31.

So sehr wie Anna auch ein Wiedersehen mit ihrem Sohne gewünscht hatte, so lauge sie auch nur hieran gedacht, sich nur hierauf vorbereitet hatte, so hatte sie doch keineswegs erwartet, daß dieses Wiedersehen eine so mächtige Wirkung auf sie ausüben würde.

Zurückgekehrt in ihre einsamen Appartements im Hotel, konnte sie lange nicht fassen, warum sie eigentlich hier. sei.

»Ja; das ist alles vorüber und ich bin wieder allein,« sagte sie zu sich und setzte sich, ohne den Hut abzulegen, auf einen am Kamin stehenden Sessel. Mit unbeweglichen Augen auf die Bronzeuhr blickend, welche auf dem Tische zwischen den Fenstern stand, begann sie zu sinnen.

Die französische Zofe, die mit aus dem Auslande gebracht worden war, trat ein, um sie anzukleiden. Verwundert, blickte sie dieselbe an und sagte nur »später«. Der Lakai brachte den Kaffee; sie sagte nur »später«. Die italienische Amme, die das kleine Mädchen geputzt hatte, trat mit demselben ein und brachte es Anna. Das dicke, wohlgenährte Kind hob, wie stets, wenn es die Mutter sah, die nackten mit Bändern umspannten Händchen, die Handflächen nach unten, und begann, mit dem noch zahnlosen Mündchen lächelnd, wie ein Fisch an der Angel mit den Händchen zu arbeiten, und mit ihnen an den gesteiften Falten des gestickten Jäckchens zu scheuern.

Man mußte unwillkürlich lächeln und das Kindchen küssen, man mußte ihm einen Finger vorhalten, an dem es anfassen konnte, jauchzend und mit dem ganzen Körper in Bewegung. Man konnte nicht umhin, ihm die Lippe darzubieten, die es anstatt eines Kusses in das Mündchen nahm. Und alles das that Anna, und sie nahm das Kind auf ihre Arme und ließ es hüpfen, und küßte es auf die frische Wange und die entblößten Ärmchen, aber bei dem Anblick dieses Kindes wurde es ihr nur noch klarer, daß das Gefühl, welches sie für dasselbe hegte, nicht einmal Liebe war im Vergleich zu dem, was sie für Sergey fühlte. Alles an diesem kleinen Mädchen war lieblich, aber alles das fand keinen Eingang in ihr Herz. Auf ihrem ersten Kinde – hatte sie es auch gleich von einem ungeliebten Manne – ruhte alle Kraft jener Liebe, die keine Befriedigung gefunden hatte; das Mädchen war unter den schwierigsten Verhältnissen geboren worden, und auf dasselbe war nicht der hundertste Teil der Sorgfalt verwendet worden, wie auf das erste Kind; außerdem war bei diesem Mädchen alles noch Erwartung, Sergey hingegen schon fast wahrhaft Mensch und ein geliebter Mensch; in ihm kämpften bereits Gedanken und Gefühle miteinander. Er begriff und liebte, er beurteilte sie, wie sie meinte, indem sie seiner Worte und Blicke gedachte. Und doch war sie auf immer nicht nur körperlich, sondern auch geistig von ihm getrennt, ließ sich nichts mehr besser gestalten.

Sie gab das kleine Mädchen der Amme zurück, entließ diese, und öffnete ein Medaillon, in welchem ein Porträt Sergeys war, ihn darstellend, als er noch fast das nämliche Alter hatte, wie das kleine Mädchen jetzt. Sie stand auf und nahm, ihren Hut ablegend, von einem kleinen Tische ein Album, in welchem sich Photographieen ihres Sohnes aus anderen Lebensaltern befanden. Sie wollte diese Photographieen vergleichen, und begann sie aus dem Album herauszunehmen; sie nahm sie alle heraus, nur eine einzige, die letzte und beste, war noch übrig. In weißem Hemd saß er darauf auf einem Stuhle, machte böse Augen und lächelte mit dem Munde. Dies war ein ganz eigentümlicher Ausdruck, der ihm am besten stand. Mit den kleinen, flinken Händen, die sich jetzt besonders angespannt mit ihren weißen, schmalen Fingern bewegten, hatte sie mehrmals an die Ecke des Bildes geklopft, aber das Bild war losgerissen und sie konnte es nicht erlangen. Ein Messer befand sich nicht ans dem Tische, und sie nahm daher eine Photographie, welche daneben stand – es war ein in Rom gefertigtes Bild Wronskiys, welches ihn in rundem Hut und langen Haaren darstellte – und stieß damit das Bild ihres Sohnes heraus.

»Das ist ja er!« sagte sie, auf das Bild Wronskiys blickend, und sich plötzlich vergegenwärtigend, wer die Ursache ihres jetzigen Harmes sei. Sie hatte noch nicht ein einziges Mal während dieses ganzen Morgens an ihn gedacht. Jetzt aber, als sie dieses männliche, edle, ihr so vertraute und liebe Gesicht wieder erblickte, empfand sie plötzlich eine unerwartete Regung der Liebe zu ihm. »Aber wo bleibt er denn? Läßt er mich allein mit meinem Leiden?« dachte sie mit einem Gefühl des Vorwurfs, und vergaß dabei, daß sie selbst vor ihm doch alles verborgen hielt, was ihren Sohn betraf. Sie sandte zu ihm mit der Bitte, doch sogleich zu ihr zu kommen; mit stockendem Herzen, sich die Worte vergegenwärtigend, mit denen sie ihm alles sagen wollte, und die Worte seiner Liebe, mit welchen er sie trösten würde, erwartete sie ihn. Der Bote kam mit dem Bescheid zurück, der Herr habe Besuch, würde aber sofort kommen; Wronskiy hatte befohlen, bei ihr anzufragen, ob sie ihn zusammen mit dem Fürsten Jaschwin, der nach Petersburg gekommen sei, empfangen könne.

»Er kommt nicht allein, und hat mich doch seit dem gestrigen Mittag nicht gesehen,« dachte sie, »er kommt nicht allein, daß ich ihm alles sagen kann, sondern mit Jaschwin.« Und plötzlich tauchte ein seltsamer Gedanke in ihr auf. »Wie wenn er aufgehört hätte, sie zu lieben?«

Und indem sie die Vorkommnisse der letzten Tage musterte, schien ihr, als ob sie in allem eine Bestätigung dieses entsetzlichen Gedankens sehe; schon darin, daß er gestern nicht zu Haus zu Mittag gespeist hatte, daß er darauf bestanden hatte, sie möchten in Petersburg getrennt logieren, wie darin, daß er jetzt nicht einmal allein zu ihr kam, gerade als ob er einem Wiedersehen Auge in Auge mit ihr aus dem Wege gehen wollte.

»Aber er muß mir dies sagen. Ich muß es wissen; und so bald ich es weiß, dann weiß ich auch, was ich zu thun habe,« sagte sie zu sich, ohne Fähigkeit, sich die Lage vorzustellen, in welche sie kommen würde, wenn sie sich von seiner Gleichgültigkeit überzeugte. Sie glaubte, er habe aufgehört, sie zu lieben, sie fühlte sich der Verzweiflung nahe, und infolgedessen besonders reizbar. Sie schellte der Zofe und begab sich nach dem Ankleidezimmer. Beim Ankleiden beschäftigte sie sich mehr als während der letztvergangnen Tage mit ihrer Toilette, als ob Wronskiy sie, wenn er sie nicht mehr lieben sollte, deshalb von neuem lieben müsse, weil sie diese Robe und jene Frisur, die ihr besser standen, trug.

Sie hörte die Glocke, noch bevor sie fertig war. Als sie in den Salon trat, begegnete nicht er, sondern Jaschwin ihrem Blick. Jaschwin betrachtete die Photographieen ihres Sohnes, die sie auf dem Tische vergessen hatte, und er beeilte sich nicht eben, den Blick nach ihr zu wenden.

»Wir sind ja Bekannte,« sagte sie, ihre kleine Hand in die große Jaschwins legend, der in Verwirrung geraten war – was sich bei dem riesigen Wuchs und dem derben Gesicht desselben sonderbar genug ausnahm. – »Wir sind Bekannte seit dem vorigen Jahre, von den Rennen. Gebt doch her,« sagte sie, mit schneller Bewegung die Bilder des Sohnes, die er ansah, vor Wronskiy wegnehmend, und ihn bedeutungsvoll mit den blitzenden Augen anschauend. »Waren im gegenwärtigen Jahre die Rennen gut? Anstatt der unsrigen, habe ich die Rennen auf dem Corso in Rom gesehen. Ihr liebt übrigens wohl nicht das Leben im Ausland?« frug sie mit freundlichem Lächeln. »Ich kenne Euch, und kenne alle Eure Geschmacksrichtungen, obwohl ich Euch wenig begegnet bin.«

»Das thut mir sehr leid, da meine Geschmacksrichtungen immer schlechter werden,« sagte Jaschwin, sich in seinen linken Schnurrbart beißend.

Nachdem er noch einige Zeit geplaudert und bemerkt hatte, daß Wronskiy nach der Uhr blickte, frug Jaschwin sie, ob sie noch lange in Petersburg bleiben werden und griff, seine mächtige Gestalt einknickend, ans Käppi.

»Wahrscheinlich nicht mehr lange,« sagte sie voll Verwirrung, auf Wronskiy blickend.

»So sehen wir uns also nicht wieder?« antwortete Jaschwin, aufstehend und sich an Wronskiy wendend, »wo speisest du?«

»Kommt, mit mir zu dinieren,« sagte Anna entschlossenen Tones, gleichsam erzürnt über sich selbst wegen ihrer Verlegenheit, aber errötend, wie dies stets bei ihr der Fall war, wenn sie vor einer ihr nicht vertrauten Persönlichkeit ihre Meinung äußerte. »Das Essen ist hier nicht gut, aber Ihr könnt ihn doch wenigstens wiedersehen. Aleksey liebt von allen seinen Kameraden aus dem Regiment keinen so, wie Euch.«

»Sehr erfreut,« sagte Jaschwin mit einem Lächeln, aus dem Wronskiy ersah, daß ihm Anna sehr gefiel.

Jaschwin empfahl sich und ging, Wronskiy blieb allein zurück.

»Du gehst auch?« sagte sie.

»Ich habe mich schon verspätet,« antwortete er, »geh! Ich komme dir sogleich nach!« rief er Jaschwin nach.

Sie nahm ihn bei der Hand und blickte ihn, ohne das Auge abzuwenden, an, in ihren Gedanken suchend, was sie ihm sagen sollte, um ihn zurückzuhalten.

»Warte, ich habe dir etwas zu sagen,« seine kleine Hand nehmend, preßte sie dieselbe an ihren Hals, »nicht wahr, es thut nichts, daß ich ihn zum Essen geladen habe?«

»Das hast du ganz recht gemacht,« sagte er, mit ruhigem Lächeln seine engstehenden Zähne zeigend und ihre Hand küssend.

»Aleksey, du bist nicht anders geworden gegen mich?« sprach sie, mit beiden Händen seine Reckte drückend. »Aleksey, ich quäle mich hier ab, wann reisen wir?«

»Bald, bald. Du kannst nicht glauben, wie auch mir das Leben hier schwer ist,« sagte er, seine Hand ausstreckend.

»Nun so geh, geh,« sagte sie verletzt und ging schnell von ihm hinweg.

32.

Als Wronskiy heimkehrte, war Anna noch nicht wieder da. Bald nach ihm war, wie man ihm sagte, eine Dame angekommen und mit dieser zusammen sei sie weggefahren.

Daß sie weggefahren war, ohne gesagt zu haben wohin, was bei ihr bis jetzt noch nicht der Fall gewesen war, daß sie noch an diesem Morgen ausgefahren, ohne ihm etwas davon zu sagen – alles das, zusammen mit dem seltsam aufgeregten Ausdruck ihres Gesichts heute früh und mit der Erinnerung an die feindselige Haltung, mit welcher sie in Gegenwart Jaschwins die Bilder ihres Sohnes fast seinen Händen entrissen hatte, stimmte ihn nachdenklich.

Er schloß, daß es notwendig sei, sich mit ihr auszusprechen, und er erwartete sie nun in ihrem Salon. Anna kehrte indessen nicht allein zurück, sondern brachte ihre Tante mit sich, eine alte Jungfer, die Fürstin Oblonskaja. Das war die Dame, welche heute früh angekommen und mit welcher Anna Einkäufe zu machen ausgefahren war.

Anna schien den besorgten und fragenden Ausdruck der Züge Wronskiys nicht zu bemerken, und berichtete ihm heiter, was sie heute Morgen gekauft habe. Er sah, daß in ihr etwas Besonderes vorgehe; denn in ihren blitzenden Augen lag, wenn sie sich auf ihn im Vorübergleiten hefteten, eine gespannte Aufmerksamkeit, und in ihrer Rede, in ihren Bewegungen jene nervöse Schnelligkeit und Grazie, die ihn in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so bestrickt hatte, jetzt aber beunruhigte und erschreckte.

Das Diner wurde für Vier gedeckt. Alle waren bereits versammelt, um in das kleine Speisezimmer zu gehen, als Tuschkjewitsch mit einem Auftrag für Anna von der Fürstin Betsy ankam. Die Fürstin Betsy bat um Entschuldigung, daß sie nicht gekommen sei, um Abschied zu nehmen. Sie fühle sich unwohl, bat aber Anna, zwischen halb acht und neun Uhr zu ihr zu kommen. Wronskiy blickte Anna an bei dieser Zeitbestimmung, welche bewies, daß Maßregeln getroffen waren, sie niemandem begegnen zu lassen, doch schien dies Anna gar nicht zu bemerken.

»Sehr schade, daß ich gerade zwischen halb acht und neun Uhr nicht kann,« sagte sie mit leisem Lächeln.

»Die Fürstin wird das sehr bedauern.«

»Auch ich.«

»Ihr wollt wahrscheinlich die Patti hören?« sagte Tuschkjewitsch.

»Die Patti? Ihr gebt mir da einen guten Gedanken ein. Ich würde hinfahren, wenn es möglich wäre, eine Loge zu erhalten.«

»Ich kann sie erhalten,« brüstete sich Tuschkjewitsch.

