Dreiundvierzigstes Capitel

Dreiundvierzigstes Capitel

Die Talibas. – Verfolgung – Ein verwüstetes Land. – Gemäßigter Wind. – Der Victoria fällt. – Die letzten Vorräthe. – Die Sprünge des Victoria. – Vertheidigung mit Flintenschüssen. – Der Wind wird heftiger. – Der Senegal. Die Katarakten von Guina. – Die erwärmte Luft. – Ueberfahrt über den Fluß.

»Wenn wir nicht so vorsichtig gewesen wären, unser Gewicht gestern Abend zu erleichtern«, sagte der Doctor, »so wären wir jetzt rettungslos verloren.«

»Da sieht man, was es auf sich hat, wenn man seine Sachen zur rechten Zeit besorgt«, philosophirte Joe; »man kommt dann glücklich davon, und nichts ist natürlicher.«

»Wir sind keineswegs außer Gefahr«, bemerkte Fergusson.

»Was besorgst Du denn noch?« fragte Dick. »Der Victoria kann nicht ohne Deine Erlaubnis fallen, und selbst wenn er fallen würde…

»Wenn er fallen würde? Sieh Dich doch um. Dick!« Sie waren gerade über den Saum des Waldes hinausgekommen, und konnten etwa dreißig Reiter mit weiten Beinkleidern und flatternden Burnussen gewahren, die mit Lanzen und Musketen bewaffnet, in dem kurzen Galop ihrer lebhaften, hitzigen Pferde der Richtung des Victoria folgten, während dieser mit mächtiger Schnelligkeit seinen Weg fortsetzte.

Beim Anblick der Reisenden stießen sie ein wildes Geschrei aus und schwangen ihre Waffen; Zorn und Drohung waren auf ihren sonnenverbrannten Gesichtern zu lesen, die durch spärliche aber struppige Bärte ein noch wilderes Aussehen erhielten; ohne Anstrengung überschritten sie die gesenkten Plateaux und Abhänge, die nach dem Senegal abfallen.

»Sie sind es wirklich«, sagte der Doctor; »die grausamen Talibas, die wilden Marabuts des Al-Hadschi! Ich möchte mich lieber im Walde rings von wilden Thieren umgeben wissen, als diesen Banditen in die Hände fallen.«

»Sie sehen allerdings nicht sehr Vertrauen erweckend aus«, meinte Kennedy; »es sind kräftige Kerle!«

»Glücklicher Weise können die Bestien nicht fliegen!« bemerkte Joe; »das ist schon immer etwas.«

»Seht diese zerstörten Dörfer, diese niedergebrannten Hütten!« begann Fergusson wieder; »das ist ihr Werk; da, wo sich einst cultivirte Felder und Gegenden weit hin erstreckten, haben sie Oede und Verheerung verbreitet.«

»Gut, daß sie uns nicht erreichen können«, erwiderte Kennedy; »wenn es uns gelingt, zwischen sie und uns den Fluß zu bringen, sind wir in Sicherheit.«

»Ja, Dick, nur dürfen wir nicht fallen«, hob der Doctor mit einem Blick auf das Barometer hervor.

»Auf alle Fälle werden wir wohl thun, Joe, unsere Waffen in Bereitschaft zu halten«, versetzte Kennedy.

»Das kann nicht schaden, Herr Dick; es wird uns noch sehr zu Statten kommen, daß wir sie unterwegs nicht fortgeworfen haben.«

»Mein Carabiner!« rief der Jäger enthusiastisch; »ich hoffe, daß ich mich niemals von ihm zu trennen brauche.« Und er lud ihn mit der größten Sorgfalt; Pulver und Blei war noch in genügender Quantität vorhanden.

»In welcher Höhe befinden wir uns?« fragte Kennedy den Doctor.

»Wir sind etwa siebenhundertundfünfzig Fuß hoch; aber wir können nicht mehr durch Steigen oder Fallen günstige Luftströmungen aufsuchen, sondern müssen dem Ballon auf Gnade und Ungnade folgen.«

»Das ist sehr fatal«, brummte Kennedy; »der Wind ist ziemlich gemäßigt; wenn uns ein solcher Orkan wie in den vorhergehenden Tagen fortgetragen hätte, so wären die schrecklichen Kerle schon lange außer Sicht.«

»Die Schufte folgen uns in kurzem Galop, wie auf einem gemüthlichen Spazierritt«, sagte Joe ärgerlich.

»Wenn wir sie in Schußweite hätten«, äußerte der Jäger, »würde es mir ein ganz besonderes Vergnügen gewähren, sie Einen nach dem Andern aus dem Sattel zu heben.«

»Ganz gut«, erwiderte Fergusson; »wir wären dann aber gleichfalls in Schußweite, und unser Victoria würde den Kugeln ihrer langen Musketen ein leichtes Ziel bieten; in welcher Lage wir uns aber befinden würden, wenn ihre Kugeln den Ballon zerrissen hätten, magst Du selber ermessen.«

Die Talibas setzten ihre Verfolgung den ganzen Vormittag fort. Um elf Uhr Morgens waren die Reisenden kaum fünfzehn Meilen in der Richtung nach Westen weiter gekommen.

Der Doctor spähte aus, ob sich irgendwelche, wenn auch noch so kleine Wolke am Horizont zeigte. Er fürchtete beständig eine Veränderung in der Atmosphäre. Was sollte aus ihm werden, wenn er nach dem Niger zurückgeworfen wurde? Ueberdies war er sich darüber klar, daß der Ballon merklich fiel; seit dem Aufbruch hatte er sich schon mehr als dreihundert Fuß herabgelassen, und der Senegal mußte jetzt noch ungefähr zwölf Meilen entfernt sein: bei der gegenwärtigen Schnelligkeit mußte man noch auf drei Reisestunden rechnen.

In diesem Augenblick wurde die Aufmerksamkeit der Reisenden durch neues Geschrei angezogen, die Talibas trieben ihre Pferde zu größerer Eile an.

Der Doctor sah nach dem Barometer und begriff sofort die Ursache dieses Geheuls.

»Wir fallen?« fragte Kennedy.

»Ja.«

»Zum Teufel!« dachte Joe.

Nach einer Viertelstunde war die Gondel nicht mehr hundertundfünfzig Fuß vom Boden entfernt, aber der Wind wehte kräftiger.

Die Talibas spornten ihre Pferde an, und bald entlud sich ein Musketenfeuer in die Lüfte!

»Zu weit, ihr Dummköpfe«, schrie Joe hinunter; »es scheint mir gerathen, die Spitzbuben in einer angemessenen Entfernung zu halten.«

Und Joe gab Feuer, indem er einen der am weitesten vorgerückten Reiter auf’s Korn nahm. Der Talibas stürzte zur Erde; seine Begleiter hielten, und der Victoria gewann einen Vorsprung. »Sie sind vorsichtig«, sagte Kennedy.

»Weil sie uns doch sicher zu haben glauben«, ergänzte der Doctor. »Wenn wir noch mehr fallen, sind wir in ihrer Macht; wir müssen durchaus wieder steigen!«

»Was soll ich auswerfen?« fragte Joe.

»Den Rest unserer Pemmican-Vorräthe! damit werden wir noch etwa dreißig Pfund los.«

Joe kam den Befehlen seines Herrn nach.

Die Gondel, die fast schon den Boden berührt hatte, stieg unter dem Wuthgeschrei der Talibas wieder empor; aber eine halbe Stunde später begann der Victoria abermals sich zu senken. Das Gas entwich durch die Poren der Hülle.

Bald streifte die Gondel auf dem Boden hin. Die Neger Al-Hadschi’s stürzten auf sie zu; aber kaum hatte der Victoria die Erde berührt, als er, wie es auch sonst bei Luftfahrten schon beobachtet worden ist, mit einem Sprunge emporschnellte, um sich dann eine Meile weiter wieder herabzulassen.

»Wir sollen ihnen also wirklich nicht entkommen«, fuhr Kennedy zornig los.

»Wirf unsern Vorrath an Branntwein aus, Joe«, rief der Doctor, »unsere Instrumente, Alles, was irgend Gewicht hat, selbst unsern letzten Anker, die Noth drängt!«

Joe schleuderte die Barometer und Thermometer fort, aber all‘ das hatte wenig zu bedeuten, und der Ballon, der einen Augenblick gestiegen war, fiel im nächsten wieder zur Erde. Die Talibas flogen hinter ihm her und waren nur noch zweihundert Schritte von ihm entfernt.

»Wirf die beiden Flinten fort«, rief der Doctor.

»Wenigstens nicht, ohne sie abgefeuert zu haben,« entgegnete der Jäger.

Und vier Schüsse hinter einander schlugen in die Masse der Reiter ein; vier Talihas wurden unter dem wahnsinnigen Schrei der Bande zu Boden gestreckt.

Der Victoria hob sich wieder; er machte ungeheuer weite Sprünge wie ein großer elastischer Ball, der vom Boden zurückprallt.

Es war ein eigenthümliches Schauspiel, wie die Unglücklichen in riesenhaften Luftsprüngen zu fliehen suchten, und dem Antäus gleich, neue Kraft zu gewinnen schienen, sowie sie die Erde berührten.

Aber diese Situation mußte bald ein Ende nehmen. Es war beinahe zwölf Uhr; der Victoria wurde matt, entleerte sich mehr und mehr, nahm eine immer flaschenförmigere Gestalt an, seine Hülle wurde schlaff und schlotternd, und die Falten des verzogenen Seidenzeuges legten sich aneinander.

»Der Himmel verläßt uns«, sagte Kennedy, »wir müssen fallen.«

Joe erwiderte nichts, er sah auf seinen Herrn.

»Nein«, sprach dieser mit Nachdruck, »wir haben noch mehr als hundertundfünfzig Pfund auszuwerfen.«

»Was denn?« fragte Kennedy, der nicht anders dachte, als daß der Doctor närrisch geworden sei.

»Die Gondel!« antwortete Fergusson ruhig. »Hängen wir uns in das Netz! wir können uns an den Maschen halten und so den Fluß erreichen! Schnell! schnell!«

Und die kühnen Männer zögerten nicht, dies Rettungsmittel in Ausführung zu bringen. Sie hingen sich, wie es der Doctor angegeben hatte, in die Maschen des Netzes, Joe hielt sich mit einer Hand und schnitt mit der andern die Seile der Gondel ab; sie fiel in demselben Augenblick, wo das Luftschiff sich definitiv niederlassen wollte.

»Hurrah! hurrah!« rief Joe, als der Ballon entlastet dreihundert Fuß in die Luft schnellte.

Die Talibas trieben ihre Pferde an; sie flogen in gestrecktem Galop dahin; aber der Victoria, der jetzt in eine kräftigere Windströmung gerathen war, eilte vor ihnen her und wandte sich in raschem Fluge nach einem Hügel, der den Horizont im Westen begrenzte: ein günstiger Umstand für die Reisenden, da sie darüber hinwegziehen konnten, wahrend die Horde Al-Hadschi’s gezwungen war, sich nördlich zu wenden, um die Anhöhe zu umgehen.

Die drei Freunde klammerten sich an das Netz; es war ihnen gelungen, es unter sich zusammenzuknüpfen, und so bildete es gleichsam eine hin und herschwankende Tasche.

Plötzlich, als der Hügel überschritten war, jubelte der Doctor triumphirend:

»Der Strom! der Strom! der Senegal!«

Zwei Meilen von ihnen rollte wirklich der Strom seine breite Wassermasse dahin; das gegenüberliegende, niedere, fruchtbare Ufer bot eine sichere Zuflucht und einen günstigen Platz, um die Landung zu bewerkstelligen.

»Noch eine Viertelstunde, und wir sind gerettet!« sagte Fergusson.

Aber es sollte sich anders gestalten; der leere Ballon fiel allmälig auf ein Terrain herab, das fast ganz der Vegetation entbehrte; lange Bergabhänge und von Felsen unterbrochene Ebenen, kaum einige Büschel dichtes, unter der Sonnengluth vertrocknetes Gras.

Mehrmals berührte der Victoria den Boden, um dann wieder zu steigen; seine Sprünge nahmen an Höhe und Weite ab; bei dem letzten hakte er mit dem obern Theile des Netzes an den hohen Zweigen eines Baobab, des einzigen, isolirt stehenden Baumes in diesem wüsten Lande, an.

»Es ist vorbei!« seufzte der Jäger.

»Und nur hundert Schritt von dem Flusse,« fügte Joe hinzu.

Die drei Unglücklichen setzten den Fuß auf den Erdboden, und der Doctor führte seine beiden Gefährten zum Senegal.

Der Fluß ließ an dieser Stelle ein langgezogenes Donnerrollen vernehmen; als Fergusson am Ufer anlangte, erkannte er die Wasserfälle von Guina! Es war keine Barke am Ufer, kein lebendes Wesen zu erblicken.

Auf einer Breite von zweitausend Fuß stürzte sich mit Getöse der Senegal aus einer Höhe von hundertundfünfzig Fuß herab. Er strömte von Osten nach Westen, und die Felsenlinie, die seinen Lauf versperrte, erstreckte sich von Norden nach Süden. In der Mitte des Wasserfalls ragten seltsam gestaltete Felsen, wie kolossale, antediluvianische Thiere hervor, die mitten im Wasser versteinert waren.

Die Unmöglichkeit, über diesen Fluß zu kommen, zeigte sich auf den ersten Blick, und Kennedy konnte eine Bewegung der Verzweiflung nicht unterdrücken.

Aber Doctor Fergusson rief mit energisch-kühnem Ausdruck in Ton und Blick:

»Es ist noch nicht Alles vorbei!«

»Das wußte ich wohl,« sprach Joe mit dem alten, festen Vertrauen auf seinen Herrn, das ihm durch nichts geraubt werden konnte.

Der Anblick des vertrockneten Grases hatte den Doctor auf einen verwegenen Gedanken gebracht. Auf eine Weise konnte man sich vielleicht noch retten. Er führte schnell seine Begleiter zu der Hülle des Luftschiffes zurück.

»Wir haben vor diesen Strolchen noch mindestens eine Stunde voraus, stellte er seinen Freunden vor; laßt uns jedoch keine Zeit verlieren und sammelt eine große Menge von dem trockenen Grase; ich brauche wenigstens hundert Pfund davon.

– Was willst Du damit anfangen? fragte Kennedy.

– Ich habe kein Gas mehr; darum bleibt mir nichts übrig, als den Fluß mit Hilfe erwärmter Luft zu überschreiten.

– Ach, mein Samuel, Du bist wirklich ein großer Mann!«

Joe und Kennedy machten sich sogleich an’s Werk, und bald war ein mächtiger Heuhaufen neben dem Baobab aufgethürmt.

Unterdessen hatte der Doctor die Mündung des Luftschiffes vergrößert, indem er viel von seinem untern Theile abschnitt; vorher sorgte er dafür, den Rest des Wasserstoffgases, der sich etwa noch darin befand, durch Oeffnen der Klappe zu entfernen; dann schichtete er eine tüchtige Menge trockenes Gras unter der Hülle, auf und zündete dasselbe an.

Es ist nur kurze Zeit dazu erforderlich, einen Ballon mit. erwärmter Luft aufzublähen; eine Hitze von hundertundachtzig Grad [Fußnote] genügt, um die Schwere der eingeschlossenen Luft durch Verdünnung um die Hälfte zu verringern. So begann der Victoria allmälig seine abgerundete Gestalt wieder anzunehmen, an Gras fehlte es nicht; das Feuer wurde lebhaft unterhalten, und das Luftschiff gestaltete sich zusehends runder.

Es war jetzt dreiviertel auf ein Uhr.

In diesem Augenblick erschien in einer Entfernung von zwei Meilen die Bande der Talibas in nördlicher Richtung; man hörte ihr Geschrei und den Galop der Pferde, die in aller Schnelligkeit daherstürmten.

»In zwanzig Minuten sind sie hier«, berechnete Kennedy.

»Gras! Gras! Joe. In zehn Minuten sind wir hoch in der Luft!«

Joe brachte eilig mehr Feuerungsmaterial herbei. Der Victoria war zu zwei Dritteln aufgebläht.

