Sechstes Kapitel

In dieser Gemütsverfassung befand sich Nechludoff, während er im Geschworenenzimmer die Wiederaufnahme der Sitzung erwartete. Er sah am Fenster, hörte kaum auf die Unterhaltungen seiner Kollegen und rauchte unaufhörlich Cigaretten.

Der Obmann der Geschworenen gab Erklärungen ab, aus denen man schließen konnte, der ganze Knotenpunkt der Sache ruhe auf den gerichtlichen Sachverständigen. Peter Gerassimowitsch scherzte mit dem jüdischen Kommis, und alle beide lachten laut.

Als der Gerichtsdiener mit seinem hüpfenden Gange in das Zimmer trat, um die Geschworenen wieder hereinzurufen, empfand Nechludoff ein Gefühl der Angst, als sollte er nicht urteilen, sondern abgeurteilt werden. Im Grunde seines Herzens war er sich jetzt klar, daß er ein erbärmlicher Mensch war, der den andern nicht ins Gesicht sehen durfte. Trotzdem war die Kraft der Gewohnheit so stark in ihm, daß er mit dem sichersten Schritte wieder auf die Estrade stieg und seinen Sessel in der ersten Reihe, ganz in der Nähe des Präsidenten, wieder einnahm; darauf kreuzte er ruhig seine Beine und fing an, mit seinem Pincenez zu spielen. Auch die Angeklagten waren aus dem Saale geführt worden, und wurden jetzt wieder hereingebracht.

Neue Gestalten erschienen auf der Estrade; das waren die Zeugen; Nechludoff bemerkte, daß Katuscha eifrige Blicke aus eine dicke, in Samt und Seide gekleidete Dame warf, die einen großen Hut mit riesigen Bändern trug. Diese Dame saß in der ersten Zeugenreihe und hielt einen höchst eleganten Beutel in der Hand. Das war, wie Nechludoff bald darauf erfuhr, die Wirtin des öffentlichen Hauses, in welchem die Maslow arbeitete.

Man nahm nun den Zeugenaufruf vor und fragte dieselben nach ihrer Religion, Vornamen, Namen und so weiter und so weiter. Als man sie dann gefragt, ob sie unter ihrem Eide oder nicht vernommen werden wollten, erschien der alte Pope mit mühsamen Schritten wieder auf der Estrade; von neuem wandte sich der Greis, indem er das auf seiner Brust hängende Kreuz tätschelte, dem Kruzifix zu, wo er den Zeugen und den Sachverständigen den Eid abnahm, immer mit derselben Ruhe und in derselben Ueberzeugung, er übe eine ungeheuer ernste und nützliche Thätigkeit aus.

Als diese Ceremonie beendet war, ließ der Präsident alle Zeugen hinausgehen, mit Ausnahme der dicken Dame, einer Frau Kitajeff, welche aufgefordert wurde, alles zu sagen, was sie über die Vergiftungsgeschichte wüßte. Mit affektiertem Lachen, wahrend sie den Kopf bei jedem Satze hin- und herwiegte, erzählte die Dame mit stark ausgesprochen deutschem Accent sorgfältig und ausführlich, wie der reiche sibirische Kaufmann Smjelkoff zum erstenmal in ihr Haus gekommen war, und wie er schließlich, weil er nicht genügend Geld bei sich hatte, die »Lubka« in das Hotel geschickt, in welchem er wohnte.

»Möchte die Zeugin uns ihre Meinung über die Maslow sagen?« fragte der Verteidiger der letzteren, ein junger Mann, der sich dem Beamtenstande zuwenden wollte, und den das Gericht zum Offizialverteidiger der Angeklagten bestimmt, die Frau Kitajeff.

»Meine Meinung über sie ist die denkbar beste,« versetzte Frau Kitajeff. »Sie ist eine junge Person von ausgezeichneten Manieren, die viel »Chik« besitzt, ist in einer vornehmen Familie erzogen worden und kann sogar französisch. Sie trank wohl manchmal ein bißchen zu viel, hat sich aber nie eine einzige Minute vergessen.«

Katuscha sah Frau Kitajeff noch immer an, richtete die Blicke dann auf die Geschworenen, besonders auf Nechludoff, der in demselben Augenblick einen ernsten, fast strengen Ausdruck annahm. Lange Zeit blieben diese beiden Augen mit ihrem seltsamen Ausdruck auf Nechludoff gerichtet, und trotz seines Entsetzens konnte er die seinigen nicht von ihnen abwenden. Er dachte wieder an jene für sein Leben ausschlaggebende Nacht, an das Krachen des Eises auf dem Flusse, den Nebel und den abnehmenden Mond, der gegen Morgen aufgegangen war und etwas Düsteres und Schreckliches beleuchtet hatte.

»Sie hat mich erkannt!« dachte er und erhob sich unwillkürlich auf seinem Sessel.

Thatsächlich hatte sie ihn aber gar nicht erkannt, denn sie stieß einen leisen Seufzer aus und wandte ihre Augen dem Präsidenten zu. Auch Nechludoff seufzte und dachte: »Ach, es wäre besser gewesen, wenn sie mich gleich erkannt hätte!«

Er hatte eine Empfindung, wie er sie manchmal auf der Jagd gehabt, wenn er einen verwundeten Vogel vollends tot geschossen; der verwundete Vogel zappelt in der Jagdtasche, er thut einem leid, man zögert und möchte ihm doch so schnell wie möglich den Garaus machen.

Gefühle dieser Art erfüllten in dieser Stunde die Seele Nechludoffs, während er auf die Zeugenaussagen hörte.

Wie absichtlich zog sich die Sache in die Länge. Nachdem man alle Zeugen und den Sachverständigen verhört, und der Staatsanwalt und die Verteidiger wie üblich mit der wichtigsten Miene von der Welt eine Reihe unnützer Fragen, gestellt, forderte der Präsident die Geschworenen auf, von den Beweisstücken Kenntnis zu nehmen, die in etwa zehn Pokalen, dem Filter, mit dem man das Gift untersucht, und einem ungeheuer großen Ringe mit einer Brillantrose, der wohl auf einem Zeigefinger von ungewöhnlicher Dicke gesteckt haben mußte, bestanden. Alle diese Gegenstände waren versiegelt und mit einem Etikett versehen. Die Geschworenen wollten sich bereits von ihren Sitzen erheben, um die Gegenstände zu prüfen, als der Staatsanwalt aufstand und um die Verlesung der an dem Leichnam des verstorbenen Smjelkoff vorgenommenen ärztlichen Untersuchung bat.

Der Präsident, der die Sache so viel wie möglich beeilte, wußte recht wohl, daß die Verlesung dieser Dokumente keine andere Wirkung hatte, als eine allgemeine Langeweile herbeizuführen. Er wußte, daß der Staatsanwalt die Verlesung nur forderte, weil er das Recht dazu hatte. Er wußte aber ebenso, daß er sich dem nicht widersetzen konnte, und so ordnete er denn die Verlesung an. Der Aktuar nahm Papiere zur Hand und begann mit seiner einschläfernden Stimme zu lesen.

Aus der Prüfung der Leiche ging folgendes hervor:

1. Die Größe des Ferapont Smjelkoff betrug zwei Arschin zwölf Werschoks.

»Ein kräftiger Bursche!« flüsterte der Kaufmann Nechludoff ins Ohr.

2. Das Alter mußte, soweit man nach äußerlicher Prüfung beurteilen konnte, ungefähr 40 Jahre betragen.

3. Der Leichnam war stark angeschwollen.

4. Die Adern waren grünlich und stellenweise schwarz gefleckt.

5. Die Haut hatte sich von der ganzen Oberfläche des Körpers abgelöst und hing an mehreren Stellen herunter.

6. Die sehr dichten, dunkelroten Haare lösten sich bei der geringsten Berührung des Fingers von der Haut. 7. Die Augen traten aus den Höhlen, und die Hornhaut war matt.

8. Aus den Nasenlöchern, der beiden Ohren und dem Munde floß ein eitriger Schaum.

9. Der Leichnam hatte infolge der Anschwellung des Gesichtes und der Büste fast gar keinen Hals.

In dieser Weise wurde der aufgedunsene Leichnam des lustigen Smjelkoff vier Seiten lang auf 27 Punkten weiter beschrieben, und als die Verlesung der äußeren Untersuchung endlich beendet war, stieß der Präsident einen Seufzer der Erleichterung aus und erhob den Kopf; doch sofort begann der Aktuar ein zweites Dokument zu lesen; das Protokoll über die innere Untersuchung.

Der Präsident ließ den Kopf von neuem zurücksinken, lehnte sich auf den Tisch und legte die Hände vor die Augen. Der Kaufmann neben Nechludoff machte gewaltige Anstrengungen, um den Schlummer zu unterdrücken, und ließ von Zeit zu Zeit den Kopf sinken; selbst die Angeklagten und die unbeweglich dasitzenden Gendarmen überfiel die Schlaflust.

Die innere Untersuchung der Leiche hatte ergeben:

1. Die Haut der Schädelhöhle hatte sich ohne Spur von Bluterguß von den Knochen gelöst.

2. Die Schädelknochen waren normal und unberührt.

3. Auf dem Gehirn befanden sich zwei kleine Flecken von etwa 4 Zoll Größe u.s.w. . . Dann folgten noch 13 Punkte derselben Art.

Es folgten nun die Namen der bei der Untersuchung anwesenden Zeugen und endlich die Schlußfolgerungen des Gerichtsarztes, welcher erklärte, aus den im Magen und in den Eingeweiden des Kaufmanns Smjelkoff erfolgten Veränderungen gehe aller Wahrscheinlichkeit nach hervor, daß derselbe am Genuß eines gleichzeitig mit Branntwein getrunkenen Giftes gestorben war. Den Namen des Giftes zu nennen, war unmöglich; und daß das Gift gleichzeitig mit dem Branntwein genossen worden war, ging aus dem großen Quantum Branntwein hervor, das sich im Magen des Kaufmanns befunden hatte.

»Da sieht man, daß er tüchtig trank,« flüsterte der Kaufmann, der plötzlich wieder erwacht war, Nechludoff ins Ohr.

Die Verlesung dieser Protokolle hatte fast eine Stunde gedauert; doch der Staatsanwalt war unersättlich. Als der Aktuar die Folgerungen des Gerichtsarztes verlesen, sagte der Präsident, sich zu dem Staatsanwalt wendend: »Ich glaube, die Resultate der inneren Teile brauchen wir nicht zu verlesen!«

»Verzeihung, ich verlange die Verlesung!« sagte der Vertreter des öffentlichen Anklägers in strengem Tone, ohne den Präsidenten anzusehen und beugte sich leicht zur Seite.

Der Richter mit dem langen Bart spürte von neuem Magendrücken und fragte den Präsidenten:

»Weshalb diese Verlesung? Damit verlieren wir nur Zeit!«

Der Richter mit der goldenen Brille sagte nichts. Er starrte mit düsterer, verdrossener Miene vor sich hin, wie ein Mann, der weder von seiner Frau im besonderen, noch vom Leben im allgemeinen etwas Gutes erwartet.

Die Verlesung des Dokuments begann:

Am 15. Dezember 188.. haben wir Endesunterzeichnete, auf Befehl der medizinischen Inspektion, und auf Grund des Artikels…,« begann der Aktuar in entschlossenem Tone zu lesen, als wolle er seine eigene Schläfrigkeit und die des ganzen Saales besiegen – »in Gegenwart des Delegierten der oben erwähnten medizinischen Inspektion die Analyse der nachfolgenden Gegenstände vorgenommen:

1. Der rechten Lunge und des Herzens (in einem sechs Pfund fassenden Pokal befindlich).

2. Des Inhalts des Magens (in einem Sechspfund-Pokal befindlich).

3. Des Magens (in einem Sechspfund-Pokal befindlich).

4. Der Leber, der Galle und Milz (in einem Dreipfund-Pokal befindlich).

5. Der Eingeweide (in einem sechs Pfund fassenden Glaspokal befindlich).

Bei dieser Stelle flüsterte der Präsident erst dem einen, dann dem andern Beisitzer etwas ins Ohr. Nachdem er von beiden eine bejahende Antwort erhalten, machte er dem Aktuar ein Zeichen, mit der Verlesung aufzuhören, und erklärte:

»Der Gerichtshof hält diese Verlesung für unnötig!«

Der Aktuar schwieg sofort und legte die Blätter des Protokolls zusammen, während sich der Staatsanwalt mit zorniger Miene etwas notierte.

»Die Herren Geschworene» können jetzt von den Beweisstücken Kenntnis nehmen,« sagte der Präsident.

Eine große Anzahl der Geschworenen erhoben sich und näherten sich dem Tische, wo sie sich den Ring, die Pokale und den Filter ansahen. Der Kaufmann wagte es sogar, den Ring an den Finger zu stecken und sagte zu Nechludoff, während er wieder auf seinen Platz zurückging:

»Na, das ist ein Finger! So dick wie ’ne Gurke!«

Als die Geschworenen die Beweisstücke betrachtet hatten, erklärte der Präsident die Beweisaufnahme für geschlossen und erteilte sofort dem Staatsanwalt das Wort. Er sagte sich, auch der Staatsanwalt sei ein Mensch, auch er wolle sicherlich rauchen und essen und würde deshalb mit den Anwesenden Mitleid haben. Doch der Staatsanwalt hatte weder mit sich, noch mit den andern Mitleid. Dieser von Hause aus dumme Beamte hatte außerdem das Unglück, daß er das Gymnasium mit einer goldenen Medaille verlassen und später auf der Universität für seine Dissertation über »Die Knechtschaft im Römischen Recht« einen Preis erhalten hatte; deshalb war er im höchsten Grade eingebildet, eitel und selbstbewußt, wozu seine Erfolge bei den Frauen übrigens noch beigetragen hatten; und die Folge von all‘ dem war, daß seine natürliche Dummheit einen ungeheuren Umfang angenommen hatte.

Als der Präsident ihm das Wort erteilt, erhob er sich langsam, legte die Hände auf sein Pult, neigte den Kopf, warf einen langen Blick auf die Anwesenden, mit Ausnahme der Angeklagten und begann seine Rede, die er während der Verlesung der Protokolle entworfen:

»Der Ihrem Urteil unterbreitete Fall, meine Herren Geschworenen, bildet, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein ganz besonders charakteristisches Beispiel des Verbrechertums.«

Die Anklage des Staatsanwalts mußte wohl seiner Ansicht nach eine allgemeine Tragweite haben, und insofern den berühmten Reden gleichen, die den Ruhm der großen Advokaten begründet hatten. Seine Zuhörerschaft bestand zwar an diesem Tage nur aus Köchinnen, Näherinnen, Kutschern und Laststrägern, doch dieser Umstand konnte ihn nicht aufhalten. Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, sich stets, wie er sagte, »zum Gipfel der Fragen zu erheben«, aus jedem Vergehen die psychologische Bedeutung auszulösen und die soziale Wunde, die dieses Vergehen ausdrückte, bloßzulegen.

»Meine Herren Geschworenen, Sie sehen ein durch und durch typisches Verbrechen unserer Jahrhundertswende vor sich, das sozusagen alle spezifischen Züge des eigentümlichen moralischen Zersetzungsprozesses an sich trägt, der heute zahlreiche Elemente unserer Gesellschaftsklasse ergriffen hat …«

Der Staatsanwalt sprach in diesem Tone längere Zeit, Er hatte während seiner Rede vornehmlich zweierlei im Auge: erstens bemühte er sich, alle auf den Fall bezüglichen Thatsachen, große wie kleine, zu erwähnen; andererseits hielt er nicht eine Minute inne, so daß seine Rede ununterbrochen mindestens 1 1/4 Stunde dahinfloß. Einmal mußte er aber doch innehalten, weil er den Faden seiner Beweisführung verloren hatte; doch gleich darauf begann er von neuem und holte diese augenblickliche Störung durch doppelte Beredsamkeit wieder ein. Er sprach bald mit einschmeichelnder Baßstimme, bald in natürlichem, gesetztem Tone, bald mit begeisterter Donnerstimme. Nur den Angeklagten, die alle drei die Angen auf ihn richteten, ward nicht die Ehre eines Blickes zu teil. Seine Anklagerede strotzte von den neuesten Formeln, die in seinem Kreise Mode waren und damals für die höchste Wissenschaft galten, ja selbst heute noch dafür gelten. Es war darin von Erblichkeit, von angeborener Neigung zum Verbrechen, von Lombroso und Tarde, von Entwickelung, dem Kampf um’s Dasein, von Charcot und Entartung die Rede.

Der Kaufmann Smjelkoff war nach der Erklärung des Staatsanwalts der Typus des natürlichen, kraftstrotzenden Russen, der durch seine Vertrauensseligkeit und Freigebigkeit das Opfer höchst verrohter Geschöpfe geworden war, in deren Hände er gefallen war. Simon Kartymkin war das atavistische Produkt der alten Leibeigenschaft, ein unbeholfener Mensch, ohne Erziehung, ohne Grundsätze, ohne Religion. Euphemia Botschkoff, seine Geliebte, war ein Opfer der Erblichkeit; ihre körperliche Erscheinung und ihr moralischer Charakter wiesen alle Anzeichen der Entartung auf. Doch die Hauptanstifterin des Verbrechens war die Maslow, die den Typus der modernen sozialen Dekadenz in ihrer niedrigsten Form darstellte.

»Dieses Geschöpf,« fuhr der Staatsanwalt, ohne sie anzusehen, fort, »hat im Gegensatz zu ihren Mitschuldigen die Wohlthaten der Erziehung genossen. Wir haben eben gehört, daß die Angeklagte nicht nur lesen und schreiben kann, sondern sogar französisch spricht und versteht. Ein natürliches Kind, zweifellos mit einem atavistischen Makel behaftet, ist die Maslow in einer der vornehmsten Adelsfamilien erzogen worden; sie hätte recht gut von ehrenhafter Arbeit leben können; doch sie hat ihre Wohlthäter verlassen, um sich ganz und gar ihren bösen Instinkten zu überlassen, wobei sie auf ihre Verehrer jenen geheimnisvollen Einfluß ausübte, mit dem sich die Wissenschaft in der letzten Zeit beschäftigt und den die Schule Charcots so glücklich als geistige Suggestion erklärt hat. Tiefe Macht der Suggestion hat sie auf den ehrenhaften und naiven russischen Riesen ausgeübt, der ihr in die Hände gefallen ist, und dessen Gutmütigkeit sie mißbraucht, indem sie ihn zuerst seines Geldes, und dann seines Lebens beraubte!«

»Auf Ehrenwort, er faselt!« sagte der Präsident lächelnd, indem er sich zu dem strengen Richter wandte.

»Ein schrecklicher Dummkopf,« versetzte der strenge Richter.

»Meine Herren Geschworenen,« fuhr der Staatsanwalt inzwischen mit demütigem Kopfnicken fort, »in Ihren Händen ruht jetzt das Schicksal dieser drei Verbrecher und zum Teil auch das der Gesellschaft, denn Ihr Urteil hat die Bedeutung einer großen sozialen Handlung. Sie werden diesem Verbrechen auf den Grund gehen; Sie werden sich überzeugen, daß entartete, ja, ich darf wohl sagen, pathologische Elemente, wie die Maslow, eine Gefahr für die Gesellschaft bedeuten, und Sie werden die Gesellschaft vor der Ansteckung dieser Elemente bewahren. Sie werden die gesunden und kräftigen Elemente der Gesellschaft vor der Verpestung durch die krankhaften Elemente schützen!«

Von der sozialen Bedeutung des zu fällenden Urteils förmlich erdrückt, ließ sich der Staatsanwalt entzückt auf seinen Sessel zurückfallen. Der eigentliche Sinn seiner Anklage bestand unter der Fülle der umkleideten Stilblüten in der Behauptung, die Maslow hätte den Kaufmann hypnotisiert, sich seines ganzen Vertrauens bemächtigt und ihn ausgeplündert; da ihr Plan aber von Simon und Euphemia entdeckt wurde, so hätte sie mit diesen teilen müssen. Um dann die Spuren ihres Diebstahls zu verbergen, habe sie den Kaufmann gezwungen, mit ihr ins Hotel zurückzukehren, wo sie ihn vergiftet hatte.

Gleich nach der Anklagerede erhob sich auf der Bank der Verteidiger, ein kleiner Mann in mittleren Jahren, im Frack und tiefausgeschnittener Weste, und begann eine kräftige Rede zur Verteidigung Kartymkins und der Botschkoff. Es war ein vereideter Konsulent, und die beiden Angeklagten hatten ihm im voraus für sein Plaidoyer 300 Rubel gezahlt. Daher versäumte er auch nichts, um sie als unschuldig hinzustellen und schob die ganze Schuld auf die Maslow.

Er erklärte vor allem, die Behauptung der Maslow, Simon und Euphemia wären im Augenblick, da sie das Geld genommen, im Zimmer gewesen, für falsch. Diese Behauptung könnte keinen Wert haben, da sie von einer des Giftmords überführten Person stammte. Die von Simon in der Bank eingezahlten 1800 Rubel könnten sehr wohl die Ersparnisse zweier fleißiger und ehrlicher Dienstboten darstellen, die nach der Aussage des Hotelwirts 3–5 Rubel Trinkgeld täglich erhielten. Was das Geld des Kaufmanns betraf, so war es zweifellos von der Maslow gestohlen worden, die es jemandem gegeben oder verloren hatte, da sie, wie aus der Untersuchung hervorging, an jenem Abend betrunken gewesen. Auch im Punkte der Vergiftung wäre kein Zweifel möglich, die Maslow gab ja selbst zu, das Gift hineingeschüttet zu haben.

Infolgedessen bat er die Geschworenen, Kartymkin und die Botschkoff des Diebstahls für unschuldig zu erklären; sollten sie sie dessen jedoch schuldig finden, so bat er, sie von der Anklage des Giftmordes freizusprechen oder wenigstens die Ueberlegung auszuscheiden.

Schließlich bemerkte der Verteidiger Simons und Euphemias, »die glänzenden Bemerkungen des Herrn Staatsanwalts über den Atavismus, wären, so bedeutend sie auch vom wissenschaftlichen Standpunkte aus wären, bei diesem Falle nicht anwendbar, da die Botschkoff von unbekannten Eltern stamme.«

Der Staatsanwalt machte ein ärgerliches Gesicht, schrieb schnell etwas auf ein Stück Papier und zuckte verächtlich die Achseln.

Als sich der erste Verteidiger gesetzt, erhob sich der Verteidiger der Maslow und begann stotternd, in schüchternem Tone sein Plaidoyer.

Ohne zu leugnen, daß die Maslow an dem Diebstahl teilgenommen, beschränkte er sich auf die Behauptung, sie hätte nicht beabsichtigt, Smjelkoff zu vergiften und ihm das Pulver nur zum Einschläfern gegeben. Er wollte dann ebenfalls den Beredtsamen spielen, indem er ein Bild entwarf, wie seine Klientin durch einen unbestraft gebliebenen Mann, der sie verführt, zum Laster getrieben worden; doch dieser Ausflug in das Gebiet der pathetischen Psychologie glückte ihm nicht, und jeder hatte das Gefühl, daß er mißlungen war. Als er sich über die Grausamkeit der Männer und die untergeordnete soziale und gesetzliche Stellung der Frauen erging, forderte ihn der Präsident auf, bei den Thatsachen zu bleiben.

Der Advokat brachte sein Plaidoyer schnell zu Ende, und nach ihm ergriff der Staatsanwalt von neuem das Wort. Er wollte seine Ansichten über den Atavismus verteidigen und auf die gegen dieselben gerichtete Kritik antworten. Er erklärte, wenn auch die Botschkoff ein natürliches Kind wäre, der wissenschaftliche Wert der Theorie über den Atavismus würde dadurch keineswegs geschmälert; »denn,« sagte er, »diese Theorie ist von der Wissenschaft so klar festgestellt, daß wir jetzt vom Atavismus nicht nur das Verbrechen ableiten, sondern sogar auch vom Verbrechen auf den Atavismus schließen können.« Was die Behauptung des zweiten Verteidigers beträfe, die Maslow wäre angeblich von einem Verführer dem Laster zugeführt worden – er betonte das Wort » angeblich« mit ironischem Nachdruck – so ließen alle Angaben darauf schließen, daß stets sie die Verführerin der zahllosen Opfer gewesen war, die ihr der Zufall in die Hände gespielt. Darauf setzte er sich mit triumphierender Miene.

Der Präsident fragte nun die Angeklagten, ob sie etwas zu ihrer Verteidigung hinzuzufügen hätten, und Euphemia wiederholte zum letztenmale, sie hätte nichts gethan, wisse nichts und nur die Maslow wäre an allem schuld, während sich Simon auf die Worte beschränkte:

»Thut, was ihr wollt, ich bin unschuldig!«

Als die Maslow an die Reihe kam, sagte sie gar nichts, sondern richtete nur die Augen auf den Präsidenten und ließ sie wie ein gehetztes Wild durch den ganzen Saal schweifen; dann schlug sie sie wieder zu Boden und begann laut zu schluchzen.

»Was haben Sie?« fragte der Kaufmann seinen Nachbar Nechludoff, der eben einen merkwürdigen Schrei ausgestoßen, der eigentlich ein Schluchzen war. Doch Nechludoff war sich über seine neue Lage immer noch nicht klar, und schrieb dieses plötzliche Schluchzen, wie auch die Thränen, die ihm aus den Augen stürzten, seinen aufgeregten Nerven zu.

Als die Angeklagten gesagt, »was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hatten,« setzte man die Fragen auf, die den Geschworenen vorgelegt werden sollten, und der Präsident ging die Thatsachen noch einmal durch.

Er erklärte den Geschworenen ausführlich, daß der einfache Diebstahl nicht mit dem Einbruchsdiebstahl verwechselt werden dürfte, und die Entwendung eines Gegenstandes aus einem geschlossener Raum sorgfältig von der Entwendung aus einem offenen Raume getrennt werden müsse. Dann erklärte er, daß der Mord eine Handlung darstelle, aus der der Tod eines Menschen hervorginge, und daß die Vergiftung infolgedessen ein Mord sei. Darauf sagte er den Geschworenen, wenn der Diebstahl und der Mord vereint ausgeführt würden, so hätte ein sogenannter Raubmord stattgefunden.

Dabei vergaß der Präsident durchaus nicht, daß er Eile hatte, die Sache so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Doch er war an seinen Beruf so gewöhnt, daß er nicht mehr aufhören konnte, wenn er einmal zu sprechen anfing. Deshalb erklärte er den Geschworenen ausführlich, wenn ihnen die Angeklagten schuldig erschienen, so hätten sie das Recht, sie für schuldig zu erklären; erschienen sie ihnen dagegen als unschuldig, so hätten sie das Recht, sie für unschuldig zu erklären.

Als er ihnen dann aber noch auseinandersetzen wollte, daß sie, wenn sie eine der vorgelegten Fragen bejahten, auch die sämtlichen vorgelegten Fragen bejahen müßten, wenn sie aber nur einen Teil der oder jener Fragen bejahen wollten, sie dieselben sorgsam erläutern müßten, kam ihm der Gedanke, auf die Uhr zu sehen, und er bemerkte erschrocken, daß es schon 3 Uhr 5 Minuten war. Deshalb beeilte er sich, zum Kern der Sache zu kommen, und wiederholte noch einmal, was die Verteidiger, der Staatsanwalt und die Zeugen schon so oft gesagt hatten.

Während der Präsident sprach, sahen die beiden Beisitzer heimlich nach der Uhr und fanden, daß die Rede ein bißchen lang, aber doch vortrefflich, d. h. so wie sie sein mußte, war. Das war auch die Ansicht des Staatsanwalts, des ganzen Gerichtspersonals und sämtlicher Anwesenden.

Der Präsident hatte alles gesagt, was zu sagen war, doch er konnte sich noch immer nicht zum Schlusse entschließen, mit so großem Vergnügen hörte er die einschmeichelnden Laute seiner Stimme, und darum hielt er es für angemessen, den Geschworenen über die Bedeutung des Rechts, das das Gesetz ihnen einräumte, über die Weisheit und den Scharfsinn, mit dem sie sich dieses Rechts bedienen sollten, noch einige Worte zu sagen. Er sagte ihnen, sie wären das Gewissen der Gesellschaft, das Geheimnis ihrer Beratungen müsse gewahrt bleiben u. s. w. u. s. w.

Von dem Augenblick an, da der Präsident zu sprechen angefangen, hielt die Maslow die Augen auf ihn gerichtet, als fürchte sie, auch nur ein einziges seiner Worte zu verlieren. So konnte sie auch Nechludoff lange betrachten, ohne fürchten zu müssen, ihrem Blicke zu begegnen. Und er fühlte, wie das in ihm vorging, was bei jedem von uns vorgeht, wenn wir nach Jahren ein uns früher vertrautes Gesicht wiedersehen. Zuerst war er von den eingetretenen Veränderungen betroffen, doch nach und nach verwischte sich dieser Eindruck, und das Gesicht wurde wieder, wie es vor zehn Jahren gewesen. Sein geistiges Auge gewann die Oberhand über seine Sinne, und er sah nur noch die Hauptzüge, die die Individualität des jungen Weibes ausdrückten und die keine Veränderung hatte zerstören können.

Ja, trotz der Gefängniskleidung, trotz des stärker gewordenen Körpers, trotz der kräftig entwickelten Brust, trotz des dicken Gesichts, trotz der Runzeln an der Stirn und den Schläfen, trotz der Anschwellung der Lider und des gleichzeitig Mitleid erregenden und schamlosen Gesamteindrucks des Gesichts war es dieselbe Katuscha, die ihn in einer Osternacht mit ihren verliebten, glücklich lächelnden und lebensfreudigen Augen so unschuldig angeblickt!

»Und ein so wunderbarer Zufall! Gerade in der Session, in der ich Geschworener bin, muß dieser Fall zur Verhandlung gelangen, damit ich Katuscha, der ich seit zehn Jahren nie begegnet bin, hier auf der Anklagebank wiedersehe! Und wie wird das alles enden? Ach, wenn es doch überhaupt zu Ende ginge!«

Noch immer gab er nicht dem Gefühl der Reue nach, das sich nach und nach in ihm bildete und immer stärker wurde. Er sah darin nur einen einfachen Zufall, der ohne Störung seines Lebens vorübergehen würde. Und dabei erkannte er doch schon, wie gemein er gehandelt; er hatte die Empfindung, eine mächtige Hand führe ihm mit Gewalt seine Schuld vor; doch er wollte die wahre Bedeutung seiner That noch immer nicht sehen, und nicht verstehen, was diese Hand, die ihn vorwärts stieß, von ihm verlangte. Er wollte nicht glauben, daß es sein Werk war, was da vor ihm stand. Doch die unsichtbare Hand hielt ihn, schnürte ihn ein und schon ahnte er, sie würde ihn nicht mehr loslassen.

Er bemühte sich, kräftig zu erscheinen, kreuzte mit behaglicher Miene die Beine, spielte mit seinem Pincenez und behielt eine ruhige und natürliche Haltung bei, als er da in der ersten Zeugenreihe saß. Und dabei kam ihm doch schon während dieser Zeit die ganze Schmach nicht nur seines Verhaltens Katuscha gegenüber, zum Bewußtsein, nein, er erkannte auch die Schmach dieses unnützen, verrohten, boshaften und erbärmlichen Lebens, das er seit zwölf Jahren führte. Und der Vorhang, der ihm bis dahin die Infamie seines Verhaltens Katuscha gegenüber und die ganze Hohlheit seines Lebens verborgen, dieser Vorhang begann sich vor ihm zu lüften und ließ ihn das sehen, was er bis dahin bedeckt hatte.

Endlich beendete der Präsident seine Rede und übergab das Blatt, das die Liste der Fragen enthielt, dem Obmann der Geschworenen. Die Geschworenen erhoben sich und gingen im Gänsemarsch in das Beratungszimmer. Sobald sich die Thür hinter ihnen geschlossen hatte, stellte sich ein Gendarm vor diese Thür, zog seinen Säbel aus der Scheide und stellte sich als Schildwache auf. Auch die Richter erhoben sich und gingen hinaus, und die Angeklagten führte man ebenfalls hinaus.

Auch diesmal nahmen die Geschworenen, als sie in ihr Beratungszimmer traten, wie vorher Cigaretten und zündeten sie an. Das Bewußtsein ihrer falschen und unnatürlichen Lage, das alle mehr oder weniger deutlich empfunden, als sie im Gerichtssaal gesessen hatten, schwand vollständig aus ihrer Seele, sobald sie wieder frei waren und die Cigarette im Munde hielten, und sofort begann eine äußerst lebhafte Auseinandersetzung.

»Die Kleine ist nicht schuldig; sie hat sich ‚reinlegen lassen,« erklärte der brave Kaufmann. »Man muß mit ihr Mitleid haben!«

»Das werden wir untersuchen,« versetzte der Obmann, »Hüten wir uns, unsern persönlichen Eindrücken nachzugeben!«

»Der Präsident hat eine sehr schöne Rede gehalten,« bemerkte der Oberst.

»In der That sehr schön, aber wollen Sie glauben, daß ich fast eingeschlafen bin?«

»Die Hauptsache ist, die beiden Dienstboten konnten von dem Gelde des Kaufmanns nichts wissen, wäre die Maslow nicht mit ihnen im Einverständnis gewesen,« sagte der jüdische Kommis.

»Dann hätte sie also Ihrer Ansicht nach gestohlen?« fragte einer der Geschworenen.

»Das werde ich nie glauben,« rief der dicke Kaufmann; »diese Kanaille ohne Wimpern hat alles Böse angerichtet.«

»Schon recht,« behauptete der Oberst, »aber diese Frau behauptet, sie hatte das Zimmer nicht betreten.«

»Und ihr wollen Sie glauben? Ich möchte mich nicht auf eine solche Person verlassen!«

»Na, und was weiter?« fragte der Kommis ironisch; »trotzdem ist es doch wahr, daß die Maslow den Schlüssel hatte!«

»Was beweist das?« rief der Kaufmann.

»Und der Ring?«

»Aber sie hat uns ja die ganze Geschichte erklärt.«

»Darum handelt es sich nicht,« bemerkte Peter Gerassinowitsch, »Die Hauptsache ist, ob sie den ganzen Anschlag vorher überlegt und ausgeführt hat, oder ob es die beiden Diener gewesen sind.«

»Aber die beiden Dienstboten konnten doch nicht ohne sie handeln, sie hatte doch den Schlüssel.«

So ging der Streit ziemlich lange hin und her.

»Gestatten Sie, meine Herren,« sagte endlich der Obmann, »setzen wir uns an den Tisch und beraten wir!«

Darauf gab er das Beispiel, setzte sich in den großen Sessel und sagte dann, mit seinem Bleistift auf den Tisch klopfend:

»Meine Herren, kommen wir zur Sache!«

Alle schwiegen, und der Obmann begann die den Geschworenen vorzulegenden Fragen, die folgendermaßen lauteten:

1. Ist der Bauer Simon Petrowitsch Kartymkin, aus dem Dorfe Borki, Bez. Krapiwo gebürtig, 34 Jahre alt, schuldig, am 16. Oktober 188.. dem Kaufmann Smjelkoff, in der Absicht, ihn zu bestehlen, nach dem Leben gestrebt zu haben? Und ist er schuldig, besagtem Kaufmann, nachdem er ihn mit Hilfe anderer Personen vergiftet, eine Summe von ungefähr 2000 Rubel und einen Brillantring gestohlen zu haben?

2. Ist die Bürgerin, Euphemia Iwanowna Botschkoff, 43 Jahre alt, schuldig, zusammen mit Simon Petrowitsch Kartymkin die in der ersten Frage aufgezählten Handlungen begangen zu haben?

3. Ist Katharina Iwanowna Maslow, 27 Jahre alt, schuldig, im Einverständnis mit den beiden ersten Angeklagten die in der ersten Frage erwähnten Handlungen begangen zu haben?

4. Im Falle Euphemia Botschkoff nicht der in der ersten Frage erwähnten Handlungen für schuldig erklärt wird, ist sie dann schuldig, am 16, Oktober 188.. aus dem verschlossenen Koffer des Smjelkoff eine Summe von 2500 Rubel genommen zu haben?

»Nun, meine Herren, wie wollen Sie den ersten Punkt beantworten?« fragte der Obmann, nachdem er seine Verlesung beendet.

Die Antwort wurde bald gefunden. Alle stimmten bejahend, sowohl im Punkte des Diebstahls, wie auch der Vergiftung. Nur einer der Geschworenen wollte Kartymkin nicht für schuldig halten, ein alter Handwerker, der stets auf alle Fragen verneinend antwortete.

Der Obmann glaubte zuerst, der alte Mann verstände nicht, und fing an, ihm zu erklären, daß Kartymkin und die Botschkoff zweifellos schuldig wären. »Wir sind selbst keine Heiligen,« sagte der Alte, und nichts konnte ihn veranlassen, seine Meinung zu ändern.

