Zweites Capitel.


Zweites Capitel.

Jasper Hobson beeilte sich, mit der Karte in der Hand, die neue, den Agenten der Compagnie unvorhergesehen geschaffene Lage möglichst sorgfältig aufzunehmen. Um aber die Länge der Insel Victoria – denn dieser Name wurde beibehalten – zu bestimmen, so wie es mit der Breite schon geschehen war, mußte der andere Tag abgewartet werden. Zur Ausführung dieser Berechnung bedurfte man zwei Beobachtungen der Sonnenhöhe, in der Vormittags- und Nachmittagszeit, um die beiden Stundenwinkel messen zu können.

Um zwei Uhr Nachmittags maßen Lieutenant Hobson und Thomas Black mittels der Sextanten die gerade Aufsteigung der Sonne über dem Horizonte.

Am anderen Tage wollten sie die Beobachtung um zehn Uhr Morgens fortsetzen, um aus den beiden Höhen die geographische Länge des von der Insel jetzt eingenommenen Punktes herzuleiten.

Die kleine Gesellschaft ging aber noch nicht sogleich zum Fort zurück, und das Gespräch zwischen Jasper Hobson, dem Astronomen, dem Sergeanten, Mrs. Paulina Barnett und Madge dauerte noch ziemlich lange Zeit fort. Die Letztere dachte an sich selbst gar nicht, sondern hatte sich vollkommen in den Willen der Vorsehung ergeben. Ihre Herrin, »ihre Tochter Paulina«, vermochte sie aber nicht ohne Besorgniß anzusehen, wenn sie an die Prüfungen, vielleicht die Gefahren dachte, welche die Zukunft ihr vorbehalten haben könne. Madge war wohl bereit, ihr Leben für Paulina zu lassen, aber würde dadurch Diejenige, welche sie mehr liebte, als Alles in der Welt, gerettet werden? Jedenfalls wußte sie, daß Mrs. Paulina Barnett nicht eine so schnell niederzubeugende Frau sei. Ihre unerschrockene Seele sah der kommenden Zeit furchtlos entgegen, und für jetzt hatte sie ja auch noch keinen Grund, zu verzagen.

Wirklich drohte den Insassen des Fort-Esperance keine unmittelbare Gefahr, im Gegentheil rief Alles den Glauben hervor, daß ihnen eine äußerste Katastrophe erspart bleiben werde, wenigstens sprach sich Jasper Hobson gegen seine Begleiter in dieser Weise aus.

Nur zwei Gefahren drohten der schwimmenden Insel.

Entweder wurde sie durch die Strömung bis nach jenen hohen Polarbreiten hingeführt, aus denen man nie wiederkehrt, –

Oder die Strömungen trieben sie nach Süden, vielleicht nach der Behrings-Straße und von da aus in den Stillen Ocean.

Im ersteren Falle würden die Ueberwinternden, im Eise gefesselt und von einem unübersteiglichen Schollenwalle umschlossen, jeder Verbindung mit der Außenwelt beraubt sein, und durch Hunger und die Kälte der hochnördlichen Einöden umkommen.

Im anderen Falle mußte die Insel Victoria von der Strömung bis nach den wärmeren Gewässern des Stillen Oceans entführt werden, an der Basis nach und nach zum Schmelzen kommen und sich unter den Füßen ihrer Bewohner allmälig senken.

Jede Hypothese stellte den Untergang Jasper Hobson’s, aller seiner Gefährten und der um den Preis so vieler Strapazen errichteten Factorei in gleich gewisse Aussicht.

Aber mußte denn einer oder der andere Fall wirklich unbedingt eintreten? Nein; viel Wahrscheinlichkeit hatte das nicht.

Die Jahreszeit war jetzt schon weit vorgeschritten. Vor Ablauf dreier Monate stand zu erwarten, daß das Meer unter dem ersten Polarfroste fest würde. Es versprach dann eine zusammenhängende Eisfläche, über welche hin man mittels Schlitten das nächstgelegene Land, entweder das russische Amerika, wenn sich die Insel östlich hielt, oder die Küste Asiens, im Falle sie nach Westen verschlagen wurde, zu erreichen hoffen konnte.

»Denn, fügte Jasper Hobson hinzu, wir sind nach keiner Seite hin unserer schwimmenden Insel Herr. Da das Aufspannen eines Segels, wie an einem Schiffe, unthunlich ist, vermögen wir auf ihre Richtung nicht im Geringsten einzuwirken, und gehen eben hin, wo sie uns gerade hinführt.«

Jasper Hobson’s klarer und bestimmter Darlegung der Sachlage wurde ohne Widerspruch beigestimmt. Es war unzweifelhaft, daß der strenge Winterfrost die Insel Victoria an das unendliche Eisfeld anlöthen und diese weder nach Norden, noch nach Süden hin allzu weit abweichen würde. Einige hundert Meilen über das Eisfeld zurückzulegen, setzte aber muthige und entschlossene Männer, die an das Polarklima und weite Exkursionen durch die arktischen Länder gewöhnt waren, nicht in große Verlegenheit. Zwar mußte Fort-Esperance, das Ziel aller ihrer Sorgen, aufgegeben und auf den Lohn so vieler glücklich durchgeführter Arbeiten verzichtet werden; doch was blieb denn Anderes übrig? Die auf beweglichem Boden aufgeführte Factorei konnte der Hudsons-Bai-Compagnie ja doch keine weiteren Dienste leisten und ihrem endlichen Untergange im Oceane über kurz oder lang nicht entgehen. Es galt also dieselbe zu verlassen, sobald es die Umstände gestatteten.

Die einzige bedenklichste Aussicht, auf welche Jasper Hobson immer und immer wieder zurückkam, war die, daß die Insel Victoria während der acht oder neun Wochen bis zur Erstarrung des Eismeeres zu weit nach Norden oder nach Süden hinweg geführt werden möchte, und wirklich kannte man aus den Berichten über Durchwinterungen Beispiele von Abweichungen, welche auf sehr weite Strecken hin stattfanden, ohne daß man ihnen Einhalt zu thun vermochte.

Alles hing demnach von den unbekannten Strömungen ab, welche von der Behringsstraße her ihren Ausgang nahmen, und es machte sich nöthig, ihre Richtungen nach den Karten des Eismeeres möglichst genau kennen zu lernen. Jasper Hobson, der eine solche Karte besaß, bat Mrs. Paulina Barnett, Madge, den Astronomen und den Sergeanten, ihm in sein kleines Zimmer zu folgen; bevor sie jedoch Cap Bathurst verließen, legte er ihnen nochmals das tiefste Stillschweigen über die gegenwärtige Sachlage an’s Herz.

»Ganz zum Verzweifeln ist unsere Lage keineswegs, setzte er noch hinzu, und folglich halte ich es für unzweckmäßig, unsere Gefährten überhaupt zu beunruhigen, da sie nicht so wie wir die guten und die schlechten Aussichten unserer Zukunft abzuwägen verstehen.