»Nun klammern wir uns, wie vorher, an das Netz an.«

»Wir sind bereit!« antwortete der Jäger.

Nach zehn Minuten kündigten einige Erschütterungen des Ballons sein Streben an, in die Lüfte zu steigen. Die Talibas nahten; sie waren kaum mehr fünfhundert Schritt entfernt.

»Haltet Euch gut!« rief Fergusson.

»Fürchten Sie nichts, Herr Doctor.«

Dieser stieß mit dem Fuß noch eine Menge Gras auf den Feuerherd.

Der Ballon, welcher nun durch die Hitze vollständig ausgedehnt war, entfloh, indem er an den Zweigen des Baobab hinfuhr.

»Fort!« schrie Joe.

Ein Musketenfeuer antwortete ihm; eine Kugel streifte sogar seine Schulter; aber Kennedy bog sich vor, feuerte mit einer Hand, seinen Carabiner ab und streckte noch einen Feind zu Boden.

Ein Wuthgeschrei, das jeder Beschreibung spottet, folgte der Flucht des Luftschiffes, das beinahe achthundert Fuß hoch stieg. Ein schneller Wind erfaßte es, und der Ballon beschrieb angsterregende Schwankungen, während der unerschrockene Doctor und seine Gefährten sahen, wie sich der Schlund der Katarakten unter ihnen aufthat.

Zehn Minuten später senkten sich die kühnen Reisenden, ohne ein Wort gewechselt zu haben, allmälig dem andern Ufer des Flusses zu.

Dort stand überrascht, vor Verwunderung und Schrecken außer sich, eine Gruppe von zehn Männern, die französische Uniform trugen. Man denke sich ihr Erstaunen, als sie den Ballon an dem rechten Ufer des Flusses aufsteigen sahen. Sie waren nicht weit davon entfernt, an ein Himmelsphänomen zu glauben. Aber ihre Anführer, ein Lieutenant von der Marine und ein Fähnrich zur See, hatten durch europäische Zeitungen Kenntniß von dem verwegenen Unternehmen des Doctor Fergusson, und wußten sich sofort das Ereigniß zu erklären.

Der Ballon, welcher allmälig wieder zusammenklappte, fiel mit den kühnen Luftschiffern, die sich an seinem Netze festhielten, immer tiefer, und es war zweifelhaft, ob er das jenseitige Ufer erreichen würde; deshalb stürzten sich die Franzosen in den Fluß und fingen die drei Engländer in ihren Armen auf, als der Victoria einige Toisen von dem linken Ufer des Senegal herniederkam.

»Doctor Fergusson?« rief der Lieutenant aus.

»Er und seine beiden Freunde,« antwortete ruhig der Doctor.

Die Franzosen trugen die Reisenden aus dem Flusse, während der halb entleerte Ballon, von einem wilden Strudel fortgerissen, wie eine ungeheure Blase dahinschwamm, um sich mit den Wassern des Senegal in die Katarakten von Guina zu versenken.

»Der arme Victoria,« rief Joe.

Der Doctor konnte eine Thräne nicht zurückhalten; er breitete seine Arme aus und zog, von mächtiger Bewegung überwältigt, seine Freunde an die Brust.

Vierundvierzigstes Capitel

Vierundvierzigstes Capitel

Schluß. – Das Protokoll. – Die französischen Niederlassungen. – Der Posten von Medine. – Der Basilic. – Saint-Louis. – Die englische Fregatte. – Rückkehr nach London.

Die Expedition, welche sich am Uferrande des Senegal befand, war von dem Gouverneur abgesandt worden; sie bestand aus zwei Officieren, den Herren Dufraisse, Infanterielieutenant von der Marine, und Rodamel, Fähnrich zur See, aus einem Sergeanten und sieben Soldaten. Seit zwei Tagen beschäftigten sie sich damit, eine geeignete Lage für die Aufstellung eines Postens in Guina ausfindig zu machen, als sie von der Ankunft des Doctor Fergusson Zeuge waren.

Man kann sich leicht eine Vorstellung von den Glückwünschen und Umarmungen machen, von denen die drei Reisenden fast erdrückt wurden. Die Franzosen, welche mit eigenen Augen dem Ausgang der kühnen Reise beigewohnt hatten, wurden die natürlichen Zeugen Samuel Fergusson’s.

Daher ersuchte sie der Doctor auch gleich zu Anfang, ihm seine Ankunft an den Katarakten zu Guina officiell zu beglaubigen.

»Sie werden nichts dagegen einzuwenden haben, das Protokoll zu unterzeichnen? fragte er den Lieutenant Dufraisse.

– Stehe gern zu Diensten,« war die höfliche Erwiderung.

Die Engländer wurden zu einem provisorischen, am Ufer des Flusses aufgestellten Posten geführt; sie fanden dort das aufmerksamste Entgegenkommen und Lebensmittel im Ueberfluß. Hier wurde in folgenden Worten nachstehendes Protokoll aufgenommen, das gegenwärtig im Archiv der Königlich Geographischen Gesellschaft zu London aufbewahrt wird:

»Wir Endesunterzeichnete erklären, daß am untengenannten Tage wir mit angesehen haben, wie Doctor Fergusson und seine beiden Begleiter Richard Kennedy und Joseph Wilson [Fußnote], im Netze eines Ballons hangend, hier ankamen, welcher besagte Ballon einige Schritte von uns entfernt in das Flußbett gefallen ist, von der Strömung mit fortgerissen wurde, und in den Katarakten von Guina unterging.

»Zur Beglaubigung vorstehender Angabe haben wir das gegenwärtige Protokoll unterzeichnet, contradictorisch mit den Obgenannten, behufs rechtskräftigen Beweises.

»Verhandelt an den Katarakten von Guina, den 24. Mai 1862.

V. G. U.

»Samuel Fergusson, Richard Kennedy, Joseph Wilson; Dufraisse, Infanterielieutenant von der Marine; Rodamel, Fähnrich zur See; Dufays, Sergeant; Flippeau, Mayor, Pélissier, Lorois, Rascagnet, Guillon, Lebel, Soldaten.«

So endigte die staunenswerthe Reise des Doctor Fergusson und seiner tapfern Begleiter, die durch unwiderlegliche Zeugnisse constatirt ist; sie befanden sich bei Freunden, unter gastlicheren Volksstämmen, die mit den französischen Niederlassungen in Verkehr stehen.

Sonnabend, den 24. Mai, waren sie im Senegal angekommen, und erreichten am 27. desselben Monats den Posten von Medine, der ein wenig nördlicher am Flusse gelegen ist.

Die französischen Officiere empfingen sie dort mit offenen Armen, und ließen ihnen alle nur erdenklichen Beweise der Gastfreundschaft zu Theil werden. Der Doctor und seine Begleiter fanden Gelegenheit, sich fast sofort auf einem kleinen Dampfer, dem Basilic, einzuschiffen, der den Senegal bis zur Mündung herabfuhr.

Vierzehn Tage später, am 10. Juni, kamen unsere Reisenden in Saint Louis an, wo sie der Gouverneur unter großen Ehrenbezeugungen empfing; sie waren von ihren Strapazen und Gemüthsbewegungen wieder vollständig hergestellt. Uebrigens sprach sich Joe gegen Jeden, der es hören wollte, etwa in folgender Weise aus:

»Im Ganzen und Großen war unsere Reise ziemlich eintönig, und Jemandem, der aufregende Abenteuer liebt, rathe ich entschieden von einer derartigen Unternehmung ab. Man wird der Geschichte leicht überdrüssig, und hätten wir nicht am Tschad-See und am Senegal einiges Interessante erlebt, so wären wir vor Langerweile umgekommen!«

Eine englische Fregatte wollte gerade in See gehen; die drei Reisenden begaben sich unverzüglich an Bord und kamen am 25. Juni in Portsmouth und folgenden Tages in London an.

Wir wollen keine Schilderung von der Aufnahme entwerfen, die sie in der Königlich Geographischen Gesellschaft fanden, noch von der Anerkennung sprechen, die ihnen überall entgegengebracht wurde. Kennedy reiste alsbald wieder mit seinem vortrefflichen Carabiner nach Edinburg ab; es drängte ihn, seine alte Haushälterin zu beruhigen.

Doctor Fergusson und sein treuer Joe blieben dieselben, wie wir sie auf der Reise kennen gelernt haben; doch hatte, ihnen selber unbewußt, eine Veränderung in ihrem Verhältniß zu einander stattgefunden.

Sie waren Freunde geworden.

Die Zeitungen von ganz Europa wußten in ihren Lobreden auf die kühnen Entdeckungsreisenden kein Ende zu finden, und der »Daily Telegraph« ließ an dem Tage, wo er einen Auszug der Reisebeschreibung veröffentlichte, fast neunhundertsiebenundsiebzigtausend Exemplare abziehen.

Doctor Fergusson erstattete in einer öffentlichen Sitzung der Königlich Geographischen Gesellschaft Bericht über seine aeronautische Expedition und erhielt für sich und seine beiden Begleiter die goldene Medaille zur Belohnung für die merkwürdigste Forschungsreise im Jahre 1862.

Fünftes Capitel

Fünftes Capitel

Träume Kennedy’s. – Artikel und Pronomina in der Mehrzahl. – Dick’s Insinuationen. – Spaziergang auf der Karte von Afrika. – Was zwischen den beiden Spitzen des Zirkels bleibt. – Gegenwärtige Expeditionen. – Speke und Grant. – Krapf, von Decken, von Heuglin.

Doctor Fergusson betrieb die Vorbereitungen zur Abreise äußerst rührig, und leitete selbst, gewissen Angaben gemäß, über die er das absoluteste Schweigen beobachtete, den Bau seines Luftschiffes. Er hatte sich schon seit geraumer Zeit mit dem Studium der arabischen Sprache und verschiedener Mundarten der Mandingos beschäftigt und machte, in Folge seiner vortrefflichen Anlagen zu einem Polyglotten, reißende Fortschritte.

Inzwischen verließ ihn sein Freund, der Jäger, nicht; er blieb ihm so ängstlich zur Seite, als fürchte er, daß der Doctor sich einmal, ohne vorher etwas davon zu sagen, in die Lüfte schwingen könne. Er hielt ihm, um ihn von seinem gefährlichen Vorhaben abzubringen, die überzeugendsten Reden, aber sie überzeugten Samuel Fergusson nicht; er erging sich in den gefühlvollsten, inständigsten, flehentlichsten Bitten, aber den Doctor vermochten sie nicht zu rühren. Dick merkte, wie ihm sein Freund förmlich zwischen den Fingern durchschlüpfte.

Der arme Schotte war wirklich zu beklagen; er konnte nicht mehr ohne düstere Schreckensregungen zum azurblauen Himmelsgewölbe aufschauen; er hatte im Schlaf das Gefühl eines schwindelerregenden Wiegens und Schaukelns, und jede Nacht kam es ihm vor, als stürze er jäh von unermeßlichen Höhen herab.

Wir müssen noch hinzufügen, daß er unter diesen schrecklichen Anfällen von Beklemmungen und Alpdrücken ein oder zwei Mal aus dem Bette fiel, worauf es dann andern Morgens seine erste Sorge war, Fergusson eine starke Quetschung zu zeigen, die er sich am Kopfe dabei zugezogen hatte.

»Und doch,« fügte er hinzu, »bedenke – nur drei Fuß hoch, und schon eine solche Beule! Nun bitte ich Dich zu erwägen – –!« Diese schwermuthsvolle Andeutung machte auf unsern Doctor indessen keinen Eindruck.

»Wir werden nicht fallen«, erwiderte er kurz.

»Es wäre aber doch möglich …«

»Ich sage Dir, wir werden nicht fallen!«

Auf eine so entschiedene Meinungsäußerung blieb dann Kennedy nichts übrig, als zu verstummen. –

Was den guten Dick besonders beunruhigte und reizte, war der Umstand, daß Fergusson seit einiger Zeit einen unerträglichen Mißbrauch mit der ersten Person Pluralis der Pronomina trieb:

»Wir werden an dem und dem bereit sein …, wir werden dann und dann abreisen« …, »wir werden da und da vorgehen« …, hieß es bei jeder Gelegenheit.

Und ebenso machte er es mit dem Possessiv-Pronomen in der Einzahl wie in der Mehrzahl:

›Unser‹ Ballon …, ›unser‹ Schiff …, ›unsere‹ Entdeckungsreise …, ›unsere‹ Vorbereitungen …, ›unsere‹ Entdeckungen …, ›unsere‹ Steigungen … und dem armen Schotten schauderte dabei die Haut, obgleich er fest entschlossen war, nicht zu reisen.

Aber er mochte seinem Freunde auch nicht zu sehr widersprechen, und wir wollen sogar gestehen, daß er sich ganz in der Stille aus Edinburg zur Reise geeignete Kleider hatte nachschicken lassen.

Eines Tages, als er sich herbeigelassen hatte, zuzugestehen, daß bei einem unverschämten Glück die Chancen für ein Gelingen des Unternehmens etwa wie eins zu tausend ständen, that er so, als füge er sich den Wünschen des Doctors; begann aber, um die Reise weiter in die Ferne zu rücken, eine lange Reihe der mannigfachsten Ausflüchte.

Er verbreitete sich darüber, ob die Expedition wirklich nützlich und zeitgemäß, ob diese Entdeckung der Nilquellen in der That nothwendig sei? … ob man sich würde sagen können, daß man für das Glück der Menschheit gearbeitet habe? … und ob die Völkerstämme Afrika’s sich, wenn sie der Civilisation zugänglich gemacht wären, dadurch glücklicher fühlen würden? …

Ob man übrigens darüber ganz sicher sei, daß die Civilisation nicht vielmehr dort, als in Europa angetroffen werde? … Vielleicht ja. – Und ob man nicht noch mit der Expedition warten wolle? … Man würde einst gewiß auf mehr praktische und weniger lebensgefährliche Weise Afrika durchreisen … Wer weiß, ob das nicht schon in einem Monat, in einem halben Jahr der Fall sein könne; vor Ablauf eines Jahres würde ohne allen Zweifel irgend ein Entdeckungsreisender dahin kommen …

Diese Andeutungen brachten eine Wirkung hervor, die durchaus nicht beabsichtigt war; der Doctor gerieth vor Ungeduld außer sich.

»Möchtest Du unglücklicher Dick, Du falscher Freund denn wirklich, daß solcher Ruhm einem Andern zu Gute käme? Soll ich meine ganze Vergangenheit Lügen strafen? vor Hemmnissen, die keine wirklichen Hindernisse sind, zurückbeben? mit feigem Zögern vergelten, was die englische Regierung und die Königlich Geographische Gesellschaft zu London für mich gethan haben?«

»Aber …«, begann von Neuem Kennedy; er schien eine ganz besondere Vorliebe für diese Conjunction zu haben.

»Aber«, fuhr der Doctor fort, »weißt Du denn nicht, daß meine Reise mit den gegenwärtig in der Ausführung begriffenen Unternehmungen in Concurrenz treten soll? Daß schon wieder neue Entdecker sich rüsten, um nach Central-Afrika zu gehen?«

»Aber …«

»Höre mich genau an. Dick, und wirf einen Blick auf diese Karte.«

Dick ergab sich in sein Schicksal und that, wie ihm geheißen.

»Verfolge den Lauf des Nil«, sagte Fergusson, »und reise nach Gondokoro.«

Kennedy dachte, wie leicht doch solche Reise sei … auf der Karte.