Die Antwort auf die zweite Frage, die Botschkoff betreffend, lautete nach langen Beratungen: »Nein, sie ist nicht schuldig.« Es fehlte in der That an Beweisen für ihre Teilnahme am Giftmord, und diesen Punkt hatte ihr Verteidiger auch ausdrücklich hervorgehoben. –

Der Kaufmann, welcher die Maslow als unschuldig hinzustellen versuchte, behauptete von neuem, die Botschkoff wäre die Hauptanstifterin der ganzen Sache. Mehrere Geschworene waren seiner Ansicht bis zu dem Augenblick, da der Obmann, der sich durchaus auf den Boden des Gesetzes stellen wollte, bemerkte, daß ihre Teilnahme am Giftmord jedenfalls materiell nicht bewiesen wäre. Man stritt darüber noch längere Zeit, doch die Ansicht des Obmanns drang durch. Dagegen erklärte man bei der vierten Frage die Botschkoff des Diebstahls für schuldig, setzte jedoch auf die Bitte des Handwerkers hinzu: »mit mildernden Umständen.«

Endlich kam die dritte Frage an die Reihe, die man bis zum Schlusse aufgespart und die zu einer noch heftigeren Auseinandersetzung Anlaß gab, als die drei ersten.

Der Obman behauptete, die Maslow wäre schuldig; der Kaufmann, sie wäre unschuldig, und der Oberst und der Handwerker unterstützten seine Ansicht. Die übrigen Geschworenen schwankten, schienen sich aber der Ansicht des Obmanns zuzuneigen. Das kam aber hauptsächlich daher, daß sie müde waren, und deshalb schlossen sie sich derjenigen Meinung an, die die Sache zum schnellsten Abschluß brachte, und ihnen ihre Freiheit wiedergab.

Nach den Ergebnissen der Verhöre hatte Nechludoff die Ueberzeugung, die Maslow wäre weder des Diebstahls noch der Vergiftung schuldig. Er hatte zuerst geglaubt, alle wären dieser Meinung, mußte aber bald erkennen, daß er sich getäuscht hatte, und daß die Majorität mehr zur Bejahung der Frage neigte. Als er das sah, wollte er das Wort ergreifen; doch es wandelte ihn bei dem Gedanken, sich für Katuscha ins Zeug zu legen, die unklare Furcht an, es könne jeder die Beziehungen, die er mit ihr unterhalten, sofort erraten. Trotzdem sagte er sich, die Sache könne nicht so durchgehen, und er hätte die Pflicht, dazwischen zu treten. Er wurde rot und blaß, und wollte sich schon zu sprechen entschließen, als Peter Gerassimowitsch, den der herrische Ton des Obmanns augenscheinlich ärgerte, in die Besprechung eingriff und genau das sagte, was er sagen wollte.

»Gestatten Sie,« sagte der Professor, »Sie behaupten, sie wäre des Diebstahls schuldig, weil sie den Schlüssel zum Koffer besaß; aber konnten die Hotelbediensteten den Koffer denn nicht mit einem andern Schlüssel öffnen?«

»Ganz recht, ganz recht,« pflichtete der Kaufmann bei.

»Ich bin eher der Meinung, daß ihr Erscheinen im Hotel den beiden Dienstboten erst den Gedanken des Diebstahls eingegeben hat, daß sie die Gelegenheit benutzt und dann die ganze Schuld auf die Maslow abgewälzt haben.«

Peter Gerassimowitsch sprach mit erregter Stimme, und seine Erregtheit ging auf den Obmann über, der immer mehr auf seiner Meinung bestand. Doch Peter Gerassimowitsch sprach so zuversichtlich, daß die Mehrheit sich seiner Meinung zuwandte und anerkannte, die Maslow habe weder an dem Diebstahl des Geldes, noch des Ringes teilgenommen, der letztere wäre ihr vielmehr von dem Kaufmann zum Geschenk gemacht worden.

Jetzt blieb noch die Frage zu entscheiden, ob sie der Vergiftung schuldig war, und von neuem erklärte der Kaufmann, man müßte sie für unschuldig erklären; jedoch der Obmann versetzte mit großer Energie, das wäre unmöglich, da sie ja selbst gestanden, das Pulver in das Glas geschüttet zu haben.

»Sie hat das Pulver hineingeschüttet, es aber für Opium gehalten,« bemerkte der Kaufmann.

»Aber auch Opium ist Gift,« versetzte der Oberst und erzählte bei der Gelegenheit die Geschichte seiner Schwägerin, die zufällig Opium genommen und ohne die wunderbare Geschicklichkeit eines schnell hinzugerufenen Arztes gestorben wäre. Der Oberst erzählte mit solchem Wohlgefallen, daß niemand den Mut hatte, ihn zu unterbrechen, bis einer der Geschworenen ausrief:

»Mein Gott, meine Herren, es ist ja schon 4 Uhr.«

»Nun, meine Herren?« fragte der Obmann, »was wollen wir antworten? Wollen wir sagen: ›Ja, sie ist schuldig, das Gift eingeschüttet zu haben, aber ohne Absicht zu stehlen‹?«

Peter Gerassimowitsch, der mit dem in der vorigen, Frage erzielten Erfolge zufrieden war, gab diesmal seine volle Zustimmung.

»Ich wünsche, daß man hinzufügt: »mit mildernden Umständen,« rief der Kaufmann.

Damit waren alle gleich einverstanden, nur der Handwerker wünschte von neuem, man solle antworten: »Nein, sie ist nicht schuldig.«

»Aber die von mir vorgeschlagene Antwort kommt doch auf dasselbe heraus,« erklärte ihm der Obmann. »›Ohne Absicht zu stehlen‹, das ist ebenso gut, als wenn wir sagten, ›sie ist nicht schuldig‹.«

»Ja, aber unter der Bedingung, daß hinzugefügt wird, mit mildernden Umständen, um die Angeklagte vollends freizusprechen,« entgegnete der Kaufmann, der auf diesen Ausweg sehr stolz war.

Die Antworten wurden in der von den Geschworenen angegebenen Form aufgeschrieben und dem Gerichtshof übergeben.

Als der Präsident sie sich durchgelesen hatte, klingelte er. Der Gendarm, der mit dem Säbel vor der Thür gestanden hatte, steckte ihn wieder in die Scheide. Die Richter nahmen wieder auf ihren Sesseln Platz, und die Geschworenen kehrten einer nach dem andern in den Saal zurück. Mit feierlicher Miene trug der Obmann der Jury das die Antworten enthaltende Blatt, ging bis zu dem Tische vor, an welchem der Gerichtshof saß, und übergab es dem Präsidenten. Dieser überflog es mit einem Blick, schien sehr überrascht und wandte sich nach seinen Kollegen um, um sie nach ihrer Meinung zu fragen. Mit Bestürzung sah er, wie die Jury, die die Frage des Diebstahls verneint, die des Mordes rückhaltslos bejaht hatte. Aus dieser Antwort ging hervor, daß die Maslow weder das Geld, noch den Ring genommen, dagegen den Kaufmann ohne jedes Motiv vergiftet hatte.

»Da sehen Sie nur, welche Albernheit Sie da zu stande gebracht haben,« sagte der Präsident zu seinem Nachbar links, »Das bedeutet Zwangsarbeit für dieses Mädchen, und dabei ist sie ganz sicher unschuldig.«

»Aber warum soll sie denn unschuldig sein?«

»Nun, das springt doch in die Augen. Meiner Ansicht nach müßte hier der Artikel 817 zur Anwendung kommen.«

Wer Artikel 817 besagt, daß der Gerichtshof das Recht hat, die Entscheidung der Jury zu verwerfen, wenn sie dieselbe für falsch begründet hält.

»Und was meinen Sie dazu?« fragte der Präsident seinen andern Nachbar.

»Vielleicht sollten wir in der That den Artikel 817 zur Anwendung bringen,« sagte der Richter mit den gutmütigen Augen.

»Und was meinen Sie?« fragte der Präsident den mürrischen Richter.

»Ich bin der Meinung, wir dürfen das um keinen Preis thun,« versetzte dieser Beamte in entschlossenem Tone. »Man beklagt sich so schon genug, daß die Geschworenen die Angeklagten freisprechen; nie und nimmer würde ich darauf eingehen.«

Der Präsident zog seine Uhr.

»Ich bin untröstlich; aber was soll ich thun?« dachte er und übergab die Antworten dem Obmann der Geschworenen zur Verlesung.

Sofort erhoben sich alle Geschworenen, und ihr Obmann las, sich hin- und herwiegend, mit lauter Stimme die Fragen und Antworten. Der Aktuar, der Verteidiger, ja, selbst der Staatsanwalt konnten ihre Bestürzung nicht verbergen. Nur die Angeklagten blieben unbeweglich auf ihrer Bank sitzen, denn sie verstanden den Sinn der Antworten nicht.

Dann setzten sich die Geschworenen wieder, der Präsident wandte sich zum Staatsanwalt und fragte ihn, welche Strafen er für die Angeklagten beantrage.

Der Staatsanwalt, der von der Strenge der Jury der Maslow gegenüber entzückt war, und dieselbe ausschließlich seiner Beredtsamkeit zuschrieb, überlegte ein Weilchen und sagte dann:

»Für Simon Kartymkin verlange ich die Anwendung des Paragraphen 1452; für Euphemia Botschkoff die Anwendung des Paragraphen … und für Katharina Maslow die Anwendung des Paragraphen …«

Die in diesen Paragraphen ausgesprochenen Strafen waren natürlich die allerhöchsten.

»Der Gerichtshof wird sich zur Beratung zurückziehen,« sagte der Präsident, erhob sich und ging mit den beiden Richtern hinaus. Auf der Estrade hatte jeder das Gefühl, das das Bewußtsein der vollendeten Arbeit verleiht, und die Geschworenen schwatzten laut.

»Na, Väterchen, Sie haben ja da ‚was Hübsches angerichtet,« sagte Peter Gerassimowitsch, an Nechludoff herantretend, dem der Obmann der Geschworenen etwas erklärte. »Sie haben die Unglückliche ja ins Zuchthaus geschickt.«

Nechludoff war bei diesen Worten so erregt, daß er sich nicht einmal über die verletzende Vertraulichkeit des früheren Hauslehrers seiner Schwester ärgerte.

»Was, was sagen Sie da?«

»Na gewiß,« versetzte Peter Geraffimowitsch; »Sie haben ja ganz vergessen, in Ihrer Antwort hinzuzufügen: ›aber ohne die Absicht, zu töten.‹ Der Aktuar hat mir eben gesagt, der Staatsanwalt hätte 15 Jahre Zwangsarbeit beantragt.«

»Aber die Antwort stimmt doch mit unsern Entschließungen vollständig überein!«

Peter Gerassimowitsch widersprach ihm von neuem und erklärte, da man behauptete, die Maslow hätte das Geld nicht genommen, so hätte man auch hinzufügen müssen, sie hätte nicht die Absicht zu töten gehabt.

»Aber ich habe die Antworten doch noch einmal vorgelesen, bevor wir in den Gerichtssaal traten,« rechtfertigte sich der Obmann; »niemand hat widersprochen.«

»Ich mußte während der Verlesung auf einen Augenblick hinausgehen,« entgegnete Peter Gerassimowitsch. »Aber wie konnten Sie das durchgehen lassen, Dimitri Iwanowitsch?«

»Ich habe nichts bemerkt,« versetzte Nechludoff.

»Die Sache war doch aber so leicht zu bemerken.«

»Man kann das Uebel ja noch gut machen,« sagte Nechludoff.

»Oh nein, dazu ist es zu spät, jetzt ist alles aus.«

Nechludoff richtete den Blick auf die Angeklagten. Während über ihr Schicksal beraten wurde, saßen sie noch immer zwischen den beiden Soldaten auf ihrer Bank. Die Maslow lächelte, und ein häßlicher Gedanke schlich sich in Nechludoffs Seele. Eben, als er die Freisprechung der Maslow und ihre Freilassung erwartete, fragte er sich, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Jetzt aber raubte ihm die Zwangsarbeit und die Verschickung nach Sibirien jede Möglichkeit, die alten Beziehungen mit ihr wieder aufzunehmen. Der verwundete Vogel mußte bald aufhören, in der Jagdtasche zu zappeln.

Es kam so, wie es Peter Gerassimowitsch vorhergesagt hatte.

Nach kurzer Beratung kehrten die drei Richter in den Saal zurück, und der Präsident verlas das Urteil, das folgendermaßen begann:

»Am 28. April 188.. verurteilte die Kriminalabteilung des Bezirksgerichtes von N…. unter der Mitwirkung von Geschworenen auf Befehl Seiner Kaiserlichen Majestät den Bauer Simon Kartymkin, 34 Jahre alt, und die Bürgerin Katharina Maslow, 27 Jahre alt, zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie zur Verschickung zur Zwangsarbeit, und zwar Kartymkin auf die Dauer von acht Jahren und die Maslow auf die Dauer von vier Jahren, auf Grund des Artikels 23 des Strafgesetzbuches. Das Gericht verurteilt ferner die Bürgerin Euphemia Botschkoff, 43 Jahre alt, zum Verlust der persönlichen Rechte und zu einer Einschließung von drei Jahren auf Grund des Paragraph 48 des Strafgesetzbuches. Ferner verurteilt es die drei Angeklagten zur Tragung der Kosten, doch fallen dieselben, wenn die Angeklagten zahlungsunfähig sind, der Staatskasse anheim.« Das Urteil bestimmte ferner, daß der Ring den Erben des Kaufmanns Smjelkoff zugestellt, und die übrigen Beweisstücke verkauft oder vernichtet werden sollten.

Als Simon Kartymkin dieses Urteil hörte, drehte er sich hin und her, fuhr mit den Händen an den Nähten seiner Hose entlang und bewegte die Lippen. Die Botschkoff blieb unbeweglich, während Katharina Maslow plötzlich purpurrot geworden war.

»Ich bin nicht schuldig,« rief sie, sobald der Präsident die Verlesung beendet hatte. »Ich bin nicht schuldig, ich schwöre es. Ich habe ihn nicht töten wollen, ich habe gar nicht daran gedacht; ich spreche die Wahrheit, die reine Wahrheit.«

Diese wenigen Worte hatte sie mit solcher Kraft herausgeschrieen, daß der ganze Saal sie hörte. Dann ließ sie sich auf ihre Bank zurückfallen, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und brach in lautes Schluchzen aus.

Als Simon und Euphemia sich erhoben, um hinauszugehen, blieb sie noch immer schluchzend sitzen, und einer der Gendarmen mußte sie beim Arm packen, um sie zum Aufstehen zu bringen.

»Nein, man darf die Sache nicht so hingehen lassen, sagte sich Nechludoff, der den bösen Gedanken, den er noch vor wenigen Minuten gehabt, vollständig vergessen hatte. Ohne nachzudenken, von einem unwiderstehlichen Triebe bewegt, stürzte er nach dem Gange, um das junge Weib, das man eben fortführte, noch einmal zu sehen.

Vor der Thür drängte sich die Menge der Geschworenen und Advokaten schwatzend und gestikulierend, so daß Nechludoff ziemlich lange warten mußte, bevor er den Saal verlassen konnte. Als er sich endlich im Gange befand, war die Maslow schon ziemlich weit entfernt. Er lief auf sie zu, ohne sich darum zu kümmern, daß er Aufsehen erregte und blieb erst stehen, als er sie erreicht hatte. Sie weinte nicht mehr, doch ein heftiges Schluchzen hob zeitweise ihre Brust, während sie mit ihrem Kopftuch die Schweißtropfen abtrocknete, die ihr über die Wangen liefen. Sie ging an Nechludoff vorüber, ohne ihn anzusehen, und auch er machte keinerlei Bewegung, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er ließ sie an sich vorübergehen, und trat wieder in den Gang zurück, um sich auf die Suche nach dem Gerichtspräsidenten zu machen, der sich schon in der Portierloge befand, und eben fortgehen wollte. Er zog gerade einen eleganten Sommerüberzieher an, während der Portier ihm ehrerbietig einen Stock mit silbernem Knopf reichte.

»Herr Präsident,« sagte Nechludoff zu ihm, »kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Es ist wegen der eben abgeurteilten Sache, ich gehöre zu den Geschworenen.«

»Aber gewiß! Fürst Nechludoff, nicht wahr? Freue mich, Sie begrüßen zu dürfen,« sagte der Präsident und schüttelte ihm die Hände.

Er erinnerte sich mit lebhafter Genugthuung des Balles, auf dem er mit größerem Eifer und Schneid als alle jungen Leute getanzt hatte.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Es liegt bei unserer Antwort, die Maslow betreffend, ein Mißverständnis vor! Sie ist an dem Giftmord unschuldig und doch zur Zwangsarbeit verurteilt worden!« sagte Nechludoff, dessen Gesicht sich plötzlich verdüstert hatte.

»Aber auf Ihre Antworten hin haben wir doch das Urteil gefällt,« sagte der Präsident, auf die Thür zuschreitend, »und wir haben diese Antworten selber ziemlich verworren gefunden.«

Der Präsident erinnerte sich plötzlich, daß er in seiner Rede den Geschworenen hatte erklären wollen, wie sie ihren Vorbehalt, im Falle ein solcher zu machen war, zu formulieren hatten; dann fiel ihm ein, daß er, um Zeit zu sparen, auf diesen Teil seiner Erklärung verzichtet hatte. Doch er hütete sich wohl, Nechludoff darüber etwas zu sagen.

»Es liegt ein Irrtum vor,« fuhr Nechludoff fort, »könnte man diesen Irrtum nicht wieder gut machen?

»Gründe zur Annullierung lassen sich immer finden, wenden Sie sich an einen Advokaten,« sagte der Präsident und ging wieder auf die Thür zu.

»Aber das ist ja entsetzlich…«

»Sehen Sie, es gab für uns nur zwei Lösungen…«

Der Präsident schwankte offenbar zwischen seinem Wunsch, Nechludoff angenehm zu sein, und der Furcht, zu spät zu seinem Rendevouz zu kommen. Er strich seinen Backenbart über die beiden Aufschläge seines Ueberziehers, ergriff Nechludoffs Arm, zog ihn zur Thür und fragte:

»Wollen wir gehen?«

»Gewiß,« versetzte Nechludoff, zog schnell seinen Mantel an und ging mit dem Präsidenten hinaus. Draußen schien die Sonne in heiterem Glanze, in den Straßen herrschte Leben und Bewegung. Der Präsident mußte wegen des Wagengerassels auf dem Pflaster die Stimme erheben.

»Sehen Sie,« fuhr er fort; »die Situation ist sehr einfach. Wie ich Ihnen sagte, gab es in diesem Falle nur zwei Lösungen. Entweder konnte dieses Geschöpf, diese Maslow, sozusagen freigesprochen, das heißt einfach zu einigen Monaten Haft verurteilt werden und ihr die Untersuchungshaft in Abzug gebracht werden, wodurch die Strafe völlig unbedeutend wurde, oder es stand für sie die Zwangsarbeit auf dem Spiel. Wir mußten uns für eine der beiden Lagen entscheiden, und unsere Wahl hing von Ihrer Fragebeantwortung ab.«

»Ich habe nicht an die Einschränkung gedacht, die unserm Gedanken Worte geliehen hätte; es ist unentschuldbar, daß ich nicht daran gedacht habe!« sagte Nechludoff.

»Na, darauf beruht alles!« versetzte der Präsident lächelnd, zog seine Uhr heraus und sah nach, wie spät es war. Er konnte bei seiner Klara kaum noch drei kleine Viertelstunden bleiben.

»Wenn Sie wollen, wenden Sie sich doch an einen Advokaten! Es handelt sich nur darum, einen Grund zur Annullierung zu finden, und dieser Grund findet sich immer!« wiederholte der Präsident.

»Hotel d’Italie!« rief er einem vorüberfahrenden Fiaker zu. »Dreißig Kopeken für die Fahrt! Das zahle ich stets!«

»Steigen Ew. Exzellenz nur ein!«

»Ich empfehle mich,« fügte der Präsident zu Nechludoff, wahrend er sich verabschiedete, »Und wenn ich Ihnen irgendwie dienlich sein kann: Haus Dwornikoff, in der Dworianskajastraße; das ist leicht zu merken!«

Damit entfernte er sich, nachdem er Nechludoff zum letztenmale zugenickt.

Die Unterhaltung mit dem Gerichtspräsidenten, und auch die frische Luft hatte Nechludoff ein bißchen beruhigt. Er sagte sich, die außergewöhnliche Erregung, die er empfunden, hinge mit seiner Abspannung zusammen, und die ungewöhnlichen Verhältnisse, in denen er sich seit heute morgen befand, mußten wohl dazu beigetragen haben, dieselbe noch zu verstärken. »Aber es ist doch ein unglaubliches Zusammentreffen!« dachte er. »Ich muß mein Möglichstes thun, um das Schicksal dieser Unglücklichen zu lindern, und zwar so schnell wie möglich! Und jetzt will ich, da ich gerade hier bin, die Gelegenheit benutzen, um mich nach Fajnitzins oder Mikinins Adresse zu erkundigen.« Das waren zwei berühmte Advokaten, deren Namen ihm eingefallen waren.

Er kehrte wieder in das Gerichtsgebäude zurück, zog seinen Paletot aus und stieg die Treppe hinauf. Am Eingang des Korridors begegnete er Fajnitzin. Er redete ihn an und sagte ihm, er hätte mit ihm zu sprechen. Der Advokat, der ihn von Ansehen kannte und seinen Namen wußte, erwiderte eifrig, er schätze sich glücklich, ihm dienlich sein zu können.

»Ich bin leider ein bißchen abgespannt und habe noch zu thun; doch Sie können mir immerhin kurz erklären, um was es sich handelt. Wollen wir hier einen Augenblick hineingehen?« Damit ließ er Nechludoff in ein kleines, offenstehendes Zimmer treten, offenbar das eines Gerichtsbeamten, und beide setzten sich ans Fenster.

»Nun, um was handelt es sich?«

»Ich möchte Sie vor allem um Diskretion bitten,« sagte Nechludoff, »damit niemand erfährt, welchen Anteil ich an der fraglichen Sache nehme.«

»Gewiß; das versteht sich von selbst. Also?«

»Ich war heute Geschworener, und wir haben eine Frau, die unschuldig ist, zu Zwangsarbeit verurteilt. Das quält mich!«

Unwillkürlich wurde Nechludoff rot, verlegen und geriet in Verwirrung. Fajnitzin sah ihn mit raschem Blicke an, schlug dann die Augen zu Boden und betrachtete wieder das grüne Tuch des Tisches.

»Und weiter?« fragte er.

»Wir haben eine Unschuldige verurteilt, und ich möchte das Urteil kassieren und die Sache vor einen höheren Gerichtshof bringen lassen.«

»Vor den Senat,« berichtigte der Verteidiger.

»Ich wollte Sie bitten, die Sache in die Hand zu nehmen.«

Nechludoff wollte vor allem einen Punkt erledigen, der ihm ganz besonders peinlich war, und deshalb fügte er, ohne Atem zu holen, hinzu:

»Ihr Honorar und alle Kosten, die die Sache verursacht, übernehme ich selbstverständlich.«

Er fühlte, wie er zum zweitenmale rot wurde.

»Ja, ja, darüber werden wir uns schon verständigen!« versetzte der Advokat, über die Unerfahrenheit seines Klienten wohlgefällig lächelnd.

Nechludoff erzählte ihm den Fall in knappen Zügen. »So! und nun möchte ich wissen, was darin zu thun ist,« schloß er.

»Schön! Ich werde gleich morgen die Akten durchsehen, um Ihnen Auskunft erteilen zu können. Sagen wir also … übermorgen … oder nein, sagen wir lieber Donnerstag … also Donnerstag gegen sechs Uhr abends! wenn Sie mich dann beehren wollen, werde ich Ihnen eine Antwort erteilen. Abgemacht, nicht wahr? Also Donnerstag. Entschuldigen Sie mich, bitte; aber ich habe hier auf dem Gericht noch Verschiedenes zu erledigen.«

Nechludoff verabschiedete sich von dem Advokaten und verließ das Gerichtsgebäude.

Diese neue Unterredung hatte ihn noch mehr beruhigt als die vorige: er fühlte sich bei dem Gedanken, zu Gunsten der Maslow bereits Schritte gethan zu haben, ganz glücklich. Er freute sich des schönen Wetters und sog mit Behagen die Frühlingsluft ein. Fiakerkutscher, die vor ihm hielten, boten ihm ihre Dienste an; doch er freute sich, gehen zu können. Doch sogleich fing ein ganzer Schwarm von Gedanken und Erinnerungen an Katuscha und wie er sich gegen sie benommen, in ihm zu summen an, aber er sagte sich:

»Nein, nein, daran werde ich später denken; jetzt muß ich mich vor allen Dingen von den häßlichen Eindrücken befreien, die ich eben durchgemacht!«

Er erinnerte sich an das Diner bei den Kortschagins und sah auf die Uhr. Es konnte noch nicht vorüber sein. Nechludoff lief nach einem Fiakerhalteplatz, betrachtete die Pferde, wählte den besten Wagen und befand sich zehn Minuten später vor der Auffahrt des großen und eleganten Hauses der Kortschagins.

Siebentes Kapitel

»Treten Ew. Exzellenz nur gütigst ein, man erwartet Sie oben,« sagte der dicke Portier der Kortschagins zu Nechludoff, »Man sitzt bei Tische, Ew. Exzellenz werden gebeten, sich in den Speisesaal zu bemühen.«

Der Portier ließ Nechludoff in den Speisesaal treten; dann ging er nach der Treppe und zog an einer Klingel.

»Ist Gesellschaft da?« fragte Nechludoff, während er seinen Paletot auszog.

»Nur Herr Kolossoff und Michael Sergejewitsch; sonst aber niemand,« versetzte der Portier.

Oben auf der Treppe zeigte sich die elegante Gestalt eines Dieners im Frack und weißen Handschuhen.

»Geruhen Ew. Excellenz, sich heraufzubemühen! Man bittet Sie, heraufzukommen!«

Nechludoff stieg die Treppe hinauf, durchschritt das große und prächtige Vorzimmer und trat in den Speisesaal, An dem großen Tische saß die ganze Familie Kortschagin mit Ausnahme von Missys Mutter, der Fürstin Sophie Wassiljewna, die ihre Mahlzeiten stets in ihrem Zimmer einnahm. Der alte Kortschagin saß oben an der Tafel; zu seiner Rechten hatte er den Hausarzt, zu seiner Linken seinen Freund Iwan Iwanowitsch Kolossoff, einen früheren Beamten und jetzt Mitglied des Aufsichtsrats einer Bank sitzen. Dann kamen links Miß Nedort, die Erzieherin von Missys kleiner Schwester und diese Schwester, ein vierjähriges Kind selbst; rechts, ihr gegenüber Missys Bruder, Petja, ein Gymnasiast der siebenten Klasse, der sich auf seine Examina vorbereitete, und ein junger Student, sein Nachhilfelehrer. Etwas weiter saßen Michael Sergejewitsch Telegin oder Mitja, der Sohn der Fürstin Kortschagin aus erster Ehe und eine arme Verwandte, Katharina Alexijewna, eine alte Jungfer und Slawophilin; und endlich, am Ende der Tafel, Missy, neben der ein Platz leer gelassen war.

»Na, das ist recht! kommen Sie schnell! wir sind erst beim Fisch,« sagte der alte Kortschagin, und blickte Nechludoff mit seinen blutunterlaufenen Augen an.

»Stephan!« rief er dem majestätischen Haushofmeister zu und gab ihm ein Zeichen, Nechludoff an den ihm bestimmten Platz zu führen.

Nechludoff kannte den alten Kortschagin seit langer Zeit und hatte ihn schon oft bei Tische gesehen, aber an diesem Abend fiel ihm sein rotes und aufgedunsenes Gesicht, sein sinnlicher Mund, sein dicker Hals, seine ganze Gestalt, ja, sogar die Art, wie er einen Zipfel seiner Serviette in den Westenausschnitt steckte, unangenehm auf. Unwillkürlich fiel ihm ein, was man ihm alles von der Härte dieses Mannes erzählt, der zur Zeit, als er Provinzgouverneur gewesen, eine Reihe von Unglücklichen hatte erschießen und sogar eine große Zahl hatte hängen lassen.

»Man wird Ew. Exzellenz sogleich auftragen!« sagte Stephan und nahm aus einer der Buffetschubladen einen großen Suppenlöffel, während der elegante Diener sich hinter den leeren Sessel stellte und auf Nechludoffs Teller eine Falte der künstlerisch in Fächerform zusammengelegten Serviette wieder in Ordnung brachte.

Noch Nechludoff mußte zuerst um den Tisch herumgehen und jedem der Gäste die Hand schütteln. Jeder erhob sich von seinem Stuhle und reichte ihm die Hand, mit Ausnahme der Damen und des alten Kortschagin. Dieser Gang um den Tisch und diese Händedrücke an Personen, von denen er einzelne nie gesehen, das alles erschien ihm an diesem Abend ganz besonders lächerlich und unangenehm.

Er entschuldigte sich, daß er so spät kam und wollte sich schon auf seinen Platz, zwischen Missy und Katharina Alexijewna, setzen, als der alte Kortschagin verlangte, er solle in Ermangelung eines kleinen Gläschens Branntwein wenigstens von den Vorspeisen nehmen. Nechludoff mußte an den kleinen Tisch treten, auf dem die Vorspeisen, der Hummer, Kaviar, Käse und die Anchovis standen. Er glaubte, keinen Hunger zu haben, doch als er von dem Kaviar gekostet, begann er gierig zu schlingen.

»Na, haben Sie das Fundament untergraben?« fragte ihn Kolossoff, indem er den ironischen Ausdruck wiederholte, den ein reaktionäres Blatt in einem Artikel gebraucht hatte, der die Gefahren der Geschworenengerichte beweisen wollte: »Sie haben Schuldige freigesprochen und Unschuldige verurteilt, nicht wahr?«

»Das Fundament untergraben! Das Fundament untergraben!« wiederholte der alte Fürst, sich vor Lachen wälzend. Er hatte ein unbegrenztes Vertrauen auf den Geist und das Wissen seines Freundes, dessen liberale Ansichten er voll und ganz teilte.

Doch Nechludoff gab, selbst auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen, keine Antwort. Er setzte sich, that sich Suppe auf seinen Teller und aß mit größtem Appetit.

»Lassen Sie ihn sich doch satt essen!« sagte Missy lächelnd mit einer Vertraulichkeit, die den freundschaftlichen Charakter ihrer Beziehungen deutlich verriet.

Uebrigens hatte Kolossoff seine Frage schon vergessen, und besprach in heftigem und lautem Tone den Artikel der reaktionären Zeitung über die Geschworenengerichte. Michael Sergejewitsch gab ihm gleichzeitig das Stichwort und deutete auf die ungeheuerlichen Irrtümer eines andern kürzlich in demselben Blatte veröffentlichten Artikels.

Missy war, wie stets, durchaus »vornehm«. Sie trug eine Toilette von diskreter und nüchterner, aber tadelloser Eleganz.

»Sie müssen vor Hunger und Abspannung ja ganz erschöpft sein,« sagte sie zu Nechludoff, als er seine Suppe verspeist hatte.

»Ach nein! So schlimm ist es nicht! Und Sie? Haben Sie sich die Bilder angesehen?«

»Nein, wir haben den Besuch verschoben, und dafür bei den Salomonoffs Tennis gespielt. Wissen Sie, Mister Crooks spielt wirklich wunderbar!«

Nechludoff hatte sich bei den Kortschagins zerstreuen wollen. Seine Besuche bei ihnen hatten ihm stets Freude gemacht, sowohl wegen des Luxus und Reichtums, der in dem Hause herrschte und seinen raffinierten Geschmack entzückte, wie auch wegen der Atmosphäre liebenswürdiger Schmeichelei, von der er sich unwillkürlich umgeben fühlte. Doch an diesem Abend mißfiel ihm seltsamerweise in diesem Hause alles: alles, von dem Portier, dem ungeheuren Vorflur, den Blumen, den befrackten Dienern, dem Tafelaufsatz, bis zu Missy, die er unnatürlich und unsympathisch fand. Er ärgerte sich über den spöttischen, groben Ton Kolossoffs, seinen Liberalismus, wie über das sinnliche und lasterhafte Gesicht des alten Kortschagin, die französischen Citate der alten slavenfreundlichen Jungfer, und die mürrischen Mienen der Erzieherin und des Hauslehrers, ganz besonders aber über die vertrauliche Manier, wie Missy von ihm gesprochen, anstatt ihn wie die übrigen Gäste mit dem Vornamen zu bezeichnen.

Nechludoff hatte Missy gegenüber stets zwischen zwei Gefühlen hin- und hergeschwankt. Bald sah er sie sozusagen in einem Nebel und entdeckte an ihr alle möglichen Vollkommenheiten; sie erschien ihm offen, schön, intelligent und natürlich. Bald aber mußte er sich, wenn er vom Nebel ins helle Tageslicht trat, ihre Unvollkommenheit eingestehen. In der letzten Verfassung fühlte er sich an diesem Abend. Er bemerkte alle Runzeln auf ihrer Stirn, die beiden falschen Zähne, die sie im Munde hatte, die Spur des Brenneisens in ihren Haarlocken und die hervortretenden Knochen ihrer Ellenbogen; vor allem aber fielen ihm ihre langen Fingernägel auf, die ihn an die dicken Finger des alten Kortschagin erinnerten.

»Ein langweiliges Spiel, das Tennis,« sagte Kolossoff; »das Ballspiel war zu unserer Zeit viel lustiger!«

»Ach nein, Sie kennen das Tennisspiel nicht; es giebt nichts, das so schrecklich anregend wäre!« rief Missy, und Nechludoff hatte die Empfindung, als habe sie das Wort »schrecklich« mit unerträglicher Affektiertheit ausgesprochen. Es entspann sich ein Streit, an dem auch Michael Sergejewitsch und die alte Dame teilnahmen. Nur der Nachhilfelehrer, die Erzieherin und die Kinder schwiegen; sie langweilten sich offenbar.

»Na, streitet euch wieder mal!« sagte der Fürst Kortschagin endlich lachend, nahm seine Serviette, legte sie zerknittert auf den Tisch und stand auf, während ein Diener schnell den Stuhl zurückschob. Alle erhoben sich und traten an einen kleinen Tisch, wo Krüge und Gläser mit warmem, parfümiertem Wasser standen. Die Gäste spülten sich den Mund aus und setzten dabei ihre Unterhaltung fort.

»Nicht wahr, ich hatte recht?« fragte Missy Nechludoff, nachdem sie Michael Sergejewiisch erklärt, nichts verrate den Charakter der Leute so gut wie das Spiel. Sie hatte auf dem Gesicht ihres Freundes sogleich den strengen und ernsten Ausdruck bemerkt, der sie bei ihm schon mehrmals beunruhigt hatte, und war entschlossen, die Ursache desselben zu entdecken.

»Ich habe nie über die Frage nachgedacht und weiß es wirklich nicht,« versetzte Nechludoff.

»Wollen wir zu Mama hinaufgehen?« fragte das junge Mädchen.

»Gewiß, gern!« erwiderte er, sich eine Cigarette anzündend; doch der Ton seiner Antwort verriet, daß er sich diesen lästigen Besuch gern erspart hätte.

Sie schwieg, sah ihn fragend an, und ihre Unruhe wurde noch stärker.

»Man möchte wahrhaftig glauben, ich sei hierher gekommen, um die Leute zu langweilen,« sagte sich Nechludoff inzwischen, zwang sich zur Liebenswürdigkeit und setzte einige Worte hinzu, welches Vergnügen es ihm bereiten würde, der Fürstin seine Aufwartung machen zu dürfen, wenn sie sein Besuch nicht störe.

»Aber nicht doch, ganz im Gegenteil; Mama wird entzückt sein, und Sie können bei ihr ebenso gut rauchen, wie hier. Iwan Iwanowitsch muß schon hinaufgegangen sein.«

Die Hausfrau, die Fürstin Sophie Wassiljewna, verbrachte ihr Leben auf ihrer Chaiselongue. Schon seit acht Jahren speiste sie nicht mehr bei Tische. Es gefiel ihr nur in ihrem Zimmer, unter dem Sammet, den Bronzen, den lackierten und vergoldeten Schmuckgegenständen. Nie ging sie aus und sah absolut niemand, wie sie gern erklärte, als »ihre Freunde« d. h. die Personen, die sich aus dem oder jenem Grunde in ihren Augen von den gewöhnlichen Menschen unterschieden. Nechludoff gehörte natürlich zu diesen Freunden, gleichzeitig aber galt er für einen intelligenten jungen Mann, weil seine Mutter mit den Kortschagins in Verbindung gestanden hatte und vor allem, weil Sophie Wassiljewna ihn mit ihrer Tochter zu verheiraten wünschte.

