Bei seinem Erwachen durchlebte Nechludoff mit einem Schlage alles wieder, was ihm am vorigen Tage begegnet war, und von neuem bemächtigte sich seiner das Entsetzen. Trotzdem fühlte er sich entschlossener als je, das angefangene Werk fortzusetzen, unbekümmert um die Folgen. In dieser Gemütsverfassung begab er sich um neun Uhr morgens zu dem Vizegouverneur Maslinnikoff. Er wollte ihn um die Erlaubnis bitten, im Gefängnis nicht allein die Maslow, sondern auch den Sohn jener alten Frau zu sprechen, von dem die Maslow ihm erzählt hatte; und auch die Bogoduschoffska wollte er aufsuchen und zu diesem Zweck um die Erlaubnis nachsuchen.

Nechludoff kannte Maslinnikoff seit langer Zeit vom Regiment her, wo der zukünftige Vizegouverneur Zahlmeister gewesen war. Er war damals ein ehrenhafter und gewissenhafter Offizier, der in der Welt nichts weiter sah und sehen wollte, als sein Regiment und die kaiserliche Familie. Er hatte dann die Armee verlassen, um in die Verwaltung einzutreten, und zwar auf Drängen seiner Frau, einer sehr reichen und geschickten Person, die eine glänzende Versorgung für ihn im Civildienste im Auge hatte. Diese Frau machte sich über ihren Mann lustig und behandelte ihn wie einen kleinen dressierten Hund, Nechludoff hatte sie im vorigen Winter besucht, sie jedoch so uninteressant gefunden, daß er seitdem nicht wieder hingegangen war.

Er fand Maslinnikoff genau so wieder, wie er ihn stets gekannt. Es war, noch immer dasselbe dicke und nichtssagende Gesicht, dieselbe Korpulenz, dieselbe übertrieben elegante Kleidung.

Bei Nechludoffs Anblick geriet er vor Freude außer sich und rief:

Das lasse ich mir gefallen, das ist nett von dir, daß du gekommen bist. Ich werde dich zu meiner Frau bringen, das trifft sich wunderbar, ich habe gerade noch zehn Minuten vor der Sitzung Zeit. Mein Chef ist abwesend, und ich übe jetzt die Funktionen des Gouverneurs aus,« erklärte er eitel.

»Ich komme geschäftlich zu dir …«

»Wieso?« fragte Maslinnikoff und nahm plötzlich einen äußerst strengen Ton an.

»Also höre. In dem alten Regierungsgefängnis befindet sich eine Person, für die ich mich sehr interessiere, und ich möchte gern außer im gemeinsamen Sprechzimmer und außerhalb der gewöhnlichen Besuchsstunden mit ihr sprechen können. Man hat mir gesagt, das hänge von dir ab.«

»Natürlich, und es versteht sich von selbst, mein Lieber, daß ich dir nichts abschlage,« erwiderte der dicke Mann, indem er seine beiden Hände auf Nechludoffs Kniee legte. »Und was du von mir verlangst, ist durchaus nicht unmöglich, denn für den Augenblick bin ich Khalif.«

»Du kannst mir also ein Papier geben, auf Grund dessen ich sie jede Stunde sprechen kann?«

»Es ist eine Frau?«

»Ja, sie ist zur Zwangsarbeit verurteilt, aber ungerecht …«

» Ah! voilà bien les jurés, ils n’en font pas d’autres!« sagte Maslinnikoff, der plötzlich ohne die geringste Ursache französisch zu reden anfing.

»Ich weiß,« fuhr er fort, »wir haben in dieser Hinsicht verschiedene Meinungen. Doch was soll man dagegen thun, c’est mon opinion bien arrêtée! Du bist wohl immer noch liberal?«

»Ich weiß nicht, ob ich liberal bin oder nicht,« erwiderte Nechludoff, »doch ich weiß, daß unsere heutige Justiz mit allen ihren Fehlern doch besser als die frühere ist.«

»Du hast dich an einen Advokaten gewendet?«

»Ja, an Fajnitzin.«

Bei diesen Worten schnitt Maslinnikoff eine Grimasse. »Welch merkwürdiger Gedanke, sich gerade an den zu wenden!«

Der Vizegouverneur konnte es Fajnitzin nicht vergessen, daß er ihn gezwungen hatte, in einem Prozeß als Zeuge zu erscheinen, wo er ihn eine halbe Stunde lang vor dem ganzen Saale zur Zielscheibe seines Spottes gemacht.