»Ach, da würde ich Euch recht sehr dankbar sein,« antwortete Anna, »aber wollt Ihr nicht mit uns speisen?«

Wronskiy zuckte kaum merklich die Achsel; er verstand absolut nicht, was Anna that. Weshalb brachte sie diese alte Fürstin mit, weshalb veranlaßte sie Tuschkjewitsch, mitzuspeisen, und, was am wunderbarsten war, weshalb schickte sie ihn nach einer Loge? War es denn denkbar, daß sie in ihrer Lage in das Abonnement der Patti fuhr, wo die gesamte, ihr bekannte Welt zugegen sein würde? Mit ernstem Blick schaute er sie an, doch sie antwortete ihm mit jenem herausfordernden, weniger heiteren, als verzweifelten Blick, dessen Bedeutung er nicht verstehen konnte. Bei Tische war sie provozierend heiter, sie kokettierte fast mit Tuschkjewitsch und Jaschwin. Als man vom Tische aufstand und Tuschkjewitsch wegfuhr, um die Loge zu bestellen, während Jaschwin ging, um zu rauchen, begab sich Wronskiy mit letzterem zusammen hinweg in seine Zimmer. Nachdem er einige Zeit hier verweilt hatte, eilte er wieder nach oben. Anna hatte sich schon in eine hellseidene Toilette mit Samt geworfen, die für sie in Paris gefertigt worden war, mit offener Brust und kostbaren weißen Spitzen auf dem Kopfe, die ihr Gesicht einrahmten, und ihre blendende Schönheit besonders vorteilhaft hervorhob.

»Ihr fahrt bestimmt zum Theater?« sagte er, sie geflissentlich nicht ansehend.

»Weshalb fragt Ihr so voll Furcht?« antwortete sie, aufs neue verletzt davon, daß er sie nicht anblickte, »weshalb sollte ich nicht?« –

Sie schien den Sinn seiner Worte gar nicht zu verstehen.

»Natürlich, nicht die geringste Ursache, warum man es nicht thun sollte,« antwortete er finster werdend.

»Das sage ich eben auch,« versetzte sie, mit Absicht keine Ironie in ihren Ton legend, und ruhig den schmalen, duftenden Handschuh umwendend.

»Anna, um Gott! Was ist mit Euch?« frug er, sie zur Besinnung bringend, ganz ebenso, wie einst ihr Mann zu ihr gesprochen hatte.

»Ich verstehe nicht, wonach Ihr fragt.«

»Ihr wißt, es ist unmöglich ins Theater zu fahren.«

»Warum? Ich fahre ja nicht allein. Die Fürstin Barbara geht, um sich anzukleiden, sie wird mit mir fahren.«

Er zuckte die Schultern mit dem Ausdruck der Unentschlossenheit und Verzweiflung.

»Aber wißt Ihr denn nicht« – begann er.

»Ich will nichts wissen!« schrie sie fast auf. »Ich will nicht! Bereue ich denn, was ich gethan habe? Nein, nein, und aber nein! Und geschähe wieder das Nämliche, von Anfang an, so wäre es wieder so. Für uns, für mich und Euch ist nur Eines von Wichtigkeit: ob wir uns gegenseitig lieben! – Andere Erwägungen giebt es nicht! Wozu wohnen wir hier gesondert und sehen uns nicht? Warum kann ich nicht ins Theater fahren? Ich liebe dich und mir ist alles gleich,« sprach sie russisch, mit jenem eigenartigen, unverständlichen Glanz der Augen auf ihn blickend, »wenn du dich nicht verändert hast. Warum schaust du mich nicht an?«

Er blickte sie an. Er sah die ganze Schönheit ihres Gesichts, dieser Toilette, die ihr stets so gut zu Gesicht stand. Aber jetzt war gerade ihre Schönheit und Eleganz das, was ihn betroffen machte.

»Meine Empfindungen können sich nicht ändern; Ihr wißt es, aber ich bitte Euch, nicht dorthin zu fahren, ich beschwöre Euch,« sprach er, wieder auf französisch, und mit zärtlicher Bitte in der Stimme, aber Kälte im Blick.

Sie hörte seine Worte nicht, sondern sah nur die Kälte des Blicks und antwortete gereizt:

»Ich bitte Euch nur, mir zu erklären, warum ich nicht fahren soll.«

»Weil es Euch Ursache werden könnte zu« – er blieb stecken.

»Ich verstehe nichts. Jaschwin n’est pas compromettant und die Fürstin Barbara ist in nichts schlechter, als die anderen. – Da ist sie ja!« –

33.

Wronskiy empfand zum erstenmale ein Gefühl des Verdrusses, fast des Zornes über Anna, wegen ihres absichtlichen Mißverstehens ihrer Situation. Dieses Gefühl verstärkte sich noch dadurch, daß er ihr die Ursache seines Verdrusses nicht aussprechen konnte. Hätte er ihr offen mitgeteilt, was er dachte, dann hätte er ihr gesagt: »In dieser Toilette sich mit der jedermann bekannten, unverheirateten Fürstin im Theater zu zeigen – hieß nicht nur die Lage eines gefallenen Weibes selbst eingestehen, sondern auch, der Welt eine Herausforderung zuschleudern, oder, mit anderen Worten, sich für immer von dieser lossagen.«

Dies konnte er ihr nicht sagen. »Aber wie kann sie es nicht verstehen, und was geht in ihr vor?« sagte er zu sich. Er fühlte, wie sich zu ein und derselben Zeit seine Achtung vor ihr verminderte, während die Erkenntnis ihrer Schönheit in ihm wuchs.

Finster kehrte er nach seinem Zimmer zurück und befahl, sich zu Jaschwin setzend, welcher seine langen Beine auf einen Stuhl gestreckt hatte und einen Cognac mit Selterwasser trank, ihm das Nämliche zu bringen.

»Du sagst, der Moguschtschij Lankowskiys. Das ist ein gutes Pferd, ich rate dir, es zu kaufen,« sagte Jaschwin, das finstere Gesicht des Kameraden musternd. »Er hat zwar ein Hängekreuz – aber seine Füße und der Kopf – etwas besseres kann man nicht verlangen!«

»Ich denke, daß ich ihn kaufen werde,« antwortete Wronskiy.

Das Gespräch über die Pferde beschäftigte ihn zwar, aber er vergaß nicht eine Minute Annas, unwillkürlich dem Klange der Schritte auf dem Korridor lauschend, und nach der Uhr auf dem Kamin blickend.

»Anna Arkadjewna hat befohlen zu melden, daß sie ins Theater gefahren ist.«

Jaschwin stürzte noch ein Glas Cognac mit Sodawasser hinunter, stand auf und knöpfte sich zu.

»Nun, fahren wir?« sagte er, fein lächelnd unter dem Schnurrbart, und mit diesem Lächeln zeigend, daß er den Grund der Mißstimmung Wronskiys begreife, derselben aber keine Bedeutung beimesse.

»Ich werde nicht mitfahren,« versetzte Wronskiy.

»Ich aber muß; ich habe es versprochen. Nun denn, auf Wiedersehen. Kommst du in den Klub? Du kannst Krusinskijs Platz nehmen,« sagte er im Gehen noch.

»Nein, ich habe Geschäfte.«

»Mit einem Weibe hat man schon Sorgen, aber mit einer, die nicht unser Weib ist, ist es noch schlimmer,« dachte Jaschwin, das Hotel verlassend.

Wronskiy, allein geblieben, erhob sich vom Stuhle und begann im Zimmer auf und abzuschreiten.

»Was ist denn heute? Das vierte Abonnement. Jegor ist mit seiner Frau dort und meine Mutter wahrscheinlich. Das heißt, ganz Petersburg ist da. Jetzt kommt sie nun, legt den Pelz ab und tritt in die Gesellschaft. Tuschkjewitsch, Jaschwin und die Fürstin Barbara,« malte er sich aus, »und ich? Entweder fürchte ich mich, oder ich habe meine Protektion über sie an Tuschkjewitsch abgetreten. Wie man die Sache auch betrachten mag – sie ist dumm, dumm! – Aber warum bringt sie mich nur in diese Lage?« sagte er, mit der Hand ausschlagend.

Mit dieser Bewegung traf er den kleinen Tisch, auf welchem das Selterswasser und eine Caraffe mit Cognac stand und stieß ihn fast um. Er wollte ihn halten, ließ ihn aber fallen, und voll Verdruß stieß er ihn mit dem Fuße um. Er schellte.

»Wenn du bei mir dienen willst,« sagte er zu dem eintretenden Kammerdiener, »so merke dir deinen Dienst. Daß dies nicht wieder vorkommt! Du hast Ordnung zu machen.«

Der Kammerdiener, welcher sich schuldlos fühlte, wollte sich rechtfertigen, mit einem Blick auf seinen Herrn aber gewahrte er an dessen Miene, daß er hier nur zu schweigen habe, und ließ sich, geschäftig zusammengekrümmt, auf den Teppich nieder, auf dem er die ganz gebliebenen und die zerbrochenen Gläser und Flaschen zusammenzulesen anfing.

»Das ist nicht deine Arbeit, geh, der Diener kann das zusammenlesen, lege mir meinen Frack bereit!« –

 

Wronskiy ging halb neun Uhr ins Theater. Die Vorstellung war in vollem Gange.

Der Theaterdiener, ein kleiner Alter, nahm Wronskiy den Pelz ab und begrüßte ihn, nachdem er ihn wiedererkannt hatte, mit »Eure Durchlaucht;« schlug ihm vor, lieber nicht eine Nummer zu nehmen, und rief einfach Fjodor. In dem hellen Korridor war niemand außer dem Theaterdiener und zwei Lakaien mit Pelzen auf den Armen, die an der Thüre horchten. Aus einer verschlossenen Thür heraus waren die Klange des vorsichtigen Accompagnements des Orchesters in staccato hörbar, sowie die einer weiblichen Stimme, welche ausgezeichnet ein Recitativ vortrug. Die Thür öffnete sich, den Theaterdiener durchlassend und der Satz, welcher zu Ende ging, traf klar ans Ohr Wronskiys. Die Thür schloß sich indessen sofort wieder und Wronskiy hörte das Ende und die Kadenz nicht mehr, nahm aber an dem dröhnenden Beifallsklatschen durch die Thür heraus wahr, daß die Schlußkadenz zu Ende sei.

Als er in den hell von Lustres und bronzenen Gasarmen erleuchteten Saal trat, dauerte der Lärm noch fort. Auf der Scene stand eine Sängerin, schimmernd in ihren entblößten Schultern und ihren Brillanten, sich verbeugend und lächelnd, und sammelte mit Hilfe ihres Tenors, der sie an der Hand führte, die ungeschickt über die Rampe geworfenen Bouquets auf, wobei sie zu einem Herrn, mit einem Scheitel in der Mitte der pomadeglänzenden Haare, welcher sich mit langen Armen mit einem Gegenstande über die Rampe beugte, trat, und das gesamte Publikum im Parterre wie in den Logen, voller Bewegung, sich vorbeugte, rief und klatschte.

Der Kapellmeister auf seinem erhöhten Platze half bei der Übergabe des Gegenstandes und ordnete dann seine weiße Krawatte. Wronskiy trat in die Mitte des Parterre und begann, stehen bleibend, Umschau zu halten. Weniger als je, widmete er seine Aufmerksamkeit der bekannten, gewohnten Umgebung, der Bühne, und diesem Lärm, dieser ganzen, wohlbekannten, bunten Schar der Zuschauer in dem dichtbesetzten Theater, die ihn nicht interessierten.

Dieselben gewissen Damen mit den gewissen Offizieren waren da wieder im Hintergrund der Logen; dieselben buntfarbigen Damen, Gott weiß wer sie waren, und Uniformen und Röcke, der nämliche schmutzige Haufe auf dem Paradies oben, und in dieser ganzen Masse, in den Logen, dem ersten Rang befanden sich nur einige vierzig »wirkliche« Herren und Damen. Nach dieser Oase richtete sich sogleich Wronskiys Augenmerk und sogleich war auch er mit ihr in Beziehung getreten.

Der Akt war zu Ende, als er eintrat, und daher schritt er, ohne in die Loge seines Bruders zu treten, bis zur ersten Reihe, und blieb an der Rampe bei Serpuchowskoy stehen, welcher, das eine Knie geknickt und mit dem Absatz gegen die Rampe klappend, ihn schon von weitem erblickt hatte, und ihn mit einem Lächeln zu sich rief.

Wronskiy hatte Anna noch nicht wahrgenommen; er blickte absichtlich nicht nach der Seite, auf der sie war, doch sah er schon an der Richtung der Blicke, wo sie sich befand. Verstohlen blickte er um sich, suchte sie aber nicht. Das Schlimmste erwartend, suchte er mit den Augen Aleksey Aleksandrowitsch; doch zu seinem Glück war derselbe für diesmal nicht im Theater.

»Wie wenig vom Soldaten ist doch an dir geblieben,« sagte Serpuchowskoy. »Diplomat, Artist – das wäre so Etwas für dich.«

»Ja, ja, als ich nach Haus kam, zog ich den Frack an,« sagte Wronskiy lächelnd, langsam sein Augenglas nehmend.

»Ich beneide dich eigentlich, offen gestanden darin. Stets, wenn ich aus dem Ausland heimkehre, und dies wieder anlege,« sagte er, seine Epauletten berührend, »dann thut es mir leid um die Freiheit.«

Serpuchowskoy hatte schon längst seine Erwartungen bezüglich einer dienstlichen Wirksamkeit Wronskiys aufgegeben, liebte diesen aber noch wie früher, und war jetzt besonders liebenswürdig gegen ihn.

»Schade, daß du dich zu dem ersten Akte verspätet hast.«

Wronskiy, der nur mit halbem Ohr zuhörte, ließ sein Glas über die Bel-Etage gleiten und musterte die Logen. Neben einer Dame im Turban und einem kahlköpfigen Alten, der zornig in dem Glase des auf ihn gerichteten Krimstechers blinzelte, erblickte Wronskiy plötzlich den Kopf Annas, stolz, frappierend in seiner Schönheit, lächelnd in der Umrahmung der Spitzen. Sie saß nur zwanzig Schritte von ihm von vorn, und sprach, leicht gewendet, zu Jaschwin etwas. Die Haltung ihres Kopfes auf den schönen breiten Schultern und der verhalten herausfordernde Glanz ihrer Augen und ihres ganzen Antlitzes erinnerte ihn ganz an sie, wie er sie ebenso auf dem Balle in Moskau erblickt hatte. Jetzt aber empfand er diese Schönheit ganz anders. In seinem Gefühl für sie lag nichts Geheimnisvolles mehr, und daher zog ihn zwar ihre Schönheit selbst stärker noch als früher an, zugleich damit aber bereitete sie ihm jetzt auch Schmerz. Sie schaute nicht in der Richtung nach ihm, aber Wronskiy fühlte, daß Anna ihn schon gesehen hatte.