Vor dem Zimmer der alten Fürstin lag ein großer und ein kleiner Salon. In dem großen Salon blieb Missy, die vor Nechludoff herging, plötzlich stehen, packte nervös die Lehne eines Stuhles und richtete ihre Blicke auf den jungen Mann.

Missy hegte den lebhaften Wunsch, sich zu verheiraten, und Nechludoff war für sie eine gute Partie. Außerdem gefiel er ihr, und sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, ihn sich zu erobern; sie wollte nicht ihm, sondern er sollte ihr gehören. Diesen Plan verfolgte sie mit unbewußter, aber zäher Verschlagenheit. Sie sagte deshalb ganz unvermittelt zu Nechludoff, indem sie ihm fest ins Auge sah:

»Ich sehe, es ist Ihnen etwas widerfahren! Sagen Sie mir, was!«

Nechludoff dachte wieder an sein Erlebnis im Schwurgerichtshof, zog die Stirn kraus und errötete.

»Ja, es ist mir etwas widerfahren,« versetzte er, denn lügen wollte er nicht; »etwas Seltsames, Unvorhergesehenes und Ernstes!«

»Was denn? Sie wollen es mir nicht sagen?«

»Ich kann es jetzt nicht. Verzeihen Sie mir! Es ist mir etwas passiert, über das ich noch nachdenken muß,« fügte er hinzu und errötete noch stärker.

»So wollen Sie es mir also nicht sagen?«

Eine Muskel ihres Gesichts zitterte, und sie stieß den Stuhl zurück, auf den sie sich stützte.

»Nein, ich kann nicht,« versetzte Nechludoff, der wohl fühlte, daß er durch diese Antwort den Ernst des Erlebnisses sich selbst gegenüber noch stärker hervorhob.

»Gut! gehen wir schnell zu Mama!«

Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie einen unangenehmen Gedanken verscheuchen, und ging schnell weiter.

Nechludoff glaubte zu bemerken, daß sie an sich hielt, um nicht zu weinen. Er schämte sich und machte sich Vorwürfe, ihr Kummer bereitet zu haben, doch er wußte, er würde sich durch die geringste Schwäche zu Grunde richten, das heißt, sich für ewig binden, und davor hatte er an diesem Abend am meisten Angst. Deshalb schwieg er weiter und gelangte so mit dem jungen Mädchen in das Zimmer der Fürstin Kortschagin.

Die Fürstin Sophie Wassiljewna hatte eben ihr Diner beendet, ein sehr feines und reichliches Diner, das sie stets allein aß, damit niemand sie bei dieser allzu prosaischen Beschäftigung beobachtete. Neben ihrer Chaiselongue stand auf einem kleinen Leuchtertisch ihr Kaffee; sie trank ihn in kleinen Schlucken und rauchte dazu parfümierte Cigaretten.

Sie war eine sehr lange und magere alte Dame mit langen Zähnen und großen schwarzen Augen, doch ihr Alter hinderte sie nicht, sich immer noch das Ansehen einer jungen Frau zu geben.

Ueber ihren Arzt waren allerlei Gerüchte im Umlauf, und Nechludoff, der bis dahin nie auf dieses Geschwätz geachtet hatte, mußte unwillkürlich daran denken, als er in das Zimmer trat und neben der alten Dame den korpulenten Arzt mit seinem elegant gestutzten und pomadisierten Barte sitzen sah. Sein Anblick erweckte in ihm ein Gefühl des Widerwillens.

Zu den Füßen der Chaiselongue saß auf einem Tabouret Kolossoff. Er schüttete sich gerade Zucker in seinen Kaffee, vor ihm stand ein kleines Gläschen Likör.

Missy, die mit Nechludoff in das Zimmer getreten war, blieb nur einen Augenblick und sagte zu diesem und Kolossoff mit fröhlichem Lächeln:

»Wenn Mama müde ist und Sie hinaussetzt, dann kommen Sie zu mir, nicht wahr?«

Darauf verließ sie, leise über den weichen Teppich huschend, das Zimmer.

»Na, guten Tag, mein Freund, setzen Sie sich hierher, und erzählen Sie,« sagte die Fürstin Sophie Wassiljewna mit ihrem gekünstelten Lächeln, das dem natürlichen Lächeln aber wunderbar ähnlich sah; »wir sprachen gerade von Ihnen. Die Herren meinten, Sie seien in sehr schlechter Laune aus der Gerichtsverhandlung zurückgekommen; solche Sitzungen müssen in der That für Leute von Herz peinlich sein,« fügte sie auf französisch hinzu.

»Ja, gewiß,« versetzte Nechludoff, »man fühlt dort sehr oft seine eigene Gemei …, ich meine, man fühlt, daß, man selbst nicht das Recht hat, die Fehler anderer zu beurteilen.«

»Sehr richtig,« rief die alte Dame in einem Tone, der durchblicken ließ, wie sehr ihr die treffende Bemerkung Nechludoffs aufgefallen war, denn sie hatte die Gewohnheit, ihren Bekannten stets zu schmeicheln.

»Nun, und wie steht’s mit Ihrem Gemälde?« fuhr sie dann fort. »Sie wissen, es interessiert mich ungeheuer. Wenn ich kräftiger wäre, hätte ich es mir schon längst einmal bei Ihnen angesehen.«

»Ich habe es vollständig aufgegeben,« versetzte Nechludoff, dem die Falschheit ihrer Schmeicheleien heute ebenso auffiel, als ihr sorgsam verstecktes Alter. Und er mochte sich noch so sehr bemühen, liebenswürdig zu sein, alle seine Anstrengungen blieben vergeblich.

»Aber das ist ja ein Verbrechen! Wissen Sie, daß selbst Repin mir gesagt hat, unser Freund besitze wirkliches Talent?« sagte sie, sich zu Kolossoff wendend und auf Nechludoff deutend.

»Wie schämt sie sich nur nicht, so zu lügen,« dachte Nechludoff.

Als die alte Dame indessen bemerkt hatte, daß Nechludoff nicht bei Laune war, und man nicht hoffen durfte, mit ihm angenehm zu plaudern, wandte sie sich wieder zu Kolossoff und fragte ihn nach seiner Meinung über ein neues Stück, das eben aufgeführt worden war.

Kolossoff beurteilte es sehr hart und benutzte die Gelegenheit, seine Ideen über die Kunst zum besten zu geben. Die Fürstin Sophie Wassiljewna zeigte sich wie stets von der Richtigkeit seiner Beobachtungen betroffen; wenn sie es einmal wagte, den Verfasser des Stückes zu verteidigen, so geschah das nur, um sich im nächsten Augenblick für besiegt zu erklären oder einen Ausweg zu finden.

Nechludoff betrachtete abwechselnd die alte Dame und Kolossoff und hörte ihnen zu; er entdeckte zunächst, daß diese beiden Personen mit dem Stücke, von dem sie sprachen, nichts zu thun hatten, daß, sie auch mit sich nichts zu thun hatten, und daß ihre Unterhaltung nur einfach ein körperliches Bedürfnis befriedigte, das Bedürfnis, die Verdauung zu fördern, indem sie die Muskeln der Zunge und der Kehle bewegten. Er bemerkte dann, daß Kolossoff, der Branntwein, Wein, Kaffee und Likör getrunken, ein wenig berauscht war, nicht nach Art der Leute, die nicht ans Trinken gewöhnt sind, sondern nach Art solcher, die regelmäßig trinken. Kolossoff faselte nicht etwa und sprach keine Dummheiten, befand sich aber in einem ungewöhnlichen Zustande der Erregung und Selbstzufriedenheit. Drittens bemerkte Nechludoff, daß die alte Dame selbst bei der lebhaftesten Unterhaltung nicht aufhörte, unruhige Blicke nach dem Fenster zu werfen, durch welches jetzt ein schräger Strahl der untergehenden Sonne hereinbrach, der die Runzeln ihres Gesichtes allzu deutlich sehen lassen konnte.

»Wie sehr Sie recht haben!« antwortete sie auf eine Bemerkung Kolossoffs und drückte dabei auf einen elektrischen Knopf.

Kurz darauf erhob sich der Arzt und verließ, ohne etwas zu sagen, wie ein richtiger Hausfreund das Zimmer. Nechludoff sah, daß Sophie Wassiljewna ihm mit den Augen folgte, während sie die Unterhaltung mit ihm fortsetzte. »Philipp,« sagte sie zu dem schönen Diener, der auf das Klingeln hereintrat, »lassen Sie gefälligst den Vorhang herunter.«

»Ja, Sie haben recht, es fehlt der Sache an Mysticismus, und ohne Mysticismus giebt es keine Poesie,« fuhr sie fort, sich an Kolossoff wendend, während ihre schwarzen Augen den Bewegungen des Dieners folgten, der mit dem Herablassen des Vorhanges beschäftigt war.

»Der Mysticismus und die Poesie sind einander notwendig, nicht wahr? Mysticismus ohne Poesie ist Aberglaube, und Poesie ohne Mysticismus ist Prosa!«

Plötzlich aber unterbrach sie sich in ihrem Vortrag.

»Aber nicht doch, Philipp, ich meine ja den andern Vorhang!« Dann sank sie, von der Anstrengung, die sie diese Worte gekostet, gleichsam erschöpft, zurück, zündete sich aber, sofort, um sich zu beruhigen, eine parfümierte Cigarette an, die sie mit ihrer mit Ringen überladenen Hand an die Lippen führte.

Der kräftige und elegante Diener neigte, gleichsam bereuend, ein wenig den Kopf. Doch Nechludoff glaubte in seinen Augen ein Aufblitzen zu bemerken, das deutlich besagte:

»Der Teufel hole dich, du alte Närrin, mit deinen Launen!«

Dann begann Philipp die Befehle der gebrechlichen und ätherischen Fürstin Sophie Wassiljewna ehrerbietig zu erfüllen.

»Was Darwin betrifft,« fuhr nun Kolossoff, sich auf seinem Tabouret hin- und herbewegend, fort, »so muß ich gestehen, daß in seiner Lehre viel Wahres liegt, doch manchmal geht er zu weit; ganz gewiß!«

»Glauben Sie auch an die Erblichkeit?« fragte die Fürstin Nechludoff, dessen Schweigen ihr peinlich war.

»Die Erblichkeit? nein, daran glaube ich nicht,« versetzte er auf’s Geratewohl, ohne die seltsamen Bilder, die ihm seine Phantasie vorspiegelte, verscheuchen zu können. Er schwieg von neuem, Sophie Wassiljewna warf ihm einen durchbohrenden Blick zu und sagte:

»Aber ich halte Sie zurück und vergesse ganz, daß Missy auf Sie wartet. Gehen Sie zu ihr, sie hat die Absicht, Ihnen ein neues Stück von Schumann vorzuspielen; Sie werden sehen, es ist sehr interessant!«

»Sie hat gar nicht die Absicht, mir etwas vorzuspielen. Das alles sind Lügen, die sie, ich weiß nicht warum, erfindet,« dachte Nechludoff, als er sich erhob und seine Lippen auf die weiße, knochige und mit Ringen bedeckte Hand Sophie Wassiljewnas drückte.

Im Salon traf er Katharina Alexijewna, die alte Jungfer, die ihn im Vorbeigehen aufhielt und, wie gewöhnlich, in französischer Sprache zu ihm sagte:

»Ich sehe, Ihre Thätigkeit als Geschworener hat einen niederschmetternden Einfluß auf Sie ausgeübt!«

»Das ist wahr, entschuldigen Sie mich, ich bin heute abend nicht bei Laune und habe nicht das Recht, andere mit meiner Stimmung zu langweilen,« entgegnete Nechludoff.

»Warum sind Sie denn aber nicht bei Laune?«

»Sie müssen mir schon gestatten, das zu verschweigen,«

»Haben Sie denn vergessen, daß Sie neulich erklärt haben, man müßte immer die Wahrheit sprechen? Sie haben diese Gelegenheit doch selbst benutzt, um uns allen grausame Wahrheiten zu sagen. Warum wollen Sie sie denn heute nicht sagen?«

»Du erinnerst dich, nicht wahr, Missy?« fügte Katharina Alexijewna hinzu und wandte sich zu dem jungen Mädchen, das eben eingetreten war.

»Wir scherzten an jenem Abend,« versetzte Nechludoff in ernstem Tone, »und im Scherz ist so etwas möglich. In Wirklichkeit sind wir so erbärmlich, oder wenigstens ich bin so erbärmlich, daß ich gar nicht daran denken mag, die Wahrheit zu sagen.«

»Sie haben unrecht, Ihr Wort zurückzunehmen, sagen Sie lieber, wir sind alle erbärmlich,« entgegnete Katharina Alexijewna heiter, ohne die ernste Stimmung Nechludoffs zu bemerken.

»Nichts ist schlimmer, als sich selbst zu gestehen, daß man nicht bei Laune ist,« erklärte Missy. »Ich gestehe es mir nie selbst, und darum bin ich auch immer bei guter Laune. Kommen Sie mit, wir wollen versuchen, Ihre schlechte Stimmung zu verscheuchen.«

Nechludoff empfand ein Gefühl, wie es die Pferde haben müssen, wenn man ihnen die Zügel anlegt, um sie anzuschirren, und noch nie hatte er eine solche Furcht empfunden, sich anschirren zu lassen.

Er entschuldigte sich schließlich und sagte, er müsse nach Hause zurück.

Als Missy ihm die Hand zum Abschied reichte, hielt sie die seine länger als gewöhnlich fest und sagte:

»Vergessen Sie nicht, daß das, was Sie bekümmert, auch gleichzeitig Ihre Freunde bekümmert; Sie werden morgen kommen, nicht wahr?«

»Ich hoffe es,« versetzte Nechludoff.

Er schämte sich, wußte aber nicht, ob seinet- oder ihretwegen, darum beeilte er sich, fortzukommen, denn er wollte sein Schamgefühl nicht sehen lassen.

»Was bedeutet das? ich bin im höchsten Grade erstaunt,« sagte Katharina Alexijewna, als er den Salon verlassen hatte. »Er ist ganz verändert! Jedenfalls verletzte Eitelkeit! Unser lieber Dimitri ist ja so empfindlich!«

»Ah bah, wir haben alle unsere guten und schlechten Tage,« erwiderte Missy in gleichgiltigem Tone, doch ihr Gesicht zeigte einen ganz andern Ausdruck, als wie sie Nechludoff hatte sehen lassen, und in ihrem innersten Herzen sagte sie sich:

»Wenn mir der nur nicht auch verloren geht! Nach alledem, was zwischen uns vorgegangen ist, wäre das recht schlecht von seiner Seite.«

Hätte man Missy gefragt, was sie unter den Worten: »was zwischen uns vorgefallen ist«, verstand, so hätte sie wohl nichts bestimmtes darauf antworten können. Dabei hatte sie aber doch die klare Empfindung, Nechludoff habe nicht nur Hoffnungen in ihr erweckt, sondern ihr sogar fast versprochen, sie zu heiraten. Es waren keine deutlichen Worte zwischen ihnen gefallen, aber es waren doch Blicke, Lächeln, Anspielungen und bedeutungsvolles Schweigen. Das hatte ihr genügt, um ihn als den ihrigen zu betrachten, und der Gedanke, ihn zu verlieren, war ihr sehr schmerzlich.

»Schmach und Ekel, Ekel und Schmach!« sagte sich Nechludoff in diesem Augenblick, als er zu Fuß auf demselben Wege, den er schon oft zurückgelegt, heimkehrte. Der peinliche Eindruck, den seine Unterredung mit Missy erweckt, wollte noch immer nicht schwinden. Er fühlte, daß er materiell dem jungen Mädchen gegenüber frei war, daß er sich ihr nie ausdrücklich erklärt und ihr nichts gesagt hatte, was ihn hätte binden können; doch er fühlte auch, daß er in Wirklichkeit darum nicht weniger gebunden war. Er fühlte das, und ebenso fühlte er mit der ganzen Kraft seiner Seele, daß es ihm unmöglich war, sie zu heiraten.

»Schmach und Ekel, Ekel und Schmach!« wiederholte er sich, während er nicht allein an seine Beziehungen zu Missy, sondern an sein ganzes Leben und das der andern dachte. Diese Worte kehrten unaufhörlich wie ein Endreim in seiner Seele wieder, und er wiederholte sie sich noch, als er seine Wohnung betrat.

»Ich werde heute abend nicht speisen,« sagte er zu seinem Diener Kornej, der ihm in dem Speisezimmer entgegeneilte und ihm auftragen wollte. »Gehen Sie!«

»Wie Sie wünschen,« entgegnete der Diener, ging aber nicht, sondern fing sofort an, den Tisch abzudecken, wobei Nechludoff sich des Gedankens nicht erwehren konnte, er thue das nur, um ihn zu ärgern. Er wünschte, jedermann ließe ihn in Frieden, und dabei schienen es alle darauf anzulegen, ihn absichtlich zu belästigen. Endlich ging der Diener fort, und Nechludoff trat zu dem Samowar, um sich seinen Thee zu bereiten; als er aber im Vorzimmer die schweren Schritte Agrippina Petrownas hörte, entfloh er hastig, denn er wollte sie nicht sehen und ging in den Salon, dessen Thür er hinter sich abschloß.

In diesem Salon war seine Mutter vor fünf Monaten gestorben. Zwei Reflektorlampen erleuchteten das geräumige Zimmer und warfen ein scharfes Licht auf zwei große, an der Wand hängende Porträts, das seiner Mutter und seines Vaters. Als er diese Bilder wiedersah, erinnerte er sich an die letzten Beziehungen, die er zu seiner Mutter gehabt hatte, und erkannte, daß auch sie gefälscht und unnatürlich gewesen waren. Auch hier fand er nur Schmach und Ekel. Er erinnerte sich, daß er in den letzten Krankheitstagen seiner Mutter fast ihren Tod gewünscht hatte. Er hatte sich gesagt, er wünsche diesen Tod, um die Unglückliche von ihren Leiden befreit zu sehen; jetzt aber fühlte er, er hatte ihn gewünscht, um selbst vom Anblick dieser Leiden befreit zu werden.

Da er der Qual dieser Erinnerungen entfliehen wollte, so näherte er sich dem Porträt, dem Werke eines berühmten Malers, für das einst 5000 Rubel bezahlt worden waren. Die Fürstin Nechludoff war auf demselben in schwarzseidenem Kleide mit entblößtem Busen dargestellt. Man sah, der Künstler hatte die größte Sorgfalt darauf verwendet, den Anfang der Brüste, den sie trennenden Zwischenraum, den Hals und die sehr schönen Schultern der Dame zu malen, und von neuem wandelte ihn eine Empfindung der Scham und des Ekels an. Er war entsetzt; wie empörend war diese Art, seine Mutter als halbnackte Schönheit darzustellen! Es war um so empörender, als dieselbe Frau vor fünf Monaten in demselben Zimmer ausgetrocknet wie eine Mumie, auf einem Divan gelegen und einen Geruch ausgeströmt, der sich durch das ganze Haus verbreitete. Nechludoff erinnerte sich, daß sie am Tage vor ihrem Tode seine Hand in ihre armen, abgemagerten Hände genommen und zu ihm gesagt hatte: »Verdamme mich nicht, Mitja, wenn ich gesündigt habe«; dabei waren Thränen aus ihren angstvoll blickenden Augen gestürzt.

»Welche Schmach!« sagte er sich, und betrachtete von neuem das Bild, auf welchem seine Mutter ihre üppigen Brüste mit schamlosem Lächeln zur Schau stellte.

Diese nackte Brust erweckte in ihm die Erinnerungen an eine andere Frau, die er vor einiger Zeit ebenso dekolletiert gesehen hatte. Das war Missy, die ihn an einem Ballabende aufgefordert, sich ihr neues Kleid anzusehen, und Nechludoff erinnerte sich mit wahrem Widerwillen, mit welchem Vergnügen er die hübschen Schultern und schönen Arme des jungen Mädchens betrachtete; er erinnerte sich, daß Missys Eltern dieser Toilette beiwohnten, dieser plumpe und sinnliche Vater mit seiner blutbefleckten Vergangenheit und diese Mutter mit dem verdächtigen Ruf. Das alles war gleichzeitig abstoßend und schmachvoll; Schmach und Ekel, Ekel und Schmach!

»Nein, nein,« dachte er, »das kann nicht so weiter gehen, ich muß mich befreien. Ich muß alle diese lügnerischen Beziehungen abbrechen, sowohl mit den Kortschagins, mit Marie Wassiljewna und allen andern … ja, entfliehen will ich und in Frieden aufatmen. Ins Ausland will ich gehen, nach Rom und mich mit Malerei beschäftigen.«

Doch sogleich kamen ihm wieder die Zweifel über sein Talent in den Sinn.

»Ah bah, was thut das; die Hauptsache ist, daß ich in Frieden aufatme. Ich werde zuerst nach Konstantinopel und dann nach Rom gehen. Sobald ich mit dem Schwurgerichtshof fertig bin und die Angelegenheit mit dem Advokaten geregelt habe, werde ich abreisen.«

Wieder erstand vor ihm das Bild der Gefangenen mit ihren schwarzen, etwas schielenden Augen. Wie sie bei den letzten Worten, die sie gesprochen, geweint hatte! Mit heftiger Bewegung warf Nechludoff die Cigarette fort, die er sich eben angezündet hatte, steckte sich eine andere an, und begann im Salon auf- und abzugehen. Wieder sah er die Minuten vor sich, die er mit Katuscha verlebt; er sah die Szene in dem kleinen Zimmer, die sinnliche Leidenschaft, die ihn fortgerissen und die Enttäuschung, die er empfunden, als seine Begierde befriedigt war. Wieder sah er das weiße Kleid und die rote Schleife vor sich, und wieder durchlebte er die heilige Messe.

»Ja, ich habe sie geliebt, sie habe ich wahrhaft rein und schön in jener Nacht geliebt, und auch vor jener Nacht habe ich sie schon geliebt. Wie liebte ich sie, als ich bei meinen Tanten wohnte und an meiner Dissertation schrieb.«

Nechludoff sah sich wieder, wie er einst gewesen war. Er fühlte sich von einem Duft von Frische, Jugend und Lebensfreude durchdrungen und die Traurigkeit, die ihn jetzt niederdrückte, wurde dadurch noch vermehrt.

Wie sollte er sich von seinem Verhältnis mit Maria Wassiljewna befreien, wie sollte er dem Manne dieser Frau und ihren Kindern von neuem ins Auge blicken, wie sollte er seine Beziehungen zu Missy abbrechen, wie den Widerspruch lösen, der zwischen der Thatsache lag, die Ungerechtigkeit des Grundeigentums ausgesprochen und doch eine Besitzung ausgebeutet zu haben, deren Einnahmen zum Leben er dringend brauchte? Wie sollte er die gegen Katuscha begangene Schuld tilgen? Trotzdem konnten die Dinge nicht so bleiben, wie sie waren.

»Ich kann doch,« sagte sich Nechludoff, »eine Frau nicht im Stich lassen, die ich geliebt habe, und mich darauf beschränken, einen Advokaten zu bezahlen, der sie der Zwangsarbeit entreißen soll, die sie übrigens gar nicht verdient hat. Meine Schuld mit Geld zu tilgen, heißt dieselbe Schuld, die ich begangen, als ich Katuscha mit einem Hundertrubelschein abfinden wollte, auf’s neue wiederholen.«

Wieder sah er die Minute vor sich, als er im Hausflur seiner Tanten Katuscha das Geld in die Hand gesteckt hatte und entflohen war.

»Ach, dieses Geld!« sagte er sich mit demselben Gemisch vor Schreck und Scham, das er während jener Minute empfunden. »Eine Frau lieben, sich ihre Liebe zu erobern, sie verführen und ihr einen Hundertrubelschein dazulassen! Aber das ist ja das Werk eines Elenden, und dieser Elende bin ich gewesen! Ist es denn möglich, bin ich wirklich solch ein Elender?«

»Gewiß,« antwortete ihm eine Stimme in seinem Innern, »dein Verhältnis mit Marie Wassiljewna, deine Freundschaft mit ihrem Gatten, ist das alles nicht das Werk eines Elenden?«

»Und dein Verhalten bei der Erbschaft deiner Mutter, die Art, wie du aus einem Vermögen Nutzen ziehst, das du selbst für unmoralisch erklärt hast? Dieses ganze unnütze und unsaubere Leben? und vor allem dein Benehmen gegen Katuscha? Jawohl, du bist ein Elender! Wie die andern dich beurteilen, thut nichts zur Sache, du kannst die andern betrügen, aber nicht dich selbst.«

Jetzt begriff Nechludoff, daß er die Abneigung, die er seit einiger Zeit und ganz besonders an diesem Abend gegen die Menschen, gegen den alten Fürsten, gegen Sophie Wassiljewna, gegen Missy, ihre Gouvernante und ihren Diener empfand, in Wirklichkeit nur gegen sich selbst empfand. Und seltsamerweise hatte das Geständnis seiner Niedrigkeit, so peinlich es ihm auch war, doch etwas Beruhigendes und Tröstendes für ihn!

Schon mehrmals hatte er in seinem Leben eine solche »Gewissensreinigung«, wie er es nannte, vorgenommen. So nannte er nämlich die moralischen Krisen, bei welchen er gleichsam eine Verlangsamung und manchmal sogar einen Stillstand des inneren Lebens fühlte und sich entschloß, den Schmutz zu entfernen, der sich in seiner Seele angesammelt hatte.

Wenn er diese Krisen überstanden, ermangelte Nechludoff niemals, sich Lebensregeln vorzuschreiben, die zu befolgen er sich dann vornahm. Er führte ein Tagebuch und »schlug«, wie er sich selbst ausdrückte, »eine Seite um.« Doch jedesmal hatte er sich in dem Verkehr mit der Welt fortreißen lassen, und war unwillkürlich wieder auf denselben Punkt oder noch tiefer, als vor der seelischen Krisis, zurückgesunken.

Zum erstenmal hatte er eine solche »Reinigung« in dem Sommer vorgenommen, als er seine Ferien bei seinen Tanten verlebt. Die Krisis, eine Krisis jugendlicher Erregung, war damals sehr stark gewesen, und die Folgen hatten ziemlich lange angedauert. Die zweite Krisis hatte stattgefunden, als er vor dem Kriege gegen die Türken sein Leben hatte opfern wollen und sich nach dem Kriegsschauplatz hatte schicken lassen. Diesmal aber waren die Folgen der Krisis schnell verschwunden. Die dritte Krisis hatte schließlich stattgefunden, als er die Armee verlassen, um sich ganz und gar der Malerei zu widmen.

Nie hatte er sein Gewissen seitdem »gereinigt«, und daher kam es, daß der Unterschied zwischen dem, was ihm sein Gewissen befahl und dem Leben, das er führte, noch nie so groß gewesen war. Er fühlte das und war entsetzt darüber. Der Abgrund war so tief, daß es ihm zuerst unmöglich erschien, ihn zu überbrücken.

»Du hast schon öfter als einmal dich zu bessern versucht, und es ist dir nicht gelungen!« sprach eine geheime Stimme in ihm. »Wozu einen neuen Versuch machen? Und außerdem stehst du in dem Falle nicht allein da, ein jeder ist so wie du!«

Doch das moralische, freie, thätige, lebendige Wesen, das einzige, wahre Wesen, das in jedem von uns lebt, hatte sich in diesem Augenblick in ihm enthüllt. Er hörte es, er mußte es hören und daran glauben. So ungeheuer auch der Unterschied zwischen dem war, was er war und was er hatte werden wollen, dieses innere Wesen erklärte ihm, daß alles noch möglich war.

»Ich werde die Bande der Lüge brechen, in die ich verstrickt bin, so schwer es mir auch fallen mag, ich werde alles gestehen und die Wahrheit sagen und danach handeln,« beschloß er. »Ich werde Missy die Wahrheit sagen, werde ihr sagen, daß ich ein Wüstling bin, daß ich mich nicht mit ihr verheiraten kann und sie um Verzeihung bitten, daß ich störend in ihr Leben getreten bin! Ich werde Maria Wassiljewna sagen… Oder nein, ich werde ihr nichts sagen, aber ihrem Mann werde ich sagen, daß ich ein Elender bin, der seiner Freundschaft unwürdig ist. Und auch Katuscha werde ich sagen, daß ich ein Elender bin und gegen sie gesündigt habe. Ich werde alles thun, um ihr Schicksal zu mildern, ich werde sie wiedersehen, und sie um Verzeihung bitten, wie es die Kinder thun…«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr fort: »Und wenn es sein muß, werde ich sie heiraten!«

Er hielt von neuem inne. Seine innere Aufregung wuchs von Minute zu Minute. Plötzlich faltete er die Hände, wie er es in seiner Kindheit that, erhob die Augen und sprach:

»Herr, mein Gott, komm du mir zu Hilfe, erleuchte mich und dringe in mich ein, um mich zu reinigen!«

Nechludoff betete. Er bat Gott, ihn zu erleuchten, und doch hatte sich das Wunder, um das er in seinem Gebete flehte, schon vollzogen. Gott, der in ihm lebte, hatte wieder von seinem Gewissen Besitz ergriffen, und Nechludoff fühlte nicht nur die Freiheit, die Güte, die Freude des Lebens; er fühlte auch, daß sich noch alles zum Guten wenden konnte. Er fühlte sich im stande, alles Gute zu vollbringen, was nur ein Mensch zu vollbringen vermag.

Und Thränen traten in seine Augen; gleichzeitig gute und böse Thränen, gute, weil es Thränen der Güte waren, die das Erwachen dieses inneren Wesens hervorgerufen, das Jahre hindurch in ihm geschlummert hatte; doch auch böse Thränen, weil es Thränen des Stolzes und der Bewunderung für sich selbst und seine Seelengröße waren.

Er erstickte, trat zum Fenster und öffnete es. Das Fenster ging auf den Garten hinaus, und die Luft war frisch, klar und still. Ein Geräusch von Rädern hallte in der Ferne wieder, dann ward wieder alles still. Unter dem Fenster zeichnete sich der Schatten einer großen, kahlen Pappel auf dem Sande der Allee und dem Rasen ab. Links erschien das Dach der Scheune, das im Mondschein ganz weiß aussah, Nechludoff betrachtete den von sanftem Silberlicht überfluteten Garten, die Scheune und den Schatten der Pappel und sog die belebende Nachtluft ein.

»Wie schön ist es, mein Gott, wie schön!« sagte er.

Am schönsten aber war es in seiner Seele!

Achtes Kapitel

Die Maslow wurde erst gegen sechs Uhr in das Gefängnis zurückgeführt. Sie fühlte sich vollkommen erschöpft. Die unvorhergesehene Strenge des über sie gefällten Urteils hatte sie gleichsam niedergeschmettert; und der lange Weg durch die schlechtgepflasterten Straßen hatte sie vollends betäubt.

Dann fiel sie auch vor Hunger um. In einer der Pausen während der Verhandlung hatten ihre Wärter Brot und harte Eier gegessen; das Wasser war ihr im Munde zusammengelaufen und sie hatten bemerkt, daß sie Hunger hatte; doch aus Schamgefühl hatte sie die Wärter um nichts bitten wollen. Die Verhandlung hatte wieder begonnen und noch über drei Stunden gedauert, so daß die Maslow schließlich vor Ermüdung und Abspannung keinen Hunger mehr spürte. In diesem Zustande hatte sie die Verlesung des Urteils angehört.

Zuerst glaubte sie, sie träume, und hatte sich von der Zwangsarbeit nicht gleich eine Vorstellung machen können. Es erschien ihr wie ein böser Traum, aus dem sie im nächsten Augenblick erwachen mußte. Doch an der ganz natürlichen Art, wie Bekannte, Advokaten, Zeugen und der der ganze Saal die Verlesung ihrer Verurteilung aufgenommen, hatte sie bald gemerkt, daß es wahr war. Nun hatte sie eine Anwandlung von Leidenschaft ergriffen, und sie hatte aus Leibeskräften geschrieen, sie wäre unschuldig. Dann hatte sie gesehen, daß man auch ihren Schrei als etwas Natürliches, vorher Erwartetes aufgenommen, das ihre Lage zu verändern außer stande sei. Sie war in Thränen ausgebrochen und hatte sich jetzt vollständig gefügt, die seltsame und grausame Ungerechtigkeit, die ihr ihr Unglück eingebracht, bis zu Ende zu ertragen.

Eins wunderte sie ganz besonders: daß ein so hartes Urteil von Männern über sie gefällt werden konnte; – von Männern in der Blüte der Jahre, nicht von Greisen; von Männern, die sie während der ganzen Prozeßdauer mit wohlgefälligen Augen angeblickt. Denn mit Ausnahme des Staatsanwalts, dessen Blicke ihr die ganze Zeit über bösartig erschienen waren, hatte sie auch nicht einen ohne Vergnügen angesehen. Und diese Männer, die ihr liebenswürdige Blicke zugeworfen, verurteilten sie jetzt zur Zwangsarbeit, obwohl sie an dem Verbrechen, dessen man sie beschuldigte, unschuldig war! Sie hatte bitterlich geweint, doch schließlich hatten ihre Thränen aufgehört, und als man sie nach der Verhandlung in eine Zelle des Gerichtsgebäudes eingesperrt, bevor sie in das Gefängnis zurückgebracht wurde, hatte sie nur noch an zweierlei gedacht: an Trinken und Rauchen.

Sie war schon einige Zeit in der Zelle allein, als der mit ihrer Aufsicht betraute Gendarm die Thür öffnete und ihr drei Rubel übergab.

»Da, nimm! Eine Dame schickt dir das!«

»Was für eine Dame?«

»Na, nimm! Ich habe mich nicht mit dir zu unterhalten!«

Das Geld schickte der Maslow Frau Kitajeff, ihre Wirtin, die den Nuntius beim Verlassen des Gerichtssaales gefragt hatte, ob sie der Verurteilten etwas Geld geben dürfe. Auf die bejahende Antwort des Nuntius zog sie vorsichtig den dreiknöpfigen Handschuh von ihrer linken Hand, nahm aus der Hintertasche ihres seidenen Rockes eine mit Scheinen und Kleingeld gefüllte Börse, und übergab dem Nuntius einen zwei und einen halben Rubelschein, zusammen mit fünfzig Kopeken Kupfergeld, die dieser Nuntius vor ihren Augen dem Gensdarm einhändigte.

»Geben Sie ihr aber alles, und zwar gleich,« hatte Frau Kitajeff hinzugefügt.

Der Gensdarm hatte sich über diese Bemerkung geärgert, daher seine schlechte Laune gegen die Maslow.

Diese war aber trotzdem beim Anblick des Geldes hocherfreut, denn jetzt konnte sie wenigstens ihren doppelten Wunsch erfüllen.

»Wenn ich mir nur schnell Schnaps und Zigaretten verschaffen kann!« sagte sie sich, und alle ihre Sorgen hatten sich auf diesen einzigen Wunsch beschränkt. Sie hatte so großes Verlangen, Schnaps zu trinken, daß ihr schon bei dem Gedanken ans Trinken das Wasser im Munde zusammenlief, und freudig sog sie den Duft des Tabaks ein, der in Rauchwolken in ihre Zelle drang.

Trotzdem mußte sie noch lange auf die Erfüllung ihres Wunsches warten. Der Aktuar, der sie ins Gefängnis zurückbringen lassen sollte, hatte sie thatsächlich vergessen und sich in einem Gespräch über Politik mit dem dicken Richter und dem Verteidiger verspätet.

Schließlich aber gegen fünf Uhr hatte man sie, nachdem man Kartymkin und die Botschkoff fortgebracht, abgeholt, um sie den beiden Soldaten zu übergeben, die sie am Morgen hergebracht. Als sie dann das Justizgebäude verließ, hatte sie gleich einem der Soldaten die fünfzig Kopeken gegeben und ihn gebeten, ihr Zigaretten, zwei kleine Brote und eine halbe Flasche zu kaufen.

Der Soldat hatte zu lachen angefangen und gesagt: »Na, du leistest dir aber was Ordentliches!« Thatsächlich hatte er die Zigaretten und die kleinen Brötchen gekauft, doch den Schnaps wollte er ihr nicht kaufen. Die Maslow aß eins der Brote auf dem Wege, doch dadurch war sie nur noch hungriger geworden.

Erst nach Sonnenuntergang war sie ins Gefängnis gekommen, und auch da hatte sie noch lange im Flur warten müssen, weil in demselben Augenblick Wärter einen Zug von hundert Gefangenen anbrachten, der aus einer Nachbarstadt hierher überführt worden war.

Es waren darunter rasierte Männer und solche mit langen Bärten, alte und junge Russen und Ausländer. Einigen war der halbe Kopf geschoren, und sie trugen Eisen an den Füßen. Alle aber hatten die Maslow, als sie an ihr vorüberkamen, mit lüsternen Augen angesehen, und mehrere hatten ihr mit begehrlich flammendem Gesicht zugelächelt, waren an sie herangetreten und hatten sie in die Taille gekniffen.