»Ich hätte dir nicht geraten, dich mit dem zu befassen, c’est un homme taré

»Ich habe dich noch um etwas anderes zu bitten,« sagte Nechludoff, ohne scheinbar auf ihn zu hören. »Ich habe früher ein junges Mädchen, eine Erzieherin, gekannt … Die Unglückliche befindet sich heute ebenfalls im Gefängnis und hat mir sagen lassen, sie wünsche mich zu sprechen. Kannst du mir auch für sie eine Erlaubnis geben?«

»In welcher Sektion befindet sich deine Erzieherin?«

»Wie man mir gesagt hat, in der politischen.«

»Ja, siehst du, das Recht, die politischen Gefangenen zu besuchen, wird nur den Eltern gestattet. Doch höre, ich werde dir eine allgemeine Erlaubnis geben. Je sais que tu n’en abuseras pas. Und wie sieht deine Protégée aus? Jolie

»Gräßlich häßlich!«

Maslinnikoff schüttelte mißbilligend den Kopf, nahm einen Bogen Stempelpapier und fing an zu schreiben.

»Du sollst sehen, welche schöne Ordnung im Gefängnis herrscht … und es ist durchaus nicht bequem, da Ordnung zu halten, besonders jetzt, da die Säle überfüllt sind und wir viel Zuchthaussträflinge haben. Doch ich wache streng über alles, das interessiert mich sehr. Du wirst sehen, wie gut alles eingerichtet ist und wie alle zufrieden sind. Die Hauptsache ist, man muß diese Leute zu nehmen wissen. In der letzten Zeit hat einmal ein Fall von Insubordination stattgefunden; jeder andere hätte das an meiner Stelle als Meuterei angesehen und ein Unglück angerichtet, dagegen ist bei mir alles gut vorübergegangen. Vor allem muß man Nachsicht und Autorität zu gleicher Zeit besitzen, das ist alles.«

»Darauf verstehe ich mich nicht,« versetzte Nechludoff, »ich bin nur zweimal ins Gefängnis gegangen und muß dir gestehen, daß ich einen ganz kläglichen Eindruck davon empfangen habe.«

»Weißt du was, du solltest einmal die Gräfin Passek besuchen, ihr würdet euch wunderbar verstehen. Sie hat sich ganz und gar solchen Werken gewidmet. Elle fait beaucoup de bien Durch sie und auch durch mich, das kann ich ohne Unbescheidenheit gestehen, ist unser ganzes Gefängnissystem umgestaltet worden. Von den Greueln des alten Systems ist jetzt nichts mehr vorhanden, und die Gefangenen sind wirklich glücklich .. . Aber wie kannst du dich nur an Fajnitzin wenden? Ich kenne ihn nicht persönlich, unsere beiderseitigen socialen Beziehungen führen uns nicht zusammen, doch ich weiß aus sicherer Quelle, daß er ein Schafskopf ist. Ganz abgesehen davon, daß er sich vor Gericht Dinge zu sagen erlaubt …«

»Ich danke dir herzlich für deine Gefälligkeit,« sagte Nechludoff, nahm das Papier, das der Vizegouverneur eben für ihn geschrieben, und stand auf, um fortzugehen.

»Und jetzt komm‘ zu meiner Frau!«

»Das ist heute leider unmöglich, entschuldige mich bei ihr!«

»Sie würde mir nicht verzeihen, wenn ich dich hätte fortgehen lassen,« versetzte Maslinnikoff, während er seinen alten Kameraden bis zu den Stufen der Treppe begleitete, »na, komm‘ schon mit, bloß für eine Minute.«

Doch Nechludoff blieb unerbittlich, und Maslinnikoff rief ihm unten in vertraulichem Tone nach:

»Dann komm‘ aber jedenfalls Donnerstag, dann hat meine Frau » jour«; ich werde ihr deinen Besuch schon jetzt ankündigen.«

Mit diesen Worten kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück.