Neunzehntes Capitel.


Neunzehntes Capitel.

Vom Packeise getrieben, war die Insel mit rasender Schnelligkeit bis in das Behrings-Meer gekommen, ohne in der gleichnamigen Meerenge an’s Land zu stoßen. Immer wich sie noch ab, gedrängt durch die unwiderstehliche Eiswand, die ihre Kraft der unterseeischen Strömung der Tiefe entlehnte; immer schob sie diese dem erwärmteren Wasser entgegen, das bald ihr Untergang werden mußte, jetzt, da das rettende Fahrzeug zertrümmert war!

Mrs. Paulina Barnett kam allmälig wieder zu sich und konnte nun über das vierundsiebenzigstündige Gefängniß in dem verschütteten Hause berichten.

Von der Plötzlichkeit des Eissturzes überrascht, waren Alle nach Thüren und Fenstern gesprungen. Kein Ausweg! Der Sand- und Erdhügel, welcher einige Augenblicke vorher noch Cap Bathurst hieß, lagerte über dem Hause. Fast gleichzeitig hörten die Gefangenen das Aufschlagen der ungeheuren Schollen, die das Packeis über die Factorei stürzte.

Nach kaum einer Viertelstunde merkten Mrs. Paulina Barnett und ihre Leidensgefährten, wie das Haus, nachdem es dem enormen Drucke von oben erfolgreich widerstanden, langsam durch den Boden der Insel einsank. Sein Untergrund verschwand, an dessen Stelle trat – das Wasser des Meeres!

Sich einiger in der Küche verbliebener Nahrungsmittel bemächtigen und nach dem Bodenraume entfliehen, war das Werk eines Augenblickes, die Folge eines unbestimmten Triebes der Selbsterhaltung. Und konnten die Unglücklichen denn ein Fünkchen Hoffnung bewahren? – Vorläufig schien wenigstens der Dachstuhl auszuhalten, über dem sich wahrscheinlich zwei Eisstücke gegen einander stemmten und ihn so vor dem Zerdrücktwerden bewahrten.

Immer hörten sie nach ihrer Flucht in den Bodenraum noch die riesigen Bruchstücke der Eislawine herunter poltern, und dazu stieg unter ihnen das drohende Wasser. Hier der Tod durch Erdrücken, dort durch Ertrinken!

Wie durch ein Wunder leistete das Dach ausreichenden Widerstand, und auch das Haus kam, nachdem es zu einer gewissen Tiefe eingesunken war, zum Stehen, doch stieg das Wasser im Bodenraum wohl einen Fuß hoch.

Mrs. Paulina Barnett, Madge, Kalumah und Thomas Black hatten sich bis in die Balkenkreuzungen hinein geflüchtet, zwischen denen sie so lange Stunden aushalten mußten, wobei die dienstfertige Kalumah immer bereit war, Einen oder dem Anderen etwas Nahrung durch das Wasser hindurch zuzutragen. Jeder Rettungsversuch erschien vergeblich, nur von außerhalb konnte ihnen Hilfe kommen.

Eine entsetzliche Lage! Nur mühsam vermochten sie noch in der an Sauerstoff armen und mit Kohlensäure überladenen Luft zu athmen – wenn ihre Rettung sich noch um einige Stunden verzögerte, so hätte Jasper Hobson nur noch Leichen vorgefunden.

Mrs. Paulina Barnett begriff bald, was geschehen war. Sie vermuthete, daß das Packeis über die Insel herein gebrochen sei, und schloß aus dem unter dem Hause rauschenden Wasser, daß diese widerstandslos nach Süden gedrängt werde. Hieraus erklärt es sich auch, warum sie nach wiedererlangtem Bewußtsein sogleich um sich blickte und jene wenigen Worte ausstieß, die nach dem Verluste des Schiffes eine so verhängnißvolle Bedeutung hatten.

In jenem Augenblicke fehlte aber allen Uebrigen die Zeit, sich nach dem umgebenden Meere umzusehen, nur für Eines hatten sie ein Verständniß, für die Rettung Derjenigen, die ihnen fast mehr als ihr eigenes Leben galt, und für die Madge’s, Kalumah’s und Thomas Black’s. Bis jetzt fehlte also, trotz aller überstandenen Prüfungen und Gefahren, noch Keiner von den Leuten, die Jasper Hobson wider seinen Willen zu einer so grauenvollen Lage geführt hatte.

Diese sollte sich aber bald noch weiter verschlimmern und das Ende der Katastrophe herbeiziehen, deren Lösung ja nicht mehr fern sein konnte.

Lieutenant Hobson beeilte sich, die Ortslage der Insel noch an demselben Tage aufzunehmen. Ein Verlassen der letzteren wurde nun nach Zerstörung des Fahrzeuges und Befreiung der Wasserfläche von ihrer Eisdecke zur Unmöglichkeit. An Stelle der Eisberge schwammen im Norden nur noch die Trümmer der Packeiswand, deren einstürzender Gipfel Cap Bathurst dem Boden gleich gemacht hatte, und deren tief eingetauchte Basis die Insel nach Süden zu drängte.

Bei Durchsuchung der Trümmer des Hauptgebäudes fand man glücklicher Weise die Instrumente und Karten, welche Thomas Black bei sich führte, unversehrt wieder auf. Zwar deckten Wolken den Himmel, doch erschien dann und wann die Sonne lange genug, so daß Lieutenant Hobson deren Höhe mit hinreichender Genauigkeit messen konnte.

Die Berechnung ergab, daß sich die Insel an diesem Tage, dem 12. Mai, unter 168° 12′ westl. Länge von Greenwich und unter 63° 27′ nördl. Breite befand. Der auf der Karte eingezeichnete Punkt lag dem Norton-Golf zwischen dem asiatischen Vorgebirge Tschaplin und dem amerikanischen Cap Stephens gegenüber, doch von beiden Küsten mehr als hundert Meilen entfernt.

»Wir müssen also darauf verzichten, an einem Continente anzulaufen? sagte da Mrs. Paulina Barnett.

– Ja, Madame, erwiderte Jasper Hobson, von dieser Seite ist jede Hoffnung geschwunden. Die Strömung reißt uns mit großer Schnelligkeit nach der offenen See hinaus, und können wir blos noch auf die Begegnung eines Walfängers rechnen, der in Sicht der Insel vorüber käme.

– Könnte uns indeß die Strömung, fragte die Reisende, wenn auch nicht gegen das Festland, so doch einer der Inseln im Behrings-Meere zutreiben?«

Wirklich schimmerte in dieser Möglichkeit noch eine schwache Hoffnung, an die sich die Halbverzweifelten anklammerten, wie der Ertrinkende an das schwächste Brett. An Inseln fehlte es ja nicht in jenen Theilen des Behrings-Meeres, da waren St. Laurent, St. Mathieu, Nouniwak, St. Paul, Georg u. a. m. Von St. Laurent, einer ziemlich umfangreichen Insel mit vielen benachbarten Eilanden, trennte die schwimmende Insel jetzt kein zu großer Zwischenraum, und beim Verfehlen jener durfte man noch auf den unterbrochenen Bogen der Aleuten rechnen, der das Behrings-Meer im Süden abschließt.

Ja, St. Laurent konnte zum Rettungshafen für die Verschlagenen werden! Und wenn nicht dieses, dann St. Mathieu oder die Gruppe kleiner Inseln, deren Mittelpunkt letztere bildet. Die Aleuten noch zu erreichen, war bei ihrer Entfernung von mehr als achthundert Meilen kaum zu erwarten. Vorher, lange vorher mußte die gleichsam untergrabene Insel Victoria von dem wärmeren Wasser gelöst, von den Strahlen der Sonne, die schon in das Zeichen der Zwillinge trat, geschmolzen sein.

Jedenfalls erschien diese Annahme begründet. In der That ist die Entfernung, bis zu welcher sich das Eis dem Aequator nähert, sehr veränderlich und kleiner in der südlichen, größer in der nördlichen Hemisphäre. Nicht gar selten begegnet man jenem noch in der Breite des Cap der Guten Hoffnung, d. h. etwa in der siebenunddreißigsten Parallele, während die dem Arktischen Meere entstammenden Eisberge noch niemals den vierzigsten Grad der Breite überschritten. Offenbar steht aber die Schmelzungsgrenze des Eises mit der Temperatur in bestimmtem Verhältnisse und hängt wesentlich von klimatischen Bedingungen ab. Nach langen Wintern tritt das Eis noch unter niedreren Breiten auf; bei frühzeitigem Thauwetter ist natürlich das Gegentheil der Fall.

So verhielt es sich aber bei dem zeitigen Frühlinge des Jahres 1861, welcher die Schmelzung der Insel Victoria um ebenso viel früher herbeiführen mußte. Schon färbte sich das Wasser des Behrings- Meeres grünlich und verlor sein bläuliches Aussehen, das ihm nach dem Berichte des Seefahrers Hudson bei Annäherung von Eisbergen eigenthümlich sein soll. Jetzt, da nun die Schaluppe fehlte, stand eine Katastrophe jeden Augenblick zu befürchten.

Jasper Hobson suchte eine solche dadurch abzuwenden, daß er ein hinreichend großes Floß zimmern ließ, um im Nothfalle die ganze kleine Colonie aufzunehmen und wohl oder übel nach dem Festlande überzuführen, oder wenigstens eine Zeit hindurch mit einiger Sicherheit See zu halten. Im Uebrigen wurde die Begegnung eines Schiffes mit jedem Tage wahrscheinlicher, da sich jetzt gewiß schon Walfänger nach dem Norden zu gehen anschickten. Mac Nap erhielt also Auftrag, ein geräumiges und festes Floß zu zimmern, welches sich schwimmend erhalten sollte, wenn die Insel Victoria unterginge.

Noch dringlicher erschien es aber, vorher irgend einen bewohnbaren Raum herzustellen, in dem die unglücklichen Insassen der Insel ein schützendes Unterkommen finden konnten. Als einfachster Ausweg bot sich da die Abräumung des vormaligen Soldatenhauses, dessen Wände noch benutzbar sein würden. Entschlossen gingen Alle an’s Werk, und schon nach wenigen Tagen war man im Stande, sich vor der Unbeständigkeit des regnerischen und stürmischen Klimas zu flüchten.

Auch im Hauptgebäude suchte man wiederholt nach und glückte es, aus den versenkten Zimmern verschiedene mehr oder minder nützliche Gegenstände, Werkzeuge, Waffen, Bettgeräthe, einige Meubles, die Ventilationspumpen, das Luftreservoir u.s.w. zu retten.

Am folgenden Tage, dem 13. Mai, mußte man jede Hoffnung aufgeben, bei der Infel St. Laurent anzulanden.

Die Lagenbestimmung lieferte den Beweis, daß die Insel weit östlich von jener vorübertrieb; wirklich stoßen die Strömungen ganz im Allgemeinen fast nie gegen ihre natürlichen Hindernisse, sondern umgehen diese eben, und Lieutenant Hobson erkannte bald, daß auf diesem Wege an eine Landung nicht zu denken sei. Die Aleuten-Inseln allein, welche wie ein riesiges Netz durch mehrere Längengrade vor dem Behrings-Meere im Bogen ausgespannt erscheinen, versprachen die Insel aufzuhalten; aber würde sie, wie erwähnt, so lange ausdauern? Jetzt flog sie zwar mit größter Schnelligkeit dahin, wie aber, wenn diese sich verminderte, wenn die drängenden Eisberge sich auf irgend eine Weise von ihr ablösten, vielleicht vorher zusammenschmolzen, da sie keine Erd- und Sandschicht vor der unmittelbaren Sonneneinwirkung schützte?

Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett, Sergeant Long und der Meister Zimmermann behandelten diese Frage wiederholt und einigten sich unter Erwägung der tatsächlichen Verhältnisse in der Ansicht, daß die Insel in keinem Falle bis zu den Aleuten gelangen könne, ob sich nun ihre Bewegung verlangsame, sie aus dem Behrings-Strome heraus gedrängt werde oder unter dem zweifachen Angriff des Wassers und der Sonnenwärme untergehe.

Am 14. Mai griffen Meister Mac Nap und seine Leute ihr Werk an und begannen ein geräumiges Floß zu zimmern. Es handelte sich darum, dieses Bauwerk so hoch als möglich über das Wasserniveau hervortreten zu lassen, um es nach Kräften gegen Sturzseen zu sichern. Das Werk war jetzt kein leichtes, doch rief das nur den Eifer der Arbeiter wach. Glücklicher Weise hatte der Schmied Raë auch eine beträchtliche Menge eiserner Klammern wieder aufgefunden, die man einst von Fort-Reliance aus mitgenommen, und dienten dieselben dazu, die unteren Theile des Flosses sehr fest mit einander zu verbinden.

Die Stelle, auf der jenes erbaut wurde, verdient wohl einer Erwähnung. Einem Einfalle Jasper Hobson’s entsprachen folgende Maßnahmen Mac Nap’s: Statt nämlich große und kleine Holzstämme auf dem Erdboden richtig zu ordnen, geschah das gleich auf dem Wasser der Lagune. Die mit Schrauben- und Zapfenlöchern versehenen Bäume wurden in den kleinen See hinab befördert, wo man sie ohne Mühe handhaben konnte. Hiermit erreichte man zwei Vortheile, denn zunächst konnte der Zimmermann sofort über die Tragkraft und den Grad der Stabilität seiner Arbeit urtheilen, und dann schwamm auch das Floß schon, wenn die Insel einst unterging, und war nicht den Schwankungen und den etwaigen Stößen des geborstenen Bodens ausgesetzt, die ihm gefährlicher werden mußten, wenn es noch am Lande lag. Diese zwei sehr wohl zu erwägenden Gründe veranlaßten den Meister Zimmermann, auf obige Art und Weise vorzugehen.

Während dieser Arbeiten schweifte Jasper Hobson bald allein, bald in Begleitung der Mrs. Paulina Barnett am Ufer umher. Er beobachtete den Zustand des Meeres und die wechselnden Aushöhlungen der Küste, die das Meer ausnagte. Sein Auge glitt über den einsamen, verlassenen Horizont dahin, an dem sich auch im Norden keine Riesengestalt eines Eisberges mehr abzeichnete. Vergeblich suchte er, wie alle Schiffbrüchigen, »jenes rettende Fahrzeug, das nie erscheint«. Die Einsamkeit des Oceans unterbrach nur der Durchzug einiger Spritzfische, die sich in dem grünlichen Gewässer tummeln, wo es von Myriaden fast mikroskopischer Thierchen, ihrer wesentlichen Nahrung, wimmelt. Dazu schwammen Hölzer vorüber, verschiedene aus heißen Ländern entführte Arten, welche die großen Meeresströmungen bis hier hinauf trugen.

Eines Tages, es war am 16. Mai, gingen Mrs. Paulina Barnett und Madge zwischen Cap Bathurst und dem früheren Hafen bei schöner Witterung und warmer Luft spazieren. Schon seit geraumer Zeit verschwand jede Spur von Schnee von der Oberfläche der Insel. Nur die Eisstücken, welche die Schollenwand am Ufer aufgehäuft hatte, erinnerten noch an das Polarklima. Nach und nach schmolzen aber auch jene, Tag für Tag sprangen neue Wasserfälle von dem Gipfel und den Seitenwänden des Eishaufens, und voraussichtlich mußte die Sonne bald alle nur von der letzten Winterkälte verlötheten Massen gelockert und zerstört haben.

Die Insel Victoria bot wirklich einen seltsamen Anblick und hätte unter anderen Verhältnissen wohl das lebhafteste Interesse erweckt, als der Frühling sich daselbst mit ungewohnter Kraft äußerte und das Pflanzenleben sich unter diesen milderen Breiten mit wahrhafter Ueppigkeit entwickelte. Moose, kleine Blumen, Mrs. Joliffe’s Sämereien, Alles sproßte fröhlich empor, und nicht an der Menge der Pflanzen allein, sondern auch an ihrer lebhafteren Färbung erkannte man die vegetative Kraft des dem arktischen Klima entführten Bodens. Die sonst blassen, wasserblauen Blüthen schmückten sich mit wärmeren Farbentönen, alle Bäume und Gesträuche mit satterem Grün.

Ihre Knospen sprangen bei dem Wiedereintritt des Saftes, den eine Temperatur von manchmal + 20° in die Gefäße trieb. Die arktische Natur wandelte sich unter einem Breitengrade, der in Europa etwa dem von Christiania oder Stockholm entsprach, vollständig um.

Für die sich überall meldenden Naturkräfte hatte Mrs. Paulina Barnett jetzt freilich kein Auge. Vermochte sie in dem Zustande ihres vorübergehenden Wohnsitzes etwas zu ändern? – Konnte sie die schwimmende Insel wieder an die feste Erdrinde heften? Nein! In ihr regte sich nur das Vorgefühl der letzten Katastrophe, wie sie der Instinct vielleicht den Hunderten von Thieren verrieth, welche immer in der Nähe der Factorei umherschweiften. Diese Füchse, Zobelmarder, Hermeline, Luchse, Biber, Bisamthiere und Wiesel, welche die nahe drohende Gefahr ahnten und alle ihre Scheu zu verlieren schienen, alle schlossen sich ihren erklärten Feinden, den Menschen, an, so als ob sie von diesen Rettung erhofften. Sie zeigten eine stillschweigende, instinktive Anerkennung der menschlichen Überlegenheit, und das gerade jetzt, wo auch diese Überlegenheit so machtlos war!

Nein! Mrs. Paulina Barnett wollte von alledem nichts sehen; immer hingen ihre Blicke nur an jenem grausamen, grenzenlosen Meere, das mit dem Himmelshorizonte verschwamm.

»Meine arme Madge, sagte sie, in dieses Unglück habe ich Dich gebracht, Dich, die mir überallhin folgte und deren Ergebenheit und freundschaftliche Treue wohl ein anderes Loos verdient hätte! Kannst Du mir verzeihen?

– Es giebt Nichts auf der Welt, was ich Dir nicht verzeihen würde, meine Tochter, antwortete Madge; aber irgend Etwas nicht mit Dir zu theilen, das wäre mein Tod gewesen.

– Madge! Madge! rief die Reisende, wenn ich mit meinem Leben das aller jener Unglücklichen erkaufen könnte, ich würde es freudig hingeben.

– Du hast also keine Hoffnung mehr, meine Tochter? fragte Madge.

– O Gott, nein!« antwortete Mrs. Paulina Barnett, und fiel schluchzend ihrer Begleiterin in die Arme.

Für einen Augenblick kam das Weib doch in dieser so männlich angelegten Natur zum Durchbruch, und wer bliebe bei solchen Prüfungen auch stets von jeder Schwäche frei?

Mrs. Paulina Barnett ging das Herz über, und Thränen flossen aus ihren Augen.

Mit ihren Liebkosungen und Küssen suchte Madge sie zu trösten.

»Madge, bat die Reisende, den Kopf wieder erhebend, sage ihnen wenigstens nicht, daß ich geweint habe.

– Nein, nein, versicherte Madge, sie würden’s mir auch gar nicht glauben. Das war nur ein Augenblick des Kleinmuths! Auf, ermanne Dich, meine Tochter, Du unserer Aller Seele! Auf, auf, und fasse neuen Muth!

– Hoffst Du denn noch immer? rief Mrs. Paulina Barnett, und sah ihrer treuen Gefährtin tief in’s Auge.

– Ich hoffe immer!« antwortete einfach Madge. Und doch, war es denn möglich, sich noch einen Hoffnungsschimmer zu bewahren, als die Insel einige Tage später weit ab von der St. Mathieu-Gruppe vorüberschwamm und nun im ganzen Behrings-Meer kein Land mehr lag, das sie auf ihrem verderblichen Zuge hätte aufhalten können?

Zwanzigstes Capitel.


Zwanzigstes Capitel.

Die Insel Victoria trieb nun in dem ausgedehntesten Theile des Behrings-Meeres dahin, noch sechshundert Meilen von den ersten Aleuten, und mehr als zweihundert Meilen von der nächsten Küste an der Ostseite entfernt. Ihre Bewegung war noch immer eine sehr schnelle. Im Fall sich diese aber nur im Geringsten verminderte, erforderte es mindestens drei Wochen, bis sie jenen Inselgürtel erreichen konnte, der dieses Meer im Süden abschließt.

Würde diese Insel, deren Basis sich unter dem Einflusse des warmen Wassers, das schon eine Temperatur von + 10° hatte, täglich verminderte, so lange ausdauern? Konnte sich ihr Boden nicht jeden Augenblick aufthun?

Mit aller Macht drängte Jasper Hobson zur Vollendung des Flosses, dessen unterer Theil schon auf dem Wasser der Lagune schwamm. Mac Nap bestrebte sich, seinem Bauwerk die größtmöglichste Sicherheit zu geben, um es zu befähigen, im Nothfall auch länger einer bewegten See Stand zu halten, da man doch nicht darauf rechnen durfte, einem Walfänger zu begegnen, sondern bis zu den Aleuten- Inseln hinab zu fahren.

Noch immer hatte die Insel Victoria in ihrer allgemeinen Gestaltung keine auffällige Veränderung erfahren. Zwar zog man alltäglich auf Kundschaft aus, wagte sich aber nur mit größter Vorsicht von der Factorei weg, da jeden Augenblick ein Bruch des Bodens erfolgen und eine Zerstückelung der Insel das allgemeine Centrum von den Ausgegangenen trennen konnte, welche dann keine Hoffnung mehr hatten, ihre Gefährten je wiederzusehen.

Der tiefe Einschnitt in der Nähe des Cap Michael, welchen der Winterfrost wieder geschlossen hatte, that sich von Neuem auf und erstreckte sich jetzt eine halbe Meile landeinwärts bis nach dem vormaligen Paulina-Flusse. Es stand sogar zu befürchten, daß er dem Bett desselben nachgehen, und längs dieser, schon von Natur dünneren Linie aufbrechen würde. In diesem Falle mußte die ganze Küstenstrecke zwischen dem Cap Michael und dem Barnett-Hafen, d. h. ein ungeheures Stück von mehreren Quadratmeilen, verschwinden. Lieutenant Hobson empfahl also seinen Leuten, sich nicht unnöthig dorthin zu begeben, denn seiner Ansicht nach genügte wohl schon ein heftigerer Wellenschlag im Meere, um dieses Stück der Insel loszureißen.

Inzwischen führte man an verschiedenen Stellen Sondirungen aus, um diejenigen kennen zu lernen, welche in Folge ihrer Dicke der Auflösung den längsten Widerstand zu leisten versprachen. Die beträchtlichste Dicke fand man gerade in der Nähe des Cap Bathurst, an der Stelle der alten Factorei. wobei natürlich nicht der Durchmesser der Erd- und Sandschicht, denn auf diese war ja wenig Verlaß, sondern der der Eiskruste in Anschlag kam. Gewiß war das noch ein glücklicher Umstand. Die betreffenden Punkte wurden später offen gehalten, so daß man sich jeden Tag von der Stärkeabnahme der Basis der Insel zu überzeugen vermochte. Wenn diese Abnahme auch nur langsam vor sich ging, so machte sie doch Tag für Tag Fortschritte. Drei Wochen lang konnte die Insel, wenn man das immer wärmere Wasser, dem sie entgegen trieb, in Rechnung brachte, schwerlich noch aushalten.

Vom 19. bis zum 25. Mai trat schlechtes Wetter ein, und entfesselte sich ein heftiger Sturm. Vom Himmel leuchteten die Blitze und hallte der rollende Donner wieder. Das von starkem Nordwestwinde aufgewühlte Meer wogte in hohen Wellen, die der Insel gefährlich zu werden drohten. Die ganze kleine Colonie hielt sich zusammen und bereit, sich auf dem Flosse, das nun so ziemlich ausgebaut war, einzuschiffen. Man belud es sogar mit einigem Vorrat an Lebensmitteln und Trinkwasser, um auf jede Eventualität gefaßt zu sein.

Bei diesem Sturme fiel auch noch reichlicher Regen, ein warmer Platzregen, dessen große Tropfen tief in den Boden der Insel einschlugen, und welche bis zur Basis derselben dringen mußten. Durch jene Infiltrationen schmolz nun offenbar der Boden auch von oben her und außerdem schwemmten sie die überlagernden Schichten an manchen Punkten weg, so daß vorzüglich an kleinen Abhängen die Eiskruste zum Vorschein kam. Solche Stellen überdeckte man dann wieder sorgfältig mit Sand und Erde, um sie der Einwirkung der wärmeren Temperatur zu entziehen. Ohne diese Vorsicht wäre der Boden wohl bald wie ein Sieb durchlöchert gewesen. Auch an den bewaldeten Hügeln an den Ufern der Lagune richtete der Sturm einen unermeßlichen Schaden an. Sand und Erde wurden durch die Regenmassen fortgespült, und die ihren Halt verlierenden Bäume stürzten in großer Anzahl nieder. Binnen einer Nacht hatte sich das Aussehen jenes Theiles der Insel vollkommen verändert. Nur wenige Birkengruppen und vereinzelte Tannen hatten dem Sturme widerstanden. Auch hierin waren die Fortschritte der Zerstörung des ganzen Gebietes nicht zu verkennen, und doch vermochte die Kraft des Menschen nicht das Geringste dagegen. Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett, der Sergeant und alle Uebrigen sahen wohl ihre Insel nach und nach in Stücke gehen, Alle fühlten es wenigstens, außer vielleicht Thomas Black, der trüb und stumm dieser Welt nicht mehr anzugehören schien.

Während des Sturmes, am 23. Mai, wäre der Jäger Sabine, der bei dichtem Morgennebel ausgegangen war, fast in einem im Laufe der Nacht entstandenen Loche ertrunken, das sich an der Stelle des früheren Hauptgebäudes geöffnet hatte.

Bis jetzt schien bekanntlich das verschüttete und zu drei Viertheilen eingesunkene Haus zwischen der Eiskruste festgeklemmt gewesen zu sein. Jedenfalls hatte es aber der Wellenschlag des Meeres allmälig gelockert und die darüber gehäufte Last in den Abgrund hinabgedrückt. Erde und Sand rutschten in die entstandene Oeffnung nach, in der die schäumenden Meereswellen sichtbar wurden.

Sabine’s Kameraden, welche auf sein Hilferufen herbeieilten, gelang es noch, Jenen aus der Oeffnung heraus zu lootsen, an deren glatten Rändern er sich krampfhaft anklammerte, so daß er für dieses Mal mit einem unfreiwilligen Bade davon kam.

Bald darauf sah man auch Balken und Planken vom Hause, die unter der Insel hingeschwommen waren, vom Ufer seewärts treiben, wie Wrackstücke eines gescheiterten Schiffes. Das war die letzte vom Sturme angerichtete Verheerung, welche übrigens den Zusammenhalt der ganzen Insel in Frage stellte, da sie auch die inneren Theile derselben den Angriffen des Wassers preisgab, welches sie einem Krebse ähnlich nach und nach zerstörte.

Am Morgen des 25. Mai ging der Wind nach Nordost um. Der Sturmwind schwächte sich zur steifen Brise ab, der Regen ließ nach, und das Meer begann sich zu beruhigen. Friedlich verstrich die Nacht, und am anderen Tage glänzte die Sonne wieder am Himmel, so daß Jasper Hobson eine Ortsaufnahme vornehmen konnte. Diese ergab:

Breite 56° 13′; Länge 170° 23′.

Die Schnelligkeit der Insel war also eine außerordentliche, denn sie hatte fast achthundert Meilen seit den zwei Monaten zurück gelegt, als sie bei Anbruch des eigentlichen Thauwetters in der Behrings- Enge fest lag.

Diese eilige Vorwärtsbewegung erregte in Jasper Hobson wieder einige Hoffnung.

»Meine Freunde, sagte er unter Vorzeigung der Karte des Behrings-Meeres, sehen Sie hier die Aleuten? Jetzt sind sie nur noch zweihundert Meilen von uns entfernt – in acht Tagen dürften wir sie wohl erreichen.

– In acht Tagen, wiederholte Sergeant Long den Kopf schüttelnd, acht Tage sind eine lange Zeit!

– Ja, fügte Lieutenant Hobson hinzu, hätte unsere Insel den hundertachtundsechzigsten Meridian eingehalten, so könnte sie schon jetzt in dem Breitengrade jener Inseln sein. Offenbar treibt sie aber in Folge einer Abweichung des Behrings-Stromes mehr nach Südwesten.«

Diese Beobachtung war ganz richtig. Die Strömung führte die Insel weit ab von allen Ländern und vielleicht gar über die Aleuten hinaus, die sich nur bis zum hundertsiebenzigsten Meridian erstrecken.

Schweigend betrachtete Mrs. Paulina Barnett die Karte. Sie starrte auf den Bleistiftpunkt, der die Lage der Insel bezeichnete. Noch einmal überblickte sie die ganze von der Stelle ihres Winterlagers aus zurück gelegte Strecke, diesen Weg, den ein unglückliches Geschick oder vielmehr die unabänderliche Richtung der Strömungen zwischen so vielen Inseln hindurch und an den Küsten zweier Continente vorüber, ohne einen dieser Punkte zu berühren, vorgezeichnet hatte und der sich nun nach dem unendlichen Pacifischen Ocean hinaus fortsetzte.

So dachte sie in düsterer Träumerei versunken, aus der sie mit den Worten erwachte:

»Aber kann man unserer Insel denn in keiner Weise ihren Weg vorschreiben? Noch acht Tage solcher Schnelligkeit, und wir könnten vielleicht die letzte der Aleuten erreichen!

– Diese acht Tage ruhen in Gottes Hand! antwortete Lieutenant Hobson in ernstem Tone, wird Er sie uns noch schenken? Ich gestehe Ihnen ehrlich, Madame, jetzt kann uns die Rettung nur noch vom Himmel kommen.

– O, das ist mein Glaube auch, Herr Hobson, aber der Himmel will auch, daß man sich seiner Hilfe würdig macht. Ist nicht irgend etwas zu thun, irgend etwas zu versuchen, was noch von Nutzen sein könnte?«

Verneinend schüttelte Jasper Hobson den Kopf. Ihm winkte nur noch ein Rettungsanker, das Floß; aber sollte man sich auf diesem einschiffen, aus irgend welchem Material ein Segel herstellen, und so die amerikanische Küste zu gewinnen suchen?

Jasper Hobson befragte den Sergeant Long, den Zimmermann Mac Nap, auf dessen Urtheil er sehr viel gab, den Schmied Raë und die Jäger Sabine und Marbre. Nach Abwägung des Für und Wider einigte man sich dahin, die Insel nur zu verlassen, wenn man dazu gezwungen sein sollte. Wirklich stellte das Floß nur das letzte Hilfsmittel dar; das Floß, welches das Meer doch überfluthen mußte und dem die Schnelligkeit der von den Eisbergen nach Süden getriebenen Insel abging. Auch der Wind blies vorwiegend von Osten her und hätte das Fahrzeug gewiß eher in’s offene Meer hinaus verschlagen. Noch mußte man warten, immer warten, da die Insel den Aleuten zuschwamm. Näherte man sich dieser Inselgruppe, so würde man sehen, ob etwas zu thun sei.

Gewiß erschien das als das Klügste, und wenn die Schnelligkeit nicht abnahm, so mußte die Insel entweder an der Südgrenze des Behrings-Meeres aufgehalten sein, oder, südwestlich in den Stillen Ocean getrieben, rettungslos verloren gehen.

Das Mißgeschick, welches die Ueberwinternden schon seit langer Zeit verfolgte, sollte sie aber noch mit einem neuen Schlage treffen. Die Geschwindigkeit der Fortbewegung, auf welche sie so sehnlich rechneten, sollte ihnen bald geraubt werden.

Wirklich unterlag die Insel Victoria in der Nacht vom 26. zum 27. Mai zum letzten Male einem Orientationswechsel, dessen Folgen sehr gewichtige waren. Sie machte eine halbe Drehung um sich selbst. Die von der Packeiswand übrig gebliebenen Schollenreste wurden ihr hierdurch nach Süden zu entführt.

Am Morgen sahen die Schiffbrüchigen, ein Name, der ihnen wohl mit Recht zukommt, die Sonne über Cap Eskimo aufgehen, und nicht am Horizonte über dem Barnett-Hafen.

Dort schwammen die durch das Thauwetter sehr verkleinerten, aber doch noch ganz beträchtlichen Eisberge, die sonst die Insel trieben, dahin, und verdeckten einen großen Theil des Gesichtskreises.

Worin bestanden aber jene gewichtigen Folgen des Lagenwechsels? Mußten sich die Eisberge nicht von der Insel, mit welcher kein festes Band sie verknüpfte, ablösen?

Jedem kam die Ahnung eines neuen Unglücks, und Jeder verstand, was der Soldat Kellet sagen wollte, als er ausrief:

»Noch vor heute Abend werden wir unsere Schraube eingebüßt haben!«

Kellet wollte damit sagen, daß diese Eisberge, welche nicht mehr hinter der Insel, sondern jetzt vor derselben waren, nicht zögern würden, sich von jener los zu lösen. Sie hatten ihr aber jene große Schnelligkeit mitgetheilt, da sie so tief in die unterseeische Strömung eintauchten, deren Kraft der flachen Insel offenbar abgehen mußte.

Ja! Der Soldat Kellet hatte nur zu recht. Die Insel befand sich jetzt in der Lage eines Schiffes, dessen Masten gekappt und dessen Schraube zerbrochen war.

Niemand antwortete auf jene Prophezeiung Kellet’s. Doch es verfloß kaum eine Viertelstunde, als sich ein schreckliches Krachen vernehmen ließ. Der Gipfel des Eisberges schwankte, die Masse löste sich, und wahrend die Insel sichtbar zurück blieb, enteilten die von dem unterseeischen Strome entführten Eismassen schnell nach Süden.

Drittes Capitel.


Drittes Capitel.

Von diesem Tage ab wurde beschlossen, die jedesmalige Lage, so wie es an Bord der Schiffe gebräuchlich ist, einzutragen, vorausgesetzt, daß der Zustand der Atmosphäre die Beobachtungen gestatte. War diese Insel Victoria denn im Grunde etwas Anderes, als ein Schiff, und zwar ein solches, welches ohne Segel und Steuer dem Zufall überlassen umherirrte?

Am anderen Tage constatirte Jasper Hobson nach Berechnung der geographischen Lage, daß die Insel ohne Veränderung der nördlichen Breite einige Meilen weiter nach Westen geführt worden war. Dem Zimmermann wurde nun Auftrag gegeben, unverzüglich an den Bau eines geräumigen Schiffes zu gehen. Jasper Hobson schützte dabei eine im nächsten Sommer zu unternehmende Entdeckungsreise längs der Küste bis zum russischen Amerika hin vor. Ohne weiter zu fragen, beschäftigte sich der Zimmermann mit der Auswahl der nöthigen Stämme und wählte als Werft eine seichte Uferstelle neben Cap Bathurst, um sein Bauwerk dereinst bequem in’s Meer bringen zu können.

Lieutenant Hobson wollte an demselben Tage sein Vorhaben, das Territorium, auf welchem er jetzt sammt seinen Gefährten gefangen war, zu untersuchen, ausführen. Da in der Gesammtform dieser Insel, welche unter dem Einflusse der wechselnden Wassertemperatur stand, wesentliche Veränderungen eintreten konnten, erschien es von Wichtigkeit, deren jetzige Form, Oberfläche und selbst deren Dicke an gewissen Stellen genau festzustellen. Die Bruchstelle, das heißt also wahrscheinlich der Isthmus, sollte sorgfältig untersucht werden, da an diesem frischen Bruche vielleicht die geschichtete Lage von Eis und Erde zu erkennen war, welche den Boden der Insel bildete.

An eben diesem Tage verdüsterte sich indeß die Atmosphäre, und ein von dickem Nebel begleiteter Sturm brach noch am Nachmittage los. Bald entlud sich der Himmel und fiel der Regen in Strömen. Große Hagelkörner schlugen auf das Dach des Hauses nieder, und dann und wann ließ sich sogar ein entfernter Donner – eine in diesen Breiten sehr ungewöhnliche Erscheinung – hören.

Lieutenant Hobson mußte seine Abreise verschieben und abwarten, bis der Aufruhr der Elemente sich gelegt hatte. Während des 20., 21. und 22. Juli trat aber in dem Zustande des Himmels keine Besserung ein. Bei dem heftigen Sturme donnerten die Wogen mit betäubendem Lärmen an die Küste. Flüssige Lawinen brachen sich mit solcher Gewalt am Cap Bathurst, daß man für dessen ohnehin sehr problematische Solidität fürchten mußte, insofern es sich ja überhaupt nur aus einer Anhäufung von Sand und Erde ohne sicheren Untergrund aufbaute. Wie waren die im offenen Meere diesem wüthenden Sturme ausgesetzten Schiffe zu beklagen? Auf der schwimmenden Insel fühlte man aber nichts von der Bewegung des Wassers, indem deren enorme Masse dem Zorne des Oceans widerstand.

In der Nacht vom 22. zum 23. Juli ließ der Sturm plötzlich nach. Eine steife, aus Nordosten wehende Brise verjagte die letzten am Horizonte aufgehäuften Dunstmassen. Das Barometer stieg um einige Linien, und die atmosphärischen Bedingungen schienen Lieutenant Hobson zum Antritt der kleinen Reise günstig.

Mrs. Paulina Barnett und der Sergeant sollten ihn bei dieser Erforschung begleiten. Eine Abwesenheit von ein bis zwei Tagen konnte den Bewohnern der Factorei nicht auffallen, und so versorgte man sich mit einer gewissen Menge gedörrten Fleisches, mit Schiffszwieback und einigen Flaschen Branntwein, wodurch die Reisetasche der Wanderer nicht allzu sehr belastet werden konnte. Noch waren die Tage sehr lang, und nur wenige Stunden über verschwand die Sonne unter dem Horizonte.

Ein Zusammenstoß mit gefährlichen Thieren hatte keine große Wahrscheinlichkeit für sich. Die Bären schienen von ihrem Instinct geführt, die Insel Victoria zur Zeit, als sie noch eine Halbinsel bildete, verlassen zu haben. Aus Vorsicht bewaffneten sich aber Jasper Hobson, der Sergeant und selbst Mrs. Paulina Barnett mit Gewehren. Der Lieutenant und sein Unterofficier trugen außerdem eine Axt und das Schneemesser bei sich, ohne welches ein Reisender in Polarländern überhaupt niemals ausgeht.

Für die Zeit der Abwesenheit des Lieutenant Hobson ging das Commando des Forts dem Range nach auf Corporal Joliffe, d.h. auf seine kleine Frau über, und Jasper Hobson wußte auch, daß er sich auf diese verlassen konnte. Auf Thomas Black war nicht mehr zu zählen, selbst wenn er sich nur einem derartigen Zuge anschließen sollte, doch versprach er wenigstens, während der Abwesenheit des Lieutenants das Meer im Norden zu beobachten und die Veränderungen zu notiren, die sich entweder in jenem oder in der Lagune der Insel vollziehen könnten.

Vielfach hatte Mrs. Paulina Barnett versucht, den armen Gelehrten wieder zur Vernunft zu bringen, doch wollte dieser von Nichts hören. Er hielt sich nicht ohne Grund für mystificirt von der Natur, und konnte derselben diese Mystification niemals verzeihen.

Nach manchem beim Abschied gewechselten Händedrucke verließen Mrs. Paulina Barnett und ihre Begleiter das Fort, wandten sich nach Westen und folgten dem vom Cap Bathurst bis zum Cap Eskimo sich hinziehenden langen Küstenstriche.

Es war acht Uhr Morgens. Die schrägen Strahlen der Sonne belebten die Küste mit falbem Lichte. Die hohle See glättete sich mehr und mehr; alle vom Sturm vertriebenen Vögel, wie die Fettgänse, Wasserscheuer, Taucherhühner und Sturmvögel kehrten zu Tausenden zurück. Ganze Züge Enten flatterten nach den Ufern des Barnett-Sees, ohne zu ahnen, daß sie Mrs. Joliffe’s Kochtopf gerade entgegen flogen. Einzelne Polarhasen, Zobelmarder, Bisamratten und Hermeline erhoben sich vor den Reisenden und entflohen, doch ohne zu große Eile.

Die Thiere schienen im Vorgefühle einer allgemeinen Gefahr die Gesellschaft der Menschen zu suchen.

»Sie wissen es recht gut, daß das Meer sie umschließt, sagte Jasper Hobson, und daß sie die Insel nicht verlassen können.

– Haben diese Nager, wie die Hasen und Andere, fragte Mrs. Paulina Barnett, nicht die Gewohnheit, vor Eintritt des Winters im Süden ein milderes Klima aufzusuchen?

– Ja, Madame, bestätigte Jasper Hobson, für dieses Mal werden sie aber, falls das Eis ihnen keinen Ausweg zu fliehen bietet, mit uns gefangen bleiben, und zum großen Theil durch Kälte und Hunger umkommen.

– Hoffentlich sollen jene Thiere, fügte Sergeant Long ein, uns noch durch die Nahrung, welche sie liefern, sehr nützlich sein und ist es ein wahres Glück für die Colonie, daß sie nicht darauf gekommen sind, vor dem Bruche des Isthmus zu entfliehen.

– Die Vögel werden uns aber zweifellos verlassen? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Ja, Madame, erwiderte Jasper Hobson, alle diese Geflügelarten dürfte die erste Kälte vertreiben. Sie vermögen sehr weite Räume, ohne zu ermüden, zu durchfliegen, und werden, glücklicher als wir, das feste Land wieder erreichen können.

– Nun wohl, warum sollten wir uns ihrer nicht als Boten bedienen? warf da die Reisende ein.

– Das wäre ein Gedanke, sagte Jasper Hobson, ein prächtiger Gedanke. Einige hundert Vögel sind leicht zu fangen, an deren Hals wir ein Papier, welches das Geheimniß unserer Lage enthält, befestigen könnten. Schon im Jahre 1848 versuchte John Roß die Lage seiner Schiffe, Entreprise und Investigator, im Polarmeere den etwa Ueberlebenden von der Expedition Franklin’s durch ein analoges Mittel bekannt zu geben. Er fing einmal einige hundert weiße Füchse in Fallen, versah diese mit einem Halsbande von Kupfer, auf dem die nöthigen Notizen eingravirt waren, und jagte sie dann nach allen Richtungen auseinander.

– Und vielleicht sind einige dieser Boten den Schiffbrüchigen in die Hände gefallen? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Vielleicht, antwortete Jasper Hobson, jedenfalls erinnere ich mich, daß einer dieser Füchse, damals schon ein altes Thier, von dem Kapitän Hatteras bei Gelegenheit seiner Entdeckungsreise gefangen wurde. Dieser Fuchs trug noch das halb durchgescheuerte Halsband unter seinem weißen Pelzfelle versteckt. Was wir nun mit Vierfüßlern nicht auszuführen im Stande sind, das werden wir mit Vögeln ausführen.«

Unter solchem Geplauder und dem Entwerfen verschiedener Projecte für die Zukunft verfolgten die Drei die Küste der Insel, an der sie zunächst keine Veränderung vorfanden. Ueberall dieselben sehr abschüssigen und mit Sand und Erde bedeckten Ufer; auch zeigte sich kein Sprung, welcher eine neuerliche Veränderung im Umfang der Insel hätte vermuthen lassen.

Es war wohl weit mehr zu befürchten, daß der ungeheure Eisblock, wenn er in wärmere Strömungen gerieth, an seiner Basis und folglich an Dickedurchmesser abnähme, eine Hypothese, die Jasper Hobson mit Recht beunruhigte.

Um elf Uhr Morgens hatten die Forscher die acht Meilen, welche Cap Bathurst vom Cap Eskimo trennten, zurückgelegt. An dieser Stelle fanden sie noch die Spuren des Lagers, das die Familie Kalumah’s inne gehabt hatte. Von dem Schneehause war natürlich nichts übrig, doch erinnerten die kalte Asche und die umherliegenden Robbenknochen noch an den Durchzug der Eskimos.

Mrs. Paulina Barnett, Jasper Hobson und der Sergeant machten an dieser Stelle Halt, wollten jedoch die kurzen Stunden der Nacht an der Walroß-Bai, die man einige Stunden später zu erreichen hoffte, verbringen. Sie frühstückten also auf einer leichten, mit magerem und dünnem Grase bedeckten Bodenerhebung. Vor ihren Augen entrollte sich der schöne, glatte Meereshorizont. Kein Segel, kein Eisberg belebte diese weite Wasserwüste.

»Würden Sie sehr erstaunt sein, Herr Hobson, fragte Mrs. Paulina Barnett, wenn sich ein Fahrzeug jetzt Ihren Blicken zeigte?

– Sehr erstaunt, nein, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, aber ich gestehe, sehr erfreut würde ich sein. Während der guten Jahreszeit ist es nicht selten, daß Walfänger von der Behrings-Straße bis in diese Breiten vordringen, vorzüglich, seitdem der Arktische Ocean zum Fischbecken der Wale und Pottfische geworden ist. Wir schreiben jedoch den 23. Juli, und der Sommer ist schon weit vorgeschritten. Die ganze Fischerflotte ist jetzt ohne Zweifel am Kotzebue-Golfe, am Eingange der Meerenge versammelt. Die Walfänger mißtrauen, und das mit Recht, den Überraschungen des Polarmeeres. Sie fürchten das Eis und sind besorgt, etwa davon eingeschlossen zu werden. Gerade diese Eisberge aber, diese Eisströme und dieser Schollenwall, – die Gegenstände der Furcht aller Uebrigen, gerade diese wünschen wir mit größter Sehnsucht herbei. –

– Sie werden auch kommen, Herr Lieutenant, fiel Sergeant Long ein, nur Geduld; bevor zwei Monate in’s Land sind, werden die Wellen des Meeres nicht mehr an das Cap Eskimo schlagen.

– Das Cap Eskimo! sagte lächelnd Mrs. Paulina Barnett, ist aber dieser Name, sind nicht alle die Benennungen, welche wir den Buchten und Spitzen der Halbinsel gegeben hatten, nun etwas verfrüht? Den Barnett-Hafen und den Paulina-Fluß haben wir schon eingebüßt, wer weiß, ob nicht auch Cap Eskimo und die Walroß-Bai an die Reihe kommen?

– Sie werden auch dahin gehen, Madame, antwortete Jasper Hobson, sowie nach ihnen die ganze Insel Victoria, da sie Nichts mehr an das Festland bindet, und ihr Untergang vom Schicksal vorausbestimmt ist. Dieses Ende erscheint unvermeidlich, und haben wir uns bezüglich der geographischen Nomenclatur unnöthige Kosten verursacht. Zum Glück sind unsere Benennungen von der Königlichen Gesellschaft noch nicht angenommen worden, und der ehrenwerthe Roderick MurchisonDer Zeit Präsident der Königlich Geographischen Gesellschaft. wird deshalb keinen Namen aus seinen Karten zu streichen haben.

– Und doch einen einzigen! bemerkte der Sergeant.

– Welchen? fragte Jasper Hobson.

– Das Cap Bathurst, erwiderte Jener.

– Wirklich, Sie haben Recht, Sergeant, Cap Bathurst ist nun aus der Polar-Kartographie zu löschen!«

Zwei Stunden hatten zum Ausruhen genügt. Um ein Uhr Mittags brach die kleine Gesellschaft wieder auf.

Als Jasper Hobson Cap Eskimo schon verlassen wollte, warf er einen letzten Blick auf das umgebende Meer. Da aber Nichts seine Aufmerksamkeit zu fesseln vermochte, schloß er sich Mrs. Paulina Barnett, welche mit dem Sergeanten schon voraus war, an.

»Madame, begann er, Sie haben die Familie Eingeborener, welche wir eben hier früher antrafen, es war wohl kurz vor dem Ende des Winters, doch nicht vergessen?

– Nein, Herr Hobson, entgegnete die Reisende, der guten kleinen Kalumah erinnere ich mich noch heute recht gern. Sie versprach sogar, uns in Fort-Esperance wieder aufzusuchen, ein Versprechen, welches ihr nun zu halten unmöglich ist. Doch weshalb stellen Sie diese Frage an mich?

– Weil ich mich eines Umstandes entsinne, eines Umstandes, auf welchen ich damals kein besonderes Gewicht legte, der sich jetzt aber meiner Erinnerung aufdrängt.

– Und dieser wäre?

– Erinnern Sie sich eines gewissen unruhigen Erstaunens, welches die Eskimos an den Tag legten, als sie am Fuße des Cap Bathurst eine Factorei errichtet sahen?

– Vollkommen, Herr Hobson.

– Entsinnen Sie sich auch, daß ich mich gern verständlich zu machen suchte, um die Gedanken der Eingeborenen zu enträthseln, es aber leider nicht vermochte?

– Recht gut.

– Nun, sagte Lieutenant Hobson, jetzt wird mir ihr Kopfschütteln erklärlicher. Jene Eskimos kannten aus Ueberlieferungen, aus Erfahrung oder sonst welchem Grunde die Natur und den Ursprung der Halbinsel Victoria. Sie wußten, daß wir auf keinem festen Grunde gebaut hatten. Da die Sachen aber ohne Zweifel seit Jahrhunderten ebenso standen, ahnten sie auch keine drohende Gefahr und haben sich deshalb nicht deutlicher erklärt.

– Das kann wohl der Fall sein, Herr Hobson, antwortete Mrs. Paulina Barnett, gewiß war der Verdacht ihrer Genossen der Kalumah aber unbekannt, denn das arme Kind würde nicht angestanden haben, uns denselben mitzutheilen.«

Hierin stimmte auch Lieutenant Hobson der Ansicht Mrs. Paulina Barnett’s vollkommen zu.

»Man muß gestehen, sagte da der Sergeant, daß es ein rechtes Unglück ist, uns gerade zu der Zeit auf der Halbinsel anzusiedeln, als sie sich vom Continente losriß, um durch die Meere zu irren; denn lange, wahrscheinlich sehr lange Zeit wird dort Alles in gleichem Zustande gewesen sein, vielleicht Jahrhunderte hindurch!

– Sagen Sie tausend und abertausend Jahre, Sergeant Long, erwiderte Jasper Hobson, bedenken Sie nur, daß die Pflanzenerde, welche wir augenblicklich unter unseren Füßen haben, erst Zelle für Zelle durch den Wind hierher geführt werden mußte; daß dieser Sand Körnchen für Körnchen hierhergeflogen ist! Ueberdenken Sie den Zeitraum, der einst nöthig war, aus den Samen der Tannen, Birken und anderer Gewächse, Bäume und Sträucher entstehen und sich auch wieder vermehren zu lassen! Das Eis, auf dem wir wandeln, könnte wohl schon vor dem Auftreten des Menschen auf der Erde an den Continent gelöthet worden sein!

– Nun, rief Sergeant Long, dann konnte es auch noch ein paar Jahrhunderte warten, bevor es sich in’s Weite aufmachte, dieses wunderliche Eis. Wie manche Unruhe, wie manche Gefahren vielleicht, wären uns erspart geblieben!«

Diese sehr richtige Reflexion des Sergeant Long beendete das Gespräch, und man setzte seinen Weg rüstig fort.

Vom Cap Eskimo bis zur Walroß-Bai verlief die Küste ziemlich genau von Norden nach Süden, etwa in der Richtung des hundertundsiebenundfünfzigsten Meridianes. Nach rückwärts sah man in einer Entfernung von vier bis fünf Meilen das spitze Ende der Lagune, welche im Strahle der Sonne widerglänzte, und etwas weiter die letzten bewaldeten Erhöhungen, deren Grün ihre Gewässer zierte. Mit rauschendem Flügelschlage zogen einige Pfeiferadler durch die Lüfte. Zahlreiche Pelzthiere, wie Marder, Wiesel und Hermeline, die in sandigen Aushöhlungen halb versteckt oder zwischen magerem Gebüsch verborgen waren, schauten die Reisenden an. Sie schienen zu wissen, daß sie nichts von deren Gewehren zu fürchten hatten. Auch einige Biber bemerkte Jasper Hobson, die in der Irre herumliefen und sich nicht auszufinden wußten, seit der kleine Fluß verschwunden war. Ohne Hütten zu ihrem Schutze und ohne Wasserlauf, um neue Dörfer daran zu errichten, stand es ihnen bevor, durch den Frost umzukommen, sobald die strenge Winterkälte eintrat. Ebenso erkannte Sergeant Long eine Bande Wölfe, welche durch die Ebene stürmte. Man war demnach veranlaßt, zu glauben, daß eine ganze Menagerie der Pelzthiere auf der schwimmenden Insel gefangen sei, und mußten die Raubthiere, wenn der Winter ihren Hunger reizte und sie ihre Nahrung in wärmeren Klimaten doch nicht zu suchen vermochten, den Insassen des Fort-Esperance unzweifelhaft sehr gefährlich werden.

Nur die weißen Bären schienen der Fauna der Insel abzugehen – ein Umstand, über den man sich gewiß nicht zu beklagen hatte. Hinter einer Gruppe Birken glaubte zwar Sergeant Long eine weiße ungeheure Masse in langsamer Bewegung zu erblicken, kam aber, als er genauer nachsah, zu der Ueberzeugung, daß er sich getäuscht habe.

Dieser Theil der Küste, welcher an die Walroß-Bai grenzte, stieg nur sehr wenig über das Niveau des Meeres auf. Da und dort lag es fast in gleicher Ebene mit der Wasserfläche, und schäumend rollten die letzten Ausläufer der Wellen, wie über einen sanften Uferabhang, über ihre Oberfläche. Es schien zu befürchten, daß sich der Erdboden an diesem Theile der Insel schon seit einiger Zeit gesenkt habe; da man aber genaue Merkzeichen nicht besaß, war es unmöglich, eine Veränderung zu erkennen, oder deren Umfang abzuschätzen. –

Jasper Hobson bedauerte, nicht vor der Abweichung des Cap Bathurst solche Zeichen angebracht zu haben, die ihm gestattet hätten, die verschiedenen Senkungen und Vertiefungen der Küste zu messen. Er beschloß aber diese Maßregel sofort nach der Rückkehr auszuführen.

Es ist erklärlich, daß unsere drei Reisenden bei diesen Untersuchungen nicht allzu schnell vorwärts kamen. Oft hielt man an, prüfte den Boden, suchte nach, ob sich irgend wo ein Sprung an der Küste gebildet habe, und dabei drangen die Forscher manchmal eine halbe Meile weit in das Land ein. An gewissen Stellen gebrauchte Sergeant Long die Vorsicht, Weiden- und Birkenstöcke in den Boden zu stecken, welche für die Zukunft als Visirpunkte vorzüglich an den tiefer liegenden Theilen, deren Haltbarkeit zweifelhaft war, dienen sollten. Hier mußte es also leicht sein, spätere Veränderungen zu erkennen.

Inzwischen ging man vorwärts und gegen drei Uhr befand sich die Walroß-Bai nur noch etwa drei Meilen weit im Süden entfernt. Schon von hier aus konnte Jasper Hobson die Mrs. Paulina Barnett auf die Veränderung aufmerksam machen, welche der Bruch des Isthmus, in der That ein Vorgang von tiefgehendstem Einfluß, hervorgerufen hatte.

Früher zeigte sich der südwestliche Horizont durch eine lange Linie rundlicher Erhöhungen abgeschlossen, die das Ufer der großen Bai Liverpool bildeten, – jetzt umrahmte das Wasser den endlosen Horizont. Das Festland war verschwunden. An der Stelle selbst, an der der Bruch stattgefunden hatte, endete die Insel Victoria mit einem schroffen Winkel. Ging man um diesen herum, so mußte das Meer, welches jetzt diese ganze Linie umspülte, die sonst als fester Boden zwischen der Walroß- und der Washburn-Bai lag, sichtbar werden.

Nicht ohne tiefe Bewegung betrachtete Mrs. Paulina Barnett den neuen Anblick; sie hatte ihn zwar erwartet, und doch klopfte ihr heftig das Herz. Suchend schweiften ihre Augen nach dem Lande, das jetzt am Horizonte fehlte, jenes Land, das nun über zweihundert Meilen hinter ihnen lag, und sie glaubte es zu fühlen, daß ihr Fuß nicht mehr auf amerikanischen Boden trat. Für empfindsame Seelen ist es wohl unnöthig, hierbei zu verweilen, doch verdient es erwähnt zu werden, daß Jasper Hobson und selbst der Sergeant die Gemüthsbewegung der Reisenden theilten. Alle beeilten ihre Schritte, um den scharfen Winkel ganz zu erreichen, der noch im Süden vor ihnen lag, und an dem sich der Erdboden etwas hob. Die Schicht von Erde und Sand war allda etwas stärker, was sich ja leicht aus der Nachbarschaft dieses Gebietstheiles und des wirklichen Festlandes erklärte. Die Dicke der Eiskruste und der Erdschichten an dieser Verbindungsstelle machte es auch verständlich, wie der Isthmus so lange hatte halten können, bis ein geologisches Ereigniß dessen Bruch herbeiführte. Das Erdbeben vom 8. Januar hatte den amerikanischen Continent nur wenig erschüttert, sein Stoß aber hingereicht, die Halbinsel, welche nun den Launen des Oceans preisgegeben war, abzubrechen.

Um vier Uhr endlich wurde der Winkel erreicht. Die von einer Ausbuchtung des festen Landes gebildete Walroß-Bai existirte nicht mehr. Sie war bei dem Continente verblieben.

»Meiner Treu, Madame, sagte ernsthaft Sergeant Long zu der Reisenden, es war gut, daß wir ihr nicht den Namen der «Paulina Barnett’s-Bai» gegeben hatten.

– Ja wirklich, erwiderte die Dame, und ich fange an zu glauben, daß ich für geographische Nomenclatur eine unselige Pathin bin!«

Einundzwanzigstes Capitel.


Einundzwanzigstes Capitel.

Drei Stunden später waren auch die letzten Reste der Packeiswand aus dem Gesichtskreise verschwunden, welche Schnelligkeit den Beweis lieferte, daß die Insel jetzt wohl ganz ohne Bewegung verharrte. Es erklärte sich diese Erscheinung dadurch, daß die Strömung, mit der sie vorher dahin trieb, sich nur in größerer Tiefe, aber nicht auf der Oberfläche des Wassers bewegte.

Die Vergleichung zwischen der Mittagsbeobachtung dieses und des folgenden Tages ergab nur eine Ortsveränderung von kaum einer Meile!

Nun gab es nur noch eine Rettung, eine einzige! – Die Aufnahme der Schiffbrüchigen durch einen Walfänger, ob Jene nun so lange auf der Insel blieben oder das Floß diese nach ihrem Untergänge schon ersetzt hatte.

Die Insel Victoria befand sich zur Zeit übrigens unter 54° 33′ der Breite und 177° 19′ der Länge, mehrere hundert Meilen von den Aleuten, dem nächstgelegenen Lande entfernt.

Lieutenant Hobson rief seine Leute noch einmal zusammen, um gemeinschaftlich mit ihnen zu berathen, was zu thun sei.

Alle stimmten in der Ansicht überein, bis zur Schmelzung der Insel auf derselben auszuharren, deren Ausdehnung sie gegen den Wellenschlag unempfindlich machte; häuften sich dann die Anzeichen der nahenden Zerstörung, so sollte sich die ganze kleine Colonie auf dem Floß einschiffen.

Letzteres war nun vollendet. Mac Nap erbaute darauf einen Kajütenraum, eine Art Zwischendeck, in welchem das ganze Personal der Colonie eine Zuflucht finden konnte. Auch einen Mast, der im Nothfalle aufzurichten war, hatte man nebst dem Zubehör an Segelwerk längst vorgerichtet. Bei der Festigkeit des ganzen Bauwerks, und mit Unterstützung günstigen Windes durfte man wohl auf die Rettung der ganzen Gesellschaft durch dasselbe hoffen.

»Nichts ist dem unmöglich, sagte Mrs. Paulina Barnett, der den Winden befiehlt und die Wogen beherrscht!«

Jasper Hobson hatte den Vorrath an Lebensmitteln durchsehen lassen, der keinen Ueberfluß mehr aufwies, nachdem der Eissturz ihn so wesentlich vermindert hatte; dagegen fehlte es an Wiederkäuern und Nagethieren nicht, die an dem üppigen Moos- und Graswuchs der Insel reichliche Nahrung fanden. Da es nöthig erschien, den Abgang an conservirtem Fleisch zu ersetzen, so schossen die Jäger einige Rennthiere und Polarhasen.

Die Gesundheit Aller hielt sich im Ganzen recht gut. Von dem letzten milden Winter hatten sie nur wenig gelitten und waren ihre Körperkräfte trotz der heftigsten Gemüthsbewegungen nicht erschüttert worden. Dennoch sahen sie nicht ohne die trübsten Ahnungen dem Augenblicke entgegen, in dem sie die Insel Victoria, oder richtiger, in dem jene sie selbst verlassen würde. Sie erschraken vor dem Gedanken, auf diesem grenzenlosen Meere und das auf einem Stück Holz zu schwimmen, welches dem Seegange machtlos preisgegeben war. Selbst bei erträglich gutem Wetter mußten die Wellen darüber schlagen und ihre Lage sehr peinlich gestalten. Man bedenke hierbei, daß sie eben keine Seeleute, keine Habitués des Meeres, die sich sorglos einem schwachen Brette anvertrauen, sondern Soldaten waren, und nur an die festen Landgebiete der Compagnie gewöhnt. Zwar trug sie nur eine zerbrechliche, auf dünner Eisscholle ruhende Insel, doch hatte sie einen Erdboden und auf diesem eine grünende Vegetation mit Bäumen und Strauchwerk, die Thiere bewohnten sie gleichzeitig mit ihnen, ihre vollkommene Indifferenz gegen der Seegang ließ sie als unbeweglich ansehen. Ja, sie liebten diese Insel Victoria, ihren Aufenthalt fast zwei Jahre hindurch; diese Insel, die sie so oft nach allen Richtungen durchstreift, die sie angesäet hatten, und welche schon so vielen Umwälzungen erfolgreich widerstand. Nur mit Wehmuth würden sie dieselbe verlassen, und das nur dann erst, wenn jene unter ihren Füßen entwich.

Dem Lieutenant Hobson waren diese Anschauungen nicht fremd und fand er sie sehr natürlich. Er kannte das Widerstreben, mit dem seine Leute das Floß besteigen würden, aber die Verhältnisse drängten zuletzt doch wohl dazu, und konnte die Insel in dem erwärmten Meerwasser ja jeden Augenblick schmelzen, wenigstens ließen sich die drohenden Vorzeichen dieses Endes nicht verkennen.

Das Floß maß auf jeder Seite etwas über dreißig Fuß, bot demnach eine Oberfläche von fast tausend Quadratfuß. Seine Plattform überragte das Wasser nur um zwei Fuß, und die Seiten- Wände ringsum schützten es wohl gegen die ganz kleinen Wellen, während es auf der Hand lag, daß eine nur irgend bewegtere See darüber hinweg gehen mußte. In der Mitte des Flosses hatte der Meister Zimmermann ein kleines Häuschen errichtet, das wohl zwanzig Personen bergen konnte. Rund um dasselbe waren Behälter für die Lebensmittel und das Trinkwasser angebracht und das Ganze mittels Eisenklammern fest mit der Plattform verbunden. Der dreißig Fuß hohe Mast stützte sich an diesen Oberbau, und hielten diesen von den Ecken des Apparates auslaufende Strickleitern. Dieser Mast sollte ein viereckiges Segel erhalten, das natürlich nur dienen konnte, wenn der Wind von rückwärts her wehte. Von irgend einer anderen Takelage mußte bei diesem primitiven Fahrzeuge, das auch nur ein sehr unzulängliches Steuerruder führte, gänzlich abgesehen werden.

So war Mac Nap’s Floß beschaffen, von dem zwanzig Personen, oder bei Hinzurechnung des Kindes, einundzwanzig, ihre Rettung erhofften. Ruhig schwamm es, von starker Leine gehalten, am Ufer der Lagune. Wohl war es mit mehr Sorgfalt gebaut, als Schiffbrüchige durch den plötzlichen Untergang ihres Schiffes auf ein solches zu verwenden vermögen, aber immerhin blieb es doch nur ein Floß.

Schon der 1. Juni brachte wieder neues Unheil. Der Soldat Hope hatte aus der Lagune zu Küchenzwecken Wasser schöpfen wollen. Mrs. Joliffe kostete dasselbe und fand es salzig. Sie rief Hope zurück und sagte ihm, sie habe Süßwasser, aber kein Seewasser verlangt.

Hope erwiderte ihr, daß er dasselbe aus der Lagune geholt habe. Hieraus entspann sich ein lebhafteres Gespräch, welches Jasper Hobson herbeilockte. Bei den Versicherungen Hope’s entfärbte er sich ein wenig und begab sich eiligst nach der Lagune …

Ihr Gewässer erwies sich vollkommen salzig! Offenbar war der Boden derselben weggeschmolzen und das Meerwasser durch die Oeffnung eingedrungen.

Als sich diese Nachricht verbreitete, erfaßte zuerst Alle ein lebhafter Schrecken.

»Kein Trinkwasser mehr!« riefen die armen Leute.

Nach dem Paulina-Flusse verloren sie nun auch den Barnett-See!

Der Lieutenant beeilte sich indeß, die erschreckten Gemüther zu beruhigen.

»An Eis fehlt es uns ja nicht, meine Freunde, sagte er. Macht Euch keine Angst. Wir brauchen nur einige Stücken unserer Insel einzuschmelzen, und ich, hoffe wir werden sie nicht ganz austrinken«, fügte er mit einem Versuche zu lächeln hinzu.

Wirklich verliert das Salzwasser sowohl beim Verdampfen als auch beim Gefrieren alle Mineralbestandtheile, die es in Lösung hielt. Man grub also, wenn man so sagen darf, einige Eisblöcke aus der Erde und schmolz diese nicht nur für den täglichen Gebrauch, sondern auch zur Füllung der Behälter auf dem Flosse ein.

Dieser neue Wink, den die Natur hiermit gegeben hatte, durfte indeß nicht unbeachtet bleiben. Unzweifelhaft löste sich die Insel an ihrer Basis auf, und jener Einbruch des Meerwassers wurde für sie zur beschleunigenden Gefahr. Der Boden konnte nun jede Minute in Stücke gehen, und Jasper Hobson gestattete seinen Leuten nicht mehr sich zu entfernen, da sie leicht von den Uebrigen getrennt und in die offene See hinaus getrieben werden konnten.

Auch die Thiere schienen ein Vorgefühl der ganz nahen Gefahr zu haben und drängten sich um die alte Factorei herum. Seit dem Verschwinden des süßen Wassers bemerkte man, daß sie an den aus dem Boden gehobenen Eisstücken leckten. Sie schienen beunruhigt, manche wie toll geworden, und vorzüglich die Wölfe, welche bandenweise herankamen und mit lautem Gebell wieder das Weite suchten. Die Pelzthiere hielten immer nahe der Stelle des versunkenen Hauses aus; der Bär trottete umher, ebenso friedfertig den Thieren, wie den Menschen gegenüber. Auch er erschien wie aus Instinct unruhig, und hätte gern Schutz gefunden gegen eine Gefahr, die er voraus empfand und nicht abwenden konnte.

Die bis jetzt sehr zahlreichen Vögel verminderten sich. Während der letzten Tage wanderten starke Züge von solchen, deren Flügelkraft ihnen gestattete, einen sehr weiten Raum zu durcheilen, wie z. B. die Schwäne, nach Süden aus, wo sie auf den Aleuten den nächsten Ruhepunkt finden mußten. Ihren Weggang beobachteten Mrs. Paulina Barnett und Madge, die sich eben am Ufer befanden und daraus nicht die beste Aussicht für die nächste Zukunft prophezeiten.

»Ausreichende Nahrung finden diese Vögel auf der Insel, sagte Mrs. Paulina, und sie verlassen dieselbe dennoch! Das hat seinen guten Grund, meine arme Madge.

– Ja, erwiderte diese, sie nehmen ihren Vortheil wahr. Doch wenn sie uns damit einen Wink gegeben, so sollten wir diesen zu benutzen suchen. Mir scheint es dazu auch, als ob die übrigen Thiere unruhiger wären, als je vorher.«

Noch an diesem Tage ließ Jasper Hobson einen großen Theil der Lebensmittel und Lagergeräthe nach dem Flosse schaffen. Auch beschloß man, daß sich Alle auf demselben einschiffen sollten.

Gerade jetzt war aber das Meer sehr wild und auf diesem kleinen Mittelländischen Meere, das die See nun an Stelle der Lagune bildete, wogte das Wasser heftig auf und nieder. Die in dem verhältnißmäßig engen Raume gefangenen Wellen brachen sich donnernd am Ufer. Das Bild glich einem Sturme auf dem See, oder vielmehr auf diesem meerestiefen Abgrunde. Das Floß schwankte furchtbar, und in Massen stürzten die Fluthen über dasselbe hinweg, so daß man sich genöthigt sah, die begonnene Beladung mit dem Nothwendigsten wieder einzustellen.

Unter diesen Verhältnissen widersprach auch Jasper Hobson der Ansicht seiner Leute nicht weiter. Besser erschien es, noch eine Nacht ruhig auf der Erde zu verbringen und die Einschiffung nach Beruhigung des Meeres wieder fortzusetzen.

Die Nacht verlief übrigens besser, als man zu hoffen gewagt hatte. Der Wind legte sich und das Meer wurde ruhiger. Es war nur ein Gewittersturm gewesen, der mit jener den elektrischen Meteoren eigenthümlichen Geschwindigkeit vorüber ging. Um acht Uhr Abends war die See fast wieder glatt und nur plätschernd hörte man noch die Wellenbewegung in der Lagune.

Unzweifelhaft konnte die Insel einer allmäligen Auflösung nicht entgehen, doch erschien eine solche günstiger, als ein plötzlicher Bruch derselben, wie er bei einem Sturme und seinen bergehohen Wogen so leicht stattfinden konnte.

Dem Gewitter folgte ein leichter Nebel, der aber mit der Nacht an Dichtigkeit zunahm. Von Norden aus heranziehend, bedeckte er den größten Theil der Insel.

Noch vor Schlafengehen untersuchte Jasper Hobson die Taue des Flosses, welche um starke Birkenstamme geschlungen waren. Aus Vorsicht wickelte er sie noch einmal herum. Das Schlimmste, was geschehen konnte, war nun eine Entführung des Flosses über die Lagune, aber diese hatte ja keinen so großen Umfang, daß es sich deshalb den Blicken hätte entziehen können.

Dreizehntes Capitel.


Dreizehntes Capitel.

Am 22. November endlich begann das Unwetter etwas nachzulassen, und binnen wenig Stunden schwieg der Sturm vollkommen. Der Wind sprang nach Norden um, während das Thermometer einige Grade fiel. Einige Zugvögel verschwanden. Vielleicht konnte man nun hoffen, daß endlich die Temperatur bleibend sein würde, wie sie dieser Jahreszeit in so hohen Breiten entsprach. Wie sehr bedauerten die Ansiedler am Cap Bathurst, daß die Kälte nicht der der vergangenen Wintersaison gleich kam, in der sie – 52° erreichte.

Jasper Hobson beschloß mit dem Verlassen der Insel Victoria nicht zu zögern, und am Vormittag des 22. noch war die kleine Colonie bereit, von Fort-Esperance und der Insel wegzuziehen, welche letztere nun mit dem allgemeinen Eisfelde verschmolzen und an demselben verlöthet war, so daß sie durch eine sechshundert Meilen lange Strecke mit dem amerikanischen Continent zusammen hing. Um elf und ein halb Uhr Vormittags gab Lieutenant Hobson bei grauer, aber ruhiger Luft, welche ein prächtiges Nordlicht vom Horizont bis zum Zenith durchleuchtete, den Befehl zum Aufbruch. Die Hunde waren vor die Schlitten gespannt. Je drei Paare zahmer Rennthiere zogen die Lastschlitten, und schweigend wandte man sich in der Richtung nach Cap Michael, – nach dem Punkte hin, an welchem die eigentliche Insel verlassen werden sollte.

Die Karawane folgte zuerst dem Saum des bewaldeten Hügels östlich vom Barnett-See; an dem ersten Ziele angelangt, drehte sich Jeder noch einmal zurück, um Cap Bathurst, das man auf Nimmerwiederkehr verließ, zum letzten Male zu sehen. Beim Schein des Nordlichtes zeichneten sich einige vom Schnee verunstaltete Spitzen ab, und zwei oder drei weiße Linien verriethen die Umzäunung der Factorei. Einer der da oder dort weiter hervorstehenden Grundbalken, ein leichter aufwirbelnder Rauch, der letzte Athem eines Feuers, das für immer verlöschen sollte, – das war Fort-Esperance, das war das Etablissement, welches so viel jetzt unnütze Arbeit und Mühe gekostet hatte!

»Leb‘ wohl! Leb‘ wohl! Du, unser armes Haus im Norden!« sagte Mrs. Paulina Barnett mit einer Handbewegung zum Abschied.

Nachher nahmen Alle traurig und schweigend den Weg wieder auf.

In einer Stunde war man, nach Umgehung des Einschnittes, den die unzureichende Winterkälte noch nicht vollkommen geschlossen hatte, am Cap Michael angekommen. Bis hierher ging die Reise ohne zu große Schwierigkeit von Statten, denn der Boden der Insel Victoria bot eine verhältnismäßig ebene Oberfläche. Ganz anders sollte sich das auf dem eigentlichen Eisfelde gestalten, denn dieses war unter dem enormen Drucke des Packeises aus Norden zu Eisbergen und Spitzhügeln erhüben, zwischen denen es um den Preis der größten Mühe und der äußersten Anstrengung einen gangbaren Weg aufzusuchen galt.

Einige Meilen legte man bis zum Abend dieses Tages auf dem Eisfelde zurück und machte die Lagerstätten für die Nacht zurecht. Zu dem Ende wurden nach Art der Eskimos oder der Indianer Nordamerikas »Schneehäuser« in den Eisstücken ausgehöhlt. Erfolgreich und geschickt arbeiteten die Schneemesser, und um acht Uhr schlüpfte, nach einer aus gedörrtem Fleische bestehenden Abendmahlzeit, das ganze Personal der Factorei in die zugerichteten Löcher, welche weit wärmer sind, als man glauben sollte.

Vor dem Einschlafen aber hatte Mrs. Paulina Barnett den Lieutenant gefragt, ob er Wohl die bis jetzt zurückgelegte Strecke abzuschätzen im Stande sei.

»Ich denke, wir werden nicht mehr als zehn Meilen gemacht haben, antwortete Jasper Hobson.

– Zehn von sechshundert! entgegnete die Reisende, darnach würden wir also zwei Monate brauchen, um die Entfernung zu durchmessen, die uns von Amerika trennt!

– Zwei Monate und vielleicht noch mehr, Madame, erwiderte Jasper Hobson, aber wir können eben nicht schneller gehen. Jetzt reisen wir nicht, wie im vorigen Jahre, über die beeisten Flächen zwischen Fort-Reliance und Cap Bathurst, sondern über das formlose Eisfeld, das durch den Druck der Massen verschoben ist, und uns einen leichten Weg nirgends bieten wird. Ich versehe mich der größten Schwierigkeiten bei diesem Versuche und wünsche nur, daß wir sie zu überwältigen vermögen. Jedenfalls ist es nicht das Wichtigste, schnell anzukommen, sondern nur bei guter Gesundheit, und ich würde mich glücklich schätzen, beim Appell in Fort-Reliance keinen meiner Leute fehlen zu sehen. Gebe der Himmel, daß wir nur wenigstens in drei Monaten irgend einen Punkt der amerikanischen Küste erreichen, und schon dafür würden wir ihm zum Danke für seine Gnade verpflichtet sein!«

Die Nacht verlief ohne Unfall; Jasper Hobson hatte aber, da er nicht schlief, an der Stelle, wo das Lager aufgeschlagen war, etwas Knistern von übler Vorbedeutung zu hören geglaubt, welches auf einen mangelhaften Zusammenhang der einzelnen Schollen hinwies. Offenbar mochte das Eisfeld in feiner ganzen Fläche noch nicht genügend verbunden sein, woraus auch die Vermuthung hervorging, daß sich an manchen Stellen klaffende Spalten finden würden, ein sehr übler Umstand, der jede Communication mit dem Festlande unsicher machte. Uebrigens hatte Lieutenant Hobson noch vor der Abreise wohl bemerkt, daß das Pelzwild und die Raubthiere der Insel Victoria die Umgebung der Factorei noch nicht verlassen hatten, um in südlicheren Gegenden einen minder rauhen Winter aufzusuchen, was nur auf Hindernisse, welche ihr Instinct ihnen verrieth, zurück zu führen sein dürfte. Dennoch handelte Jasper Hobson mit allem Vorbedacht, als er versuchte, die kleine Colonie über das Eisfeld zu leiten. Jedenfalls mußte vor dem künftigen Thauwetter ein Versuch gemacht werden; ob dieser nun gelang, oder ob man würde umkehren müssen – sicher hatte Jasper Hobson damit seine Pflicht gethan.

Am anderen Tage, am 23. November, kam das Detachement nicht einmal zehn Meilen nach Osten zu vorwärts. Das furchtbar zerklüftete Eisfeld zeigte an seiner Schichtung, daß sich mehrere Eisbänke über einander geschoben hatten. Durch den unwiderstehlichen Druck des Packeises erklärte sich auch das Zusammenstoßen von Eisbergen, die Aufhäufung einzelner Schollen, und eine Erscheinung, wie von machtloser Hand verlorene Berge, welche in dieser Gegend zerstreut lagen und bei ihrem Sturze zersplittert waren. Eine aus Schlitten und Zugthieren bestehende Karawane konnte nun ohne Zweifel über diese Blöcke nicht hinweg, und ebenso unmöglich erschien es, sie mit der Axt oder dem Schneemesser zu durchbrechen. Einzelne dieser Eisberge bildeten die sonderbarsten Formen, und zusammen machten sie wohl den Eindruck einer vollkommen eingestürzten Stadt. Eine gute Anzahl starrten drei- bis vierhundert Fuß über die Oberfläche hervor, und auf ihrem Gipfel hingen enorme Massen in gefahrdrohendem Gleichgewicht, für die eine Erschütterung, ein Stoß, ja vielleicht nur eine Luftbewegung hinreichte, sie als Lawinen hinabzudonnern.

In der Nähe solcher Eisberge war also die größte Vorsicht nöthig, und deshalb auch der Befehl ergangen, an solchen gefährlichen Stellen nicht einmal laut zu sprechen oder die Zugthiere durch Peitschenknallen anzufeuern. Diese Maßregeln darf man nicht für übertrieben halten, denn hier konnte die geringste Unklugheit die traurigsten Folgen haben.

Bei Umgehung derartiger Hindernisse und der Aufsuchung gangbarer Durchlässe verlor man sehr viel Zeit, erschöpfte sich in unmäßigen Anstrengungen, und gewann bei zehn Meilen Umweg oft kaum eine Meile in der gewünschten Richtung. Auf jeden Fall fehlte aber dem Fuße der feste Boden niemals. Am 24. dagegen thürmten sich ihnen andere Hindernisse entgegen, an deren Ueberwindung Jasper Hobson wohl verzweifeln mußte.

Nachdem man nämlich eine erste Schollenmauer überschritten hatte, die sich etwa zwanzig Meilen von der Insel Victoria befand, traf das Detachement auf ein weniger unebenes Eisfeld, dessen einzelne Theile keinem so furchtbaren Drucke unterlegen zu haben schienen. Hier aber wurden Jasper Hobson und seine Gefährten auch sehr bald von breiten Spalten aufgehalten, die noch nicht übereist waren. Die Temperatur erschien verhältnißmäßig warm und las man am Thermometer nur 1° unter Null ab. Dazu ist es bekannt, daß Salzwasser weniger leicht gefriert als süßes, folglich konnte das Meer hierbei nicht fest werden. Alle Eistheile, welche die Schollenwand und die anliegenden Flächen zusammensetzten, waren aus höheren Breiten herabgetrieben und nährten sich gewissermaßen von ihrer eigenen Kalte. Dieser südlichere Theil des Arktischen Oceans zeigte sich noch nicht gleichmäßig gefroren, und daneben fiel ein warmer Regen, der nur neue Elemente der Auflösung herbeiführte.

An diesem Tage sah sich das Detachement vor einer solchen Spalte absolut aufgehalten, in der bei bewegtem Wasser Eisschollen umher schwammen, und die bei einer Länge von mehreren Meilen höchstens hundert Fuß in der Breite maß.

Zwei Stunden lang zog man, in der Hoffnung, das Ende zu finden, an der westlichen Seite dieses Spaltes hinab. Vergeblich; man mußte Halt machen und das Nachtlager Herrichten.

Noch eine Viertelmeile ging Jasper Hobson mit, dem Sergeant Long an der endlosen Oeffnung weiter und verwünschte die Milde dieses Winters, die ihm so viel Uebles zufügte.

»Darüber hinweg müssen wir unbedingt, sagte Sergeant Long, denn an dieser Stelle können wir doch nicht bleiben.

– Gewiß, antwortete der Lieutenant, und wir werden darüber wegkommen, indem mir entweder im Norden oder im Süden die offene Stelle umgehen. Nach dieser hier werden aber andere auftreten, die wir wiederum umgehen müssen, und so mag sich das auf Hunderte von Meilen fortsetzen, so lange diese unbestimmte und bedauernswerthe Temperatur anhält.

– Nun, Herr Lieutenant, so werden wir vor dem Wiederaufbrechen den Weg auskundschaften müssen, sagte der Sergeant.

– Ja wohl ist das nöthig, erwiderte entschlossen Jasper Hobson, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, nach fünf- und sechshundert Meilen langen Umwegen noch nicht die Hälfte der Strecke, die uns von der amerikanischen Küste trennt, zurück gelegt zu haben. Bevor wir weiter ziehen, muß die Oberfläche des Eisfeldes untersucht werden, und das werde ich sogleich ausführen.«

Ohne weitere Worte entledigte sich Jasper Hobson eines Theils seiner Kleidung, warf sich in das eisige Wasser und erreichte als rüstiger Schwimmer mit wenigen Stößen das andere Ufer, worauf er bald hinter den Eisbergen verschwand.

Einige Stunden später kam er erschöpft nach der Lagerstätte zurück, wohin Sergeant Long voraus gegangen war. Der Lieutenant nahm diesen und Mrs. Paulina Barnett bei Seite und theilte ihnen mit, daß das Eisfeld – ungangbar sei.

»Vielleicht, setzte er hinzu, könnte ein einzelner Mensch zu Fuß, ohne Schlitten und Gepäck darüber hinweg kommen, eine Karawane vermag das aber nicht! Nach Osten zu sind die Spalten noch häufiger, und jetzt wäre uns ein Schiff nützlicher als die Schlitten, um das Festland zu erreichen.

– Wenn ein einzelner Mann, bemerkte Sergeant Long, im Stande ist, hindurch zu gelangen, so wird Einer von uns es unternehmen und uns Hilfe zu bringen versuchen müssen.

– Ich hatte den Gedanken daran … fiel Lieutenant Hobson ein.

– Sie, Herr Hobson?

– Sie, Herr Lieutenant?«

Diese beiden gleichzeitigen Antworten bewiesen, wie unerwartet dieser Vorschlag war, und für wie unpassend er gehalten wurde! Er, der Chef der Expedition, wollte abreisen! Wollte Diejenigen verlassen, die seiner Obhut anvertraut waren, wenn es auch nur geschah, um in ihrem Interesse sich größeren Gefahren auszusetzen. Nein! Das war nicht möglich. Jasper Hobson bestand auch nicht auf seinen Worten.

»Ja, meine Freunde, sagte er, ich verstehe Sie, ich werde Sie nicht verlassen, es ist jedoch ebenso unnütz, daß ein Anderer diesen Versuch wage. Er könnte keinen Erfolg haben, würde unterwegs umkommen oder, wenn Thauwetter einträte, das Grab finden, das sich unter seinen Füßen öffnet. Nehmen wir auch an, er käme bis nach Neu-Archangel, wie sollte er uns Hilfe leisten? Etwa ein Schiff miethen, um uns aufzusuchen? – Das Schiff würde erst nach Eintritt des Thauwetters von Nutzen sein. Wer weiß aber vorher, wo sich dann etwa die Insel Victoria befinden möchte, welche in das Polarmeer oder durch die Behrings-Straße getrieben sein könnte?

– Sie haben recht, Herr Lieutenant, antwortete Sergeant Long, bleiben wir beisammen, und soll ein Schiff unsere Rettung sein, nun, so steht uns Mac Nap’s Fahrzeug zur Verfügung, und wenn wir am Cap Bathurst sind, haben wir wenigstens auf kein solches erst zu warten.«

Ohne sich in das Gespräch zu mischen, hatte Mrs. Paulina Barnett zugehört. Auch ihr erschien es einleuchtend, daß man bei der Unmöglichkeit des Zuges über das Eisfeld nur auf das Schiff des Zimmermanns rechnen könne, und unverzagt den Eintritt des Thauwetters abwarten müsse.

»Und Ihre Ansicht, Herr Hobson? fragte sie.

– Ist die, nach der Insel Victoria umzukehren.

– Rückwärts also, und stehe der Himmel uns bei!«

Das ganze Personal der Colonie wurde zusammengerufen und ihm die Mittheilung gemacht, den Rückzug anzutreten.

Der erste Eindruck der Worte Jasper Hobson’s war natürlich kein allzu guter. Die armen Leute hatten so bestimmt gehofft, mit diesem Zuge über das Eis wieder heim zu kommen, daß ihre Enttäuschung fast an Verzweiflung grenzte. Dennoch erklärten sie sich sofort bereit, zu gehorchen.

Jasper Hobson unterrichtete sie ferner über das Resultat der Nachforschung, welche er eben angestellt hatte.

Er bewies ihnen, daß die Hindernisse sich nach Osten zu häuften, und daß es unter jeder Bedingung unthunlich sei, mit dem ganzen Material der Karawane hindurch zu dringen, das doch bei einer auf mehrere Monate berechneten Reise unentbehrlich erschien.

»Augenblicklich, fügte er hinzu, sind wir von jeder Verbindung mit der amerikanischen Küste abgeschnitten, und wenn wir trotz der größten Beschwerden es erzwingen wollten, weiter nach Osten vorzudringen, würden wir Gefahr laufen, nicht einmal wieder zur Insel zurück zu können, die doch unser letzter, unser einziger Zufluchtsort bleibt. Ueberraschte uns das Thauwetter noch auf dem Eisfelde, so wären wir rettungslos verloren. Ich verhehle Euch die Wahrheit nicht, meine Freunde, aber ich male auch nicht zu schwarz. Ich weiß, daß ich zu entschlossenen Männern spreche, welche ihrerseits überzeugt sind, daß ich nicht der Mann bin, vorzeitig zurück zu weichen; aber ich wiederhole: wir stehen hier vor der Unmöglichkeit!«

Die Soldaten bewahrten ein unerschütterliches Zutrauen zu ihrem Chef. Sie kannten seinen Muth, seine Energie, und wenn er aussprach, daß man nicht vorwärts könne, so war der Weg unbedingt unmöglich.

Man entschloß sich demnach zur Rückkehr nach Fort-Esperance, welche überdies unter den ungünstigsten Umständen nur sich ging. Das Wetter war geradezu abscheulich. Ein heftiger Wind jagte über das Eisfeld. Der Regen fiel in Strömen, und dazu stelle man sich die Schwierigkeit vor, sich oft in tiefer Dunkelheit durch dieses Labyrinth von Eisbergen zu winden!

Die kleine Gesellschaft brauchte nicht weniger als vier Tage und vier Nächte bis zur Ankunft bei der Insel. Mehrere Schlitten verunglückten sammt den Zugthieren in offenen Spalten. Doch hatte Lieutenant Hobson, Dank seiner Klugheit, das Glück, keinen seiner Leute zum Opfer fallen zu sehen. Aber welche Mühe, welche Gefahren, welche Zukunft bot sich den Unglücklichen dar, die Zu einer zweiten Ueberwinterung auf der schwimmenden Insel verurtheilt warm!

Vierzehntes Capitel.


Vierzehntes Capitel.

Nicht ohne die aufreibendsten Strapazen kamen Lieutenant Hobson und seine Begleiter am 28. November nach Fort-Esperance zurück! Jetzt bot ihnen also das Fahrzeug die einzig mögliche Rettung, und doch war von diesem vor Ablauf eines halben Jahres, d.h. erst wenn das Meer wieder eisfrei wurde, kein Gebrauch zu machen.

Man richtete sich also für den Winter ein. Die Schlitten wurden entladen, der Proviant wieder in den Speisekammern untergebracht und Kleidungsstücke, Waffen, Werkzeuge und Pelze an den zugehörigen Orten. Die Hunde kehrten in ihr »Dog-House«, die Rennthiere in ihren Stall zurück. Auch Thomas Black mußte sich, obschon mit größtem Widerstreben, zu seiner Neueinrichtung bequemen. Der bedauernswerthe Sternseher brachte Instrumente, Bücher und Hefte nach seinem Zimmer zurück, in welchem er sich, mehr als je durch das »gegen ihn verschworene Mißgeschick« gereizt, wie vordem abschloß, und allen Vorkommnissen in der Factorei gegenüber fremd blieb.

Ein Tag reichte zur allgemeinen Wiederansiedelung hin, und dann begann jenes Vegetiren den Winter hindurch von Neuem, das bei seinem Mangel an Abwechselung den Bewohnern großer Städte ertödtend langweilig erscheinen würde. Nadelarbeiten, die Instandhaltung der Kleidung, und selbst die Sorge um die Pelzfelle, von denen wenigstens ein Theil der kostbarsten seiner Zeit zu retten wäre, dann die Beobachtung der Witterung und des Eisfeldes, und endlich die Lectüre, bildeten die Beschäftigungen und Zerstreuungen des Tages. Ueberall übernahm Mrs. Barnett die Führung und machte sich ihr wohlthätiger Einfluß geltend. Wenn unter den Soldaten ja einmal eine leichte Mißstimmung herrschte, welche die aufregende Gegenwart und die ungewisse Zukunft ganz erklärlich machten, so wich sie schnell den begütigenden Worten Mrs. Barnett’s. Die Reisende genoß ein weitreichendes Ansehen in dieser kleinen Welt, und gebrauchte dieses ausschließlich zum allgemeinen Besten.

Kalumah hatte sich mehr und mehr an sie angeschlossen. Jeder liebte das junge Mädchen, das so sanft und dienstfertig war. Mrs. Paulina unterzog sich mit günstigstem Erfolge der Ausbildung derselben, denn ihre Schülerin war ebenso begabt als wißbegierig. Sie vervollkommnete Jene in der englischen Sprache, und lehrte sie lesen und schreiben. Hierin unterstützten Kalumah auch zehn andere Lehrer, denn unter allen anwesenden in den englischen Colonien oder dem Mutterlands selbst erzogenen Soldaten befand sich Keiner außer Besitz dieser Fähigkeiten.

Der Fortbau des Schiffes wurde eifrig betrieben, da es baldigst ganz mit Seitenwänden und Verdeck versehen sein sollte. Bei der herrschenden Dunkelheit arbeitete Mac Nap mit seinen Werkleuten sogar bei dem Scheine von Harzfackeln, wahrend die Uebrigen in den Magazinen der Factorei mit Herstellung der Takelage beschäftigt waren. Trotz der vorgeschrittenen Saison blieb die Witterung immer schwankend. Trat auch einmal ein lebhafterer Frost ein, so hielt dieser doch nicht an, was wohl den vorherrschenden westlichen Winden zuzuschreiben sein mochte.

So verlief der ganze December; bei abwechselndem Regen und Schnee bewegte sich die Temperatur zwischen – 3° und + 1° auf und ab. Brennmaterial wurde nur wenig verbraucht, trotzdem man bei den reichen Vorräthen keine Veranlassung hatte, etwa damit zu geizen. Zum Unglück stand es mit der Beleuchtung nicht ebenso gut. Das Oel drohte auszugehen, und mußte Jasper Hobson sich entschließen, die Lampe täglich nur wenige Stunden lang zu brennen. Wohl versuchte man auch, Rennthierfett zur Beleuchtung des Hauses zu verwenden, doch ließ der abscheuliche dabei auftretende Geruch bald wieder davon absehen, so daß man es vorzog, im Dunkeln zu sitzen. Dann mußten die Arbeiten natürlich eingestellt werden, und langsam schleppten sich die Stunden dahin.

Mehrere schöne Nordlichter und zwei bis drei Nebenmonde zur Zeit des Vollmondes schmückten wohl dann und wann den Himmel. Thomas Black hätte zwar die schönste Gelegenheit gehabt, diese Meteore mit peinlichster Sorgfalt zu beobachten, ihre Intensität, Färbung und Beziehungen zur Luftelektricität nebst deren Einfluß auf die Magnetnadel zu bestimmen u. dergl. m. – aber der Astronom blieb in sein Zimmer gebannt, sein Geist schien auf Irrwege gerathen zu sein.

Am 30. December gestattete der helle Mondschein zu erkennen, wie eine lange Bogenlinie von Eisbergen im Norden und Osten der Insel Victoria den Horizont begrenzte. Das war das Packeis, dessen einzelne Schollen sich über einander thürmten. Die Höhe dieses Walles mochte zwischen drei- bis vierhundert Fuß betragen. Schon zu zwei Dritttheilen umschloß derselbe die Insel, und drohte sich auch noch weiter fortzusetzen.

In der ersten Woche des Januar zeichnete sich der Himmel durch eine seltene Klarheit aus. Das neue Jahr– 1861 – hatte sich mit strengerem Froste eingeführt, und die Quecksilbersäule sank bis auf 13⅓° unter Null, die bis jetzt beobachtete niedrigste Temperatur dieses seltsamen Winters, und doch war auch diese Kälte für eine so hohe Breite nicht sonderlich bedeutend zu nennen.

Lieutenant Hobson glaubte Veranlassung nehmen zu sollen, die Längen- und Breitenlage der Insel mittels Sternbeobachtungen auch jetzt noch einmal aufzunehmen, überzeugte sich dabei aber nur, daß diese vollkommen unverändert geblieben sei.

Trotz aller Sparsamkeit ging das Oel nun vollkommen zur Neige, und doch sollte die Sonne vor den ersten Tagen des Februar nicht wieder zum Vorschein kommen. Für die Zeit eines Monates wären die Ueberwinternden also zum Ausharren in kaum unterbrochener Dunkelheit verdammt gewesen, wenn das für die Lampen nöthige Leuchtmaterial nicht, Dank der jungen Eskimodin, einen erträglichen Ersatz gefunden hätte.

Es war am 3. Januar. Kalumah betrachtete vom Fuße des Cap Bathurst aus eben das Eisfeld. Nach Norden zu sah sie es völlig compact. Die dasselbe zusammensetzenden Schollen waren besser an einander geschoben, und ließen keinerlei eisfreien Zwischenraum übrig. Jedenfalls rührte das von dem enormen Drucke des Packeises her, das von Norden anrückend den Raum zwischen sich und der Insel fortschreitend eingeengt hatte.

Statt der Spalten und Risse fielen dem jungen Mädchen dagegen mehrere im Eise scharf ausgeschnittene kreisrunde Löcher in’s Auge, deren Bedeutung ihr nicht fremd war. Es waren das Robbenlöcher, d. h. Oeffnungen, deren Zufrieren die unter der Eiskruste sich aufhaltenden Amphibien sorgsam zu verhüten wissen, durch welche sie hindurch schlüpfen, um Luft zu schöpfen und unter dem Schnee nach den Moosen des Küstenlandes zu suchen.

Kalumah wußte, daß die Bären während des Winters diese Löcher geduldig besetzen, den Moment abpassen, wenn die Amphibien daraus hervortauchen, und sie mit ihren Tatzen umklammern, ersticken und dann davonschleppen. Die Eskimos verfahren mit derselben Bärengeduld, werfen ihnen dagegen beim Auftauchen eine Schlinge über und überwältigen sie so mit leichter Mühe.

Was aber Bären und Eskimos zu Stande brachten, mußten geschickte Jäger wohl auch können, und da jene Löcher einmal vorhanden, war ihre Benutzung seitens her Robben auch außer Zweifel. Robben waren jetzt aber gleichbedeutend mit Oel, mit Licht, das der Factorei so fühlbar mangelte!

Kalumah eilte zum Fort zurück und benachrichtigte Jasper Hobson, der den beiden Jägern Marbre und Sabine weiteren Auftrag ertheilte. Die junge Eingeborene belehrte Letztere über die Methode der Eskimos, Robben zur Winterszeit zu fangen, und schlug ihnen vor, diese zu Probiren.

Sie hatte kaum ausgeredet, so war schon ein tüchtiger Strick mit einer Schlinge bereit. Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett, die beiden Jäger und einige andere Soldaten begaben sich nach Cap Bathurst, und während die Frauen am Ufer zurückblieben, schlichen sich die Männer kriechend nach den bezeichneten Oeffnungen, an welchen sie, Jeder mit einer Schlinge ausgerüstet, auf der Lauer blieben.

Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Wohl eine Stunde verging ohne ein Vorzeichen für die Annäherung der Amphibien. Endlich kam das Wasser in einem der Löcher, – an dem Marbre auf dem Anstand lag, – in Bewegung. Ein mit langen Hauern bewaffneter Kopf tauchte empor. Geschickt warf Marbre seine Schlinge über denselben und zog sie aus Leibeskräften zu. Die Uebrigen liefen zu Hilfe herzu, und nicht ohne Mühe wurde ein großes Walroß trotz seines Widerstrebens auf das Eis herausgezogen, wo es einigen Beilhieben bald erlag.

Der Erfolg machte lüstern, so daß die Bewohner von Fort-Esperance dieser neuen Art von Fischerei Geschmack abgewannen, und noch weitere Walrosse einfingen. Dieselben lieferten reichliches Oel, wenn auch nur einen thierischen und keinen pflanzlichen Brennstoff; doch eignete sich auch dieser für die Lampen, und fehlte nun den Arbeiterinnen und Arbeitern im großen Saale die Beleuchtung nicht weiter.

Die Kälte nahm noch immer nicht zu. Hätte sich die kleine Kolonie auf dem Festlande befunden, sie würde sich beglückwünscht haben, den Winter unter so besonders günstigen Bedingungen zuzubringen. Dazu schützte die hohe Schollenwand gegen die Nord- und Westwinde. Auch der Januar verlief bei einer sehr erträglichen Temperatur von wenigen Graden unter dem Gefrierpunkte.

Eben diese Milde des Winters hatte es aber auch nothwendig zur Folge, daß das Meer im Umkreise der Insel Victoria nicht vollkommen fest wurde. Daß dasselbe nicht überall bedeckt, sondern vielfach mit mehr oder weniger bedeutenden Rissen und Spalten bedeckt sein mußte und noch keinen Uebergang gestattete, ersah man auch aus der noch immer andauernden Anwesenheit der Pelzthiere und anderer, welche bei ihrem langen Herumschwärmen um Fort- Esperance halb zahm geworden waren und mehr einen Theil des Hausthierbestandes der Factorei auszumachen schienen.

Nach dem Befehle des Lieutenants schonte man diese Thiere, deren Tod ja ganz nutzlos gewesen wäre, auch ferner; nur Rennthiere wurden des frischen Fleisches wegen zur Abwechselung in der Speisekarte dann und wann erlegt. Alle eigentlichen, und auch die kostbarsten Pelzthiere ließ man in Ruhe. Einige derselben verliefen sich sogar in den umzäunten Platz hinein, aber man hütete sich auch hier, sie zu jagen. Zobelmarder und Füchse sahen in ihrer Winterkleidung wahrhaft prächtig aus und repräsentirten einen hohen Werth. In Folge der gemäßigten Temperatur fanden diese Nagethiere leicht die gewünschte Nahrung an Moosen u. dergl. unter der nur dünnen und weichen Schneedecke, und hatten keine Veranlassung, die Vorräthe der Factorei zu bestehlen.

Nicht ohne Besorgniß erwartete man so das Ende des Winters in jener eintönigen Lebensweise, in die Mrs. Paulina Barnett auf jede mögliche Weise eine Abwechselung zu bringen suchte.

Nur ein einziger betrübender Vorfall zeichnete den Monat Januar aus: am 7. verfiel das Kind des Zimmermannes Mac Nap einem heftigen Fieber. Starke Kopfschmerzen, brennender Durst, Frostschauer und Hitzeperioden hatten das kleine Wesen bald in einen traurigen Zustand versetzt. Die Verzweiflung seiner Eltern und ihrer Freunde wird man sich leicht vorstellen können. Bei der Unkenntniß der Natur der Krankheit war auch guter Rath theuer, indessen verlor Madge, die sich auf derlei Dinge etwas verstand, den Kopf nicht, sondern ließ den kleinen Kranken mit erquickenden Theeaufgüssen und warmen Umschlägen behandeln. Kalumah schien sich zu verdoppeln und brachte Tage und Nächte bei dem Kinde zu, ohne sich selbst einen Augenblick Ruhe zu gönnen.

Am dritten Tage löste sich jeder Zweifel über die Krankheit, als sich die Haut des kleinen Kranken mit einem charakteristischen Ausschlage überzog. Er entstammte einem bösartigen Scharlach, der gewöhnlich mit einer Entzündung innerer Organe einhergeht.

Selten nur werden einjährige Kinder von dieser furchtbaren Affection in so heftiger Weise befallen, indeß kommt es doch bisweilen vor. Zum Unglück war die Apotheke der Factorei eine sehr lückenhafte. Jedenfalls kannte Madge, in Folge der Pflege verschiedener Scharlachkranker, die Wirksamkeit der Belladonna-Tinctur. Sie reichte dem Kinde täglich ein bis zwei Tropfen und hütete es sorgfältig vor der freien Luft.

Den kleinen Kranken hatte man in das Zimmer gebracht, das dessen Vater und Mutter bewohnten. Bald stand der Ausschlag in voller Blüthe und brachen auf der Zunge, den Lippen und selbst auf dem Augapfel kleine rothe Erhöhungen hervor. Schon zwei Tage nachher entfärbten sich jedoch die ergriffenen Hautpartieen, wurden weiß und schuppten sich hierauf ab.

Immerhin war jetzt eher noch größere Vorsicht nöthig, um die innere Entzündung, welche die Bösartigkeit der Erkrankung kennzeichnete, zu bekämpfen. Nichts wurde vernachlässigt, und erfreute sich das kleine Wesen der liebevollsten, sorgsamsten Pflege. Am 20. Januar, zwölf Tage nach dem Eintritt der Krankheit, durfte man mit Gewißheit auf einen günstigen Verlauf rechnen.

Das war eine Freude in der Factorei! Jenes Baby war ja das Kind des Forts, das Kind der Truppe, das Kind des Regimentes in diesem rauhen Klima, mitten unter den wackeren Leuten geboren. Michael Esperance hatten sie es getauft, und betrachteten es bei allen ihren Prüfungen als Talisman, den ihnen Gott nicht werde rauben wollen. Kalumah wäre über den Tod des Kindes wohl mit zu Grunde gegangen, doch genas der kleine Michael allmälig, und zog damit neue Hoffnung in Aller Herzen ein. So war unter Angst und Unruhe der 23. Januar herangekommen ohne irgend welche Veränderung in dem Zustande der Insel Victoria. Noch lagerte die endlose Nacht über dem Polarmeere. Einige Tage hindurch fiel reichlicher Schnee, der sich auf dem Boden der Insel, wie auf dem Eisfelde, bis zwei Fuß aufhäufte.

Am 27. bekam das Fort einen sehr unerwarteten Besuch. Die vor der Umzäunung Wache haltenden Soldaten Welcher und Pen bemerkten am Morgen einen riesigen Bär, der sorglos auf die Ansiedelung zutrabte. Sie zogen sich in das Hauptgebäude zurück und meldeten der Mrs. Paulina Barnett die Annäherung des gefürchteten Raubthieres.

»Das kann nur unser Bär sein!« sagte die Reisende zu Jasper Hobson, und Beide liefen, gefolgt vom Sergeanten, Sabine und mehreren bewaffneten Soldaten, nach dem Außenthore.

Gegen zweihundert Schritte davor kam der Bär in ruhigem Schritte daher, als verfolge er entschlossen einen wohldurchdachten Plan.

»Ich erkenne ihn wieder, rief Mrs. Paulina Barnett. Das ist Dein Bär, Kalumah, Dein Retter!

– O, tödten Sie mir meinen Bären nicht! flehte die junge Eingeborene.

– Es soll ihm Nichts geschehen, antwortete Lieutenant Hobson. Laßt ihn in Ruhe, meine Freunde, vielleicht geht er ebenso wieder von bannen, wie er gekommen war.

– Wenn er aber in den Hof einzudringen suchte … warf Sergeant Long ein, der dem guten Herzen eines Polarbären nicht weit traute.

– Lassen Sie ihn getrost hinein, Sergeant, tröstete Mrs. Paulina Barnett; dieses Thier hat seine ganze Wildheit abgelegt. Es ist Gefangener, so wie wir, und Gefangene, das wissen Sie …

– Thun einander Nichts zu Leide! setzte Jasper Hobson ihre Worte fort, das ist wenigstens dann wahr, wenn sie von gleicher Art sind. Dennoch wollen wir Jenem auf Ihre Empfehlung hin Schonung angedeihen lassen und werden uns nur, wenn er angreift, vertheidigen müssen. Immerhin halte ich es für geboten, in’s Haus zurückzukehren; man darf solche Raubthiere nicht in Versuchung führen!«

Der Rath war gut, und Alle gingen hinein. Die Thüren wurden verschlossen, doch die Fensterladen offen gelassen.

Durch die Scheiben konnte man demnach beobachten, was der Besucher vornahm. Als der Bär zu dem nicht verriegelten Thore gelangte, schob er die Flügel langsam zurück, steckte den Kopf hindurch, recognoscirte den Hofraum, und trat dann hinein. In der Mitte desselben stehend, betrachtete er die Baulichkeiten rings umher, lief nach dem Rennthier- und dem Hundestalle, lauschte einen Augenblick brummend auf das Knurren der Hunde, die ihn gewittert hatten, und auf den Schrei der Rennthiere, die sich nicht sicher fühlten, fetzte dann seine Inspection längs der Palissaden fort, kam an das Hauptgebäude, und mit seinen: großen Kopfe vor eines der Fenster des Hauptsaales.

Um offen zu sein, muß man gestehen, daß Alle zurückwichen, einige Soldaten die Gewehre ergriffen und Jasper Hobson zu der Ansicht kam, daß er den Scherz wohl zu weit habe treiben lassen.

Da drängte sich Kalumah’s zarte Gestalt vor das Fenster. Der Bär schien sie, wenigstens nach der Ansicht der jungen Eingeborenen, wieder zu erkennen. denn nachdem er ein Brummen der Befriedigung hatte hören lassen, schlug er den Weg nach dem Thore wieder ein und ging, wie es Jasper Hobson vorhergesagt, ruhig von dannen.

Das war das einzige weitere Ereigniß, nach welchem die Dinge wieder ihren gewöhnlichen Lauf nahmen.

Die Genesung des Kindes machte weitere Fortschritte, und in den letzten Tagen des Monates hatte es schon seine runden Bäckchen und munteren Augen wieder.

Am 3. Februar färbte sich zu Mittag der südliche Horizont etwas Heller, und stieg eine gelbliche Scheibe einen Augenblick darüber auf. Das war das Gestirn des Tages, welches nach der langen Polarnacht zum ersten Male wieder aufging!

Fünfzehntes Capitel.


Fünfzehntes Capitel.

Von jetzt ab stieg die Sonne Tag für Tag höher über den Horizont hinauf. Wenn die lange Nacht aber auch für einige Stunden unterbrochen wurde, so nahm doch die Kälte dabei zu, wie das ja im Februar häufig beobachtet wird, und das Thermometer zeigte – 17°, die niedrigste in diesem seltsamen Winter aufgetretene Temperatur.

»Wann beginnt in diesen Meeren wohl das Thauwetter? fragte da einmal die Reisende den Lieutenant Hobson.

– In gewöhnlichen Jahren, Madame, antwortete Dieser, findet der Eisbruch in den ersten Tagen des Mai statt; nach einem so milden Winter, wie dem gegenwärtigen, könnte das aber, wenn nicht noch eine Periode strengen Frostes dazwischen tritt, schon Anfangs April geschehen, – wenigstens nach meiner Beurtheilung der einschlagenden Verhältnisse.

– Demnach hätten wir also noch zwei Monate lang zu warten?

– Mindestens noch zwei Monate, Madame, da es räthlich erscheint, unsere Einschiffung nicht zu übereilen, und ich denke, wir werden die meiste Aussicht auf glücklichen Erfolg haben, wenn wir den Zeitpunkt abwarten können, in dem die Insel sich in der engsten nur etwa hundert Meilen breiten Stelle der Behrings- Straße befinden wird.

– Was sagen Sie da, Herr Jasper? entgegnete die Reisende, erstaunt über diese Erklärung des Lieutenants. Haben Sie denn ganz vergessen, daß wir von dem nach Norden abfließenden Kamtschatka- Strome hierher geführt wurden, daß dieser uns mit Eintritt des Thauwetters wieder erfassen und möglicher Weise noch weiter hinauf verschlagen wird?

– Das denke ich nicht, Madame, antwortete Lieutenant Hobson; ja, ich möchte gerade das Gegentheil behaupten. Der Eisgang vollzieht sich immer in der Richtung von Norden nach Süden, mag nun der Kamtschatka-Strom sich zu der Zeit umkehren oder das Eis dem Behrings-Strome verfallen, oder auch ein anderer mir unbekannter Grund dafür vorliegen. Unabänderlich treiben aber die Eisberge alle nach der Behrings-Straße zu und schmelzen endlich m den wärmeren Fluchen des Pacifischen Oceans. Fragen Sie Kalumah darüber. Sie kennt diese Meere und wird Ihnen meine Aussage bezüglich der Aufeinanderfolge des Thauwetters bestätigen.«

Die herbeigerufene Kalumah bezeugte die Worte des Lieutenants. Man hatte demnach zu erwarten, daß die Insel in den ersten Tagen des April gleich einer großen Eisscholle nach Süden, und damit nach der schmälsten Stelle der Behrings-Straße treiben würde. Letztere aber befahren sowohl Fischer aus Neu-Archangel häufig, als auch Lootsen und Küstenschiffer. Brachte man indeß alle leicht möglichen Verzögerungen bei Berechnung der Zeit in Anschlag, welche diese Rückfahrt nach Süden wohl erfordern mochte, so durfte man vor Anfang Mai nicht darauf rechnen, das Festland zu betreten. Obgleich die Kälte übrigens nicht intensiv gewesen war, so mußte doch die Insel insofern haltbarer geworden sein, als sie durch Eisanlagerung von unten her gewiß an Dicke zugenommen hatte, so daß man auf ihr Ausdauern während mehrerer Monate rechnen konnte.

Die Ueberwinterer mußten sich also in Geduld fassen und ruhig die Zukunft abwarten.

Die Genesung des kleinen Kindes machte weitere Fortschritte. Am 20. Februar kam es nach vierzigtagiger Krankheit zum ersten Male wieder an die Luft, d.h. es trippelte von dem Zimmer seiner Eltern nach dem allgemeinen Saale hinüber, wo es von Zärtlichkeiten überhäuft wurde. Seine Mutter, die es schon mit Vollendung des ersten Lebensjahres entwöhnen wollte, that das auf Madge’s Zureden nicht, und so erlangte es, nur abwechselnd Rennthiermilch genießend, bald seine vollen Kräfte wieber. Tausenderlei Spielsachen hatten die freundlichen Soldaten während seiner Krankheit hergestellt, und selbstverständlich war es dabei das glücklichste Baby von der Welt.

Die letzte Februarwoche zeichnete sich durch außerordentlichen Regen- und Schneefall aus, bei kräftigem Winde aus Südwesten. Bei der niedrigen Temperatur einzelner Tage lagerte sich wieder fußhoher Schnee ab. Dabei wuchs der Wind zum Sturme. Von Cap Bathurst und der Packeismauer her erklang das Heulen des Sturmes wahrhaft betäubend, dazu stürzten an einander geworfene Eisberge mit donnerähnlichem Krachen zusammen, und ein unsichtbarer Druck häufte im Norden die Schollen an das Ufer der Küste. Es stand selbst zu befürchten, daß das Cap, – eigentlich doch auch eine Art mit Sand und Erde überdeckter Eisberg, niedergeworfen würde. Zum Glücke für die Factorei leistete es jedoch aushaltenden Widerstand und schützte die Baulichkeiten vor vollkommener Zerstörung.

Man sieht leicht ein, wie höchst gefährlich sich die einstige Lage der Insel an der engen Meeresstraße gestalten mußte, vor welcher das Eis sich staute. Sie konnte dort von einer horizontalen Lawine, wenn man so sagen darf, zerdrückt, von den aus der offenen See herantreibenden Eisschollen zersprengt werden, bevor sie in den Abgrund zu versinken drohte. Hierin lag eine neue, zu den übrigen noch hinzutretende Gefahr. Als Mrs. Paulina Barnett die furchtbare Kraft des Eisdruckes und die unwiderstehliche Gewalt sah, die jene Berge übereinander thürmte, wurde ihr klar, wie bedrohlich das erwartete Thauwetter für die Insel werden mußte. Sie sprach davon mehrmals gegen Lieutenant Hobson; doch dieser zuckte nur mit den Achseln, wie Jemand, der nicht antworten will oder es auch nicht kann.

In den ersten Tagen des März legte sich der Sturm vollkommen und konnte man nun die an dem Eisfelde eingetretenen Veränderungen übersehen. In der Thai schien es, als ob die Packeismauer über die Oberfläche des Eises hinweg gleitend sich der Insel Victoria genähert habe. An manchen Stellen kaum noch zwei Meilen von letzterer entfernt, ähnelte sie in gewisser Hinsicht den Gletschern, nur mit dem Unterschiede, daß diese herabsinken, während jene nur vorwärts schritt.

Der Boden, oder vielmehr das Eisfeld zwischen der hohen Mauer und der Küste mit seiner krampfhaften Umwälzung, den starrenden Spitzhügeln, zerbrochenen Eisnadeln, gestürzten Stämmen und eingesunkenen Pyramiden, dazu seiner wellenförmige!! Grundfläche, – das Bild eines während des tollsten Sturmes verzauberten Meeres, – war gar nicht wieder zu erkennen. Man hätte die Ruinen einer zerstörten Stadt, in der kein Stein auf dem anderen geblieben war, zu sehen geglaubt. Nur die hohe, wunderbar geschnittene Packeismauer mit ihren himmelan strebenden Kegeln, Kuppeln und Kämmen und ihren spitzigen Pics erhielt sich unverändert, und umschloß das pittoreske Gewühl mit erhabenem Rahmen.

Um diese Zeit kam das Fahrzeug zur Vollendung. Trotz ihrer etwas plumpen Form, bei der es indeß bewenden mußte, machte die Schaluppe ihrem Baumeister alle Ehre und versprach mit ihrem gallionenförmigen Vordertheile dem Stoße des Eises desto besser zu widerstehen. Sie ähnelte etwas jenen holländischen Barken, welche sich weit in die nördlichen Meere hinauf wagen. Ihre Takelage bestand, wie die eines Kutters, aus Fockmast und Klüverbaum, die Zeltleinwand der Factorei war zu den Segeln verwendet worden.

Das Schiff vermochte die ganze Bewohnerschaft der Insel Victoria bequem aufzunehmen und voraussichtlich, wenn die Insel der Erwartung gemäß nach der Behrings-Enge zu trieb, auch die größte Entfernung bis zur amerikanischen Küste leicht zu durchschneiden. Nur mußte eben das Thauwetter abgewartet werden.

Da kam dem Lieutenant Hobson der Gedanke, zum Zwecke der Recognoscirung des Eisfeldes eine ausgedehnte Expedition nach Südosten zu unternehmen, welche mit dazu dienen sollte, etwaige Vorzeichen der Auflösung zu finden, die eigentliche Schollenwand selbst zu beobachten und aus dem tatsächlichen Zustande des Meeres zu ersehen, ob noch jeder Weg nach dem amerikanischen Continente versperrt sei. Mancherlei Ereignisse und Unfälle konnten ja noch statt haben, bevor der Eisbruch das Meer wieder frei legte, und so erschien diese vorzunehmende Besichtigung als ein Gebot der Klugheit.

Die Expedition wurde also beschlossen und auf den ?. März festgesetzt. Die Theilnehmer an derselben bestanden aus Lieutenant Hobson, der Reisenden, Kalumah nebst Marbre und Sabine. Wenn ein Weg ausfindig zu machen war, wollte man auch die Packeiswand überschreiten; jedenfalls sollte die Abwesenheit vom Fort nicht länger als achtundvierzig Stunden währen.

Der nöthige Proviant wurde mitgenommen, und am Morgen des 7. verließ das für jeden Zufall wohl bewaffnete kleine Detachement Fort-Esperance in der Richtung nach dem Cap Michael.

Das Thermometer stand auf dem Gefrierpunkte. Die Luft war etwas dunstig, aber ruhig. Sieben bis acht Stunden lang beschrieb die Sonne ihren Tagesbogen über dem Horizonte und durchblitzten ihre schrägen Strahlen mit hinreichendem Lichte die Massen des Eises.

Nach kurzer Rast stiegen Lieutenant Hobson und seine Begleiter gegen neun Uhr den Abhang am Cap Michael hinab, und schritten in südöstlicher Richtung über das Eisfeld. Von dieser Seite war die Eiswand etwa drei Meilen entfernt.

Selbstverständlich ging es nur langsam vorwärts. Fortwährend mußte man entweder eine tiefe Spalte oder einen unübersteiglichen Spitzhügel umwandern. Auf dem unebenen Wege hätte ein Schlitten sich gar nicht verwenden lassen. Jener bestand nur aus einer chaotischen Anhäufung von Blöcken jeder Gestalt und Größe, von denen sich nicht wenige nur noch durch ein Wunder im Gleichgewicht hielten. Andere waren erst neuerdings zusammen gestürzt, wie man an ihren frischen, glatten Bruchstellen sah. Aber nirgends zeigte sich die Spur eines Menschen oder Thieres in diesem Gewirr! Kein lebendes Wesen athmete in diesen selbst von den Vögeln verlassenen Einöden!

Verwundert fragte Mrs. Paulina Barnett, wie man bei einer Abfahrt im December wohl dieses durcheinander gewürfelte Eisfeld habe überschreiten wollen; doch machte sie Jasper Hobson darauf aufmerksam, daß jenes zur erwähnten Zeit ein ganz anderes Aussehen geboten hätte. Wegen des damals noch nicht wirksamen enormen Druckes durch das Packeis müßte die Oberfläche verhältnißmäßig eben gewesen sein, und lag das einzige Hinderniß de: Reise nur in der mangelhaften Verbindung der Schollen, und nirgends anders.

Inzwischen näherte man sich dem hohen Walle, wobei Kalumah der kleinen Truppe fast immer voraus war. Mit sicherem Schritte wandelte die lebhafte und leichtfüßige Eingeborene mitten durch die Eisblöcke. Ohne Zaudern und ohne Irrthum schlug sie, wie durch Instinct geleitet, immer den gangbarsten Weg in diesem Labyrinthe ein. Sie lief ab und zu, und ihren Weisungen konnte man vertrauensvoll nachgehen.

Gegen Mittag war die ausgedehnte Basis der Packeiswand zwar erreicht, doch hatten die drei Meilen bis dahin nicht weniger als drei Stunden beansprucht.

Welch‘ imposante Masse bildete diese Eismauer, deren einzelne Gipfel über vierhundert Fuß hoch aufstiegen! Deutlich hoben sich die Schichten, aus denen sie bestand, von einander ab, und ihre Wände waren mit den zartesten Farbenschattirungen geschmückt. Bald irisirend, bald jaspisartig gestreift, erschien sie wie mit Arabesken bedeckt, und mit einzelnen Glanzpunkten durchsetzt. Vergeblich würde der ein Passendes Bild zur Vergleichung suchen, der die Eiswand jemals in ihrer Erhabenheit erblickte, wie sie auf einer Stelle trübe, auf der anderen durchscheinend durch wechselndes Licht und Schatten in den wunderbarsten Reflexen spielte.

Wohl mußte man aber vorsichtig eine zu große Annäherung an diese lockenden Eismassen, deren Zusammenhalt sehr fraglich erschien, vermeiden. An dem fortwährenden Knistern und Krachen ihres Inneren erkannte man die geheime Arbeit des Thauwetters.

Eingeschlossene und jetzt sich ausdehnende Luftblasen sprengten ihre Wände, und man ersah daraus den vergänglichen Charakter dieser Eisbauwerke, welche den arktischen Winter nicht überleben, und den Strahlen der jungen Sonne unterliegen sollten, um die Quelle ganz ansehnlicher Ströme zu werden.

Lieutenant Hobson hatte seine Begleiter ernsthaft vor der Gefahr der Eislawinen gewarnt, die jeden Augenblick von der Höhe der Schollenwand herabstürzten. Die kleine Gesellschaft zog deshalb auch nur in gemessener Entfernung von dem Fuße derselben hin. Wie weise diese Vorsicht war, sollten sie bald erfahren, als sich gegen zwei Uhr an dem Eingänge eines Thales, das die Wanderer zu durchziehen beabsichtigten, ein ungeheurer Block von mehr als hundert Tonnen Gewicht loslöste und mit Donnerkrachen auf das Eisfeld herabstürzte. Zersplitternd brach es unter diesem Stoße, und thurmhoch spritzte das Wasser ringsum auf. Zum Glücke wurde Niemand von den abgesprengten Stücken des Blockes getroffen, als er wie eine Bombe zerplatzte.

Von zwei bis fünf Uhr folgte man einem engen, gewundenen, weit in das Innere hinein verlaufenden Thale. Ob es die ganze Packeismauer durchsetzte, ließ sich zwar vorher nicht entscheiden, doch gestattete es einen belehrenden Einblick in die innere Structur derselben. Schollen und Blöcke erschienen hier mehr in Ordnung auf einander gelagert, als an der Außenseite. An manchen Stellen fand man Baumstämme im Eise eingeschlossen, die aber nicht arktischen Baumarten, sondern solchen aus der Tropenzone angehörten. Offenbar hatte sie der Golfstrom hier hinauf getragen, wo sie vom Froste gefesselt, mit dem Eise den Rückweg nach dem wärmeren Oceane antraten. Auch Schiffskielstücke und andere Trümmer fehlten dazwischen nicht.

Gegen fünf Uhr zwang die eingetretene Dunkelheit, den Weitermarsch aufzugeben, nachdem man in dem Thale gegen zwei Meilen zurück gelegt hatte, ohne in Folge der Windungen desselben die Entfernung in gerader Linie abschätzen zu können.

Jasper Hobson ließ nun halten. In Zeit von einer halben Stunde arbeiteten Marbre und Sabine mittels der Schneemesser eine Höhle im massiven Eise aus, in welche Alle hinein schlüpften, ihr Nachtmahl verzehrten, und in Folge der Anstrengung durch den Weg sehr bald sanft entschlummerten.

Um acht Uhr früh war Alles auf den Füßen, und schlug Jasper Hobson wieder den Weg längs des Thales ein, um sich zu überzeugen, ob dieses nicht die ganze Breite der Eismauer durchziehe. Dem Stande der Sonne nach veränderte sich die Richtung desselben nach Nordosten in die nach Südosten.

Um elf Uhr stiegen Lieutenant Hobson und seine Begleiter an der anderen Seite der Eismauer hinab. Unzweifelhaft war hier also ein Durchgang vorhanden.

Die ganze Ostseite des Eisfeldes bot den nämlichen Anblick wie die Westseite, dasselbe Chaos von Schollen, dieselbe Zerklüftung durch Blöcke, Eisberge und Spitzhügel so weit das Auge reichte, da und dort durch kleine ebene Flächen unterbrochen oder durch offene Spalten, deren Ränder schon wegthauten, getrennt. Sonst gähnte überall dieselbe Wüstenei, dieselbe Verlassenheit den Beschauern entgegen.

Kein lebendes Geschöpf war in dieser Einöde sichtbar!

Eine Stunde lang verweilte Mrs. Paulina Barnett auf einem Spitzhügel, versunken in den trostlosen Anblick dieser Polar-Landschaft. Wieder kam ihr unwillkürlich die vor fünf Monaten versuchte Abreise in den Sinn, und vor ihren Augen erschien das ganze Personal der Colonie als traurige Karawane, wie sie durch Nacht und Frost inmitten solcher Eiswüsten und bedroht von lauernden Gefahren sich nach dem Festlande Amerikas zu retten suchte!

Jasper Hobson weckte sie endlich aus ihrer Träumerei.

»Madame, sagte er, wir sind nun über vierundzwanzig Stunden von dem Fort weg, und kennen den Durchmesser dieser Eisbank. Unserem Versprechen gemäß wollten wir nicht über achtundvierzig Stunden ausbleiben; demnach, denke ich, ist es Zeit, den Rückweg anzutreten.«

Mrs. Paulina Barnet widersprach nicht. Der Zweck des Ausflugs war ja erreicht morden. Die Packeiswand von mittelmäßigem Durchmesser versprach sich bald zu lösen und Mac Nap’s Schiffe ein freies Fahrwasser zu eröffnen. Der baldige Antritt der Heimkehr empfahl sich auch noch deshalb, weil ein etwaiger Witterungswechsel mit Schneewehen den Zug durch das Thal unendlich erschweren mußte.

So brach man nach eingenommenem Frühstück um ein Uhr wieder auf. Um fünf Uhr lagerte man sich, wie am Tage vorher, in einer Eishöhle, und nach der ohne Zwischenfall verbrachten, Nacht gab Lieutenant Hobson am 9. März früh um acht Uhr Befehl zum Weiterziehen.

Schon glänzte bei klarem Himmel die Sonne über der Eismauer und grüßte die Sohle des Thales mit einzelnen Strahlen. Jasper Hobson und seine Begleiter wandten ihr, da sie nach Westen zogen, den Rücken, und doch trafen jene Strahlen ihre Augen, da jene sich an den kreuz und quer gelagerten Schollen tausendfach wiederspiegelten,

Mrs. Paulina Barnett und Kalumah blieben plaudernd und umherschauend eine Strecke zurück und folgten der schmalen Fußspur Marbre’s und Sabine’s. Man gab sich der Hoffnung hin, die Eisbank bis Mittag zu durchwandern und noch die drei Meilen bis zur Insel Victoria zurück zu legen. So mußte die kleine Gesellschaft vor Sonnenuntergang im Fort eintreffen, und konnten ihre Gefährten wegen der wenigen Stunden Verspätung nicht besonders beunruhigt sein.

Hierbei rechnete man jedoch ohne einen Zwischenfall, den allerdings keine menschliche Vorsicht hätte ahnen können.

Es mochte gegen zehn Uhr sein, als Marbre und Sabine, die etwa zwanzig Schritte voraus waren, plötzlich stehen blieben. Sie schienen über Etwas nicht einig zu werden. Als die Uebrigen nachkamen, sahen sie, wie Sabine, die Boussole in der Hand, diese seinem Kameraden wies, der sie mit sprachlosem Erstaunen betrachtete.

»Das ist doch ein närrisches Ding, wendete sich dieser an Lieutenant Hobson. Könnten Sie mir sagen, Herr Lieutenant, auf welcher Seite der Eisbank die Insel Victoria eigentlich liegt? Im Westen oder Osten?

– Natürlich im Westen, antwortete Jasper Hobson, verwundert über diese Frage.

– Ja, das weiß ich zwar auch, versetzte Markire, den Kopf schüttelnd. Wenn das aber der Fall ist, sind wir auf falschem Wege, und kommen immer weiter von ihr ab.

– Was! Wir entfernten uns von ihr? fragte der Lieutenant, den der überzeugte Ton des Jägers stutzig machte.

– Gewiß, Herr Lieutenant! Hier, sehen Sie nach der Boussole, und ich will nicht Marbre heißen, wenn wir ihrer Angabe nach nicht nach Osten, statt nach Westen marschiren.

– Das ist unmöglich, warf die Reisende ein.

– Ueberzeugen Sie sich selbst, Madame«, antwortete Sabine.

Wirklich wies die Magnetnadel nach einer der angenommenen ganz entgegengesetzten Richtung.

»Wir müssen uns heute Morgen beim Verlassen des Eishauses getäuscht und den Weg nach links, statt nach rechts zu eingeschlagen haben.

– Nein, rief Mrs. Paulina Barnett, das ist unmöglich; wir haben uns nicht getäuscht!

– Aber … entgegnete Marbre.

– Nun, aber …, da betrachten Sie doch die Sonne. Geht sie etwa nicht mehr im Osten auf? Da wir ihr nun von heute Morgen ab den Rücken zurückgekehrt haben, und es auch jetzt noch thun, so steht es fest, daß wir nach Westen wandern. Weil nun die Insel im Westen liegt, so treffen wir auf diese, wenn wir auf der Westseite der Eiswand herauskommen.«

Marbre, der gegen diese Beweisführung nicht aufkommen konnte, kreuzte sinnend die Arme.

»Zugegeben, es verhalt sich so, sagte Sabine, dann widersprechen sich aber Sonne und Boussole ganz und gar.

– Wenigstens augenblicklich, belehrte ihn Jasper Hobson. Das hängt indeß nur davon ab, daß unter hohen nördlichen Breiten und in den Meeren in der Nachbarschaft des magnetischen Poles die Boussolen nicht selten alterirt werden, und die Magnetnadeln ganz falsch zeigen.

– Nun gut, sagte Marbre, so setzen wir also unseren Weg, die Sonne im Rücken, weiter fort.

– Ohne Zweifel, antwortete Lieutenant Hobson, zwischen Boussole und Sonne kann die Wahl nicht schwer sein, denn die Sonne kommt nicht außer Ordnung.«

Die kleine Gesellschaft zog in der Richtung, welche nach Allem eine falsche nicht sein konnte, in dem Thale weiter, brauchte aber längere Zeit dazu, als man voraus gesehen hatte. Schon gegen Mittag hätte man am Ende des Thales sein sollen, und nun kam die zweite Stunde heran, ehe der enge Ausgang wieder erreicht wurde.

Diese auffällige Verzögerung hätte Jasper Hobson wohl schon beunruhigt; man male sich nun aber sein und seiner Begleiter Erstaunen, als sie beim Wiederbetreten des Eisfeldes die Insel Victoria, welche doch vor ihnen liegen mußte, nicht mehr sahen! Die Baume auf dem Cap Michael hätte man ohne Zweifel erkennen müssen. – Nichts war vorhanden. An der Stelle des letzteren dehnte sich ein grenzenloses Eisfeld aus, auf dem die Sonne in zahllosen Lichtpunkten glitzerte.

Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett und Kalumah sahen sich fragend an.

»Dort müßte doch die Insel liegen! rief Sabine verwundert.

– Sie ist aber doch nicht da, erwiderte Marbre; können Sie wohl sagen, Herr Lieutenant, was aus ihr geworden ist?«

Mrs. Paulina Barnett wußte Nichts hierauf zu erwidern, und auch Jasper Hobson sagte kein Wort.

Da näherte sich Kalumah dem Letzteren, nahm ihn beim Arme und sprach:

»Wir haben uns in dem Thale geirrt und befinden uns jetzt an derselben Stelle, wie gestern nach dem ersten Durchschreiten des Packeises. Kommen Sie! Kommen Sie!«

Ganz maschinenmäßig ließen sich Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett, Marbre und Sabine im Vertrauen auf den Instinct der jungen Eingeborenen von dieser wegführen und kehrten noch einmal in dem engen Thale ihren eigenen Weg zurück, trotzdem nach dem Stande der Sonne alle Anzeichen gegen Kalumah’s Behauptung sprachen.

Diese Letztere hatte sich gar nicht weiter erklärt, sondern eilte unbeirrt vorwärts.

Ganz erschöpft von Anstrengung gelangten der Lieutenant, die Reisende und ihre Begleiter nach einem dreistündigen Wege, über den die Nacht sich schon herabgesenkt hatte, an der anderen Seite der Eisbank an. Zwar verhinderte die Dunkelheit zu erkennen, ob die Insel in der Nahe sei, doch sollten sie darüber nicht lange im Unklaren bleiben.

Nur wenige hundert Schritte von ihnen bewegten sich auf dem Eisfelde leuchtende Harzfackeln hin und her und knallten Flintenschüsse in kurzen Zwischenräumen. Auch wurden schallende Rufe gehört.

Die kleine Truppe beantwortete diese und befand sich bald in Gesellschaft des Sergeant Long, Thomas Black’s, den die unruhige Sorge um das Loos seiner Freunde doch einmal aufgerüttelt hatte, und noch Anderer, welche entgegen gelaufen kamen. In Wahrheit war die Angst der armen Leute keine geringe gewesen, da sie, – wir wissen, mit wie gutem Rechte, – angenommen hatten, daß Jasper Hobson auf dem Rückwege nach der Insel irre gegangen sein werde.

Wie kamen sie aber auf diesen Gedanken, während sie doch ruhig in Fort-Esperance verblieben waren? Was veranlaßte sie zu der Annahme von Schwierigkeiten bei der Auswahl des Heimweges?

Es rührte daher, daß das ungeheure Eisfeld sammt der Insel in den letzten vierundzwanzig Stunden seine Lage geändert und sich – halb um sich selbst gedreht hatte. In Folge dieses Ereignisses lag die Insel nicht mehr westlich, sondern östlich von der Packeiswand!

Sechzehntes Capitel.


Sechzehntes Capitel.

Zwei Stunden nachher waren Alle nach Fort- Esperance zurück gekehrt. Am Morgen des 10. März beschien die Sonne dasjenige Ufergebiet, welches früher die Westseite der Insel gebildet hatte. Cap Bathurst lief jetzt nach Süden, statt wie vorher nach Norden aus; die junge Kalumah, der diese Erscheinung bekannt war, hatte sich also nicht getäuscht, und wenn kein Irrthum Seitens der Sonne vorlag, so konnte man auch die Boussole keines Fehlers beschuldigen.

Die Orientation der Insel hatte demnach wiederholte und durchgreifende Veränderungen erfahren. Seit der Zeit, da sie sich vom Festlande Amerikas loslöste, hatte sie einer halben Drehung um sich selbst unterlegen, und zwar nickt die Insel allein, sondern auch das ganze sie umgebende Eisfeld. Diese Bewegung um ihren Mittelpunkt bewies übrigens, daß auch letzteres nicht mehr am Continente hafte, sondern vom Ufer getrennt, und folglich auch, daß das Thauwetter nicht mehr fern sei.

»Auf jeden Fall, sagte da Lieutenant Hobson zu Mrs. Paulina Barnett, ist diese Frontveränderung uns nur günstig. Cap Bathurst und Fort-Esperance hat sich nach Südosten gewendet, d.h. nach dem dem Continente zunächst gelegenen Punkte, und jetzt schiebt sich die Packeiswand, durch welche hindurch wir nur einen sehr beschwerlichen Weg gefunden hätten, nicht mehr zwischen uns und Amerika hinein.

– Also geht jetzt Alles zum Besten? fragte lächelnd die Reisende.

– Für jetzt Alles, Madame«, entgegnete Jasper Hobson, der sich die Folgen dieser Lagenveränderung der Insel Victoria vergegenwärtigte.

Vom 10. bis zum 21. März ereignete sich nichts Bemerkenswertes, doch machten sich die Vorzeichen der kommenden Jahreszeit mehrfach fühlbar. Die Temperatur schwankte zwischen + 6 und + 10° C. Unter dem Einflüsse solches Thauwetters konnte der Eisbruch wohl ganz plötzlich eintreten.

Neue Spalten eröffneten sich, und das Wasser quoll über die Oberfläche herauf. Nach dem eigenthümlichen Ausdruck der Walfänger stellten diese Spalten ebenso viele Wunden dar, aus welchen das Eisfeld »blutete«. Der Lärm der brechenden Schollen ähnelte ganz den Artilleriesalven. Ein warmer, mehrere Tage andauernder Regen konnte die Schmelzung der festen Meeresfläche nur beschleunigen.

Von den Vögeln, welche mit Anfang des Winters die Insel verlassen hatten, kamen Fettgänse, Regenpfeifer, Taucherhühner und Enten schon wieder zurück. Marbre und Sabine erlegten eine Anzahl derselben, von denen einige noch das Billet am Halse trugen, wie es Lieutenant Hobson und die Reisende vor ihrem Abzüge daran befestigt hatten. Weiße Schwäne erschienen bandenweise wieder und erfüllten die Luft mit ihren schmetternden Trompetentönen. Die vierfüßigen Thiere, Nage- und Raubthiere, besuchten fort und fort, ganz wie Hausthiere, die nächste Nachbarschaft der Factorei.

Fast täglich, und jedenfalls so oft der Zustand des Himmels es gestattete, maß Lieutenant Hobson die Sonnenhöhe. Oft unterstützte ihn Mrs. Paulina Barnett, die schon eine gewisse Geschicklichkeit in der Handhabung des Sextanten erlangte, bei diesen Beobachtungen, oder trat ganz an seine Stelle. Wirklich erschien es von großer Wichtigkeit, die geringste Veränderung in der Längen- oder Breitenlage kennen zu lernen. Die bedeutungsvolle Frage bezüglich der beiden Strömungen harrte ja noch immer ihrer Lösung, und Jasper Hobson nicht minder wie Mrs. Paulina Barnett lag natürlich sehr viel daran, bald zu wissen, ob sie nun nach Norden oder nach Süden hin treiben würden.

Es verdient bemerkt zu werden, daß die muthige Frau immer und in allen Stücken eine weit über die gewöhnliche ihres Geschlechts hinausgehende Energie zeigte. Alltäglich sahen es ihre Gefährten, wie sie, allen Anstrengungen, dem schlechtesten Weiter, dem Regen und dem Schnee trotzend, irgend einen Theil der Insel recognoscirte und sich dabei wohl auch auf das halb aufgelöste Eisfeld hinauswagte, und wenn sie davon zurückkam, dann nahm sie sich wieder des häuslichen Lebens in der Factorei an und war, macker unterstützt von ihrer Madge, stets mit Rath und That zur Hand.

Mrs. Paulina Barnett sah der Zukunft unverzagt in’s Auge, und wenn auch Befürchtungen sie anwandelten oder böse Ahnungen, von denen sie ihren Geist nicht völlig befreien konnte, so ließ sie doch nie etwas davon wahrnehmen. Immer erschien sie als die vertrauensselige, muthige Frau, als welche man sie kannte, und Niemand hätte unter ihrer gleichbleibenden guten Laune die Gemüthsbewegungen errathen können, denen sie sich doch nicht zu entziehen vermochte. Jasper Hobson zollte ihr seine ungetheilte Bewunderung.

Auch zu Kalumah hatte dieser ein unbedingtes Zutrauen und verließ sich nicht selten auf den natürlichen Instinct der jungen Eingeborenen, wie etwa die Jäger auf den ihrer Hunde. Die übrigens mit vortrefflichen Anlagen ausgestattete Kalumah bewies sich mit allen Zufällen und Erscheinungen der Polarmeere vollkommen vertraut. An Bord eine Walfängers hatte sie die Stelle eines »Icemaster«, des Piloten, der vor Allem auf die Führung des Schiffes durch die Schollen hindurch zu achten hat, gewiß zur Zufriedenheit versehen. Jeden Tag faßte Kalumah den Zustand des Eisfeldes in’s Auge, und nur aus dem Geräusch der sich in der Ferne brechenden Eisberge beurtheilte sie schon den Fortschritt der Zersetzung. Ein sichrerer Fuß konnte sich auf dieses gefährliche Feld gar nicht hinauswagen. Durch Instinct wußte sie, wenn das »von unten angefaulte« Eis keine genügende Sicherheit mehr bot, und ohne Zaudern eilte sie über das von Sprüngen und Spalten zerrissene Eisfeld.

Vom 20. bis zum 30. März machte das Thauwetter sehr beträchtliche Fortschritte, welche der reichliche und laue Regen nicht wenig beschleunigte. In kurzer Zeit war die vollständige Zerstörung desselben zu erwarten, und vielleicht sollten kaum vierzehn Tage vergehen, bis Jasper Hobson sein Fahrzeug dem wieder offenen Meere übergeben konnte.

Zum Zaudern war er nicht der Mann, zumal da es zu befürchten stand, daß der Kamtschatka- Strom sie noch weiter nach Norden hin verschlagen würde.

»Das ist aber nicht zu befürchten, wiederholte Kalumah immer wieder. Der Eisbruch geht nicht aufwärts, sondern da hin; dort ist die Gefahr!« und wies nach Süden, wo sich der ungeheure Stille Ocean ausdehnte.

Das junge Mädchen verblieb hartnäckig bei ihrer Ansicht. Jasper Hobson kannte diese, und beruhigte sich dabei, denn er sah es als die geringste Gefahr an, daß die Insel in dem wärmeren Wasser jenes Meeres ihren Untergang finden sollte. Vorher würde ja das ganze Personal der Factorei an Bord der Schaluppe eingeschifft sein, und es konnte nur einer kurzen Ueberfahrt bedürfen, um den einen oder den anderen Continent zu erreichen, weil die Meerenge zwischen dem Ostcap an der ostasiatischen, und dem Cap Prince de Galles an der amerikanischen Küste nur ein schmales Becken bildete.

Es erscheint begreiflich, mit welcher Aufmerksamkeit man die geringste Veränderung der Insel beachten mußte. Die Lage wurde demnach immer, sobald der Zustand des Himmels es gestattete, bestimmt, und von dieser Zeit ab ergriffen Lieutenant Hobson und seine Begleiter alle Vorsichtsmaßregeln zu einer bevorstehenden und vielleicht übereilten Einschiffung.

Die eigentlichen ersten Zwecke der Factorei, d. h. die Jagd und die Unterhaltung der Fallen, gab man selbstverständlich ganz auf, und strotzten die Magazine von Pelzfellen, welche doch zum größten Theil verloren waren. Jäger und Fallensteller feierten also. Der Meister Zimmermann vollendete mit seinen Leuten das Fahrzeug in der Erwartung, dasselbe, sobald das Meer frei wäre, vom Stapel laufen zu lassen, und beschäftigte sich dann damit, das Hauptgebäude des Forts noch fester zu machen, da es während des Thauwetters einem starken Drucke durch das Eis der Küste ausgesetzt sein könnte, wenn Cap Bathurst diesem nicht genug Widerstand leistete.

So unterstützte man die Holzmauern durch starke Pfeiler. Im Inneren der Zimmer stellte man da und dort noch lothrechte Stämme auf, die den Deckbalken weitere Stützpunkte boten. Nachdem auch der Dachstuhl durch Stützbänder und Strebepfeiler verstärkt war, konnte das Haus eine ganz beträchtliche Last aushalten, denn es war so zu sagen casemattirt. Die Beendigung dieser Arbeiten fiel in die ersten Tage des Monates April, und sollte man bald die Ueberzeugung von deren Nützlichkeit sowohl, als ihrer Zeitgemäßheit gewinnen.

Inzwischen traten die Vorzeichen der kommenden Jahreszeit tagtäglich deutlicher hervor. Der eigenthümliche zeitige Frühling folgte ja einem für Polarländer unerwartet milden Winter. Schon erschienen an den Bäumen einige Knospen. Unter dem wieder aufsteigenden Safte schwoll die Rinde der Birken, Weiden und einzelner Gesträuche an. Mit blassem Grün schmückten junge Moose die Abhänge, welche den Sonnenstrahlen direct ausgesetzt waren, konnten aber nicht eingebracht werden, da die in der Umgebung der Factorei angehäuften, hungerigen Nagethiere ihnen kaum Zeit ließen, aus der Erde hervor zu keimen.

Wenn irgend Jemand seine liebe Noth hatte, so war es der wackere Corporal Joliffe, dem die von seiner Frau besäeten Beete zu schützen aufgetragen war. Sonst nur beschäftigt, dieselben gegen die Schnäbel der geflügelten Räuber, die Schneegänse und Taucherhühner, zu vertheidigen, wozu im Nothfalle auch eine Vogelscheuche hingereicht hätte, setzten ihm jetzt auch noch die Nagethiere und Wiederkäuer der arktischen Fauna zu, die der Winter ja nicht vertrieben hatte. Rennthiere, Polarhasen, Bisamratten, Spitzmäuse u. s. w. verspotteten alle Maßregeln des Corporals. Wenn er sie von dem einen Ende seines Gartens wegjagte, beraubten sie nur einstweilen das andere.

Es hätte sich wohl als das Klügste empfohlen, eine Ernte, von der man doch keinen Nutzen ziehen konnte, so zahlreichen Feinden einfach zu überlassen, da die Factorei binnen Kurzem aufgegeben werden mußte. Dahin ging auch der Rath der Mrs. Paulina Barnett, wenn der Corporal sie zwanzig Mal des Tages mit seinen ewigen Klagen ermüdete; doch Corporal Joliffe wollte absolut keine Vernunft annehmen.

»So viel verlorene Mühe! wiederholte er stets, ein solches Etablissement verlassen, nun es auf dem besten Wege des Gedeihens ist. Die Körner opfern, die Mrs. Joliffe und ich mit solcher Sorgfalt gesäet haben! O, Madame, manchmal wandelt mich eine Lust an, Sie Alle wegziehen zu lassen, und mit meiner Gattin allein hier zurück zu bleiben. Gewiß würde die Compagnie die Insel uns ganz zum Eigenthum überlassen…«

Solche sinnlose Gedanken konnte Mrs. Paulina Barnett freilich nur mitleidig belächeln, und schickte sie den Corporal zu seiner kleinen Frau, welche die Ernte an Sauerampher, Löffelkraut und anderen antiscorbutischen Hausmitteln schon längst aufgegeben hatte.

Der Gesundheitszustand der ganzen Colonie hielt sich zum Glücke ganz ausgezeichnet, auch der kleine Bursche erfreute sich wieder des besten Wohlseins und gedieh sichtlich unter den warmen Strahlen der Frühlingssonne.

Vom 2. bis zum 5. April machte das Thauwetter entschiedene Fortschritte; die Wärme wurde recht fühlbar, doch blieb der Himmel bedeckt und häufig fiel Regen in großen Tropfen. Mit warmer Feuchtigkeit beladen wehte der Wind vom Festlande her. Leider verbot eine so dunstige Atmosphäre jede astronomische Beobachtung, da Sonne, Mund und Sterne sich hinter diesem undurchsichtigen Vorhang verbargen. Jetzt, wo es so hochwichtig war, die geringsten Lagenveränderungen der Insel Victoria fest zu stellen, wurde jener Umstand nur desto unangenehmer fühlbar.

In der Nacht vom 7. zum 8. April begann der Eisbruch. Als Lieutenant Hobson, Mrs. Barnett, Kalumah und Sergeant Long an diesem Morgen Cap Bathurst bestiegen, fiel ihnen eine entschiedene Veränderung der Packeismauer in’s Auge. Der ungeheure Wall hatte sich in der Mitte getheilt und bildete zwei deutlich zu unterscheidende Theile, deren oberer offenbar nach Norden abzuweichen schien.

Machte sich hier der Einfluß des Kamtschatka-Stromes geltend? Würde die schwimmende Insel dieselbe Richtung einschlagen? Wie lebhafte Empfindungen der Angst erweckte diese Ungewißheit in der Brust des Lieutenants und seiner Begleiter. In wenig Stunden konnte ihr Loos entschieden sein, denn wenn es das Unglück wollte, daß sie noch mehrere hundert Meilen nach Norden hinauf getrieben wurden, so wuchsen auch die Mühen und Gefahren einer weiteren Seefahrt auf dem doch verhältnißmäßig beschränkten Schiffchen.

Zum Unglück ging den Ueberwinternden jetzt jedes Mittel ab, den Umfang und die Natur der sich vollziehenden Ortsveränderung abzuschätzen. Sie vermochten nur zu constatiren, daß die Insel sich noch nicht bewegte, mindestens nicht in dem Sinne der Schollenwand, da sich diese merklich entfernte. Man gelangte also zu der Annahme, daß ein Theil des Eisfeldes sich losgetrennt habe und wieder nach Norden hinauf treibe, während der Theil, welcher der Insel unmittelbar anlag, noch unbeweglich bleibe.

Auch diese Abweichung der hohen Eisbarrière war nicht im Stande, Kalumah’s Ansichten zu modificiren. Sie behauptete immer wieder, daß der Eisbruch von Norden nach Süden zu erfolge und daß auch das Packeis in nicht zu ferner Zeit dem Einflusse des Behrings-Stromes unterliegen werde. Um sich verständlicher zu machen, zeichnete die junge Eingeborene die Umrisse der Meerenge mittels eines Stäbchens in den Sand und suchte zu beweisen, daß die Insel sich der amerikanischen Küste werde nähern müssen. Hierin konnte sie kein Widerspruch beirren, und man fühlte sich fast beruhigter, wenn man sie ihre Sache mit solcher Sicherheit vertheidigen hörte.

Die nächsten Tage jedoch schienen Kalumah allerdings Unrecht zu geben. Immer weiter und weiter verschwand der bewegliche Theil der Eismauer nach Norden zu. Der Aufbruch des Meeres ging mit furchtbarem Getöse vor sich, und längs der ganzen Insel lösten sich die Massen unter betäubendem Lärm, der es unmöglich machte, sich in freier Luft gegenseitig zu hören; so krachte es mit der Gewalt eines unausgesetzten Kanonendonners rings umher. Eine halbe Meile um Cap Bathurst herum schoben sich die Schollen drohend über einander. Die Packeiswand hatte sich in zahlreiche Stücke zertheilt, die als ebenso viele Eisberge umhertrieben. Ohne es laut werden zu lassen, war Lieutenant Hobson doch sehr beunruhigt, so daß auch Kalumah’s Versicherungen ihm nicht mehr genügten, trotzdem diese seine Einwürfe nie unerwidert ließ.

Am Morgen des 11. April wies Lieutenant Hobson Kalumah die letzten Eisberge, welche im Norden verschwanden, und suchte ihr zu beweisen, daß ihre Ansichten doch nicht verläßlich seien.

»Und doch, nein, nein! rief diese mit überzeugterem Tone als je vorher, nein! Die Schollenwand zieht nicht nach Norden, aber unsere Insel treibt nach Süden!«

Vielleicht hatte Kalumah recht, wenigstens war Jasper Hobson von dieser unerwarteten Antwort betroffen. Wirklich konnte ja das Verschwinden des Packeises nur ein scheinbares sein, während vielmehr die Insel Victoria schon nach der Meerenge getrieben wurde. Auch diesen Fall angenommen, wie sollte man jetzt die Richtung und Größe der Bewegung, ohne Aufnahme der Länge und Breite abschätzen?

In der That dauerte die bedeckte und zu Beobachtungen ungeeignete Witterung nicht nur weiter an, sondern sie wurde sogar durch ein in den Polargegenden eigenthümliches Phänomen noch dunkler und im Gesichtskreise beschränkter.

Zusammenfallend mit dem Anfange des Thauwetters hatte sich die Temperatur nämlich um mehrere Grade erniedrigt. Ein dichter Nebel verhüllte bald diese Theile des Arktischen Meeres, doch war das kein gewöhnlicher Nebel. Der Boden überzog sich mit einer von dem eigentlichen Eise ganz verschiedenen weißen Kruste, die nur aus wässerigen nach erfolgtem Niederschlage gefrierenden Dünsten bestand. Die losen Theilchen dieses Nebels hingen sich an die Bäume, Sträucher, an die Mauern des Forts, überhaupt an alles Hervorspringende in dicker Lage an, aus der nur lange Fasern heraus traten, die der Wind hin und her bewegte.

Jasper Hobson erkannte diese Erscheinung, von deren Auftreten im Frühlinge die Walfänger und Ueberwinternden nicht selten berichten, sehr bald.

»Das ist kein Nebel, sagte er zu seinen Leuten, das ist ein « Frost-rime», ein Rauchfrost, ein dichter Dunst im Zustande der Erstarrung.«

Ob Nebel oder Rauchfrost, jedenfalls war das Auftreten dieser Erscheinung nicht minder bedauerlich, denn jener stieg bis zu einer Höhe von wenigstens hundert Fuß über die Meeresfläche an, und seine Undurchsichtigkeit machte das Erkennen von Personen schon auf drei Schritte Entfernung unmöglich.

Wie sehr verstimmte das die Bewohner der Kolonie, denen die Natur keine Prüfung ersparen zu wollen schien. Gerade zur Zeit des Thauwetters, wo die irrende Insel von den Fesseln, die sie seit so langen Monaten trug, frei werden sollte, in dem Augenblicke, wo es so nöthig war, ihre geringsten Bewegungen zu überwachen, gerade da mußte dieser Nebel jede Beobachtung verhindern!

Vier Tage über dauerte das in Gleichem fort! Erst am 15. April zerstreute sich der Rauchfrost, als ihn am frühen Morgen ein frischer Südwind zerriß und aufsaugte.

Hell glänzte die Sonne. Lieutenant Hobson stürzte nach seinen Instrumenten. Er maß die Höhe jener und berechnete als thatsächliche Lage der Insel:

Breite 69° 5?‘; Länge 179° 33′.

Kalumah hatte recht gehabt. Die vom Behrings- Strome ergriffene Insel Victoria wendete sich wieder nach Süden.

Siebenzehntes Capitel.


Siebenzehntes Capitel.

Endlich näherten sich nun die Ueberwinterer dem besuchteren Meere der Behrings-Straße und brauchten nicht mehr zu fürchten, wieder nach Norden verschlagen zu werden. Jetzt war nur noch die Ortsveränderung der Insel zu überwachen und ihre in Folge verschiedener Hindernisse sehr wechselnde Geschwindigkeit abzuschätzen. Jasper Hobson ließ sich das ängstlich angelegen sein, und maß die Höhe der Sonne und einzelner Sterne Tag für Tag auf’s Genaueste. Unter Voraussetzung einer jetzt gleich bleibenden Schnelligkeit berechnete er am folgenden Tage, dem 16. April, daß die Insel mit Anfang Mai den Polarkreis, von dem sie noch zwei Breitengrade entfernt war, durchschneiden müsse.

Dann lag die Annahme nahe, daß sie, an der engsten Stelle der Meerenge eingekeilt, bis zu der Zeit, wo das zunehmende Thauwetter ihr Platz schaffen würde, unbewegt verharrte. Zu derselben Zeit wollte man aber das Fahrzeug vom Stapel laufen lassen und nach der Küste Amerikas segeln.

Wie schon erwähnt, war Alles zur schnellsten Einschiffung vorbereitet.

Mit mehr Geduld und vorzüglich mit mehr Vertrauen als jemals warteten die Bewohner der Insel der Zukunft. Die hartgeprüften Leute fühlten es voraus, daß ihre Lage sich der endlichen Lösung näherte und sie so dicht an einem oder dem anderen Erdtheile vorüber kommen würden, daß Nichts sie hindern könne, binnen wenigen Tagen daselbst zu landen.

Ein neues Leben zog mit dieser Aussicht in ihre Herzen ein; sie gewannen die natürliche Heiterkeit wieder, welche vorher die langen Prüfungen niedergehalten hatte. Bei den Mahlzeiten ging es lustig her; an Küchenvorräthen fehlte es ja nicht, und die Verhältnisse schrieben kein sparsames Umgehen mit denselben vor. Nun machte sich auch der Einfluß des Frühlings geltend, und Jeder sog die warmen Lüfte, die er daher wehte, mit vollem Wohlbehagen ein.

Während der folgenden Tage wurden mehrere kurze Ausflüge in’s Innere der Insel und nach den Küsten derselben unternommen. Die Thiere alle waren noch in derselben reichen Anzahl vorhanden und konnten ja auch gar nicht daran denken, die Insel zu verlassen, da das jetzt vom amerikanischen Continente abgelöste Eisfeld keinen Uebergang nach demselben zuließ.

Weder im Inneren der Insel, noch an irgend einem hervorragenden Küstenpunkte derselben zeigte sich irgend welche merkliche Veränderung; auch die Ufer der Lagune erwiesen sich noch unverändert. Der große Spalt, der sich neben Cap Michael während jenes heftigen Sturmes aufgethan hatte, war durch den verflossenen Winter wieder vollkommen geschlossen und ein anderer Sprung nirgends beobachtet morden.

Bei derartigen Ausflügen sah man ganze Banden Wölfe, wie sie eilenden Laufes die Insel durchstreiften. Von der ganzen Fauna blieben diese feigen Raubthiere die einzigen, welche bei der drohenden allgemeinen Gefahr nicht zutraulicher wurden. Mehrmals kam auch Kalumah’s Retter wieder zum Vorschein. Melancholisch trabte der würdige Bär durch die Einöden, und blieb nur stehen, wenn sich Menschen nahten. Manchmal folgte er ihnen auch, im Bewußtsein vor jeder Gefahr sicher zu sein, bis zum Fort nach.

Am 20. April constatirte Jasper Hobson, daß die Insel in ihrer Abweichung nach Süden noch immer fortfahre. Die Ueberbleibsel der Packeiswand, Eisberge und Schollen ihrer südlicheren Theile, folgten ihr in gleichbleibender Entfernung, so daß in Ermangelung jedes andern Merkzeichens nur die astronomischen Beobachtungen über die Ortsveränderung Aufschluß gaben.

An verschiedenen Stellen und vorzüglich am Fuße des Cap Bathurst ließ Lieutenant Hobson auch Messungen der Eisstärke der Insel vornehmen. Diese ergaben keine Zunahme während der verflossenen Kälteperiode, auch schien das allgemeine Niveau der Insel nicht höher aus dem Meere emporgestiegen zu sein, und folglich erschien es rathsam, den zerbrechlichen Boden derselben sobald als möglich zu verlassen, bevor er sich in dem wärmeren Wasser des Pacifischen Oceans auflöste.

Zu dieser Zeit, nämlich am 25. April, änderte sich die Orientation der Insel zum dritten Male, und zwar um anderthalb Viertel des Umfangs (135°) in der Richtung von Norden nach Osten. Cap Bathurst sprang nun nach Nordwesten zu vor. Die letzten Reste der Schollenwand begrenzten den Horizont im Norden. Hierdurch war also bewiesen, daß das Eisfeld sich in der Meerenge noch frei bewegte und an keiner Seite ein Land berührte.

Der entscheidende Augenblick kam nun heran. Mit Genauigkeit ergaben die täglichen oder nächtlichen Beobachtungen die Situation der Insel und des Eisfeldes. Am 30. April wich die Gesammtmasse nach der Kotzebue-Bai, einem ausgedehnten dreieckigen Einschnitt, der tief in die Küste Amerikas hineingreift, merklich ab. Südlich von dieser springt das Cap Prince-de-Galles vor, das die schwimmende Insel wahrscheinlich aufhalten mußte, wenn sie die Mitte der engen Straße nicht ganz genau einhielt.

Jetzt blieb die Witterung beständig schön und häufig las man am Thermometer wohl 10° Wärme ab, so daß die Winterkleidung abgelegt werden konnte. Der Astronom hatte in der Schaluppe, die noch immer auf dem Zimmerplatze lag, schon seinen ganzen gelehrten Apparat, Instrumente und Bücher, untergebracht. Ebenso waren neben einer Anzahl der kostbarsten Pelzfelle hinreichende Nahrungsmittel im Voraus eingeschifft worden.

Am 2. Mai lieferte eine sehr sorgfältige Beobachtung das erfreuliche Resultat, daß die Insel Victoria zu einer Ablenkung nach Osten hinneigte und folglich dem amerikanischen Festlande noch näher kam. Hiermit verschwand auch die Furcht, von dem längs des asiatischen Ufers verlaufenden Kamtschatka- Strome auf’s Neue ergriffen und nach Norden verschlagen zu werden. Endlich schienen sich die Aussichten für die armen Dulder günstiger zu gestalten!

»Ich glaube, wir haben unser widriges Geschick nun ermüdet, Madame, sagte da Sergeant Long zu Mrs. Paulina Barnett. Wir kommen an’s Ende unserer Leiden, und ich hoffe, daß uns keine neuen mehr aufgespart sind.

– Ich theile ganz Ihre Ansicht, Sergeant, entgegnete die Reisende, und bin herzlich froh darüber, daß wir vor fünf Monaten auf die Fahrt über das Eisfeld verzichteten. Durch seine Unwegsamkeit lieh uns die Vorsehung ihre Hilfe!«

Gewiß hatte Mrs. Paulina Barnett recht, in dieser Weise zu sprechen, denn welche Hindernisse mußte diese Winterreise, welche Gefahren die lange Polarnacht bergen, und dazu lagen damals fünfhundert Meilen zwischen der Insel und der Küste.

Am 5. Mai verkündete Jasper Hobson seinen Gefährten, daß sie eben den Polarkreis überschritten hätten und damit in diejenigen Theile der Erde zurückkehrten, welche die Sonne selbst zur Zeit ihrer größten südlichen Abweichung niemals verließ. Für die wackeren Leute erschien das wie eine Rückkehr in die bewohnten Länder der Welt.

Dieser Tag wurde durch manchen guten Schluck gefeiert, und credenzte man ein Glas dem Polarkreise, wie es auf den Schiffen Sitte ist, die zum ersten Male die Linie (d.i. den Aequator) passiren.

Nun galt es also blos noch den Zeitpunkt abzuwarten, wo das schon lose und halb zersetzte Eis dem Schiffe, das die ganze Colonie tragen sollte, eine offene Fahrstraße bieten würde.

Am 7. Mai unterlag die Insel nochmals einer Viertelsdrehung. Cap Bathurst wies nun wieder nach Norden, über sich die Massen, welche von der Packeiswand noch übrig waren. Es hatte demnach die Orientation wieder erlangt, wie sie auf den Karten verzeichnet war, so lange es noch dem amerikanischen Festlande angehörte. Nach dieser nun vollständigen Umdrehung der Insel hatte die Morgensonne nach und nach jeden Punkt ihrer Küste getroffen.

Am 8. Mai ließ die Sonnenbeobachtung erkennen, daß die vorläufig feststehende Insel etwa die Mitte der Meerenge einnahm und nur vierzig Meilen vom Cap Prince-de-Galles entfernt lag. Das Land war also in verhältnißmäßig kurzer Entfernung fast in Sicht, und Aller Rettung schien gesichert.

Am Abend wurde im großen Saale ein festliches Mahl arrangirt, bei dem es an Toasten auf Mrs. Paulina Barnett und Lieutenant Hobson nicht fehlte.

Noch dieselbe Nacht beschloß Letzterer, nach den etwaigen Veränderungen des Eisfeldes im Süden der Insel zu sehen und womöglich ein brauchbares Fahrwasser aufzufinden.

Mrs. Paulina Barnett wollte Jasper Hobson hierbei begleiten, doch dieser bestand darauf, daß sie sich einige Ruhe gönne, und nahm nur Sergeant Long mit sich.

Die Nacht war schön. Statt des Mondes leuchteten die Sterne alle in prächtigem Glanze. Eine Art zerstreuten und durch das Eisfeld wiedergestrahlten Lichtes erhellte die Atmosphäre einigermaßen und erweiterte den Gesichtskreis. Die beiden Kundschafter verließen um neun Uhr das Fort und wandten sich zunächst nach dem Küstenstriche zwischen dem Barnett-Hafen und Cap Michael.

Auf zwei bis drei Meilen folgten sie dem Ufer. Doch welch‘ grausigen Anblick bot noch immer das Eisfeld! Welches Schollenlabyrinth! Welches Chaos! Man stelle sich einen ungeheuren Haufen der sonderbarsten Krystalle vor, ein Meer, das vom Orkane aufgewühlt, urplötzlich fest gebannt wurde. Jedenfalls zeigte sich zwischen dem Eise kein irgendwie freier Durchgang, den ein Schiff hätte benutzen können.

Bis Mitternacht verweilten Lieutenant Hobson und der Sergeant unter Gesprächen und Beobachtungen am Ufer. Da sie aber bemerkten, daß sich in dem allgemeinen Zustande Nichts änderte, beschlossen sie nach Fort-Esperance zurückzukehren, um auch selbst einige Stunden der Ruhe zu genießen.

Schon hatten sie einige Hundert Schritte zurückgelegt und befanden sich am Bett des ehemaligen Paulina-Flusses, als ein unerwartetes Geräusch ihre Schritte hemmte. Es ähnelte einem entfernten Donnergrollen und kam aus den nördlichen Theilen des Eisfeldes her. Der Lärm verdoppelte sich sehr schnell und wurde bald zum entsetzlichen Getöse. Jedenfalls ging in jenen Seegebieten eine sehr folgenschwere Erscheinung vor sich, und zu seiner größten Bestürzung fühlte Lieutenant Hobson den Boden der Insel unter den Füßen erzittern.

»Jenes Tosen kommt von der Seite der Eisbank her, sagte Sergeant Long. Was mag da vorgehen?«

Jasper Hobson gab keine Antwort und zog, im höchsten Grade beunruhigt, seinen Begleiter nach dem Ufer zu.

»Nach dem Fort! Nach dem Fort! rief Lieutenant Hobson. Vielleicht hat sich das Eis verschoben und können wir unser Schiff in’s Wasser bringen!«

Athemlos stürmten Beide auf kürzestem Wege zum Fort-Esperance.

Tausend Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Welche neue Erscheinung war die Ursache jenes Höllenlärmens? Hatten die schlafenden Bewohner des Forts davon Kenntniß? Gewiß, denn die von Minute zu Minute sich verdoppelnden Detonationen hätten, wie man zu sagen pflegt, hingereicht, um »Todte zu erwecken«.

Binnen zwanzig Minuten hatten Jasper Hobson und Sergeant Long die zwei Meilen bis Fort-Esperance durchlaufen. Noch vor dessen Palissadenwand aber bemerkten sie ihre Gefährten, Männer und Frauen, welche in Unordnung, zum Tode erschreckt und unter verzweifelndem Aufschrei entflohen.

Der Zimmermann Mac Nap mit seinem Kinde auf dem Arme traf zuerst auf den Lieutenant.

»Da! Sehen Sie, Herr Hobson!« rief er und zog den Lieutenant nach einer kleinen Erhöhung hinter dem Zaune der Factorei. Jasper Hobson traute kaum seinen Augen.

Die letzten Reste des Packeises, bei seinem Weggange noch zwei Meilen vom Ufer, hatten sich auf dasselbe gestürzt. Cap Bathurst existirte nicht mehr! Seine Erd- und Sandmassen waren von den Eisbergen zerdrückt und mit den Eisbergen über die Ansiedelung hereingeschoben worden. Das Hauptgebäude und Alles, was nördlich von diesem lag, war unter der enormen Lawine verschwunden. Unter Donnerkrachen sah man die Schollen sich noch eine über die andere schieben, herabstürzen und zerschmettern, was in ihrem Wege lag. Das Bild glich einem Sturmangriffe von Eisbergen auf die unglückliche Insel.

Das mühsam am Fuße des Cap Bathurst erbaute Schiff war – zertrümmert… die letzte Hilfe der armen Kolonisten verschwunden!

In diesem Augenblick brach das früher von den Soldaten bewohnte Nebenhaus unter einem furchtbaren Eisstoße zusammen. Jene selbst hatten sich noch früh genug retten können. Den Unglücklichen entrang sich ein herzzerreißender Schrei der Verzweiflung.

»Und die Anderen! Unsere Begleiterinnen!… rief der Lieutenant im Tone des furchtbarsten Schreckens.

– Sind noch dort!« erwiderte Mac Nap und wies auf den Berg von Erde, Sand und Eis, unter dem das Hauptgebäude vollkommen vergraben lag.

Wirklich, dieser Trümmerhaufen bedeckte Mrs. Paulina Barnett, und mit ihr Madge, Kalumah und Thomas Black, welche der Eissturz Alle im Schlafe überrascht hatte.

Achtzehntes Capitel.


Achtzehntes Capitel.

Eine furchtbare Umwälzung hatte stattgefunden, und die Eisbank sich auf die schwimmende Insel gestürzt. Bis zu einer großen Tiefe, der fünffachen ihrer über das Wasser aufragenden Höhe, in’s Meer eintauchend, hatte jene dem Zuge der unterseeischen Strömungen nicht zu widerstehen vermocht, und als sich ein Weg durch das gesprengte Eis öffnete, war sie mit voller Wucht auf die Insel Victoria gestoßen, die durch den heftigen Anprall getrieben, schnell nach Süden zu abwich. Im ersten Augenblick, als der Eissturz donnernd die Ställe und das Hauptgebäude zertrümmerte, hatten Mac Nap und seine Leute alle ihre bedrohte Wohnung noch verlassen können. Schon war das Unheil aber geschehen – von den andern Wohnräumen war kein Balken mehr sichtbar. Und jetzt entführte die Insel ihre Bewohner nach dem endlosen Oceane! Vielleicht lebten aber unter diesem Trümmerhaufen ihre muthige Gefährtin, Mrs. Paulina Barnett, Madge, die junge Eingeborene und Thomas Black noch? Zu ihnen mußte man eindringen, und sollte man nur ihre Leichen wiederfinden.

Der Lieutenant, welcher zuerst wie vom Donner gerührt war, gewann sein kaltes Blut wieder und rief:

»An die Beile und die Hacken! Das Haus ist fest und hat den Druck wohl aushalten können! An’s Werk!«

Aexte und Hacken fehlten zwar nicht, doch verbot sich in diesem Augenblicke jede Annäherung an die Umzäunung. Noch immer glitten und polterten Schollen von den gelockerten Eisbergen, deren einige die Insel Victoria wohl um zweihundert Fuß überragten. Die zerschmetternde Gewalt dieser Massen, welche vom nördlichen Horizonte her überall heranzurücken schienen, kann man sich daraus leicht vorstellen. Der ganze Küstenstrich zwischen dem früheren Cap Bathurst und dem Cap Eskimo war von ihnen umschlossen, und schon drängten sie sich bis auf eine Viertelmeile über denselben herein. Fortwährend verrieth das Erzittern des Bodens und das erneute Donnern und Krachen die Loslösung frischer Massen und ließ befürchten, daß die Insel unter einer solchen Last versinken würde. Aus einer sehr merklichen Neigung des Bodens erkannte man auch, daß sich das Ufer dort nach und nach senkte, und schon rollten die langen Meereswellen bis in die Nähe der Lagune.

Die Lage der Unglücklichen war eine schreckliche, und dazu mußten sie die ganze Nacht über, ohne einen Rettungsversuch ihrer Freunde vornehmen zu können, erfaßt von düsterer Verzweiflung verbringen, da die Eisstürze jede Annäherung unmöglich machten und sie weder dagegen ankämpfen, noch dieselben abwenden konnten.

Endlich brach der Tag an. Welch‘ ein Bild der Zerstörung bot da ihre Umgebung! So weit das Auge reichte, schloß eine Mauer von Eis den Gesichtskreis, doch schienen die Massen wenigstens für jetzt zur Ruhe gekommen zu sein, und nur da und dort bröckelte sich noch ein schlecht unterstütztes Eisstück von dem Haufen los. Die ganze gewaltige, tief eintauchende Masse theilte aber nun ihre Kraft der Abweichung, welche die unterseeische Strömung ihr verlieh, der Insel mit und drängte diese nach dem Süden, dem Untergange zu.

Keiner der unglücklichen Bewohner ward indeß hiervon etwas gewahr. Ihnen lag die Rettung der Opfer dieses Unfalls am Herzen, und unter diesen befand sich die muthige, von Allen geliebte Frau, für die sie gern ihr eigenes Leben gelassen hätten. Jetzt, da man sich der Umzäunung wieder nähern konnte, galt es zu handeln und keine Minute zu verlieren, denn schon sechs Stunden lang seufzten die Opfer unter den Trümmern des Eissturzes.

Das Cap Bathurst gab es, wie gesagt, nicht mehr. Von einem ungeheuren Eisberge getroffen, hatte es sich über die Factorei gestürzt, das Schiff zertrümmert, die Ställe bedeckt und die Thiere darin zermalmt. Hierauf verschwand das Hauptgebäude unter einer Lage von Sand und Erde, über welche sich die Eisblöcke bis zu einer Höhe von fünfzig bis sechzig Fuß aufthürmten. Der Hof war vollständig ausgefüllt, und von der Palissade sah man kaum noch einen Pfahl. Und unter diesem Gemisch von Erde, Sand und Eis sollten die Unglücklichen ausgegraben werden.

Noch bevor man an’s Werk ging, rief Lieutenant Hobson den Zimmermann zu sich.

»Mac Nap, sagte er, glauben Sie, daß das Haus den Eisdruck ausgehalten haben könne?

– Das möchte ich fast behaupten, Herr Lieutenant, erwiderte Mac Nap. Das Haus hatten wir, wie Sie ja wissen, noch widerstandsfähiger gemacht, das Dach casemattirt, und die aufgerichteten Stämme im Innern müssen nur noch zu seiner Festigkeit beitragen. Vergessen Sie auch nicht, daß dasselbe zuerst mit einer Schicht von Sand und Erde überdeckt worden ist, welche das Aufschlagen des herabstürzenden Eises wesentlich gemildert haben mag.

– Gott möge Ihnen Recht geben, Mac Nap, entgegnete Jasper Hobson, und uns einen solchen Schmerz ersparen!«

Da kam Mrs. Joliffe hinzu. »Sind noch Lebensmittel in dem Hause vorräthig? fragte er diese.

– Ja wohl, Herr Hobson, antwortete sie, Küche und Speisekammer sind noch hinreichend versorgt.

– Auch mit Wasser?

– Mit Wasser und etwas Branntwein, bestätigte Mrs. Joliffe.

– Gut, sagte Lieutenant Hobson, durch Hunger und Durst werden sie also nicht zu Grunde gehen, aber wird ihnen die Luft nicht mangeln?«

Diese Frage konnte auch der Meister Zimmermann nicht beantworten; gerade hierin lag jedoch, vorausgesetzt, daß das Gebäude nicht zermalmt worden war, die größte Gefahr. Diese konnte nur durch eine schnelle Befreiung abgewendet werden, wenn es nicht vorher gelang, eine Verbindung zwischen der freien Luft und den Verschütteten herzustellen. Mit Axt und Schaufel gingen Alle, Männer und Frauen, an die Arbeit; in Gefahr, von nachstürzenden Blöcken getroffen zu werden, griffen sie den Berg an. Mac Nap übernahm die Leitung der Arbeiten.

Er hielt es für das Beste, am höchsten Punkte anzufangen, von wo aus man die aufgehäuften Schollen nach der Seite der Lagune herabwälzen konnte. Mittelgroße überwältigte man wohl mit der Axt und dem Hebel, noch größere mußten erst mit dem Beile zerkleinert werden, und wo auch das nicht ausreichte, nahm man das Feuer, das mit harzigen Stämmen genährt wurde, zu Hilfe. Nichts blieb unversucht, um die Eismassen in kürzester Zeit zu beseitigen.

Trotz der eifrigsten Anstrengung aber, und trotzdem man sich kaum Ruhe gönnte, um einige Bissen zu sich zu nehmen, sah man, als die Nacht hereinbrach, fast noch keine Verminderung des Schutthaufens, da eigentlich nur der Gipfel desselben abgeräumt war. Als nun weitere Nachstürze nicht mehr zu befürchten standen, entschied sich der Zimmermann dafür, nur einen lothrechten Schacht abzuteufen, wodurch er schneller an das Ziel zu gelangen und der freien Luft einen Zugang zu eröffnen hoffte.

Die ganze Nacht hindurch blieben Lieutenant Hobson und alle seine Leute bei der Arbeit; mit Eisen und Feuer griff man die nicht zusammenhängenden Schollen an: die Männer schwangen die Aexte, die Frauen unterhielten die Flammen. Alle beseelte nur der eine Gedanke: Mrs. Paulina Barnett, Madge, Kalumah und Thomas Black zu retten!

Als aber der Morgen wieder graute, waren die Unglücklichen schon dreißig Stunden und in einer durch die dicke Schicht über ihnen gewiß verschlechterten Luft verschüttet.

Der Zimmermann begann nun die Abteufung des Schachtes, der direct auf dem Dachstuhle des Hauses münden sollte, wozu derselbe seiner Berechnung nach eine Länge von etwa fünfzig Fuß erhalten mußte. Durch das Eis hindurch, d. h. ungefähr zwanzig Fuß tief, mochte die Arbeit wohl eine leichte sein, aber die Schwierigkeiten drohten zu wachsen, wenn man dahin kam, gegen dreißig Fuß durch die lockere Erd- und Sandmaße einzudringen. Zur Ausplankung dieser Strecke wurden demnach lange Stämme zugerichtet und dann der Schacht in Angriff genommen. Nur drei Mann konnten gleichzeitig daran arbeiten; da sich die Soldaten also in kurzen Zwischenräumen ablösten, durfte man auf einen schnellen Fortschritt der Arbeit rechnen.

Wie es immer in solch schrecklichen Lagen der Fall ist, schwankten die armen Leute oft zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her. Wenn eine neue Schwierigkeit sie aufhielt, oder ein Nachsturz einen Theil des Schachtes wieder ausfüllte, übermannte sie die Entmuthigung, und bedurfte es der erfolgssicheren Aufmunterung des Zimmermanns, um sie auf’s Neue anzufeuern.

Während die Männer so der Reihe nach arbeiteten und aushöhlten, sorgten die drei Frauen fast ohne ein Wort zu wechseln und unter manchem stummen Gebete, nothdürftig für die Nahrung, welche die Anderen in ihren Ruhepausen einnahmen.

Trotz der Härte des Eises und dem langsamen Fortschreiten der Schachtarbeit traten ihnen doch jetzt die größten Schwierigkeiten noch nicht entgegen. Erst mit dem Ende des Tages erreichte Mac Nap die loseren Schichten, deren Ausschachtung unter vierundzwanzig Stunden gar nicht zu erwarten war.

Wiederum kam die Nacht. Das Rettungswerk sollte nicht unterbrochen, sondern bei Fackelschein fortgesetzt werden. Daneben stellte man in aller Eile eine Art Eishaus her, in dem die Frauen und das Kind nothdürftig Schutz fanden, als der Wind sich nach Südwesten gedreht hatte und ein mit heftigen Windstößen untermischter Regen herabfiel. Dagegen dachte weder Lieutenant Hobson noch ein Anderer daran, die Arbeit einzustellen.

Jetzt erst begannen die Hindernisse, da man in das bewegliche Erdreich nicht ohne Vorsichtsmaßregeln tief eindringen konnte, sondern den Schacht auszimmern mußte, um dem Nachrutschen der Erde zu wehren. Die aufgegrabene Erde zogen die Männer mittels eines an einem Stricke befestigten Eimers nach oben. Daß man jetzt nicht schnell vorwärts kam, ist wohl leicht einzusehen. Immer mußte man darauf Acht haben, daß die Arbeitenden selbst nicht auf’s Neue verschüttet wurden.

Der Zimmermann blieb fast die ganze Zeit über mit im Grunde, beaufsichtigte die Arbeiten und sondirte wiederholt mit einer langen Stange. Noch traf er aber auf keinen Widerstand, wie ihn der Dachstuhl hätte leisten müssen.

Als es wieder tagte, war man nur zehn Fuß tief vorwärts gekommen, und noch lagerte eine zwanzig Fuß dicke Schicht über dem Dache des Hauses, wenn dieses dem Drucke nicht nachgegeben hatte.

Seit vierundzwanzig Stunden schmachteten nun Mrs. Paulina Barnett, die beiden Frauen und der Astronom unter dem Schutthaufen!

Oefters fragten sich der Lieutenant und Mac Nap, ob Jene nicht ihrerseits den Versuch gemacht haben könnten, eine Verbindung nach Außen herzustellen. Bei ihrem kalten Blute und ihrer Unerschrockenheit schien es unzweifelhaft, daß Mrs. Paulina Barnett, wenn sie sich überhaupt zu bewegen vermöchte, versucht haben würde, sich einen Ausweg zu bahnen, da auch noch einige Werkzeuge im Hause vorhanden waren; wenigstens erinnerte sich einer der Leute Mac Nap’s mit Bestimmtheit, seine Axt in der Küche zurück gelassen zu haben. Sollten die Gefangenen keine Thüre eingeschlagen und einen Gang durch die Sandschicht auszuhöhlen begonnen haben? Freilich konnten sie diesen nur in wagerechter Richtung ausgraben, und das verlangte eine weit längere Arbeit, als die Ausschachtung durch Mac Nap, denn der aufgethürmte Berg maß bei sechzig Fuß Höhe mehr als fünfhundert in seinem unteren Durchmesser. Diese Verhältnisse blieben den Verschütteten natürlich unbekannt, und hätten sie zur Herstellung eines horizontalen Ganges mindestens acht Tage nöthig gehabt. Reichten die Nahrungsmittel auch für so lange aus, so mußten sie doch inzwischen aus Mangel an frischer Luft zu Grunde gehen.

Nichts desto weniger überwachte Jasper Hobson alle Theile der Schuttmasse, um jedes Geräusch durch ein Arbeiten von Innen her zu vernehmen. Aber nichts, gar nichts ließ sich hören.

Mit neuem Muthe gingen Alle bei Anbruch des Tages an’s Werk. Erde und Sand förderte man durch die Mündung des Schachtes heraus, der sich regelmäßig vertiefte und dessen lose Wand die Zimmerung hinlänglich zurück hielt. Wenn auch kleine Nachschübe vorkamen, so wurden diese doch bald beseitigt und hatte man den Tag über keinen neuen Unfall zu beklagen. Nur der Soldat Garry wurde durch ein herabstürzendes Eisstück leicht am Kopfe verwundet, wollte sich deshalb aber nicht von der Arbeit ausgeschlossen wissen.

Um vier Uhr hatte der Schacht eine Gesammttiefe von fünfzig Fuß erreicht, bei welcher Mac Nap auf den Dachstuhl zu treffen rechnete, wenn er dem Drucke des Eissturzes widerstanden hätte.

Er befand sich in der Tiefe des Schachtes, und leicht kann man sich wohl seine Enttäuschung vorstellen, als er jetzt die Stange einbohrte und noch immer auf keinen Widerstand traf.

Einen Augenblick sah er mit gekreuzten Armen den mit anwesenden Sabine an.

»Nichts? sagte der Jäger.

– Nichts, antwortete der Zimmermann, Nichts! Doch, guten Muth, das Dach könnte wohl nachgegeben haben, unmöglich aber die abgesteifte Zimmerdecke. Nur noch zehn Fuß, und wir müssen diese selbst erreichen … oder…«

Mac Nap sprach seinen Gedanken nicht ganz aus, und mit Sabinens Beistand wurden die Arbeiten wieder aufgenommen.

Um sechs Uhr Abends waren wiederum gegen zehn bis zwölf Fuß ausgehöhlt.

Von Neuem sondirte Mac Nap. Noch immer nichts; seine Stange sank nur in die lose Erdmasse ein.

Da unterbrach der Zimmermann einen Augenblick seine Arbeit, bedeckte das Gesicht mit den Händen und murmelte halblaut:

»Ach, die Unglücklichen!«

Auf den Steifen, welche die Holzzimmerung hielten, hinaufkletternd, verließ er den Schacht.

Oben angelangt, traf er Lieutenant Hobson und Sergeant Long ängstlicher als je, nahm sie bei Seite und vertraute ihnen die schreckliche Enttäuschung, die er eben erfahren hatte.

»Nun denn, sagte Jasper Hobson, dann ist das Haus also von der Lawine zermalmt worden und die Armen …

– Nein, fiel ihm der Zimmermann im Tone der unerschüttertsten Ueberzeugung in das Wort, nein, das Haus ist nicht zerdrückt; so wie es gestützt war, mußte es Alles aushalten; nein, es kann nicht sein!

– Was ist aber dann geschehen, Mac Nap, fragte der Lieutenant, aus dessen Augen große Thränen perlten.

– Das will ich Ihnen sagen, erwiderte Jener, das Haus wird noch ganz sein, aber der Boden, auf dem es stand, hat nachgegeben; es ist durch die Eiskruste gebrochen, die unsere Infel bildet. Es ist nicht zertrümmert, aber versenkt … und die bedauernswerthen Opfer …

– Sollen ertrunken sein? rief Sergeant Long.

– Ja, Sergeant, ertrunken, bevor sie eine Bewegung machen konnten, «wie die Passagiere eines untergegangenen Schiffes».«

Einige Augenblicke schwiegen drei die Männer.

Mac Nap’s Hypothese mußte der Wahrheit wohl sehr nahe kommen. Was war denn wahrscheinlicher, als die Annahme, daß sich unter dem enormen Drucke der Boden der Insel gesenkt, und das unzerbrochene Haus denselben durchschlagen habe und im Abgrunde versunken sei?

»Nun denn, Mac Nap, sagte Lieutenant Hobson, und wenn wir keine Lebenden retten können …

– Ja, fiel der Zimmermann ein, so wollen wir sie wenigstens todt wiederfinden!«

Nach diesen Worten nahm Mac Nap, ohne den Anderen diese schreckliche Mittheilung zu machen, seine unterbrochene Arbeit im Grunde des Schachtes wieder auf, während Lieutenant Hobson mit ihm hinab stieg.

Die ganze Nacht über blieb man thätig und löste sich von Stunde zu Stunde ab. Immer aber blieben Jasper Hobson und Mac Nap auf einer Steife gegenwärtig, um jeden Augenblick zur Hand zu sein.

Um drei Uhr Morgens traf Kellet’s Axt auf einen harten Körper. Der Meister Zimmermann fühlte das mehr, als er es hörte.

»Wir sind auf dem Hause, rief erfreut der Soldat – Gerettet!

– Schweig‘ und fahre fort«, antwortete ihm der Lieutenant mit dumpfer Stimme.

Jetzt waren schon nahe an sechsundsiebenzig Stunden verflossen, seit der Eissturz über das Haus herein brach.

Kellet und sein Nebenmann, der Soldat Pond, schaufelten weiter. Die Tiefe des Schachtes mußte ziemlich die Oberfläche des Meeres erreicht haben, und folglich schwand Mac Nap nun jede Hoffnung.

In weniger als zwanzig Minuten lag der harte Körper, auf dem die Axt getroffen hatte, frei. Es war ein Balken des Daches. Der Zimmermann schwang sich vollends hinunter und beseitigte die schwächeren Latten, so daß eine ausreichende Oeffnung entstand …

Da schleppte sich eine kaum erkennbare Gestalt durch die Dunkelheit heran.

Es war die Gestalt Kalumah’s!

»Zu Hilfe, zu Hilfe!« rief die Arme mit schwacher Stimme.

Jasper Hobson kletterte durch die Oeffnung. Er schauderte vor Kälte zusammen – das Wasser stieg ihm bis zum Gürtel. Das Dach war nicht, wie man voraus gesetzt, eingebrochen, Wohl aber hatte das Haus, entsprechend der Annahme Mac Nap’s, den Boden durchschlagen und das Wasser eindringen lassen. Nur der Dachraum, in dem es kaum einen Fuß hoch stand, blieb noch frei davon. Es war noch eine schwache Hoffnung vorhanden! … Der Lieutenant wagte sich in die Dunkelheit hinein und traf einen Körper ohne Bewegung. Diesen schleppte er nach der Oeffnung hin, wo ihn Kellet und Pond empfingen und heraus zogen. Es war Thomas Black.

Bald darauf wurde auch Madge aufgefunden. Mittels Seilen, welche man in den Schacht hinab ließ, wurden Beide an die freie Luft empor gezogen.

Noch galt es, Mrs. Paulina Barnett zu retten. Von Kalumah geführt, tastete sich Jasper Hobson durch den ganzen Bodenraum, an dessen Ende er Die, welche er suchte, den Kopf kaum über dem Wasser, auffand. Die Reisende erschien wie todt. Lieutenant Hobson trug sie auf seinen Armen nach der Oeffnung, und wenige Minuten nachher erschienen Alle an der oberen Mündung des Schachtes.

Ringsum standen sie Alle versammelt, die Gefährten der muthigen Frau, doch ihre Verzweiflung raubte ihnen die Sprache.

Die junge Eskimodin hatte sich, so schwach sie selbst war, über den leblosen Körper der geliebten Freundin geworfen.

Noch athmete Mrs. Paulina Barnett und fühlte man ihren Pulsschlag; als dann die frische Luft durch ihre Lungen einzog, kam sie langsam zum Leben zurück.

Da löste sich ein Aufschrei der Freude aus Aller Brust und stieg ein Ausruf des Dankes zum Himmel, der gewiß da droben gehört wurde.

Gleichzeitig ward es Tag; die Sonne stieg über dem Horizonte auf und beleuchtete die Scene mit ihren ersten Strahlen.

Mit äußerster Anstrengung erhob sich Mrs. Paulina Barnett; von der Höhe der Lawine schaute sie wie prüfend um sich, und mit seltsamem Tone sagte sie die Worte:

»Das Meer, das Meer!«

Wirklich umrauschte auf beiden Seiten, im Westen und im Osten, das eisfreie Meer die schwimmende Insel!