»He, he, he! ein hübsches Mädel! Das ist sicherlich ’ne Moskauer Pflanze!« hatte der eine gesagt.

»Mein Fräulein, alle Hochachtung!« meinte ein anderer augenblinzelnd.

Einer, dessen Vorderkopf rasiert war und der einen ungeheuren Schnurrbart trug, hatte die Vertraulichkeit so weit getrieben, daß er sie umarmte.

»Na, na, ziere dich nur nicht so!« hatte er gesagt, als sie ihn zurückstieß.

»Heda, du Schwein, was thust du da?« rief ein Aufseher, der plötzlich aus dem Gefängnisbureau kam.

Der Sträfling trat, am ganzen Leibe zitternd, sofort zurück, und nun wandte sich der Aufseher zur Maslow:

»Und was hast du hier zu suchen?«

Die Maslow wollte antworten, sie käme aus dem Schwurgerichtssaale; doch sie war so abgespannt, daß sie nicht einmal die Kraft zum Sprechen hatte.

»Sie kommt vom Gericht her, Herr Aufseher,« antwortete einer der Soldaten, indem er die Hand an die Mütze legte.

»Dann führen Sie sie dem Oberaufseher vor! aber schleunigst!«

Der Oberaufseher übernahm die Gefangene, rüttelte sie am Arm, um sie aufzuwecken, und führte sie huldvollst selbst durch die langen Gänge zu dem Saal, den sie am Morgen verlassen hatte.

Dieser Saal war ein großes, neun Arschin langes und sieben Arschin breites Zimmer mit zwei Fenstern; es war nur mit einem alten, vollständig verfallenen Ofen und zwanzig aus schlecht zusammengefügten Brettern hergestellten Betten ausgestattet, die zwei Drittel des Raumes einnahmen. An der Wand hing der Thür gegenüber ein altes, mit einer Schmutzkruste überzogenes Heiligenbild, vor welchem eine Kerze brannte und unter dem ein Immortellenkranz hing. Hinter der Thür links stand ein großer Nachteimer.

Man hatte eben die Abendmusterung vorgenommen und die Gefangenen für die Nacht eingeschlossen.

Der Saal wurde von fünfzehn Personen bewohnt: zwölf Frauen und drei Kindern.

Es war noch hell, und nur zwei Frauen lagen im Bette. Die eine, welche schlief und den Kopf mit einem Mantel bedeckt hatte, war eine wegen Landstreicherei eingesperrte Wirtin, die den ganzen Tag schlief. Die andere, die wegen Diebstahls verurteilt worden, war schwindsüchtig. Sie schlief nicht, blieb aber mit weit aufgerissenen Augen und den Kopf auf ihren zum Kopfkissen gefalteten Mantel gebettet, liegen. Um nicht zu husten, hielt sie mühsam in ihrer Kehle den Speichel zurück, der über ihre Lippen sickerte.

Von den anderen Frauen, von denen die Mehrzahl nur in grobe Leinenhemden gekleidet war, standen sieben, in zwei Gruppen geteilt, an den Fenstern und sahen dem Vorbeimarsch der Gefangenen im Hofe zu. An einem Fenster stand in einer Gruppe von drei Personen die Alte, die mit der Maslow am Morgen durch das Guckfenster in der Thür gesprochen hatte. Man nannte sie die Korablewa. Das war ein Geschöpf mit brummiger Miene, dichten, zusammengewachsenen Augenbrauen, Hautfalten, die unter dem Kinn herabhingen, spärlichen, an den Schläfen ins Graue schimmernden Haaren und einer ganz mit Haaren bewachsenen Warze auf der Wange, außerdem war sie groß, stark und kräftig gebaut. Dieses Weib war zu Gefängnisstrafe verurteilt worden, weil sie ihren Mann ermordet, den sie eines Tages bei der Vergewaltigung seiner Tochter betroffen. Sie war die Aelteste in dem Saale und hatte das Vorrecht, Schnaps zu verkaufen. In diesem Moment nähte sie am Fenster, indem sie die Nadel nach bäurischer Art mit drei Fingern ihrer starken, schwarzen Hand hielt.

Neben ihr saß, ebenfalls mit Nähen beschäftigt, ein kleines, schwarzes Weib mit einer Stumpfnase und kleinen, schwarzen, unstät umherschweifenden Augen. Das war eine Eisenbahnwärterin, die man zu drei Monaten Gefängnis verurteilt hatte, weil sie in einer Nacht ihre Fahne nicht herausgesteckt und dadurch einen Unfall verursacht hatte.

Das dritte Weib war die Fedosja oder Fenitschka, wie ihre Gefährtinnen sie nannten, ein ganz junges, rosiges und weißes Geschöpf mit hellen Kinderaugen und zwei langen blonden Flechten, die sie um ihren kleinen Kopf gewickelt trug. Sie saß im Gefängnis, weil sie versucht hatte, ihren Mann zu vergiften. Sie hatte das thatsächlich am Hochzeitsabende versucht, ohne recht zu wissen, warum. Sie zählte damals sechzehn Jahre, und der Mann, mit dem man sie verheiratet hatte, war ihr verhaßt. Doch in den acht Monaten, die ihrer Verurteilung vorangegangen waren, hatte sie sich nicht allein mit ihrem Manne ausgesöhnt, sondern sich sogar schließlich in ihn verliebt, so daß sie ihm zur Zeit ihrer Verurteilung mit Leib und Seele angehörte, was das Gericht jedoch nicht hinderte, sie trotz der Bitten ihres Mannes und ihrer Schwiegereltern, die während dieser acht Monate eine aufrichtige Zärtlichkeit zu ihr gefaßt hatten, schuldig zu sprechen. Gut, heiter und stets zu lächeln bereit, war diese Fedosja die Bettnachbarin der Maslow, hatte sich bald an sie angeschlossen und überschüttete sie mit Rücksichten und Aufmerksamkeiten.

Zwei andere Weiber saßen nicht weit davon auf einem Bett. Die eine, die etwa vierzig Jahre zählte, war mager und blaß, zeigte aber immer noch einige Spuren früherer Schönheit. Sie hielt in ihren Armen ein kleines Kind, dem sie die Brust gab. Es war eine Bäuerin, die wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt ins Gefängnis gebracht worden war. Eines Tages war die Polizei in ihr Dorf gekommen, um einen ihrer Neffen auszuheben und zum Regiment zu überführen. Die Bauern, die diese Maßregel für ungesetzlich hielten, hatten sich des Stanowojs bemächtigt und den jungen Mann befreit, und dieses Weib war zuerst dem Pferde, auf das man ihren Neffen gesetzt, in die Zügel gefallen. Das andere Weib, das neben ihr saß, war eine alte Bucklige, die schon graue Haare hatte. Sie spielte Haschen mit einem dicken Jungen von vier Jahren, einem rosigen, bausbäckigen Burschen, der unter lautem Lachen um sie herumlief und fortwährend wiederholte: »Kiß, Kiß, du kriegst mich doch nicht!«

Dieses alte Weib war der Beihilfe bei einem Brande schuldig befunden worden, den ihr Sohn angelegt hatte. Sie ertrug ihre Einkerkerung mit größter Ergebung, und beunruhigte sich nur um ihren Sohn und vor allem um ihren Mann, der in ihrer Abwesenheit niemand hatte, der ihn säubern und ihm die Läuse abfangen konnte.

Vier andere Frauen standen an dem zweiten Fenster und lehnten den Kopf an die Eisenstäbe; sie sprachen mit den über den Hof ziehenden Gefangenen, denselben, denen die Maslow kurz vorher im Eingangsflur des Gefängnisses begegnet war. Eins dieser Weiber, das wegen Diebstahls verurteilt worden, war eine große Rothaarige mit welkem Körper, mit gelbem, ganz mit Sommersprossen übersäetem Gesicht. Mit heiserer Stimme schrie sie durch das Fenster allerlei gemeine Worte. Neben ihr stand eine kleine brünette Frau, die mit ihrer langen Taille und ihren kurzen Beinen wie ein Mädchen von zehn Jahren aussah. Ihr Gesicht war rot und voller Flecken, mit großen, schwarzen Augen und dicken, aufgestülpten Lippen, die eine Reihe hervorstehender weißer Zähne zeigten. Sie lachte kreischend, während sie auf die Reden hörte, die ihre Nachbarin mit den Gefangenen im Hofe wechselte. Wegen ihrer auffallenden Häßlichkeit nannte man sie die Schönheit. Hinter ihr stand ein anderes Weib, eine magere, knochige Gestalt von jammervollem Aussehen, eine Unglückliche, die wegen Hehlerei verurteilt worden war; sie sprach kein Wort, sondern beschränkte sich nur manchmal darauf, mit zustimmender Miene zu den Gemeinheiten zu lächeln, die sie mitanhörte. Es war da noch eine vierte Gefangene, die wegen unerlaubten Branntweinverkaufs verurteilt worden war. Das war die Mutter des kleinen Jungen, der mit der Buckligen spielte, und außerdem gehörte ihr noch ein kleines Mädchen von sieben Jahren, die man, da man nicht wußte, wem man sie anvertrauen sollte, bei der Mutter im Gefängnis belassen hatte. Das kleine Mädchen stand bei ihrer Mutter und lauschte eifrig den gemeinen Reden, die aus dem Fenster gerufen wurden. Sie war zart und fein und hatte reizende blaue Augen und zwei fast weiße Haarflechten, die ihr auf den Rücken fielen.

Die zwölfte Gefangene war die Tochter eines Kirchendieners, die ihr neugeborenes Kind in einem Brunnen ertränkt hatte. Sie war ein großes, starkes blondes Mädchen mit wirren Haaren und starrblickenden, runden Augen. Sie ging fortwährend in dem freien Raum zwischen den beiden Betten auf und ab, sah niemand, sprach mit niemand, und stieß nur jedesmal, wenn sie an die Wand kam und sich umdrehen mußte, ein unartikuliertes Knurren aus.

Als die Thür sich öffnete und die Maslow erschien, unterbrach die Kirchendienerstochter ihren Spaziergang einen Augenblick, runzelte die Stirn und betrachtete die »Neue«; dann ging sie wieder, ohne etwas zu sagen, mit ihrem festen Schritte auf und ab. Die Korablewa stach ihre Nadel in den Sack, an dem sie nähte, betrachtete die Maslow durch ihre Brille und rief mit fragender Miene im Baßtone:

»Da ist sie ja! Sie ist wieder da! Und ich glaubte, man würde sie freisprechen!«

Sie nahm ihre Brille ab und legte sie mit ihrer Arbeit auf ihr Bett.

»Und ich sagte eben noch zu der kleinen Tante, man würde sie vielleicht gleich freilassen! So was kommt doch vor! Manchmal geben sie einem sogar Geld!« – fuhr die Eisenbahnwärterin mit singender Stimme fort.

»Sie haben dich also verurteilt?« fragte Fenitschka, und richtete ihre klaren, kindlichen Augen schüchtern auf die Maslow. Dabei verdüsterte sich ihr jugendlich heiteres Gesicht, als wenn sie weinen wollte.

Die Maslow gab keine Antwort. Sie ging auf ihr Bett zu, das neben dem der Korablewa stand und setzte sich.

»Das hätte ich nie erwartet!« sagte Fenitschka und setzte sich neben sie.

Drittes Kapitel

Im Augenblick, da die Maslow in einer Zelle des Gerichtsgebäudes auf einer Bank saß und sich die Schuhe von den Füßen zog, die sie sich, auf dem Wege durch die Stadt wund gelaufen, erwachte derselbe Fürst Dimitri Iwanowitsch Nechludoff, der sie einst verführt hatte, in seinem großen, mit einem weichen Daunenkissen belegten Sprungfederbett. Er richtete sich in seinem, elegant auf der Brust in Fältchen gelegten Hemde aus holländischer Leinewand, nachlässig auf, zündete sich eine Cigarette an und dachte darüber nach, was er am vorigen Tage gethan und was er an diesem thun wollte. Er erinnerte sich an den vorigen Abend, den er bei den Kortschagins zugebracht. Es war ein sehr reiches und sehr angesehenes Ehepaar, dessen Tochter er nach Ansicht aller heiraten mußte. Diese Erinnerung entlockte ihm einen Seufzer; dann warf er die Cigarette fort und streckte die Hand nach einem silbernen Etui aus, um sich eine zweite zu nehmen, doch sofort besann er sich eines anderen, richtete mutig seinen noch müden Körper in die Höhe, streckte seine weißen, mit Haaren übersäeten Beine aus dem Bette und zog seine Pantoffeln an. Dann bedeckte er seine breiten Schultern mit einem seidenen Schlafrock und ging mit schwerfälligem, aber doch lebhaftem Schritte in ein neben dem Schlafzimmer liegendes Toilettenkabinet.

Hier begann er sich zunächst sorgfältig mit einem Pulver seine an mehreren Stellen plombierten Zähne zu bürsten und spülte sie dann mit einem wohlriechenden Wasser aus; dann ging er zu der Marmortoilette und wusch sich mit einer parfümierten Seife die Hände, wobei er mit ganz besonderem Eifer seine langen Nägel reinigte und bürstete, hierauf öffnete er den Hahn der Wasserleitung und wusch sich Gesicht, Ohren und Hals. Darauf ging er in ein drittes Zimmer, in welchem ein Doucheapparat angebracht war; der kalte Wasserstrahl erfrischte seinen muskulösen Körper, der bereits Fett ansetzte. Als er sich mit dem Frottierlaken abgetrocknet hatte, wechselte er das Hemd, zog seine Schuhe an, die wie ein Spiegel leuchteten, setzte sich vor einen Trumeau und begann mit Hilfe einer Doppelbürste zuerst seinen schwarzen Bart und dann seine auf dem Schädel schon recht spärlichen Haare glattzustreichen. Alle Gegenstände, die er bei seiner Toilette benutzte, Wäsche, Kleidungsstücke. Schuhwerk, Kravatte, Nadeln, Manschettenknöpfe, alles war prima Qualität, sehr einfach, durchaus nicht auffällig, sehr solid und sehr teuer.

Ohne sich zu beeilen, beendete Nechludoff seine Toilette; dann begab er sich in den Eßsaal, ein langes Gemach, dessen Parquetboden drei Mann am vorigen Abend gebohnert hatten. In diesem Eßzimmer stand ein ungeheuer großes Büffet aus Eichenholz und ein nicht weniger großer Ausziehtisch, ebenfalls aus Eiche, der mit seinen vier breit ausgedehnten, geschnitzten Füßen, die die Form von Löwenklauen hatten, einen etwas feierlichen Eindruck machte. Auf diesem Tisch, auf dem eine kleine, mit großem Monogramm verzierte Decke lag, hatte man eine silberne Kaffeekanne mit duftendem Kaffee, eine silberne Zuckerschale, ein Milchtöpfchen und einen Korb mit frischen Brötchen, Zwiebäcken und Biscuits gestellt. Endlich lag noch neben dem Gedeck die Morgenpost: Briefe, Zeitungen und eine Lieferung der » Revue des Deux Mondes«. Nechludoff schickte sich an, die Briefe zu öffnen, als durch die auf das Vorzimmer führende Thür eine dicke Frau reiferen Alters in schwarzem Kleide und einer Spitzenhaube auf dem Kopfe ins Zimmer trat. Das war Agrippina Petrowna, die Kammerfrau der alten Fürstin, Nechludoffs Mutter, die kurz vorher in demselben Hause gestorben war. Die Kammerfrau der Mutter war als Haushälterin bei dem Sohne geblieben.

Agrippina Petrowna hatte sich zu wiederholten Malen mit Nechludoffs Mutter längere Zeit im Auslande aufgehalten; sie hatte daher das Auftreten und die Manieren einer Dame. Sie wohnte seit ihrer Kindheit in dem Hause Nechludoff und hatte Dimitri Iwanowitsch gekannt, als er noch »Mitenko« genannt wurde.

»Guten Morgen, Dimitri Iwanowitsch!«

»Guten Morgen, Agrippina Petrowna! Was giebt’s?« fragte Nechludoff.

»Da ist ein Brief für Sie. Die Zofe der Kortschagins hat ihn schon vor längerer Zeit gebracht; sie wartet in meinem Zimmer,« sagte Agrippina Petrowna und reichte ihm mit bedeutungsvollem Lächeln einen Brief.

»Es ist gut; gleich!« sagte Nechludoff, den Brief nehmend. Noch er bemerkte, daß Agrippina Petrowna lächelte und zog die Stirn kraus.

Agrippina Petrownas Lächeln bedeutete, daß sie wußte, der Brief käme von der jungen Prinzessin Kortschagin, mit der sich ihr Herr, wie sie vermutete, verheiraten sollte, und diese Vermutung mißfiel Nechludoff.

»Sagen Sie der Zofe, sie solle noch warten!«

Agrippina verließ das Zimmer, nachdem sie zuvor eine Tischbürste wieder an den richtigen Platz gehängt hatte.

Nechludoff zerriß das parfümierte Kouvert, das ihm Agrippina Petrowna gebracht, und öffnete den Brief, der auf dickem, grauem Papier mit ungleichen Linien in englischer Schrift mit spitzen Buchstaben geschrieben war.

»Hiermit erfülle ich die Verpflichtung, die ich auf mich genommen, Ihnen als Gedächtnis zu dienen,« las er in diesem Briefe, »und erinnere Sie daran, daß Sie heute, am 28. April der Geschworenensitzung beiwohnen müssen und es Ihnen infolgedessen ganz unmöglich sein dürfte, mit uns und Kolossow die Galerie von Z. … zu besichtigen, wie Sie es uns gestern mit Ihrer gewöhnlichen Leichtfertigkeit versprochen hatten, wenn Sie nicht dem Gericht die 300 Rubel Strafe bezahlen wollen, die Sie sich für Ihr Pferd nicht leisten. Ich habe gestern, als Sie fortgegangen waren, gleich daran gedacht. Vergessen Sie es also nicht!«

Auf der andern Seite stand:

»Mama läßt Ihnen sagen, daß Ihr Gedeck bis zur Nacht für Sie liegen bleibt. Kommen Sie auf jeden Fall, wann es auch sein mag!

M. K.«

Nechludoff zog die Stirn kraus. Dieses Billet war eine Fortsetzung des Feldzuges, den die Prinzessin Kortschagin schon seit zwei Monaten unternahm, um ihn in immer schwerer zu lösende Bande einzuschnüren. Andererseits aber hatte er außer der Unentschlossenheit, die an das Cölibat gewöhnte, nur wenig verliebte Männer reiferen Alters stets vor der Ehe empfinden, noch einen andern Grund, weshalb er sich, selbst wenn er zur Ehe entschlossen gewesen wäre, nicht in diesem Augenblick hätte entscheiden können. Dieser Grund hatte natürlich mit der Thatsache, daß Nechludoff Katuscha vor acht Jahren verführt und verlassen, nichts zu thun; er dachte nicht gern daran, und nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, hierin ein Hindernis zu seiner Heirat mit der jungen Prinzessin zu suchen. Der Grund war der, daß Nechludoff geheime Beziehungen zu einer verheirateten Frau unterhielt, die zu brechen er sich allerdings kürzlich entschlossen hatte.

Nechludoff war sehr schüchtern den Frauen gegenüber; und gerade diese Schüchternheit hatte Maria Wassiljewna, der Frau eines Adelsmarschalls, den Wunsch eingegeben, ihn zu ihrem Sklaven zu machen. Sie hatte ihn tatsächlich in eine Liaison verstrickt, die Nechludoff täglich mehr in Anspruch nahm und ihm tagtäglich drückender wurde. Noch zuerst hatte er der Verführung nicht widerstehen können, und später konnte er sich, weil er sich ihr gegenüber schuldig fühlte, nicht entschließen, die Fesseln zu brechen, ohne daß sie damit einverstanden war. Aber anstatt sich damit einverstanden zu erklären, sagte sie ihm, sie würde sich sofort töten, wenn er sie jetzt, da sie ihm alles geopfert, im Stiche ließe.

Unter Nechludoffs Post befand sich gerade an diesem Morgen ein Brief ihres Gatten; der Fürst erkannte die Handschrift und das Siegel. Er errötete und empfand jene Aufwallung, die er beim Nahen der Gefahr stets verspürte. Doch seine Erregung legte sich, als er den Brief geöffnet hatte. Maria Wassiljewnas Gatte, der Adelsmarschall des Bezirks, in welchem die hauptsächlichen Besitzungen der Familie Nechludoff lagen, schrieb dem Fürsten, gegen Ende Mai würde eine außerordentliche Sitzung des Rates, dem er präsidierte, abgehalten werden; er bitte ihn, derselben auf jeden Fall beizuwohnen und ihm »ein bißchen behilflich zu sein«; denn man wollte zwei sehr ernste Fragen beraten, die Schulfrage und die der Bicinalwege, und in beiden Punkten dürfte man sich auf eine lebhafte Opposition von seiten der reaktionären Partei gefaßt machen. Dieser Adelsmarschall war in der That liberal gesinnt; mit einigen anderen Liberalen derselben Art kämpfte er gegen die Reaktion, die immer stärker zu werden drohte; und dieser Kampf nahm ihn vollständig in Anspruch, so daß, er nicht einmal zu bemerken Zeit hatte, daß seine Frau ihn hinterging.

Nechludoff erinnerte sich, welche Angst er schon so oft durchgemacht; er erinnerte sich, wie er sich eines Tages eingebildet, der Mann habe alles entdeckt und sich auf ein Duell mit ihm vorbereitet, bei dem er die Absicht gehabt, in die Luft zu schießen; er durchlebte wieder die schreckliche Szene, die er mit der Frau an jenem Tage gehabt, als sie in ihrer Verzweiflung nach dem Garten gestürzt und auf den Teich zugelaufen war, um sich darin zu ertränken.

»Ich kann jetzt nicht hingehen und nichts unternehmen,« dachte er. Vor acht Tagen hatte er ihr einen Brief geschrieben, in welchem er sich schuldig bekannte und sich zu allem bereit erklärte, um seinen Fehler wieder gut zu machen, zum Schluß aber sagte er, ihre Beziehungen müßten im Interesse der jungen Frau auf immer aufhören. Auf diesen Brief erwartete er eine Antwort, die aber nicht kam. Das Ausbleiben der Antwort erschien ihm übrigens als ein gutes Zeichen. Wäre sie nicht auf den Bruch eingegangen, so hätte sie ihm schon lange geschrieben oder wäre selbst gekommen, wie sie es schon einmal gethan hatte. Nechludoff hatte von einem Offizier gehört, der Maria Wassiljewna den Hof machte und der Gedanke an diesen Nebenbuhler bereitete ihm Qualen der Eifersucht. Gleichzeitig aber freute er sich darüber, denn er hatte dadurch die Hoffnung, sich endlich von einer ihn drückenden Lüge befreien zu können.

Ein anderer Brief, den Nechludoff unter seiner Post fand, war von dem ersten Inspektor der Güter seiner Mutter, die jetzt ihm gehörten. Dieser Inspektor schrieb, Nechludoff müßte um jeden Preis nach seinem Gute kommen, um die Bestätigung seiner Erbschaftsrechte in Empfang zu nehmen, wie auch, um die Frage zu entscheiden, in welcher Weise seine Güter in Zukunft geleitet werden sollten. Die Frage bestand darin, ob die Güter weiter so geleitet werden sollten, wie sie es zu Lebzeiten der verstorbenen Fürstin wurden, oder ob man, wie der Inspektor es dieser geraten und wie er es jetzt dem jungen Fürsten riet, nicht besser that, die Verträge aufzulösen und den Bauern alle Güter, die man ihnen verpachtet hatte, wieder fortzunehmen. Der Inspektor behauptete, die direkte Ausbeutung der Güter würde bedeutend einträglicher sein. Er entschuldigte sich dann, daß er die Absendung der Rente von 3000 Rubel, die dem Fürsten zukam, etwas verzögert habe, er würde diese Summe mit der nächsten Post erhalten; die Verzögerung kam daher, daß der Inspektor die größte Mühe von der Welt hatte, das Geld von den Bauern einzubekommen, die ihre Gewissenlosigkeit so weit trieben, daß man, um sie zur Zahlung zu veranlassen, seine Zuflucht zur Gewalt nehmen mußte.

Dieser Brief war Nechludoff gleichzeitig angenehm und unangenehm. Er empfand es als etwas Angenehmes, sich als Herrn eines Vermögens zu wissen, das sein bisheriges übertraf. Andererseits dagegen erinnerte er sich, daß er sich in seiner ersten Jugend mit der Großherzigkeit und Entschlossenheit seines Alters für die soziologischen Theorien von Spencer und Henry George begeistert hatte; er hatte nicht allein gedacht, erklärt und geschrieben, daß die Erde kein Gegenstand individuellen Eigentums sein dürfe, sondern hatte sogar den Bauern ein kleines Gut geschenkt, das er von seinem Vater ererbt, um seine Handlungen seinen Grundsätzen anzupassen. Jetzt aber, da der Tod seiner Mutter ihn zum Großgrundbesitzer gemacht, hatte er zwischen zwei Entschlüssen zu wählen. Er konnte entweder auf alle seine Güter verzichten, wie er es vor zehn Jahren bei den 200 Hektaren gethan, die er von seinem Vater ererbt, oder er konnte, indem er von seinen Gütern Besitz nahm, die Grundsätze, die er einst aufrecht erhalten, stillschweigend, aber ausdrücklich, als falsch und lügnerisch hinstellen.

Den ersten dieser beiden Entschlüsse zu fassen, war ihm unmöglich, denn seine Besitzungen bildeten sein ganzes Vermögen. Wieder in den Dienst zu treten, hatte er nicht den Mut; und er war zu sehr an sein müßiges und luxuriöses Leben gewöhnt, um darauf verzichten zu können. Dann wäre das Opfer auch unnütz gewesen, denn Nechludoff fühlte nicht mehr die Kraft der Ueberzeugung und die Entschlossenheit, die er in der Jugend besessen hatte.

Doch der zweite Entschluß, die uneigennützigen und großherzigen Vorsätze, auf die er einst so stolz gewesen, ausdrücklich zu verleugnen, dieser Entschluß war ihm unangenehm, und deshalb berührte ihn der Brief seines Inspektors peinlich.

Als Nechludoff sein Frühstück beendet hatte, ging er in sein Kabinet. Er wollte aus der Vorladung ersehen, um wieviel Uhr er im Gerichtsgebäude sein mußte, und außerdem hatte er auch der Prinzessin Kortschagin zu antworten. Er ging, um sich in sein Kabinet zu begeben, durch sein Atelier, wo ein angefangenes Gemälde auf einer Staffelei stand und verschiedene Studien an den Wänden hingen. Der Anblick dieses Bildes, an dem er seit zwei Jahren arbeitete, ohne es vollenden zu können, dieser Studien und des ganzen Ateliers belebte das unaufhörlich stärker werdende Gefühl seiner Ohnmacht, Fortschritte in der Malerei zu machen, und das Bewußtsein seines Talentmangels aufs neue. Er schrieb dieses Gefühl allerdings seinem übertrieben fein entwickelten künstlerischen Geschmack zu; doch er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß er die Armee vor fünf Jahren verlassen hatte, weil er ein großes Talent als Maler in sich zu entdecken geglaubt.

So kam er denn in melancholischer Gemütsverfassung in sein ungeheuer großes Arbeitszimmer, das mit jedem möglichen Zierrat und allen Bequemlichkeiten versehen war. Er schritt auf einen großen Schreibtisch mit etiquettierten Schubladen zu, öffnete die Schublade, die die Bezeichnung »Vorladungen« trug und fand darin sofort die Anzeige, die er suchte. Diese Anzeige sagte ihm, daß er um 11 Uhr im Justizgebäude sein mußte. Nechludoff setzte sich, schloß die Schublade und begann einen Brief, in dem er der Prinzessin sagen wollte, er danke ihr für ihre Einladung, und hoffe, am Nachmittag zum Diner kommen zu können. Nachdem er aber den Brief geschrieben, zerriß er ihn; er war zu intim. Der zweite, den er schrieb, war zu kühl, fast unhöflich, und er zerriß, ihn wieder. Er klingelte, und ein Lakai trat in das Zimmer, ein älterer Mann, mit ernster Miene und rasiertem Gesicht, der eine Schürze von grauem Kaliko trug.

»Lassen Sie mir einen Fiaker kommen.«

»Sofort, Exzellenz!«

»Und sagen Sie der Person, die noch wartet, es ist gut, ich danke, und würde kommen.«

»Es ist nicht sehr passend,« dachte Nechludoff, »aber ich kann nicht schreiben, jedenfalls werde ich sie heute sehen.«

Er kleidete sich an und trat auf die Freitreppe. Der Wagen, den er gewöhnlich nahm, ein eleganter Wagen mit Gummirädern, stand bereits da, und wartete, auf ihn. »Gestern abend,« sagte der Kutscher, sich halb zu ihm wendend – »waren Sie kaum von dem Fürsten Kortschagin weggegangen, als ich ankam. Der Portier meinte: ›Er ist eben fort.‹«

»Sogar die Kutscher kennen meine Beziehungen zu den Kortschagins,« dachte Nechludoff und legte sich von neuem die Frage vor, ob er sich mit der jungen Prinzessin verheiraten sollte oder nicht. Noch immer konnte er sich über diese Frage nicht entscheiden. Zwei Argumente sprachen zu gunsten der Ehe im allgemeinen. Erstens sicherte ihm die Ehe mit der ruhigen Behaglichkeit des häuslichen Herdes ein anständiges, moralisches Leben; zweitens hoffte Nechludoff vor allen Dingen, eine Familie und Kinder würden seinem Leben ein Ziel geben, dem ein solches jetzt fehlte. Gegen die Ehe im allgemeinen sprach andererseits das Gefühl, das wir bereits erwähnt, die Furcht, die den Junggesellen in einem bestimmten Alter die Aussicht, ihre Freiheit zu verlieren, einflößt, sowie auch die unbewußte Angst vor dem Geheimnis, das eine Frauennatur stets umgiebt.

Zu gunsten der Ehe mit Missy im besonderen (Missy war der Beiname, den die junge Prinzessin Kortschagin, deren richtiger Name Marie war, in intimem Kreise trug) sprach zunächst der Umstand, daß das junge Mädchen aus guter Familie war und sich in allem, von ihren Toiletten angefangen bis zu der Art und Weise, wie sie sprach, ging und lachte, von den »gewöhnlichen« Frauen unterschied, und zwar nicht durch etwas Außergewöhnliches, sondern durch ihre »Vornehmheit«. Er fand keinen andern Ausdruck, um diese Eigenschaft zu bezeichnen, auf die er ganz besonderen Wert legte. Das zweite Argument bestand darin, daß die junge Prinzessin ihn besser zu schätzen wußte, als sonst jemand, und ihn besser verstand; und gerade in der Thatsache, daß sie ihn verstand, das heißt, seine hohen Vorzüge anerkannte, fand Nechludoff den Beweis ihrer Intelligenz und ihres sicheren Urteils. Doch es sprachen auch sehr ernste Argumente gegen die Heirat mit Missy im besonderen; erstens hätte Nechludoff aller Wahrscheinlichkeit nach ein anderes junges Mädchen finden können, das noch »vornehmer« als Missy war; zweitens zählte diese bereits 27 Jahre und hatte wahrscheinlich schon andere Männer geliebt. Dieser Gedanke aber war eine Qual für Nechludoff. Seine Eitelkeit konnte es nicht dulden, daß das junge Mädchen selbst früher einen andern als ihn geliebt hatte. Allerdings konnte er nicht verlangen, sie solle im voraus wissen, daß sie ihm eines Tages im Leben begegnen würde; doch schon der Gedanke, sie hätte einen andern Mann vor ihm lieben können, war für ihn eine Demütigung. So standen die Argumente für und wider gleich; und Buridan verglich sich lachend mit Buridans Esel. Doch trotzdem trieb er es genau so weiter, wie der Esel und wußte nicht, welchem der beiden Heubündel er sich zuwenden sollte.

»Außerdem kann ich ja, solange ich von Marie Wassiljewna keine Antwort erhalten habe und diese Angelegenheit nicht beendet ist, keine Verpflichtung eingehen,« dachte er, und das Gefühl der Notwendigkeit, seinen Entschluß noch hinauszuschieben, machte ihm Vergnügen.

»An all‘ das werde ich später denken,« sagte er sich wieder, während sein Wagen geräuschlos über den Asphalt des Hofes des Justizgebäudes rollte. »Es handelt sich jetzt für mich darum, eine soziale Pflicht mit der mir eigenen Sorgfalt zu erfüllen. Außerdem sind diese Sitzungen auch oft sehr interessant.«

Viertes Kapitel

Als Nechludoff das Gerichtsgebäude betrat, ging es auf den Korridoren schon sehr lebhaft zu. Aufseher liefen mit Papieren hin und her; andere gingen mit ernstem, langsamem Schritte, die Hände auf dem Rücken, auf und nieder. Die Nuntien, die Advokaten, die Anwälte spazierten hin und her, die Bittsteller und die auf freien Fuß belassenen Angeklagten drückten sich demütig an die Wand oder blieben wartend auf den Bänken sitzen.

»Das Bezirksgericht?« fragte Nechludoff einen der Aufseher.

»Was für eins? Kriminal oder Zivil?«

»Ich bin Geschworener!«

»Dann handelt es sich um das Schwurgericht! Das hätten Sie gleich sagen sollen! Gehen Sie nach rechts und dann links die zweite Thür!«

Nechludoff trat in die Korridore.

Vor der Thür, die der Aufseher ihm bezeichnet hatte, standen zwei Männer in eifriger Unterhaltung begriffen. Der eine war ein dicker Kaufmann, der jedenfalls als Vorbereitung auf seine Aufgabe tüchtig gegessen und getrunken hatte; denn er schien in sehr lustiger Gemütsverfassung; der andere war ein Kommis jüdischer Herkunft. Die beiden Männer unterhielten sich von den Wollpreisen, als Nechludoff auf sie zutrat und sie fragte, ob sich hier die Geschworenen versammelten.

»Ja, hier, mein Herr; ganz recht hier! Sie sind jedenfalls auch ein Geschworener, einer unserer Kollegen?« fügte der brave Kaufmann lächelnd und augenblinzelnd hinzu.

»Na, dann werden wir zusammen arbeiten,« fügte, er auf Nechludoffs bejahende Antwort hinzu. – »Baklaschoff von der zweiten Gilde,« sagte er, dem Fürsten seine breite Hand reichend. »Und mit wem habe ich die Ehre?«

Nechludoff nannte seinen Namen und trat in das Geschworenenzimmer.

»Sein Vater war beim Kaiser attachiert,« murmelte der Jude.

»Er hat Vermögen?« fragte der Kaufmann.

»Ein schwerreicher Mann!«

In dem kleinen Geschworenenzimmer waren zehn Männer aus allen Lebensstellungen versammelt. Alle waren eben erst gekommen; die einen saßen, die andern gingen auf und ab. Man betrachtete sich und knüpfte Bekanntschaft an. Da war ein pensionierter Oberst in Uniform, andere Geschworene waren im Gehrock, im Jacket; ein einziger hatte seinen Frack angezogen. Mehrere von ihnen hatten ihre Geschäfte im Stich lassen müssen, um ihre Geschworenenpflicht auszuüben, und beschwerten sich bitter darüber; dabei las man aber doch auf ihren Gesichtern eine stolze Genugthuung und das Bewußtsein, eine hohe soziale Pflicht zu erfüllen.

Als die erste Prüfung beendet war, war man in einfachen Gruppen zusammengetreten. Man unterhielt sich vom Wetter, von dem frühzeitigen Anbruch des Frühlings und den zur Verhandlung kommenden Fällen. Eine große Anzahl von Geschworenen drängte sich danach, mit dem Fürsten Nechludoff Bekanntschaft zu machen, denn sie waren augenscheinlich der Meinung, er wäre ein hervorragender Mensch. Nechludoff fand das berechtigt und natürlich, wie er es stets bei solchem Anlaß that. Hätte man ihn gefragt, warum er sich der Mehrzahl der Menschen überlegen betrachtete, er wäre außer stande gewesen, darauf zu antworten, denn sein Leben hatte in der letzten Zeit namentlich nichts sehr Verdienstliches aufzuweisen gehabt. Er konnte allerdings fließend englisch, französisch und deutsch sprechen; seine Wäsche, sein Anzug, seine Kravatten, seine Manschettenknöpfe kamen stets aus den ersten Geschäften, und waren stets die teuersten, die es gab; doch er selbst behauptete nicht, daß das genügend war, um sich als ein höheres Wesen aufzuspielen. Und doch war er von dem Bewußtsein seiner Bedeutung tief erfüllt; er war überzeugt, daß man ihm die Hochachtung, die man ihm entgegenbrachte, schuldig war, und die Vernachlässigung derselben verletzte ihn wie eine Schmach.