»Nimm eine der Spitzen dieses Zirkels«, versetzte der Doctor, »und setze sie auf diese Stadt, über welche die Kühnsten kaum hinaus gekommen sind. Und jetzt suche an der Küste die Insel Zanzibar, unter dem 6.° südl. Breite. Folge sodann diesem Parallelkreise bis Kaseh, gehe an dem 33. Längengrade entlang bis zum Beginn des Ukerewe-Sees, der Stelle, bis zu welcher der Lieutenant Speke kam.«

»Ich bin glücklich am Ziel! Noch etwas weiter, und ich wäre in den See gefallen.«

»Nun, weißt Du wohl, was man nach den von den Ufervölkern gegebenen Belehrungen mit Recht voraussetzen darf?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Daß dieser See, dessen unteres Ende unter 2° 30′ Breite liegt, sich gleichfalls zwei und ein halb Grad über den Aequator erstrecken muß.«

»Wirklich?«

»Nun geht aber von diesem nördlichen Ende ein Wasser aus, das sich nothwendig mit dem Nil vereinigen muß, wenn es nicht der Nil selbst ist.«

»Das wäre merkwürdig.«

»Setze nun die andere Spitze Deines Zirkels auf dieses Ende des Ukerewe-Sees. Wie viel Grade zählst Du zwischen den beiden Spitzen?«

»Kaum zwei Grade.«

»Und weißt Du, wie viel Meilen das sind. Dick?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Kaum hundertundzwanzig Meilen, also so gut wie gar nichts.«

»So gut wie gar nichts, Samuel?«

»Weißt Du denn vielleicht, was in diesem Augenblick vorgeht?«

»Nein, auf mein Wort!«

»Nun, so höre. Die Geographische Gesellschaft hat die Erforschung dieses von Speke entdeckten Sees als sehr wichtig erkannt. Unter ihren Auspicien hat sich der Lieutenant, jetzt Kapitän Speke, mit dem Hauptmann im indischen Heere, Herrn Grant, vereinigt; sie haben sich an die Spitze einer zahlreichen, trefflich ausgerüsteten Expedition gestellt und sollen jetzt den Auftrag ausführen, über den See zu setzen und dann nach Gondokoro zurückkehren; man hat ihnen Subsidien im Betrage von über fünftausend Pfund gewährt, und der Gouverneur des Caplandes stellt ihnen hottentottische Soldaten zur Verfügung. Ende October 1860 sind sie von Zanzibar aufgebrochen. Unterdessen hat der Engländer John Petherick, Ihrer Majestät Consul in Chartum, von dem Foreign-Office etwa siebenhundert Pfund bekommen, um ein Dampfboot in Chartum auszurüsten, es mit genügenden Vorräthen zu versehen und sich nach Gondokoro zu begeben; dort wird er die Karawane des Kapitän Speke erwarten und im Stande sein, sie neu zu verproviantiren.«

»Fein ausgedacht«, sagte Kennedy.

»Du siehst also, daß es Eile hat, wenn wir uns an diesen Forschungsarbeiten betheiligen wollen. Und das, was ich Dir eben mitgetheilt habe, ist noch nicht Alles; wahrend man sichern Schrittes auf die Entdeckung der Nilquellen losgeht, dringen andere Reisende kühn in das Herz von Afrika vor.«

»Zu Fuß«, warf Kennedy ein.

»Ja wohl, zu Fuß«, antwortete der Doctor, ohne die Andeutung verstehen zu wollen. »Der Doctor Krapf beabsichtigt, im Westen auf dem Dschobflusse unter dem Aequator vorzugehen; und Baron von Decken hat Monbas verlassen, die Kenian- und Kilimandscharo-Berge recognoscirt und rückt gegen Central-Afrika vor.«

»Immer zu Fuß?«

»Immer zu Fuß oder auf Maulthieren.«

»Das ist in meinen Augen genau dasselbe«, meinte Kennedy.

»Endlich«, fuhr der Doctor fort, »hat Herr von Heuglin, österreichischer Vice-Consul in Chartum, eine sehr bedeutende Expedition organisirt, deren erster Zweck der ist, den Reisenden Vogel aufzusuchen, der im Jahre 1853 nach Sudan geschickt wurde, um an den Arbeiten des Doctor Barth Theil zu nehmen. Im Jahre 18S6 verließ er Bornu mit dem Entschluß, das unbekannte Land zwischen dem Tschad-See und Darfur zu erforschen; seit dieser Zeit ist er aber nicht wieder erschienen. Briefe, die im Juni 1860 nach Alexandrien gelangten, haben berichtet, daß er auf Befehl des Königs von Wadai ermordet worden sei; aber andere Nachrichten, von Doctor Hartmann an den Vater des Reisenden gesandt, theilen uns mit, daß Vogel nach den Erzählungen eines Fellatahs von Bornu nur in Wara gefangen gehalten werde; alle Hoffnung ihn wiederzufinden ist also noch nicht verloren. Unter dem Vorsitz des regierenden Herzogs von Sachsen-Coburg-Gotha hat sich ein Comité gebildet (mein Freund Petermann ist Secretär desselben); und eine nationale Subscription hat die Kosten dieser Expedition, der sich zahlreiche Gelehrte angeschlossen haben, bestritten. Herr von Heuglin hat sich im Monat Juni von Massauah aus auf den Weg gemacht, und während er den Spuren Vogel’s nachgeht, ist es zugleich seine Aufgabe, alles zwischen dem Nil und dem Tschad-See liegende Land zu erforschen, d. h. die Reisen des Kapitän Speke mit denen des Doctor Barth zu verknüpfen. Und wenn dies geschehen ist; wird Afrika von Osten bis nach Westen durchwandert sein!« [Fußnote]

»Das ist ja prächtig«, versetzte der Schotte, »wenn sich das Alles so gut einfädelt, haben wir dort unten doch eigentlich nichts mehr zu suchen.«

Doctor Fergusson antwortete nicht; er zuckte nur verächtlich mit den Achseln.

Sechstes Capitel

Sechstes Capitel

Ein undenklicher Bedienter. – Er bemerkt die Trabanten des Jupiter. – Dick und Joe im Streit. – Zweifel und Glaube. – Das Wiegen. – Joe. – Wellington. – Er erhält eine halbe Krone.

Doctor Fergusson hatte einen ganz unglaublich eifrigen Bedienten, der auf den Namen Joe hörte: eine vortreffliche Natur, und seinem Herrn mit Leib und Seele ergeben. Er pflegte sogar seine Befehle schon mit richtigem Verständniß auszuführen, noch ehe jener sie ausgesprochen hatte, und war niemals mürrisch oder verdrießlich, sondern ein stets gutgelaunter Caleb; man hätte sich einen vorzüglicheren Diener überhaupt nicht denken können.

Fergusson konnte sich, was die Einzelheiten seiner Existenz betraf, vollständig auf ihn verlassen. – Ja, es war ein ausgezeichneter, ein braver Joe! ein Diener, der das Mittagessen anordnet, der den Geschmack seines Herrn zu dem seinigen gemacht hat, der den Koffer packt und weder Strümpfe noch Hemden vergißt, und der die Schlüssel und Geheimnisse des Herrn unter seinen Händen hat, ohne jemals irgend welchen Mißbrauch damit zu treiben.

Aber was war auch der Doctor für ein Mann in den Augen unseres würdigen Joe! mit welcher Achtung und welchem Vertrauen nahm er seines Herrn Rathschläge an! Wenn Fergusson einmal gesprochen hatte, konnte nur ein Thor etwas dagegen einwenden! Alles, was er dachte, war richtig, Alles, was er sagte, vernünftig, Alles, was er unternahm, möglich, und Alles, was er vollendete, bewundernswerth. Man hätte Joe in Stücke zerhauen können, eine Procedur, die jedenfalls nur mit dem größesten Widerstreben vollzogen worden wäre – nie würde er seine Meinung rücksichtlich des Doctors, seines Herrn, geändert haben.

Wenn demnach Fergusson den Plan aussprach, Afrika durch die Lüfte zu bereisen, so war dies für Joe eine abgemachte Sache; Hindernisse gab es von dem Augenblick, in welchem der Doctor die Unternehmung beschlossen hatte, nicht mehr, und daß er, der treue Diener, seinen Herrn begleiten würde, unterlag für ihn nicht dem geringsten Zweifel, obgleich noch nie die Rede davon gewesen war.

Es sollte ihm übrigens vorbehalten sein, durch seine Einsicht und erstaunliche Gewandtheit seinem Herrn die größten Dienste zu leisten. Wenn man für die Affen im Zoologischen Garten einen Turnlehrer gesucht hätte, so wäre er der richtige Mann dafür gewesen; denn springen, klettern, fliegen und tausend unmögliche Kunststücke ausführen, war für ihn eine Kleinigkeit.

Wenn Fergusson der Kopf und Kennedy der Arm bei der Expedition war, so sollte Joe die Hand sein. Er hatte seinen Herrn schon auf mehreren Reisen begleitet und war im Besitz einiger oberflächlicher Kenntnisse, die er sich auf seine Weise nach und nach angeeignet hatte; aber seine Hauptstärke bestand in einer herrlichen Lebensweisheit, einem angenehmen Optimismus; er fand Alles leicht, logisch, natürlich, und kannte demzufolge das Bedürfniß zu fluchen oder sich zu beklagen kaum dem Namen nach.

Unter anderen, schätzenswerthen Eigenschaften besaß er auch ein vortreffliches Auge, eine fast wunderbare Fernsichtigkeit; er theilte mit Moestlin, dem Lehrer Kepler’s, die seltene Fähigkeit, mit unbewaffnetem Auge die Trabanten des Jupiter zu unterscheiden, und in der Gruppe der Plejaden vierzehn Sterne zu zählen, von denen die Letzten neunter Größe sind. Er war deshalb nicht etwa stolzer oder hochmüthiger; im Gegentheil! er grüßte schon aus weiter Ferne, und wußte sich bei geeigneten Gelegenheiten seiner Augen sehr gut zu bedienen.

Bei dem Vertrauen, das Joe auf den Doctor setzte, darf man nicht über die Streitigkeiten erstaunen, die sich unaufhörlich, natürlich mit Beachtung des schuldigen Respects, zwischen Kennedy und dem würdigen Diener abspannen. Der Eine zweifelte, der Andere glaubte; der Eine repräsentirte die hellsehende Klugheit, der Andere das blinde Vertrauen; der Doctor aber hielt die Mitte zwischen Zweifel und Glauben, womit ich sagen will, daß er sich weder von dem Einen noch von dem Andern beeinflussen ließ.

»Nun, Herr Kennedy?« begann eines Tages Joe.

»Was willst Du, mein guter Junge?«

»Jetzt kommt derAugenblick bald heran; es scheint, als wenn wir nächstens nach dem Monde abfahren würden.«

»Du meinst damit wahrscheinlich das Mondland; es liegt zwar nicht ganz so weit ab, aber beruhige Dich; die Gefahr ist noch immer groß genug.«

»Gefahr? von Gefahr ist keine Rede bei einem Mann wie Doctor Fergusson.«

»Ich will Dir Deine glückliche Täuschung nicht rauben, mein lieber Joe, aber was er da zu unternehmen gedenkt, ist ganz einfach das Beginnen eines Verrückten. Es wird übrigens keinenfalls zu dieser Reise kommen.«

»Keinenfalls zur Reise kommen? Dann haben Sie also nicht den Ballon gesehen, der in der Werkstatt der Herren Mitchell in Borough gearbeitet wird?«

»Ich werde mich wohl hüten, ihn mir anzusehen.«

»Da büßen Sie wirklich einen schönen Anblick ein, Herr Kennedy; es ist ein herrliches Gebäude! und die hübsche Form, die reizende Gondel! Wie wohl werden wir uns darin fühlen!«

»Du denkst also im Ernst daran, Deinen Herrn zu begleiten?«

»Das versteht sich! ohne allen Zweifel! versetzte Joe. Ich begleite ihn, wohin er will. Das fehlte noch! – Ich soll ihn wohl allein reisen lassen, nachdem ich bis jetzt mit ihm zusammen die Welt durcheilt habe! Wer würde ihm denn helfen, wenn er ermüdet ist, wer ihm eine starke Hand reichen, wenn er über einen Abgrund springen will? Wer sollte ihn pflegen, wenn er etwa gar krank würde? Nein, Herr Dick, Joe wird immer auf seinem Posten sein.«

»Wackerer Junge«, rief der Schotte.

»Übrigens kommen Sie mit uns, Herr Kennedy«, fügte Joe hinzu.

»Natürlich, sagte Kennedy, ich begleite Euch, um Samuel noch bis zum letzten Augenblick von der Ausführung einer solchen Thorheit abzurathen. Ich werde ihm sogar nach Zanzibar folgen, um das Meinige zu thun, damit dieser unsinnige Plan nicht zur Ausführung gelange.«

»Allen Respect vor Ihnen, Herr Kennedy, aber Sie werden ihn auch nicht um ein Haar breit von seinem Vorhaben abbringen. Mein Herr ist nicht so hirnverbrannt, wie Sie meinen. Wenn er etwas unternehmen will, sinnt er lange zuvor darüber nach, und wenn dann sein Entschluß gefaßt ist, kann kein Teufel ihn darin irre machen.«

»Das werden wir sehen!«

»Schmeicheln Sie sich nicht mit dieser Hoffnung. Übrigens liegt sehr viel daran, daß Sie mitkommen. Für einen so ausgezeichneten Jäger wie Sie ist Afrika ein herrliches Land. Sie würden keine Ursache haben, Ihre Reise zu bereuen.«

»Ich werde sie auch nicht bereuen, besonders wenn dieser Starrkopf sich überzeugen läßt und zurückbleibt.«

»Beiläufig, äußerte Joe, Sie wissen doch, daß heute das Wiegen vorgenommen wird.«

»Wovon sprichst Du?«

»Nun, der Herr Doctor, Sie und ich, wir sollen alle drei gewogen werden.«

»Wie Jockeys!«

»Ja wohl; aber haben Sie keine Bange: Abmagerungsversuche werden nicht an Ihnen gemacht, wenn Sie zu schwer sind. Man wird Sie so nehmen, wie Sie sind.«

»Ich werde mich unter keiner Bedingung dazu hergeben, darauf verlaß Dich!« sagte der Schotte sehr entschieden.

»Aber, Herr Kennedy, ich glaube, es ist für seine Maschine nothwendig.«

»Er kann sehen, wie er seine Maschine ohne das fertig bekommt.«

»Wenn mir nun aber aus Mangel an genauen Berechnungen nicht aufsteigen können?«

»Das wäre mir gerade recht!«

»Machen Sie sich darauf gefaßt, Herr Kennedy; mein Herr wird uns gleich abholen.«

»Ich werde nicht mitkommen.«

»Sie werden ihm doch das nicht anthun.«

»Allerdings.«

»Ich weiß schon«, meinte Joe lachend, »Sie sprechen nur so, weil mein Herr noch nicht hier ist; aber wenn er Ihnen erst von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht und zu Ihnen sagen wird: ›Dick‹ – verzeihen Sie die Freiheit, Herr Kennedy – ›Dick, ich muß genau wissen, wie viel Du wiegst,‹ so werden Sie mitkommen, ich wette darauf.«

»Ich werde nicht mitkommen.«

In diesem Augenblick betrat der Doctor sein Arbeitszimmer, in welchem diese Unterredung stattgefunden hatte; er sah Kennedy, der sich nicht ganz behaglich zu fühlen schien, fest an, und sagte dann:

»Dick, komm mit, und Du auch, Joe; ich muß wissen, wie schwer Ihr seid.«

»Aber …«

»Du kannst Deinen Hut aufbehalten. Komm.«

Und Kennedy ging mit. – Sie begaben sich miteinander in die Werkstatt der Herren Mitchell, wo bereits eine Schnellwage mit Laufgewicht aufgestellt worden war. Der Doctor mußte wirklich die Schwere seiner Begleiter kennen, um das Gleichgewicht seines Luftschiffes herzustellen. Er hieß Dick auf die Brücke der Wage treten, was dieser auch, ohne Widerstand zu leisten, that; aber er murmelte vor sich hin:

»Schon gut! schon gut! das verpflichtet noch zu nichts.«

»Hundertdreiundfünfzig Pfund«, sagte der Doctor und notirte sich die Zahl in seinem Notizbuch.

»Bin ich zu schwer?«

»Bewahre, Herr Kennedy«, erwiderte Joe, »übrigens bin ich leicht – das wird sich heben.«

Und mit diesen Worten nahm Joe voller Begeisterung für die Sache, der er diente, die Stelle des Jägers ein; fast hätte er beim Hinaufsteigen in seiner Hitze die Wage umgeworfen. Jetzt nahm er eine imponirende Haltung an, etwa wie der Wellington, welcher am Eingange von Hyde-Park den Achilles nachäfft, und gab auch ohne Schild eine prächtige Figur ab.

