gestehen, daß ich einen ganz kläglichen Eindruck davon empfangen habe.«

»Weißt du was, du solltest einmal die Gräfin Passek besuchen, ihr würdet euch wunderbar verstehen. Sie hat sich ganz und gar solchen Werken gewidmet. Elle fait beaucoup de bien Durch sie und auch durch mich, das kann ich ohne Unbescheidenheit gestehen, ist unser ganzes Gefängnissystem umgestaltet worden. Von den Greueln des alten Systems ist jetzt nichts mehr vorhanden, und die Gefangenen sind wirklich glücklich .. . Aber wie kannst du dich nur an Fajnitzin wenden? Ich kenne ihn nicht persönlich, unsere beiderseitigen socialen Beziehungen führen uns nicht zusammen, doch ich weiß aus sicherer Quelle, daß er ein Schafskopf ist. Ganz abgesehen davon, daß er sich vor Gericht Dinge zu sagen erlaubt …«

»Ich danke dir herzlich für deine Gefälligkeit,« sagte Nechludoff, nahm das Papier, das der Vizegouverneur eben für ihn geschrieben, und stand auf, um fortzugehen.

»Und jetzt komm‘ zu meiner Frau!«

»Das ist heute leider unmöglich, entschuldige mich bei ihr!«

»Sie würde mir nicht verzeihen, wenn ich dich hätte fortgehen lassen,« versetzte Maslinnikoff, während er seinen alten Kameraden bis zu den Stufen der Treppe begleitete, »na, komm‘ schon mit, bloß für eine Minute.«

Doch Nechludoff blieb unerbittlich, und Maslinnikoff rief ihm unten in vertraulichem Tone nach:

»Dann komm‘ aber jedenfalls Donnerstag, dann hat meine Frau » jour«; ich werde ihr deinen Besuch schon jetzt ankündigen.«

Mit diesen Worten kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück.

Sechzehntes Kapitel

Als Nechludoff von Maslinnikoff kam, ließ er sich direkt nach dem Gefängnis fahren. Er sagte den Aufsehern, er wolle mit dem Direktor sprechen, und wandte sich sofort dem Bureau dieses Beamten zu.

Wieder hörte er, genau wie beim eisten Mal, die Töne eines schlechten Pianos. Anstatt der »Rhapsodie« von Liszt spielte man jetzt eine Etüde von Clementi; doch es war noch immer derselbe übertriebene Eifer, dieselbe mechanische Fertigkeit, dieselbe Schnelligkeit.

Die Magd, welche öffnete, sagte, »der Hauptmann wäre zu Hause«, und führte ihn in einen kleinen, mit einem Divan, einem Tisch, drei Stühlen und einer ungeheuren Lampe ausgestatteten Salon. Einen Augenblick später erschien der Direktor selbst mit seinem müden, bekümmerten Gesicht.

»Meine Hochachtung, Fürst. Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte er, indem er seine Uniform zuknöpfte.

»Ich war beim Vizegouverneur und er hat mir diesen Erlaubnisschein gegeben,« versetzte Nechludoff. »Ich möchte die Maslow sprechen!«

»Die Markow?« fragte der Direktor, der infolge der Musik den Namen nicht verstehen konnte.

»Die Maslow!«

»Ach ja, ich weiß,« sagte er, erhob sich und ging zu der Thür, aus der die Rouladen Clementis kamen.

»Ich bitte dich, Marussja, höre wenigstens eine Minute auf,« sagte er; »man hört ja sein eigenes Wort nicht!«

Das Klavier verstummte, Stühle wurden ärgerlich fortgeschoben, und jemand öffnete die Thür, um einen müden Blick in den Salon zu werfen.

Augenscheinlich erleichtert, nahm der Direktor eine dicke Cigarette aus einem Etui und bot Nechludoff eine an.

»Kann ich die Maslow sprechen?«

»Was willst du hier?« fragte der Direktor ein kleines Mädchen von fünf bis sechs Jahren, das in den Salon geschlichen war und sich, ohne Nechludoff mit den Augen zu verlassen, bemühte, seinem Vater auf den Schoß zu klettern. – »Nimm dich in acht, du wirst fallen,« fuhr er mit nachsichtigem Lächeln fort.