– Sollte es indessen, bemerkte Mrs. Paulina Barnett, nicht weise sein, von jetzt ab die Erbauung eines uns Allen Raum bietenden Fahrzeuges in die Hand zu nehmen, welches bei einer Ueberfahrt von einigen hundert Meilen die See zu halten im Stande wäre?

– Gewiß wäre es das, antwortete Jasper Hobson, und wir werden es nicht unterlassen. Einen Vorwand, diese Arbeit ohne Verzug aufzunehmen, werde ich leicht finden, und deshalb dem Meister Zimmermann sofort den nöthigen Befehl geben, an die Construction eines seefesten Schiffes zu gehen. Diesen Ausweg der Rückkehr verspare ich mir indessen nur für den schlimmsten Fall. Das Wichtigste wird es immer bleiben, nicht mehr auf der Insel zu sein, wenn die Verschiebung der Eismassen wieder beginnt, das heißt also, sie zu verlassen und das Festland wieder zu Fuße zu erreichen, sobald der Ocean im Winterfroste erstarrt ist.«

In der That war dieser Beschluß wohl der beste. Zur Erbauung eines Schiffes von dreißig bis fünfunddreißig Tonnen bedurfte es wenigstens der Zeit dreier Monate, dann aber konnte man von demselben keinen Gebrauch machen, da das Meer nicht mehr offen sein würde. Gelang es dagegen Lieutenant Hobson, seine kleine Kolonie über das Eisfeld nach dem festen Lande zurück zu führen, so bildete das gewiß die einfachste und glücklichste Lösung des Knotens, denn die Einschiffung der ganzen Gesellschaft bei eintretendem Thauwetter blieb immerhin ein sehr gefährliches Unternehmen. Mit Recht betrachtete Jasper Hobson also das zu erbauende Fahrzeug nur als das letzte Hilfsmittel, und alle Uebrigen theilten seine Meinung. Ueberdies wiederholte man ihm, der offenbar der sachkundigste Beurtheiler der Frage war, das Versprechen der Geheimhaltung.

Wenig Minuten, nachdem sie Cap Bathurst verlassen hatten, umringten die beiden Frauen und die drei Männer in Fort-Esperance den Tisch des großen Saales, in welchem sich deshalb Niemand befand, weil Alle mit verschiedenen Arbeiten im Freien beschäftigt waren.

Der Lieutenant brachte eine ausgezeichnete Karte der atmosphärischen und oceanischen Strömungen herbei und unterzog mit den Anderen denjenigen Theil des Eismeeres, der zwischen der Behrings-Straße und Cap Bathurst liegt, der eingehendsten Prüfung.

Vorzüglich sind es zwei Stromrichtungen, welche jene gefährlichen Seegegenden zwischen dem Polarkreise und der seit der kühnen Entdeckungsfahrt Mac Clure’s so genannten »nordwestlichen Durchfahrt« theilen, mindestens verzeichneten die hydrographischen Beobachtungen bisher keine weiteren.

Die eine nennt man den Kamtschatka-Strom. Nach seiner Entstehung in dem der Halbinsel dieses Namens benachbarten Meere folgt er der asiatischen Küste und dringt unter Berührung des Ostcaps, einer vorspringenden Spitze des Landes der Tchouktchis, durch die Behrings-Straße. Sechshundert Meilen oberhalb der Meerenge verändert sich seine Hauptrichtung von Süden nach Norden und wendet sich, etwa in dem Breitengrade, welcher der während der warmen Jahreszeit gewiß einige Monate lang passirbaren Durchfahrt Mac Clure’s entspricht, direct nach Westen.

Ein anderer, der sogenannte Behrings-Strom, verläuft in gerade entgegengesetztem Sinne. Nachdem er höchstens hundert Meilen vom Ufer ab längs der amerikanischen Küste von Osten nach Westen gezogen ist, stößt er so zu sagen mit dem Kamtschatka- Strome an der Oeffnung der Meerenge zusammen, wendet sich dann unter Annäherung an das russische Amerika nach Süden und verschwindet im Behrings- Meere, getheilt durch den fast kreisförmigen Wall der Aleuten.

Diese Karte gewährte einen vollkommen getreuen Ueberblick über die nautischen Entdeckungen bis auf die neueste Zeit, und durfte man sich wohl auf sie verlassen.

Jasper Hobson sah sie sehr aufmerksam durch, bevor er sich aussprach. Dann strich er mit der Hand über die Stirn, so als wollte er ein unangenehmes Vorgefühl verscheuchen, und sprach:

»Hoffen wir, meine Freunde, daß unser Unstern die Insel nicht allzu weit in’s offene Meer hinaustreibt, aus der sie Gefahr liefe, nie zurückzukehren.

– Und weshalb, Herr Hobson? fragte lebhaft Mrs. Paulina Barnett.

– Weshalb, Madame? erwiderte der Lieutenant. Betrachten Sie diesen Theil des Arktischen Oceans, und Sie werden es leicht einsehen. Zwei uns gleich gefährliche Ströme laufen dort in entgegengesetztem Sinne. An dem Punkte, wo sie aufeinander treffen, würde die Insel in großer Entfernung von jedem Lande fest gehalten werden. Genau an derselben Stelle würde sie den Winter über verbleiben, und bei Gelegenheit des wieder eintretenden Eisganges entweder dem Kamtschatka-Strome bis mitten in die verlassenen Gegenden im Nordwesten folgen, oder unter dem Einfluß des Behrings-Stromes in den Tiefen des Pacifischen Oceans versinken.

– Das wird nicht geschehen, Herr Lieutenant, sagte Madge mit glaubensinnigem Tone, Gott kann das nicht wollen.

– Ich habe nur, fiel Mrs. Paulina Barnett ein, bis jetzt keine Vorstellung davon, auf welchem Theile des Polarmeeres wir augenblicklich treiben, denn in der offenen See neben Cap Bathurst sehe ich nur jenen gefährlichen Kamtschatka-Strom, der unmittelbar nach Nordwesten führt. Liegt nicht die Befürchtung nahe, daß dieser uns schon ergriffen habe und wir nach dem Gebiete von Nord-Georgia zu geführt werden?

– Das glaube ich nicht, sagte Jasper Hobson nach einigen Augenblicken der Ueberlegung.

– Und warum nicht?

– Weil dieser Strom ein sehr rascher ist, Madame, und wir, wenn wir seit drei Monaten mit ihm gingen, irgend eine Küste hätten in Sicht bekommen müssen, was doch noch nicht der Fall gewesen ist.

– Wo befinden wir uns also nach Ihrer Ansicht? fragte die Reisende.

– Ohne Zweifel, antwortete ihr Jasper Hobson, zwischen dem Kamtschatka-Strome und dem Ufer, wahrscheinlich in einer Art großen Wirbels, der nahe der Küste vorhanden ist.

– Das kann nicht sein, Herr Hobson, entgegnete schnell Mrs. Paulina Barnett.

– Das kann nicht sein? wiederholte der Lieutenant, und aus welchem Grunde nicht, Madame?