»Hundertundzwanzig Pfund«, notirte der Doctor.

»Heh, heh!« schmunzelte Joe mit Genugthuung.

Warum lächelte er? Wahrscheinlich hätte er selbst den Grund nicht anzugeben gewußt.

»Jetzt ist die Reihe an mir«, bemerkte der Doctor und schrieb gleich darauf hundertundfünfunddreißig Pfund als Gewicht seiner eigenen Person auf. »Wir drei wiegen zusammen nicht mehr als vierhundert Pfund.«

»Wenn es für Ihre Expedition erforderlich wäre, Herr Doctor, so könnte ich wohl um zwanzig Pfund abmagern, indem ich mich etwas knapper hielte.«

»Das ist unnöthig, mein Junge«, antwortete Fergusson. »Du kannst essen, so viel Du willst; und hier hast Du eine halbe Krone, um Dich nach Herzenslust zu delectiren.« –

Siebentes Capitel

Siebentes Capitel

Geometrische Einzelheiten. – Berechnung der Tragfähigkeit des Ballons. – Das doppelte Luftschiff. – Die Hülle. – Die Gondel. – Der geheimnißvolle Apparat. – Lebensmittel. – Noch eine Zugabe.

Doctor Fergusson hatte sich schon seit geraumer Zeit mit den näheren Details seiner Expedition beschäftigt, und selbstverständlich war der Ballon, dies wunderbare Fahrzeug, das ihn durch die Luft führen sollte, der Hauptgegenstand seiner Sorge.

Zunächst beschloß er, das Luftschiff mit Wasserstoffgas zu füllen, damit er ihm keine zu großen Dimensionen zu geben brauche. Die Erzeugung dieses Gases macht keine Schwierigkeit, es ist vierzehn und ein halb mal leichter als die Luft, und hat bei aerostatischen Versuchen die befriedigendsten Ergebnisse geliefert.

Nach sehr genauen Berechnungen fand der Doctor, daß die zur Reise und Ausrüstung unentbehrlichen Gegenstände ein Gewicht von viertausend Pfund haben würden; man mußte also erforschen, wie groß die emportreibende Kraft sei, welche dies Gewicht zu heben vermochte, und wie hoch sich demgemäß ihre Tragfähigkeit belaufe.

Ein Gewicht von viertausend Pfund wird repräsentirt durch eine Luftverdrängung von vierundvierzigtausend achthundert siebenundvierzig Cubikfuß, was darauf hinausläuft, daß vierundvierzigtausend achthundert siebenundvierzig Cubikfuß Luft etwa viertausend Pfund wiegen.

Wenn man dem Ballon einen Inhalt von vierundvierzigtausend achthundert siebenundvierzig Cubikfuß giebt, und ihn statt mit Luft mit Wasserstoffgas füllt, das vierzehn und ein halb mal leichter, nur zweihundert sechsundsiebzig Pfund wiegt, so bleibt eine Gleichgewichtsdifferenz über, welche einem Gewicht von dreitausend siebenhundert und vierundzwanzig Pfund gleichzusetzen ist. Diese Differenz zwischen dem Gewicht des in dem Ballon enthaltenen Gases und dem Gewicht der atmosphärischen Luft macht die emportreibende Kraft des Luftschiffes aus.

Wenn man jedoch in den Ballon die erwähnten vierundvierzigtausend achthundert siebenundvierzig Cubikfuß Gas einführte, so würde er ganz gefüllt sein; nun darf dies aber nicht geschehen, denn in dem Maße, wie der Ballon in die weniger dichten Luftschichten steigt, strebt das eingeschlossene Gas danach, sich auszudehnen, und würde alsbald die Hülle sprengen. Man füllt also die Ballons gewöhnlich nur zu zwei Dritteln an.

Aber der Doctor beschloß, in Folge eines gewissen, ihm allein bekannten Projektes, sein Luftschiff nur zur Hälfte zu füllen, und da er ja vierundvierzigtausend achthundert siebenundvierzig Cubikfuß Wasserstoff mit sich nehmen mußte, seinem Ballon eine etwa doppelte Tragfähigkeit zu geben.

Er ließ ihn in der länglichen Form anfertigen, der man, wie bekannt, den Vorzug giebt; der horizontale Durchmesser betrug fünfzig, der verticale fünfundsiebenzig Fuß [Fußnote]; er erhielt demgemäß ein Sphäroid, dessen Inhalt sich in runden Zahlen auf neunzigtausend Cubikfuß belief.

Wenn Doctor Fergusson zwei Ballons hätte verwenden können, so würden die Chancen des Gelingens für ihn gestiegen sein; man kann sich thatsächlich, im Fall ein Ballon in der Luft zerplatzen sollte, mittelst des andern durch Auswerfen von Ballast obenhalten. Aber die Handhabung zweier Luftschiffe wird sehr schwierig, wenn es darauf ankommt, ihnen eine gleiche Steigungskraft zu bewahren.

Nach reiflicher Ueberlegung vereinigte Fergusson in Folge eines sinnreichen Gedankens die Vortheile zweier Ballons, ohne deren Nachtheile mit in den Kauf zu nehmen; er construirte zwei von ungleicher Größe und schloß sie in einander ein. Sein äußerer Ballon, dem er die oben angeführten Dimensionen gab, enthielt einen kleineren von gleicher Gestalt, der nur fünfundvierzig Fuß im horizontalen, und achtundsechzig Fuß im verticalen Durchmesser hatte. Der Inhalt dieses inneren Ballons betrug also nur siebenundsechzigtaufend Cubikfuß; er sollte in dem ihn umgebenden Fluidum schwimmen; eine Klappe öffnete sich von einem Ballon nach dem andern, und man konnte dadurch nach Bedürfniß eine Verbindung unter ihnen herstellen.

Diese Einrichtung bot den Vortheil, daß, wenn man, um zu fallen. Gas entweichen lassen wollte, zuerst dasjenige des großen Ballons preisgegeben wurde; selbst wenn man ihn ganz geleert hätte, wäre der kleine unangetastet geblieben; man konnte sich dann der äußern Hülle wie eines lästigen Gewichts entledigen, und das zweite Luftschiff, nunmehr allein, diente dem Winde nicht in gleicher Weise zum Spielball, wie die halbentleerten Ballons.

Sodann hatte beim Eintreten eines etwaigen Unfalls, z. B. eines in den äußern Ballon gekommenen Risses, der andere den Vorzug, unversehrt geblieben zu sein.

Die beiden Luftschiffe wurden aus Lyoner Köperseide, die mit Guttapercha überzogen war, construirt. Diese gummi-harzige Substanz erfreut sich einer absoluten Undurchdringlichkeit; sie wird von den Säuren und Gasen durchaus nicht angegriffen. Der Taffet wurde am obern Pol des Globus, wo die stärkste Spannung ist, doppelt aufgelegt.

Diese Hülle war im Stande, das Fluidum eine unbeschränkte Zeit hindurch zurückzuhalten. Sie wog ein halb Pfund auf neun Quadratfuß. Da jedoch die Oberfläche des äußeren Ballons ungefähr elftausendsechshundert Quadratfuß betrug, wog seine Hülle sechshundertundfünfzig Pfund. Die Hülle des zweiten Ballons, welche neuntausendzweihundert Quadratfuß Oberfläche hatte, wog nur fünfhundertundzehn Pfund: also im Ganzen gleich elfhundertundsechzig Pfund.

Die Stricke, welche die Gondel tragen sollten, waren aus Hanf von größtmöglicher Festigkeit gedreht, und die beiden Ventile bildeten, gerade wie das Steuer eines Schiffes, den Gegenstand der minutiösesten Sorgfalt.

Die Gondel, welche kreisförmig war und fünfzehn Fuß im Durchmesser hatte, wurde aus Korbweide gefertigt, mit einem leichten Eisenbeschlag verstärkt und am untern Theile mit elastischen Sprungfedern versehen, welche die Bestimmung hatten, etwaige Stöße abzuschwächen. Ihr Gewicht betrug, mit Einschluß der Stricke, nicht über zweihundertundachtzig Pfund.

Außerdem ließ der Doctor vier Kasten von zwei Linien dickem Blech construiren, und diese untereinander mit Röhren verbinden, welche wiederum mit Hähnen versehen waren. Er setzte damit ein Schlangenrohr von ungefähr zwei Zoll Durchmesser in Verbindung, welches Letztere in zwei ungleich lange, gerade Enden auslief, deren größtes fünfundzwanzig Fuß maß, während das kürzere nur eine Höhe von fünfzehn Fuß hatte.

Die Blechkasten wurden dergestalt in die Gondel eingepaßt, daß sie einen möglichst geringen Raum einnahmen; das Schlangenrohr, welches erst später eingefügt werden sollte, wurde besonders verpackt, und ebenso eine sehr starke Bunsen’sche elektrische Batterie. Dieser Apparat war so sinnreich zusammengestellt, daß er nicht mehr als siebenhundert Pfund wog, sogar fünfundzwanzig Gallonen Wasser, die in einem besondern Kasten waren, mit inbegriffen.

Die für die Reise bestimmten Instrumente bestanden in zwei Barometern, zwei Bussolen, einem Sextanten, zwei Chronometern, einem künstlichen Horizont und einem Altazimuth, um entfernte und unzugängliche Gegenstände mehr hervortreten zu lassen. Die Sternwarte in Greenwich hatte sich dem Doctor zur Verfügung gestellt. Dieser hatte übrigens nicht die Absicht, physikalische Experimente zu machen; er wollte nur über die Direction im Klaren sein und die Lage der hauptsächlichsten Flüsse, Berge und Städte bestimmen können.

Er versah sich mit drei eisernen, genau erprobten Ankern, so wie mit einer leichten, widerstandsfähigen, etwa fünfzig Fuß langen, seidenen Leiter.

Fergusson berechnete auch das genaue Gewicht seiner Lebensmittel; diese bestanden in Thee, Kaffee, Zwieback, gesalzenem Fleisch und Pemmican, einer Zubereitung von getrocknetem Fleisch, welche bei sehr geringem Umfange viele nährende Bestandtheile enthält. Als Getränk stellte er, außer einem genügenden Vorrath Branntwein, zwei Wasserkisten auf, die jede zweiundzwanzig Gallonen faßten. Der Verbrauch dieser verschiedenen Nahrungsmittel sollte allmälig das von dem Luftschiff getragene Gewicht verringern; denn das Gleichgewicht eines Ballons in der Atmosphäre ist bekanntlich äußerst empfindlich. Der Verlust eines ganz unbedeutenden Gewichts genügt, um eine sehr merkliche Aenderung der Stellung hervorzubringen.

Der Doctor vergaß weder ein Zelt, das einen Theil der Gondel schützen sollte, noch die Decken, welche das ganze Reisebettzeug ausmachten, noch auch die Flinten oder den Kugel- und Pulvervorrath des Jägers.

Hier eine Uebersicht seiner verschiedenen Berechnungen:

Fergusson 135 Pfund
Kennedy 153 Pfund
Joe 120 Pfund
Gewicht des ersten Ballons 650 Pfund
Gewicht des zweiten Ballons 510 Pfund
Gondel nebst Stricken 280 Pfund
Anker, Instrumente, Flinten, Decken, Zelt, verschiedene Utensilien 196 Pfund
Fleisch, Pemmican, Zwieback, Thee, Kaffee, Branntwein 380 Pfund
Wasser 400 Pfund
Apparat 700 Pfund
Gewicht des Wasserstoffs 276 Pfund
Ballast 200 Pfund
Summa 4000 Pfund

Diese Bestimmung gab der Doctor im Einzelnen den viertausend Pfund, welche er mitzunehmen beabsichtigte; er nahm nur zweihundert Pfund Ballast ein, »nur für unvorhergesehene Fälle«, wie er sagte, denn, Dank seinem Apparat, hoffte er stark darauf, keinen Gebrauch davon machen zu dürfen.

Achtes Capitel

Achtes Capitel

Joe’s Selbstgefühl. – Der Befehlshaber des Resolute. – Kennedy’s Arsenal. – Einrichtungen. – Das Abschiedsessen. – Die Abreise am 21. Februar. – Wissenschaftliche Sitzungen des Doctors. – Duveyrier, Livingstone. – Einzelheiten der Luftreise. – Kennedy wird zum Schweigen gebracht.

Am 10. Februar waren die Vorbereitungen ihrem Ende nahe, und die in einander gefügten Ballons vollständig fertig; sie hatten einen starken Luftdruck, der hineingetrieben worden war, ausgehalten, und diese Probe legte ein gutes Zeugniß für ihre Solidität, so wie für die bei ihrem Bau angewandte Sorgfalt ab.

Joe wußte sich vor Freude nicht zu lassen: er war beständig auf dem Wege von Greek Street nach der Werkstatt der Herren Mitchell, immer geschäftig, aber immer aufgeräumt; jedem, der es hören wollte, von der betreffenden Angelegenheit erzählend, und vor Allem stolz darauf, daß er seinen Herrn begleiten durfte. Ich vermuthe sogar, daß der gute Junge sich einige halbe Kronen damit verdiente, das Luftschiff zu zeigen, die Gedanken und Pläne des Doctors zu entwickeln, und die Leute auf dessen jetzt vielbesprochene Persönlichkeit aufmerksam zu machen, wenn er an einem halbgeöffneten Fenster lehnte oder bei Gelegenheit durch die Straßen ging. Wir dürfen Joe deshalb nicht zürnen; er hatte wohl das Recht, etwas auf die Bewunderung und Neugier seiner Zeitgenossen zu speculiren.

Am 16. Februar legte sich der Resolute auf der Höhe von Greenwich vor Anker. Es war ein Schraubendampfer von achthundert Tonnen Last und ein guter Segler, der zuletzt den Auftrag gehabt hatte, die Expedition von Sir James Roß nach den Polargegenden von Neuem mit Proviant zu versorgen. Der Befehlshaber Pennet stand in dem Rufe eines liebenswürdigen Mannes und nahm an der Reise des Doctors, den er schon von früher her kannte, einen ganz besondern Antheil. Pennet hätte eher für einen Gelehrten, als für einen Soldaten gelten können; trotzdem führte sein Fahrzeug vier Karronaden, die jedoch nie Jemandem etwas zu Leide gethan und nur den Zweck hatten, bei den allerfriedlichsten Gelegenheiten Spectakel zu machen.

Der Schiffsraum des Resolute wurde für die Aufnahme des Ballons eingerichtet, und dieser mit der größten Vorsicht am 18. Februar hinübergeschafft. Man lagerte ihn auf dem Boden des Schiffes ab, um jedem Unfall vorzubeugen; die Gondel nebst Zubehör, die Anker, Stricke, Lebensmittel so wie die Wasserkisten, welche nach der Ankunft gefüllt werden sollten. Alles wurde unter Fergusson’s Augen gestaut.

Zur Erzeugung des Wasserstoffgases verlud man zehn Tonnen Schwefelsäure und zehn Tonnen altes Eisen. Diese Quantität war mehr als hinreichend, doch mußte man sich gegen mögliche Verluste decken. Der Gasentwickelungs-Apparat, welcher aus etwa dreißig Fässern bestand, wurde in den untern Schiffsraum gebracht.

All‘ diese verschiedenen Vorbereitungen waren am Abend des 18. Februar beendet, und zwei bequem eingerichtete Kajüten erwarteten den Doctor Fergusson und seinen Freund Kennedy. Soviel dieser Letztere auch schwur, daß er nicht mitreisen würde, begab er sich doch mit einem Jagdarsenal an Bord, das aus zwei vorzüglichen, doppelläufigen Hinterladern und einem vielfach erprobten Karabiner aus der Fabrik der Herren Purdey Moore und Dickson in Edinburg bestand. Mit solchen Waffen konnte der Jäger mit Sicherheit aus einer Entfernung von zweitausend Schritt einer Gemse das Auge ausschießen. Zu diesen Gewehren fügte er für unvorhergesehene Fälle zwei sechsläufige Colt-Revolver; Pulverhorn, Patrontasche, Blei und Kugeln in hinreichender Menge überstiegen nicht das von dem Doctor angegebene Gewicht.