»Nun gut! Wenn es möglich ist, möchte ich Sie bitten, mir die Maslow vorführen zu lassen,« wiederholte Nechludoff.

»Die Maslow! Die können Sie leider heute nicht sprechen!«

»Weshalb nicht?«

»Hören Sie, das ist Ihre Schuld!« versetzte der Direktor mit leichtem Lächeln, »Fürst, glauben Sie mir, geben Sie ihr kein Geld mehr! Wenn Sie wollen, übergeben Sie es mir für sie; aber Sie haben ihr jedenfalls gestern welches gegeben, sie hat sich Schnaps verschafft – dieses Uebel werden Sie nie ausrotten, und heute ist sie vollständig betrunken, so daß sie Lärm gemacht hat.«

»Nun, und?«

»Infolgedessen hat man sie bestrafen müssen und in einen andern Saal überführt. Sie ist übrigens gewöhnlich eine ruhige Gefangene; doch ich bitte Sie, geben Sie ihr kein Geld mehr in die Hand! Wenn Sie diese Sorte so wie ich kennen würden!«

»Aber könnte ich vielleicht die Bogoduschoffska von der politischen Abteilung sprechen?«

»Gewiß!«

Der Direktor nahm sein kleines Mädchen beim Arm, schob es sacht hinaus und stand auf, um Nechludoff nach dem Gefängnis zu führen.

Er hatte noch nicht seinen Mantel im Vorflur angezogen, als sich schon wieder die Rouladen Clementis hören ließen.

»Sie war im Conservatorium; aber es haben Unruhen stattgefunden, und man hat einzelne Schüler entlassen!« sagte der Direktor, während sie die Treppe hinuntergingen. »Sie hat Anlage und möchte in den Konzerten spielen!«

Nechludoff und der Direktor wandten sich dem Bureau zu. In dem Korridor kamen ihnen vier Sträflinge mit Eimern in den Händen entgegen, und Nechludoff sah, wie sie zitterten, als sie den Direktor bemerkten. Namentlich einer von ihnen senkte den Kopf und machte ein böses Gesicht, während es in seinen schwarzen Augen aufleuchtete.

»Gewiß muß das Talent ermutigt werden, und man hat kein Recht, es zu beeinträchtigen; doch in einer kleinen Wohnung, wie der unsrigen, ist dieses Klavier, das nie aufhört, oft störend,« fuhr der Direktor fort, ohne auf seine Gefangenen zu achten, während er Nechludoff in den großen Saal führte.

»Wie heißt die Gefangene, die Sie sprechen wollen?«

»Bogoduschoffska!«

»Sie ist im andern Gebäude bei den Politischen. Sie müssen schon ein bißchen warten. Ich werde sie holen lassen.«

»Könnte ich nicht inzwischen den Gefangenen Mentschoff sprechen, der wegen Brandstiftung verurteilt ist?«

»Er sitzt in seiner Zelle. Wollen Sie ihn dort sprechen?«

»Gewiß, das wird mich interessieren!«

»O, daran ist gar nichts Interessantes!«

In diesem Augenblicke trat der elegante Unterdirektor in den Saal.

»Führen Sie den Fürsten in Mentschoffs Zelle,« sagte sein Chef zu ihm, »und dann ins Bureau zurück. Ich werde inzwischen die Bogoduschoffska holen lassen.«

»Wollen Sie mir gefälligst folgen?« sagte der Unterdirektor mit liebenswürdigem Lächeln zu Nechludoff. »Sie interessieren sich für unser Gebäude?«

»Ja, vor allem aber interessiere ich mich für diesen Mentschoff, der an dem Verbrechen, dessen man ihn angeklagt hat, unschuldig sein soll.«

Der andere zuckte die Achseln und erwiderte ruhig, nachdem er Nechludoff aus Höflichkeit in einem stinkenden Korridor hatte vorangehen lassen, »Aber sie lügen auch oft … Bitte, nach Ihnen!«

Er ließ Nechludoff den ganzen großen Korridor durchschreiten und führte ihn durch eine eiserne Thür in einen zweiten, noch engeren, noch finsteren Gang, in dem es noch entsetzlicher stank.