– Weil die von einem Wirbel erfaßte, also in keiner bestimmten Richtung gehaltene Insel Victoria gewiß irgend welcher Drehungsbewegung unterlegen wäre. Da sich nun ihre Lage gegenüber den Himmelsgegenden nicht verändert hat, so ist auch jenes nicht der Fall gewesen.

– Sie haben Recht, Madame, erwiderte Jasper Hobson, Sie sehen in diesen Dingen völlig klar und ich habe keine Einwendung gegen Ihre Beobachtung, vorausgesetzt, daß nicht ein unbekannter Strom, der auf dieser Karte noch nicht eingezeichnet wäre, existirt. Wirklich, diese Ungewißheit ist abscheulich. Ich wünschte, es wäre schon der morgende Tag, um über die Lage der Insel sicher aufgeklärt zu sein.

– Auch der morgende Tag wird kommen«, vertröstete ihn Madge.

Es galt jetzt also nur zu warten. Man ging auseinander, und Jeder nahm seine gewohnten Beschäftigungen wieder auf. Sergeant Long unterrichtete seine Leute, daß die für morgen angesetzte Abreise nach Fort-Reliance nicht stattfinden werde. Als Grund dafür gab er ihnen an, daß man nach genauerer Ueberlegung die Jahreszeit schon für so vorgeschritten erachten müsse, daß es unmöglich sei, die Factorei vor Eintritt der strengen Kälte zu erreichen; daß der Astronom sich der Vervollständigung seiner meteorologischen Beobachtungen wegen zu einer zweiten Überwinterung entschlossen habe und daß die frische Verproviantirung von Fort-Esperance nicht so unbedingt nöthig sei u.s.w. – Lauter Gründe, welche in den wackeren Leuten keinen Verdacht aufkommen ließen.

Den Jägern empfahl Lieutenant Hobson noch speciell, in Zukunft die Pelzthiere, mit denen er nun nichts anzufangen wußte, zu schonen und sich auf das eßbare Wild zu beschränken, um die Vorräthe der Factorei zu erneuern. Eben so verbot er ihnen, sich weiter als zwei Meilen von dem Fort zu entfernen, da er nicht wollte, daß Marbre, Sabine oder die anderen Jäger plötzlich da angesichts eines Meeres stehen sollten, wo sich vor einigen Monaten der Isthmus, welcher die Halbinsel an das Festland kettete, befand. Das Verschwinden der schmalen Landzunge hätte ja über ihre Lage Licht verbreiten müssen.

Dieser Tag wollte für Jasper Hobson gar kein Ende nehmen. Mehrmals kehrte er, nur in Begleitung der Mrs. Paulina Barnett, nach dem Cap Bathurst zurück. Die Reisende, eine starke, abgehärtete Seele, war keineswegs entsetzt. Die Zukunft erschien ihr nicht im Geringsten furchtbar. Ja, sie scherzte sogar noch, indem sie zu Lieutenant Hobson sagte, diese umherirrende Insel sei vielleicht das einzig richtige Fahrzeug, um nach dem Nordpol zu gelangen! Warum sollte man bei einer günstigen Strömung nicht nach diesem unerreichbaren Punkte der Erdkugel vordringen können?

Lieutenant Hobson schüttelte den Kopf, als er seiner Begleiterin ihre Theorie entwickeln hörte, aber seine Augen rissen sich nicht vom Horizonte los und suchten, ob nicht ein bekanntes oder unbekanntes Land in der Nähe erschiene. Himmel und Erde verschwammen aber unzertrennlich in einer ununterbrochenen Kreislinie, was Jasper Hobson in der Annahme bekräftigte, daß die Insel Victoria mehr nach Westen, als nach irgend einer anderen Richtung hin abwiche.

»Haben Sie nicht die Absicht, Herr Hobson, fragte da Mrs. Paulina Barnett, unsere Insel, und zwar so bald als möglich, einmal zu umgehen? – Gewiß, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, sobald ich ihre Lage genau aufgenommen habe, wollte ich die Form und Ausdehnung derselben kennen zu lernen suchen. Es ist das ja eine unerläßliche Maßnahme, um die Veränderungen, welche die Zukunft herbeiführen wird, abschätzen zu können. Mit höchster Wahrscheinlichkeit aber hat sie sich von dem Isthmus selbst losgelöst und ist durch diesen Bruch die ganze Halbinsel zur vollständigen Insel geworden.

– Wir haben doch ein eigenthümliches Geschick, Herr Hobson, fuhr die Reisende fort. Andere kommen von ihrer Reise zurück und haben dem geographischen Kontinente wohl einige neue Länder hinzugefügt, wir werden ihn dagegen vermindert haben, da wir diese vermeintliche Halbinsel Victoria von den Karten streichen lassen.«

Am anderen Tage, am 18. Juli, um zehn Uhr Morgens, ermittelte Jasper Hobson bei reinem Himmel genau die Sonnenhöhe. Durch Zusammmenstellung dieses Resultates mit dem des vorigen Tages berechnete er die geographische Länge des Ortes.

Selbst während dieser Operation hatte sich der Astronom nicht blicken lassen; er schmollte wie ein großes Kind in seinem Zimmer, daß er dem wissenschaftlichen Leben geraubt sei.

Die Insel befand sich unter 157° 37′ östlicher Länge von Greenwich. Die am Tage vorher, d.h. die an dem nach der Sonnenfinsternis nachgewiesene Breite war, wie erwähnt, 73° 7′ 20″.

In Gegenwart der Mrs. Paulina Barnett und des Sergeant Long wurde der Punkt auf der Karte angemerkt.

Es war das ein Augenblick ängstlicher Erwartung, die übrigens folgendes Resultat ergab:

Die schwimmende Insel hatte sich, wie Lieutenant Hobson vorausgesehen hatte, nach Westen gewendet, aber ein auf der Karte nicht verzeichneter und den Hydrographen dieser Küste unbekannter Strom führte sie offenbar nach der Behrings-Straße zu. Alle von dem Lieutenant Hobson vorausgefühlten Gefahren blieben also zu befürchten, wenn die Insel Victoria nicht vor dem Winter wieder an eine Küste anlief.

»In welcher Entfernung vom amerikanischen Continente befinden wir uns nun aber eigentlich? fragte die Reisende; das hat doch für jetzt das meiste Interesse.«

Mittels des Zirkels maß Jasper Hobson die geringste Meeresweite zwischen der Küste und dem dreiundsiebenzigsten Breitengrade auf der Karte.

»Wir sind thatsächlich mehr als zweihundertundfünfzig Meilen entfernt von jenem Theile des nördlichen Amerika, welcher die Barrow-Spitze bildet.

– Dazu müßte man die Größe der Abweichung kennen, welcher die Insel gegenüber der früheren Lage des Cap Bathurst unterlegen hat, fügte Sergeant Long.

– Diese beträgt schlecht gerechnet siebenhundert Meilen, antwortete Jasper Hobson nach wiederholter Zuratheziehung der Karte.