Eine Schmach dieser Art erwartete ihn gerade im Geschworenenzimmer. Unter den Geschworenen befand sich jemand, den er kannte, ein gewisser Peter Gerassimowitsch – seinen Familiennamen hatte Nechludoff nie erfahren – der bei den Kindern seiner Schwester Hauslehrer gewesen war. Dieser Peter Gerassimowitsch hatte inzwischen seine Studien beendet und war jetzt Gymnasiallehrer. Nechludoff hatte ihn wegen seiner Vertraulichkeit, seines selbstgefälligen Lächelns und seiner schlechten Manieren stets unausstehlich gefunden.

»Ach, das Los hat Sie also auch getroffen?« sagte er zu Nechludoff und trat mit lautem Lachen auf ihn zu. »Und Sie haben sich nicht dispensieren lassen?«

»Nie hatte ich die Absicht, mich dispensieren zu lassen,« versetzte Nechludoff trocken.

»Na, das ist ein schöner Zug bürgerlichen Mutes. Sie werden sehen, wie Sie unter dem Hunger leiden werden! Und dabei kann man weder schlafen noch trinken!« fuhr der Professor, noch lauter lachend, fort.

»Dieser Popensohn wird bald anfangen, mich zu duzen!« dachte Nechludoff, gab seinem Gesicht einen so düstern Ausdruck, als hätte er eben den Tod eines seiner Verwandten erfahren, und drehte Peter Gerassamowitsch den Rücken, um sich einer Gruppe zu nähern, die sich um einen hochgewachsenen, glattrasierten, vornehm repräsentierenden Mann gebildet hatte, der etwas zu erzählen schien. Dieser Mann sprach von einem Prozeß, der eben vor dem Zivilgericht verhandelt wurde; er sprach davon, wie ein Mann, der die Sache von Grund aus kennt, und nannte die Richter und Advokaten bei ihren Vornamen. Er erzählte unermüdlich, wie ein berühmter Advokat aus St. Petersburg, der Sache eine ganz andere Wendung gegeben, und eine alte Dame, die vollständig recht hatte, infolge seiner Thätigkeit nunmehr sicher verlieren mußte.

»Ein genialer Mensch!« rief er, als er von dem Advokaten sprach.

Man hörte ihm aufmerksam zu; und einzelne der Geschworenen versuchten, ihre Bemerkungen anzubringen, doch er unterbrach sie sofort, als wüßte nur er genau, wie es damit stände.

Obwohl Nechludoff verspätet ins Gerichtsgebäude gekommen war, mußte er noch sehr lange in dem Geschworenenzimmer bleiben. Eins der Mitglieder des Tribunals war nicht gekommen, und man wartete auf dasselbe, um die Sitzung zu eröffnen.

Der Präsident des Schwurgerichts war dagegen sehr frühzeitig in den Palast gekommen. Dieser Präsident war ein großer, dicker Mann mit langem, grauem Backenbart. Er war verheiratet, führte aber ein sehr ausschweifendes Leben, und seine Frau that dasselbe; sie hatten das Prinzip, sich gegenseitig nicht hinderlich zu sein. Am Morgen dieses Tages hatte der Präsident ein Billet von einer Schweizer Gouvernante erhalten, die früher bei ihm gewohnt hatte und auf der Durchreise nach St. Petersburg ihm schrieb, daß sie ihn zwischen drei und sechs Uhr im Hotel d’Italie erwarten würde. Daher hatte er es eilig, die Tagessitzung so schnell wie möglich anfangen und schließen zu können, um gegen sechs Uhr, zu dieser rothaarigen Klara zu eilen, mit der er im vorigen Sommer einen Roman angesponnen.

Er ging in sein Kabinet, verriegelte die Thür und nahm aus der Schublade eines Schrankes zwei Hanteln, mit denen er zwanzig Bewegungen nach vorn, nach hinten, nach der Seite, nach oben und nach unten machte; dann beugte er dreimal die Kniee und hob die Hanteln über den Kopf.

»Nichts stärkt so sehr als die Hydrotherapie und die Gymnastik,« dachte er und fühlte mit der linken Hand, an der ein goldener Ring glänzte, nach dem Gelenk des rechten Armes. Er wollte eben wieder rollende Bewegungen machen – er hatte sich gewöhnt, diese beiden Hebungen stets vor den etwas langen Sitzungen zu machen, als es an der Thür rüttelte. Es versuchte jemand, sie zu öffnen. Der Präsident versteckte schnell seine Hanteln, öffnete die Thür und sagte: »Entschuldigen Sie!«

Einer der Richter trat ins Zimmer, ein kleiner Mensch mit eckigen Schultern und traurigem Gesicht, der eine goldene Brille trug.

»Nun! es ist Zeit!« sagte er mit scharfer Stimme.

»Ich bin bereit,« versetzte der Präsident und zog seine Amtstracht an. »Aber Mathias Nikitisch kommt noch immer nicht!«

»Er treibt die Gewissenlosigkeit wirklich zu weit,« sagte der Richter, setzte sich ärgerlich und steckte sich eine Cigarette an.

Dieser Richter, ein ungewöhnlich pünktlicher Mensch, hatte am Vormittag eine höchst unangenehme Szene mit seiner Frau gehabt, weil diese das Geld, das er ihr für den Monat gegeben, zu schnell ausgegeben hatte. Sie hatte einen Vorschuß verlangt, und er hatte ihn ihr abgeschlagen; daher die Szene. Die Frau hatte erklärt, unter solchen Umständen würde es kein Essen geben, und hatte ihm vorher erklärt, er habe nichts zu erwarten. Darauf war er fortgegangen und fürchtete nun, sie könne ihre Drohung zur Ausführung bringen, denn er wußte, daß sie zu allem fähig war. »Da soll man ein tadelloses und anständiges Leben führen,« sagte er sich und betrachtete den Präsidenten, diesen von Gesundheit und guter Laune strotzenden dicken Mann, der mit aufgestützten Ellenbogen mit seinen schönen weißen Händen die dichten und sorgfältig gebürsteten Haare seines Backenbartes glattstrich, um sie zu den beiden Seiten seines galonnierten Kragens zu legen. »Er ist stets heiter und zufrieden, ich dagegen habe nur Unannehmlichkeiten!«

In diesem Augenblick trat der Gerichtsschreiber ein und brachte die Akten, die der Präsident verlangt hatte.

»Ich danke Ihnen,« sagte der Präsident und zündete sich ebenfalls eine Cigarette an. »Na, mit welcher Sache wollen wir anfangen?«

»Nun, mit dem Giftmordprozeß, – wenn Sie die Reihenfolge nicht ändern wollen!« versetzte der Gerichtsschreiber.

»Also gut, mit dem Giftmordprozeß,« sagte der Präsident, welcher annahm, das wäre eine sehr einfache Sache, die bis vier Uhr beendet sein konnte, so daß er frei war, zu seiner Schweizerin zu eilen.

»Ist Breuer gekommen?« fragte er den Gerichtsschreiber, der hinausgehen wollte.

»Ich glaube, ja!«

»Dann sagen Sie ihm, wenn Sie ihn treffen, wir fangen mit der Giftmordaffaire an.«

Breuer war der Staatsanwalt, der in dieser Schwurgerichtsperiode die Anklage vertreten sollte.

Thatsächlich traf ihn der Aktuar auf dem Korridor. Den Kopf vornüber geneigt, mit aufgeknöpftem Gehrock, die Aktenmappe unter dem Arm, ging er mit großen Schritten, lief fast, die Hacken zusammenschlagend und in fieberhafter Aufregung den Arm bewegend.

»Michel Petrowitsch fragt, ob Sie bereit sind?« sagte der Aktuar, ihn aufhaltend.

»Natürlich! Ich bin stets bereit. Womit wird angefangen?«

»Mit dem Giftmord!«

»Es ist gut!« versetzte der Staatsanwalt.

Noch tatsächlich fand er durchaus nicht, daß es gut war, er hatte die ganze Nacht in einem Wirtshaus mit andern jungen Leuten Karten gespielt; sie hatten einen Kameraden fortbegleitet; man hatte viel getrunken und bis fünf Uhr morgens gespielt, so daß der junge Staatsanwalt nicht einmal Zeit gefunden hatte, einen Blick in die Akten des Giftmordprozesses zu werfen, der verhandelt werden sollte, Der Aktuar wußte das, und absichtlich hatte er den Präsidenten veranlaßt, mit dieser Sache zu beginnen, die zu studieren der Staatsanwalt keine Zeit gehabt hatte. Dieser Aktuar war ein Liberaler, um nicht zu sagen, ein Radikaler, was ihn aber nicht hinderte, in der Magistratur mit einer Pension von 1200 Rubeln zu dienen und sich sogar um einen Staatsanwaltsposten zu bemühen. Breuer dagegen war konservativ und ein ganz besonders eifriger Orthodoxer, wie die meisten Deutschen, die in Rußland Beamte sind; deshalb hatte der Aktuar, abgesehen davon, daß er ihm seine Stellung beneidete, noch, eine persönliche Antipathie gegen ihn.

»Und die Anklage gegen die Skopsen?« fragte der Aktuar.

»Ich habe erklärt, daß die Verhandlung in Abwesenheit der Zeugen unmöglich ist,« versetzte der Staatsanwalt, »und werde das vor Gericht wiederholen.«

»Was thut das?«

»Unmöglich!« erwiderte der Staatsanwalt, schüttelte den Arm und lief in sein Kabinet.

Er verschob die Klage gegen die Skopsen, 2 nicht wegen der Abwesenheit einiger unbedeutender Zeugen, sondern weil dieser Fall, wenn man ihn in einer großen Stadt, wo die meisten Geschworenen den gebildeten Klassen angehörten, verhandelte, mit einer Freisprechung auszulaufen drohte; daher hatte er sich mit dem Präsidenten dahin verständigt, daß der Fall vor die Geschworenen einer kleinen Stadt gebracht werden sollte, wo die Jury zum großen Teile aus Bauern gebildet wurde und die Verurteilung deshalb leichter durchzusetzen war.

Inzwischen war das Treiben auf den Gängen noch stärker geworden. Die Menge drängte sich namentlich vor dem Zivilgerichtssaal, wo einer jener Fälle verhandelt wurde, die man gewöhnlich als interessant bezeichnet, derselbe, von dem die wichtig thuende Persönlichkeit im Geschworenenzimmer so eingehend gesprochen hatte. Ohne einen Schimmer von Verstand oder moralischem Recht, aber in streng gesetzmäßiger Weise hatte sich ein Advokat des ganzen Vermögens einer alten Dame bemächtigt. Die Klage der alten Frau war vollständig berechtigt. Die Richter wußten das, und noch mehr wußten es der Gegner und sein Advokat, doch dieser Advokat war so geschickt zu Werke gegangen, daß die alte Frau notgedrungen verlieren mußte.

Im Augenblick, da der Aktuar in die Kanzlei hineingehen wollte, sah er gerade vor sich im Korridor die alte Dame, die eben in aller Form rechtens ihres Vermögens beraubt worden war. Es war eine dicke Frau mit ungeheuer großen Blumen auf dem Hut. Sie kam aus dem Sitzungssaal, streckte ihre Hände danach aus und wiederholte fortwährend: »Was soll daraus werden? Was soll daraus werden?« Dann fing sie an, eine sehr verwickelte Geschichte zu erzählen, die mit ihrer Sache gar nichts zu thun hatte. Der Advokat betrachtete die Blumen ihres Hutes, nickte zustimmend mit dem Kopfe und hörte augenscheinlich gar nicht auf sie.

Plötzlich öffnete sich eine kleine Thür und strahlend, sein steifes Hemd auf der tiefausgeschnittenen Weste zeigend, erschien schnellen Schrittes mit zufriedener Miene derselbe berühmte Advokat, der es bewirkt hatte, daß die alte Frau mit den Blumen ohne alle Mittel dastand, und daß der Gegner gegen Zahlung von 10 000 Rubeln, die er ihm für sein Plaidoyer gegeben hatte, 100 000 erhielt, auf die er kein Anrecht hatte. Er ging an der alten Dame vorüber. Aller Augen wandten sich ihm respektvoll zu und er war sich dessen auch klar, doch seine ganze Persönlichkeit schien zu sagen: »Bitte, meine Herren, sparen Sie die Zeichen Ihrer Bewunderung!«

Endlich kam Mathias Nikitisch, der Richter, auf den man wartete. Sofort sahen die Geschworenen den Gerichtsnuntius, einen kleinen, mageren Mann mit zu langem Hals und ungleichmäßigem Gange, in das Zimmer treten, in welchem sie versammelt waren. Dieser Nuntius war übrigens ein braver Mann, der alle seine Studien auf der Universität absolviert hatte; doch er konnte es nirgends aushalten, weil er trank. Vor drei Monaten hatte ihm eine Gräfin, die sich für seine Frau interessierte, diese Stellung als Nuntius im Justizgebäude verschafft, und er hatte sich bis jetzt dort zu halten vermocht, worüber er sich wie über ein Wunder freute.

»Nun, meine Herren, sind alle da?« fragte er, setzte sein Pincenez, bald darüber weg ansah.

»Ich glaube, ja,« versetzte der joviale Kaufmann.

»Wir wollen ‚mal sehen,« sagte der Nuntius.

Er zog eine Liste aus der Tasche und begann die Namen aufzurufen, wobei er die Geschworenen, bald durch sein Pincenez auf und sah die Geschworenen an.

»Der Staatsrat J. M. Nikisoroff?«

»Hier!« versetzte die wichtige Persönlichkeit, die alle Prozesse aus dem Ff. kannte.

»Oberst a. D. Iwan Semenowitsch Iwanoff?«

»Hier!« antwortete der Mann in der Uniform.

»Der Kaufmann zweiter Gilde Peter Baklaschoff?«

»Anwesend!« versetzte der joviale Kaufmann und blickte die ganze Gesellschaft mit freundlichem Lächeln an. »Ich bin bereit!«

»Der Gardehauptmann Fürst Dimitri Nechludoff?«

»Hier!« sagte Nechludoff.

Der Nuntius verneigte sich mit einem Gemisch von Unterwürfigkeit und Liebenswürdigkeit, als wollte er Nechludoff dadurch vor den übrigen Geschworenen auszeichnen. Dann setzte er die Aufzählung fort:

»Der Hauptmann Georg Dimitrijewitsch Dantschenko? Der Kaufmann Gregor Efimowitsch Kuletschoff u.s.w. u.s.w.«

Alle Geschworenen waren anwesend, bis auf zwei.

»Und nun, meine Herren, haben Sie die Güte, in den Schwurgerichtssaal hineinzugehen!« sagte der Nuntius und zeigte mit einladender Miene auf die Thür.

Alle setzten sich in Bewegung und verließen den Saal; ein jeder trat höflich vor der Thür beiseite, um seinen Kollegen durchzulassen.

Der Schwurgerichtssaal war ein großer Saal in länglicher Form, in dessen Hintergrunde eine Estrade von drei Stufen errichtet war. In der Mitte der Estrade stand ein mit einer grünen Decke belegter Tisch mit Franzen von noch dunklerem Grün; hinter dem Tisch erblickte man drei Sessel mit hoher Lehne aus geschnitzter Eiche; hinter diesen Sesseln hing an der Wand in einem vergoldeten Rahmen ein Porträt in schreienden Farben, das den Kaiser in großer Uniform, den Großcordon um den Hals, mit gespreizten Beinen, und eine Hand auf dem Degengriff, darstellte. In dem rechten Winkel hing in einer Nische das Bild des mit Dornen gekrönten Christus; davor stand ein Pult und rechts von der Estrade befand sich das kleine für den Staatsanwalt bestimmte Katheder. Links im Hintergrunde stand der Tisch des Aktuars; davor in der Nähe des Publikums umschloß eine Holzschranke die Anklagebank, die jetzt noch, wie der Rest der Estrade, leer war. Auf der rechten Seite desselben, der Anklagebank gegenüber, warteten eine Reihe von Sesseln auf die Geschworenen, und unter ihnen waren Tische für die Advokaten aufgestellt. Was den andern Teil des Saales betraf, der von der Estrade durch ein Gitter getrennt war, so wurde er von erhöhten Sitzen gebildet, die sich bis zur Hinterwand erhoben. In den ersten Reihen dieser Bänke saßen vier wie Arbeiterinnen oder Dienstmädchen gekleidete Frauen, die von zwei Männern begleitet wurden, die augenscheinlich Arbeiter waren. Diese kleine Gruppe war von der Größe der Estradendekoration tief bewegt, denn sie unterhielten sich nur schüchtern, mit leiser Stimme.

Nachdem der Nuntius die Geschworenen eingeführt und placiert hatte, trat er in die Mitte der Estrade und sagte mit sehr lauter Stimme, die die Anwesenden noch mehr einschüchterte:

»Der Gerichtshof!«

Alle standen auf und die Richter erschienen auf der Estrade. Zuerst der Präsident mit dem schönen Backenbart. Nechludoff erkannte ihn sofort, er hatte ihn vor zwei Jahren auf dem Lande auf einem Balle getroffen, wo dieser Präsident den Kotillon angeführt und die ganze Nacht mit vielem Schneid und Eifer getanzt hatte.

Hinter ihm erschien der Richter mit der mürrischen Miene; er war noch mürrischer geworden, seit er beim Eintritt in die Sitzung seinem Schwager begegnet war und dieser ihm gesagt hatte, seine Schwester habe ihm eben mitgeteilt, es würde heute abend nichts im Hause zu essen geben.

»Du lieber Gott! Dann werden wir eben in der Kneipe essen müssen,« hatte der Schwager lachend hinzugefügt.

»Ich sehe nicht, was daran so lächerlich ist!« hatte der Richter geantwortet.

Der andere Richter, der immer zu spät kam, war ein Mann mit langem Bart, gutmütigen, dicken, runden Augen und angeschwollenen Backen. Dieser Richter litt an einem Magenkatarrh, und noch an demselben Morgen hatte sein Arzt eine neue Behandlungsweise bei ihm angefangen, die ihn zwang, noch länger als gewöhnlich, zu Hause zu bleiben. Er trat mit vertiefter Miene auf die Estrade und war in der That sehr zerstreut. Er hatte die Gewohnheit, durch alle möglichen Zufallsspiele Antworten auf Fragen zu erraten, die er sich selbst stellte. Diesmal hatte er sich gesagt, wenn die Zahl der Schritte, die er zu machen hatte, um von der Thür seines Kabinets bis zu seinem Sessel zu kommen, durch drei geteilt sein sollte, dann würde seine neue Behandlung ihn von seinem Katarrh befreien; wenn nicht, dann nicht. Es waren im ganzen 26 Schritte; doch im letzten Augenblick mogelte der Richter ein bißchen, machte einen kleinen Schritt mehr und kam so mit 27 Schritten zu seinem Sessel.

Die Gestalten des Präsidenten und der beiden Richter, die sich mit ihren Uniformen und den goldgestickten Kragen auf der Estrade aufrichteten, boten ein höchst imposantes Schauspiel dar. Die Richter waren sich dessen übrigens voll bewußt, und alle drei beeilten sich, als wenn sie sich ihrer Größe schämten, Platz zu nehmen, indem sie vor dem großen, grünen Tische, auf dem man ein dreieckiges Instrument mit dem kaiserlichen Adler, Tintenfässer, Federn, weißes Papier und eine ungeheure Anzahl frisch angespitzter Bleistifte verschiedener Größe gelegt hatte, bescheiden die Augen zu Boden schlagen.

Hinter den Richtern erschien der Staatsanwalt. Auch er ging so schnell wie möglich auf seinen Sessel zu; er hielt noch immer seine Aktenmappe unter dem Arm und fuchtelte mit den Armen. Sobald er sich gesetzt hatte, vertiefte er sich in die Lektüre der Akten und benutzte jede Minute, um seine Rede vorzubereiten. Wir müssen noch erwähnen, daß Breuer erst kürzlich zum Staatsanwalt ernannt worden war und erst zum viertenmale plaidierte. Er war sehr ehrgeizig, gedachte eine schöne Karriere zu machen und hielt es, um zu reüssieren, für unerläßlich, in allen Prozessen, an denen er teilnahm, Verurteilungen durchzusetzen. Er hatte schon den allgemeinen Plan der Anklagerede, die er in dem Giftmordprozeß halten wollte, entworfen; doch er mußte von den Thatsachen des Falles Kenntnis nehmen, um seine Beweisführung zu unterstützen und auszugestalten.

Endlich durchflog der Aktuar, der am entgegengesetzten Ende der Estrade saß und alle Stücke, die er noch zu lesen hatte, vor sich hingelegt hatte, einen verbotenen Zeitungsartikel, den er am vorigen Abend erhalten und bereits einmal gelesen hatte. Er wollte von diesem Artikel mit dem langbärtigen Richter sprechen, der, wie er wußte, in der Politik mit ihm einer Meinung war; und bevor er davon sprach, wollte er ihn genau kennen lernen.

Nachdem der Präsident Papiere durchflogen, stellte er an den Aktuar und den Nuntius einige Fragen, und gab dann, als er von ihnen bejahende Antworten erhalten, den Befehl, die Angeklagten hereinzuführen.

Sofort wurde eine Thür im Hintergrunde geöffnet, und zwei Gendarmen traten, die Pelzmütze auf dem Kopfe und den Säbel in der Hand, ein, hinter ihnen erschienen die drei Angeklagten; zuerst ein sommersprossiger Mann mit roten Haaren, dann zwei Frauen. Der Mann trug Gefangenenkleidung, die für ihn zu groß und zu weit war. Er hielt die Arme an den Körper gepreßt, um die Aermel festzuhalten, die seine Hände sonst verdeckt hätten. Er schien weder die Geschworenen, noch das Publikum zu sehen, und hielt die Augen starr auf die Bank gerichtet, an der er vorüberkam. Als er um sie herumgegangen war, setzte er sich, richtete die Augen auf den Präsidenten und fing an, die Lippen zu bewegen, als wenn er etwas vor sich hinmurmelte.

Die ihm folgende Frau, die ebenfalls Gefängniskleidung trug, mochte etwa 50 Jahre zählen. Sie hatte ein Sträflingstuch um den Kopf gebunden, und ihr blaßgraues Gesicht hätte nichts besonders Merkwürdiges aufzuweisen gehabt, wäre nicht das vollständige Fehlen der Wimpern und Augenbrauen aufgefallen. Sie schien übrigens vollständig ruhig. Als sie auf ihrem Platze angelangt war, strich sie ihr Kleid, das an einem Nagel hängen geblieben war, sorgfältig glatt und setzte sich.

Das andere Weib war die Maslow.

Sobald sie eintrat, richteten sich die Blicke aller im Saale anwesenden Männer auf sie und betrachteten längere Zeit ihr sanftes Gesicht, ihre feine Taille und ihre breite unter dem Leinenkittel stark hervortretende Brust. Selbst der Gensdarm, an dem sie vorüber mußte, sah sie fortwährend an, bis sie sich gesetzt hatte; dann wandte er sich wie im Gefühle einer Schuld ab und blickte nach dem gegenüberliegenden Fenster.

Der Präsident wartete, bis die Angeklagten sich gesetzt hatten, und wandte sich dann zu dem Aktuar. Das gewöhnliche Verfahren begann; der Aufruf der Geschworenen, der Beisitzer, die Verurteilung der Fehlenden zu einer Geldstrafe, die Prüfung der Entschuldigungen und der Ersatz der fehlenden Geschworenen durch Beisitzer. Dann ersuchte der Präsident den Popen, den Geschworenen den Eid abzunehmen.

Dieser Pope war ein großer, kahlköpfiger Greis mit rotem Gesicht, einigen weißen Haaren und einem langen, schlecht gekämmten Bart. Er trug eine bräunliche Soutane, mit einem an einer goldenen Kette hängenden Kreuz, das er mit seinen angeschwollenen, dicken Fingern fortwährend auf der Brust hin- und herdrehte. Er trug auch einen kleinen an der Seite angenähten Orden. Seit 45 Jahren war er Geistlicher und wollte im nächsten Jahre sein Jubiläum feiern, wie es der Erzpriester der Kathedrale kürzlich gethan hatte. Seit der Erbauung des Gerichtsgebäudes war er beim Gericht; er war stolz darauf, mehreren tausend Personen den Eid abgenommen zu haben und selbst noch in seinem Alter zum Wohle des Vaterlandes, der Kirche und auch seiner Familie zu arbeiten, der er außer seinem Hause ein Kapital von wenigstens 30 000 Rubeln in guten Papieren zu hinterlassen gedachte. Nie war ihm der Gedanke gekommen, er könne schlecht handeln, wenn er vor einem Gerichtshofe auf das Evangelium schwören ließ; im Gegenteil, er liebte diese Beschäftigung, die ihm oft Gelegenheit gab, mit vornehmen Personen Bekanntschaft zu machen. So war er an diesem Tage sehr glücklich gewesen, mit dem berühmten Advokaten aus St. Petersburg bekannt zu werden, für den seine Hochachtung noch gestiegen war, als er erfahren hatte, ein einziger Prozeß habe ihm 10 000 Rubel eingebracht.

Sobald der Präsident ihn ermächtigt hatte, den Geschworenen den Eid abzunehmen, hob der alte Pope langsam seine angeschwollenen Beine und schritt auf das vor dem Heiligenbild stehende Pult zu. Die Geschworenen erhoben sich und folgten ihm schnell.

»Einen Augenblick!« sagte der Pope, streichelte das Kreuz mit der rechten Hand und wartete, bis alle Geschworenen näher getreten waren.

Als alle bei dem Heiligenbild standen, neigte der Pope seinen weißen Kopf zur Seite, steckte ihn in das fettige Loch seiner Stola, brachte seine dünnen Haare in Ordnung und sagte, sich zu den Geschworenen wendend: »Erheben Sie die rechte Hand und halten Sie die Finger so!« Gleichzeitig hob er seine dicke Hand hoch und faltete die Finger, als wenn er eine Prise nehmen wollte. »Und jetzt wiederholen Sie mit nur: ›Ich schwöre bei dem Heiligen Evangelium und dem belebenden Kreuz, daß ich in der Sache, in welcher‹ … Halten Sie nicht die Hand herunter,« sagte er, sich an einen jungen Mann wendend, der Miene machte, den Arm herunterzunehmen. Dann fuhr er langsam, bei jedem Worte pausierend, fort: »daß ich in dem Falle, an welchem …«

Die wichtige Persönlichkeit mit dem schönen Backenbart, der pensionierte Oberst, der Kaufmann und die andern Geschworenen hielten den Arm hoch und die Finger genau so gefaltet, wie es der Pope wollte; einige andere dagegen schienen nachlässig und unlustig vorzugehen. Die einen wiederholten die Eidesformel ganz laut mit Ausdruck und Leidenschaft; andere murmelten sie ganz leise, blieben hinter den Worten des Popen im Rückstand und beeilten sich dann, gleichsam erschreckt, ihn einzuholen. Noch alle fühlten sich verlegen, mit Ausnahme des alten Popen, der die heilige Ueberzeugung bewahrte, er vollbringe einen ungeheuer wichtigen und nützlichen Akt.

Nach dem Schwur forderte der Präsident die Geschworenen auf, sich einen Obmann zu wählen. Sofort erhoben sich die Geschworenen von neuem, und begaben sich in ihr Beratungszimmer, wo sich fast alle gleich Cigaretten nahmen und zu rauchen anfingen. Einer schlug vor, die wichtige Persönlichkeit zum Obmann zu wählen, worauf alle sogleich eingingen. Dann warfen die Geschworenen ihre Cigaretten fort und kehrten in den Sitzungssaal zurück. Die wichtige Persönlichkeit erklärte dem Präsidenten, man hätte ihn erwählt, und alle setzten sich wieder auf ihre Sessel mit den hohen Lehnen.

Alles ging ohne Zwischenfall, aber nicht ohne Feierlichkeit vor sich; und diese Feierlichkeit, diese Umstände, diese Formalitäten bestärkten Richter und Geschworene noch in ihrer Ansicht, sie erfüllten eine ernste und würdige, soziale Pflicht. Auch Nechludoff teilte diese Ansicht.

Als die Geschworenen sich gesetzt hatten, hielt der Gerichtspräsident an sie eine Ansprache, um ihnen ihre Rechte, ihre Verpflichtungen und ihre Verantwortlichkeit auseinanderzusetzen. Beim Sprechen veränderte er fortwährend seine Stellung; bald wandte er sich nach rechts, bald nach links, bald lehnte er sich in seinen Sessel zurück oder neigte sich nach vornüber, bald strich er die Blätter auf dem Tische glatt, bald hob er das Falzbein hoch, bald spielte er mit einem der Bleistifte.

Die Rechte der Geschworenen bestanden nach seinen Worten darin, daß sie den Angeklagten durch Vermittlung des Präsidenten Fragen vorlegen und die Beweisstücke prüfen und berühren durften. Ihre Verpflichtung bestand darin, daß sie gerecht, nach bestem Wissen und Gewissen urteilen mußten. Endlich bestand ihre Verantwortlichkeit darin, daß sie sich, falls sie, ihre Beratungen nicht geheim hielten oder in der Ausübung ihrer Thätigkeit mit Fremden in Verbindung traten, der Strenge der Gesetze aussetzten.

Die Richter hörten das alles mit ernster Aufmerksamkeit an. Der Kaufmann, der einen starken Branntweingeruch um sich her verbreitete, nickte bei jedem Satze zustimmend mit dem Kopfe.

Als der Präsident seine Ansprache beendet, wandte er sich den Angeklagten zu:

»Simon Kartymkin, stehen Sie auf!«

Simon zuckte nervös zusammen und seine Lippen bewegten sich schneller.

»Ihr Name?«

»Simon Petrowitsch Kartymkin,« versetzte der Angeklagte, der sich seine Antworten augenscheinlich schon vorher zurechtgelegt, in einem Zuge mit schwerfälliger Stimme.

»Ihr Stand?«

»Ich bin Bauer!«

»Aus welchem Gouvernement? Aus welchem Bezirk?«

»Aus dem Gouvernement Tula, Bezirk Krapivo, Gemeinde Kupianskoj, Dorf Borki.«

»Wie alt?«

»34 Jahre; ich bin achtzehnhundert …«

»Welcher Religion?«

»Wir gehören der russischen orthodoxen Religion an.«

»Verheiratet?«

»Wir haben uns nie verheiratet!«

»Was betrieben Sie für ein Gewerbe?«

»Ich war im Korridor des Mauritania-Hotels angestellt.«

»Haben Sie schon vor Gericht gestanden?«

»Ich habe nie vor Gericht gestanden, denn, wie ich lebte …«

»Sie haben nie vor Gericht gestanden?«

»So wahr es einen Gott giebt, nie!«

»Haben Sie eine Abschrift der Anklage erhalten?«

»Ja, die habe ich erhalten!«

»Setzen Sie sich! Euphemia Iwanowna Botschkoff!« fuhr der Präsident, sich an eine der Frauen wendend, fort.

Doch Simon blieb noch immer stehen und verdeckte die Botschkoff.

»Kartymkin, setzen Sie sich!«

Kartymkin blieb noch immer stehen. Er setzte sich erst, als der Nuntius ihm, den Kopf neigend und die Augen weit aufreißend, mit tragischer Miene den Befehl erteilte, er solle Platz nehmen.

Nun setzte sich der Angeklagte mit derselben Hast, mit der er aufgestanden war, hüllte sich in seinen Mantel und begann wieder, die Lippen zu bewegen.

»Ihr Name?«

Mit einem Seufzer der Abspannung, wie jemand, der sich ärgert, daß er immer dasselbe wiederholen muß, wandte sich der Präsident der ältesten der beiden Frauen zu, ohne sie auch nur anzusehen, und ohne den Blick von einem Papier zu erheben, das er in der Hand hielt. Diese Prozedur war ihm so vertraut geworden, daß er, um schneller damit fertig zu werden, zweierlei zu gleicher Zeit thun konnte.

Die Botschkoff zählte 43 Jahre. Stand: Bürgerin; Beruf: Kammerfrau in dem nämlichen Hotel Mauritania. Sie hatte nie vor Gericht gestanden und die Anklageakte erhalten. Auf die Fragen des Präsidenten antwortete sie mit herausfordernder Keckheit, als wenn sie sagen wollte: »Jawohl, ich bin die Euphemia Botschkoff; ich habe die Anklageakte erhalten; ich rühme mich dessen und erlaube niemandem, darüber zu lachen!« Sie wartete nicht, bis man ihr sagte, sie solle sich setzen, sondern setzte sich gleich, als das Verhör vorüber war.

»Ihr Name?« sagte der Präsident, sich mit ganz besonderer Freundlichkeit an die andere Angeklagte wendend.

»Sie müssen aufstehen!« fügte er in gütigem Tone hinzu, als er bemerkte, daß die Maslow sitzen blieb. Sie stand auf und betrachtete entschlossen, mit geradem Kopfe und vorgestreckter Brust, ohne zu antworten, den Präsidenten mit ihren naiven, schwarzen Augen.

»Wie nennt man Sie?«

Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.

»Man nannte mich Ljuba!« erwiderte sie.

Nechludoff, der sich inzwischen sein Pincenez aufgesetzt, betrachtete die Angeklagte während ihres Verhörs. »Das ist unmöglich,« dachte er, während er die Augen auf das Gesicht der Angeklagten richtete. »Sie heißt Ljuba; das ist nicht derselbe Name! Doch diese wunderbare Aehnlichkeit!«

Der Präsident wollte zu einer andern Frage übergehen; doch der Richter mit der Brille sagte ihm ganz leise einige Worte, die ihn zu verblüffen schienen. Er wandte sich zu der Angeklagten und fragte:

»Wie? Ljuba? Sie sind doch unter einem andern Namen eingetragen?«

Die Angeklagte schwieg.

»Ich frage Sie, wie ist Ihr richtiger Name?«

»Ihr Taufname?« setzte der Richter mit der Brille hinzu.

Sie murmelte etwas, ohne den Blick von dem Präsidenten zu verwenden.

»Sprechen Sie lauter!«

»Früher hieß ich Katharina!«

»Das ist unmöglich,« sagte sich Nechludoff wieder, aber er zweifelte jetzt nicht mehr und war sicher, daß sie es war, die Zofe Katuscha, die er einst geliebt, aufrichtig geliebt, die er später in einem Augenblick der Thorheit verführt, dann verlassen, und an die zu denken er bis dahin stets vermieden hatte, weil ihm die Erinnerung zu peinlich war und ihn zu tief demütigte, denn sie zeigte ihm, wie feig, wie gemein er, der sich auf seine Rechtschaffenheit so viel eingebildet hatte, sich gegen dieses Weib benommen hatte!

Ja, sie war es! Er bemerkte jetzt, klar und deutlich, auf ihrem Gesicht jene geheimnisvolle Eigentümlichkeit, die in jedem Gesicht liegt, die es von allen andern unterscheidet und etwas einzig Dastehendes, Besonderes aus ihm macht.

Trotz der krankhaften Blässe und der Abmagerung fand er diese Eigentümlichkeit in allen Zügen des Gesichts, im Munde, in den etwas schielenden Augen, in der Stimme, vor allem aber in dem wirren Blick wieder, in dem freundlichen Ausdruck, nicht allein des Gesichts, sondern der ganzen Persönlichkeit.

»Sie hätten das gleich sagen sollen!« erklärte der Präsident, noch immer in demselben sanften Tone, so unwiderstehlich war der Zauber, den sie ausübte. – »Und wie ist Ihr Vorname?«

»Ich bin ein natürliches Kind,« versetzte die Maslow.

»Das thut nichts; wie hat man Sie nach Ihrem Paten genannt?«

»Michaelowna!«

»Aber welches Verbrechen kann sie denn nur begangen haben,« fragte sich Nechludoff atemlos.

»Und Ihr Familienname, Ihr Zuname?« fuhr der Präsident fort.

»Man nannte mich ›die Gerettete.‹«

»Wie?«

»Die Gerettete,« versetzte sie mit leisem Lächeln. »Man nannte mich auch nach dem Namen meiner Mutter Maslow.«

»Ihr Stand?«

»Bürgerin!«

»Orthodoxer Religion?«

»Ja, orthodox!«

»Und welchen Beruf? Welches Gewerbe betrieben Sie?«

»Das wissen Sie wohl selber!« erwiderte die Maslow, wandte einen Moment die Augen ab und fing dann wieder an, den Präsidenten zu betrachten. Eine heiße Röte stieg ihr ins Gesicht.

Es lag etwas so Außergewöhnliches in dem Ausdruck ihres Gesichts, etwas so Schreckliches und Herzzerreißendes in ihren Worten und dem schnellen Blick, den sie auf die Anwesenden warf, dass der Präsident den Kopf senkte, und einen Augenblick ein allgemeines Schweigen in dem Saale herrschte. Dieses Schweigen wurde von einem aus dem Hintergrunde des Saales kommenden Lachen unterbrochen; der Nuntius gebot Schweigen, während der Präsident wieder den Kopf erhob und das Verhör fortsetzte.