Auf diesen Korridor führten zu beiden Seiten mit kleinen Guckfenstern versehene verschlossene Thüren. Dieser zweite Korridor war leer; nur ein alter Aufseher mit mürrischem und traurigem Gesicht ging darin auf und ab.

»Mentschoff? In welcher Zelle?«

»Zelle acht links!«

»Und alle diese Zellen sind bewohnt?« fragte Nechludoff.

»Alle, bis auf eine!«

Nechludoff näherte sich einer der Thüren und fragte seinen Gefährten:

»Darf ich hineinsehen?«

»Wie Sie wollen,« versetzte dieser mit seinem liebenswürdigen Lächeln und fing an, mit dem Aufseher zu plaudern.

Nechludoff zog den Deckel von dem Schiebefenster und blickte hinein. In der Zelle saß ein junger Mann von hoher Gestalt, der nur mit einem Hemde bekleidet war und hastig auf und ab ging. Als er Geräusch hörte, warf er einen Blick auf die Thür, zog die Stirn kraus und nahm seine Wanderung dann wieder auf.

Nechludoff blieb vor einer andern Zelle stehen, wo sein Blick dem seltsamen und beunruhigenden Blick eines großen schwarzen Auges begegnete. Schnell schloß er den Deckel wieder. In einer dritten Zelle sah er einen Mann, der mit bedecktem Kopfe zusammengekauert auf einem Bette schlief. In der folgenden Zelle saß ein Mann mit gesenktem Kopfe, die Ellenbogen auf die Kniee gestützt. Als er hörte, wie das Schiebefenster sich öffnete, hob der Mann den Kopf und drehte ihn mechanisch nach der Thür; doch sein ganzes blasses Gesicht und seine tiefliegenden hohlen Augen zeigten zur Genüge, daß es ihn wenig kümmerte, wer in seine Zelle sah.

Der Anblick dieses verzweifelten Gesichts flößte Nechludoff Furcht ein, und er ging direkt nach Mentschoffs Zelle.

Der Aufseher öffnete die doppelt verschlossene Thür, und Nechludoff bemerkte einen muskulösen jungen Mann, mit langem Halse, kleinem Knebelbart und gutmütigen, runden Augen, der an seinem Lager stand und mit erschrockener Miene schnell seine Jacke anzog.

»Hier ist ein Herr, der dich wegen deiner Sache fragen will,« sagte der Unterdirektor zu ihm.

»Ja, man hat mir von Ihnen gesprochen,« sagte Nechludoff, indem er in das Zimmer trat und sich an das Gitterfenster stellte. »Ich möchte aus Ihrem eigenen Munde den Bericht über das Vorgefallene hören.«

Mentschoff näherte sich ebenfalls dem Fenster und begann sofort seine Erzählung. Er sprach zuerst schüchtern, indem er unruhige Blicke auf den Unterdirektor warf; doch nach und nach wurde er mutiger, und als der Unterdirektor seine Zelle verließ, verschwand seine Schüchternheit ganz und gar. Er hatte die Sprache und Manieren eines ehrlichen und einfachen Bauern, und Nechludoff empfand ein seltsames Gefühl, als er diesen braven kleinen Muschik in Sträflingskleidern in einer düsteren Zelle sah. Der Gefangene erzählte, daß ihm der Schenkwirt seines Dorfes gleich nach seiner Heirat seine Frau geraubt hatte. Er hatte sich überall hingewendet, um Genugthuung zu erlangen, doch überall hatte der Schenkwirt die Behörden bestochen und war straflos ausgegangen. Eines Tages hatte Mentschoff seine Frau mit Gewalt nach Hause zurückgebracht, doch schon am nächsten Tage war sie ausgerückt. Nun war er wieder zu dem Schenkwirt gegangen und hatte seine Frau verlangt. Der Schenkwirt hatte ihm geantwortet, seine Frau wäre nicht bei ihm, und ihn dann fortgewiesen; er war aber nicht gegangen, und nun hatte ihn der Wirt mit Hilfe eines Arbeiters blutig geschlagen. Am nächsten Morgen hatte die Scheune des Wirtes Feuer gefangen, und man hatte Mentschoff und seine Mutter angeklagt. Doch Mentschoff hatte das Feuer nicht angelegt, denn er war an diesem Tage bei einem Freunde.