– Und in welche Zeit ist der Anfang der Abweichung zu versetzen?

– Gewiß begann sie gegen Ende April, belehrte Lieutenant Hobson. Zu dieser Zeit lockerte sich das Eisfeld und wurde die von der Sonne nicht geschmolzene Scholle nach Norden weggeführt. Es ist also anzunehmen, daß sie durch einen der Küste nahezu parallelen Strom etwa seit drei Monaten nach Westen zu abweicht, was eine mittlere Geschwindigkeit von neun bis zehn Meilen täglich ergäbe.

– Ist das nicht eine sehr beträchtliche Schnelligkeit? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Ja wohl ist sie das, schloß Jasper Hobson, und Sie können selbst berechnen, wie weit wir in den beiden Monaten, während der das Meer noch eisfrei bleibt, verschlagen werden dürften!«

Der Lieutenant, Mrs. Paulina Barnett und Sergeant Long schwiegen einige Augenblicke. Unbeweglich hafteten ihre Augen auf der Karte jener Polarländer, welche dem Fuße des Menschen so hartnäckig jeden Eintritt verwehren und gegen welche sie selbst jetzt mit unwiderstehlicher Gewalt geführt wurden.

»In unserer jetzigen Lage haben wir also Nichts zu thun, Nichts zu versuchen? fragte die Reisende.

– Gar nichts, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, wir müssen warten und können nur aus ganzem Herzen jenen arktischen Winter herbei sehnen, der im Allgemeinen und mit vollem Rechte von den Seefahrern so sehr gefürchtet wird, und der uns doch allein noch zu erretten vermag. Der Winter, Madame, ist das Eis, und das Eis ist der Anker unserer Hoffnung, der einzige, der dem Laufe unserer schwimmenden Insel ein Halt gebieten kann.«

Elftes Capitel.


Elftes Capitel.

So war also die Lage. Die Insel hatte nach dem Ausdrucke Sergeant Long’s Anker geworfen, sie war stationär geworden, wie zu der Zeit, als sie noch am amerikanischen Festlande hing. Jetzt trennten sie aber sechshundert Meilen von der bewohnten Erde, und diese sechshundert Meilen galt es über das erstarrte Meer, mitten durch die Eisberge, welche die Kälte darauf häufen mußte, und zwar während der rauhesten Monate des arktischen Winters auf Schlitten zurückzulegen.

Wohl war es ein furchtbares Unternehmen, und doch durfte man damit nicht zögern. Dieser Winter, den Lieutenant Hobson so heiß herbei gewünscht hatte, kam endlich; er unterbrach den verderblichen Lauf der Insel nach Norden und spannte eine sechshundert Meilen lange Brücke zwischen ihr und den benachbarten Continenten aus. Von dieser gebotenen Aussicht auf Rettung mußte man Gebrauch machen, um die ganz in den hyperboräischen Gegenden verlorene kleine Kolonie zurück zu führen.

Jedenfalls konnte man, wie Lieutenant Hobson seinen Freunden auseinandersetzte, nicht erst den kommenden Frühling und das Aufbrechen des Eises abwarten, das heißt, sich noch einmal den Launen der Strömungen der Behrings-Straße aussetzen. Im Gegentheil handelte es sich einzig darum, abzuwarten, bis das Meer fest genug sei, was in einem Zeitraume von etwa drei Wochen zu gewärtigen war. Von jetzt ab nahm sich der Lieutenant vor, das die Insel einschließende Eisfeld fleißig zu untersuchen, um den Zustand seiner Haltbarkeit, die Möglichkeit auf Schlitten darüber hin zu gleiten, und den günstigsten Weg zu ermitteln, ob dieser nun nach den Ufern Asiens oder dem Festlande Amerikas führte.

»Selbstverständlich, fügte Jasper Hobson hinzu, der sich mit Mrs. Paulina Barnett und dem Sergeant Long über dieses Thema unterhielt, selbstverständlich geben wir dem Gebiete Neu-Georgias, nicht aber der asiatischen Küste den Vorzug, und werden uns unter gleich günstigen Verhältnissen nach dem russischen Amerika wenden.

– Wobei uns Kalumah sehr von Nutzen sein wird, fiel Mrs. Paulina Barnett ein, denn in ihrer Eigenschaft als Eingeborene kennt sie alle diese Länder vollkommen.

– Wahrhaftig, sagte Lieutenant Hobson, hierzu ist sie uns wie von der Vorsehung geschickt worden. Mit ihrer Hilfe mag es auch leicht werden, die Etablissements des Forts Michael am Norton-Golfe zu erreichen, und vielleicht gar weiter im Süden Neu-Archangel, woselbst wir den Winter vollends verbringen könnten.

– Armes Fort-Esperance! sagte Mrs. Paulina Barnett, um den Preis so vieler Anstrengungen erbaut, und von Ihnen, Herr Hobson, so glücklich begründet! Mir wird das Herz brechen, wenn ich diese Insel inmitten des Eisfeldes, und vielleicht hinter dem unübersteiglichen Packeise verlassen soll. Ja, ich weiß, daß mir das Herz bluten wird, wenn ich ihr das letzte Lebewohl sage!

– Ich werde dabei nicht weniger leiden, als Sie, Madame, antwortete Jasper Hobson, und vielleicht noch mehr! Das war das wichtigste Werk meines Lebens! Der Gründung dieses so unglücklich getauften Fort-Esperance hatte ich alle meine Kenntnisse, allen Fleiß gewidmet, und ich werde mich nie darüber trösten, es aufgeben zu müssen. Und dann, was wird die Compagnie dazu sagen, die mich mit diesem Versuche betraut, und deren ergebener Agent ich trotz Allem bleibe!

– Sie wird sagen, Herr Hobson, rief die Reisende in edler Aufwallung, daß Sie Ihre Pflicht gethan haben, daß Sie nicht verantwortlich sein können für die Launen der Natur, die eben mächtiger ist und sein wird, als die Hand und der Geist des Menschen. – Sie muß einsehen, daß Sie das Vorgefallene nicht voraussehen konnten, denn das lag außerhalb der menschlichen Vorsicht! Sie muß endlich der Ueberzeugung sein, daß sie Ihrer Klugheit, Ihrer moralischen Energie die Rettung der Leute, die sie Ihnen anvertraute, allein zu danken hat.

– Ich danke Ihnen, Madame, erwiderte der Lieutenant, und drückte Mrs. Paulina Barnett die Hand, ich danke Ihnen für diese Worte, welche aus Ihrem Herzen stammen; aber ein wenig kenne ich die Menschen, und glauben Sie mir, einen Erfolg zu haben, ist besser, als ein Fehlschlagen. Doch, wie Gott will!«

Sergeant Long, der den Lieutenant von seinen trüben Gedanken abzuleiten suchte, brachte das Gespräch wieder auf den vorliegenden Sachbestand; er sprach von den für die Abreise nöthigen Vorbereitungen und fragte ihn, ob er nun den Zeitpunkt für gekommen erachte, seinen Leuten über die jetzigen Verhältnisse der Insel Victoria Aufklärung zu geben.