Als Wronskiy das Glas abermals nach jener Richtung bewegte, bemerkte er, daß die unverheiratete Fürstin Barbara auffallend rot aussah, unnatürlich lachte und unaufhörlich nach der Nachbarloge blickte. Anna hingegen, die den Fächer zusammengelegt hatte und mit ihm auf den roten Sammet klopfte, schaute in unbestimmter Richtung, und sah nicht, oder wollte offenbar nicht sehen, was in der Nachbarloge vorging. Auf dem Gesicht Jaschwins lag jener Ausdruck, den es annahm, wenn er verspielt hatte. Mürrisch nahm er tiefer und tiefer seinen linken Schnurrbart in den Mund und schielte nach der gleichen Nachbarloge hinüber.

In dieser, ihnen zur Linken, befanden sich die Kartasoff. Wronskiy kannte sie, und wußte auch, daß Anna mit ihnen bekannt war. Die Kartasowa, ein mageres, kleines Weib, stand in ihrer Loge, und warf, mit dem Rücken gegen Anna gewandt, einen ihr von ihrem Gatten gereichten Überwurf um. Ihr Gesicht sah blaß und böse aus und sie sprach in erregtem Tone. Kartasoff, ein dicker, kahlköpfiger Herr, schaute Anna fortwährend an und bemühte sich dabei, seine Frau zu besänftigen. Nachdem diese gegangen war, zögerte er noch lange, suchte mit seinen Augen den Blick Annas und wollte sie offenbar grüßen. Anna jedoch, die ihn offenbar absichtlich nicht bemerkte, hatte sich rückwärts gewandt und sprach zu Jaschwin, der sich zu ihr mit seinem frisierten Kopfe herniederbeugte. Kartasoff ging, ohne grüßen zu können, und die Loge stand leer.

Wronskiy erkannte nicht, was zwischen den Kartasoff und Anna vorgefallen sei, aber er begriff, daß etwas für Anna Erniedrigendes geschehen war.

Er erkannte dies schon an dem, was er wahrnahm, und vor allem an dem Gesicht Annas, die – er wußte es – ihre letzten Kräfte zusammennahm, um die einmal übernommene Rolle zu Ende zu führen. Diese Rolle, die äußerlich Ruhige zu spielen, gelang ihr vollständig. Wer sie und ihre Kreise nicht kannte, nicht alle die Äußerungen des Bedauerns, des Unwillens und der Verwunderung seitens der Frauen darüber hörte, daß sie sich erlaubt hatte, in der Welt zu erscheinen und sich mit ihrem Spitzenschmuck und ihrer Schönheit so bemerkbar zu machen, die bewunderten die Ruhe und Schönheit dieser Frau und ahnten nicht, daß sie die Empfindungen eines Menschen in sich trug, der an den Schandpfahl gestellt ist.

In der Gewißheit, daß Etwas vorgefallen sei, aber ohne zu wissen was, fühlte Wronskiy eine quälende Unruhe und begab sich, in der Hoffnung, etwas darüber erfahren zu können, nach der Loge seines Bruders. Absichtlich einen der Loge Annas gegenüberliegenden Gang im Parterre wählend, stieß er im hinausgehen mit seinem früheren Regimentskommandeur, der mit zwei Bekannten sprach, zusammen. Wronskiy hörte, daß der Name der Karenin genannt wurde, und bemerkte, wie der Regimentskommandeur sich beeilte, laut den Namen Wronskiys zu nennen, indem er die Sprechenden anblickte.

»Ah, Wronskiy! Wann kommst du denn einmal zum Regiment? Wir können dich nicht ohne ein Fest fortlassen. Du bist unser Stammhalter,« sagte der Regimentskommandeur.

»Es thut mir sehr leid, ein ander Mal,« sagte Wronskiy und eilte die Treppe hinauf in die Loge seines Bruders.

Die alte Gräfin, die Mutter Wronskiys, mit ihren stahlblauen Haarlocken befand sich in derselben. Warja und die Fürstin Sorokina begegneten ihm auf dem Korridor der Bel-Etage. ,

Nachdem Warja die Fürstin Sorokina zu ihrer Mutter geführt hatte, reichte sie ihrem Schwager die Hand, und begann dann sogleich mit ihm über das zu sprechen, was ihn interessierte. Sie war so aufgeregt, wie er sie nur selten gesehen hatte.

»Ich finde, daß dies niedrig und gemein ist, und Madame Kartasowa dazu nicht das geringste Recht hatte. Madame Kartasowa« – begann sie.

»Aber was ist denn? Ich weiß gar nicht« –

»Wie, du hast nicht gehört?«

»Du hörst wohl, daß ich der Letzte bin, der also davon erfährt.«

»Giebt es wohl ein schlechteres Geschöpf, als diese Kartasowa»«

»Aber was hat sie denn gethan?«

»Mir hat es mein Mann erzählt – sie hat die Karenina beleidigt. Ihr Mann hatte mit dieser über die Loge hinüber gesprochen, und die Kartasowa ihm darauf eine Scene gemacht. Sie hat, wie er mir erzählt, sich laut in kränkender Weise ausgesprochen und ist dann gegangen.«

»Graf, Mama läßt Euch rufen,« sagte die Fürstin Sorokina, aus der Thür der Loge blickend.

»Ich warte schon lange auf dich,« sprach die Mutter zu ihm, sarkastisch lächelnd. »Man sieht dich ja gar nicht mehr.«

Der Sohn erkannte, daß sie ein Lächeln der Freude nicht unterdrücken konnte.

»Guten Tag, Maman; ich kam eben zu Euch,« sagte er kühl.

»Warum gehst du denn nicht, faire la cour à madame Karènine?« fügte sie hinzu, als die Fürstin Sorokina weggetreten war. » Elle fait sensation. On oublie la Patti pour elle.« –

»Maman, ich bat Euch, mir nicht hiervon zu sprechen,« antwortete er sich verfinsternd.

»Ich spreche nur das, was alle sprechen.«

Wronskiy erwiderte nichts, und ging wieder, nachdem er der Fürstin Sorokina noch einige Worte gesagt hatte. In der Thür begegnete er seinem Bruder.

»Ah, Aleksey,« sagte dieser. »Welche Niedrigkeit! Diese Närrin – weiter ist sie nichts! Ich wollte soeben zu ihr gehen. Komm, wir gehen zusammen.« –-

Wronskiy hörte ihn nicht. Mit schnellen Schritten stieg er hinunter; er empfand, daß er etwas thun müsse, wußte aber nicht, was. Sein Verdruß über Anna, daß sie sich und ihn in eine so schiefe Lage gebracht hatte, doch auch das Mitleid mit ihr wegen ihrer Leiden, versetzten ihn in Aufregung. Er ging hinunter ins Parterre und schritt geradenwegs auf den Platz Annas zu. Neben diesem stand Stremoff, der sich mit ihr unterhielt.

»Tenöre giebt es eben nicht mehr. Le moule en est brisé

Wronskiy verneigte sich vor ihr und blieb stehen, Stremoff begrüßend.

»Ihr scheint spät gekommen zu sein und die besten Arien nicht gehört zu haben,« sagte Anna zu Wronskiy, ihn spöttisch anblickend, wie ihm schien.

»Ich bin ein schlechter Kritiker,« antwortete er, streng auf sie schauend.

»Wie der Fürst Jaschwin,« sagte sie lächelnd, »welcher findet, daß die Patti zu laut singt. Ich danke Euch.« mit der kleinen Hand im hohen Handschuh einen von Wronskiy aufgehobenen Theaterzettel nehmend; und plötzlich, in diesem Augenblick, erbebten ihre schönen Züge. Sie stand auf und begab sich in die Tiefe der Loge.

Als Wronskiy bemerkt hatte, daß im folgenden Akt ihre Loge leer war, ging er, während sich in dem bei den Tönen einer Kavatine stillgewordenen Theater ein Zischeln erhob, aus dem Parterre und fuhr heim.

Anna war schon zu Haus. Als Wronskiy bei ihr eintrat, befand sie sich noch in der Toilette, in welcher sie im Theater gewesen war. Sie saß auf dem nächsten an der Wand stehenden Lehnstuhl und starrte vor sich hin. Sie blickte ihn an und nahm dann ihre frühere Stellung wieder ein.

»Anna!« sagte er.

»Du, du bist schuld an allem!« rief sie unter Thränen der Verzweiflung und der Wut in der Stimme, und erhob sich.

»Ich habe dich gebeten, dich beschworen, nicht zu fahren; ich habe gewußt, daß es dir unangenehm werden würde« –

»Unangenehm!« rief sie, – »entsetzlich! So lange ich lebe, werde ich dies nicht vergessen! – Sie hat gesagt, es sei entehrend, neben mir sitzen zu müssen!« –

»Die Worte eines thörichten Weibes,« sagte er, »aber wozu mußtest du dazu herausfordern?«

»Ich hasse deine Ruhe! Du durftest mich nicht so weit bringen. Wenn du mich geliebt hättest« –

»Anna! Wozu hier eine Frage nach meiner Liebe« –

»Ja, wenn du mich liebtest, wie ich dich liebe, wenn du dich martertest, wie ich mich martere« – sprach sie, mit dem Ausdruck des Entsetzens auf ihn blickend.

Es that ihm wehe um sie, und dennoch empfand er auch Verdruß. Er versicherte sie seiner Liebe, weil er sah, daß nur dies allein sie jetzt beruhigen konnte, und machte ihr keine Vorwürfe mit Worten; wohl aber tadelte er sie in seinem Innern.

Und jene Versicherungen der Liebe, die ihm so niedrig erschienen, daß es ihm schwer ankam, sie auszusprechen, sog sie in sich ein und wurde etwas ruhiger. Am andern Tage fuhren beide, vollständig ausgesöhnt, auf das Land.

1.

Darja Aleksandrowna verbrachte den Sommer mit den Kindern in Pokrowskoje bei ihrer Schwester Kity Lewina.

Auf ihrem Gute war das Wohnhaus gänzlich in Verfall geraten, und Lewin mit seiner Gattin hatten ihr zugeredet, den Sommer bei ihnen zuzubringen.

Stefan Arkadjewitsch billigte dieses Arrangement sehr; er drückte sein Bedauern darüber aus, daß der Dienst ihn verhindere, den Sommer mit der Familie zusammen auf dem Dorfe zu verleben, was für ihn das höchste Glück bilde, und kam, in Moskau bleibend, nur selten für einen Tag oder für zwei auf das Land.

Außer den Oblonskiys mit all ihren Kindern und der Gouvernante war bei Lewins wahrend dieses Sommers noch die alte Fürstin, welche es für ihre Pflicht hielt, ihre unerfahrene Tochter im Auge zu behalten, die sich in gewissen Umständen befand. Weiterhin hatte auch Warenta, die Freundin Kitys, von dem Aufenthalt im Auslande her ihr Versprechen erfüllt, zu Kity zu kommen, wenn diese verheiratet sein würde, und war jetzt bei ihrer Freundin zu Besuch.

Alles waren Verwandte und Freunde der Frau Lewins, aber obgleich dieser sie alle lieb hatte, war es ihm doch einigermaßen leid um seine »Lewinsche Welt« und die Ordnung, welche durch diese Überschwemmung mit dem »Schtscherbazlischen Element«, verschlungen worden war, wie er sich selbst sagte. Von Verwandten seiner Linie weilte in diesem Sommer nur Sergey Iwanowitsch zu Besuch da, und auch dieser war kein Mensch von Lewins, sondern von Koznyscheffschem Schlag, so daß Lewins geistige Sphäre vollständig unterdrückt war.

In Lewins so lange verödet gewesenem Hause befanden sich jetzt so viel Menschen, daß fast alle Räume besetzt waren, und fast jeden Tag kam es vor, daß die alte Fürstin, wenn sie bei Tische sitzend alles überzählte, den dreizehnten, Enkel oder Enkelin, an einen besonderen kleinen Tisch setzen mußte. Auch für Kity, die sich sorgsam mit der Hauswirtschaft befaßte, gab es nicht wenig Sorge um die Beschaffung der Hühner, Kapaunen und Enten, welche bei dem Sommerappetit der Gäste und der Kinder zahlreich verbraucht wurden.

Die ganze Familie saß bei Tische. Die Kinder Dollys machten mit der Gouvernante und Warenka Pläne, wohin sie Pilze suchen gehen wollten. Sergey Iwanowitsch, welcher im Kreise sämtlicher Gäste einen Respekt vor seinem Geist und seiner Gelehrsamkeit genoß, der fast bis zur Verehrung ging, sah alles in die Unterhaltung von den Pilzen vertieft.

»Aber mich nehmt Ihr doch auch mit Euch. Ich gehe sehr gern Pilze suchen,« sagte er, Warenka anblickend, »und finde, daß das ein sehr hübscher Zeitvertreib ist.«

»Nun, wir werden uns sehr freuen,« antwortete Warenka errötend. Kity wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Dolly. Der Vorschlag des gelehrten und geistreichen Sergey Iwanowitsch, mit Warenka Pilze suchen zu wollen, stützte gewisse Vermutungen in Kity, welche diese in jüngster Zeit lebhaft beschäftigt hatten. Schnell begann sie mit ihrer Mutter zu sprechen, damit ihr Blick nicht bemerkt werden möchte.

Nach Tisch setzte sich Sergey Iwanowitsch mit seiner Tasse Mokka an das Fenster im Salon, ein mit dem Bruder begonnenes Gespräch fortsetzend und dabei nach der Thür blickend, zu welcher die Kinder hinausgehen mußten, die sich fertig machten, in die Pilze zu gehen.

Lewin saß auf dem Fenster bei seinem Bruder, Kity stand neben ihrem Manne, sichtlich auf das Ende des für sie nicht interessanten Gesprächs wartend, um ihm etwas mitzuteilen.