»Ist das auch wirklich wahr, daß du das Feuer nicht angelegt hast!«

»Ich habe nicht einmal daran gedacht, Ew. Excellenz; sicher hat der Hallunke das Feuer selbst angelegt. Man hat behauptet, er hätte seine Scheune versichert, und dabei hat man meine Mutter und mich angeklagt, wir hätten ihn mit der Brandstiftung bedroht. Allerdings habe ich ihn an dem Tage, an dem ich meine Frau zurückverlangte, geschimpft und bedroht, doch das Feuer habe ich nicht angelegt. Er hat es selbst gethan und uns nachher beschuldigt.«

»Ist das wahr?«

»So wahr ich vor Gott spreche, Excellenz. Haben Sie Mitleid mit mir,« sagte er und versuchte dabei, vor Nechludoff niederzuknieen, »hindern Sie es, daß ich ohne Grund umkomme.«

Von neuem zitterten seine Lippen, er fing an zu weinen und trocknete sich dann mit dem Aermel seines schmutzigen Hemdes die Augen.

»Sind Sie fertig?« fragte der Unterdirektor.

»Ja,« erwiderte Nechludoff, wandte sich dann zu Mentschoff und sagte:

»Na, verzweifle nicht, wir werden alles Mögliche thun.«

Mentschoff stand beim Eingang, so daß der Aufseher, als er die Thür schloß, ihn ins Innere zurückstoßen mußte; doch bis die Thür sich vollständig geschlossen hatte, blickte der Unglückliche noch immer durch den Spalt.

Der Unterdirektor ließ Nechludoff von neuem durch den großen Korridor gehen. Es war die Stunde des Mittagsmahles, und alle Saalthüren waren geöffnet. Aus einem der Säle kamen, als er vorüberging, mehrere Gefangene und stellten sich mit tiefen Verneigungen vor ihm auf.

»Wir flehen Sie an, Excellenz, sorgen Sie dafür, daß man etwas für uns thut.«

»Ich gehöre nicht zur Verwaltung, ihr irrt euch, ich kann nichts für euch thun.«

»Gleichviel,« versetzte eine unzufriedene Stimme, »Sie können mit einem von der Verwaltung über uns sprechen. Wir haben nichts verbrochen und seit zwei Monaten behält man uns hier.«

»Wieso, weshalb?« fragte Nechludoff.

»Man hat uns ins Gefängnis gesteckt, seit zwei Monaten sind wir hier und wissen selbst nicht, warum.«

»Das ist wahr, aber die Sache ist rein zufällig,« sagte der Unterdirektor. »Man hat alle diese Leute verhaftet, weil ihnen die Pässe fehlten, und sie sollten in ihre Gouvernements zurückgeschickt werden; doch dort ist das Gefängnis abgebrannt, und deshalb hat man uns gebeten, sie nicht fortzuschicken. Die von den andern Gouvernements sind fortgeschickt worden, doch diese hier mußten wir behalten.«

»Ist es möglich?« fragte sich Nechludoff, näherte sich der Thür und warf einen Blick in den Saal.

Eine Gruppe von etwa vierzig Männern, sämtlich in Gefängniskleidung, umstanden Nechludoff und den Unterdirektor. Mehrere erhoben gleichzeitig die Stimme, bis einer von ihnen, ein schon grauhaariger, kräftiger Bauer, das Wort ergriff, um im Namen seiner Gefährten zu sprechen. Er erklärte, man hätte sie ins Gefängnis gebracht, weil sie keine Pässe hätten. Sie hätten zwar Pässe, aber diese wären seit vierzehn Tagen abgelaufen.