»Noch werden wir damit warten, entgegnete Jasper Hobson; bis heute haben wir durch unser Stillschweigen den armen Leuten so manche Unruhe erspart; warten wir also noch, bis unsere Abreise endgiltig festgesetzt ist, dann sollen sie die ganze Wahrheit hören!«

Die gewohnten Arbeiten in der Factorei wurden in den folgenden Wochen unbeirrt fortgesetzt.

Welches war die Lage der glücklichen und zufriedenen Einwohner von Fort-Esperance vor einem Jahre?

Damals traten ebenso wie heute die ersten Anzeichen der kalten Jahreszeit ein. Langsam wuchs das junge Eis an das Ufer an. Die Lagune mit ihrem ruhigeren Wasser erstarrte zuerst. Die Temperatur hielt sich den Tag über auf ein bis zwei Grade über dem Gefrierpunkte, und sank während der Nacht um drei bis vier Grade. Jasper Hobson ließ seine Leute die Winterkleidung, die Pelze und die wollenen Stoffe, anlegen. Im Inneren des Hauses setzte man die Condensatoren in Stand, reinigte das Luftreservoir und die Ventilationspumpen. Rings um den Palissadenzaun errichtete man Fallen, und Sabine und Marbre beglückwünschten sich über die Erfolge ihrer Jagd. Zuletzt vollendete man noch die innere Einrichtung des Hauses.

Auch dieses Jahr beschäftigten sich die wackeren Leute auf die nämliche Weise. Obgleich Fort-Esperance jetzt um sieben Grade höher lag, als zu Anfang des letzten Winters, so konnte dieser Unterschied doch keine so beträchtliche Veränderung im Zustande der Temperatur herbeiführen. Zwischen dem siebenzigsten und dem siebenundsiebenzigsten Parallelkreise variirt das Mittel der Temperatur nicht so auffallend. Vielmehr constatirte man, daß die Kälte jetzt minder streng war, als sie sich zu Anfang der vorigen Ueberwinterung zeigte. Jetzt schien sie sogar erträglicher, da die Ueberwinternden sich an das rauhe Klima schon besser gewöhnt hatten.

Hierbei muß bemerkt werden, daß die schlechte Jahreszeit sich nicht mit der gewöhnlichen Strenge einführte.

Das Wetter blieb feucht, und die Atmosphäre belud sich tagtäglich mit Dünsten, die sich bald in Regen und bald in Schnee auflösten. Nach Lieutenant Hobson’s Wunsche meldete sich die Kälte noch immer nicht.

Rund um die Insel wurde nun das Meer, freilich noch nicht beständig, fest. Breite schwarze Flecke, welche die Oberfläche des neuen Eisfeldes noch unterbrachen, bewiesen, daß die Schollen nur leicht unter einander verbunden waren. Fast unablässig hörte man das von dem Bruch der Eisbank herrührende Krachen, die sich aus einer unendlichen Zahl unzulänglich verlötheter Stücke zusammensetzte, und deren Kamm der Regen wieder löste. Noch machte sich der enorme Druck nicht fühlbar, der gewöhnlich auftritt, wenn sich die Eisschollen unter lebhaftem Frost bilden und eine über die andere thürmen. Eisberge und Spitzhügel traten nur selten auf, und auch am Horizonte zeigte sich das Packeis noch nicht.

»Das ist eine Witterung, sagte häufig Sergeant Long, wie sie den Aufsuchern der Nordwest-Passage und den Nordpolfahrern nicht mißfallen hätte; leider ist sie unserer Absicht zuwider und unserer Rückkehr schädlich.«

Der ganze Monat October hielt sich in gleicher Witterung, und Jasper Hobson constatirte, daß das Mittel der Temperatur den Gefrierpunkt nicht überstieg. Man weiß aber, daß nur eine mehrere Tage hinter einander andauernde Kälte von sieben bis acht Grad unter Null hinreichend ist, um das Meer fest werden zu lassen. Noch ein anderer Umstand, der Mrs. Paulina Barnett so wenig entging, wie dem Lieutenant Hobson, bestätigte, daß das Eisfeld jetzt noch nicht tragfähig war.

Die auf der Insel zurückgebliebenen Thiere, Pelzthiere, Elenns, Wolfe u.s.w., würden gewiß nach anderen Breiten davon gegangen sein, wenn eine Flucht möglich, das heißt, wenn das erstarrte Meer passirbar gewesen wäre. Dagegen schweiften sie noch haufenweise um die Factorei herum, und suchten mehr und mehr die Nachbarschaft des Menschen. Selbst die Wölfe kamen der Umzäunung bis auf Schußweite nahe und fingen sich dort die Marder und Polarhasen, die ihre einzige Nahrung bildeten. Die hungernden armen Thiere, welche weder Gras noch Moos abzuweiden hatten, streiften in ganzen Rudeln in der Umgebung des Cap Bathurst umher.

Ein Bär – wahrscheinlich derselbe, gegen den Mrs. Paulina Barnett und Kalumah zu so großer Erkenntlichkeit verpflichtet waren, – erschien häufig zwischen den Bäumen des Hochwaldes an den Ufern der Lagune. Waren aber alle jene verschiedenen Thiere noch anwesend, die in der Hauptsache auf Pflanzennahrung angewiesen sind, bevölkerten sie die Insel Victoria noch im Monat October, so sprach das dafür, daß sie weder früher noch bis jetzt von derselben entfliehen konnten.

Wie erwähnt, hielt sich die Temperatur immerfort nahe dem Schmelzpunkte des Eises. Befragte Jasper Hobson sein Journal, so ersah er daraus, daß das Thermometer zu derselben Zeit des vergangenen Jahres 10º unter Null gezeigt hatte. Welch‘ großer Unterschied, und wie launenhaft vertheilt sich demnach die Temperatur in diesen arktischen Gegenden!

Die Ueberwinternden litten also keineswegs von der Kälte und sahen sich noch nicht auf das Haus beschränkt. Dagegen war es sehr feucht, denn häufig fallender Regen mit Schnee untermischt, und der niedrige Stand des Barometers verrieth, daß die Atmosphäre mit Dünsten überladen war.

Noch während des Octobers unternahmen Jasper Hobson und Sergeant Long mehrere Ausflüge, um den Zustand des Eisfeldes in der Umgebung der Insel kennen zu lernen. An einem Tage gingen sie nach Cap Michael, am anderen nach dem früheren Winkel der Walroß-Bai, immer begierig, sogleich zu wissen, ob der Uebergang nach einem oder dem anderen Erdtheile zu ausführbar sei und wann ihre Abreise statthaben könne.