»Sie haben noch nie vor Gericht gestanden?«

»Nie,« versetzte die Maslow seufzend mit leiser Stimme.

»Sie haben die Anklageakte zugestellt erhalten?«

»Ja,« erwiderte sie.

»Setzen Sie sich!«

Die Angeklagte raffte ihr Kleid auf, wie die Frauen in Balltoilette ihre Schleppen hochnehmen, setzte sich und steckte ihre Hände in die Ärmel ihres Kittels, ohne den Präsident mit den Augen zu verlassen. Ihr Gesicht hatte wieder seine ruhige Blässe angenommen. Man nahm die Aufzählung der Zeugen vor, ließ, dieselben hinausgehen, beschäftigte sich dann mit dem Gerichtsarzt, den man zu den Zeugen in den Saal schickte, wo sie warten mußten, bis man sie wieder hereinrief.

Dann erhob sich der Aktuar und begann die Verlesung der Anklage. Er las mit lauter und deutlicher Stimme, doch so schnell, daß seine Worte nur ein dumpfes, einschläferndes Geräusch erzeugten.

Die Richter drehten sich auf ihren Sesseln hin und her und warteten in sichtlicher Ungeduld auf die Beendigung der Verlesung. Einer der Gensdarmen hatte große Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken.

Auf der Anklagebank bewegte Kartymkin noch fortwährend die Lippen; die Botschkoff saß mit vollständig ruhiger Miene da und schob zeitweise mit dem Finger ihre Haare unter das Kopftuch; die Maslow blieb unbeweglich, die Augen auf den Aktuar gerichtet, sitzen; zwei- oder dreimal stieß, sie einen Seufzer aus und veränderte die Lage ihrer Hände.

Nechludoff, der in der ersten Reihe der Geschworenen auf seinem hohen Sessel saß, betrachtete noch immer die Maslow, und in seiner Seele vollzog sich eine tiefe und schmerzliche Arbeit.

Die Anklageakte lautete folgendermaßen: Am 17 Oktober 188.., meldete der Wirt des Mauritania-Hotels in dieser Stadt den plötzlichen Tod eines in diesem Hotel logierenden sibirischen Kaufmanns zweiter Gilde, Namens Ferapont Smjelkoff. Der von dem Arzt der vierten Abteilung ausgestellte Totenschein besagte, daß der Tod Smjelkoffs infolge eines durch übermäßigen Genuß spirituöser Getränke hervorgerufenen Herzschlages eingetreten war; und die Leiche Smjelkows wurde drei Tage nach dem Tode regelrecht bestattet. Am vierten Tage nach dem Hinscheiden Smjelkoffs lenkte ein Geschäftsfreund und Landsmann des letzteren, der sibirische Kaufmann Timotschin, der aus St. Petersburg kam und sich nach den näheren Umständen des Todesfalles erkundigt hatte, den Verdacht darauf, daß Smjelkoff keines natürlichen Todes gestorben war. Derselbe wäre vielmehr von Verbrechern vergiftet worden, die sich dann eines Brillantringes und einer bedeutenden Geldsumme bemächtigt, die Smjelkoff in seinem Besitz hatte und die sich in dem nach seinem Tode aufgenommenen Inventar nicht vorfand.

Es wurde infolgedessen eine Untersuchung eingeleitet, die folgendes zu Tage förderten:

1. Daß der besagte Smjelkoff nach Wissen des Wirtes des Mauritania-Hotels und auch des Prokuristen des Kaufmanns Starikoff, mit dem Emjelkoff bei seiner Ankunft in der Stadt geschäftlich zu thun gehabt, eine Summe von 3800 Rubeln in seinem Besitz haben mußte, die er in einem Bankhause der Stadt erhoben, während man andererseits nach seinem Tode in seinem Koffer und in seiner Brieftasche nur 312 Rubel und 16 Kopeken vorfand. Es wurde festgestellt

2. daß Smjelkoff den Tag vor seinem Tode mit der unverehelichten Ljubka zusammen gewesen war, die zweimal sein Zimmer betreten hatte;

3. daß besagte Ljubka ihrer Wirtin einen Brillantring abgelassen hatte, der dem Kaufmann Smjelkoff gehört;

4. daß die Dienstfrau des Hotels, Euphemia Botschkoff, am Tage nach dem Tode des Kaufmanns Smjelkoff eine Summe von 1800 Rubel auf ihr Konto bei der Handelsbank hatte eintragen lassen;

5. daß der Hoteldiener, Simon Kartymkin, nach der Aussage der Ljubka ihr einige Pulver übergeben und ihr angeraten hatte, dieselben in den Branntwein zu schütten, die der Kaufmann Smjelkoff trinken sollte, was die Ljubka nach ihrem eigenen Geständnis gethan hat.

Auf Befragen des Untersuchungsrichters erklärte die Ljubka, der Kaufmann Smjelkoff habe sie aus dem Freudenhaus in das Hotelzimmer geschickt, das er in der »Mauritania« bewohnte, um dort Geld zu holen; sie habe den Koffer des Kaufmanns mit dem Schlüssel geöffnet, den er ihr gegeben, und daraus, wie er es ihr gefügt, 40 Rubel genommen. Sie hat erklärt, kein anderes Geld genommen zu haben, was Simon Kartymkin und Euphemia Botschkoff, in deren Gegenwart sie den Koffer geöffnet und wieder geschlossen, bezeugen konnten.

Was die Vergiftung Smjelkoffs betraf, so hat die Ljubka erzählt, daß sie tatsächlich, als sie zum zweitenmal in das Zimmer des Kaufmanns Smjelkoff zurückgekommen war, demselben in ein Glas Cognac, das er trinken sollte, ein Pulver geschüttet habe, das ihr Simon Kartymkin gegeben; sie habe aber geglaubt, dieses Pulver wäre ein einfaches Schlafmittel und sie habe es hineingeschüttet, damit der Kaufmann einschlafe und sie schnell ihrer Wege gehen lasse. Sie hatte hinzugefügt, sie habe kein Geld genommen, Smjelkoff hätte ihr den Ring selbst gegeben, nachdem er sie geschlagen, um sie am Fortgehen zu hindern.

Auf Befragen des Untersuchungsrichters haben die Angeklagten, Euphemia Botschkoff und Simon Kartymkin folgendes ausgesagt:

Euphemia Botschkoff hat erklärt, sie wisse absolut nichts von dem Verschwinden des Geldes, hätte das Zimmer des Kaufmanns nicht betreten, und nur die Ljubka hätte dasselbe betreten. Sie hat behauptet, wenn eine Summe Geldes dem Kaufmann entwendet worden wäre, so hätte sie die Ljubka fortgenommen, denn diese wäre mit dem Schlüssel des Koffers ins Zimmer gekommen. (Bei dieser Stelle der Anklage zuckte die Maslow zusammen und wandte sich, indem sie den Mund öffnete, als wolle sie einen Schrei ausstoßen, nach der Botschkoff um.) Nach dem Ursprung der bei der Bank deponierten 1800 Rubel befragt, hat sie erklärt, dieses Geld habe sie und Simon, mit dem sie sich verheiraten wollte, im Laufe von zwölf Jahren erspart.

Simon Kartymkin hat zuerst gestanden, daß er im Einverständnis mit der Botschkoff und auf Anstiften der Maslow, der der Kaufmann den Schlüssel zu seinem Koffer gegeben, eine große Summe Geldes gestohlen, die zwischen ihm, der Maslow und der Botschkoff geteilt worden war; er hat auch gestanden, daß er der Maslow ein weißes Pulver gegeben, um den Kaufmann einzuschläfern. Doch in dem zweiten Verhör hat er jede Teilnahme an dem Diebstahl des Geldes wie an der Übergabe des Pulvers abgeleugnet und die ganze Schuld der Maslow zugeschrieben. Nach dem von der Botschkoff bei der Bank eingezahlten Gelde befragt, hat auch er geantwortet, dieses Geld hätten sie gemeinsam in zwölfjährigem Dienste verdient, es wäre das Produkt der ihnen von den Gästen gespendeten Trinkgelder.

Die Autopsie der Leiche des Kaufmanns Smjelkoff, die dem Gesetz entsprechend vorgenommen worden, hat das Vorhandensein einer gewissen Quantität Gift in den Eingeweiden ergeben.

Es folgten dann in dem Anklageakte der Bericht über die Konfrontationen, die Zeugenaussagen u. s. w., und die Anklage endete wie folgt:

Infolgedessen werden Simon Kartymkin, Bauer, 34 Jahre alt; Euphemia Botschkoff, 43 Jahre alt, und Katharina Michaelowna Maslow, 27 Jahre alt, angeklagt, am 16. Oktober 188.., dem Kaufmann Smjelkoff eine Summe von 2500 Rubeln gemeinsam gestohlen und besagtem Smjelkoff, um die Spuren ihres Diebstahls zu tilgen, Gift eingegeben zu haben, woraus der Tod desselben erfolgte.

Diese Vergehen sind im Artikel 1455 des Strafgesetzbuches vorgesehen; infolgedessen werden Simon Kartymkin, Euphemia Botschkoff und Katharina Maslow vor das Bezirksgericht unter Hinzuziehung von Geschworenen gestellt.

Als der Aktuar die Vorlesung beendet, ordnete er die Blätter des eben verlesenen Aktes, setzte sich und strich mit beiden Händen über seine langen schwarzen Haare. Alle Anwesenden stießen einen Seufzer der Erleichterung aus; und jeder hatte die angenehme Empfindung, die Verhandlung wäre nunmehr eröffnet, alles würde gleich aufgeklärt und der Gerechtigkeit Genüge gethan werden. Nur Nechludoff hatte nicht dieses Gefühl; er dachte mit Entsetzen an das Verbrechen, das die Maslow, die er vor zehn Jahren als unschuldig gekannt, hatte begehen können.

Als die Verlesung der Anklage beendet war, wandte sich der Präsident, nachdem er die Ansicht seiner Kollegen eingeholt, zu Kartymkin mit einem Gesicht, als wenn er sagen wollte: »Jetzt werden wir alles ganz genau bis in die kleinsten Einzelheiten erfahren.«

»Simon Kartymkin!« sagte er, sich nach links neigend, Simon Kartymkin stand auf, schob die Aermel seines Mantels in die Höhe und trat vor, ohne das Bewegen der Lippen einzustellen.

»Sie sind angeklagt, dem Kaufmann Smjelkoff am 16, Oktober 188.., im Einverständnis mit Euphemia Botschkoff und Katharina Maslow eine ihm gehörige Summe Geldes gestohlen, sich dann Arsenik verschafft und Katharina Maslow veranlaßt zu haben, dasselbe in das Getränk des Kaufmanns Smjlelkoff zu gießen, was sie gethan hat und was den Tod desselben zur Folge hatte.«

»Sie bekennen sich schuldig?« schloß der Präsident, sich nach rechts neigend.

»Das ist unmöglich, denn unser Beruf …«

»Das werden Sie später erklären. Sie bekennen sich schuldig?«

»Das ist unmöglich; ich habe nur …«

»Das werden Sie uns später erklären, Sie bekennen sich schuldig?« wiederholte der Präsident mit ruhiger, doch strenger Stimme.

»Das ist unmöglich, weil, …«

Wieder wandte sich der Nuntius nach Simon Kartymkin um und unterbrach ihn mit einem tragischen »Stille!«

Der Präsident nahm mit einem Gesicht, welches besagte, dieser Teil der Sache wäre beendet, seinen Ellenbogen vom Tische und wandte sich zu Euphemia Botschkoff:

»Euphemia Botschkoff, Sie sind beschuldigt, dem Kaufmann Smjelkoff am 16. Oktober 188.., eine Summe Geldes, sowie einen Ring aus seinem Koffer gestohlen zu haben; Sie haben dann, nachdem Sie das Produkt des Diebstahls unter sich geteilt, dem Kaufmann Smjelkoff Arsenik eingegeben, woran er gestorben ist. Sie bekennen sich schuldig?«

»Ich bin vollständig unschuldig,« versetzte die Angeklagte mit harter und kecker Stimme. »Ich habe sogar nicht einmal das Zimmer betreten, und sie hat sicherlich alles allein gethan.«

»Das werden Sie uns später erzählen,« sagte der Präsident von neuem mit seiner ruhigen und festen Stimme. »Sie bekennen sich also nicht schuldig?«

»Ich habe kein Geld genommen, habe kein Gift eingegeben und das Zimmer gar nicht betreten! Hätte ich es betreten, so hätte ich die da hinaus geworfen.«

»Sie bekennen sich nicht schuldig?«

»Nein!«

»Gut!«

»Katharina Maslow,« sagte der Präsident jetzt, sich zu der anderen Angeklagten wendend, »Sie sind angeklagt, ein Zimmer des Hotels Mauritania mit dem Kofferschlüssel des Kaufmanns Smjelkoff betreten, aus diesem Koffer Geld und einen Ring gestohlen zu haben…«

Der Präsident unterbrach sich in seiner Phrase, um auf die Worte zu hören, die ihm der Richter zur Linken ins Ohr sagte; derselbe machte ihn darauf aufmerksam, daß eins der Beweisstücke, die auf der Liste notiert waren, ein Fläschchen, auf dem Tische fehlte… »Wir werden das gleich sehen,« murmelte der Präsident zur Antwort und setzte dann seine Phrase wie eine auswendig gelernte Lektion fort:

…»Aus diesem Koffer einen Ring und Geld gestohlen und das Produkt des Diebstahls mit ihren beiden Komplizen geteilt zu haben; Sie sind mit dem Kaufmann Smjelkoff in das Hotel zurückgekehrt, und haben ihm vergifteten Branntwein zu trinken gegeben. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Ich bin unschuldig,« versetzte die Angeklagte sofort, »Wie ich von Anfang an gesprochen, so spreche ich noch jetzt: ich habe nichts genommen, nichts, nichts, gar nichts! Den Ring hat er mir selbst geschenkt!«

»Sie bekennen sich nicht schuldig, die 2600 Rubel genommen zu haben?« fragte der Präsident.

»Ich habe nichts weiter genommen, als die 40 Rubel!«

»Und Sie bekennen sich auch nicht schuldig, das Pulver in das Glas des Kaufmanns Smjelkoff geschüttet zu haben?«

»Doch, das gestehe ich ein. Aber ich dachte, dieses Pulver wäre, wie man mir gesagt hatte, zum Einschläfern bestimmt, und könnte keinen Schaden anrichten. Wäre ich denn im stande, jemand zu vergiften?« fügte sie stirnrunzelnd hinzu.

»Sie bekennen sich also nicht schuldig, das Geld und den Ring des Kaufmanns Smjelkoff entwendet zu haben; doch andrerseits gestehen Sie, daß Sie das Pulver hineingeschüttet haben.«

»Das gestehe ich, doch ich glaubte, es wäre ein Pulver zum Einschläfern. Ich gab es ihm nur, damit er einschlafen sollte, nur darum.«

»Sehr gut!« unterbrach der Präsident, von den erzielten Resultaten augenscheinlich befriedigt. – »Erzählen Sie uns jetzt, wie die Sache vor sich gegangen ist!« fuhr er, sich in seinen Sessel zurücklehnend und die beiden Hände auf den Tisch legend, fort. »Erzählen Sie uns alles, was Sie wissen! Ein aufrichtiges Geständnis kann Ihre Lage mildern.«

Die Maslow sah den Präsidenten noch immer an; doch sie schwieg und errötete, und man sah es ihr an, daß sie sich bemühte, ihre Schüchternheit zu besiegen.

»Na, erzählen Sie uns, wie die Sache vor sich gegangen ist!«

»Wie sie vor sich gegangen ist?« fragte die Maslow hastig. »Er kam zu mir, bot mir zu trinken an und ging dann wieder fort.«

In diesem Augenblick erhob sich der Staatsanwalt ein wenig und stützte sich auf seinen Ellenbogen. »Sie wünschen eine Frage zu stellen?« fragte der Präsident, und gab ihm auf seine bejahende Antwort zu verstehen, daß er sprechen könnte. »Die Frage, die ich stellen möchte, ist folgende: kannte die Angeklagte Simon Kartymkin schon vorher?« fragte der Staatsanwalt feierlich, ohne die Maslow anzublicken. Als er dann die Frage gestellt, biß er die Lippen zusammen und zog die Stirn kraus. Die Maslow warf einen erschrockenen Blick auf den Staatsanwalt.

»Simon? Ja, den kannte ich,« sagte sie.

»Ich möchte wissen, worin die Beziehungen der Angeklagten zu Kartymkin bestanden? Sahen Sie sich oft?«

»Worin unsere Beziehungen bestanden? Er empfahl mich den Hotelgästen, aber das waren keine Beziehungen,« versetzte die Maslow, und ließ einen unruhigen Blick von dem Staatsanwalt zu dem Präsidenten und umgekehrt schweifen.

»Sollte sie mich erkannt haben?« dachte Nechludoff, auf dem die Augen der Angeklagten eine Sekunde haften geblieben waren, und das Blut strömte ihm ins Gesicht, doch die Maslow hatte ihn unter den anderen Geschworenen nicht bemerkt, und ihre erschrockenen Blicke schnell wieder dem Staatsanwalt zugewendet.

»Die Angeklagte leugnet also, in näheren Beziehungen zu Kartymkin gestanden zu haben? Es ist gut, ich habe weiter nichts zu fragen.«

Der Staatsanwalt nahm seinen Ellenbogen vom Tische, und begann etwas zu schreiben. In Wahrheit schrieb er gar nichts, sondern begnügte sich damit, mit seiner Feder über die Anklage zu fahren. Doch er hatte gesehen, daß die Staatsanwälte und Advokaten sich nach jeder von ihnen gestellten Frage stets in ihren Reden Bemerkungen notierten, die bestimmt waren, ihren Gegner zu erdrücken.

Der Präsident, der sich während dieser Zeit ganz leise mit dem Richter mit der Brille unterhalten, wandte sich sofort wieder zu der Angeklagten und fragte, sein Verhör fortsetzend:

»Und was ist dann vor sich gegangen?«

»Es war in der Nacht,« erklärte die Maslow, die wieder bei dem Gedanken, sie hätte nur mit dem Präsidenten allein zu thun, Mut faßte. »Ich war in mein Zimmer gegangen und wollte mich schlafen legen, als das Dienstmädchen Bertha zu mir sagte: ›Geh hinunter, dein Kaufmann ist schon wieder da!‹ Er war wirklich da, und wollte Wein trinken, hatte aber kein Geld und schickte mich ins Hotel, um welches zu holen. Er hatte mir gesagt, wo sein Geld läge und wieviel ich nehmen sollte. Da bin ich denn gegangen.«

Der Präsident unterhielt sich weiter leise mit seinem Nachbar, und hatte nicht gehört, was die Maslow eben gesagt. Um aber zu beweisen, daß er doch alles gehört, glaubte er, ihre letzten Worte wiederholen zu müssen:

»Sie sind gegangen, und dann?«

»Ich bin ins Hotel gegangen und habe alles gethan, was der Kaufmann mir gesagt hatte; ich habe vier rote Zehnrubelscheine genommen,« sagte die Maslow und unterbrach sich von neuem, als überfiele sie eine plötzliche Furcht, dann fuhr sie fort: »Ich bin nicht allein in das Zimmer hineingegangen, sondern habe Simon Michaelowitsch gerufen, und die da auch,« sagte sie, auf die Botschkoff deutend, hinzu.

»Sie lügt! ich bin nicht hineingegangen,« rief die Botschkoff, doch der Nuntius unterbrach sie.

»In ihrer Gegenwart habe ich die vier roten Scheine genommen!«

»Ich möchte wissen, ob die Angeklagte, als sie die 40 Rubel nahm, gesehen hat, wieviel Geld sich in dem Koffer befand?« fragte der Staatsanwalt von neuem.

»Ich habe nichts gesehen, höchstens, daß Hundertrubelscheine drin lagen.«

»Und dann haben Sie das Geld zurückgebracht?« fuhr der Präsident, auf seine Uhr sehend, fort.

»Ja!«

»Und dann?«

»Dann hat mich der Kaufmann wieder auf sein Zimmer kommen lassen!« sagte die Maslow.

»Hm! und wie haben Sie ihm das Pulver eingegeben?« fragte der Präsident.

»Ich habe es in ein Glas geschüttet, und er hat es getrunken!«

»Und warum haben Sie es ihm gegeben?«

»Um von ihm fortzukommen!« sagte sie seufzend, »Ich ging auf den Korridor und sagte zu Simon Michaelowitsch: ›Wenn er mich nur fortließe‹. Und Simon Michaelowitsch meinte: ›Uns langweilt er auch. Geben wir ihm ein Schlafpulver‹. Ich glaubte, es wäre ein ganz harmloses Pulver und nahm es, um es in sein Glas zu schütten. Als ich wieder hineinkam, befand er sich im Alkoven und befahl mir, ihm Cognac zu bringen. Da nahm ich die Flasche fine Champagne vom Tisch, füllte zwei Gläser für mich und ihn, schüttete das Pulver in sein Glas und brachte es ihm. Ich glaubte, es wäre ein Schlafmittel, und er würde einschlafen, doch um keinen Preis hätte ich es ihm gegeben, hätte ich gewußt …«

»Nun, wie sind Sie denn in den Besitz des Ringes gelangt?« fragte der Präsident. »Wann hat er ihn Ihnen gegeben?«

»Als ich fortgehen wollte, hat er mich auf den Kopf geschlagen, so daß mir der Kamm zerbrochen ist. Ich habe zu weinen angefangen, da hat er seinen Ring vom Finger gezogen und ihn mir geschenkt!«

In diesem Augenblick erhob sich der Staatsanwalt von neuem und bat um die Erlaubnis, noch einige Fragen stellen zu dürfen.

»Ich möchte wissen,« sagte er zunächst, »wie lange die Angeklagte im Zimmer des Kaufmanns Smjelkoff geblieben ist?«

Von neuem bemächtigte sich ein plötzlicher Schreck der Maslow. Sie ließ ihren unruhigen Blick von dem Staatsanwalt zu dem Präsidenten wandern, und versetzte schnell:

»Ich erinnere mich nicht mehr – eine Zeit lang.«

»Ah! und die Angeklagte hat wohl auch vergessen, ob sie, als sie von dem Kaufmann Smjelkoff kam, noch ein anderes Zimmer des Hotels betreten hat?«

Die Maslow dachte einen Augenblick nach und versetzte dann:

»In das Nebenzimmer, das leer war, bin ich hineingegangen!«

»Und weshalb sind Sie dort hineingegangen?« fragte der Staatsanwalt, der sich plötzlich umdrehte und sich direkt an sie wendete.

»Um auf den Fiaker zu warten.«

»Ist Kartymkin auch mit der Angeklagten in das Zimmer getreten; ja oder nein?«

»Ja!«

»Und warum?«

»Es war noch Cognac in der Flasche, und den haben wir zusammen getrunken.«

»Hat die Angeklagte über irgend etwas mit Simon gesprochen?«

»Ich habe über gar nichts gesprochen! Ich habe alles gesagt, was vorgefallen ist,« erklärte sie.

»Ich habe nichts mehr zu fragen,« sagte der Staatsanwalt zum Präsidenten; darauf fing er hastig an, seine Rede zu skizzieren und sich zu notieren, daß die Angeklagte selbst gestanden hatte, in ein leeres Zimmer mit ihrem Komplizen hineingegangen zu sein.

Es trat eine Pause ein.

»Sie haben nichts weiter zu sagen?«

»Ich habe alles gesagt, was geschehen ist,« wiederholte die Maslow, seufzte und setzte sich nieder.

Nun notierte sich der Präsident etwas auf seinen Papieren, hörte auf eine Mitteilung, die ihm einer der Beisitzer ins Ohr flüsterte, erklärte die Sitzung auf 20 Minuten für aufgehoben, erhob sich hastig und verließ den Saal.

Der Beisitzer, der mit ihm gesprochen, war der Richter mit dem langen Bart und den gutmütigen, großen Augen; dieser Beamte verspürte eine leichte Magenverstimmung und hatte den Wunsch ausgesprochen, eine Stärkung zu sich zu nehmen. Deshalb hatte der Präsident die Sitzung aufgehoben.

Nach dem Präsidenten und den Richtern erhoben sich auch die Geschworenen sofort und zogen sich mit der angenehmen Empfindung, bereits einen guten Teil des geheiligten Werkes, mit dem die Gesellschaft sie betraut, vollbracht zu haben, in ihr Beratungszimmer zurück.

Nechludoff setzte sich, als er in das Geschworenenzimmer getreten war, ans Fenster und begann zu träumen.

  1. Sekte, welche die Selbstverstümmelung betreibt.

Fünftes Kapitel

Ja, es war Katuscha, und Nechludoff erinnerte sich, unter welchen Verhältnissen er sie kennen gelernt hatte!

Als er sie zum erstenmal gesehen, hatte er eben sein drittes Universitätsjahr beendet und sich bei seinen Tanten niedergelassen, um seine Doktorarbeit in Ruhe vorzubereiten. Er verbrachte die Sommermonate gewöhnlich mit Mutter und Schwester in dem Schloß, das die erstere in der Gegend von Moskau besaß. Doch in diesem Jahre hatte seine Schwester sich verheiratet und seine Mutter war ins Ausland, ins Seebad gegangen. Nechludoff hatte sie nicht begleiten können, da er an seiner Doktorarbeit zu schreiben hatte, und darum hatte er sich entschlossen, den Sommer bei seinen Tanten zuzubringen. Er wußte, hier würde er die für seine Arbeit notwendige Ruhe finden, ohne daß ihn etwas ablenkte; er wußte auch, daß seine Tanten ihn sehr lieb hatten, und er liebte auch sie und ihr einfaches altmodisches Leben.

Er befand sich damals in der begeisterten Gemütsverfassung eines Menschen, der zum erstenmal die Bedeutung und Schönheit des Lebens nach seinem vollen Wert erkennt; er hatte kurz vorher die soziologischen Schriften von Spencer und Henry George gelesen, und der Eindruck, den sie auf ihn gemacht, war um so stärker, als die Fragen, die darin behandelt wurden, ihn direkt angingen, denn seine Mutter war Eigentümerin einer großen Besitzung. Sein Vater hatte thatsächlich kein Vermögen gehabt, doch seine Mutter hatte ihm als Mitgift ungefähr 10 000 Deßjatinen Land zugebracht, von denen der größte Teil ihm eines Tages zufallen sollte. Und nun entdeckte er zum erstenmal, wie grausam und ungerecht das System des Privatgrundbesitzes war!

Da er von Natur aus zu denen gehörte, denen das im Namen eines moralischen Bedürfnisses gebrachte Opfer einen wahren Genuß bereitet, so hatte er sich sofort entschlossen, für seinen Teil auf sein Eigentumsrecht zu verzichten, und den Bauern sein eigenes Besitztum, das heißt, das von seinem Vater ererbte kleine Gut abzutreten. In diesem Sinne hatte er übrigens auch seine Doktorarbeit abgefaßt und das Grundeigentum darin behandelt. Das Leben das er auf dem Lande bei seinen Tanten führte, war äußerst regelmäßig. Er stand sehr früh, manchmal um 5 Uhr morgens auf, badete sich in dem kleinen Fluß, der am Fuße der Hügel dahinfloß, und kehrte dann durch die noch taufeuchten Wiesen nach dem alten Hause zurück. Nach dem Frühstück arbeitete er oder ging wieder aus und durchstreifte bis 11 Uhr die Felder. Vor dem Essen schlummerte er ein bißchen im Garten; bei der Tafel belustigte und entzückte er seine Tanten durch seine unermüdliche Fröhlichkeit; abends las er wieder oder blieb im Salon bei seinen Tanten, die ihm das Patiencelegen beibrachten. Oft konnte er in der Nacht, namentlich in den Mondnächten, nicht einschlafen, denn die in ihm brausende, jugendliche Lebensfreude hielt ihn wach; dann ging er bis zum Tagesanbruch in den Garten und überließ sich seinen Träumen.

So war sein Leben ruhig und glücklich während des ersten Monats bei den Tanten verflossen, und während dieses ganzen Monats hatte er das junge Mädchen nicht einmal beachtet, das halb als Mündel seiner Tanten, halb als Kammerzofe neben ihm lebte. Unter der Obhut seiner Mutter aufgewachsen, besaß er noch zu 19 Jahren die naive Unschuld eines Kindes. Er dachte an die Frauen nur vom Standpunkte der Heirat, und alle die, die sich mit ihm nicht verheiraten konnten, waren für ihn keine Frauen, sondern nur »Leute«. In demselben Sommer, am Tage vor Himmelfahrt, besuchte eine Dame aus der Nachbarschaft die beiden alten Fräuleins in Begleitung ihrer Kinder und eines Malers ländlicher Herkunft, eines Freundes ihres Sohnes. Nach dem Thee veranstalteten die jungen Leute auf einer frisch abgemähten Wiese vor dem Hause einen Wettlauf. Katuscha wurde aufgefordert, am Spiele teilzunehmen, und kurz darauf mußte Nechludoff mit ihr zusammen laufen. Sie war reizend, und wie alle andern sah auch er sie mit Wohlgefallen; doch der Gedanke, es könne sich zwischen ihm und ihr eine intimere Beziehung herausbilden, war ihm nicht in den Sinn gekommen.

Nach der Spielregel mußten sie sich beim Laufen anfassen, und der junge Maler sollte versuchen, sie zu haschen. »Es wird mir schwer werden, die beiden einzuholen«, dachte er, und dabei lief er doch mit seinen kurzen und etwas krummen, aber kräftigen und muskulösen Muschikbeinen sehr gut.

»Eins, zwei, drei!« – er gab das Zeichen, indem er in die Hände klatschte. Katuscha näherte sich lächelnd Nechludoff, ergriff kräftig mit ihrer kleinen Hand die seinige und lief schnell nach links, wobei man das Rauschen ihres gestärkten Rockes vernahm.

Auch Nechludoff war ein guter Läufer, und da er sich ebenfalls von dem Maler nicht fangen lassen wollte, so war er Katuscha schnell vorangelaufen, und befand sich jetzt am Ende der Wiese. Hier drehte er sich um und sah, daß der Maler Katuscha verfolgte; sie aber entwischte ihm und entfernte sich immer mehr nach links. Dort befand sich ein Syringengebüsch, hinter das niemand laufen sollte, doch Katuscha lief dorthin, um nicht erwischt zu werden, und Nechludoff, ihr Partner, mußte ihr nacheilen. Er hatte vergessen, daß sich neben dem Syringengebüsch ein mit Nesseln bewachsener Graben befand. Er stolperte, verletzte sich die Hände, machte sich an dem Tau naß, der bereits auf den Blättern lag, und fiel in den Graben, sprang aber gleich wieder lachend auf und lief mit einem Satz hinter die Syringen.

Katuscha, aus deren großen, schwarzen Augen das Lächeln noch nicht verschwunden, war, stürzte ihm entgegen, und sie reichten sich die Hände.

»Was giebt’s denn, Sie sind gestolpert?« fragte sie und sah ihn mit ihren großen Augen lächelnd an, während sie sich mit einer Hand die Haare glatt strich.

»Ich hatte diesen Graben ganz vergessen,« versetzte Nechludoff, – ebenfalls lächelnd und ohne ihre Hand loszulassen. Als sie sich ihm dann näherte, drückte er ihr ganz unbewußt stark die Hand, und küßte sie auf den Mund.

Schnell machte das junge Mädchen ihre Hand los und trat ein paar Schritte zurück; dann pflückte sie zwei Syringenzweige, hielt sie zur Kühlung an ihre brennenden Wangen und trat wieder zu den andern Spielern.

Von diesem Augenblick an änderte sich das Verhältnis zwischen Nechludoff und Katuscha. Sobald sie in das Zimmer trat, in dem er sich befand, sobald er aus der Ferne ihr rosa Kleid und ihre weiße Schürze bemerkte, ging für ihn die Sonne auf; alles erschien ihm interessant, heiter, bedeutend, und er hatte Freude am Leben. Auch sie empfand dasselbe. Und nicht nur die Anwesenheit oder das Kommen Katuschas wirkte so auf Nechludoff; schon der Gedanke an sie machte ihn glücklich, während sie bei dem Gedanken an ihn vor Freude strahlte. Hatte Nechludoff zufällig von seiner Mutter einen Brief erhalten, der ihn bekümmerte, wollte es mit seiner Arbeit nicht recht gehen, litt er unter einem Anfall von Melancholie, wie ihn alle jungen Leute haben, dann dachte er nur an Kutuscha, und seine Sorgen verschwanden.

Katuscha hatte viel im Hause zu thun, doch sie arbeitete schnell und las viel in ihren Mußestunden. Nechludoff lieh ihr die Romane von Dostojewsky und Turgenjeff, und ganz besonders entzückten sie die »Frühlingswogen« des letzteren.

Mehrmals wechselten sie täglich einige Worte, wenn sie sich im Korridor, auf der Freitreppe und im Hofe trafen, manchmal sahen sie sich auch im Beisein der Wirtschafterin Matrena Pawlowna in der Küche, wo Nechludoff seinen Thee einnahm und vesperte. Waren sie dagegen allein, so wollte die Unterhaltung nicht von statten gehen. Ihre Augen fingen gleich an, von ganz anderen und weit interessanteren Dingen als ihre Lippen zu sprechen; sie schwiegen, es überfiel sie eine gewisse Verlegenheit, und sie trennten sich bald.

Dieses neue Verhältnis zog sich die ganze Zeit über hin, da Nechludoff bei seinen Tanten blieb. Die Tanten bemerkten es, wurden unruhig und glaubten, ihre Schwägerin, die Mutter des jungen Mannes, in einem ihrer Briefe darauf aufmerksam machen zu müssen. Maria Iwanowna fürchtete, Dimitri unterhielte ein galantes Verhältnis mit Katuscha, doch diese Furcht war unbegründet, denn Nechludoff dachte an ein derartiges Verhältnis gar nicht. Er liebte Katuscha wohl, aber vollständig unschuldig. Und diese Liebe hätte genügt, ihn sowohl wie sie vor einem Fehltritt zu schützen.

Die zweite Tante, Sophie Iwanowna fürchtete, Dimitri könne mit seinem entschlossenen Charakter eines Tages auf den Gedanken kommen, das junge Mädchen trotz ihrer Herkunft und ihrer Stellung zu heiraten. Diese Befürchtung war thatsächlich weit mehr begründet, als die der anderen Tante; denn als Maria Iwanowna ihren Neffen zu sich beschied und ihm mit größter Vorsicht zu verstehen gab, sein Verkehr mit Katuscha mißfiele ihr, und dann hinzufügte, es wäre schlecht, ein junges Mädchen, das man nicht heiraten könne, in sich verliebt zu machen, da versetzte er in entschlossenem Tone:

»Warum sollte ich mich denn nicht mit Katuscha verheiraten können?«

Tatsächlich hatte er an die Möglichkeit dieser Heirat nie gedacht. Er war von dem aristokratischen Gefühl, das Männern seiner Stellung die Ehe mit jungen Mädchen wie Katuscha verbietet, tief durchdrungen, doch infolge seiner Unterhaltung mit der Tante meinte er, daß man sich recht wohl mit Katuscha verheiraten könne. Der Gedanke gefiel ihm sogar, und er sagte: »Schließlich ist Katuscha eine Frau wie jede andere; warum soll ich sie nicht heiraten, wenn ich sie liebe?«

Indessen hielt er sich nicht bei dem Gedanken auf, denn wenn er auch fühlte, daß er Katuscha liebe, so hatte er doch die Ueberzeugung, er würde später im Leben eine andere Frau finden, die ihm bestimmt war, die er noch inniger und die auch ihn noch inniger lieben würde. Als er aber am Tage seiner Abfahrt Katuscha auf der Freitreppe neben seinen Tanten stehen sah, als er die großen, schwarzen, thränenüberströmten Augen des jungen Mädchens zärtlich auf sich gerichtet sah, da hatte er die klare und deutliche Empfindung, daß an diesem Tage etwas sehr Schönes, Kostbares, das nie wiederkehren würde, für ihn zu Ende ging, und es überfiel ihn eine tiefe Traurigkeit.

»Adieu, Katuscha,« sagte er ganz leise zu ihr hinter dem Rücken seiner Tanten, bevor er in den Wagen stieg.

»Adieu, Dimitri Iwanowitsch,« sagte sie mit ihrer singenden Stimme, bemühte sich, die Thränen zurückzuhalten, die ihr aus den Augen stürzten und entfloh in den Vorflur, um sich in Ruhe ausweinen zu können.