»Wir sind alle Steinsetzer und gehören demselben Zuge an,« meinte er. »Wir wollten alle hier zusammen arbeiten, und man sagt uns, in unserm Gouvernement wäre das Gefängnis abgebrannt. Wir sind aber nicht schuld daran, wir haben es nicht angesteckt; um Gotteswillen, thun Sie etwas für uns.«

Nechludoff hörte diese Rede etwas zerstreut an, denn seine Aufmerksamkeit wurde unwillkürlich von einer ungeheuren großen Laus abgelenkt, die dem braven Steinsetzer aus den Haaren kroch und ihm über die Wangen lief.

»Ist es möglich?« sagte Nechludoff von neuem zu dem Unterdirektor.

»Was wollen Sie, das Gesetz befiehlt es einmal, sie in ihr Gouvernement zurückzuschicken.«

Der Unterdirektor hatte kaum ausgeredet, als ein kleiner Mann aus der Gruppe trat, das Wort ergriff, um sich bitter darüber zu beklagen, wie die Aufseher sie ohne Grund quälten.

»Aber man behandelt uns schlechter, als die Hunde,« erklärte er.

»Na, na, ihr dürft unsere Nachsicht aber auch nicht mißbrauchen,« sagte der Unterdirektor; »schweig‘, sonst weißt du …«

»Was soll ich wissen?« versetzte der kleine Mann verzweifelt; »haben wir das verdient?«

»Ruhe!« rief ein Aufseher, und der kleine Mann schwieg.

»Ist es möglich?« sagte sich Nechludoff, während er weiter über den Korridor schritt.

»Aber es sollte nicht gestattet sein, Unschuldige im Gefängnis zu behalten,« sagte er zu seinem Gefährten, als sie den Korridor verlassen hatten.

»Was wollen Sie dagegen thun? … und dann lügen diese Leute auch sehr viel; wenn man sie hört, sind sie alle unschuldig.«

»Aber diese hier sind doch wirklich unschuldig!«

»Nun, nehmen wir das bei diesen hier an, aber es ist eine ganz verrohte Sorte, ohne Strenge richtet man bei ihnen nichts aus. Wir haben hier schreckliche Taugenichtse, die sich gern auf uns stürzen möchten. So hat man gestern zwei bestrafen müssen …«

»Was nennen Sie »bestrafen«?«

»Man hat sie auf höheren Befehl gepeitscht.«

»Ich glaubte, die körperlichen Züchtigungen wären verboten.«

»Nicht bei den Gefangenen, denen man die Ehrenrechte genommen hat, bei diesen hat man sie nicht unterdrückt.«

Nechludoff erinnerte sich jetzt an die Scene, der er am vorigen Tage in dem großen Saale beigewohnt, und begriff, daß man, während er auf den Inspektor wartete, die Bestrafung vorgenommen. Ohne weiter auf den Unterdirektor zu hören oder sich nach ihm umzusehen, eilte er nach dem Bureau. Der Direktor befand sich dort, doch er war so beschäftigt gewesen, daß er ganz vergessen hatte, die Bogoduschoffska rufen zu lassen. Erst als er Nechludoff eintreten sah, erinnerte er sich seines Versprechens und sagte:

»Bitte tausendmal um Entschuldigung, werde die Gefangene gleich holen lassen, setzen Sie sich inzwischen ein wenig.«

