Die Geschichte der Maslow war höchst alltäglich.
Sie war das natürliche Kind einer Bäuerin, die ihrer Mutter in einem Schlosse beim Viehhüten half. Die Bäuerin, die nicht verheiratet war, brachte jedes Jahr ein Kind zur Welt; und wie es in solchem Falle oft passiert, wurden die Kinder sofort nach der Geburt getauft; ihre Mutter nährte sie nicht, weil sie unerwünscht zur Welt gekommen war und ihr bei ihrer Arbeit nur lästig fielen; deshalb starben die armen Kleinen auch bald vor Hunger.
Fünf Kinder waren schon auf diese Weise dahingegangen. Alle waren gleich nach der Geburt getauft worden, die Mutter nährte sie nicht, und sie waren gestorben. Das sechste Kind, das von einem herumziehenden Zigeuner stammte, war ein Mädchen; deshalb wäre ihr aber doch dasselbe Schicksal, wie den fünf ältesten, beschieden gewesen, hätte es der Zufall nicht gefügt, daß eine der beiden alten Damen, denen das Schloß gehörte, einen Augenblick in den Kuhstall trat, um ihre Mägde wegen der Sahne, die nach der Kuh schmeckte, auszuschelten. Im Kuhstall lag die Wöchnerin an der Erde und neben ihr ein schönes, lebensfähiges, gesundes Kind. Die alte Dame schalt die Mägde, weil sie die Sahne so schlecht zubereitet und eine Wöchnerin in den Kuhstall gelassen hatten; als sie aber das Kind bemerkte, ward sie milder und erbot sich sogar, Patenstelle zu vertreten. Dann empfand sie Mitleid mit dem kleinen Mädchen, ließ der Mutter Milch und etwas Geld verabreichen, damit sie es nähren sollte, und so blieb das Kind am Leben. Daher nannten sie die beiden alten Damen auch »die Gerettete«.
Das Kind war drei Jahre alt, als seine Mutter krank wurde und starb, und da die alte Großmutter nichts mit ihm anzufangen wußte, so nahmen es die beiden alten Damen zu sich ins Schloß. Es war mit seinen großen schwarzen Augen ein außergewöhnlich lebhaftes und niedliches Kind; und die beiden Alten hatten Wohlgefallen an ihm. Die jüngere der beiden, die auch die nachsichtigere war, hieß Sophie Iwanowna; das war des Kindes Pate. Die ältere, Marie Iwanowna, hatte mehr Anlage zu Strenge. Sophie Iwanowna putzte die Kleine, brachte ihr das Lesen bei und dachte, eine Gouvernante aus ihr zu machen. Marie Iwanowna dagegen wollte eine Magd, eine hübsche Kammerzofe aus ihr machen; infolgedessen war sie anspruchsvoller, gab dem Kinde Befehle und schlug es manchmal, wenn sie schlechter Laune war. So wuchs die Kleine unter der Einwirkung dieses Doppeleinflusses auf und wurde halb eine Kammerzofe, halb ein Fräulein. Selbst der Name, den man ihr gab, paßte zu diesem Zwitterzustand; man nannte sie weder Katja, noch Katenka, sondern Katuscha. Sie nähte, brachte die Stuben in Ordnung, reinigte die Heiligenbilder mit Kreide, servierte ben Kaffee, wusch die seine Wäsche und durfte ihren Gebieterinnen manchmal Gesellschaft leisten und vorlesen.
Man hatte wiederholt um sie angehalten, doch sie hatte stets Körbe ausgeteilt; verhätschelt, wie sie von dem ruhigen Schloßleben war, fühlte sie, es würde ihr schwer fallen, mit einem Arbeiter oder einem Diener zu leben.
So hatte sie bis zu ihrem siebzehnten Jahr gelebt. Sie trat in ihr neunzehntes, als ein Neffe der beiden Damen ins Schloß kam, der schon vorher einen ganzen Sommer bei seinen Tanten zu gebracht. In ihn hatte sich das junge Mädchen wahnsinnig verliebt. Er war Offizier und wollte sich ein paar Tage ausruhen, bevor er mit seinem Regiment in den Krieg gegen die Türken zog. Am dritten Tage, am Abend vor seinem Fortgange verführte er Katuscha, und zog am nächsten Morgen fort, nachdem er ihr einen Hundertrubelschein zugesteckt.