Die drei Reisenden gingen am 19. Februar an Bord, und wurden vom Kapitän und seinen Officieren mit großer Auszeichnung aufgenommen. Der Doctor erschien ziemlich kalt und einzig mit seiner Expedition beschäftigt; Dick war in außerordentlicher Erregung, aber doch bemüht, dieselbe zu verbergen, und Joe endlich sprang außer sich vor Vergnügen hin und her, indem er sich in den schnurrigsten Reden erging. Er wurde bald der Bruder Lustig auf dem Schiffe und bei Jedermann beliebt.

Am zwanzigsten lud die Königlich Geographische Gesellschaft den Doctor Fergusson und Herrn Kennedy zu einem großen Abschiedsessen ein. Der Befehlshaber des Resolute und seine Officiere wohnten gleichfalls diesem Mahle bei, das unter allseitiger, fröhlicher Laune verlief, und bei dem es an einer Masse schmeichelhafter Trinksprüche für unsere Freunde nicht fehlte. Gesundheiten wurden in einer so reichen Zahl ausgebracht, daß sie genügend gewesen wären, um den Gästen ein hundertjähriges Leben zu sichern. Sir Francis M… führte mit mäßiger aber würdevoller Rührung den Vorsitz.

Zu Herrn Dick’s großem Mißfallen erhielt auch er sein reichliches Theil von diesen Glückwünschen. Nachdem man auf den unerschrockenen Fergusson, den Ruhm Englands, getrunken hatte, durfte man nicht verabsäumen, auf den nicht minder heldenmüthigen Kennedy, seinen kühnen Begleiter, zu trinken.

Dick erröthete über und über, was ihm jedoch als Bescheidenheit ausgelegt wurde, und nur zur Folge hatte, daß man die Beifallsbezeugungen verdoppelte. Dick Kennedy erröthete noch tiefer. –

Beim Dessert langte eine Botschaft der Königin an; sie sandte den beiden Reisenden ihre Grüße und ließ ihnen Glück zu ihrem Unternehmen wünschen. Dies erforderte natürlich wiederum Toaste »auf Ihre allergnädigste Majestät«.

Endlich, um Mitternacht, trennten sich die Gäste nach einem rührenden Abschied und manch‘ warmem Händedruck.

Die Boote des Resolute warteten an der Westminster-Brücke; der Commandant nahm in Gesellschaft seiner Passagiere und Mannschaften darin Platz, und der Strom der Themse brachte die Gesellschaft schnell nach Greenwich.

Um ein Uhr lag Alles an Bord im tiefsten Schlafe.

Am Morgen des 21. Februar, um drei Uhr früh, waren die Kessel geheizt, um fünf Uhr lichtete man die Anker, und unter dem Druck der Schraube steuerte der Resolute der Mündung der Themse zu.

Wir brauchen nicht erst zu sagen, daß die Unterhaltung an Bord sich einzig und allein um die Expedition des Doctors Fergusson drehte. Wenn man ihn sah oder über die Unternehmung sprechen hörte, so flößte er ein solches Vertrauen ein, daß bald Niemand, der Schotte ausgenommen, den Erfolg seiner Expedition in Frage stellte.

Während der langen unbeschäftigten Stunden der Reise ging der Doctor mit den Officieren einen förmlichen geographischen Cursus durch. Die jungen Leute interessirten sich lebhaft für die seit vierzig Jahren in Afrika gemachten Entdeckungen; er erzählte ihnen von den Forschungsreisen Barth’s, Burton’s, Speke’s, Grant’s, und schilderte ihnen dies geheimnißvolle Land, das gegenwärtig so rege von der Wissenschaft in Angriff genommen war. Im Norden erforschte der junge Duveyrier die Sahara und brachte die Häuptlinge der Tuaregs nach Paris. Unter Oberaufsicht der französischen Regierung wurden zwei Expeditionen ausgerüstet, die vom Norden herab nach Westen gehend, sich in Timbuctu kreuzen sollten. Im Süden rückte der unermüdliche Livingstone immer gegen den Aequator vor, und vom Mai des Jahres 1862 ab ging er in Gesellschaft Mackensie’s an dem Novoonia-Flusse aufwärts. Das neunzehnte Jahrhundert würde gewiß nicht zu Ende gehen, ohne daß Afrika die in seinem Schooß seit sechstausend Jahren vergrabenen Geheimnisse enthüllt hätte.

Das Interesse der Zuhörer Fergusson’s wurde besonders geweckt, als er ihnen im Einzelnen von den Vorbereitungen zu seiner Reise erzählte; sie wollten die Probe seiner Berechnungen machen, und begannen eine Erörterung, in welche der Doctor sich ohne alle Umschweife einließ.

Im Allgemeinen staunte man über die verhältnißmäßig geringe Menge von Lebensmitteln, welche er mit sich führte, und eines Tages befragte Jemand den Doctor in Bezug hierauf.

»Das ist Ihnen erstaunlich?« antwortete Fergusson. »Aber wie lange glauben Sie denn, daß ich unterwegs sein werde? Doch nicht etwa Monate? Da irren Sie sehr; wenn meine Reise sich in die Länge ziehen sollte, würden wir verloren sein, und gar nicht an’s Ziel gelangen. So wissen Sie denn, daß von Zanzibar nach der Küste von Senegal nicht mehr als dreitausendfünfhundert, nehmen Sie an viertausend Meilen sind. Wenn man nun in zwölf Stunden zweihundertundvierzig Meilen zurücklegt, was der Schnelligkeit unserer Eisenbahnen nicht nahe kommt, und wenn man Tag und Nacht reist, so würden sieben Tage genügen, um Afrika zu durchfahren.«

»Aber dann könnten Sie nichts sehen, keine geographischen Aufnahmen machen, noch das Land gehörig kennen lernen.«

»Ich werde mich deshalb auch«, antwortete der Doctor, »überall aufhalten, wo ich es für gut befinde, besonders auch dann, wenn zu heftige Luftströmungen mich fortzureißen drohen.«

»Und das wird nicht ausbleiben«, sagte Pennet; »es wüthen bisweilen Orkane, welche über zweihundertundvierzig Meilen in der Stunde zurücklegen.«

»Sie sehen«, versetzte der Doctor, »bei einer solchen Schnelligkeit könnte man Afrika in zwölf Stunden durchfahren. Man würde in Zanzibar aufstehen, um in Saint-Louis zu Bett zu gehen.«

»Aber«, äußerte ein Officier, »könnte denn ein Ballon in solcher Schnelligkeit mit fortgerissen werden?«

»Man hat das schon erlebt«, erwiderte Fergusson.

»Und der Ballon hat Stand gehalten?«

»Vollkommen. Zur Zeit der Krönung Napoleon’s im Jahre 1804 ließ der Luftschiffer Garnerin um elf Uhr Abends von Paris einen Ballon ab, der in goldenen Lettern die folgende Inschrift trug: ›Paris, 25 frimaire an XIII, couronnement de l’empereur Napoléon par S. S. Pie VII.‹ [Fußnote] Am folgenden Morgen, um fünf Uhr, sahen die Einwohner von Rom denselben Ballon über dem Vatikan schweben, die römische Campagna durchfliegen und sich in den See von Bracciano versenken. Dies der Beweis, meine Herren, daß ein Ballon gegen solche Schnelligkeit Stand halten kann.«

»Ein Ballon, mag sein! – aber ein Mensch?« wagte Kennedy einzuwerfen.

»Auch ein Mensch! Denn ein Ballon ist immer unbeweglich im Verhältniß zu der ihn umgebenden Luft: er selber geht nicht, sondern die Luftmasse; zündet z. B. ein Licht in einer Gondel an, und die Flamme wird nicht hin- und herflackern. Ein Luftschiffer auf dem Ballon Garnerin’s hätte von dieser Schnelligkeit keineswegs gelitten. Uebrigens liegt mir durchaus nicht daran, mit einer solchen Geschwindigkeit zu experimentiren, und wenn ich mein Luftschiff während der Nacht an einen Baum oder irgend eine Unebenheit des Bodens ketten kann, werde ich mir das nicht entgehen lassen. Wir führen indessen für zwei Monate Lebensmittel mit uns, und nichts wird unsern geschickten Jäger daran hindern, Wildpret im Überfluß zu erbeuten, wenn wir uns einmal auf der Erde niederlassen.«

»Ah, Herr Kennedy, Sie werden Gelegenheit haben, Meisterschüsse zu thun«, sagte ein junger Midshipman, den Schotten mit neidischen Augen betrachend.

»Ganz abgesehen davon«, fügte ein anderer hinzu, »daß Ihr Vergnügen mit großem Ruhm Hand in Hand gehen wird.«

»Meine Herren«, antwortete der Jäger … »ich weiß Ihre Complimente sehr wohl zu würdigen. … aber ich kann dieselben nicht annehmen …«

»Wie? rief man von allen Seiten, Sie werden nicht mitreisen?«

»Ich werde nicht reisen.«

»Sie wollen den Doctor Fergusson nicht begleiten?«

»Nicht nur das, sondern meine Anwesenheit hat keinen andern Grund, als ihn im letzten Augenblick noch zurückzuhalten.«

Aller Blicke richteten sich auf den Doctor.

»Hören Sie nicht auf ihn«, antwortete dieser mit ruhiger Miene. »Das ist eine Frage, die man nicht mit ihm erörtern darf; er weiß im Grunde recht gut, daß er mitreisen wird.«

»Beim Heiligen Patrick! rief Kennedy aus, ich betheuere …«

»Betheuere nichts, Freund Dick; Du bist ausgemessen. Du bist gewogen. Du bist mitsammt Deinem Pulver, Deinen Flinten und Kugeln in unser Luftschiff eingepaßt; so laß uns nicht mehr davon sprechen.«

Und wirklich öffnete Dick von diesem Tage bis zur Ankunft in Zanzibar nicht mehr den Mund; er sprach ebenso wenig von der Reise wie von etwas Anderem. Er schwieg.

Neuntes Capitel

Neuntes Capitel

Das Cap wird umfahren. – Das Halbverdeck. – Kosmographischer Cursus des Professor Joe. – Von der Lenkung des Ballons. – Von der Erforschung der atmosphärischen Ströme. – Εύρηκα

Der Resolute segelte rasch auf das Cap der guten Hoffnung zu, und das Wetter hielt sich gut, obgleich das Meer hoch ging.

Am 30. Mai, siebenundzwanzig Tage nach der Abreise von London, zeichnete sich der Tafelberg am Horizonte ab; die Capstadt, am Fuße eines Amphitheaters von Hügeln gelegen, war mit den Ferngläsern wahrzunehmen, und bald legte sich der Resolute im Hafen vor Anker. Aber der Commandant hielt nur an, um Kohlen einzunehmen, und dies war in einem Tage geschehen; am folgenden schon hielt das Schiff südlich, um die mittägige Spitze Afrika’s zu umsegeln und in den Canal von Mozambique einzulaufen.

Joe machte nicht seine erste Reise zur See; er fühlte sich bald an Bord heimisch, und Jedermann hatte ihn wegen seiner Offenherzigkeit und guten Laune gern. Ein Abglanz von der Berühmtheit seines Herrn strahlte auch auf ihn über; wenn er sprach, lauschte man auf ihn, wie auf ein Orakel.

Während der Doctor seinen gelehrten Cursus in der Officierskajüte fortsetzte, thronte Joe auf dem Halbverdeck und machte auf seine Weise Geschichte, ein übrigens von den größten Geschichtsschreibern aller Zeiten befolgtes Verfahren.

Natürlich handelte es sich hierbei hauptsächlich um die Luftreise. Es war Joe schwer geworden, den störrigen Geistern die Unternehmung als überhaupt ausführbar vorzustellen; nachdem man aber einmal von der Möglichkeit derselben überzeugt war, kannte die von der Erzählung Joe’s angestachelte Phantasie der Matrosen keine Grenzen.

Der brillante Erzähler redete seiner Zuhörerschaft ein, daß man nach dieser Reise noch sehr viele andere machen würde; dies sei nur der Anfang einer langen Reihe großartiger Unternehmungen.

»Wissen Sie, meine Freunde, wenn man diese Art der Beförderung einmal versucht hat, so kann man dieselbe nicht mehr entbehren; bei unserer nächsten Expedition werden wir, anstatt von einer Seite zur andern, gerade aus gehen, indem wir fortwährend steigen.«

»Gut! also gerade auf den Mond los«, sagte ein staunender Zuhörer.

»Auf den Mond? entgegnete Joe; nein wahrhaftig, das ist uns denn doch zu gewöhnlich! Nach dem Monde kann Jeder reisen! Übrigens giebt es dort kein Wasser, und man ist genöthigt, ungeheure Vorräthe davon mitzunehmen … ebenso auch einige Fläschchen Atmosphäre, so wenig man auch zum Athmen braucht.«

»Ob da wohl Gin zu haben ist?« äußerte ein Matrose, der dies Getränk sehr zu lieben schien.

»Auch das nicht, mein Lieber! nein, mit dem Monde ist es nichts, aber mir wollen unter den Sternen lustwandeln, unter den reizenden Planeten, über die sich mein Herr so oft mit mir unterhalten hat. – Und wir werden damit anfangen, dem Saturn einen Besuch zu machen …«

»Dem, der so einen Ring um sich herum hat?« fragte der Quartiermeister.

»Ja, einen Hochzeitsring. Man weiß nur nicht, was aus seiner Frau geworden ist.«

»Wie! so hoch würdet ihr hinaufsteigen? sagte ein Schiffsjunge verwundert. Da ist Ihr Herr wohl der leibhaftige Teufel?«

»Der Teufel? nein, dazu ist er zu gut!«

»Also nach dem Saturn?« fragte einer der ungeduldigsten Zuhörer.

»Nach dem Saturn? ja, natürlich! und dann statten wir dem Jupiter einen Besuch ab; das ist ein komisches Land, in welchem die Tage nur neun und eine halbe Stunde lang sind – ganz bequem für die Faullenzer; wo ein Jahr z. B. zwölf Jahre dauert, was sehr vorteilhaft für die Leute ist, die nur noch ein halbes Jahr zu leben haben. Es verlängert das etwas ihre Existenz!«

»Zwölf Jahre!« wiederholte erstaunt der Schiffsjunge.

»Ja, mein Kleiner; wärest Du dort geboren, so würdest Du jetzt noch als Säugling auf dem Arm Deiner Mama getragen werden, und jener Alte im fünfzigsten Jahr wäre ein niedliches Püppchen von kaum vier Jahren.«

»Das ist nicht zu glauben!« rief das Halbverdeck wie aus einem Munde.

»Die reine Wahrheit«, betheuerte Joe zuversichtlich. »Aber wie das so geht! wenn man, ohne sich anderwärts umzusehen, in dieser Welt immer weiter vegetirt, so lernt man nichts und bleibt unwissend wie ein Meerschwein. Kommt nur erst auf den Jupiter, dort werdet Ihr Euer blaues Wunder sehen! Man muß sich da oben anständig benehmen, denn er hat eine unangenehme Leibwache von Trabanten um sich!«

Man lachte, aber doch glaubte man ihm halb und halb; er redete weiter vom Neptun, bei dem die Seeleute gut aufgenommen würden, und vom Mars, auf welchem das Militär allen Andern den Rang ablaufe, was schließlich ganz unerträglich wäre. Was den Mercur anlangte, so sei das eine garstige Welt, nichts als Diebe und Kaufleute, die sich einander so ähnlich sehen, daß man sie schwer unterscheiden könne. Endlich entwarf er ihnen von der Venus ein wahrhaft entzückendes Bild.

»Und wenn wir von dieser Expedition zurückkehren«, sagte der liebenswürdige Erzähler, »wird man uns mit dem Stern des südlichen Kreuzes decoriren, der da oben an dem Knopfloch des lieben Gottes leuchtet.«

»Und Ihr habt ihn dann mit Recht verdient!« sagten die Matrosen.

So vergingen in heiteren Scherzreden die langen Abende auf dem Halbverdeck, während im Kreise der Officiere die belehrenden Unterhaltungen des Doctors ihren Fortgang nahmen.