»Du hast dich sehr verändert, seit du verheiratet bist, und zwar zu deinem Vorteil,« sagte Sergey Iwanowitsch, Kity zulächelnd und augenscheinlich von der Unterhaltung wenig interessiert, »aber du bist deiner Leidenschaft, die paradoxesten Themen zu verteidigen, getreu geblieben.«

»Katja, es ist für dich nicht gut, zu stehen,« sagte der Gatte zu ihr, einen Stuhl heranschiebend und sie bedeutungsvoll anschauend.

»Ah; ich habe übrigens gar keine Zeit mehr,« fügte Sergey Iwanowitsch hinzu, die hinauseilenden Kinder erblickend.

Allen voran, von seitwärts im Galopp mit den drallsitzenden Strümpfchen, ein Körbchen und den Hut Sergey Iwanowitschs schwingend, kam Tanja gerade auf letzteren zugeeilt. Frohmutig auf ihn zueilend mit leuchtenden Augen, die in ihrer Schönheit denen des Vaters so ähnlich waren, reichte sie Sergey Iwanowitsch den Hut und that, als wolle sie ihm denselben aufsetzen, mit schüchternem, sanftem Lächeln ihre Ungebundenheit zügelnd.

»Warenka wartet schon,« sagte sie, ihm den Hut behutsam aufsetzend, nachdem sie an dem Lächeln Sergey Iwanowitschs erkannt hatte, daß sie dies dürfe.

Warenka stand in der Thür, in einem gelben Kattunkleid, um den Kopf ein weißes Tuch geschlungen.

»Ich komme schon, ich komme, Barbara Andrejewna,« sagte Sergey Iwanowitsch, seine Tasse Mokka leerend und ein Schnupftuch nebst dem Cigarrenetuis in seinen Taschen verteilend.

»Wie reizend ist doch meine Warenka, nicht wahr?« sagte Kity zu ihrem Manne, sobald Sergey Iwanowitsch aufgestanden war. Sie sagte dies so, daß Sergey Iwanowitsch sie vernehmen konnte, woran ihr offenbar gelegen war. »Und wie schön sie ist, wie edel schön! Warenka!« rief Kity. »Ihr werdet Wohl im Mühlenholz sein? Wir kommen zu Euch hin!«

»Du vergißt doch entschieden deinen Zustand Kity,« bemerkte die alte Fürstin, schnell zur Thür herauskommend, »du darfst nicht so schreien.«

Warenka, welche die Stimme Kitys sowie die Äußerung der Mutter vernommen hatte, kam leichten Schrittes zu Kity geeilt. Die Schnelligkeit ihrer Bewegungen, die Farbe, welche ihr munteres Gericht bedeckte – alles das bewies, daß in ihr etwas Ungewöhnliches vorging. Kity wußte, was dieses Ungewöhnliche war, und beobachtete sie aufmerksam. Sie hatte jetzt Warenka nur gerufen, um ihr für ein wichtiges Ereignis, welches sich nach ihrer Erwägung heute, nach Tische im Walde vollziehen mußte, innerlich Segen zu wünschen.

»Warenka, ich würde sehr glücklich, wenn sich etwas ereignen sollte,« sagte Kity flüsternd und sie küssend.

»Ihr werdet aber mit uns kommen?« sagte Warenka in Verwirrung geratend, zu Lewin, und gab sich den Anschein, als habe sie gar nicht gehört, was zu ihr gesagt worden war.

»Ich werde kommen, doch nur bis zur Tenne, und dort werde ich bleiben.«

»Was hast du denn vor?« sagte Kity.

»Ich muß die neuen Fuhren inspizieren und nachzählen,« antwortete Lewin, »doch wo wirst du bleiben?«

»Auf der Terrasse.«

2.

Auf der Terrasse hatte sich die ganze weibliche Gesellschaft versammelt. Die Damen liebten es, überhaupt dort nach Tische zu sitzen, aber heute gab es da sogar etwas zu thun. Außer dem Nähen und Sticken, womit sich alle beschäftigten, wurde heute Eingemachtes nach einer für Agathe Michailowna ganz neuen Methode – ohne Zuguß von Wasser – zubereitet.

Kity hatte diese neue Methode, welche bei ihr zu Haus in Gebrauch war, eingeführt. Agathe Michailowna, welcher früher dieses Geschäft anvertraut gewesen war, hatte in der Ansicht, daß das, was im Haus der Lewin gemacht wurde, doch nicht schlecht sein könne, gleichwohl ihr Wasser über die Wald- und Gartenerdbeeren mit der Versicherung gegossen, daß es unmöglich anders sein könne, aber sie wurde in ihrer Meinung überführt, und jetzt brodelte vor aller Augen die Himbeere, und Agathe Michailowna mußte sich überzeugt sehen, daß auch ohne Wasser das Eingemachte gut werde.

Agathe Michailowna mit erhitztem, erbittertem Gesicht, wirren Haaren, und bis an den Ellbogen entblößten, hageren Armen schwenkte die Schüssel, im Kreise über dem Feuerbecken und blickte grollend auf die Beeren, aus Seelengrunde wünschend, sie möchten nicht gar werden.

Die Fürstin, welche merkte, daß auf sie, als die hauptsächlichste Ratgeberin bei der Zubereitung der Beeren, der Zorn Agathe Michailownas gerichtet sein müsse, bemühte sich, den Anschein zu wahren, als sei sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt, und interessiere sich gar nicht für die Himbeeren; sie sprach von Nebensächlichem, schaute aber immer dabei seitwärts nach dem Kohlenbecken.

»Ich kaufe den Mädchen stets Kleider,« sagte die Fürstin, ein begonnenes Gespräch fortsetzend – »wollen wir jetzt nicht den Schaum abnehmen, Liebe?« – fügte sie aber hinzu, sich an Agathe Michailowna wendend. »Das brauchst du durchaus nicht selbst zu thun, es ist heiß,« hielt Kity diese dabei zurück.

»Ich werde es thun,« sagte Dolly, stand auf und begann behutsam den Löffel über den schäumenden Zucker zu führen; bisweilen damit, um von ihm das daran haften Gebliebene zu entfernen, auf einen Teller klopfend, der bereits von mischfarbigem, gelbrotem Schaum und flüssigem blutrotem Syrup bedeckt war. »Wie sie das schlecken werden zum Thee,« gedachte sie dabei ihrer Kinder und rief sich ins Gedächtnis zurück, wie sie selbst, als sie noch ein Kind gewesen, sich schon immer verwundert hatte, daß die Erwachsenen nicht gerade das Beste äßen – nämlich den Schaum. – »Stefan sagt, es sei bei weitem besser, Geld zu geben,« sagte Dolly dabei, das begonnene, interessante Gespräch darüber, wie man die Dienstleute beschenken solle, fortsetzend, »allein« –

»So viel es möglich ist, Geld,« sagten wie mit einer Stimme die Fürstin und Kity. »Sie schätzen das.«

»Nun, ich habe beispielsweise im vergangenen Jahre unserer Matrjona Ssemjonowna ein Kleid gekauft,« sprach die Fürstin.

»Ich besinne mich, zu Eurem Geburtstage ging sie darin.«

»Ein reizendes Muster – so einfach und fein. Ich hätte es mir selbst machen lassen, wenn es nicht ihr gehört hätte; – so, wie das von Warenka war es. So hübsch und billig.«

»Jetzt scheint es fertig zu sein,« sagte Dolly, den Syrup vom Löffel laufen lassend.

»Wenn Kringel werden, ist es gut. Kocht noch weiter, Agathe Michailowna.«

»Diese Fliegen,« antwortete Agathe Michailowna gereizt.

»O, wie niedlich, verjagt ihn nicht!« sprach Kity Plötzlich, auf einen Spatz blickend, der sich auf dem Geländer niedergesetzt hatte und das Mark einer Himbeere zu picken begann. »Ja, aber du mußt etwas weiter vom Kohlenbecken weg,« sprach die Mutter.

»A propos de Warenka,« begann Kitt) französisch, wie sie stets sprachen, damit Agathe Michailowna sie nicht verstehe. »Ihr wißt, maman, daß ich heute aus gewissen Gründen eine Entscheidung erwarte. Ihr versteht Wohl, welche. Wie schön wäre das!«

»Ah, welch meisterhafte Freibewerberin du bist,« sprach Dolly, »wie sie behutsam und geschickt die Leute zusammenführt.«

»Nun, maman, sagt doch, was Ihr dazu meint!«

»Was soll ich meinen? Er« – unter dem Er verstand man Sergey Iwanowitsch – »konnte stets die erste Partie in Rußland machen, er ist zwar jetzt nicht mehr so jung, aber gleichwohl, ich weiß es, würden ihn auch jetzt noch viele Frauen nehmen. Sie ist sehr gut, aber er konnte doch« –

»Nein, seht nur erst ein, maman, warum etwas Besseres für ihn, wie für sie nicht zu denken ist. Erstens – sie ist eine Schönheit!« sprach Kity, einen Finger ausstreckend.

»Sie gefällt ihm sehr, das ist wahr,« bestätigte Dolly.

»Dann nimmt er eine solche Stellung in der Welt ein, daß ihm ein Vermögen, ein Stand in der Welt für seine Frau ganz und gar nicht erforderlich ist. Ihm ist Eins nur nötig – ein gutes, liebevolles ruhiges Weib.«

»Jawohl, und mit ihr kann man ruhig leben,« bestätigte Dolly.

»Drittens; sie muß ihn lieben! So ist es ja auch – und soweit wäre alles ganz gut. Ich erwarte, daß sie aus dem Walde kommen und alles entschieden ist. Ich werde es sogleich an ihren Augen erkennen; und würde mich so sehr freuen! Wie denkst du darüber, Dolly?«

»Rege dich nur nicht auf. Du darfst dich durchaus nicht erregen,« sagte die Mutter.

»Aber ich rege mich ja gar nicht auf, maman; mir scheint nur, daß er heute seinen Antrag machen wird.«

»Ach; es ist so seltsam, wenn ein Mann eine Liebeserklärung macht. Erst ist so eine Scheidewand vorhanden, und plötzlich ist sie durchbrochen,« sagte Dolly, gedankenvoll lächelnd und sich an die Vergangenheit mit Stefan Arkadjewitsch erinnernd. »Mama, wie hat Euch denn Papa seine Liebeserklärung gemacht?« frug Kith plötzlich.

»Es war nichts Außergewöhnliches dabei, sehr einfach,« antwortete die Fürstin, aber ihr ganzes Gesicht erglänzte bei dieser Erinnerung.

»Nun, wie denn? Ihr habt ihn doch geliebt, bevor Euch noch erlaubt war, mit ihm zu sprechen.«

Kity fand einen eigenen Reiz darin, mit ihrer Mutter jetzt wie mit einer Gleichgestellten über diese höchsten Fragen des Frauenlebens sprechen zu können.

»Versteht sich, liebte er mich! Er kam zu uns auf das Land.«

»Aber wie entschied es sich? Mama?«

»Du denkst wahrscheinlich, daß ihr beide euch etwas Neues ausgedacht hättet? Es war ganz dieselbe Geschichte; mit Blicken und Lächeln« –

»Wie Ihr das so schön ausgesprochen habt, maman! Ja, die Augen, das Lächeln,« bestätigte Dolly.

»Aber welche Worte sprach er denn?«

»Was für Worte hat dir dein Konstantin gesagt?«

»Er schrieb sie mit Kreide. Es war wunderbar. Wie weit scheint mir dies schon dahinten zu liegen,« antwortete Kity.

Die drei Frauen sannen jetzt über ein und dasselbe nach. Kity brach zuerst wieder das Schweigen. Der ganze letzte Winter vor ihrer Verheiratung ihre Leidenschaft für Wronsny kam ihr wieder ins Gedächtnis.

»Aber noch Eins – jene frühere Leidenschaft Warenkas,« sagte sie, in einem natürlichen Gedankengang sich dessen erinnernd. »Ich wollte Sergey Iwanowitsch schon irgendwie Mitteilung machen, ihn vorbereiten. Sie sind ja alle Männer,« fügte sie hinzu, »und entsetzlich eifersüchtig auf unsere Vergangenheit.«

»Nicht alle,« antwortete Dolly, »du urteilst so nach deinem Manne; der martert sich noch jetzt ab in der Erinnerung an Wronskiy. Nicht wahr? Habe ich nicht recht?«

»Du hast recht,« antwortete Kity, gedankenvoll mit den Augen lächelnd.

»Ich weiß nun nicht,« fuhr die Fürstin fort, ihre mütterliche Obhut für die Tochter wieder übernehmend, »was eigentlich in deiner Vergangenheit ihn stören könnte? Daß Wronskiy dir den Hof machte? Das passiert jedem jungen Mädchen.«

»Ach, sprechen wir nicht davon,« sagte Kity errötend.

»Nein, gestatte,« fuhr die Mutter fort, »du selbst wolltest mir ja nicht gestatten, mit Wronskiy Rücksprache zu nehmen. Weißt du noch?«

»Ach, Mama!« sagte Kity mit einem Ausdruck von Leiden.

»Deine Beziehungen zu ihm konnten ja nicht weitergehen als sie durften; ich selbst würde ihn noch ermutigt haben. Doch im übrigen, liebe Seele, taugt es nicht für dich, wenn du dich erregst. Denke, bitte, hieran, und beruhige dich.«

»Ich bin vollkommen ruhig, maman.«

»Wie war es doch zum Glück damals für Kity, daß Anna kam,« sagte Dolly, »und wie verhängnisvoll wurde das für sie selbst. Da haben wir es gerade umgekehrt,« fügte sie hinzu, betroffen über ihren eigenen Gedanken. »Damals war Anna so glücklich und Kity hielt sich für unglücklich. Welch ein völliger Umschlag! Ich denke oft an sie.«

»Das wäre das Weib, an welches man denken dürfte! Ein häßliches, ausschweifendes Weib ohne Herz,« sprach die Mutter, welche nicht vergessen konnte, daß Kity nicht einen Wronskiy, sondern einen Lewin geheiratet hatte.

»Was ist es für ein Vergnügen, hiervon zu sprechen,« fuhr Kity voll Verdruß fort, »ich denke nicht daran und will nicht daran denken. Ich will nicht daran denken,« sprach sie, dabei dem wohlbekannten Klang der Schritte ihres Mannes auf den Stufen zur Terrasse lauschend.