Das Eisfeld zeigte an gewissen Stellen offenes Wasser, und war da und dort von Rissen und Sprüngen durchsetzt, welche den Lauf der Schlitten unzweifelhaft aufgehalten hätten. Kaum durfte sich wohl der Fuß eines Wanderers in diese halb flüssige, halb feste Einöde hinauswagen. Was es noch wahrscheinlicher machte, daß ein unzureichender und unregelmäßiger Frost, eine wechselnde Temperatur diese unvollkommene Uebereisung erzeugt hatte, das war die große Menge der Spitzen, Krystalle, Prismen und Polyeder jeder Art, welche wie eine Stalaktiten- Concretion die Oberfläche des Eisfeldes höckerartig unterbrachen. Letzteres ähnelte weit mehr einem Gletscher, als einem Felde, und mußte der Weg außerordentlich beschwerlich werden, wenn er überhaupt gangbar erschien.

Lieutenant Hobson und Sergeant Long wagten sich auf das Eisfeld hinaus und legten so, aber nur mit großer Mühe und beträchtlichem Zeitaufwand ein bis zwei Meilen in südlicher Richtung zurück. Sie erkannten bald, daß man jetzt noch warten müsse, und zogen sehr entmuthigt nach Fort-Esperance wieder heim. Es kamen die ersten Tage des November, die Temperatur ging ein wenig, doch nur um einige Grade zurück, aber auch das erschien wohl noch nicht hinreichend. Ausgedehnte, feuchte Nebel hüllten die Insel Victoria ein, so daß man den ganzen Tag über die Lampen im großen Saale in Brand erhalten mußte. Mit dem Lichte galt es aber etwas sparsam umzugehen. Der Vorrath an Oel war sehr bemessen, da die erwartete Sendung des Kapitän Craventy ausblieb, und auf der anderen Seite die Robbenjagd unmöglich wurde, weil diese Amphibien die umherirrende Insel nicht mehr besuchten. Verlängerte sich die Durchwinterung also unter den nämlichen Verhältnissen, so nöthigte das die Bewohner bald, Thierfett zu verwenden, oder gar Thran und Harz, um sich etwas Licht zu verschaffen. Die Tage wurden jetzt schon ungewöhnlich kurz, und nur wenig Stunden des Tages wandelte die Sonne mit bleichem Glanze und wärmeloser Scheibe über dem Horizonte. Ja, der Winter war wohl da mit seinen Nebeln, Regen und Schneegestöber, der Winter wohl – aber ohne Frost!

Der 11. November wurde zum Festtage in Fort- Esperance, den Mrs. Joliffe durch einige »Extragänge« zur Mittagsmahlzeit auszeichnete. Es war der Geburtstag des kleinen Michael Mac Nap. Das Kind blühte lustig auf mit seinen blonden lockigen Haaren und den lieblichen blauen Augen. Daß es seinem Vater, dem Meister Zimmermann, ähnelte, machte den braven Mann ordentlich stolz. Nach Tische wurde der Bursche feierlich gewogen. Da mußte man ihn in der Wage zappeln sehen und munter schreien hören! Wirklich, er wog vierunddreißig Pfund! Mit welchem Hurrah begrüßte man dieses tüchtige Gewicht und beglückwünschte Mrs. Mac Nap als Mutter und Ernährerin. Nicht zum geringsten Theile bezog auch Corporal Joliffe diese Glückwünsche mit auf sich, wahrscheinlich als Bonne dieses kleinen Weltbürgers. Der würdige Corporal hatte das Kind so viel umher getragen, gehätschelt und gewiegt, daß er seine Einwirkung bei dessen physischem Gewichte mit in Anschlag zu bringen glauben mochte.

Am nächsten Tage, dem 12. November, erschien die Sonne nicht über dem Horizonte. Nun begann die lange Polarnacht, und zwar neun Tage früher, als im vergangenen Jahre auf dem amerikanischen Continente, was von dem Unterschiede der Breitenlage zwischen diesem und der Insel Victoria herrührte.

Auch das Ausbleiben der Sonne veränderte jedoch den Zustand der Atmosphäre keineswegs, und noch immer blieb die Temperatur wie vorher launenhaft und unbestimmt. An einem Tage sank das Thermometer, am anderen stieg es wieder, Regen und Schnee lösten einander ab. Der gelinde Wind wurde in keiner Richtung stetig, sondern durchlief an manchem Tage alle Striche der Windrose. Die dauernde Feuchtigkeit dieses Klimas war nicht außer Acht zu lassen, da sie leicht scorbutische Affectionen hervorzurufen vermochte. Doch wenn auch durch das Ausbleiben der Sendung des Kapitän Craventy Citronen- und Limoniensaft und Kalkpastillen auf die Neige gingen, so ersetzte diese die reichliche Ernte an Sauerampfer und Löffelkraut, von denen man auf Jasper Hobson’s Empfehlung täglich gebrauchen konnte.

Inzwischen mußte Alles vorbereitet werden, um Fort-Esperance verlassen zu können, und unter den gegebenen Verhältnissen reichten vielleicht kaum drei Monate hin, um das Festland Amerikas zu erreichen. Auch durfte man die einmal auf dem Wege befindliche Expedition nicht der Gefahr aussetzen, vor Erreichung des Landes in die Thauperiode zu kommen. War man zur Abreise gezwungen, so mußte diese spätestens mit Ende November erfolgen.

Daß man sich auf den Weg machen müsse, darüber bestand keinerlei Zweifel. Wenn die Reise aber schon durch die strenge Winterkälte, welche alle Theile des Eisfeldes unverrückbar verband, eine beschwerliche zu werden versprach, so drohte diese unbestimmte Witterung die Lage noch sehr bedenklich zu verschlimmern.

Am 13. November traten Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett und Sergeant Long zusammen, um den Tag der Abfahrt festzusetzen. Die Ansicht des Sergeanten ging dahin, die Insel so bald als möglich zu verlassen.

»Denn, sagte er, bei einem Zuge von sechshundert Meilen über das Eis müssen wir auf jede mögliche Verzögerung gefaßt sein. Jedenfalls ist es nothwendig, noch vor dem März den Fuß auf das Festland zu setzen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, durch den Eisbruch in eine weit schlimmere Lage zu kommen, als wir es jetzt auf unserer Insel sind.

– Ist das Meer aber, fragte Mrs. Paulina Barnett, jetzt schon hinreichend fest, um unseren Uebergang zu sichern?

– Gewiß, entgegnete Sergeant Long, und es wird auch mit jedem Tage tragfähiger. Uebrigens zeigt das Barometer eine Neigung zum Steigen, was eine weitere Erniedrigung der Temperatur verspricht. Binnen einer Woche, und bis dahin, denke ich, können die nöthigen Vorbereitungen beendet sein, wird die Witterung dauernd kalt bleiben.

– Mag sein, sagte Lieutenant Hobson, jedenfalls meldet sich der Winter ungünstig an, und Alles scheint gegen uns verschworen zu sein. Man kennt auch ganz eigenthümliche Witterungsverhältnisse in diesen Meeren, unter denen die Walfänger da bequem fahren konnten, wo sie, selbst in anderen Sommern, für ihren Kiel keinen Zoll freies Wasser vorgefunden hatten. Doch wie dem auch sei, ich stimme bei, daß kein Tag unnütz vergeudet wird, und bedaure nur, daß die gewöhnliche Temperatur dieser Klimate uns ihre Mithilfe versagt.