Seit diesem Augenblick wurde ihr alles lästig; sie dachte nur noch daran, wie sie der Schande, die sie erwartete, entgehen konnte; selbst ihre Gebieterinnen bediente sie nachlässig und widerwillig. Die beiden alten Damen bemerkten ihren Zustand bald. Maria Iwanowna schalt sie ein-, zweimal aus; doch schließlich sahen sie sich, wie sie selbst sagten, gezwungen, »sich von ihr zu trennen,« d. h, sie warfen sie hinaus. Als sie sie verließ, trat sie als Mädchen für alles bei einem Stanowoj 1 in Dienst; doch hier konnte sie nur drei Monate bleiben, denn der Stanowoj, ein alter Mann von über 60 Jahren, begann ihr schon im zweiten Monat den Hof zu machen. Eines Tages, als er sich ganz besonders zudringlich zeigte, nannte sie ihn ein Vieh und einen alten Teufel, und wurde deshalb wegen Frechheit entlassen. Eine andere Stellung zu suchen, daran konnte sie nicht denken, deshalb ging sie in Pension zu einer ihrer Tanten, einer Witwe, die eine Kneipe hatte und außerdem Hebamme war. Ihre Entbindung ging leicht und glücklich von statten. Doch die Hebamme, die ins Dorf zu einer kranken Bäuerin gegangen war, steckte Katuscha mit dem Kindbettfieber an. Das Kind, ein kleiner Junge, wurde ebenfalls krank und in ein Krankenhaus gebracht, starb aber dort gleich unter den Augen der Frau, die ihn hingebracht hatte.
Katuschas ganzes Vermögen bestand in 127 Rubeln; 27, die sie sich verdient, und den 100 Rubeln, die ihr ihr Verführer gegeben hatte. Als sie von der Hebamme kam, blieben ihr sechs Rubel. Die Hebamme hatte ihr für ihre Pension auf zwei Monate 40 Rubel abgenommen; 28 Rubel hatte man für die Aufnahme des Kindes ins Hospital bezahlt; 40 Rubel hatte ihr die Hebamme noch als Darlehen abgenommen, um sich eine Kuh zu kaufen; was den Rest von 20 Rubel betraf, so hatte sie Katuscha, – sie wußte selbst nicht wie – in unnützen Einkäufen und Geschenken ausgegeben, so daß sie bei ihrer Genesung ohne Geld dastand und sich eine Stelle suchen mußte. Sie trat bei einem Forsthüter ein. Dieser Forsthüter war verheiratet; doch schon am ersten Tage begann er wie der Stanowoj der jungen Magd den Hof zu machen. Seine Frau bemerkte das bald, und als sie ihn eines Tages allein mit Katuscha in einem Zimmer traf, schlug sie ihr das Gesicht blutig und schickte sie fort, ohne ihr auch nur ihren Lohn zu bezahlen. Katuscha begab sich nun in die Stadt zu einer Base, deren Mann Buchbinder war; derselbe hatte früher gut dagestanden, aber er hatte seine Kundschaft verloren, war ein Trunkenbold geworden und gab alles Geld, das ihm in die Hände fiel, in der Kneipe aus. Seine Frau hatte eine kleine Plätterei, mit deren winzigem Verdienst sie ihre Kinder ernährte und ihren Trunkenbold von Mann erhielt. Sie machte Katuscha den Vorschlag, ihr Handwerk zu lernen. Doch als das junge Mädchen sah, welch‘ anstrengendes Leben die Wäscherinnen führten, die bei ihrer Base arbeiteten, zögerte sie und wandte sich wegen einer Stellung als Dienstmädchen an ein Vermietungsbureau. Sie fand thatsächlich eine Stellung bei einer verwitweten Dame, die mit ihren beiden Söhnen zusammen lebte. Noch ungefähr eine Woche, nachdem sie in dieses Haus eingetreten war, vernachlässigte der älteste Sohn, ein Gymnasiast der sechsten Klasse, der schon einen Anflug von Schnurrbart hatte, seine Studien, um ihr den Hof zu machen. Die Mutter schob alle Schuld auf das hübsche Dienstmädchen und entließ sie.