Eines Tages unterhielt man sich über die Lenkung der Ballons, und Fergusson wurde dringend aufgefordert, seine Meinung in Bezug darauf abzugeben.

»Ich glaube nicht«, sagte er, »daß es gelingen wird, die Ballons zu lenken. Ich kenne alle in dieser Beziehung versuchten oder vorgeschlagenen Systeme, aber nicht ein einziges hat Erfolg gehabt, nicht ein einziges ist ausführbar. Sie begreifen wohl, daß ich mich eingehend mit dieser Frage beschäftigen mußte, die ein so großes Interesse für mich hat; aber ich habe sie mit den, von den gegenwärtigen Kenntnissen der Mechanik gelieferten Mitteln nicht lösen können. Man müßte eine bewegende Kraft von außerordentlicher Macht und unmöglicher Leichtigkeit entdecken! Und auch dann noch wird man gegen beträchtliche Luftströmungen nicht anzukämpfen vermögen. Bis jetzt hat man sich übrigens vielmehr damit beschäftigt, die Gondel zu lenken, als den Ballon. Und das ist ein Fehler.«

»Es bestehen aber doch, entgegnete man, genaue Beziehungen zwischen einem Luftschiff und einem Schiff, und dies kann man nach Belieben lenken.«

»Ich muß das in Abrede stellen, antwortete der Doctor Fergusson. Die Luft ist unendlich weniger dicht als das Wasser, in welches das Schiff nur zur Hälfte sinkt, während das Luftschiff ganz und gar in der Atmosphäre schwebt und mit Beziehung auf das umgebende Fluidum unbeweglich bleibt.«

»Sie sind also der Meinung, daß die aerostatische Wissenschaft ihr letztes Wort gesprochen hat?«

»Keineswegs! Wenn man den Ballon nicht lenken kann, so muß man etwas Anderes zu erreichen suchen, ihn zum Mindesten in den für ihn günstigen atmosphärischen Strömungen erhalten. In dem Maße wie man sich hebt, werden diese einförmiger und folgen dann beständig derselben Richtung; sie werden nicht mehr durch die Thäler und Berge, welche die Oberfläche der Erdkugel durchfurchen, gestört, und das ist ja bekanntlich die Hauptursache der Veränderungen des Windes und seiner ungleichen Stärke. Wenn nun aber einmal diese Zonen bestimmt sind, so braucht man den Ballon nur in die für ihn passende Strömung zu versetzen.«

»Aber man wird dann«, begann der Commandant, »beständig steigen oder fallen müssen, um sie zu erreichen. Darin liegt die eigentliche Schwierigkeit, mein lieber Doctor.«

»Und warum, mein lieber Herr Pennet?«

»Verständigen wir uns: es wird das nur für die ausgedehnten Reisen eine Schwierigkeit und ein Hinderniß sein, nicht für einfache Luftspaziergänge.«

»Und weshalb denn, wenn’s beliebt?«

»Weil man nur steigt, wenn man Ballast auswirft, und sich nur mit dem Verluste von Gas herabläßt; und weil bei diesem Verfahren Ihre Gas- und Ballastvorräthe schnell erschöpft sein werden.«

»Mein lieber Pennet, dies eben ist die ganze Frage, dies ist die einzige Schwierigkeit, welche die Wissenschaft zu besiegen streben muß. Es handelt sich nicht darum, die Ballons zu lenken; sondern vielmehr darum, sie von oben nach unten zu bewegen, ohne dieses Gas zu vergeuden, welches, wenn man sich so ausdrücken darf, die Kraft, das Blut, die Seele des Ballons ist.«

»Sie haben Recht, mein lieber Doctor, aber diese Schwierigkeit ist noch nicht gelöst, das Mittel dafür noch nicht gefunden.«

»Bitte um Verzeihung, es ist gefunden.«

»Von wem?«

»Von mir!«

»Von Ihnen?«

»Sie begreifen wohl, daß es mir ohne dies nicht hätte in den Sinn kommen können, eine Bereisung Afrika’s im Ballon zu unternehmen; nach Vierundzwanzig Stunden wäre ich mit meinem Gas auf’s Trockene gesetzt worden!«

»Aber Sie haben davon in England nichts verlauten lassen?«

»Nein, denn es lag mir nichts daran, meine Erfindung öffentlich besprochen zu sehen; es schien mir dies überflüssig. Ich habe in der Stille vorbereitende Versuche gemacht, die befriedigend ausgefallen sind, und weiter brauche ich nichts.«

»Nun, mein lieber Fergusson, darf man jetzt Ihr Geheimniß erfahren?«

»Ja wohl, meine Herren, das Mittel ist äußerst einfach.«

Die Aufmerksamkeit der Zuhörer war auf das Höchste gespannt, und der Doctor begann ruhig die folgende Auseinandersetzung:

Sechsunddreißigstes Capitel

Sechsunddreißigstes Capitel

Ein dunkler Punkt am Horizont. – Eine Arabertruppe. – Die Verfolgung. – Er ist’s! – Sturz vom Pferde. – Der erwürgte Araber. – Eine Kugel Kennedys. – Manöver. – Entführung im Fluge. – Joe gerettet.

Seitdem Kennedy den Beobachtungsposten in der Gondel eingenommen hatte, spähte er unablässig und mit gespanntester Aufmerksamkeit am Horizonte umher.

Nach einiger Zeit wandte er sich zum Doctor:

»Wenn ich mich nicht täusche, sehe ich dort einen Trupp Menschen oder Thiere, der sich vorwärts bewegt; und zwar geschieht dies mit außerordentlicher Kraft, denn es werden enorme Staubmassen dabei aufgewirbelt.«

»Sollte es nicht ein widriger Wind sein, eine Windsbraut, die uns wieder nach Norden verschlagen will?«

Mit diesen Worten stand Fergusson auf, um selber den Horizont zu prüfen.

»Das glaube ich nicht, Samuel,« erwiderte Kennedy; »es ist eine Herde wilder Rinder oder Gazellen.«

»Möglich, Dick; aber vorläufig ist sie noch neun oder zehn Meilen von uns entfernt, und was mich betrifft, so kann ich selbst mit dem Fernglase noch nichts Bestimmtes erkennen.«

»Jedenfalls werde ich den Punkt nicht aus den Augen verlieren; es muß etwas Außerordentliches sein und reizt mich ganz besonders. Zuweilen würde man es für ein Kavalleriemanöver halten können; ich täusche mich auch nicht, es sind Reiter! sieh doch!«

Der Doctor fixirte aufmerksam die erwähnte Gruppe.

»Ich glaube wirklich, Du hast Recht, Dick; es ist eine Abtheilung Araber oder Tibbus. Sie entfliehen in derselben Richtung wie wir, aber wir bewegen uns schneller vorwärts und holen sie bald ein. In einer halben Stunde werden wir im Stande sein, zu sehen und nach der Sachlage zu handeln.«

Kennedy hatte wieder zum Fernglase gegriffen und bemühte sich, Genaueres zu erkennen. Die Reitermasse wurde deutlicher sichtbar, ja man konnte unterscheiden, daß ein kleiner Theil derselben sich absonderte.

»Augenscheinlich ist es ein Manöver oder eine Jagd, versetzte Kennedy. Die Leute scheinen irgend etwas zu verfolgen. Ich möchte wohl über ihr Vorhaben in’s Klare kommen.

– Geduld, Dick, in kurzer Zeit werden wir die Reiter einholen und, wenn sie dieselbe Richtung beibehalten, sogar über sie hinauskommen. Wir machen jetzt zwanzig Meilen in der Stunde, und das kann kein Pferd leisten.«

Nach einigen Minuten scharfer Beobachtung hub Kennedy von Neuem an:

»Es sind etwa fünfzig Araber im schnellsten Ritt; ich kann sie jetzt deutlich unterscheiden; ihre Burnusse schwellen im Winde; es ist eine Reiterübung; jetzt ist ihr Anführer etwa hundert Schritte voraus, und Alle stürzen hinter ihm her.

– Mögen sie sein, wer sie wollen. Dick, wir haben sie nicht zu fürchten, und im Nothfall werde ich steigen.

– Warte noch, Samuel, warte!

– Sonderbar! fügte er nach einer Weile hinzu; diese Araber haben mehr das Ansehen, als ob sie auf der Verfolgung wären, wenn ich nämlich nach ihren Anstrengungen und der Unregelmäßigkeit ihrer Linie urtheilen darf.

– Bist Du dessen ganz sicher?

– Es ist offenbar so, ich täusche mich nicht; sie machen Jagd, und zwar Jagd auf einen Menschen. Der Eine, von dem ich sagte, daß er hundert Schritt voraus wäre, ist nicht ihr Führer, sondern ein Flüchtling.

– Ein Flüchtling! sagte Samuel bewegt. Wir wollen ihn nicht aus dem Gesicht verlieren, aber vorläufig noch warten.«

In nicht gar langer Zeit hatte man den Reitern, die mit der äußersten Geschwindigkeit dahinschossen, drei bis vier Meilen abgewonnen.

»Samuel! Samuel! rief Kennedy mit bebender Stimme.

– Was hast Du, Dick?

– Ist es eine Sinnestäuschung? wäre es möglich?

– Nun?

– Er ist’s, Samuel, er ist’s!

– Er!« rief nun auch Fergusson.

Er! Das sagte Alles; man brauchte keinen Namen zu nennen!

»Er ist zu Pferde, kaum hundert Schritt vor seinen Verfolgern voraus! er flieht!

– Wirklich, es ist Joe! sagte der Doctor erbleichend.

– Er kann uns auf seiner Flucht nicht bemerken!

– Bald wird er uns sehen, versetzte Fergusson und mäßigte die Flamme in seinem Knallgasgebläse.

– Wodurch willst Du das erreichen?

– In fünf Minuten sind wir fünfzig Fuß vom Boden, und in fünfzehn Minuten dicht über ihm.

– Wir wollen ihn durch einen Flintenschuß aufmerksam machen.

– Nein, das geht nicht, denn er kann nicht umkehren. Er ist abgeschnitten.

– Was sollen wir thun?

– Warten.

– Warten, wenn diese Araber ihm auf den Fersen sind?

– Wir holen sie ein und gehen über sie hinaus!

Jetzt sind wir nicht mehr zwei Meilen von ihm entfernt, und wenn nur Joe’s Pferd noch aushält …

– Großer Gott! schrie Kennedy.

– Was giebts?«

Kennedy hatte einen Schrei des Schreckens ausgestoßen, als er sah, wie Joe zur Erde stürzte; sein Pferd, das augenscheinlich ermattet und vollkommen erschöpft war, lag auf dem Boden.

»Er hat uns gesehen! rief der Doctor frohlockend; als er soeben wiederaufstand, gab er uns ein Zeichen!

– Aber die Araber werden ihn einholen! weshalb wartet er? Ach, der muthige Bursche! Hurrah!« jubelte der Jäger, der seine Freude nicht mehr beherrschen konnte.

Joe war sofort nach seinem Sturze wieder aufgesprungen, und als gleich darauf der schnellste von den Reitern ihn erreicht hatte, ging er ihm durch einen Seitensprung aus dem Wege, fuhr dann wie ein Panther auf den Araber los, packte ihn an der Gurgel, erwürgte ihn mit eigener Hand, und setzte, nachdem er den Leichnam auf den Sand niedergestoßen, seine Flucht fort.

Ein Wuthgeschrei der Araber drang durch die Lüfte.

Aber da sie ganz und gar mit ihrer Verfolgung beschäftigt waren, hatten sie den Victoria noch nicht bemerkt, obgleich derselbe nur fünfhundert Schritt hinter ihnen und kaum dreißig Fuß vom Boden entfernt war. Sie selber waren jetzt dem Flüchtling bis auf etwa zwanzig Pferdelängen nachgekommen.

Einer der Verfolger näherte sich Joe immer mehr und wollte ihn gerade mit einer Lanze durchbohren, als Kennedy Jenem sichern Auges und mit fester Hand ein schnelles Halt durch eine Kugel gebot, welche ihn todt zu Boden streckte.

Joe wandte sich bei dem Knall nicht einmal um. Ein Theil der Truppe zögerte in ihrem Lauf, und Einige fielen beim Anblick des Victoria mit dem Gesicht in den Staub, aber die Andern setzten ihre Verfolgung fort.

»Was in aller Welt macht denn Joe? rief Kennedy. Er bleibt nicht stehen!

– Joe benimmt sich ganz vorzüglich, Dick, ich habe ihn errathen; er hält sich in der Richtung des Luftschiffes und rechnet auf unser Verständniß. Ah, der wackere Junge! wir werden ihn diesen Arabern vor der Nase entführen! Jetzt ist er nur noch zweihundert Schritte von uns entfernt.

– Was soll ich thun? fragte Kennedy.

– Vor allen Dingen Deine Flinte bei Seite lassen.

– Gut! … Kennedy legte seine Waffe ab.

– Kannst Du hundertundfünfzig Pfund Ballast in Deinen Armen halten?

– Noch mehr.

– Nein, das wird genügen.«

Und der Doctor thürmte auf Kennedy’s Armen Sandsäcke auf.

»Halte Dich im Hintergründe der Gondel und sei bereit, diesen Ballast mit einem einzigen Wurf hinauszuschleudern. Aber bei Deinem Leben! thu es nicht vor meinem Befehl.

– Sei ruhig.

– Im andern Fall würden mir Joe missen, und er wäre verloren!

– Verlaß Dich auf mich!«

Der Victoria schwebte nun beinahe über der Reitertruppe, die mit verhängtem Zügel hinter Joe herflog. Der Doctor stand am vordern Gondelrand und hielt die aufgewickelte Leiter in seiner Hand, um sie im geeigneten Augenblick herabzulassen. Joe hatte sich vor seinen Feinden noch einen Vorsprung von fünfzig Fuß bewahrt. Der Victoria flog über diesen Raum hinweg.

»Achtung, Kennedy!

– Ich bin bereit!

– Joe, paß auf!« schrie der Doctor mit lautschallender Stimme, indem er ihm die Leiter zuwarf, deren erste Sprossen den Staub des Bodens berührten.

Bei dem Ruf des Doctors hatte sich Joe, ohne sein Pferd anzuhalten, umgewandt, die Leiter kam in seine Nähe, er umklammerte sie, und in demselben Augenblick rief der Doctor Kennedy zu:

»Jetzt!

– Es ist geschehen!«

Und der Victoria, um eine Last, die schwerer als Joe wog, erleichtert, stieg hundertundfünfzig Fuß hoch in die Lüfte.

Joe hielt sich, während die Leiter in großen Schwingungen umherschwebte, krampfhaft an derselben fest, dann machte er den Arabern eine unbeschreibliche Geberde und kletterte mit der Behendigkeit eines Clown zu seinen Gefährten hinauf, die ihn mit offenen Armen empfingen.

Die Araber hatten einen Schrei der Überraschung und der Wuth ausgestoßen, als ihnen der Flüchtling so im Fluge entführt worden war, und der Victoria sich so schnell entfernt hatte.

Als Joe in der Gondel anlangte, stieß er nur die Worte:

»Herr Doctor! Herr Dick!« hervor und fiel dann, der ungeheuren Anstrengung und Ermüdung erliegend, in eine tiefe Ohnmacht, während Kennedy, fast wahnsinnig vor Freude, ausrief:

»Gerettet! gerettet!

– Wir haben ihn wieder!« sprach der Doctor, der seine gleichmäßig ruhige Stimmung zurückgewonnen hatte.

Joe war fast völlig nackt, und dies, wie seine blutenden Arme und sein überall verletzter Körper, erzählten genugsam von den Leiden, die er ertragen. Der Doctor verband die Wunden und bettete ihn sorgsam unter dem Zelte.

Bald jedoch hatte sich Joe von seiner Ohnmacht erholt und verlangte ein Glas Branntwein, das ihm Fergusson gern zugestand, da er glaubte, daß man Joe nicht wie andere Leute zu behandeln brauche. Nachdem der brave Bursche getrunken hatte, drückte er dem Doctor und Kennedy die Hand und erklärte sich bereit, seine Erlebnisse zu erzählen.