Drei Jahre vergingen, ohne daß Nechludoff Katuscha wiedersah, und als er sie nach diesen drei Jahren auf einem Urlaub wiedersah, den er bei seinen Tanten verlebte – er war nämlich zum Offizier in der Garde ernannt worden – da war er ein ganz anderer Mensch, als der, der einst mit dem jungen Mädchen dieses naive Liebesverhältnis unterhalten.

Früher war er ein selbstloser, uneigennütziger Jüngling, der für das nach seiner Ansicht Gute jedes Opfer zu bringen bereit war; jetzt war er ein Egoist und ein Wüstling, der sich nur noch um sein eigenes Vergnügen kümmerte. Früher erschien ihm die Welt als ein Rätsel, das zu lösen er mit jugendlichem Feuer bemüht war; jetzt erschien ihm alles in der Welt klar und einfach, und alles schien sich den Bedingungen seines Lebens unterordnen zu müssen. Früher hielt er es für bedeutend und notwendig, mit der Natur und den Menschen, die vor ihm gedacht, gelebt und gefühlt, den Philosophen und Dichtern der Vergangenheit, übereinzustimmen; jetzt hielt er es für wichtig und notwendig, mit seinen Kameraden im Einverständnis zu leben und sich den gesellschaftlichen Gewohnheiten seiner Kreise anzupassen.

Früher sah er in dem Weibe ein geheimnisvolles, reizendes Geschöpf; jetzt hatte das Weib, jedes Weib – bis auf seine Verwandten und die Frauen seiner Freunde – in seinen Augen eine sehr klare und deutliche Bedeutung, denn sie war ihm nur ein Instrument eines schon wohlbekannten Genusses. Früher brauchte er fast gar kein Geld und gab kaum den dritten Teil des ihm von seiner Mutter ausgesetzten Zuschusses aus; er konnte auf die väterliche Erbschaft verzichten, und sie den Bauern schenken; jetzt genügten ihm die 1500 Rubel nicht einmal, die ihm seine Mutter gab, und es war schon mehr als einmal zwischen ihm und ihr zu unangenehmen Auseinandersetzungen in Geldfragen gekommen.

Diese große Umwandlung, die sich in ihm vollzogen, kam ganz einfach daher, daß er nicht mehr an sich selbst, sondern nur noch an die andern glaubte. Er hatte aber den Glauben an sich selbst aufgegeben, um nur noch den andern zu vertrauen, weil ihm das Leben mit dem Glauben an sich selbst zu schwer erschien; denn um im Vertrauen auf sich selbst zu leben, mußte er nicht an den Nutzen seiner eigenen selbstsüchtigen, nur für das Vergnügen sorgenden Person denken, sondern mußte fast immer im Gegenteil gegen die Interessen dieser Person handeln. Lebte er dagegen im Vertrauen auf die andern, so brauchte er gar keine eigenen Bestimmungen zu treffen, denn es war schon alles im voraus zu seinem Vorteile bestimmt. Außerdem setzte er sich, wenn er an sich glaubte, fortwährend der Mißbilligung der Menschen aus; vertraute er dagegen den andern, so durfte er gewiß sein, das Lob seiner Umgebung zu ernten.

Als sich Nechludoff mit der Wahrheit, der Bestimmung des Menschen, der Armut und dem Reichtum beschäftigte, nannte seine ganze Umgebung diese Beschäftigung unvernünftig und lächerlich; seine Mutter, seine Tanten nannten ihn mit milder Ironie »unsern lieben Philosophen«; las er dagegen Romane, erzählte er pikante Anekdoten, sprach er von dem neuesten Lustspiel im französischen Theater, dann fand ihn jeder reizend. Wenn er, um seine Bedürfnisse einzuschränken, ein Jacket vom vorigen Jahre trug oder keinen Wein trank, so warf ihm jeder vor, er isoliere sich und wolle aus Eitelkeit originell erscheinen; gab er aber für seine Vergnügungen mehr Geld aus, als er hatte, jagte er und veranstaltete Zechgelage, so billigte jeder sein Verhalten; und hatte er es sich in den Kopf gesetzt, sein Zimmer ganz besonders luxuriös auszustatten, dann beeilte sich jeder, ihm wertvolle Gegenstände zu schenken. Als Nechludoff das kleine, von seinem Vater ererbte Gut den Bauern geschenkt, weil er es für ungerecht hielt, Land zu besitzen, hatte sein Entschluß die ganze Familie erschreckt und ihm von seiten seiner Umgebung endlosen Spott und Vorwürfe eingebracht. Man hatte ihm fortwährend erzählt, seine Schenkung habe die Bauern arm, nicht aber reich gemacht, sie hätten im Dorfe drei Schenken errichtet und die Arbeit völlig im Stich gelassen. Als Nechludoff dagegen in die kaiserliche Garde eintrat, und im Verkehr mit der vornehmsten Gesellschaft so viel Geld auszugeben anfing, daß seine Mutter auf ihr Kapital hatte Vorschuß nehmen müssen, da hatte sich die alte Fürstin wohl ein bißchen geärgert, sich aber im Grunde ihres Herzens gefreut, weil sie es natürlich und richtig fand, daß sich ein junger Mensch austobe.

In der ersten Zeit hatte Nechludoff gegen diese Lebensweise gekämpft, doch der Kampf war ihm schwer geworden, weil alles, was er für gut hielt, als er an sich selbst glaubte, von den andern für schlecht und unvernünftig gehalten wurde, während umgekehrt alles, was ihm schlecht erschien, in den Augen seiner Umgebung als vortrefflich galt. So hatte Nechludoff schließlich nachgegeben; er hatte nicht mehr an sich selbst, sondern nur noch an die andern geglaubt. Zuerst war ihm dieser Verzicht auf sich selbst schwer geworden; doch dieser erste Eindruck hatte nicht lange gedauert; er hatte zu rauchen, zu trinken angefangen, und schließlich bei dem Gedanken, er brauche sich jetzt nur noch um das Urteil der andern zu kümmern, eine wahre Erleichterung empfunden.

Nun hatte sich Nechludoff mit seinem leidenschaftlichen Wesen dem neuen Leben, das seine Umgebung führte, vollständig überlassen, und die Stimme, die etwas anderes von ihm verlangte, ganz und gar unterdrückt. Diese Veränderung hatte bei seiner Ankunft in St. Petersburg begonnen und war bei seinem Eintritt in das Gardekorps vollzogen.

»Wir sind bereit, unser Leben zu opfern, und infolgedessen ist das sorglose und heitere Leben, das wir führen, nicht nur entschuldbar, sondern sogar unerläßlich. Also wären wir unsinnig, wollten wir ein anderes führen!«

So sagte sich Nechludoff unbewußt während dieser Lebensperiode und freute sich, daß, er sich von all‘ dem Zwang befreit, den er sich in seiner Jugend auferlegt. In diesem Zustande befand er sich, als er drei Jahre nach seiner ersten Begegnung mit Katuscha, gerade, als er in den Krieg gegen die Türken ziehen wollte, in das Haus seiner Tanten zurückkehrte.

Nechludoff hatte mehrere Gründe, sich bei seinen Tanten aufzuhalten. Erstens lag ihre Besitzung auf dem Wege zu seinem Regiment; dann hatten ihn die beiden alten Damen auch sehr gebeten, sie zu besuchen; vor allem aber hatte er Katuscha wiedersehen wollen.

Er kam in den letzten Tagen des März, am Charfreitag, bei Tauwetter, in strömendem Regen, so daß er sich ganz durchnäßt und aufgeweicht, dabei aber kräftig und guter Dinge, wie stets zu dieser Zeit seines Lebens, fühlte.

»Wenn sie nur noch da ist!« dachte er, als er in den mit Schnee geschmolzenen Hof trat und das alte ihm so wohlbekannte, aus Ziegeln erbaute Haus erkannte. »Wenn sie doch auf der Schwelle zu meinem Empfange erscheinen möchte!«

Auf der Schwelle erschienen zwei barfüßige Mägde, die Eimer herbeischleppten und augenscheinlich die Dielen scheuern wollten. Von Katuscha war keine Spur zu entdecken, und Nechludoff kam nur der alte Kammerdiener Tichon entgegen, der offenbar auch mit Reinemachen beschäftigt war, denn er hatte eine Schürze umgebunden. Im Salon wurde er von Sophie Iwanowna empfangen, die einen gelben Mantel und eine Haube trug.

»Wie nett, daß du gekommen bist!« sagte Sophie Iwanowna, ihn umarmend. »Marie ist etwas leidend; sie hat sich heut‘ morgen in der Kirche angestrengt; wir waren nämlich zur Beichte!«

»Guten Tag, Tante Sonja,« sagte Nechludoff, ihr die Hand küssend; »entschuldigen Sie, ich habe Sie ganz naß gemacht!«

»Kleide dich schnell in deinem Zimmer um. Du bist ganz durchgeweicht. Und du hast ja schon einen Schnurrbart . . . Katuscha, Katuscha! schnell! man soll Kaffee machen!«

»Gleich!« versetzte eine heitere Stimme vom Gange her, und Nechludoffs Herz schlug fröhlich. Das war sie! Sie war noch da! Und in demselben Augenblick zeigte sich die Sonne zwischen den Wolken.

Fröhlich folgte Nechludoff Tichon, der ihn in dasselbe Zimmer führte, das er früher bewohnt. Gern hätte er den alten Diener nach Katuscha ausgefragt, wie es ihr ginge, was sie treibe und ob sie schon verlobt wäre. Noch Tichon war gleichzeitig so ehrerbietig und würdevoll und wollte Nechludoff selbst das Wasser aus dem Kruge über die Hände gießen, daß dieser ihn nicht nach dem jungen Mädchen zu fragen wagte, und sich nur nach seinen Enkeln, dem alten Pferde und dem Wachhunde Polkan erkundigte. Alle waren noch am Leben und wohlauf, bis auf Polkan, der im vorigen Jahre von der Tollwut befallen worden war.

Nechludoff zog sich gerade um, als er einen leichten Schritt auf dem Gange vernahm und es an die Thür klopfte. Nechludoff erkannte den Schritt und das Klopfen, nur sie ging und klopfte so! Schnell warf er seinen nassen Mantel über die Schultern und rief: »Herein!«

Sie war’s, Katuscha; noch immer so wie sonst, aber noch hübscher und reizender, als früher. Ihre Augen schimmerten naiv, und sie trug wie sonst eine auffallend saubere, weiße Schürze. Jetzt brachte sie ihm von seinen Tanten eine wohlriechende Seife und zwei Handtücher.

»Seien Sie willkommen, Dimitri Iwanowitsch!« sagte sie mit einer gewissen Verlegenheit, während sie heftig errötete.

»Ich grüße dich! . . . ich grüße Sie!« – Er wußte nicht, ob er »Du« oder »Sie« sagen sollte; und fühlte, wie auch er rot wurde. »Es geht Ihnen gut?«

»Gott sei Dank, ja! Ihre Tanten schicken Ihnen Ihre Lieblingsseife,« fuhr sie fort, legte die Seife auf den Tisch und breitete die Handtücher über die Stuhllehne.

»Dimitri Iwanowitsch hat seine mitgebracht!« bemerkte Tichon in feierlichem Tone und zeigte dem jungen Mädchen das große Necessaire mit Silberbeschlägen, das Nechludoff auf dem Tisch geöffnet hatte und das eine Menge Fläschchen, Bürsten, Pulver, Parfüms und Toilettengegenstände enthielt.

»Sagen Sie meinen Tanten, ich danke ihnen. Ach, wie freue ich mich, gekommen zu sein!« fügte Nechludoff hinzu, denn er fühlte, daß in seiner Seele plötzlich wieder alles hell und klar wie früher geworden war.

Sie antwortete nicht, lächelte aber und verließ das Zimmer. Die beiden Tanten, die Nechludoff stets vergöttert, empfingen ihn diesmal noch liebevoller als gewöhnlich. Dimitri zog in den Krieg; er konnte verwundet und getötet werden! Das zerriß den beiden alten Damen das Herz.

Nechludoff hatte zuerst nur einen Tag bleiben wollen; doch als er Katuscha wiedersah, beschloß er, auch noch den Ostersonntag bei ihr zu verleben, und telegraphierte seinem Kameraden Tschembock, den er nach Odessa bestellt hatte, er solle ihn von seinen Tanten abholen.

Im ersten Augenblick, da er Katuscha wiedergesehen, waren die alten Empfindungen wieder in ihm erwacht. Wie früher sah er nicht ohne Rührung die weiße Schürze des jungen Mädchens; er sah mit Vergnügen ihr Lächeln und hörte ihre Stimme und das Geräusch ihrer Schritte; er blieb nicht gleichgiltig bei dem Blick ihrer schwarzen Augen, besonders, wenn sie lächelte; wie früher konnte er nicht ohne Verwirrung mit ansehen, wie sie in seiner Gegenwart errötete. Von neuem war er verliebt, doch nicht so wie früher, wo ihm seine Liebe ein Geheimnis geblieben, wo er sich selbst nicht zu gestehen gewagt, daß er verliebt war, und wo er überzeugt war, man könne nur einmal lieben; jetzt wußte er, daß er verliebt war, und wußte auch, worin diese Liebe bestand und was daraus entstehen konnte.

Wie in einem jeden lebten auch in Nechludoff zwei Menschen, der moralische Mensch, der sein Wohl nur im Wohle der andern suchte, und der tierische Mensch, der nur sein eigenes Wohl suchte und das der ganzen Welt zu opfern bereit war. In dem Zustand selbstsüchtiger Thorheit, in dem er sich zu dieser Zeit befand, hatte der tierische Mensch in ihm die Oberhand gewonnen und den andern vollständig erstickt. Doch als er Katuscha wiedergesehen, und seine alten Gefühle für sie wieder in ihm erwacht waren, erhob der moralische Mensch das Haupt und forderte sein Recht, so daß sich in den nächsten zwei Tagen ein unaufhörlicher Kampf in ihm abspielte. Er wußte, daß es seine Pflicht war, abzureisen, daß es schlecht war, seinen Aufenthalt bei den Tanten zu verlängern und daß nichts Gutes dabei herauskommen konnte; doch er empfand so viel Glück und Vergnügen, daß er nicht mehr auf die Stimme des Gewissens hörte und blieb.

Am Sonnabend abend vor Ostern segnete der Priester mit dem Diakon und dem Meßner, wie es üblich, die Brote; mit großer Mühe waren sie, wie sie erzählten, durch die infolge des Tauwetters entstandenen Sümpfe gekommen; der Weg von der Kirche bis zu dem Hause der alten Damen betrug drei Werst. Nechludoff wohnte der Ceremonie mit seinen Tanten und der ganzen Dienerschaft bei. Er betrachtete fortwährend Katuscha, die mit dem Weihkessel in der Hand bei der Thür stand. Nachdem er der Sitte gemäß mit dem Priester und seinen Tanten drei Küsse getauscht, wollte er wieder in sein Zimmer gehen, als er auf dem Gange die Stimme der alten Wirtschafterin Matrena Pawlowna vernahm, die sich mit Katuscha zur Mitternachtsmesse begeben wollte, um dort der Nachtmesse und der Einsegnung der Brote beizuwohnen. »Ich will auch hin!« sagte sich Nechludoff.

Den Weg im Schlitten oder Wagen zurückzulegen, war nicht möglich. Nechludoff ließ das alte Pferd satteln, das er früher auf seinen Spazierritten benutzt, zog seine glänzende Uniform und seinen Offiziersmantel an; dann ritt er auf dem dicken, zu gut genährten Pferde, das fortwährend wieherte, durch Schnee und Schmutz nach der Dorfkirche.

Diese nächtliche Messe sollte für Nechludoff auf ewig eine der süßesten und stärksten Erinnerungen seines Lebens bilden.

Als er nach langem Ritt im Dunkel endlich den Hof der Kirche betrat, hatte der Gottesdienst schon begonnen.

Die Bauern, die in dem Reiter den Neffen von Marie Iwanowna erkannten, führten ihn an einen trockenen Ort, wo er absteigen konnte, brachten sein Pferd fort und öffneten ihm die Kirchenthür. Die Kirche war schon drückend voll.

Rechts standen die Männer. Die Alten in Jacken, die sie selbst genäht, die Beine mit weißen Leinewandstreifen umwickelt; die jungen in ganz neuen Tuchjacken, mit einer hellen Schleife um die Lenden und großen Stulpstiefeln an den Füßen. Links standen die Frauen, den Kopf mit Seidentüchern bedeckt, in Samtjacken mit roten Aermeln und blauen, grünen, roten Röcken und eisenbeschlagenen Stiefeln an den Füßen. Die ältesten hatten sich bescheiden in den Hintergrund gestellt, mit ihren weißen Kopftüchern und grauen Jackets. Zwischen ihnen und den jungen Frauen standen die Kinder in Feiertagsgewändern.

Die Männer schlugen das Kreuz; die Frauen, besonders die älteren, drückten, während sie eifrig das mit Kerzen umstellte Heiligenbild betrachteten, die gefalteten Finger auf die Stirn, die Schultern und den Bauch, während ihre Lippen fortwährend Gebete murmelten. Die Kinder folgten dem Beispiel der großen Personen, und beteten eifrig, besonders, wenn sich die Blicke der Eltern auf sie richteten.

Nechludoff trat in die Kirche. In der Mitte stand die Aristokratie. Da war ein Gutsbesitzer mit seiner Frau und seinem Sohn im Matrosenanzug, der Stanowoj, der Telegraphist, ein Kaufmann in hohen Stulpstiefeln, der Starost mit seiner Medaille und rechts vom Pult hinter der Frau des Gutsbesitzers Matrena Pawlowna, die ein Kleid mit auffallenden Farben und einen gestreiften Shawl trug. Neben ihr stand Katuscha in weißem Kleide mit plissiertem Mieder. Ein blauer Gürtel schnürte ihre Taille ein und Nechludoff sah, daß, sie in ihren schwarzen Haaren eine rote Schleife trug.

Alles sah festlich, feierlich, fröhlich und schön aus; der Priester mit seinem silbernen Chorhemd mit aufgenähtem Goldkreuz, der Diakon und der Meßner mit ihren gold- und silberbestickten Stolen, die fröhlichen Gesänge der Chorknaben, die Art, wie der Priester jeden Augenblick eine Kerze erhob, um die Anwesenden zu segnen und wie alle von Zeit zu Zeit wiederholten: »Christ ist erstanden! Christ ist erstanden!« Was war alles schön, doch noch weit schöner war Katuscha mit ihrem weißen Kleide und ihrem blauen Gürtel, und ihrer roten Schleife in den schwarzen Haaren.

Ohne daß er sich umzuwenden brauchte, fühlte Nechludoff, daß sie ihn sah. Er ging ganz nahe an ihr vorbei, als er auf den Altar zuschritt. Er hatte ihr nichts zu sagen, sagte aber doch, als er an ihr vorbeikam:

»Meine Tante läßt Ihnen sagen, daß erst nach der zweiten Messe zu Abend gespeist wird.«

Katuscha strömte das Blut ins Gesicht und ihre Augen blieben mit glücklichem Lächeln auf ihm haften.

»Ich weiß,« erwiderte sie.

In diesem Augenblick kam der Meßner, der zum Gabeneinsammeln durch die Menge schritt, an Katuscha vorüber und streifte sie, ohne sie zu sehen, mit seiner Stola. Doch Nechludoff sah bestürzt, daß dieser Meßner nicht begriff, daß alles, was in der Kirche, was in der Welt geschah, nur für Katuscha geschah, daß sie allein nicht unbemerkt bleiben durfte, daß sie der Mittelpunkt des Weltalls war. Für sie glänzte das Gold des Heiligenbildes, für sie brannten die Kerzen des Kronleuchters, für sie erhoben sich diese fröhlichen Gesänge: »Freut euch, ihr Menschen!« Alles Gute und Schöne auf Erden war nur für sie bestimmt; und Katuscha mußte das zweifellos auch begreifen. Das empfand Nechludoff, als er die anmutigen Formen des jungen Mädchens in dem weißen Kleide und dies von ernster Freude verklärte Gesicht erblickte, dessen Ausdruck ihm verriet, daß es in ihr ebenso jubelte, wie in ihm.

Schon war die Nacht heller geworden, doch die Sonne zeigte sich noch nicht. Die Menge, die die Kirche verließ, strömte über den Hof, doch Katuscha erschien noch immer nicht und Nechludoff blieb stehen, um sie zu erwarten.

Noch immer strömte das Volk heraus; die Fliesen dröhnten unter den genagelten Schuhen. Ein Greis mit wackelndem Kopfe, der alte Koch Maria Iwanownas, hielt Nechludoff auf und küßte ihn dreimal; dann reichte ihm seine Frau, ein altes, ganz runzliges Weib, ein bemaltes Ei in gelbem Safran. 3 Hinter ihm erschien lächelnd ein kräftiger, junger Muschik, der eine neue Jacke mit grünem Gürtel trug.

»Christ ist erstanden!« sagte er mit gutmütigem Lächeln, schlang seine Arme um Nechludoffs Hals und küßte ihn dreimal auf den Mund. Während dieser ein braunbemaltes Ei von dem Muschik, der ihn umarmt, erhielt, sah er das bunte Kleid der Matrena Pawlowna aus der Kirche treten und hinter diesem erschien der liebe, kleine Schwarzkopf mit der roten Schleife.

Katuscha bemerkte ihn sofort, und er sah, daß sie von neuem errötete.

In der Vorhalle blieb sie stehen, um den Bettlern Almosen zu spenden. Einer der Bettler, ein Unglücklicher, der an der Stelle der Nase eine große, rote Wunde hatte, näherte sich ihr. Sie holte etwas aus ihrem Kleide, trat ohne den geringsten Widerwillen auf ihn zu und küßte ihn dreimal. Während dessen kreuzten sich ihre Augen mit denen Nechludoffs, als wollten sie fragen: »Thue ich recht?« – »Ja, gewiß, Geliebte, alles ist gut und schön; ich liebe dich!«

Die beiden Frauen gingen die Stufen hinunter, und Nechludoff eilte ihnen entgegen. Er hatte nicht die Absicht, ihnen frohes Fest zu wünschen, konnte aber nicht umhin, sich Katuscha zu nähern.

»Christ ist erstanden!« sagte Matrena Pawlowna lächelnd; dann wischte sie sich mit ihrem Taschentuch den Mund und hielt dem jungen Mann ihre Wange hin.

»Er ist in Wahrheit erstanden !« versetzte Nechludoff und küßte sie. Dann warf er einen Blick auf Katuscha, die wieder rot wurde und auf ihn zutrat.

»Christ ist erstanden, Dimitri Iwanowitsch!« sprach sie.

»Er ist in Wahrheit erstanden!« entgegnete er. Sie küßten sich zweimal und hielten inne; dann küßten sie sich lächelnd zum drittenmal.

»Sie gehen nicht zum Priester?« fragte Nechludoff.

»Nein, wir wollen hier warten, Dimitri Iwanowitsch,« versetzte sie, mühsam sprechend.

Ihre Brust hob sich im Fieber, und fortwährend sah sie ihn mit ihren schüchternen, unschuldigen und zärtlichen Augen an.

In der Liebe zwischen Mann und Weib giebt es stets eine Minute, wo diese Liebe ihren höchsten Grad erreicht und nichts Sinnliches oder Ueberlegtes kennt. Diese Minute hatte Nechludoff in dieser Osternacht kennen gelernt. Jetzt, da er im Geschworenenzimmer saß, versuchte er sich an alle Umstände zu erinnern, unter denen er Katuscha gesehen und diese Minute, die wieder vor ihm erstand, löschte alles übrige aus! Ach, wäre er doch bei dem Gefühl geblieben, das er in jener Osternacht empfand.

»Ja, alles, was sich Schreckliches zwischen uns abgespielt, ist erst nach dieser Osternacht gekommen!« dachte er, als er im Geschworenenzimmer am Fenster saß.

Als Nechludoff aus der Kirche kam, speiste er mit seinen Tanten. Um sich von seiner Abspannung zu erholen, trank er, wie er es im Regiment gewöhnt war, mehrere Gläser Wein und Schnaps. Dann ging er wieder in sein Zimmer, streckte sich, ohne sich auszuziehen, auf seinem Bett aus und schlief sofort ein. Es klopfte an die Thür, und er erwachte. An der Art des Klopfens erkannte er, daß sie es war. Er sprang vom Bett und rief, sich die Augen reibend:

»Katuscha, bist du’s? Komm herein!«

Sie öffnete die Thür und sagte:

»Man ruft Sie zum Frühstück!«

Sie trug dasselbe weiße Kleid, aber ohne die Schleife in den Haaren. Sie sah ihm in die Augen und ihr Gesicht strahlte, als wenn sie ihm etwas Außerordentliches und Fröhliches mitgeteilt hätte.

»Ich komme gleich,« versetzte er.

Sie blieb noch eine Minute, ohne etwas zu sagen, und plötzlich stürzte Nechludoff auf sie zu. Noch in demselben Augenblick drehte sie sich schnell um und entfloh auf den Korridor.

»Wie dumm von mir, daß ich sie nicht zurückgehalten habe!« sagte sich Nechludoff und verließ das Zimmer, um sie einzuholen.

»Halt! Katuscha!« rief er ihr zu, und sie drehte sich um.

»Was giebt’s?« fragte sie, und hörte auf zu lächeln.

»Nichts giebt es, aber…«

Er beherrschte sich, überlegte sich, wie sich alle Männer seiner Gesellschaftsklasse benehmen würden, und faßte sie um die Taille.

Sie blieb stehen und sagte, ihm in die Augen sehend, blutrot und dem Weinen nahe:

»Das ist nicht recht, Dimitri Iwanowitsch; das ist nicht recht!«

Dann schob sie den Arm, der sie umschlungen hielt, mit ihren kleinen, kräftigen Händen zurück.

Nechludoff ließ sie los. Er hatte plötzlich eine Empfindung nicht nur der Scham und des Unbehagens, sondern auch des Widerwillens gegen sich selbst. In diesem Moment hätte er an sich glauben können, doch er begriff nicht, daß diese Scham und dieser Widerwille der Ausdruck seiner Seele waren; er bildete sich vielmehr ein, seine Dummheit spräche aus ihm, und es wäre seine Pflicht, wie jeder andere zu handeln.

Von neuem verfolgte er Katuscha, faßte sie um die Taille und drückte ihr einen Kuß auf den Hals.

Dieser Kuß hatte mit denen, die er ihr früher gegeben, nichts gemein; sein jetziger Kuß hatte etwas Schreckliches, und das fühlte sie auch.

»Was thun Sie?« rief sie mit entsetzter Stimme, riß sich los und entfloh, so schnell sie konnte.

Nechludoff begab sich in das Eßzimmer. Seine Tanten saßen in großer Toilette mit dem Arzt und einer Nachbarin bereits bei Tische. Alles ging wie sonst zu, doch in Nechludoffs Seele grollte der Sturm. Er verstand nicht, was man ihm sagte, antwortete verkehrt, und dachte stets nur an Katuscha. Plötzlich vernahm er ihren Schritt auf dem Gange, und von diesem Augenblick an hörte er nichts weiter mehr. Als sie in den Saal trat, sah er sie nicht an, fühlte aber mit seinen ganzen Wesen ihre Anwesenheit.

Nach dem Essen ging er gleich wieder in sein Zimmer. Erregt ging er lange auf und ab, und lauschte, in der Erwartung, Katuschas Schritt zu vernehmen, auf das leiseste Geräusch im Hause. Das in ihm lebende Tier hatte nicht nur das Haupt erhoben, sondern das liebende, selbstlose Wesen, das er bei seinem ersten Aufenthalt, und noch am Morgen desselben Tages in der Kirche gewesen war, vollständig unterdrückt. Jetzt herrschte nur noch das Tier in seiner Seele.

Obwohl er dem jungen Mädchen fortwährend nachspionierte, konnte er sie den ganzen Tag über nicht ein einziges Mal allein sprechen. Sie wich ihm offenbar aus. Gegen Abend aber mußte sie ein Zimmer neben dem seinigen betreten. Der Arzt wollte bis zum nächsten Morgen bleiben, und Katuscha hatte den Auftrag erhalten, ein Zimmer für ihn für die Nacht herzurichten. Als Nechludoff ihre Schritte vernahm, schlich er geräuschlos und den Atem anhaltend, als wolle er ein Verbrechen begehen, in das Zimmer, in das sie hineingegangen war.

Katuscha hatte die beiden Hände in einen Ueberzug gesteckt und wollte eben ein Kissen hineindrücken, als sie hörte, wie die Thür sich öffnete. Sie wandte sich nach Nechludoff um und lächelte ihm zu, doch das war nicht mehr ihr vertrauensvolles und fröhliches Lächeln von früher, das war ein klägliches, entsetztes Lächeln. Es schien Nechludoff zu sagen, daß das, was er that, schlecht war, und daß er es nicht thun durfte. Und tatsächlich hielt Nechludoff einen Augenblick inne; der Kampf der beiden Männer in ihm entspann sich von neuem. Zum letztenmal hörte er, aber nur schwach, die Stimme seiner aufrichtigen Liebe zu ihr, die ihm von ihr, ihren Gefühlen und ihrem Leben sprach. Doch sofort sagte ihm eine andere Stimme: »Gieb acht; du wirst dir dein Vergnügen entgehen lassen!« Diese erste Stimme erstickte die andere. Entschlossen schritt er auf das junge Mädchen zu, und ein bestialisches, unwiderstehliches Gefühl bemächtigte sich seiner.

»Dimitri Iwanowitsch, mein Liebling, lassen Sie mich bitte,« sagte sie mit flehender Stimme. »Matrena Pawlowna kommt!« fügte sie, sich losreißend, hinzu.

Es kam tatsächlich jemand.

»Höre! ich werde in der Nacht zu dir kommen« flüsterte ihr Nechludoff zu. »Du wirst allein sein, nicht wahr?«

»Was wollen Sie? Warum? Nein, nein! Das ist nicht recht,« sagte sie; doch nur ihre Lippen sprachen das; ihre ganze erregte, erschütterte Persönlichkeit redete anders.

Matrena Pawlowna trat in das Zimmer. Sie brachte Handtücher für den Arzt. Sie warf Nechludoff einen vorwurfsvollen Blick zu und schalt Katuscha aus, die es vergessen hatte, die Servietten zu holen.

Nechludoff ging schnell hinaus, doch er schämte sich nicht mehr. An Matrena Pawlownas Blick hatte er gesehen, daß sie ihn im Verdacht hatte und daß das, was er that, schlecht war; doch der bestialische Instinkt, der an die Stelle seiner alten Liebe für Katuscha getreten war, beherrschte ihn jetzt und herrschte allein in ihm. Er fühlte, daß er diesen Instinkt befriedigen mußte, und dachte nur noch an die Mittel dazu.

Den ganzen Abend war er unruhig; bald ging er zu seinen Tanten, bald trat er in sein Zimmer oder auf die Freitreppe hinaus. Und er hatte nur den einen Gedanken, Katuscha wiederzusehen, Diese aber wich ihm aus, und Matrena Pawlowna verlor ihn nicht aus den Augen.

So verging der ganze Abend, und die Nacht brach herein. Der Arzt ging zur Ruhe, und die Tanten traten in ihr Zimmer. Nechludoff wußte, daß Matrena Pawlowna in diesem Augenblick bei seinen Tanten war, denen sie beim Ausziehen half. Katuscha mußte also allein in der Küche sein.

Wieder ging Nechludoff auf die Freitreppe hinaus, Die Nacht war dunkel, feucht, warm, und die ganze Luft erfüllte der weiße Nebel, den der schmelzende Schnee im Frühling hervorbringt. Vom Fluß her vernahm man, hundert Schritt vom Hause, ein seltsames Geräusch; das Eis brach.

Nechludoff stieg die Freitreppe hinunter und ging, durch die Lachen des geschmolzenen Schnees watend, bis zum Küchenfenster. Das Herz klopfte ihm so stark, daß er es hörte.

In der Küche brannte eine kleine zitternde Lampe. Katuscha saß allein am Tische und starrte nachdenklich vor sich hin. So blieb sie mehrere Minuten, erhob dann die Augen, lächelte und nickte, als wenn sie mit sich selbst spräche; darauf legte sie die Hände auf den Tisch und starrte wieder vor sich hin.

Er betrachtete sie weiter und lauschte dabei unwillkürlich auf die Schläge seines Herzens und auf das seltsame Geräusch, das vom Flusse herkam. So blieb er vor dem Fenster stehen und beobachtete auf dem müden und sinnenden Gesicht Katuschas die Spuren der Arbeit, die sich in ihr vollzog; er hatte Mitleid mit ihr, doch seltsamerweise bestärkte ihn dieses Mitleid nur noch mehr in seinem Wunsche.

Er klopfte aus Fenster, und wie von einem elektrischen Schlage getroffen erbebte sie am ganzen Körper und Schrecken malte sich aus ihren Zügen. Dann sprang sie auf, stürzte nach dem Fenster und drückte das Gesicht an die Scheiben. Der Ausdruck der Angst verschwand auch nicht, als sie Nechludoff erkannte. Sie sah ernster aus, als der junge Mann sie je gesehen hatte. Erst als er ihr zulächelte, lächelte auch sie; und sie that das nur aus Unterwürfigkeit, denn er sah wohl, daß in ihrer Seele keine Freude, sondern einzig und allein nur Furcht und Entsetzen lebte.

Er machte ihr ein Zeichen, sie solle zu ihm auf den Hof kommen; doch sie schüttelte den Kopf und blieb am Fenster stehen. Wieder drückte er sein Gesicht an die Scheibe und wollte ihr zurufen, sie solle herauskommen; doch in demselben Augenblick wandte sie sich nach der Thür um. Jedenfalls hatte sie jemand gerufen.

Nechludoff entfernte sich vom Fenster. Der Nebel war so dicht geworden, daß man fünf Schritt weit die Fenster nicht sehen konnte, sondern nur eine große, dunkle Masse, aus der das rote Licht einer Lampe strahlte. Plötzlich krähte ein Hahn; andere antworteten ihm auf dem Hofe; und wieder andere ließen im Dorfe ihr Gekrähe ertönen, das in einem und demselben lauten Lärm verschmolz. Rings umher war alles still; nur der Fluß setzte sein Werk fort.

Nechludoff ging vor dem Hause ein paarmal auf und ab und näherte sich dann wieder dem Küchenfenster. Beim Lampenschein sah er Katuscha wieder am Tische sitzen. Noch kaum war er näher getreten, als sie die Augen auf das Fenster richtete. Er klopfte, und sie verließ sofort die Küche; er hörte, wie sich die Thür knirschend öffnete und wieder schloß. Er lief nach der Freitreppe und umschlang sie sofort, ohne ein Wort zu sprechen, Sie schmiegte sich an ihn an, erhob den Kopf und bot ihre Lippen seinem Kusse dar. So blieben sie an der Ecke des Hauses an einer trockenen Stelle stehen; und Nechludoff fühlte, wie das Verlangen nach ihr immer stärker wurde. Plötzlich hörten sie wieder die Thür gehen, und Matrena Pawlownas zornige Stimme rief in die Nacht hinaus: »Katuscha!« Sie entriß sich seinen Armen und lief zur Küche. Er hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde; dann wurde wieder alles still, und das rote Licht der Lampe erlosch.

Nechludoff näherte sich dem Fenster; doch er konnte nichts sehen. Er klopfte; niemand gab Antwort. Er ging ins Haus in sein Zimmer, legte sich aber nicht schlafen. Eine halbe Stunde später zog er seine Stiefel aus und ging nach Katuschas Schlafzimmer. Als er an Matrena Pawlownas Zimmer vorüberkam, hörte er, wie die alte Wirtschafterin ruhig schnarchte. Schon wollte er seinen Weg fortsetzen, als Matrena Pawlowna zu husten anfing und sich auf ihrem Bette umdrehte. So vergingen fünf Minuten. Als wieder alles schwieg und er wieder das Schnarchen der Alten vernahm, setzte Nechludoff leise seinen Weg fort. Endlich stand er vor Katuschas Thür. Kein Atemzug ließ sich hören; offenbar schlief sie nicht. Doch kaum hatte er »Katuscha« geflüstert, als sie zur Thür stürzte und ihn in zornigem Tone gehen hieß.

»Wo denken Sie hin? Ihre Tanten werden wach werden!« sprachen ihre Lippen; doch ihr ganzes Wesen sprach: »Ich gehöre dir mit Leib und Seele!« und nur das allein hörte Nechludoff.

»Ich bitte dich, öffne nur auf eine Minute!«

Es trat eine Pause ein; dann hörte Nechludoff, wie eine Hand im Dunkel nach dem Riegel tastete. Die Thür öffnete sich, und Nechludoff trat ins Zimmer. – – –

Als er sie verließ, ging er auf die Freitreppe hinaus und blieb dort stehen, um sich die Bedeutung des Vorgefallenen klar zu machen.

Draußen war es heller geworden; der Nebel begann zu fallen, und hinter dem Nebel erschien der Halbmond.