– Das wird noch geschehen, meinte Mrs. Paulina Barnett, auf jeden Fall müssen wir bereit sein, uns die Umstände zu Nutze zu machen. Für wann denken Sie spätestens unsere Abreise festzusetzen, Herr Hobson?

– Auf Ende November als äußersten Zeitpunkt, antwortete Jasper Hobson, sollten unsere Vorarbeiten aber schon in acht Tagen, also bis 20. November, vollendet und der Uebergang ausführbar sein, so würde ich das für einen sehr glücklichen Umstand ansehen, und schon zu dieser Zeit aufbrechen.

– Gut, sagte der Sergeant, demnach ist kein Augenblick zu verlieren.

– Dann, Herr Hobson, bemerkte die Reisende, werden Sie auch unseren Genossen die Lage, in der wir uns befinden, mittheilen müssen.

– Ja, Madame, der Augenblick, zu sprechen, ist jetzt gekommen, da es nun darnach zu handeln gilt.

– Und wann wollen Sie ihnen sagen, was jene bis jetzt noch nicht wissen?

– Sofort! – Sergeant Long, fügte Jasper Hobson, sich nach seinem Unterofficier hinwendend, hinzu, der jetzt eine militärische Haltung annahm, lassen Sie die Mannschaft sich im großen Saale versammeln, um eine Mittheilung von mir entgegen zu nehmen.«

Automatisch drehte sich der Sergeant auf seinen Füßen herum und ging, die Hand an der Mütze, in Paradeschritt ab.

Einige Minuten lang blieben Mrs. Paulina Barnett und Lieutenant Hobson allein, ohne nur ein Wort zu sprechen.

Bald kehrte der Sergeant zurück und meldete, daß sein Befehl vollzogen sei.

Gleichzeitig traten Jasper Hobson und die Reisende in den großen Saal ein. Alle Bewohner der Factorei, Männer und Frauen, waren darin versammelt und von dem Licht der Lampen nur undeutlich beleuchtet.

Jasper Hobson trat in die Mitte und sagte in ernstem Tone:

»Meine Freunde, bis jetzt hielt ich es für meine Pflicht, um Euch unnöthige Beunruhigung zu ersparen, die Lage unseres Fort-Esperance geheim zu halten … ein Erdbeben hat uns vom Festlande losgerissen … Dieses Cup Bathurst ist von der amerikanischen Küste abgewichen … unsere Halbinsel ist seitdem nur noch eine Insel, und zwar eine umherirrende Eisinsel …«

In diesem Augenblicke näherte sich Marbre Jasper Hobson und sagte mit fester Stimme:

»Das wußten wir schon, Herr Lieuteuant!«

Zwölftes Capitel.


Zwölftes Capitel.

Sie wußten es, diese braven Männer! Um den Kummer ihres Vorgesetzten nicht zu vergrößern, hatten sie sich nur verstellt und den Arbeiten zur Ueberwinterung mit gleichem Fleiße hingegeben.

Jasper Hobson traten Thränen der Rührung in die Augen. Er gab sich keine Mühe, seine Erregung zu verbergen, ergriff Marbre’s Hand, die dieser ihm entgegenstreckte, und drückte sie herzlich.

Ja, diese wackeren Soldaten wußten Alles, denn Marbre hatte schon seit längerer Zeit Alles durchschaut. Die mit salzigem Wasser gefüllte Rennthierfalle, das aus Fort-Reliance erwartete, aber nicht eingetroffene Detachement, die täglich vorgenommenen, auf dem Festlande doch völlig nutzlosen Aufnahmen der Länge und Breite, Jasper Hobson’s Heimlichkeit dabei, die Thiere, welche vor dem Winter nicht weggezogen warm, endlich der in den letzten Tagen eingetretene und gar wohl bemerkte Wechsel in der Orientation der Insel, – alle diese Zeichen hatten den Bewohnern von Fort-Esperance über ihre Lage Licht gegeben. Nur die Ankunft Kalumah’s blieb unerklärt und führte sie zu der – wie man weiß, richtigen – Annahme, daß der Sturm dies junge Eskimomädchen zufällig an das Ufer der Insel verschlagen habe.

Marbre, in dem es zuerst über alle Verhältnisse Tag geworden war, theilte seine Gedanken darüber dem Zimmermann Mac Nap und dem Schmied Raë mit.

Alle Drei betrachteten das allgemeine Unglück mit sehr ruhigen Augen, und kamen dahin überein, nicht allein ihre Kameraden, sondern selbst ihre Frauen darüber aufzuklären. Dann hatten sich Alle verabredet, ihrem Lieutenant gegenüber Nichts zu wissen, und seinen Anordnungen wie bisher blindlings nachzukommen.

»Ihr seid wackere Leute, meine Freunde, sagte da Mrs. Paulina Barnett, tiefgerührt von diesem Feingefühl, als der Jäger Marbre seine Erklärungen abgegeben hatte; Ihr seid edelmüthige und muthige Soldaten!

– Und unser Lieutenant, bemerkte Mac Nap, kann auf uns rechnen. Er hat seine Pflicht gethan, wir werden die unsere thun.

– Ja, meine lieben Gefährten, sagte Jasper Hobson, der Himmel wird uns nicht verlassen und wir werden ihn unterstützen, uns zu retten!«

Hierauf berichtete Jasper Hobson Alles, was sich seit der Zeit zugetragen hatte, da das Erdbeben den Isthmus zerbrach und aus dem Continentalgebiete des Cap Bathurst eine Insel schuf. Er erzählte, wie diese seit der Mitte des Frühlings von einem bislang unbekannten Strome zweihundert Meilen vom Lande entfernt auf dem eisfreien Meere entführt worden sei; wie der Orkan sie bis nahe an das Land zurück und in der Nacht des 31. August wieder in die offene See hinaus getrieben, und endlich wie milchig Kalumah ihr Leben auf’s Spiel gesetzt habe, um ihren europäischen Freunden zu Hilfe zu kommen. Dann sprach er von den vorgekommenen Veränderungen der Insel, welche sich in dem wärmeren Wasser auflösen mußte, und wie nahe die Befürchtung gelegen hatte, entweder in den Stillen Ocean hinab gerissen oder von dem Kamtschatka- Strome entführt zu werden. Zuletzt theilte er seinen Schicksalsgenossen mit, daß die umherirrende Insel seit dem 27. September definitiv zum Stehen gekommen sei.

Nach Herbeischaffung der Karten des Eismeeres zeigte Jasper Hobson selbst die Position, welche sie jetzt in einer Entfernung von sechshundert Meilen vom Lande einnahm.