Aber Fergusson gestattete ihm noch nicht, zu sprechen, und so fiel er bald abermals zurück, um in einen tiefen Schlaf zu versinken, dessen er sehr zu bedürfen schien.

Der Victoria schlug nun eine schräge Richtung nach Westen ein. Unter dem Wehen eines starken Windes sah er nochmals den Saum der dornigen Wüste, über Palmen hinweg, die vom Winde gebeugt oder entwurzelt wurden; und nachdem man seit Joe’s Entführung eine Reise von beinahe zweihundert Meilen zurückgelegt hatte, überschritt der Victoria gegen Abend den zehnten Längegrad.

Siebenunddreißigstes Capitel

Siebenunddreißigstes Capitel

Die Straße nach Westen. – Joe’s Erwachen. – Sein Eigensinn. – Ende von Joe’s Geschichte. – Tagelel. – Kennedy’s Besorgnisse. – Straße im Norden. – Eine Nacht bei Aghades.

Der Wind schien sich in der Nacht von seinen Strapazen am vorhergehenden Tage auszuruhen, und der Victoria weilte friedlich über dem Wipfel einer großen Sykomore; der Doctor und Kennedy hatten abwechselnd die Wache, und Joe machte sich das zu Nutze, um tüchtig zu schlafen, und zwar vierundzwanzig Stunden in einem Zuge.

»Es ist das beste Heilmittel für ihn, sagte Fergusson; die Natur wird seine Herstellung schon allein besorgen.«

Am Tage begann wieder ein heftiger, jedoch launischer Wind zu wehen; er wechselte oft seine Richtung, trieb den Victoria nach Süden, um ihn dann wieder nach Norden zu tragen, schließlich aber riß er den Ballon in westlicher Richtung fort.

Der Doctor recognoscirte, mit der Karte in der Hand, das Königreich Damerghu, ein wellenförmiges, sehr fruchtbares Gebiet, auf welchem die Hütten aus einer Mischung von langem Schilf und Asklepiazweigen erbaut waren; auf den beackerten Feldern erhoben sich Kornmühlen auf kleinen Gestellen, die sie vor der Zudringlichkeit der Mäuse und Termiten schützen sollten.

Bald erreichte man die Stadt Zinder, die sich durch ihren großen Richtplatz auszeichnet; im Mittelpunkt ist der Baum des Todes errichtet; der Henker wacht am Fuße desselben, und wer in seinen Schatten kommt, wird sofort gehangen.

Kennedy sah nach dem Compaß und konnte die Bemerkung nicht unterdrücken: »Nun gehen wir wieder nach Norden.

– Was thut’s! wenn der Weg uns nach Timbuktu führt, werden wir uns nicht darüber beklagen! Niemals ist dann eine schönere Reise unter besseren Umständen zu Stande gekommen! . . .

– Oder bei besserm Gesundheitszustande, fügte Joe rasch hinzu, und ließ sein gutmüthiges Gesicht freudig durch die Zeltvorhänge blicken.

– Da ist ja auch Freund Joe, unser Retter! rief Kennedy; wie geht’s denn?

– Wie natürlich, Herr Kennedy, wie natürlich! noch nie habe ich mich wohler befunden! Nichts reinigt den alten Menschen so gut, als ein Bad im Tschad-See und nachher eine kleine Vergnügungsreise. Sind Sie nicht auch der Meinung?

– Gute Seele! antwortete Fergusson, indem er ihm die Hand drückte; wie viel Angst und Unruhe haben wir um Dich empfunden.

– Und ich um Sie! oder glauben Sie, daß ich über Ihr Geschick ganz ruhig gewesen wäre? Sie können versichert sein, daß ich keine kleine Angst Ihretwegen ausgestanden habe!

– Wir werden uns nie verständigen, wenn Du die Dinge von dieser Seite auffassest.

– Ich sehe, daß sein Sturz ihn nicht verändert hat! fügte Kennedy hinzu.

– Deine edle Aufopferung hat uns gerettet, mein Junge, denn ohne sie wäre der Victoria in den See gefallen, und dann hätte ihn Niemand wieder herausziehen können.

– Wenn wirklich meine Aufopferung, wie Sie meinen Purzelbaum zu nennen belieben, Sie gerettet hat, Herr Doctor, so hat er jedenfalls auch mich selber mitgerettet, denn wir sind jetzt alle drei wieder wohlbehalten bei einander. Wir haben uns also gegenseitig nichts vorzuwerfen.

– Man wird sich mit dem Burschen nie verständigen, meinte der Jäger.

– Das beste Mittel zu einer Verständigung besteht darin, daß wir nicht mehr von der Geschichte sprechen. Was geschehen ist, ist geschehen! Mag es nun gut oder schlecht sein, so nützt es doch nichts, darauf zurückzukommen.

– Eigensinn! schalt der Doctor lachend. Du kannst uns nun wenigstens Deine Geschichte erzählen.

– Wenn sie Sie interessirt! Aber zuvor werde ich mit Ihrer gütigen Erlaubniß diese fette Gans in einen eßbaren Zustand versetzen; ich sehe, daß der Herr Dick seine Zeit nicht verloren hat.

– Wie Du willst, Joe.

– Wir wollen sehen, wie dies afrikanische Wild einem europäischen Magen behagt.«

Die Gans wurde alsbald in den Flammen des Knallgasgebläses geröstet und sodann verzehrt. Joe nahm seine tüchtige Portion davon, wie es sich für einen Menschen, der mehrere Tage nichts gegessen hat, ziemt. Nach dem Thee und dem Grog begann er, von seinen Abenteuern zu erzählen. Er sprach in einer gewissen Aufregung, da er zugleich die Ereignisse mit seiner gewöhnlichen Philosophie beleuchtete. Der Doctor drückte ihm mehrmals kräftig die Hand, als er sah, daß der brave Diener sich mehr mit der Wohlfahrt seines Herrn als mit dem eigenen Ergehen beschäftigt hatte. Bei dem Bericht von der Versenkung der Insel im Tschad-See erklärte er, daß diese Naturerscheinung dort durchaus nicht zu den Seltenheiten gehöre.

Endlich gelangte Joe im Lauf seiner Erzählung zu dem Moment, wo er im Morast versunken, einen letzten Schrei der Verzweiflung ausgestoßen habe.

»Ich hielt mich für verloren, fuhr er fort, und meine Gedanken richteten sich auf Sie. Noch ein Mal begann ich mich loszuarbeiten; wie? kann ich nicht genau sagen, aber ich war durchaus nicht Willens, mich so ohne allen Widerstand verschlucken zu lassen. Plötzlich gewahrte ich, etwa zwei Schritte von mir, ein frisch abgeschnittenes Tauende; ich arbeite mich mit äußerster Anstrengung, so gut es gehen will, bis nahe heran, und ergreife das Tau. Ich ziehe, es hält; ich hebe mich daran empor und stehe in kurzer Zeit auf festem Lande. Am Ende des Taues finde ich einen Anker; es war ein Anker des Victoria! . . . Ach, mein lieber Herr Doctor, ich hatte wohl ein Recht, ihn meinen Rettungsanker zu nennen, wenn Sie sonst nichts dagegen haben. Ich sah, daß Sie hier gelandet waren, und erkannte an der Lage des Taues, nach welcher Richtung hin Sie sich begeben hatten. Mit meinem Muthe waren auch meine Kräfte wiedergekommen, und ich marschirte einen Theil der Nacht hindurch, mich immer weiter von dem See entfernend. Endlich gelangte ich an den Saum eines unermeßlichen Waldes, wo in einem Gehege friedlich Pferde weideten. Es giebt im menschlichen Leben Augenblicke, wo ein Jeder reiten kann, nicht wahr? Ich für mein Theil verlor nicht eine Minute durch überflüssige Reflexionen, springe einem dieser Vierfüßler auf den Rücken und sprenge in aller Geschwindigkeit gen Norden. Ich erzähle Ihnen nichts von den Städten, die ich nicht gesehen habe, noch von den Dörfern, denen ich aus dem Wege geritten bin. Ich überschreite die Saatfelder, breche durch das Dickicht, überklettere Palissaden, treibe und sporne mein Thier an, und gelange endlich an die Grenze des angebauten Landes. Die Wüste! gut! das ist mir gerade Recht. Ich werde hier eine weitere Strecke übersehen können. Immer hoffte ich, den Victoria zu bemerken, wie er lavirend auf mich wartete. Aber nichts, gar nichts von ihm zu sehen! Nach drei Stunden gerieth ich Thor auf einen Lagerplatz der Araber; ach, was für eine Jagd! … Sehen Sie, Herr Kennedy, ein Jäger weiß eigentlich nicht, was eine Jagd ist, ehe er nicht selbst einmal gehetzt worden ist. Und doch, wenn er es vermeiden kann, gebe ich ihm den Rath, es lieber nicht zu versuchen! Mein Pferd sank vor Mattigkeit zusammen; die Kerle waren dicht hinter mir her; ich springe ab und einem Araber in den Rücken! ich habe nichts Böses mit ihm im Sinn gehabt, und hoffe, er wird mir’s nicht weiter übel nehmen, daß ich ihn erwürgt habe! Aber ich hatte Sie gesehen … und das Uebrige wissen Sie. Der Victoria eilt hinter mir her, Sie nehmen mich im Fluge auf, wie ein Reiter einen Ring auffängt. Hatte ich nicht Recht, daß ich auf Sie meine Hoffnung setzte? Sie haben nun gesehen, Herr Samuel, daß die ganze Geschichte höchst einfach und natürlich zugegangen ist. Ich bin gern bereit, Alles noch einmal durchzumachen, wenn ich Ihnen einen Dienst damit leisten kann; wie ich schon sagte, Herr Doctor, es ist nicht der Mühe werth, davon zu sprechen.

– Mein braver Joe, erwiderte der Doctor gerührt, wir hatten uns nicht geirrt, als wir uns auf Deine Klugheit und Geschicklichkeit verließen!

– Bah! man braucht nur immer den Ereignissen zu folgen, und sich bei precären Geschichten so gut wie möglich herauszuziehen. Das Sicherste ist immer noch, die Dinge zu nehmen, wie sie eben kommen.

Wahrend der Erzählung Joe’s hatte der Ballon in schnellem Fluge eine weite Strecke Landes durchmessen; Kennedy wies jetzt auf einen Complex von Hütten, der am Horizont wie eine Stadt erschien. Der Doctor zog seine Karte zu Rathe und recognoscirte den kleinen Marktflecken Tagelel in Damerghu.

»Wir kommen hier wieder auf die Straße Barth’s, sagte er,»in Tagelel trennte er sich von seinen beiden Begleitern Richardson und Overweg. Der Erstere sollte der Straße nach Zinder, der Letztere der nach Maradi folgen; ihr erinnert euch, daß von diesen drei Reisenden nur Barth Europa wiedersah.

– So steuern wir also jetzt direct nach Norden? fragte der Jäger, indem er auf der Karte die Richtung des Victoria verfolgte.

– Ja, mein lieber Dick.

– Und beunruhigt Dich das nicht einigermaßen?

– Warum meinst Du?

– Nun, weil dieser Weg uns nach Tripoli und über die große Wüste führt.

– O, wir werden so weit nicht kommen, Freund Kennedy, wenigstens hoffe ich es.

– Wo denkst Du einen Halt zu machen?

– Würde es Dir nicht interessant sein, einmal Timbuktu zu besuchen?

– Timbuktu?

– Ei freilich, mischte sich Joe in das Gespräch; wer in Afrika gewesen ist, muß auch Timbuktu gesehen haben.

– Du wirst der fünfte oder sechste Europäer sein, der diese geheimnißvolle Stadt sieht.

– Gut, also nach Timbuktu!

– Wenn wir zwischen den siebzehnten und achtzehnten Breitegrad kommen, werden wir eine günstige Strömung suchen, die uns nach Westen tragen kann.

– Haben wir noch eine lange Strecke nach Norden zu durchreisen? fragte der Jäger weiter.

– Noch mindestens hundertundfünfzig Meilen.

– Dann will ich ein wenig schlafen.

– Gute Ruhe, Herr Kennedy; legen Sie sich gleichfalls nieder, Herr Doctor; die Herren müssen sehr müde sein; ich habe Sie auf wirklich unverschämte Weise wachen lassen.«

Der Jäger streckte sich unter dem Zelte aus, aber Fergusson, über den die Müdigkeit wenig Macht hatte, blieb auf seinem Beobachtungsposten.

Nach drei Stunden überschritt der Victoria mit äußerster Geschwindigkeit ein steiniges Terrain mit hohen, kahlen Bergrücken auf einer Grundlage von Granit; einzelne, isolirte Spitzen erreichten sogar viertausend Fuß Höhe. Giraffen, Antilopen, Strauße sprangen mit wunderbarer Behendigkeit durch Wälder von Akazien, Mimosen, Suahs und Dattelpalmen; nach der Dürre der Wüste trat die Vegetation wieder in vollster Pracht in dem Lande der Kailuas auf, die sich ebenso wie ihre gefährlichen Nachbarn, die Tuaregs, mittelst einer Baumwollenbinde das Gesicht verschleiern.

Um zehn Uhr Abends hielt der Victoria nach einer herrlichen Fahrt von zweihundertundfünfzig Meilen über einer bedeutenden Stadt; beim Mondlicht konnte man erkennen, daß ein Theil derselben aus Ruinen bestand, einige Moscheenspitzen traten hie und da, von einem bleichen Mondstrahl beleuchtet, hervor. Der Doctor recognoscirte nach der Höhe der Sterne, daß er sich unter der Breite von Aghades befand.

Diese Stadt, ehemals der Mittelpunkt eines bedeutenden Handels, lag schon theilweise in Ruinen, als Doctor Barth sie besuchte.

Der Victoria, welcher im Schatten nicht bemerkt wurde, landete zwei Meilen oberhalb Aghades, auf einem großen Hirsefelde. Die Nacht war ziemlich ruhig und schwand gegen fünf Uhr Morgens, während ein leichter Wind den Ballon nach Westen und sogar ein wenig nach Süden lockte.

Fergusson beeilte sich, diesen glücklichen Umstand wahrzunehmen. Er stieg schnell empor und entfloh beim ersten, lichten Morgenstrahl.

Achtunddreißigstes Capitel

Achtunddreißigstes Capitel

Rasche Fahrt. – Vorsichtige Entschließungen. – Karawanen. – Beständige Regengüsse. – Gao – Der Niger. – Golberry, Geoffroy, Gray. – Mungo-Park. – Laing. – René Caillié. – Clapperton. – John und Richard Lander.

Der Tag des 17. Mai verging ruhig und ohne jeden Zwischenfall; die Wüste begann von Neuem; ein Wind mittlerer Stärke führte den Victoria nach Südwesten; dieser wich weder nach rechts noch nach links ab, und sein Schatten zog auf dem Sande eine strenggerade Linie.

Der Doctor hatte vor seinem Aufbruch der Vorsicht halber die Wasserkisten frisch gefüllt; er fürchtete, in diesen, von den Auelimminianischen Tuaregs unsicher gemachten Gegenden nicht landen zu können. Das Plateau, welches sich achtzehnhundert Fuß über dem Meeresspiegel erhob, fiel nach Süden hin ab. Nachdem die Reisenden die oft von Kameelen beschrittene Straße von Aghades nach Murfuk gekreuzt hatten, befanden sie sich Abends, nach einer Fahrt von hundertundachtzig Meilen, über einem äußerst monotonen Landstrich, unter 16° Br. und 4°55′ L.

Während dieses Tages richtete Joe die letzten Stücke Wildpret, die bis jetzt nur eine sehr summarische Vorbereitung erhalten, zu. Es waren sehr appetitliche Becassinen, die er zum Abendbrod auftrug. Da der Wind günstig war, und der Mond mit seinem bleichen Schimmer die Nacht erleuchtete, beschloß der Doctor, seine Reise nicht zu unterbrechen, ließ den Victoria fünfhundert Fuß steigen, und nun zog dieser so ruhig dahin, daß selbst der leichte Schlaf eines Kindes in ihm nicht gestört worden wäre.

Sonntag Morgen zeigte sich eine neue Veränderung in der Windrichtung; der Victoria trieb nach Nordwesten; einige Raben flogen in der Luft, und am Horizont sah man eine Schaar Geier, die sich aber glücklicher Weise in respectabler Ferne hielten.