»Wovon ist denn die Rede ,ich will nicht daran denkend« frug Lewin, die Terrasse betretend.

Niemand antwortete ihm, und er wiederholte seine Frage nicht.

»Ich bedaure, euer Frauenreich gestört zu haben,« sprach er, mißvergnügt alle anblickend und wohl gewahrend, daß man über etwas gesprochen hatte, wovon man in seiner Gegenwart nicht geredet haben würde.

Einen Augenblick empfand er, daß er die Gefühle Agathe Michailownas teile, die Unzufriedenheit darüber, daß man die Himbeeren ohne Wasser einkoche, und über den fremdartigen Einfluß der Schtscherbazkiy. Er lächelte aber doch und trat zu Kity.

»Nun, Wie befindest du dich?« frug er sie, mit dem gleichen Ausdruck auf sie blickend, mit welchem sich ihr jetzt alle zuwandten.

»Oh; ich befinde mich recht wohl,« sagte Kity lächelnd, »und wie geht es bei dir?«

»Man fährt dreimal mehr, als der Wagen aushält. Aber wollen wir zu den Kindern hinausfahren? Ich habe anspannen lassen.«

»Wie, willst du Kity im Wagen ausfahren?« frug die Mutter vorwurfsvoll.

»Wir fahren natürlich Schritt, Fürstin.«

Lewin nannte die Fürstin nie maman, wie das sonst Schwiegersöhne thun, und dies war der Fürstin unangenehm, aber wenn er die Fürstin auch sehr lieb hatte und achtete, konnte er sie doch nicht so nennen, ohne die Empfindungen für seine dahingeschiedene Mutter zu entweihen.

»Fahret mit uns, maman,« sagte Kity.

»Ich will diese Unüberlegtheit nicht mit ansehen.«

»Dann gehe ich zu Fuß. Ich befinde mich ja ganz Wohl.« Kity erhob sich, trat zu ihrem Gatten und nahm dessen Arm.

»Ganz Wohl, aber alles mit Maßen« – bemerkte die Fürstin.

»Nun, Agathe Michailowna, ist das Eingemachte fertig?« sagte Lewin lächelnd zu Agathe Michailowna, mit dem Wunsche sie heiter zu stimmen. »Geht es gut nach der neuen Mode?«

»Muß wohl; es geht gut. Nach meiner Meinung ist es fertig.«

»Es ist besser so, Agathe Michailowna; das Eingemachte wird nicht sauer und bei uns ist das Eis jetzt ohnehin schon gethaut, so daß es keinen Platz zum Aufbewahren giebt.« sagte Kity, sogleich die Absicht ihres Mannes durchschauend und sich in der nämlichen Absicht an die Alte wendend. »Übrigens ist Euer Pökel so gut, daß Mama behauptet, ihn noch nirgends so gegessen zu haben,« fügte sie hinzu, sich lächelnd einen Zopf ordnend.

Agathe Michailowna blickte grollend Kity an.

»Ihr braucht mich nicht zu trösten, Herrin; ich beurteile Euch, wie er, und befinde mich Wohl dabei« – sprach sie; der rauhe Ausdruck »er« statt »d

»Wir Wollen zusammen nach Pilzen gehen, Ihr könnt uns die Plätze zeigen.« Agathe Michailowna lächelte kopfschüttelnd, als wollte sie sagen »wenn ich Euch auch gern gram sein möchte, so kann ich es doch nicht.«

»Handelt, bitte, nach meinem Rate,« sprach die alte Fürstin, »über das Eingemachte legt Ihr ein Papier und feuchtet es mit Rum an; auch ohne Eis wird alsdann niemals ein Rahm darauf kommen.«

 

26.

»Nun, wie steht’s Kapitonitsch?« sagte der kleine Sergey, rotwangig und heiter, von dem Spaziergang am Vorabend seines Geburtstags zurückkehrend und seine faltige Poddjovka dem hochgewachsenen, aus seiner ganzen Größe auf den Kleinen herablächelnden alten Portier reichend.

»War heute jener zurückgesetzte Beamte da? Hat ihn der Papa empfangen?«

»Empfangen. Soeben ist der Direktor gegangen und ich habe ihn gemeldet,« sagte der Schweizer heiter blinzelnd. »Gestattet mir, daß ich Euch auskleide.«

»Sergey!« sagte der Erzieher, in der Thüre stehen bleibend, welche nach den inneren Gemächern führte. »Legt selbst ab!«

Doch Sergey widmete, obwohl er die schwache Stimme des Pädagogen gehört hatte, diesem nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er stand, sich mit der Hand an dem Brustgurt des Portiers anhaltend und ihm ins Gesicht blickend.

»Hat denn Papa auch für ihn gethan, was not thut?«

Der Portier nickte bestätigend mit dem Kopfe.

Ein Beamter, der schon siebenmal bei Aleksey Aleksandrowitsch mit einem Anliegen vorgesprochen hatte, interessierte Sergey und den Portier. Sergey hatte denselben auf dem Vorsaal getroffen und gehört, wie kläglich er den Portier bat, sein Anliegen vorzutragen, und gesagt harte, daß er mit seinen Kindern werde untergehen müssen.

Seit dieser Zeit interessierte sich Sergey, der dem Beamten noch ein zweites Mal auf dem Vorsaal begegnet war, für diesen.

»Hat er sich denn recht gefreut?« frug er.

»Wie sollte er sich nicht gefreut haben? Bald gesprungen wäre er, als er von hier fortging.«

»Hat man etwas für uns gebracht?« – frug Sergey nach einer Pause.

»Nein, Herr,« antwortete kopfschüttelnd und flüsternd der Portier, »von der Gräfin ist etwas da.«

Sergey ersah sofort, daß das, wovon der Schweizer sprach, ein Geschenk von der Gräfin Lydia Iwanowna zu seinem Geburtstage sein müsse.

»Was sagst du? Wo ist es denn?«

»Korney hat es zu Papa getragen. Es scheint etwas recht Schönes.«

»Wie groß ist es denn? – So?« – –

»Kleiner, aber was Hübsches.«

»Ein Buch?«

»Nein, ein Spielzeug. Aber geht, geht, Wasiliy Lukitsch wird gleich rufen,« sagte der Portier, die nahenden Schritte des Gouverneurs vernehmend und behutsam das bis zur Hälfte im abgezogenen Handschuh steckende Händchen, welches ihn noch bei seinem Ledergurt hielt, losmachend.

»Wasiliy Lukitsch, diese Minute!« antwortete Sergey mit dem nämlichen heiteren und lieblichen Lächeln, welches den seines Amtes beflissenen Wasiliy Lukitsch stets besiegte.

Sergey war in viel zu heiterer und glücklicher Stimmung, als daß er sich mit seinem Freund, dem Portier, nicht erst noch hätte in das freudige Familienereignis teilen sollen, von dem er auf dem Spaziergang im Sommergarten durch die Nichte der Gräfin Lydia Iwanowna erfahren hatte.

Dieses freudige Ereignis erschien ihm besonders wichtig nach dem Zusammentreffen mit dem Glücksfall des Beamten und seiner eigenen Freude darüber, daß man ihm ein Spielzeug gebracht hatte. Sergey schien es, daß heute ein Tag sei, an welchem jedermann glücklich und heiter sein müsse.

»Weißt du, daß Papa den Alexander Newskiy erhalten hat?«

»Warum sollte ich das nicht wissen? Man ist ja schon gekommen, um zu gratulieren.«

»So; freut er sich?«

»Wie sollte man sich über des Zaren Gunst nicht freuen? Das heißt, er hat ihn ja auch verdient,« sagte der Portier streng und ernst.

Der kleine Sergey wurde nachdenklich, blickte in das von ihm schon bis in die kleinsten Einzelheiten studierte Gesicht des Portiers, insbesondere auf das Kinn, welches zwischen den grauen Backenbärten hing und das niemand außer Sergey je erblickt hatte, da dieser ihn nie anders als von unten herauf anschaute.

»Deine Tochter ist lange nicht bei dir gewesen?«

Die Tochter des Portiers war Balletttänzerin.

»Wie soll sie an den Wochentagen ausgehen können? Die haben auch zu lernen. Und auch Ihr müßt nun lernen, Herr, geht.« –

In das Zimmer tretend, erzählte Sergey, anstatt sich zur Lektion niederzulassen, seinem Lehrer von seinen Vermutungen darüber, ob das was man für ihn gebracht habe, eine Maschine sein könnte.

»Was meint Ihr dazu?« frug er.

Wasiliy Lukitsch dachte nur daran, daß ein Lehrer lediglich die Grammatikstunde zu geben habe, welche um zwei Uhr begann.

»Nein, sagt mir nur, Wasiliy Lukitsch,« frug er plötzlich, schon hinter dem Arbeitstisch sitzend und das Buch in der Hand haltend, »was ist denn noch mehr, als der Alexander Newskiy? Ihr wißt, daß Papa den Alexander Newskiy erhalten hat?«

Wasiliy Lukitsch antwortete, daß der Wladimir höher sei als der Alexander Newskiy.

»Und noch höher?«

»Am höchsten ist der Orden des heiligen Andreas.«

»Und höher noch als der Andreas?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was; selbst Ihr wißt das nicht?« und Sergey versank, sich aufstemmend, in Nachdenken.

Seine Überlegungen waren sehr verwickelt und mannigfaltig. Er überlegte, wie sein Vater plötzlich auch den Wladimir und den Andreasorden erhalten könnte, und wie er infolgedessen heute in der Lektion bei weitem fleißiger sein wolle, und wie er selbst, wenn er erst einmal groß wäre, alle Orden, und auch das, was noch höher als der Andreasorden sei, erhalten wollte. Sobald man einen ausgesonnen hätte, wollte er ihn verdienen; und dächte man ihn noch höher aus, so wollte er ihn sofort auch verdienen.

In solchen Überlegungen verstrich die Zeit, bis der Lehrer kam. Die Lektion über die Umstände der Zeit und des Ortes und den Umstand der Art und Weise saß nicht, und der Lehrer war nicht nur unzufrieden, sondern selbst erzürnt. Der Groll des Lehrers rührte Sergey. Er fühlte sich schuldig, weil er seine Lektion nicht gelernt hatte, aber wie er sich auch bemühen mochte, er konnte es durchaus nicht ermöglichen; so lange der Lehrer ihm Etwas erklärte, überzeugte er sich und schien zu verstehen, doch sobald er allein war, vermochte er sich durchaus nicht mehr zu entsinnen, und zu begreifen, daß das ziemliche kurze und so verständliche Wort »plötzlich« ein »Umstand der Art und Weise« sei; allein dennoch that es ihm leid, daß er den Lehrer kränkte.

Er wählte eine Minute, in welcher der Lehrer schweigend in das Buch blickte.

»Michail Iwanitsch, wann wird Euer Namenstag sein?« frug er plötzlich.

»Ihr dächtet doch besser an Eure Arbeit; die Namenstage haben keinerlei Bedeutung für ein vernünftiges Wesen. Es sind Tage wie alle anderen, an denen man arbeiten muß.«

Der kleine Sergey schaute aufmerksam seinen Lehrer an, dessen spärlichen Bart und die Brille, welche sich unter die Kerbe, die auf der Nase war, gesenkt hatte, und versank so tief in Gedanken, daß er nichts mehr von dem hörte, was der Lehrer ihm erklärte. Er hatte erkannt, daß dieser nicht so dachte, wie er gesprochen hatte; er fühlte dies an dem Tone, in welchem es gesagt worden war.

»Aber warum haben sie sich alle verabredet, dies immer in ein und derselben Weise zu äußern, immer so langweilig und so zwecklos? Warum stößt er mich von sich, warum liebt er mich nicht?« frug er sich betrübt und konnte keine Antwort finden.

27.

Nach der Lektion seitens des Lehrers folgte eine Stunde beim Vater. Bis dieser erschien, hatte sich Sergey an den Tisch gesetzt, mit seinem Messerchen spielend, und zu grübeln begonnen. Zu der Zahl der Lieblingsbeschäftigungen Sergeys hatte das Aussuchen seiner Mutter während des Spazierganges derselben gehört. Er glaubte nicht an den Tod überhaupt, und im besonderen nicht an den ihren, soviel ihm auch Lydia Iwanowna davon gesagt und der Vater es bestätigt hatte, und so suchte er sie, auch nachdem man ihm mitgeteilt hatte, daß sie tot sei, noch immer während der Zeit seiner Ausgänge. Jede vollgebaute, graziöse Dame mit dunklem Haar war seine Mutter. Bei dem Anblick einer solchen Dame regte sich in seiner Seele ein Gefühl der Zärtlichkeit, ein Gefühl, daß er tief Atem holte und die Thränen ihm in die Augen traten, und so wartete er denn, dah sie wieder zu ihm kommen und ihren Schleier aufheben möchte. Ihr Gesicht würde wieder sichtbar werden, sie würde wieder lächeln, ihn umarmen, er würde ihren Duft wahrnehmen, die Zartheit ihrer Hand fühlen und glückselig weinen, wie er schon einmal des Abends ihr zu Füßen gefallen war und sie ihn gestreichelt hatte; er aber hatte gelacht und sie in die weiße beringte Hand gebissen. Später, als er dann zufällig von der Kinderfrau erfuhr, daß die Mutter nicht gestorben sei, und sein Vater und Lydia Iwanowna ihm erklärten, sie sei für ihn tot, weil sie nicht gut gewesen – was er durchaus nicht zu glauben vermochte, da sie ihn ja geliebt hatte – so forschte er noch immer nach ihr und wartete auf sie.

Heute nun im Sommergarten war eine Dame in einem lila Schleier gewesen, welcher er mit stockendem Herzen in der Erwartung, sie wäre es, mit den Blicken gefolgt war, während sie auf dem Wege zu ihnen herankam. Die Dame aber hatte sie nicht erreicht, sondern war abgebogen.

Heute nun fühlte Sergey stärker als je die Regungen dieser Liebe zu ihr und völlig sich selbst vergessend in der Erwartung des Vaters, zerschnitt er den ganzen Rand des Tisches mit dem Messerchen, mit blitzenden Augen vor sich hinblickend und ihrer gedenkend.