Das Bureau bestand aus zwei Zimmern, von denen das erste sein Licht durch zwei schmutzige Fenster erhielt. Dieses erste Zimmer war fast leer, nur einige Aufseher befanden sich darin. In dem zweiten größeren Zimmer befanden sich etwa zwanzig Personen beiderlei Geschlechts, die in getrennten Gruppen auf Bänken an der Wand saßen und sich mit leiser Stimme unterhielten. An einem der beiden Fenster in der Ecke stand ein Tisch, und an diesem saß der Direktor, als Nechludoff eintrat. Er ließ ihn einen Augenblick Platz nehmen und begab sich in das andere Zimmer, um den Befehl zu geben, die Bogoduschoffska zu rufen. Seine Aufmerksamkeit wurde zuerst von einem jungen Manne im Jacketanzug erregt, der vor zwei auf der Bank sitzenden Personen, einem jungen Mädchen und einem Gefangenen, stand. Etwas weiter sah Nechludoff einen Greis mit blauer Brille, der eine junge Gefangene bei der Hand hielt und eifrig auf das hörte, was sie zu ihm sagte. Ein kleiner Junge mit nachdenklichem und furchtsamem Gesicht stand bei dem Greise und verließ ihn nicht mit den Augen. In einem Winkel hinter ihnen unterhielten sich zwei Liebende in fröhlichem Tone. Das elegant gekleidete junge Mädchen war eine hübsche Blondine von vornehmem Aussehen, während ihr Geliebter, ein Sträfling, ein schönes Gesicht mit scharfgeschnittenen Zügen hatte. Einige Schritte vom Tisch bemerkte Nechludoff eine schwarzgekleidete Frau in grauen Haaren, augenscheinlich eine Mutter, denn sie betrachtete eifrig einen jungen Schwindsüchtigen, und versuchte, mit ihm zu sprechen, ohne daß es ihr gelang, denn die Thränen erstickten sie. Der junge Mann knitterte und faltete mechanisch ein Blatt Papier zusammen, das er in der Hand hielt, und Nechludoff sah neben ihm ein reizendes junges Mädchen in einem grauen Kleide mit einer Pellerine auf den Schultern. Sie saß neben der weinenden Mutter und bemühte sich, sie zu trösten, indem sie ihr leise den Arm streichelte.

Während Nechludoff diese verschiedenen Gruppen neugierig betrachtete, näherte sich ihm neugierig der kleine Junge und fragte ihn mit seinem dünnen Stimmchen:

»Auf wen warten Sie denn?«

Nechludoff war zuerst über die Frage erstaunt, doch das nachdenkliche Gesicht des Kindes rührte ihn, und mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt erklärte er, er warte auf eine Dame.

»Ist das Ihre Schwester?« fragte der Kleine.

»Nein, meine Schwester ist es nicht, aber mit wem bist du denn hier?«

»Mit Mama, sie gehört zur politischen Abteilung,« erwiderte das Kind mit offenbarem Stolze.

»Maria Pawlowna,« rief der Direktor, »rufen Sie Kolja zurück,« und das schöne Mädchen, das zwei Schritte von Nechludoff saß, trat auf sie zu.

»Er hat Sie jedenfalls gefragt, wer Sie sind,« sagte sie zu Nechludoff mit leisem Lächeln. »Das ist so seine Art, er will immer alles wissen,« fuhr sie fort und lächelte dem Kinde so sanft und zärtlich zu, daß dieses und Nechludoff selbst dieses Lächeln unwillkürlich erwiderten.

»Ja, er fragte mich, weswegen ich gekommen wäre.«

»Maria Pawlowna, Sie haben nicht das Recht, mit Fremden zu sprechen, das wissen Sie doch,« sagte der Direktor.

»Gut, gut,« versetzte sie, nahm Koljas kleine Hand in die ihrige und kehrte zur Mutter des Schwindsüchtigen zurück.

»Wessen Sohn ist er?« fragte Nechludoff den Direktor.

»Der Sohn einer politischen Gefangenen, denken Sie sich, er ist im Gefängnis geboren.«

»Wirklich?«

»Ja, und jetzt geht er mit seiner Mutter nach Sibirien.«

»Und das junge Mädchen?«

»Verzeihen Sie, ich habe nicht das Recht, Ihnen alle diese Fragen zu beantworten; außerdem ist da auch die Bugoduschoffska.«

Thatsächlich trat die kleine, gelbe, magere Wera Bogoduschoffska mit ihrem behenden Schritt in das Zimmer.

»Ach, wie gut, daß Sie gekommen sind,« sagte sie und reichte Nechludoff die Hand, »Sie erinnern sich meiner doch noch, setzen Sie sich.«

»Ich erwartete nicht, Sie hier wiederzusehen.«

»O, ich befinde mich hier sehr wohl, so daß ich es mir gar nicht besser wünschen kann,« sagte Wera Efremowna.