Es bot sich keine neue Stellung, und als Katuscha eines Tages ins Vermittlungsbureau kam, traf sie dort eine Dame, deren Hände mit Ringen und Armbändern überladen waren. Als diese Dame die Lage der jungen Person erfuhr, gab sie ihr ihre Adresse und forderte sie auf, sie zu besuchen. Die Maslow ging zu ihr. Die Dame empfing sie sehr liebenswürdig, regalierte sie mit Kuchen und süßem Wein und hielt sie bis zum Abend fest. Abends sah Katuscha einen großen Mann mit grauem Bart und langen grauen Haaren ins Zimmer treten, der sich sogleich zu ihr setzte und mit leuchtenden Augen und lächelnden Lippen sie zu examinieren und mit ihr zu scherzen begann. Die Dame nahm ihn im Nebenzimmer einen Augenblick beiseite, dann rief sie sie selber, und sagte ihr, der alte Herr wäre ein Schriftsteller, er hätte viel Geld, und würde ihr alles geben, was sie wollte, wenn sie ihm nur zu gefallen verstünde. Sie gefiel ihm thatsächlich, und der Schriftsteller gab ihr 25 Rubel und versprach, sie oft zu besuchen. Dieses Geld wurde übrigens schnell ausgegeben; Katuscha gab einen Teil ihrer Base als Bezahlung für ihre Pension; für den Rest kaufte sie sich ein Kleid, einen Hut und Bänder. Einige Tage darauf bestimmte ihr der Schriftsteller von neuem ein Rendezvous, zu dem sie auch kam; er gab ihr wieder 25 Rubel und veranlaßte sie, sich einzumieten. In dem Zimmer, das der Schriftsteller für sie genommen, machte die Maslow die Bekanntschaft eines Ladenkommis, eines lustigen Burschen, der in demselben Hofe wohnte. Sie verliebte sich in ihn, und gestand die Sache dem Schriftsteller, der sie sofort verließ; auch der Kommis, der ihr erst die Ehe versprochen, verließ sie bald. Die junge Person hätte gern weiter möbliert gewohnt, doch das wurde ihr nicht gestattet, und so kehrte sie denn zu ihrer Base zurück. Als diese sie in einem modernen Kleide, mit einem schönen Hut und einem Pelzmantel erblickte, empfing sie sie ehrfurchtsvoll und wagte gar nicht mehr, ihr vorzuschlagen, in ihre Plätterei einzutreten, sie glaubte, sie gehöre jetzt einer höheren Gesellschaftsklasse an. Was die Maslow übrigens selber betraf, so konnte für sie nicht mehr die Rede davon sein, in eine Plättanstalt einzutreten. Sie ging höchstens darauf ein, sich vorläufig in dem Zimmer ihrer Base aufzuhalten, und betrachtete mit verachtungsvollem Mitleid das Zuchthausleben, das die Wäscherinnen führten, die da bei dreißig Grad Wärme, bei Winter wie Sommer geöffneten Fenstern bis zur Erschöpfung rieben und plätteten.
Die Maslow hatte sich schon lange Zeit das Rauchen angewöhnt, und in der letzten Zeit ihrer Beziehungen zu dem Kommis hatte sie immer mehr zu trinken angefangen, Der Wein übte seine Anziehungskraft auf sie aus, nicht allein, weil er ihr angenehm schmeckte, sondern vor allem auch, weil er ihr eine Ablenkung bot, und die Stimme des Gewissens zum Schweigen brachte; denn nüchtern langweilte sie sich und schämte sich oft. Die Maslow hatte die Wahl zwischen einer demütigenden Dienstbotenstellung, in der sie aller Wahrscheinlichkeit nach die Nachstellungen der Männer zu erdulden hatte, und einer sicheren, ruhigen, vom Gesetz sogar geschützten Position.
Sie wählte das letztere, und hatte außerdem noch die Empfindung, sie räche sich auf diese Weise an dem Fürsten, der sie verführt, dem Kommis und allen Männern, über die sie sich zu beklagen hatte. Vor allem aber lockte sie – und das trug hauptsächlich zu ihrem Entschlusse bei – der Gedanke, daß sie sich von jetzt ab alle Kleider bestellen konnte, die ihr gefielen, aus Samt, Faille und Seide, wie auch Ballkleider, die Schultern und Arme frei ließen. Als sich die Maslow in Gedanken in einem dekolletierten, hellgelben Seidenkleid mit schwarzen Samtaufschlägen sah, konnte sie der Versuchung nicht länger widerstehen.
Von diesem Tage an begann für sie dieses Leben beständiger Verletzung der göttlichen und menschlichen Gesetze, das Hunderttausende von Frauen heute, nicht allein mit der Erlaubnis, sondern sogar unter dem tatsächlichen Schutze einer für das Wohlergehen ihrer Untergebenen besorgten gesetzlichen Macht führen; dieses herabwürdigende und ungeheuerliche Leben, das nach schrecklichen Leiden unter neun von zehn Malen mit einem vorzeitigen Verfall und Tod endet.
Die Maslow führte dieses Leben über sechs Jahre. Im siebenten Jahre – sie zählte damals 26 Jahre – vollzog sich das Ereignis, infolgedessen sie verhaftet wurde, und das sie nach einer mehrmonatlichen Untersuchungshaft in Gesellschaft von Geschöpfen, deren Beruf der Diebstahl und Mord war, vor die Geschworenen brachte.