»Papa kommt,« riß ihn Wasiliy Lukitsch aus seiner Träumerei. Sergey sprang auf, eilte auf seinen Vater zu, küßte ihm die Hand, und blickte ihn aufmerksam an, nach Kennzeichen der Freude über den Empfang des Alexander Newskiy-Ordens an ihm suchend.

»Hast du einen hübschen Spaziergang gemacht?« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, sich in seinen Lehnstuhl setzend, ein Exemplar des Alten Testamentes heranziehend und es aufschlagend. Ungeachtet dessen, daß Aleksey Aleksandrowitsch Sergey öfter gesagt hatte, jeder Christ müsse die biblische Geschichte sicher kennen, hatte er sich doch öfter mit Hilfe des Buches verbessern müssen, und Sergey hatte dies bemerkt.

»Ja, es war sehr lustig, Papa,« sagte er, sich seitwärts auf den Stuhl setzend und ihn schaukelnd – was ihm verboten war.

»Ich habe Nadenka gesehen,« Nadenka war die bei Lydia Iwanowna zur Erziehung befindliche Nichte, »sie hat mir erzählt, daß man Euch einen neuen Stern verliehen hätte. Freut Ihr Euch auch?«

»Zuerst – schaukle nicht, bitte,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, »zweitens eine Belohnung ist nicht kostbar, nur die Arbeit dafür. Ich möchte du verständest dies. Wenn du arbeitest und lernst, zum Zwecke, Früchte dafür zu ernten, so wird dir die Arbeit schwer erscheinen; wenn du aber arbeitest« – sprach Aleksey Aleksandrowitsch, indem er sich vergegenwärtigte, wie er sich nur durch sein Pflichtbewußtsein bei der langweiligen Arbeit des heutigen Morgens, die in dem Unterschreiben von hundertundachtzehn Papieren bestanden, aufrecht erhalten hatte – »indem du die Arbeit selbst liebst, so wirst du für dich selbst darin eine Belohnung finden.«

Die von Zärtlichkeit und Lust glänzenden Augen Sergeys wurden trübe und senkten sich unter dem Blick des Vaters. Das war der nämliche, ihm längst bekannte Ton, mit dem ihm sein Vater stets begegnete, und dem Sergey schon sich anzubequemen gelernt hatte.

Der Vater sprach stets mit ihm – so fühlte Sergey – als wende er sich an einen für ihn nur in der Vorstellung vorhandenen Knaben, einen Knaben, wie sie nur in Büchern vorkommen, und der dem Sergey vollständig unähnlich war; und Sergey bemühte sich nun stets, sich vor dem Vater zu stellen, als sei er ein ebensolcher Bücherknabe.

»Du verstehst das, hoffe ich?« sagte dieser.

»Ja, Papa,« antwortete Sergey, sich stellend, als sei er ein solcher Phantasieknabe.

Die Lektion bestand in dem Auswendiglernen einiger Verse aus dem Evangelium, und der Wiederholung des Anfangs des Alten Testaments. Die Verse des Evangeliums hatte Sergey ordentlich gelernt, aber im selben Augenblick, als er sie hersagte, schaute er auf des Vaters Stirnbein, welches sich so scharf an der Schläfe bog, daß er den Faden verlor und das Ende des einen Verses in einem einzelnen Worte mit dem Anfang des anderen zusammenbrachte. Aleksey Aleksandrowitsch war es klar, daß Sergey nicht verstanden hatte, was er hersagte, und dies reizte ihn.

Er wurde finster und begann wieder das Nämliche zu erklären, was Sergey schon viele Male gehört hatte und nie wieder vergessen konnte, weil er es schon allzu klar erkannt hatte, in der nämlichen Weise, wie dies, daß »plötzlich« ein Umstand der Art und Weise sei.

Sergey schaute mit erschreckten Blick auf den Vater und dachte nur an das Eine: Will der Vater wiederholen lassen oder nicht, was er gesagt hatte, wie es doch bisweilen der Fall war? Dieser Gedanke erschreckte Sergey so sehr, daß er nun gar nichts mehr begriff. Der Vater ließ ihn indessen nicht wiederholen und ging zu der Lektion aus dem Alten Testament über. Sergey recitierte die Ereignisse selbst gut, doch als er Fragen darüber beantworten sollte, was einige der Ereignisse bedeuten sollten, wußte er nichts, obwohl er schon wegen dieser Lektion bestraft worden war. Die Stelle, bei welcher er nichts mehr zu antworten wußte und in Unruhe geriet, in den Tisch schnitt oder mit dem Stuhle schaukelte war die, wo er von den vorsündflutlichen Patriarchen zu sprechen hatte.

Er kannte keinen von ihnen, außer Henoch, der lebendig in den Himmel aufgenommen worden war. Früher hatte er die Namen gewußt, sie jetzt aber ganz und gar vergessen, besonders deshalb, weil Henoch seine Lieblingsgestalt aus dem ganzen Alten Testament war, und sich an dessen Aufnahme bei Lebzeiten in den Himmel eine ganze, lange Reihe von Ideen in seinem Kopfe knüpfte, der er sich auch jetzt hingab, mit den Augen auf der Uhrkette des Vaters und an einem halb zugeknöpften Knopfe der Weste desselben haften bleibend.

An den Tod, von welchem ihm so oft gesprochen wurde, glaubte Sergey nicht so ganz. Er glaubte nicht daran, daß die von ihm geliebten Leute sterben könnten, und insbesondere nicht, daß er selbst sterben würde. Dies war für ihn vollständig unmöglich und unbegreiflich. Doch man sagte ihm, daß alle Menschen sterben müßten; er frug nun selbst die Leute, denen er glaubte, und diese bestätigten es; die Kinderfrau hatte es ihm auch gesagt, wenn schon ungern. Aber Henoch war doch nicht gestorben, und so starben vielleicht nicht alle Menschen.

»Weshalb soll denn nicht jeder sich vor Gott ebenso verdient machen können und lebend in den Himmel aufgenommen werden?« dachte Sergey. Die Bösen, das heißt, die Menschen, welche Sergey nicht liebte, die konnten sterben, doch die Guten konnten sämtlich sein wie Henoch.

»Nun, welche sind die Patriarchen?«

»Henoch, Henoch« –

»Aber das hast du ja schon gesagt. Das ist schlecht, Sergey, sehr schlecht. Wenn du dir nicht Mühe giebst, zu erkennen, was das Nötigste ist von allem für den Christen« – sagte der Vater aufstehend – »was kann dich denn dann noch interessieren? Ich bin unzufrieden mit dir und auch Peter Ignatzitsch« – dies war der Hauptlehrer – »ist unzufrieden mit dir. Ich muß dich bestrafen.«

Der Vater und der Lehrer waren beide mit Sergey unzufrieden, und in der That hatte dieser sehr schlecht gelernt. Damit ließ sich aber durchaus nicht sagen, daß er ein unbefähigter Knabe gewesen wäre. Im Gegenteil, er war viel fähiger, als diejenigen Knaben, welche der Pädagog Sergey als Muster hinstellte. Vom Gesichtspunkte des Vaters aus wollte er nicht lernen, was jene lernten. In Wirklichkeit aber – konnte er es nicht lernen. – Er konnte es deshalb nicht, weil sein Geist Bedürfnisse hatte, welche für ihn viel bindender waren, als die, welche ihm der Vater und der Erzieher auseinandersetzten. Diese Bedürfnisse bestanden in dem Drang zu widersprechen, und er stritt kühnlich mit seinen Erziehern. Sergey war neun Jahre alt, noch ein Kind, aber seine Seele kannte er und sie war ihm teuer, er hütete sie, wie das Augenlid das Auge schützt, und ohne den Schlüssel der Liebe ließ er niemand in seine Seele hinein!

Seine Erzieher beklagten sich über ihn, daß er nicht lernen wolle, aber seine Seele war erfüllt von dem Durst nach Erkenntnis. Und er lernte bei Kapitonitsch, bei der Kinderfrau, bei Nadenka, bei Wasiliy Lukitsch – aber nicht bei seinen Lehrern. – Das Wasser, welches ihm der Vater und der Erzieher auf die Räder gaben, war schon längst versiegt und arbeitete an einem anderen Platze.

Der Vater bestrafte Sergey, indem er ihn nicht zu Nadenka, der Nichte Lydia Iwanownas ließ, aber diese Bestrafung erschien Sergey sehr gelegen zu kommen, Wasiliy Lukitsch war bei guter Laune und wies ihm, wie man Windmühlen baut. Der ganze Abend verging nun über dieser Arbeit und den Gedanken daran, wie sich eine Windmühle so bauen ließe, daß man sich selbst auf ihr drehen könne, indem man sie mit den Armen bei den Flügeln faßte, oder sich daran festband – und sich drehen ließ. –

An die Mutter dachte er den ganzen Abend nicht, doch als er sich ins Bett legte, fiel sie ihm plötzlich wieder ein und er betete in seinen Worten, daß seine Mutter morgen, zu seinem Geburtstage, nicht mehr länger für ihn verborgen bleiben und zu ihm kommen möchte.

»Wasiliy Lukitsch, wißt Ihr, worum ich noch außer dem Sonstigen gebetet habe?«

»Damit Ihr besser lernt?«

»Nein.«

»Vom Spielzeug?«

»Nein. Ihr ratet es nicht. Es ist ausgezeichnet, aber ein Geheimnis! Wenn es sich erfüllt, sage ich es Euch. Habt Ihr es noch nicht heraus?«

»Nein. Ich rate es nicht. Sagt mirs doch, sprach Wasiliy Lukitsch, und lächelte, was bei ihm selten der Fall war. »Doch, legt Euch nur, ich will das Licht auslöschen.«

»Mir ist ohne Licht das, was ich sehe und wovon ich betete, nur noch sichtbarer. Da – beinahe hätte ich jetzt mein Geheimnis verraten!« – sagte Sergey unter heiterem Lachen.

Nachdem man das Licht fortgebracht hatte, hörte und fühlte Sergey seine Mutter. Sie stand über ihm und koste ihn mit liebevollem Blick, doch da erschienen die Windmühlen, sein Messerchen, alles ging durcheinander, und er schlief ein.

28.

In Petersburg angekommen, waren Wronskiy und Anna in einem der besten Hotels abgestiegen. Wronskiy gesondert, in der unteren Etage, Anna oben, mit ihrem Kinde, der Amme und der Zofe, in einem großen Appartement, welches aus vier Zimmern bestand.

Am ersten Tage nach seiner Ankunft fuhr Wronskiy zu seinem Bruder; woselbst er seine in Geschäften von Moskau angekommene Mutter traf. Die Mutter und Schwägerin begegneten ihm, wie sonst, sie frugen über seine Reise ins Ausland, sprachen von gemeinsamen Bekannten, erwähnten aber mit keinem Worte sein Verhältnis zu Anna. Sein Bruder aber kam am anderen Tage früh zu ihm und frug ihn selbst nach ihr und Aleksey Wronskiy erzählte ihm offen, daß er seinen Bund mit der Karenina gleich einer Ehe betrachte; daß er hoffe, die Scheidung zu erlangen und sie dann heiraten werde und daß er sie bis dahin ebenso als sein Weib achte, wie man jedes andere Weib achte, und bat ihn, dies der Mutter und seiner Gemahlin so mitzuteilen.

»Wenn die Welt es nicht billigt, so ist mir das gleichgültig,« sagte Wronskiy, »aber wenn meine Verwandten mit mir in verwandtschaftlichen Beziehungen stehen wollen, so müssen sie in den nämlichen Beziehungen auch mit meiner Frau stehen!«

Der ältere Bruder, welcher die Urteile des jüngeren stets geachtet hatte, wußte nicht recht, ob dies richtig oder falsch sei, so lange die Welt selbst die Frage entschieden haben würde. Er seinerseits hatte gar nichts gegen die Sache und ging zusammen mit Aleksey zu Anna.

Wronskiy sagte in Gegenwart seines Bruders, wie in der aller anderen zu dieser »Ihr«, und verkehrte mit Anna wie mit einer nahen Bekannten, aber doch herrschte die stillschweigende Voraussetzung dabei, daß der Bruder ihre Beziehungen kannte und es wurde davon gesprochen, daß Anna nach dem Gute Wronskiys gehe.

Trotz aller seiner Welterfahrung war Wronskiy nach dem Eintritt in das neue Verhältnis, in welchem er sich befand, in einem furchtbaren Irrtum. Wohl hätte es ihm begreiflich erscheinen müssen, daß die Welt für ihn und Anna verschlossen war, aber jetzt entstanden in seinem Kopfe gewisse unklare Vorstellungen, daß es nur in der älteren Zeit so gewesen sei, und jetzt bei dem schnellen Fortschreiten der Zeit – er war jetzt, ohne daß er selbst es merkte, ein Anhänger jeder Art von Fortschritt geworden – der Blick der Gesellschaft sich verändert habe, und daß auch die Frage, ob sie in der Gesellschaft wieder aufgenommen werden würden, noch nicht entschieden sei. »Natürlich,« dachte er, »die Hofkreise werden Anna nicht aufnehmen, aber die ihr nahestehenden Leute können und müssen die Sache auffassen, wie es sich gehört.«

Man kann einige Stunden sitzen, die Füße übereinandergeschlagen, und in ein und derselben Stellung, wenn man weiß, daß uns nichts hindert, diese Lage zu verändern; wenn aber ein Mensch weiß, daß er so mit untergeschlagenen Beinen sitzen muß, dann befällt ihn der Krampf, die Füße werden zittern und sich nach dem Orte hinziehen, an den man sie bringen möchte.

Dies erfuhr auch Wronskiy an sich bezüglich seiner Stellung zur Welt. Obwohl er aus dem Grund seiner Seele wußte, daß dieselbe für sie beide verschlossen sei, so versuchte er es doch, ob sich die Welt jetzt nicht ändere und sie doch aufnehmen werde. Aber sehr bald wurde er inne, obwohl die Welt für ihn persönlich offen stand, sie doch für Anna verschlossen blieb. Wie bei dem Spiele Katze und Maus, senkten sich die Hände, die vor ihm erhoben wurden, sofort vor Anna. Eine der ersten Damen der Petersburger Gesellschaft, welche Wronskiy wiedersah, war seine Cousine Betsy.