Als Nechludoff sie fragte, weshalb man sie ins Gefängnis gebracht, begann sie eine ausführliche Erzählung, in der ihre eigenen Abenteuer viel weniger Platz einnahmen, als die Organisationen und Unternehmungen ihrer »Partei«, und in der die Fremdwörter »Propaganda«, »Organisation«, »Gruppen«, »Sektionen« und »Untersektionen« fortwährend wiederkehrten.

Nechludoff betrachtete ihren mageren Hals, ihre spärlichen und schlecht gekämmten Haare, ihre großen runden Augen und fragte sich, warum sie ihm das alles erzähle, und sich selbst dafür interessiere. Er beklagte sie, aber in ganz anderer Weise wie den Muschik Mentschoff, der ohne Grund in seine verpestete Zelle eingesperrt war. Er beklagte sie nicht wegen des Schicksals, das sie sich zugezogen, sondern wegen der augenscheinlichen Verwirrung, die in ihrem Kopfe herrschte. Die Unglückliche hielt sich für eine Heldin, und deshalb beklagte er sie am meisten.

Die Angelegenheit, von der Wera Efremowna ihm erzählen wollte, war ziemlich verwickelt. Eine Kameradin des jungen Mädchens, Namens Tschustoff, war vor fünf Monaten mit ihr verhaftet und eingekerkert worden, obwohl sie keiner »Untersektion« angehörte. Man hatte bei ihr nur Papiere und Bücher gefunden, die ihre Freunde in ihrem Zimmer abgestellt, und Wera Efremowna, die sich zum Teil an dieser Gefangennahme für verantwortlich erachtete, wollte Nechludoff, »der Beziehungen besaß«, bitten, sein Möglichstes zu thun, um die Freilassung der Tschustoff durchzusetzen. Was ihre eigene Geschichte betraf, so erzählte sie Nechludoff, daß sie sich nach Beendigung ihrer Studien als Hebeamme einer Sektion von »Volksbefreiern« angeschlossen, das »Kapital« von Karl Marx gelesen und den Entschluß gefaßt hatte, sich ganz dem »Fortschritt der Revolution« zu widmen. Zu Anfang war alles gut gegangen, man hatte Proklamationen erlassen und in den Minen Propaganda getrieben, doch eines Tages war eins der Mitglieder der Sektion verhaftet worden, die Polizei hatte bei ihm Papiere gefunden, und die ganze Sektion kam ins Gefängnis.

Nechludoff fragte sie, wer das schöne junge Mädchen wäre. Es war die Tochter eines Generals. Seit langer Zeit der revolutionären Partei angehörend, hatte sie sich schuldig erklärt, einen Revolverschuß auf einen Gensdarmen abgefeuert zu haben. Als die Polizei vor der Wohnung erschienen war, deren sich die Partei zu ihren Beratungen bediente, hatten die anwesenden Mitglieder die Thüre verbarrikadiert, um die dortliegenden Papiere verbrennen oder verstecken zu können. Doch die Polizei hatte die Barrikaden durchbrochen und wollte die Verschwörer verhaften, als einer von ihnen einen Revolverschuß abgefeuert hatte, der einen Gensdarmen tödlich verwundete. Man hatte sofort eine Untersuchung eingeleitet, um den Mörder zu entdecken, und das junge Mädchen hatte die Schuld auf sich genommen; obwohl sie nie einen Revolver in der Hand gehalten, so hatte man doch ihr Geständnis als vollgültig anerkennen müssen. Jetzt war sie zur Zwangsarbeit verurteilt und im Begriff, nach Sibirien abzureisen.

»Eine sehr interessante Persönlichkeit, und in hohem Grade altruistisch,« sagte Wera Efremowna, ihre Erzählung beendend.