»Was ist das?« fragte sich Nechludoff. »Ist mir ein großes Glück oder ein großes Unglück widerfahren?«

»Ah bah!« sagte er sich , »das ist immer so; und jeder thut es!«

Dann ging er beruhigt in sein Zimmer, legte sich nieder und schlief sofort ein.

Am nächsten Tage, dem Ostersonntag, holte ihn sein Freund Tschembock von seinen Tanten ab. Schön, glänzend und heiter entzückte er die alten Damen buchstäblich durch seine Beredtsamkeit, Höflichkeit, Freigebigkeit, und besonders durch die Zuneigung, die er für Nechludoff hegte. Seine Freigebigkeit gefiel ihnen zwar, doch sie fanden sie etwas übertrieben. Sie wunderten sich, als er einem blinden Bettler einen Rubel gab, den Dienern auf einen Schlag 15 Rubel schenkte und ohne Zögern ein Batisttaschentuch im Mindestwerte von 15 Rubel zerriß, um einer Magd den Fuß zu verbinden, den sie sich blutig gerissen hatte. Die würdigen Tanten hatten so etwas noch nie gesehen; sie wußten außerdem nicht, daß dieser Tschembock 200 000 Rubel Schulden hatte; da er fest entschlossen war, dieselben nie zu bezahlen, so kam es ihm auf 25 Rubel mehr oder weniger nicht an.

Tschembock verbrachte übrigens nur einen Tag bei den Tanten und reiste schon am Abend mit Nechludoff ab. Sie konnten ihren Aufenthalt nicht länger ausdehnen, da die Frist fast schon abgelaufen war.

Nechludoff dachte an diesem ersten Tage nur an die vorige Nacht. Zwei Gefühle kämpften in seiner Brust; einerseits gefiel er sich darin, den sinnlichen Genuß wieder wachzurufen und war stolz darauf, sein Ziel glücklich erreicht zu haben; andererseits hatte er die Empfindung, eine Dummheit begangen zu haben, die er wieder gut machen mußte, und zwar nicht in Katuschas Interesse, sondern in seinem eigenen, denn in dem Zustande der selbstsüchtigen Thorheit, in dem er sich damals befand, konnte Nechludoff nur an sich denken. Er fragte sich, was man wohl sagen würde, wenn man erführe, wie er sich dem jungen Mädchen gegenüber benommen, dachte aber keineswegs daran, was sie empfinden, noch was ihr zustoßen könnte.

So war er zum Beispiel sehr neugierig, ob Tschembock seine Beziehungen zu Katuscha erraten hätte.

»Also darum hast du plötzlich eine so große Zuneigung zu deinen Tanten gefaßt?« sagte Tschembock, als er das junge Mädchen erblickte, »Ich glaube, an deiner Stelle hätte ich meinen Urlaub auch verlängert; das ist ja eine wahre Schönheit!«

Nechludoff dachte nun, daß es doch eigentlich sehr vorteilhaft für ihn war, jetzt wegfahren zu müssen, denn so konnte er die Beziehungen abbrechen, die er doch nur sehr schwer hätte aufrecht erhalten können. Er dachte ferner daran, daß es seine Pflicht war, Katuscha Geld zu geben, nicht ihretwegen oder um ihr zu Hilfe zu kommen, sondern weil das jeder Ehrenmann unter solchen Umständen thut.

Nach dem Essen erwartete er sie auf dem Korridor, Sie wurde blutrot, als sie ihn erblickte und wollte entfliehen, indem sie auf die halboffenstehende Zimmerthür Matrenas zeigte. Doch er hielt sie am Arm zurück und sagte, während er ihr ein Kouvert, in das er einen Hundertrubelschein gelegt, in die Hand zu stecken versuchte:

»Ich wollte dich um Verzeihung bitten … da, nimm …«

Sie betrachtete das Kouvert, runzelte die Stirn und stieß die Hand des jungen Mannes zurück.

»Da nimm,« murmelte er und steckte ihr das Kouvert in das Mieder. Dann zog auch er die Stirn kraus, seufzte, als wenn er sich verletzt hätte, und lief in sein Zimmer, wo er noch lange Zeit auf und nieder ging. Doch was sollte er thun, handelte nicht jeder ebenso? Hatte nicht Tschembock ebenso bei einer Gouvernante gehandelt, die er verführt? Hatte nicht sein Onkel Gregor dasselbe gethan? War nicht sein Vater ebenso verfahren, als ihm eine Bäuerin den natürlichen Sohn schenkte, der jetzt noch lebte? Wenn es alle so trieben, so mußte man eben auch so handeln. Mit solchen Gründen suchte er sich zu beruhigen, ohne daß es ihm aber vollständig gelang. Die Erinnerung an die letzte Zusammenkunft mit Katuscha brannte auf seinem Gewissen. Im tiefsten Grunde seines Herzens fühlte er, daß er so gemein, so häßlich und grausam gehandelt, daß er von jetzt ab nicht nur das Recht verloren, jemanden zu beurteilen, sondern überhaupt einem Menschen ins Gesicht zu sehen. Trotzdem war er gezwungen, sich als einen Mann von Adel, Ehre und Großmut zu betrachten, denn nur um diesen Preis konnte er das Leben, das er führte, fortsetzen. Dazu gab es aber nur ein einziges Mittel; er durfte an das, was er gethan, nicht denken.

Die neue Existenz, die sich ihm eröffnete, das Reisen, die Kameraden, der Krieg machten ihm die Sache leicht, und je mehr Zeit verging, desto mehr vergaß er, so daß er schließlich alles vergessen hatte.

Dennoch schnürte sich ihm das Herz zusammen, als er mehrere Monate nach dem Kriege wieder seine Tanten besuchte und dort erfuhr, Katuscha wäre nicht mehr bei ihnen, hätte das Haus kurz nach seiner Abreise verlassen, ein Kind zur Welt gebracht und wäre nach Aussage der beiden alten Damen vollständig verkommen. Als die Tanten ihm das erzählten, hatten sie hinzugefügt, Katuscha wäre, bevor sie sie verließ, völlig verdorben; sie wäre überhaupt eine lasterhafte und schlechte Natur wie ihre Mutter.

Dieses Urteil von seiten der beiden Tanten gefiel Nechludoff, denn er fühlte sich dadurch gewissermaßen gerechtfertigt und beruhigt. Trotzdem hatte er zuerst die Absicht gehabt, Katuscha und das Kind zu suchen; da ihm aber im Grunde genommen die Erinnerung an sein Benehmen immer noch peinlich war und er sich dessen schämte, so that er die beabsichtigten Schritte nicht, vergaß seine Schuld noch mehr und dachte schließlich gar nicht mehr daran.

Jetzt aber rief ihn ein merkwürdiger Zufall wieder alles ins Gedächtnis zurück und brachte ihm die Selbstsucht, Grausamkeit und Gemeinheit zum Bewußtsein, die es ihm ermöglicht hatten, mit einem solchen Verbrechen auf der Seele neun Jahre lang ruhig zu leben. Doch noch war ihm das Bewußtsein seiner Unwürdigkeit durchaus nicht klar geworden, und in diesem Augenblick dachte er nur an die Mittel, einer Entdeckung vorzubeugen, damit Katuscha und ihr Verteidiger ihn in den Augen aller andern nicht bloßstellen konnten.

  1. Es ist beim russischen Volke üblich, sich beim Austausch der Ostereier, dreimal auf den Mund zu küssen.

Zweites Kapitel

Die Geschichte der Maslow war höchst alltäglich.

Sie war das natürliche Kind einer Bäuerin, die ihrer Mutter in einem Schlosse beim Viehhüten half. Die Bäuerin, die nicht verheiratet war, brachte jedes Jahr ein Kind zur Welt; und wie es in solchem Falle oft passiert, wurden die Kinder sofort nach der Geburt getauft; ihre Mutter nährte sie nicht, weil sie unerwünscht zur Welt gekommen war und ihr bei ihrer Arbeit nur lästig fielen; deshalb starben die armen Kleinen auch bald vor Hunger.

Fünf Kinder waren schon auf diese Weise dahingegangen. Alle waren gleich nach der Geburt getauft worden, die Mutter nährte sie nicht, und sie waren gestorben. Das sechste Kind, das von einem herumziehenden Zigeuner stammte, war ein Mädchen; deshalb wäre ihr aber doch dasselbe Schicksal, wie den fünf ältesten, beschieden gewesen, hätte es der Zufall nicht gefügt, daß eine der beiden alten Damen, denen das Schloß gehörte, einen Augenblick in den Kuhstall trat, um ihre Mägde wegen der Sahne, die nach der Kuh schmeckte, auszuschelten. Im Kuhstall lag die Wöchnerin an der Erde und neben ihr ein schönes, lebensfähiges, gesundes Kind. Die alte Dame schalt die Mägde, weil sie die Sahne so schlecht zubereitet und eine Wöchnerin in den Kuhstall gelassen hatten; als sie aber das Kind bemerkte, ward sie milder und erbot sich sogar, Patenstelle zu vertreten. Dann empfand sie Mitleid mit dem kleinen Mädchen, ließ der Mutter Milch und etwas Geld verabreichen, damit sie es nähren sollte, und so blieb das Kind am Leben. Daher nannten sie die beiden alten Damen auch »die Gerettete«.

Das Kind war drei Jahre alt, als seine Mutter krank wurde und starb, und da die alte Großmutter nichts mit ihm anzufangen wußte, so nahmen es die beiden alten Damen zu sich ins Schloß. Es war mit seinen großen schwarzen Augen ein außergewöhnlich lebhaftes und niedliches Kind; und die beiden Alten hatten Wohlgefallen an ihm. Die jüngere der beiden, die auch die nachsichtigere war, hieß Sophie Iwanowna; das war des Kindes Pate. Die ältere, Marie Iwanowna, hatte mehr Anlage zu Strenge. Sophie Iwanowna putzte die Kleine, brachte ihr das Lesen bei und dachte, eine Gouvernante aus ihr zu machen. Marie Iwanowna dagegen wollte eine Magd, eine hübsche Kammerzofe aus ihr machen; infolgedessen war sie anspruchsvoller, gab dem Kinde Befehle und schlug es manchmal, wenn sie schlechter Laune war. So wuchs die Kleine unter der Einwirkung dieses Doppeleinflusses auf und wurde halb eine Kammerzofe, halb ein Fräulein. Selbst der Name, den man ihr gab, paßte zu diesem Zwitterzustand; man nannte sie weder Katja, noch Katenka, sondern Katuscha. Sie nähte, brachte die Stuben in Ordnung, reinigte die Heiligenbilder mit Kreide, servierte ben Kaffee, wusch die seine Wäsche und durfte ihren Gebieterinnen manchmal Gesellschaft leisten und vorlesen.

Man hatte wiederholt um sie angehalten, doch sie hatte stets Körbe ausgeteilt; verhätschelt, wie sie von dem ruhigen Schloßleben war, fühlte sie, es würde ihr schwer fallen, mit einem Arbeiter oder einem Diener zu leben.

So hatte sie bis zu ihrem siebzehnten Jahr gelebt. Sie trat in ihr neunzehntes, als ein Neffe der beiden Damen ins Schloß kam, der schon vorher einen ganzen Sommer bei seinen Tanten zu gebracht. In ihn hatte sich das junge Mädchen wahnsinnig verliebt. Er war Offizier und wollte sich ein paar Tage ausruhen, bevor er mit seinem Regiment in den Krieg gegen die Türken zog. Am dritten Tage, am Abend vor seinem Fortgange verführte er Katuscha, und zog am nächsten Morgen fort, nachdem er ihr einen Hundertrubelschein zugesteckt.

Seit diesem Augenblick wurde ihr alles lästig; sie dachte nur noch daran, wie sie der Schande, die sie erwartete, entgehen konnte; selbst ihre Gebieterinnen bediente sie nachlässig und widerwillig. Die beiden alten Damen bemerkten ihren Zustand bald. Maria Iwanowna schalt sie ein-, zweimal aus; doch schließlich sahen sie sich, wie sie selbst sagten, gezwungen, »sich von ihr zu trennen,« d. h, sie warfen sie hinaus. Als sie sie verließ, trat sie als Mädchen für alles bei einem Stanowoj 1 in Dienst; doch hier konnte sie nur drei Monate bleiben, denn der Stanowoj, ein alter Mann von über 60 Jahren, begann ihr schon im zweiten Monat den Hof zu machen. Eines Tages, als er sich ganz besonders zudringlich zeigte, nannte sie ihn ein Vieh und einen alten Teufel, und wurde deshalb wegen Frechheit entlassen. Eine andere Stellung zu suchen, daran konnte sie nicht denken, deshalb ging sie in Pension zu einer ihrer Tanten, einer Witwe, die eine Kneipe hatte und außerdem Hebamme war. Ihre Entbindung ging leicht und glücklich von statten. Doch die Hebamme, die ins Dorf zu einer kranken Bäuerin gegangen war, steckte Katuscha mit dem Kindbettfieber an. Das Kind, ein kleiner Junge, wurde ebenfalls krank und in ein Krankenhaus gebracht, starb aber dort gleich unter den Augen der Frau, die ihn hingebracht hatte.

Katuschas ganzes Vermögen bestand in 127 Rubeln; 27, die sie sich verdient, und den 100 Rubeln, die ihr ihr Verführer gegeben hatte. Als sie von der Hebamme kam, blieben ihr sechs Rubel. Die Hebamme hatte ihr für ihre Pension auf zwei Monate 40 Rubel abgenommen; 28 Rubel hatte man für die Aufnahme des Kindes ins Hospital bezahlt; 40 Rubel hatte ihr die Hebamme noch als Darlehen abgenommen, um sich eine Kuh zu kaufen; was den Rest von 20 Rubel betraf, so hatte sie Katuscha, – sie wußte selbst nicht wie – in unnützen Einkäufen und Geschenken ausgegeben, so daß sie bei ihrer Genesung ohne Geld dastand und sich eine Stelle suchen mußte. Sie trat bei einem Forsthüter ein. Dieser Forsthüter war verheiratet; doch schon am ersten Tage begann er wie der Stanowoj der jungen Magd den Hof zu machen. Seine Frau bemerkte das bald, und als sie ihn eines Tages allein mit Katuscha in einem Zimmer traf, schlug sie ihr das Gesicht blutig und schickte sie fort, ohne ihr auch nur ihren Lohn zu bezahlen. Katuscha begab sich nun in die Stadt zu einer Base, deren Mann Buchbinder war; derselbe hatte früher gut dagestanden, aber er hatte seine Kundschaft verloren, war ein Trunkenbold geworden und gab alles Geld, das ihm in die Hände fiel, in der Kneipe aus. Seine Frau hatte eine kleine Plätterei, mit deren winzigem Verdienst sie ihre Kinder ernährte und ihren Trunkenbold von Mann erhielt. Sie machte Katuscha den Vorschlag, ihr Handwerk zu lernen. Doch als das junge Mädchen sah, welch‘ anstrengendes Leben die Wäscherinnen führten, die bei ihrer Base arbeiteten, zögerte sie und wandte sich wegen einer Stellung als Dienstmädchen an ein Vermietungsbureau. Sie fand thatsächlich eine Stellung bei einer verwitweten Dame, die mit ihren beiden Söhnen zusammen lebte. Noch ungefähr eine Woche, nachdem sie in dieses Haus eingetreten war, vernachlässigte der älteste Sohn, ein Gymnasiast der sechsten Klasse, der schon einen Anflug von Schnurrbart hatte, seine Studien, um ihr den Hof zu machen. Die Mutter schob alle Schuld auf das hübsche Dienstmädchen und entließ sie.

Es bot sich keine neue Stellung, und als Katuscha eines Tages ins Vermittlungsbureau kam, traf sie dort eine Dame, deren Hände mit Ringen und Armbändern überladen waren. Als diese Dame die Lage der jungen Person erfuhr, gab sie ihr ihre Adresse und forderte sie auf, sie zu besuchen. Die Maslow ging zu ihr. Die Dame empfing sie sehr liebenswürdig, regalierte sie mit Kuchen und süßem Wein und hielt sie bis zum Abend fest. Abends sah Katuscha einen großen Mann mit grauem Bart und langen grauen Haaren ins Zimmer treten, der sich sogleich zu ihr setzte und mit leuchtenden Augen und lächelnden Lippen sie zu examinieren und mit ihr zu scherzen begann. Die Dame nahm ihn im Nebenzimmer einen Augenblick beiseite, dann rief sie sie selber, und sagte ihr, der alte Herr wäre ein Schriftsteller, er hätte viel Geld, und würde ihr alles geben, was sie wollte, wenn sie ihm nur zu gefallen verstünde. Sie gefiel ihm thatsächlich, und der Schriftsteller gab ihr 25 Rubel und versprach, sie oft zu besuchen. Dieses Geld wurde übrigens schnell ausgegeben; Katuscha gab einen Teil ihrer Base als Bezahlung für ihre Pension; für den Rest kaufte sie sich ein Kleid, einen Hut und Bänder. Einige Tage darauf bestimmte ihr der Schriftsteller von neuem ein Rendezvous, zu dem sie auch kam; er gab ihr wieder 25 Rubel und veranlaßte sie, sich einzumieten. In dem Zimmer, das der Schriftsteller für sie genommen, machte die Maslow die Bekanntschaft eines Ladenkommis, eines lustigen Burschen, der in demselben Hofe wohnte. Sie verliebte sich in ihn, und gestand die Sache dem Schriftsteller, der sie sofort verließ; auch der Kommis, der ihr erst die Ehe versprochen, verließ sie bald. Die junge Person hätte gern weiter möbliert gewohnt, doch das wurde ihr nicht gestattet, und so kehrte sie denn zu ihrer Base zurück. Als diese sie in einem modernen Kleide, mit einem schönen Hut und einem Pelzmantel erblickte, empfing sie sie ehrfurchtsvoll und wagte gar nicht mehr, ihr vorzuschlagen, in ihre Plätterei einzutreten, sie glaubte, sie gehöre jetzt einer höheren Gesellschaftsklasse an. Was die Maslow übrigens selber betraf, so konnte für sie nicht mehr die Rede davon sein, in eine Plättanstalt einzutreten. Sie ging höchstens darauf ein, sich vorläufig in dem Zimmer ihrer Base aufzuhalten, und betrachtete mit verachtungsvollem Mitleid das Zuchthausleben, das die Wäscherinnen führten, die da bei dreißig Grad Wärme, bei Winter wie Sommer geöffneten Fenstern bis zur Erschöpfung rieben und plätteten.

Die Maslow hatte sich schon lange Zeit das Rauchen angewöhnt, und in der letzten Zeit ihrer Beziehungen zu dem Kommis hatte sie immer mehr zu trinken angefangen, Der Wein übte seine Anziehungskraft auf sie aus, nicht allein, weil er ihr angenehm schmeckte, sondern vor allem auch, weil er ihr eine Ablenkung bot, und die Stimme des Gewissens zum Schweigen brachte; denn nüchtern langweilte sie sich und schämte sich oft. Die Maslow hatte die Wahl zwischen einer demütigenden Dienstbotenstellung, in der sie aller Wahrscheinlichkeit nach die Nachstellungen der Männer zu erdulden hatte, und einer sicheren, ruhigen, vom Gesetz sogar geschützten Position.

Sie wählte das letztere, und hatte außerdem noch die Empfindung, sie räche sich auf diese Weise an dem Fürsten, der sie verführt, dem Kommis und allen Männern, über die sie sich zu beklagen hatte. Vor allem aber lockte sie – und das trug hauptsächlich zu ihrem Entschlusse bei – der Gedanke, daß sie sich von jetzt ab alle Kleider bestellen konnte, die ihr gefielen, aus Samt, Faille und Seide, wie auch Ballkleider, die Schultern und Arme frei ließen. Als sich die Maslow in Gedanken in einem dekolletierten, hellgelben Seidenkleid mit schwarzen Samtaufschlägen sah, konnte sie der Versuchung nicht länger widerstehen.

Von diesem Tage an begann für sie dieses Leben beständiger Verletzung der göttlichen und menschlichen Gesetze, das Hunderttausende von Frauen heute, nicht allein mit der Erlaubnis, sondern sogar unter dem tatsächlichen Schutze einer für das Wohlergehen ihrer Untergebenen besorgten gesetzlichen Macht führen; dieses herabwürdigende und ungeheuerliche Leben, das nach schrecklichen Leiden unter neun von zehn Malen mit einem vorzeitigen Verfall und Tod endet.

Die Maslow führte dieses Leben über sechs Jahre. Im siebenten Jahre – sie zählte damals 26 Jahre – vollzog sich das Ereignis, infolgedessen sie verhaftet wurde, und das sie nach einer mehrmonatlichen Untersuchungshaft in Gesellschaft von Geschöpfen, deren Beruf der Diebstahl und Mord war, vor die Geschworenen brachte.

  1. Polizeibeamter

Auferstehung   1. Band


Auferstehung   1. Band

Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündiget, vergeben? Ist es genug siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzig mal siebenmal.
(Ev. Matth. 18, 21–22.)

Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?
(Ev. Matth. 7, 5.)

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
(Ev. Johannis 8, 7.)

Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen.
(Ev. Luc. 8, 40.)

Vorwort

Es erfüllt den Herausgeber von »Kürschners Bücherschatz« mit berechtigtem Stolze, das großartige Werk Leo Tolstois in W. Thals trefflicher Uebersetzung hierdurch zuerst und in jeder Hinsicht weitesten Kreisen zugänglich machen zu können. Es geschieht im Vertrauen auf die Unbefangenheit und die Reife des Lesers, dem hier ein so vollständig Anderes entgegentritt, daß er auch eines anderen Maßstabes und vor allem eines freien und unbefangenen Blickes bedarf, um dem Ungewöhnlichen gegenüber den rechten Standpunkt zu gewinnen. Tolstoi schreibt mit der Wahrheit des großen und lauteren Charakters, voll Liebe für die Menschheit, als Vertreter heiligster Sache. Er zeigt dabei, was die Verhältnisse zu zeigen ihn zwingen, aber nur Böswilligkeit und Unlauterkeit des Herzens können daran Anstoß nehmen, kein Einsichtiger wird verkennen, daß gerade diese Wege gegangen werden mußten, um zu diesem Ende zu gelangen. Der Eisenbahnzug, den der Dichter im letzten Kapitel seines Werkes den Steppen Sibiriens entgegenrollen läßt, gemahnt an den Train, der am Schlusse eines der gewaltigen Rougon-Macquart-Romane Zolas führerlos der Grenze zueilt, aber während dieser seine Insassen sicherem Untergange zuführt, dämmert jenem das erlösende Morgenrot der Auferstehung entgegen!

Des Dichters Absicht ist, in einer Art von Epilog auch die letzten Einzelheiten dieser Auferstehung, zu dem das ganze Werk hinleitet, zu behandeln. Führt er sie aus, soll auch diese Arbeit des russischen Dichters und Apostels der Menschlichkeit den Lesern des Bücherschatzes nicht vorenthalten bleiben.

Joseph Kürschner.

Vorwort

Die »Auferstehung«, das letzte Werk bei Grafen Leo Tolstoi, das wir in deutscher Uebertragung dem Publikum bieten, darf wohl als eine Kulturthat unserer Jahrhundertwende bezeichnet werden, und wohl selten hat ein Werk schon vor seinem Erscheinen so viel Erregung hervorgerufen, wie gerade dieses. Selbst das Aufsehen, das die »Kreutzersonate« vor etwa zehn Jahren erregte, ist nicht damit zu vergleichen. Noch während damals die Meinungen vielfach geteilt waren und viele Bewunderer des Schriftstellers zu den Ausführungen des Philosophen und Moralisten den Kopf schüttelten, ist man wohl diesmal in der Beurteilung der »Auferstehung« so ziemlich einer Meinung, daß Tolstoi die Welt – nicht nur sein engeres Vaterland – mit einem Kunstwerk ersten Ranges beschenkt hat, das jeder Büchersammlung zur höchsten Ehre gereicht, Selbst der heikle Stoff kann nichts daran ändern, denn nur die dringendste Notwendigkeit hat den Dichter veranlaßt, in die Nachtseiten des Lebens hinabzusteigen, und zudem behandelt er die heikelsten Dinge mit einem so sittlichen Ernste, einer mit größter Wahrheitsliebe Hand in Hand gehenden Decenz, die ihn von vielen seiner großen Kollegen unterscheidet! Wie ganz anders hätte Zola, Annunzio oder ein deutscher Naturalist denselben Stoff behandelt! Unsere einsichtsvollen Leser werden es uns Dank wissen, daß wir nur geringe Milderungen vorgenommen und den Gedanken des Meisters nicht durch sinnlose Streichungen und Verbesserungen verballhornt haben! – Ist doch das Werk Tolstois eine Meisterschöpfung, die der Bewunderung eines Jeden, würdig ist, und Bewunderung erfaßt uns allein schon, wenn wir sehen, welche Fülle von Gebieten Tolstoi im Rahmen seines Romans behandelt! Alle Einrichtungen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens werden kritisch beleuchtet und mit unerbittlicher Sonde untersucht; die ganze überfirnißte Hohlheit der vornehmen Welt, die unvermeidlichen Schäden der russischen Gesetzgebung, die im Formelkram befangen, selbst die Rehabilitierung eines Unschuldigen nicht zuläßt, sondern ihn eher nach Sibirien verschickt, als einen Fehler zugiebt, die unmenschliche Behandlung der Gefangenen, dieser blutrote Faden, der sich seit Jahrhunderten durch die Geschichte Rußlands zieht, die ungerechte Verteilung der Güter, die den Bauern zum willenlosen Sklaven des Feudalherrn herabdrückt und den russischen Muschik trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft zum Werkzeug der »Herrschaft« macht und in Elend und Knechtschaft noch auf lange Zeit erhalten wird – das alles findet in Tolstoi, der hier die Theorie Henry Georges zu der seinen gemacht hat, einen leidenschaftlichen Ankläger.

Aber man glaube nicht etwa, daß der Verfasser über der Tendenz das Werk selbst vernachlässigt hat. Im Gegenteil! Es ist eine bis in kleinste Detail spannende und hochinteressante Kriminalgeschichte, der Roman einer unschuldig zu Zwangsarbeit Verurteilten, und man kann sagen, daß Tolstoi, der Siebzigjährige, sich mit diesem Werke selbst übertroffen hat und daß die »Auferstehung« sogar »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« in den Schatten stellt. Trotz aller Einfachheit des Stils hat er es verstanden, eine an dramatischen Scenen unendlich reiche Handlung zu erfinden oder vielmehr nicht zu erfinden, denn seine Heldin ist eine lebende Figur und ihre Geschichte leider nur zu wahr, und selbst Alexander Dumas und Eugène Sue, diese Meister der »spannenden Effekte«, haben nichts Interessanteres und Packenderes geboten, als dieses so unendlich einfache und natürliche Werk. Alle Figuren leben, sie sind wirklich gesehene Menschen, keine ins Uebermäßige vergrößerte Edelgestalten oder titanenhaften Schurken, wie sie der Verfasser des »Monte Christo« und auch Victor Hugo in seinem »Glöckner von Notre Dame« schufen. Hier haben wir Typen vor uns, die uns jeden Tag auf der Straße begegnen, die uns gerade darum so ergreifen und rühren, weil ihre Schicksale, ihre Leiden und Freuden uns menschlich nahe gehen, weil wir sie verstehen und begreifen, wie sie der Dichter verstanden und begriffen hat. Mit diesem Werke hat sich Tolstoi – unabhängig von seinen früheren Schriften – ein unvergängliches Denkmal in der Litteraturgeschichte geschaffen, und hätte er nichts weiter als die »Auferstehung« verfaßt, es würde doch auf ihn das Wort des Dichters passen:

»Es wird die Spur von seinen Erdentagen
nicht in Aeonen untergehen«

Der Uebersetzer

Erstes Kapitel

Vergeblich bemühten sich einige hunderttausend Menschen, die auf kleinem Raum vereinigt waren, die Erde zu verstümmeln, auf der sie lebten; umsonst erdrückten sie die Erde unter Steinen, damit nichts aufkeimen konnte; umsonst rissen sie das kleinste Grashälmchen aus; umsonst verpesteten sie die Luft mit Petroleum und Steinkohle; umsonst beschnitten sie die Bäume; umsonst jagten sie die Tiere und Vögel fort; der Frühling war, selbst in der Stadt, immer noch der Frühling. Die Sonne strahlte; das Gras begann wie neubelebt wieder zu wachsen, nicht nur auf dem Rasen des Boulevards, sondern auch zwischen den Straßenrinnsteinen; die Birken, Pappeln und Maulbeerbäume entfalteten ihre feuchten und duftenden Blätter; die Linden zeigten ihre dicken, fast schon platzenden Knospen; die Krähen, Sperlinge und Tauben arbeiteten lustig an ihren Nestern; die Bienen und Fliegen summten an den Wänden und freuten, sich, daß die gute warme Sonne wiedergekehrt war. Alles war lustig, die Pflanzen, die Insekten, die Vögel, die Kinder. Nur die Menschen fuhren fort, sich und andere zu quälen und zu betrügen. Nur die Menschen meinten, nicht dieser Frühlingsmorgen, nicht diese himmlische Weltenschönheit, die zur Freude aller lebenden Wesen geschaffen war und sie alle zum Frieden, zur Eintracht und Zärtlichkeit zurückführen sollte, wäre wichtig und heilig, nein, wichtig und heilig wäre nur das, was sie selbst ersonnen, um sich gegenseitig zu quälen und zu betrügen.

So wurde es auch in dem Bureau des Gouvernementsgefängnisses nicht für wichtig und heilig erachtet, daß die Freude und Wonne des Frühlings den Menschen beschieden war, sondern daß die Beamten dieses Bureaus am vorigen Abend ein mit einem Siegel verschlossenes, am Kopfe mit vielen Nummern versehenes Blatt erhalten hatten, das sie anwies, an demselben Morgen des 28. April 9 Uhr drei Angeklagte, zwei Frauen und einen Mann, jeden getrennt, nach dem Justizgebäude zu bringen, und zwar behufs ihrer Aburteilung. Dieser Anweisung zufolge trat am 28. April um 8 Uhr morgens ein alter Wärter in den düsteren und stinkenden Korridor der Frauenabteilung. Sofort eilte ihm die Aufseherin der Abteilung, ein Geschöpf von kränklichem Aussehen, das eine graue Nachtjacke und einen schwarzen Rock trug, entgegen und sagte:

»Sie wollen die Maslow holen?«

Dann ging sie mit dem Wärter auf eine der zahlreichen, auf den Korridor führenden Thüren zu. Der Wärter steckte mit, lautem Klirren einen dicken Schlüssel in die Thür, die beim Oeffnen einen noch gräßlicheren Gestank aus dem Gange entströmen ließ und rief dann:

»Maslow! Nach dem Justizgebäude!«

Damit schloß er die Thür, blieb unbeweglich stehen und wartete auf die Frau, die er gerufen hatte.

Einige Schritte weiter, auf dem Gefängnishofe, konnte man eine reinere und belebendere Luft atmen, die der Frühlingswind von den Feldern hereintrug. Doch in dem Gefängniskorridor war die Luft drückend und ungesund, es roch nach Theer, Feuchtigkeit und Fäulnis, und niemand konnte diese Luft einatmen, ohne sofort eine düstere Traurigkeit zu empfinden. Das fühlte auch die Aufseherin der Abteilung, so sehr sie auch an diese verpestete Luft gewöhnt war. Sie kam vom Hofe und verspürte, als sie den Korridor kaum betreten hatte, ein Gemisch von Unbehagen und Müdigkeit.

Hinter der Thür, im Zimmer der Gefangenen, herrschte große Aufregung; man hörte Stimmen, Gelächter und Schritte nackter Füße.

»Na, vorwärts, tummle dich!« rief der alte Wärter und öffnete von neuem die Thür.

Einen Augenblick später kam eine kleine, aber wohlgebaute, junge Frau schnell aus dem Zimmer. Sie trug einen grauen Leinenkittel über ihrer Nachtjacke und ihrem weißen Rock. An den Füßen hatte sie leinene Strümpfe und grobe Gefangenenschuhe. Ein weißes Tuch bedeckte ihren Kopf und ließ einige Locken sorgfältig frisierter schwarzer Haare sehen. Auf dem ganzen Gesicht der Frau lag jene eigentümliche Blässe, die man nur bei Personen bemerkt, die sich lange Zeit in einem geschlossenen Raum aufgehalten haben. Noch um so mehr trat in der matten Blässe der Haut der Glanz der beiden großen, schwarzen Augen hervor, von denen eines ein bißchen schielte; das Ganze machte den Eindruck einer freundlichen Anmut. Die junge Frau hielt sich sehr gerade, so daß ihre starke Brust hervortrat.

Auf dem Korridor neigte sie leicht den Kopf und sah dem alten Aufseher fest in die Augen; dann blieb sie stehen und schien bereit, jedem Befehle zu gehorchen. Indessen schickte sich der Wärter an, die Thür wieder zu schließen, als sich diese noch einmal öffnete und das düstere Gesicht eines alten Weibes erschien. Dasselbe hatte weiße Haare und war barhäuptig. Die Alte begann leise auf die Maslow einzusprechen; doch der Wärter stieß sie schnell in die Stube zurück und schloß die Thür. Nun näherte sich die Maslow einem in der Thür angebrachten Guckfenster; und das Gesicht des alten Weibes zeigte sich sofort auf der andern Seite. Man hörte durch die Thür eine heisere Stimme:

»Gieb acht, und habe vor allen Dingen keine Furcht!

Leugne alles; halt‘ dich gut; das ist die Hauptsache!«

»Ah bah,« versetzte die Maslow kopfschüttelnd, »eins oder das andere, das ist alles eins! Es kann mir nichts Schlimmeres passieren, als was ich jetzt habe!«

»Na, gewiß ist es eins und nicht zwei,« sagte der alte Wärter, auf seine geistreiche Bemerkung äußerst stolz. »Na, vorwärts, folge mir!«

Der Kopf des alten Weibes verschwand von dem Guckfenster, und die Maslow betrat, mit leichtem Schritt hinter dem alten Wärter hergehend, den Korridor. Sie gingen die Steintreppe hinunter, an den stinkenden, lärmenden, Sälen der Männerabteilung vorbei, wo neugierige Blicke sie auf ihrem Wege durch die Thürluken beobachteten, und kamen endlich in das Gefängnisbureau. Dort standen bereits zwei Soldaten, mit dem Gewehr im Arm, die auf die Gefangenen warteten, um sie nach dem Gerichtsgebäude zu bringen. Der Aktuar schrieb etwas ein und übergab einem Soldaten ein stark nach Tabak riechendes Blatt Papier. Der Soldat steckte es in den Aermelaufschlag seines Mantels, blinzelte seinem Gefährten, auf die Maslow deutend, pfiffig zu und stellte sich zu ihrer Rechten, während der andere Soldat auf die linke Seite trat. So verließen sie das Bureau, gingen durch den äußeren Hof des Gefängnisses, durchschritten das Gitter und standen bald auf dem Straßenpflaster der Stadt.

Die Kutscher, Ladenbesitzer, Arbeiter und Beamte blieben unterwegs stehen und betrachteten neugierig die Gefangene. Mehrere dachten kopfschüttelnd: »Das kommt vom schlechten Lebenswandel, wenn man nicht so brav ist, wie wir!« Auch, die Kinder blieben stehen, doch in ihre Neugier mischte sich eine gewisse Angst, und sie beruhigten sich kaum bei dem Gedanken, daß die Verbrecherin ja von Soldaten bewacht wurde, so daß sie nicht mehr schaden konnte. Ein Bauer, der auf der Straße Kohlen verkaufte, trat auf sie zu, machte das Zeichen des Kreuzes und wollte dem Weibe eine Kopeke geben; doch die Soldaten litten es nicht, weil sie nicht wußten, ob es gestattet war.

Die Maslow bemühte sich, so schnell zu gehen, wie es ihre des Gehens ungewohnten Füße, die von den schweren Gefängnisschuhen noch mehr gehindert wurden, gestatteten. Ohne den Kopf zu bewegen, beobachtete sie die Leute, die sie beim Vorübergehen ansahen, und freute sich, der Gegenstand so großer Aufmerksamkeit zu sein; sie sog auch mit Behagen die sanfte Frühlingsluft ein, als sie aus der ungesunden Gefängnisatmosphäre kam. Als sie an einem Mehlladen vorüberkam, vor dem einige Tauben herumstolzierten, stieß sie an eine blaue Holztaube mit dem Fuße an. Der Vogel flatterte auf und berührte das Gesicht des jungen Weibes, das den Hauch seiner Flügel auf ihrer Wange spürte. Sie lächelte, stieß aber gleich darauf einen Seufzer aus, als ihr das Gefühl ihrer traurigen Lage wieder in den Sinn kam.