»Endlich!« begegnete ihm diese voll Freude. »Und Anna? Wie freue ich mich. Wo seid Ihr abgestiegen? Ich kann mir denken, wie nach Eurer reizenden Reise unser Petersburg Euch schrecklich sein muß; ich kann mir Euren Honigmond in Rom vorstellen. Was wird mit der Scheidung? Habt Ihr alles besorgt?«

Wronskiy bemerkte, daß der Enthusiasmus Betsys sich verringerte, als sie erfahren hatte, daß eine Scheidung noch nicht erfolgt sei.

»Auf mich wird man den Stein werfen, ich weiß es,« sagte sie, »aber ich werde zu Anna kommen; ja, ich komme sicherlich. Ihr bleibt wohl nur kurze Zeit hier?«

Und in der That, noch am nämlichen Tage kam sie zu Anna gefahren, doch war ihr Ton schon nicht ganz so der nämliche wie früher. Sie war offenbar stolz auf ihre Kühnheit und wünschte, daß Anna die Treue ihrer Freundschaft schätze. Sie blieb nicht länger als zehn Minuten, von den Stadtneuigkeiten sprechend, und sagte beim Abschied: »Ihr habt mir nicht gesagt, wenn die Ehescheidung stattfindet? Gesetzt auch, daß ich meinerseits der Sache durch die Finger sehe, so werden doch die anderen Euch kalt entgegenkommen, so lange Ihr nicht geheiratet habt. Und das geht ja jetzt so leicht. Ca se fait. Ihr reist also Freitag ab? Schade, daß wir uns nicht noch einmal wiedersehen können.«

Am Tone Betsys konnte Wronskiy erkennen, was er von der Welt zu erwarten hatte, er machte aber gleichwohl noch einen Versuch in seiner Familie. Auf seine Mutter hoffte er dabei freilich nicht. Er wußte, daß diese, von Anna in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so entzückt gewesen, ihr gegenüber jetzt unerbittlich hart war, weil sie an der Vernichtung der Carriere ihres Sohnes Schuld trug. Dieser aber setzte große Hoffnungen auf Warja, die Frau seines Bruders. Ihm schien, daß Warja den Stein nicht mit werfen, sondern in ihrer Einfachheit und Entschlossenheit zu Anna kommen und diese auch empfangen würde.

Am Tage nach seiner Ankunft fuhr Wronskiy denn auch zu ihr, und teilte ihr – er traf sie allein an – offen seinen Wunsch mit.

»Du weißt, Aleksander,« sprach sie, ihn ruhig zu Ende hörend, »wie ich dich liebe, und wie bereit ich bin, alles für dich zu thun; doch ich habe geschwiegen, weil ich wußte, daß ich weder dir, noch Anna Arkadjewna nützlich sein kann,« sagte sie, den Namen Anna Arkadiewna mit eigentümlicher Betonung aussprechend. »Denke nicht, daß ich etwa einen Tadel äußern will, vielleicht hätte ich an ihrer Stelle ganz das Nämliche gethan. Ich will und kann nicht auf Einzelheiten eingehen,« fuhr sie fort, zaghaft in sein finsteres Gesicht schauend. »Doch muß man das Ding beim Namen nennen. Du willst, daß ich sie besuche, sie auch empfange, und damit in der Gesellschaft rehabilitiere, aber verstehe wohl, ich kann das ja nicht thun! Meine Töchter wachsen heran und ich muß in der Welt für meinen Mann leben. Nun komme ich zu Anna Arkadjewna; diese wird ihrerseits begreifen, daß ich sie nicht zu mir einladen kann, oder es dann wenigstens so thun müßte, daß sie nicht Leuten begegnet, die andere Anschauungen haben. Das aber wird sie verletzen! Ich kann ihr nicht aufhelfen.«

»Ich kann aber nicht glauben, daß sie tiefer gefallen sein sollte, als Hunderte von Frauen, die Ihr empfangt,« unterbrach sie Wronskiy noch düsterer, und erhob sich schweigend in der Erkenntnis, daß das Urteil seiner Schwägerin unabänderlich sei.

»Aleksey! Sei nur nicht bös! Beherzige, bitte, daß ich nicht schuld bin,« begann Warja wieder, mit schüchternem Lächeln auf ihn blickend.

»Ich zürne dir nicht,« sagte er, noch ebenso finster, »aber mir ist das doppelt schmerzlich. Mir ist noch schmerzlich, daß dieser Umstand unsere Freundschaft zerstört, oder wenn nicht zerstört, so doch schwächt. Du begreifst, daß dies für mich ja auch nicht anders sein kann.«

Mit diesen Worten verließ er sie.

Wronskiy hatte erkannt, daß weitere Versuche vergeblich sein würden, und er diese wenige Tage in Petersburg so zu verleben hätte, wie in einer fremden Stadt, indem er alle Beziehungen zu der früheren Gesellschaft mied, um sich nicht Unannehmlichkeiten und Kränkungen aussetzen zu müssen, die ihm doch so peinlich waren.

Eine der hauptsächlichsten Unannehmlichkeiten seiner Lage in Petersburg war die, daß Aleksey Aleksandrowitsch und sein Name, wie es schien, überall zu finden war. Man konnte von nichts zu sprechen anfangen, ohne daß das Gespräch auf Aleksey Aleksandrowitsch kam, man konnte nirgendshin fahren, ohne ihm zu begegnen. So schien es wenigstens Wronskiy, indem er sich wie ein Mensch mit einem schlimmen Finger vorkam, der, als wäre es absichtlich, gerade mit diesem schlimmen Finger an alles anstößt.

Der Aufenthalt in Petersburg erschien Wronskiy auch noch dadurch um so schwerer, als er während dieser ganzen Zeit in Anna gleichsam ein neues, ihm unverständliches Geschöpf erblickte. Bald war sie wie verliebt in ihn, bald wurde sie kalt, reizbar und unergründlich. Sie litt eine Qual und verbarg Etwas vor ihm; bemerkte aber wie es schien, die Kränkungen nicht, die ihm das Leben vergifteten, und für sie mit ihrem seinen Wahrnehmungsvermögen, doch nur noch qualvoller sein mußten.

 

29.

Unter den Zwecken, welche der Reise nach Rußland zu Grunde lagen, war für Anna auch der des Wiedersehens mit ihrem Sohne. Seit dem Tage, seit welchem sie Italien verlassen, hatte dieser Gedanke nicht aufgehört, sie in Aufregung zu erhalten, und je näher sie Petersburg kam, desto mehr und immer mehr erschien vor ihr das Freudige und Bedeutungsvolle dieses Wiedersehens. Sie legte sich gar nicht die Frage vor, wie sie dieses Wiedersehen bewerkstelligen wollte. Es erschien ihr ganz natürlich und einfach, daß sie ihren Sohn wiedersah, wenn sie mit demselben in einer und derselben Stadt sich befand; allein nach ihrer Ankunft in Petersburg, zeigte sich plötzlich ihre jetzige Stellung in der Gesellschaft klar vor ihr, und sie erkannte, daß es schwierig sei, das Wiedersehen zu ermöglichen.

Bereits zwei Tage war sie in Petersburg. Der Gedanke an den Sohn verließ sie nicht eine Minute, und noch hatte sie ihn nicht gesehen. Geradenwegs in das Haus zu fahren, wo sie mit Aleksey Aleksandrowitsch zusammentreffen konnte, dazu, sie fühlte es, besaß sie nicht das Recht. Man konnte sie vielleicht gar nicht einlassen und sie beleidigen. Zu schreiben und sich mit ihrem Manne in Verbindung zu setzen, war ihr schon dem Gedanken nach peinlich. Sie vermochte nur dann ruhig zu bleiben, wenn sie ihres Mannes gar nicht gedachte. Den Sohn auf dem Spaziergange zu sehen, nachdem sie sich erkundigt hatte, wohin und wann er ausgehe, war ihr nicht genug; sie hatte sich so sehr auf dieses Wiedersehen vorbereitet, sie hatte ihm soviel zu sagen, es verlangte sie so sehr, ihn in ihre Arme zu schließen, ihn zu küssen. Die alte Amme Sergeys konnte ihr behilflich sein und sie benachrichtigen. Aber diese befand sich nicht mehr im Hause Aleksey Aleksandrowitschs. In solcher Ungewißheit und unter Erkundigungen nach der Amme waren die zwei Tage vergangen.

Nachdem Anna von den nahen Beziehungen Aleksey Aleksandrowitschs zur Gräfin Lydia Iwanowna vernommen hatte, entschloß sie sich am dritten Tage, dieser einen Brief zu schreiben, der ihr viel Überwindung kostete, und in welchem sie mit Vorbedacht sagte, daß der Entscheid darüber, ob sie ihren Sohn sehen könne, von der Großmut ihres Mannes abhängen müsse. Sie wußte, daß wenn man den Brief ihrem Manne wies, dieser ihr, seine Rolle des Großmütigen weiterspielend, keinen abschlägigen Bescheid geben würde.

Der Bote, welcher den Brief hingetragen hatte, überbrachte ihr die so harte und unerwartete Nachricht, daß es keine Antwort gebe.

Noch nie hatte sie sich so erniedrigt gefühlt, als in dieser Minute, als sie, den Boten kommen lassend, von diesem die einfache Mitteilung vernahm, daß er gewartet habe, und man ihm endlich gesagt hätte, es würde keine Antwort erteilt werden. Anna fühlte sich gedemütigt, verletzt, aber sie erkannte, daß von ihrem Gesichtspunkt aus die Gräfin Lydia Iwanowna recht habe. Ihr Schmerz war um so größer, als er ein vereinsamter war. Sie konnte und wollte ihn nicht mit Wronskiy teilen. Sie wußte, daß für ihn, obwohl er doch die Hauptursache ihres Unglücks bildete, die Frage ihres Wiedersehens mit ihrem Kinde von höchst geringer Bedeutung sei. Sie wußte, daß er niemals fähig sein werde, ihre Leiden in deren ganzer Tiefe zu verstehen, sie wußte, daß sie ihn wegen eines kühlen Tones bei Erwähnung der Sache würde hassen müssen. Dies aber fürchtete sie über alles in der Welt, und so verbarg sie vor ihm alles, was ihren Sohn betraf.

Den ganzen Tag über zu Haus verweilend, hatte sie die Mittel erwogen, zu einem Wiedersehen mit ihrem Sohne, und war bei dem Entschluß stehen geblieben, an ihren Mann zu schreiben. Sie setzte den Brief noch auf, als ihr das Schreiben Lydia Iwanownas gebracht wurde. Das Schweigen der Gräfin hatte sie beruhigt und besänftigt, das Schreiben aber, und alles das, was sie zwischen den Zeilen desselben las, versetzte sie in solche Erbitterung, erschien ihr, gegenüber ihrer leidenschaftlichen natürlichen Zärtlichkeit für ihr Kind so aufreizend in seiner Gehässigkeit, daß sie gegen andere gereizt wurde und aufhörte, sich selbst anzuklagen.

»Diese Kälte – diese Gefühlsheuchelei!« sagte sie zu sich selbst. »Ihnen war es ein Bedürfnis, mich zu beleidigen und das Kind zu foltern, und ich soll mich vor ihnen demütigen! Um keinen Preis! Sie ist schlechter, als ich! Ich lüge wenigstens nicht!« –

Und nun entschloß sie sich, morgen, am Geburtstage Sergeys, geradenwegs in das Haus Aleksey Aleksandrowitschs zu fahren, die Leute zu bestechen und List anzuwenden, um – koste es was es wolle – den Sohn wiederzusehen und den ungeheuerlichen Trug, mit welchem man das unglückliche Kind umgeben hatte, zu zerstreuen.

Sie fuhr nach einem Spielwarenladen, kaufte Spielzeug und überlegte sich ihren Operationsplan. Frühmorgens, um acht Uhr, wenn Aleksey Aleksandrowitsch, wahrscheinlich, noch nicht aufgestanden war, wollte sie sich hinbegeben; sie wollte Geld nehmen, es dem Portier und dem Diener in die Hände drücken, damit man sie einlasse, und wollte, ohne den Schleier zu lüften, sagen, sie käme von einem Paten Sergeys, um diesem zu gratulieren, und ihr sei aufgetragen, Spielzeug auf das Bett des Kindes zu legen. Sie bereitete sich nicht auf die Worte vor, welche sie zum Sohne sprechen wollte – soviel sie auch darüber nachdachte, sie vermochte nichts auszudenken.

Am andern Tage um acht Uhr morgens, stieg Anna allein aus der Mietkutsche und läutete an der großen Einfahrt ihres ehemaligen Hauses.

»Sieh nach, was man will. Wer die Dame ist,« sagte Kapitonitsch, noch nicht angekleidet, im Überrock und Kaloschen, indem er durch das Fenster nach der Dame blickte, die von einem Schleier bedeckt, dicht vor der Thür stand. Der Gehilfe des Portiers, ein Anna nicht bekannter, junger Bursch, hatte dieser nicht sobald die Thür geöffnet, als sie schon in dieselbe hineintrat, ein Dreirubelpapier aus dem Muff nahm und es ihm in die Hand drückte.

»Sergey – Sergey Aleksandrowitsch,« sprach sie und wollte voranschreiten. Der Gehilfe des Portiers besah das Rubelpapier, hielt sie aber an der zweiten Glasthür fest.

»Was wollt Ihr?« frug er.

Sie hörte weder seine Worte, noch antwortete sie etwas.

Als Kapitonitsch die Verwirrung der Unbekannten bemerkte, kam er selbst zu ihr, ließ sie in die Thür herein und frug, was ihr gefällig wäre.

»Vom Fürsten Skorodumoff komme ich und will zu Sergey Aleksandrowitsch,« sprach sie.

»Der junge Herr ist noch nicht aufgestanden,« antwortete der Portier, sie aufmerksam betrachtend.

Anna hatte durchaus nicht erwartet, daß das vollständig unverändert gebliebene Äußere des Vorzimmers dieses Hauses, in welchem sie neun Jahre gelebt hatte, so mächtig auf sie einwirken würde. Eine nach der anderen, erhoben sich frohe und trübe Erinnerungen in ihrer Seele und für einen Augenblick hatte sie vergessen, weshalb sie hier war.

»Wollt Ihr gefälligst warten?« sagte Kapitonitsch, ihr den Pelz abnehmend. Nachdem er den Pelz abgenommen hatte, blickte er ihr ins Gesicht, erkannte sie und machte schweigend eine tiefe Verbeugung. »Bitte gefälligst, gnädigste Frau,« sagte er zu ihr.