Er mußte jetzt noch erfahren, was Wera Efremowna ihm hinsichtlich der Maslow mitzuteilen hatte, und wagte endlich, sie danach zu fragen. Das junge Weib kannte, wie das ganze Gefängnis, die Geschichte der Maslow, und war von dem Interesse unterrichtet, das ihr Nechludoff entgegenbrachte. Sie wollte ihm raten, es doch durchzusetzen, daß sein Schützling zum Krankendienst versetzt wurde, wo man Hilfskräfte brauchte; vom moralischen Standpunkte aus, wie auch von jedem anderen wäre sie dort besser aufgehoben, als in ihrer Abteilung.

Die Unterredung wurde von dem Direktor unterbrochen, welcher sich erhob und erklärte, die Besuchsstunde wäre vorüber. Nechludoff nahm von Wera Efremowna Abschied, um zu gehen, blieb aber neugierig auf der Thürschwelle stehen. Die Bemerkung des Direktors hatte keine andere Wirkung, als die Unterhaltung lebhafter zu gestalten, ohne daß jemand Miene machte, fortzugehen. Bald aber begann der Abschied, und mit ihm das Schluchzen und die Thränen. Namentlich die Mutter des jungen Schwindsüchtigen schien außer sich zu sein. Ihr Sohn zerknitterte das Blatt Papier noch immer zwischen seinen Fingern, und sein Gesicht nahm fast einen boshaften Ausdruck an. Die Mutter lehnte das Haupt an die Schulter des jungen Mannes und brach wie ein kleines Kind in Thränen aus.

Das schöne junge Mädchen stand vor der betrübten Mutter und sprach noch immer tröstend auf sie ein. Der Greis mit der blauen Brille behielt die Hand des Mädchens in der seinen und nickte zu dem, was sie sagte, mit dem Kopfe. Die beiden Liebenden waren aufgestanden und blieben unbeweglich einander gegenüber stehen, ohne ein Wort zu sprechen.

»Die sind wenigstens glücklich,« sagte der junge Mann im Jacket, der ebenfalls stehengeblieben war und der Scene beiwohnte, zu Nechludoff.

»Sie verheiraten sich hier in der nächsten Woche im Gefängnis, und in einem Monat reist sie mit ihm nach Sibirien ab,« fuhr er fort.

»Und was ist er?«

»Er ist zur Zwangsarbeit verurteilt … die sind wenigstens heiter, aber das ist zu entsetzlich anzuhören,« fügte der junge Mann hinzu, und machte Nechludoff auf das heftige Schluchzen aufmerksam, das der Greis mit der blauen Brille jetzt ausstieß.

»Vorwärts, meine Herren, ich bitte Sie,« rief jetzt der Direktor, »was soll denn das heißen? Die Stunde ist doch schon längst vorüber. Ich sage es Ihnen nun zum letztenmal,« fügte er nach einer Pause hinzu, stand auf, setzte sich wieder, that einen Zug aus seiner Cigarette, ließ sie ausgehen und steckte sie wieder von neuem an.

Endlich trennten sich Gefangene und Besucher; die einen wandten sich der Hintertür zu, die andern der großen Pforte, die in das Nebenzimmer führte.

»Ja, das sind merkwürdige Scenen,« sagte der junge Mann im Jacket, der augenscheinlich gern plauderte, zu Nechludoff. »Glücklicherweise ist der »Hauptmann« noch ein braver Mann und hält sich nicht an das Gefängnisreglement. Anderswo ist es ein wahres Martyrium, das sagt jeder.«

»Werden diese Besuche denn in den anderen Gefängnissen nicht in derselben Weise abgehalten?«

»Ach, nichts dergleichen; man kann die politischen Gefangenen höchstens durch zwei Gitter sehen, genau so, wie die schweren Verbrecher.«

Am Fuße der Treppe wurde Nechludoff durch den Direktor von seinem Begleiter getrennt; der Beamte nahm ihn beiseite und sagte zu ihm mit seiner müden Stimme:

»Sie können die Maslow also morgen sehen, wenn Sie wollen, Fürst!«

»Besten Dank!« versetzte Nechludoff und verließ das Gefängnis. Er empfand ein noch stärkeres Gefühl des Widerwillens und des Schreckens, als er es am vorigen Sonntag empfunden, da er die Korridore des Gefängnisses zum erstenmale betrat.