Der Anblick dieser Vögel veranlaßte Joe, seinen Herrn in Betreff der neuen Balloneinrichtung zu beglückwünschen.

»Wo wären wir jetzt, wenn der Victoria nur die eine Hülle gehabt hätte? sagte er. Dieser zweite Ballon ist wie die Schaluppe bei einem Schiff; im Fall des Schiffbruchs kann man sie zur Rettung benutzen.

– Du hast Recht, Joe; nur macht mir meine neue Schaluppe einige Sorge; sie kommt dem Schiffe nicht gleich.

– Was willst Du damit sagen? fragte Kennedy.

– Ich meine, der neue Victoria steht an Güte gegen den alten zurück. Mag nun das Gewebe etwas gelitten haben, oder das Guttapercha bei der Hitze des Schlangenrohrs geschmolzen sein, ich constatire einen gewissen Gasverlust, der zwar bis jetzt nicht erheblich, aber doch schon wahrnehmbar ist. Der Ballon zeigt Neigung zu fallen, und um ihn oben zu halten, muß ich das Wasserstoffgas mehr ausdehnen.

– Verdammt!, fluchte Kennedy, es wird dafür kaum eine Abhilfe geben.

– Leider nein, lieber Dick; wir würden darum gut thun, auch die Nacht zu reisen, um Aufenthalt zu vermeiden.

– Sind wir noch weit von der Küste entfernt?, fragte Joe.

– Von welcher Küste, mein Junge? Wissen wir denn, wohin der Zufall uns führen wird? Ich kann Dir nur sagen, daß Timbuktu noch vierhundert Meilen nach Westen zu liegt.

– Und wie viel Zeit werden wir gebrauchen, um dorthin zu gelangen?

– Wenn der Wind uns nicht zu weit verschlägt, denke ich dort Dienstag Abend anzukommen.

– Jedenfalls treffen wir dort eher ein, als diese Karawane,« bemerkte Joe.

Fergusson und Kennedy schauten herab und sahen einen langen Zug von Menschen und Thieren, der sich durch die Wüste hinwand; es waren über hundertundfünfzig Kameele von jener Art, die für zwölf Muttals Gold mit einer Last von fünfhundert Pfund auf dem Rücken von Timbuktu nach Tafilet wandern; Jedes trug unter dem Schwanze einen kleinen Sack, der dazu bestimmt war, seine Excremente aufzunehmen; das einzige Brennmaterial, auf welches man in der Wüste rechnen kann.

Diese Kameele der Tuaregs gehören der besten Species an; sie können drei bis sieben Tage, ohne zu trinken, und zwei Tage, ohne zu fressen, ausdauern; ihre Schnelligkeit übertrifft sogar die der Pferde, und verständnißvoll gehorchen sie der Stimme des Khabir (Karawanenführers). Die Kameele sind im Lande unter dem Namen »Mehari« bekannt.

Diese Einzelheiten theilte der Doctor seinen Begleitern mit, während man die lange Linie von Männern, Frauen und Kindern vorüberziehen sah, die mühsam auf dem halbbeweglichen Sande vorwärts glitten. Einige Disteln, vertrocknete Gräser und hier und da ein kümmerliches Gesträuch verliehen dem Boden kaum einige Festigkeit. Der Wind verwischte fast augenblicklich wieder die Spur der Tritte.

Joe erkundigte sich, wie die Araber ihre Richtung in der Wüste bestimmen können, um die in dieser unendlichen Einöde verstreuten Brunnen nicht zu verfehlen.

»Die Araber, erklärte Fergusson, haben von der Natur einen vorzüglichen Sinn dafür erhalten, ihre Straße zu recognosciren; da, wo ein Europäer sich nicht zu orientiren weiß, schwanken sie nicht einmal; ein unbedeutender Stein, ein Kiesel, ein Grasbüschel, ja schon die verschiedene Nüancirung des Sandes genügt ihnen, um sicher ihrem Ziel zuzuschreiten.

Während der Nacht richten sie sich nach dem Polarstern; sie machen übrigens nie mehr als zwei Meilen in der Stunde, und ruhen während der Mittagshitze; hiernach könnt ihr euch vorstellen, eine wie lange Zeit sie brauchen, um die Sahara, eine Wüste von über neunhundert Meilen, zu durchreisen.«

Der Victoria war jetzt längst den erstaunten Augen der Araber entschwunden, denen seine Schnelligkeit gewiß beneidenswerth erschien. Am Abend zog der Ballon unter 2°20′ L. vorüber, und während der Nacht überschritt er noch mehr als einen Grad.

Am Montag ging eine totale Aenderung des Wetters vor sich; der Regen begann mit großer Heftigkeit herabzuströmen. Man mußte dieser Fluth und der Gewichtsvermehrung, mit der sie den Ballon und die Gondel belastete, Einhalt thun. Der fortwährende Regen gab eine genügende Erklärung von den Sümpfen, die das Land überall erfüllten; die Vegetation bestand auch hier hauptsächlich aus Mimosen, Baobabs und Tamarinden.

Hier lag das Gebiet von Sonray, dessen Dörfer durch die sonderbare Gestalt ihrer Hüttendächer einen so sonderbaren Anblick gewähren. Die Wohnungen sehen aus, als habe man ihnen armenische Hüte aufgestülpt. Es erhoben sich nur wenig Berge, und nur eben Hügel genug, als nöthig waren, um Schluchten und Weiher für die große Masse Perlhühner und Becassinen zu bilden, die hier zu finden sind. Ab und zu durchschnitt in ungestümem Laufe ein Strom die Straßen, der durch die Eingeborenen überschritten wurde, indem sie sich an einer Liane hielten, die an Bäumen herüber und hinüber gespannt war. Statt der Wälder sah man Dschungeln, in denen Alligatoren, Nilpferde und Nashörner ihre Schlupfwinkel suchten.

»Bald werden wir den Niger erreicht haben, sagte der Doctor, die Landschaft nimmt in der Nähe großer Flüsse eine andere Gestalt an. Diese Wasserstraßen haben zuerst die Vegetation hervorgerufen, wie sie später auch die Civilisation hierher bringen werden. So hat der Niger, in seinem Lauf von zweitausendfünfhundert Meilen, an seinen Ufern die wichtigsten Städte Afrika’s.

– Halt, schob hier Joe ein, das erinnert mich an die Geschichte von jenem Schlaukopf, der die Weisheit der Vorsehung besonders darin bewunderte, daß sie die großen Flüsse gerade durch die Städte geführt habe!

Am Mittag segelte der Victoria über die ehemalige Hauptstadt Gao hinweg; jetzt zeigt sie nur noch eine Vereinigung armseliger Hütten, und bildet einen kleinen Marktflecken.

»Dort setzte Barth bei seiner Rückkehr aus Timbuktu über den Niger, erzählte Fergusson, es ist dies der bereits im Alterthum bekannte Fluß, der Nebenbuhler des Nil, dem der heidnische Glaube einen himmlischen Ursprung gab; wie dieser hat er die Aufmerksamkeit der Geographen aller Zeiten in Anspruch genommen; und seine Erforschung hat noch zahlreichere Opfer gekostet als jener.«

Der Niger floß zwischen zwei weit von einander gelegenen Ufern dahin; seine Gewässer rollten mit großer Gewalt dem Süden zu, aber die Reisenden konnten die merkwürdigen Linien seines Laufs nicht näher besichtigen, sie wurden im Fluge weiter getragen.

»Ich wollte euch von diesem Strome sprechen, und schon ist er uns fern gerückt! Unter den Namen des Dhiuleba, Mano, Egghirreu, Quorra und anderen mehr durchfließt er eine ungeheure Länderstrecke, und kann es an Länge fast mit dem Nil aufnehmen. All‘ diese Namen bedeuten schlechtweg »Strom«, je nach der Sprache der verschiedenen Länder, durch welche er fließt.

– Hat Doctor Barth diese Straße verfolgt?, fragte Kennedy.

– Nein, Dick; als er den Tschad-See verließ, reiste er durch die hauptsächlichsten Städte von Bornu und durchschnitt den Niger bei Say, vier Grad südlich von Gao; dann drang er in das Innere jener unerforschten Gegenden, die der Niger in seinem Bogenlaufe umschließt, und gelangte nach achtmonatlichen, neuen Strapazen nach Timbuktu. Diese Reise werden wir bei günstigem Winde in drei Tagen vollenden.

– Hat man die Quellen des Niger entdeckt?, fragte Joe.

– Seit lange schon. Die Erforschung des Niger und seiner Nebenflüsse hat zahlreiche Entdeckungsreisen veranlaßt, von denen ich nur die hauptsächlichsten nennen will. Von 1749 bis 1758 bereist Adamson das Flußgebiet und besucht Gorée; von 1785 bis 1788 durchstreifen Golberry und Geoffroy die Wüsten Senegambiens und kommen bis zu dem Lande der Mauren, die Saugnier, Brisson, Adam, Riley, Cochelet und so viele andere Unglückliche ermordeten. Dann folgt der berühmte Mungo-Park, ein Freund Walter Scott’s, und wie dieser ein Schotte. Er wurde im Jahre 1795 von der afrikanischen Gesellschaft zu London abgesandt, erreicht Bambarra, sieht den Niger, macht in Gesellschaft eines Sklavenhändlers fünfhundert Meilen, recognoscirt den Gambia und kehrt im Jahre 1797 nach England zurück.

Am 30. Januar 1805 reist er mit seinem Schwager Anderson, dem Zeichner Scott und einer Schaar Handwerker wieder ab, kommt in Gorée an, nimmt sich eine Verstärkung von fünfunddreißig Soldaten, sieht am 19. August den Niger wieder, aber von vierzig Europäern bleiben in Folge der übermenschlichen Anstrengungen, Entbehrungen, Mißhandlungen, der Ungunst des Himmels, und der ungesunden Ausdünstungen des Landes nur noch elf am Leben; am 16. November gelangten die letzten Briefe Mungo-Park’s an seine Frau, und ein Jahr später erfuhr man durch einen Handelsmann dieses Landes, daß der unglückliche Reisende am 23. December in Bussa am Niger angekommen, seine Barke von den Katarakten des Stromes umgestürzt, und er selbst von den Eingeborenen ermordet sei.

– Und dies schreckliche Ende hielt die Forscher nicht zurück?

– Im Gegentheil, Dick; denn jetzt hatte man nicht nur den Fluß zu recognosciren, sondern auch die Briefschaften und Notizen des Reisenden aufzusuchen. Im Jahr 1816 wird zu London eine Expedition organisirt, an welcher sich Major Gray betheiligt; diese kommt in das Senegal, dringt nach Futa- Dhiallon, besucht die Völkerschaften der Fulahs und Mandingos und kehrt ohne weiteres Ergebniß nach England zurück. Im Jahre 1822 erforscht Major Laing jenen ganzen Theil des westlichen Afrika, der den englischen Besitzungen benachbart liegt, und erwirbt den Ruhm, zuerst an die Quellen des Niger gelangt zu sein; nach seinen Angaben hat die Quelle dieses Riesenflusses kaum zwei Fuß Breite.

– Leicht zu überspringen, meinte Joe.

– Leicht? das ist doch noch die Frage, entgegnete der Doctor.»Wenn man der Ueberlieferung Glauben schenkt, so wird ein Jeder, der es versucht, durch Springen über die Quelle zu setzen, sofort verschlungen; wer Wasser daraus schöpfen will, fühlt sich durch eine unsichtbare Hand zurückgezogen.«

– Es ist doch wohl gestattet, daß man nichts davon glaubt? fragte Joe.

– Jeder nach seinem Belieben. Fünf Jahre später sollte der Major Laing sich durch die Sahara schlagen, nach Timbuktu vordringen und einige Meilen weiter nördlich einen furchtbaren Tod durch die Ulad-Shiman finden, die ihn zwingen wollten, Muselmann zu werden.

– Wieder ein Opfer, sagte der Jäger.

– Nun unternahm ein muthiger junger Mann, dem nur geringe Hilfsquellen zu Gebote standen, die erstaunlichste der neueren Reisen und brachte sie auch glücklich zu Ende; ich rede von dem Franzosen René Caillié. Nach verschiedenen Anläufen in den Jahren 1819 und 1824 brach er den 19. April 1827 zu einer neuen Reise von Rio-Nunez auf; am 3. August langte er so erschöpft und krank in Timé an, daß er seine Reise erst im Januar 1828, sechs Monate später, wieder aufnehmen konnte; er gesellte sich dann, durch seine orientalische Kleidung geschützt, einer Karawane zu, erreichte am 10. März den Niger, drang in die Stadt Dschenna und fuhr den Fluß stromabwärts bis Timbuktu, wo er am 30. April ankam. Ein anderer Franzose, Imbert, hatte, vielleicht im Jahre 1670; ein Engländer, Robert Adams, im Jahre 1810 diese interessante Stadt gesehen; aber René Caillié sollte der erste Europäer sein, der genaue Angaben über dieselbe heimbringen durfte; am 4. Mai verließ er diese Königin der Wüste; am 9. besichtigte er genau die Stätte, an welcher Major Laing ermordet worden war; am 19. kam er nach El-Arawan und verließ diese Handelsstadt, um unter tausend Gefahren die großen, zwischen Süden und den nördlichen Gegenden Afrika’s liegenden Einöden zu überschreiten; endlich zog er wieder in Tanger ein und segelte am 28. September nach Toulon ab; in neunzehn Monaten hatte er trotz hundertundachtzigtägiger Krankheit Afrika von Westen bis zum Norden durchreist. Wenn Caillié in England geboren wäre, hätte man ihn als den kühnsten Reisenden der neuern Zeit gleich Mungo-Park geehrt, aber in Frankreich wird er nicht nach Verdienst geschätzt. [Fußnote]

– Ein unerschrockener Mann, stimmte Kennedy bei, was ist aus ihm geworden?

– Er starb im Alter von neununddreißig Jahren an den Folgen seiner Strapazen; man glaubte genug gethan zu haben, als man ihm im Jahre 1828 den Preis der Geographischen Gesellschaft zuerkannte; in England wären ihm die größten Ehrenbezeugungen erwiesen worden! Während übrigens René Caillié diese bewundernswerthe Reise vollendete, faßte ein Engländer, Kapitän Clapperton, der Begleiter Denham’s, den Plan zu demselben Unternehmen, das er mit gleichem Muthe, wenn nicht mit gleichem Glücke ausführte. Im Jahr 1829 begann er vom Busen von Benin an der Westküste seinen Einzug in Afrika, verfolgte den Weg Mungo-Park’s und Laing’s, fand in Bussa die auf den Tod des Erstern bezüglichen Beweisstücke, kam am 20. August in Sackatu an, wo er als Gefangener zurückgehalten, seinen letzten Athemzug in den Armen seines treuen Dieners Richard Lander, aushauchte.

– Und was wurde aus diesem Lander? fragte Joe sehr interessirt.

– Es gelang ihm, die Küste wieder zu erreichen; er kehrte nach London zurück und brachte die Briefschaften des Kapitäns und einen genauen Bericht seiner eigenen Reise mit; dann bot er der Regierung seine Dienste an, um die Erforschung des Niger zu vervollständigen; zur Gesellschaft nahm er seinen Bruder John, das zweite Kind armer Leute aus Cornwallis, mit, und die Beiden fuhren in den Jahren 1829 bis 1831 den Fluß von Bussa bis zur Mündung stromabwärts, indem sie ihre Reise Dorf für Dorf, Meile für Meile beschrieben.

– So sind also diese beiden Brüder dem allgemeinen Schicksal entgangen? fragte Kennedy.

– Ja, wenigstens auf dieser Forschungsreise; im Jahre 1833 aber, als Richard eine dritte Niger-Fahrt unternommen hatte, kam er nahe der Mündung des Flusses um; eine Kugel von unbekannter Hand hatte ihn getroffen. Ihr seht also, meine Freunde, das Land, durch welches wir gegenwärtig reisen, ist vielfach Zeuge edler Aufopferung gewesen, die nur zu oft mit dem Tode belohnt worden ist!