Sie wollte etwas erwidern, doch versagte ihr die Stimme, so daß sie keinen Ton hervorzubringen vermochte. Wie schuldbewußt bittend, blickte sie den Alten, an, und stieg dann mit schnellen Schritten die Treppe hinauf. Ganz vorgebeugt und mit den Kaloschen an den Stufen hängen bleibend, lief Kapitonitsch ihr nach im Bemühen, ihr zuvorzukommen.

»Der Lehrer ist dort, er ist vielleicht nicht angekleidet. Ich muß erst melden.«

Anna ging weiter die ihr bekannte Treppe hinauf, ohne zu verstehen, was der Alte gesprochen hatte.

»Hierher, bitte links. Entschuldigt, daß alles noch unsauber ist. Der junge Herr ist jetzt im früheren Diwanzimmer,« sagte der Portier keuchend. »Gestattet, geduldet Euch ein wenig, Excellenz, ich will nachsehen,« sagte er, öffnete, vor sie tretend, die hohe Thür und verschwand in derselben. Anna blieb stehen und wartete.

»Er ist soeben erwacht,« sagte der Portier, wieder aus der Thür kommend.

Im nämlichen Augenblick, als der Portier dies sagte, hörte Anna den Klang eines kindlichen Gähnens. Schon an der Stimme dieses Gähnens erkannte sie den Sohn und sie sah ihn wie lebendig vor sich.

»Laß Mich hinein, laß mich, laß mich!« sprach sie und trat durch die hohe Thür. Rechts von derselben stand das Bett, und im Bett saß der Knabe, welcher sich aufgerichtet hatte, im halbgelösten Hemdchen, den kleinen Körper vorgebeugt, sich streckend und ausgähnend.

Im Augenblick, als seine Lippen sich schlössen, kräuselten sie sich zu einem glücklichen traumhaften Lächeln, und mit diesem Lächeln legte er sich langsam und zufrieden wieder zurück.

»Mein Sergey!« flüsterte sie, unhörbar an ihn herantretend.

Während ihrer Trennung von ihm, und unter dem Einfluß der Liebe, welche sie in dieser ganzen letzten Zeit empfunden, hatte sie sich ihn als vierjährigen Knaben, so wie sie ihn am liebsten gehabt hatte, vorgestellt.

Jetzt war er schon nicht einmal mehr so, wie sie ihn verlassen hatte. Er hatte sich noch weiter entfernt vom Alter des Vierjährigen, war noch mehr gewachsen und magerer geworden. – Was war das? – Wie hager erschien sein Gesicht, wie kurz war sein Haar? Wie lang seine Hände! Wie hatte er sich verändert seit jener Zeit, da sie ihn verlassen! Aber er war es doch, mit dieser Form seines Kopfes, seinen Lippen, dem geschmeidigen Hals und den breiten kleinen Schultern.

»Sergey!« wiederholte sie dicht über dem Ohr des Kindes. Dieser erhob sich wiederum auf den Ellbogen, wandte den Kopf verwirrt nach beiden Seiten, als suche er etwas und öffnete die Augen. Still und fragend blickte Sergey einige Sekunden auf die unbeweglich vor ihm stehende Mutter, dann lächelte er plötzlich, glückselig, schloß wiederum die noch schlaftrunkenen Augen, und warf sich, nicht mehr zurück, sondern ihr entgegen, in ihre Arme.

»Sergey! Geliebter Knabe!« sprach sie mit erstickter Stimme, mit beiden Armen den blühenden Körper umfangend.

»Mama!« sagte er, sich regend in ihren Armen, um mit wechselnden Stellen seines Leibes ihre Arme berühren zu können.

Schlaftrunken lächelnd, noch immer mit geschlossenen Augen, faßte er mit den runden Ärmchen von der Bettlehne nach ihren Schultern, und warf sich auf sie, jenen lieblichen Schlafduft, jene Wärme von sich ausströmend, die nur bei Kindern da ist, und begann dann, sein Gesicht an ihrem Hals und ihren Schultern zu reiben.

»Ich wußte es,« sagte er, die Augen öffnend. »Heute ist mein Geburtstag. Ich wußte es, daß du kommen würdest. Sogleich werde ich aufstehen.«

Mit diesen Worten kam er zu sich.

Voll Sehnsucht betrachtete ihn Anna; sie sah, wie er gewachsen war und sich in ihrer Abwesenheit verändert hatte. Sie erkannte und erkannte auch nicht seine nackten Füße, die jetzt so groß geworden waren und aus der Bettdecke hervorschauten, sie erkannte diese hager gewordenen Wangen, diese verschnittenen, kurzen Haarlocken im Nacken, auf welchen sie ihn so oft geküßt hatte. Sie befühlte alles dies und vermochte nichts zu sprechen; die Thränen erstickten sie.

»Weshalb weinst du denn Mama?« sagte er, vollständig aus dem Schlafe erwacht. »Mama, weshalb weinst du?« rief er aus mit weinerlicher Stimme.

»Ich weine nicht; ich weine vor Freude; ich habe dich so lange nicht gesehen. Nein, ich werde nicht, werde nicht weinen,« sagte sie, ihre Thränen verschluckend und sich abwendend. »Nun, jetzt mußt du dich aber ankleiden,« fügte sie, sich aufrichtend hinzu, und setzte sich, ohne seine Hände loszulassen, neben seinem Bett auf einen Stuhl, auf welchem sein Anzug bereit lag.

»Wie kleidest du dich ohne mich an? Wie« – wollte sie natürlich und heiter zu sprechen beginnen, aber sie vermochte es nicht, und wandte sich abermals ab.

»Ich wasche mich nicht in kaltem Wasser. Papa hat es nicht gestattet. Aber Wasiliy Lukitsch, den hast du wohl noch nicht gesehen? Er wird gleich kommen. Du hast dich ja auf mein Kleid gesetzt!«

Sergey lachte auf; sie blickte ihn an und lächelte.

»Mama, mein Herz, meine Taube!« rief er aus, sich wieder ihr entgegenwerfend und sie umfangend. Es war, als ob er jetzt erst, indem er ihr Lächeln erblickte, klar erkannt hätte, was vorgefallen sei. »Das ist nicht nötig,« sagte er, ihr den Hut abnehmend, und gleichsam, als ob er sie aufs neue ohne den Hut erkannte, warf er sich abermals ihr entgegen, um sie zu küssen.

»Aber was hast du von mir gedacht? Du hast nicht gemeint, daß ich tot sei?«

»Niemals habe ich es geglaubt.«

»Du hast es nicht geglaubt, mein Herz?«

»Ich habe gewußt, gewußt!« wiederholte er mit seiner Lieblingsphrase, und begann, nachdem er ihre Hand ergriffen, die mit seinem Haar spielte, sie mit der inneren Fläche an seinen Mund zu pressen und zu küssen.

 

3.

Ein Haufe von Menschen, namentlich Weibern, umringte die zur Trauungsfeier erleuchtete Kirche. Diejenigen, welche nicht bis in die Mitte hatten vordringen können, drängten sich um die Kirchenfenster unter Stoßen und Streiten und schauten durch die Gitter.

Mehr als zwanzig Wagen waren bereits von der Polizei die Straße entlang aufgestellt worden und der Polizeioffizier stand, die Kälte nicht achtend, in seiner glänzenden Uniform am Eingang. Unaufhörlich kamen noch weitere Equipagen angefahren und bald traten Damen in Blumenschmuck mit hochgenommenen Schleppen, bald Herren, das Käppi oder den schwarzen Hut abnehmend, in die Kirche ein. In dieser selbst waren die beiden Lustres und alle Kerzen vor den feststehenden Heiligenbildern bereits angezündet. Der goldige Schimmer auf dem roten Fonds des Ikonastas, das vergoldete Schnitzwerk an den Bildern und das Silber der Kronleuchter und Leuchter, die Steinplatten des Fußbodens mit den Teppichen, sowie die Banner oben über den Chören, die Stufen des Altars und die vom Alter schwarzgewordenen Kirchenbücher, die Leibröcke und Chorröcke, alles das war wie von Licht übergossen. Auf der rechten Seite der geheizten Kirche, in der Masse der Fracks und weißen Krawatten, der Uniformen und verschiedenen Stoff-, Samt- und Atlasroben, der Haarfrisuren und Blumen, der dekolletierten Schultern und Arme, und hohen Handschuhe summte ein verhaltenes, aber lebhaftes Gespräch, das seltsam in dem hohen Kuppelbau wiederhallte. Sobald das Kreischen der aufgehenden Kirchenthür ertönte, verstummte das Gespräch in dem Haufen und alles schaute auf in der Erwartung, den eintretenden Bräutigam und die Braut zu erblicken. Aber die Thür hatte sich schon mehr als zehnmal geöffnet, und immer war es nur ein verspäteter Geladener oder eine Geladene gewesen, die sich nun nach rechts dem Kreis der Gäste beigesellte, oder eine Zuschauerin, die den Polizeioffizier überlistet oder nachsichtig gestimmt hatte, und sich nun dem fremden Haufen links anschloß. Die Verwandten und Bekannten hatten schon die ganze Stufenleiter des Wartens durchlaufen.

Anfangs glaubte man, daß der Bräutigam und die Braut in jedem Augenblick erscheinen müßten und schrieb der Verspätung keinerlei Bedeutung zu. Dann begann man öfter und öfter nach der Thür zu schauen, und davon zu sprechen, es möchte doch ja nichts vorgefallen sein. Dann wurde die Verspätung schon peinlich und die Verwandten wie die Gäste gaben sich den Anschein, als ob sie gar nicht mehr an den Bräutigam dächten und ganz von ihrem Gespräch in Anspruch genommen seien.

Der Protodiakonus räusperte sich ungeduldig, gleichsam zur Andeutung des Wertes seiner Zeit, und machte damit die Scheiben in den Fenstern klirren. Auf dem Chor wurden die Proben der Stimmen vernehmbar, dann das Schneuzen der sich langweilenden Chorsänger. Der Geistliche sandte fortwährend bald den Küster, bald den Diakonus nach Erkundigung fort, ob der Bräutigam noch nicht gekommen sei und ging sogar selbst in seinem lilafarbenen Priestergewand mit dem gestickten Gürtel, häufiger und häufiger zu den Seitenthüren, in der Erwartung des Bräutigams.

Endlich sagte eine der Damen nach der Uhr blickend »das ist aber doch seltsam« und alle Trauzeugen gerieten in Unruhe und begannen laut ihre Verwunderung und ihr Mißvergnügen zu äußern. Einer der Herren fuhr wieder fort, sich zu erkundigen, was denn geschehen sei. Kity stand währenddem, schon lange fertig, im weißen Kleid, langen Schleier und Kranz von Pomeranzenblüte nebst der die Mutter und Schwester vertretenden Frau Lwoffs im Saale des Hauses der Schtscherbazkiy und blickte durch das Fenster, schon seit einer halben Stunde vergeblich die Benachrichtigung des Brautführers von der Ankunft des Bräutigams in der Kirche erwartend.

Lewin indessen lief noch, zwar in den Beinkleidern, aber ohne Weste und Frack in seinem Zimmer auf und ab, unaufhörlich den Kopf zur Thür hinaussteckend und den Korridor entlang blickend. Auf dem Korridor jedoch wurde derjenige nicht sichtbar, den er erwartete, und voll Verzweiflung kehrte er, mit den Armen fuchtelnd wieder zurück und wandte sich an den ruhig rauchenden Stefan Arkadjewitsch.

»Hat sich jemals wohl ein Mensch in einer gleich entsetzlichen und albernen Lage befunden?« sagte er.

»Ja, es ist dumm,« bestätigte Stefan Arkadjewitsch, sanft lächelnd, »doch beruhige dich, man wird es sogleich bringen.«

»Nein, sicherlich,« sagte Lewin mit verhaltener Wut, »und diese albernen ausgeschnittenen Westen! Unmöglich!« sagte er mit einem Blick auf den zerknitterten Brusteinsatz seines Oberhemds. »Und wie, wenn die Sachen schon zur Bahn wären?« rief er voll Verzweiflung.

»Dann ziehst du ein Hemd von mir an!«

»Das hätte aber schon längst geschehen sein müssen!«

»Es ist allerdings nicht angenehm, lächerlich zu werden. Warte doch, es wird sich machen.«

Die Sache lag so, daß als Lewin die Toilette befahl, Kusma, der alte Diener Lewins, den Frack, die Weste und alles was nötig war, brachte.

»Und das Hemd?« rief Lewin.

»Das habt Ihr ja schon an,« versetzte Kusma mit stoischem Lächeln.

Kusma hatte nicht daran gedacht, ein frisches Hemd dazubehalten, und nachdem er den Befehl erhalten hatte, alles einzupacken und zu den Schtscherbazkiy zu bringen, von wo aus das junge Ehepaar noch am Abend abreisen wollte, that er also und packte alles ein außer einem Paar Fräcken.

Das am Morgen angezogene Hemd war schon zerknittert, und ließ sich unmöglich unter der modernen offenstehenden Weste tragen. Zu den Schtscherbazkiy zu schicken, war es zu weit. Man schickte in ein Geschäft.

Der Diener kam zurück: »Alles war geschlossen – es ist Sonntag heute.« – Man schickte nun zu Stefan Arkadjewitsch, ein Hemd kam, aber es war viel zu weit und kurz. Man schickte endlich doch zu den Schtscherbazkiy, um wieder auspacken zu lassen. Der Bräutigam wurde in der Kirche erwartet, und lief wie ein im Käfig eingekerkertes, wildes Tier im Zimmer umher, auf den Korridor hinausschauend und mit Entsetzen und Verzweiflung daran denkend, was er Kity sagen sollte und was diese jetzt denken mochte.

Endlich flog der unglückliche Kusma, mit Mühe nach Atem ringend, mit dem Hemd in das Zimmer herein.

»Ich habe sie gerade noch erwischt; die Sachen waren schon auf dem Fuhrwerk,« sagte er.

Drei Minuten später stürzte Lewin, ohne nach der Uhr zu sehen, um seine Wunde nicht noch zu vergrößern, Hals über Kopf den Korridor entlang.

»Damit kannst du nicht mehr viel helfen,« sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd, ihm hastig nachstrebend. »Es wird sich schon machen, es wird sich schon machen – sage ich dir!«