Er schloß mit dem Geständnisse, daß ihre Lage außerordentlich gefährlich erscheine, daß die Insel bei Gelegenheit des Eidbruches nothwendig zermalmt werden würde und daß man, ohne auf das im Bau befindliche Schiff, welches doch erst im kommenden Sommer von Werth sein könne, zurückzugreifen, den Winter benutzen müsse, um quer über das Eisfeld nach dem amerikanischen Continent zurück zu gehen.

»Sechshundert Meilen werden wir durch Nacht und Kälte zurück zu legen haben. Schwierig wird die Aufgabe sein, meine Freunde, doch begreift Ihr wohl Alle, daß wir davor nicht zurückschrecken dürfen.

– Sobald Sie den Befehl zur Abreise geben, Herr Lieutenant, versicherte Mac Nap, so werden wir Ihnen folgen!«

So waren also Alle einig und wurden die Zurüstungen zu dem gefährlichen Zuge mit größter Eile betrieben. Die Leute hatten sich entschieden, selbst unter solchen Umständen die sechshundert Meilen zurückzulegen. Sergeant Long widmete seine Sorge den Schlitten, während Jasper Hobson, die beiden Jäger und Mrs. Barnett häufig auszogen, den Zustand des Eisfeldes zu untersuchen. Gewöhnlich schloß sich auch Kalumah ihnen an, da ihre Erfahrung hierin nicht selten von großem Vortheil sein mußte. Ohne eine dazwischen tretende Verzögerung sollte die Abreise am 20. November stattfinden; es galt also, keinen Augenblick zu verlieren.

Wie es Jasper Hobson voraus gesehen, hatte sich der Wind wieder erhoben, die Temperatur erniedrigte sich ein wenig, und die Quecksilbersäule zeigte – 4º. An Stelle des Regens der letzten Tage trat Schnee, der auf dem Boden erhärtete. Nur einige Tage solcher Kälte, und die Schlitten mußten Verwendung finden können. Der bei Cap Michael entstandene Einschnitt war von Schnee und Eis wieder so ziemlich geschlossen, doch durfte man nicht vergessen, daß sein ruhigeres Wasser eben eher zum Festwerden neigte, was schon der noch unbefriedigende Zustand des Seewassers bewies.

Wirklich dauerte der ziemlich heftige Wind fast unausgesetzt an. Der Seegang verhinderte eine regelmäßige Eisbildung. Breite Wasserlöcher trennten da und dort die Schollen, und noch erschien ein Zug über das Eisfeld unbedingt unmöglich.

»Die Witterung wendet sich entschieden zum Froste, sagte da eines Tages Mrs. Paulina zu Lieutenant Hobson, – es war am 15. November gelegentlich einer bis in den Süden der Insel fortgesetzten Auskundschaftung; – die Temperatur erniedrigt sich merklich, und auch jene noch offenen Stellen werden bald ihre Eisdecke haben.

– Das glaub‘ ich zwar auch, Madame, antwortete Jasper Hobson, unglücklicher Weise ist aber die Art des Gefrierens unseren Zwecken nicht eben förderlich. Die sehr kleinen Schollen bilden mit ihren Rändern ebenso viele Kanten, welche über die Fläche herausragen, und unsere Schlitten werden, wenn das überhaupt erst möglich wird, nur mit größter Mühe darüber hingleiten.

– Meiner Ansicht nach, erwiderte die Reisende, bedürfte es nur einiger Tage, ja selbst nur einiger Stunden reichlichen Schneefalles, um die ganze Oberfläche einzuebnen.

– Ohne Zweifel, Madame, entgegnete der Lieutenant, wenn aber Schnee fällt, ist auch die Temperatur gestiegen, und wenn dieser Fall eintritt, verschiebt sich für jetzt das Eisfeld noch. Das ist ein Dilemma, welches auf beiden Seiten gegen unseren Vortheil ist.

– Nun, Herr Hobson, tröstete die Reisende, das hieße doch wahrlich unglücklich spielen, wenn wir in dieser Gegend, mitten im Eismeer, einen milden Winter, statt eines arktischen, erleben sollten.

– Und doch wäre das nicht der erste Fall, Madame. Ich erinnere Sie, wie streng die kalte Jahreszeit war, welche wir an dem amerikanischen Continente verbrachten. Nach oft wiederholten Beobachtungen folgen aber zwei gleich rauhe und andauernde Winter nur selten einander, was auch die Walfänger in den Meeren des Nordens recht wohl wissen. Gewiß hieße es aber unglücklich spielen, einen kalten Winter da erlebt zu haben, wo uns ein milderer so viel angenehmer gewesen wäre, und einen gemäßigten da, wo wir einen kalten brauchen. Und wenn ich daran denke, daß eine Entfernung von sechshundert Meilen mit Frauen und einem Kinde zu durchziehen ist!« …

Jasper Hobson zeigte mit der Hand nach der unabsehbaren Weite, die sich im Süden ihren Blicken bot, nach der weißen Ebene mit den launenhaften Unterbrechungen. Ein trauriger Anblick, dieses stellenweise gefrorene Meer, dessen Oberfläche mit unheimlichem Geräusche krachte. Der trübe Mond, den die feuchten Nebel halb begruben und der nur wenige Grade über dem düsteren Horizonte stand, goß ein bleiches Licht über das Ganze. Das Halbdunkel verdoppelte mit Hilfe gewisser Brechungserscheinungen des Lichtes die Größe aller Gegenstände.

Manche Eisberge von nur mittlerer Höhe nahmen kolossale Dimensionen und die Gestalt apokalyptischer Ungeheuer an. Mit rauschendem Flügelschlage zogen Vögel vorüber, deren kleinster in Folge jener optischen Täuschung größer als ein Condor oder ein Aasgeier erschien.

Nach verschiedenen Richtungen schienen sich zwischen den Eisriesen ungeheure schwarze Tunnel zu eröffnen, in welche einzudringen wohl auch der Furchtloseste gezaudert hätte. Dann hörte man wieder ein Donnern und Krachen, das von eingestürzten Eisbergen herrührte, wenn sie unten abgenagt außer Gleichgewicht gekommen waren, und das das Echo hallend wiedergab. So wechselte die Scene immer, wie die Decoration eines Zaubermärchens.

Mit welch‘ staunendem Schrecken mußten aber die Unglücklichen jene furchtbaren Erscheinungen betrachten, da sie ihr Weg mitten durch diese Eisfelder führte!

Einem unwillkürlichen Grauen konnte sich die Reisende trotz ihres Muthes und ihrer moralischen Energie dabei doch nicht erwehren. Es überlief sie eiskalt, so daß sie gern Augen und Ohren verschlossen hätte, um nur nicht mehr zu sehen und zu hören. Und als der Mond sich einen Augenblick hinter noch dichterem Nebel ganz verbarg, färbte sich das Bild dieser Polarlandschaft noch düsterer, und Mrs. Paulina Barnett stellte sich dazu die Karawane von Männern und Frauen vor, auf dem Zuge durch diese Eiswüsten mitten im Sturm und Schnee, und bedroht von Lawinen in der tiefen Finsterniß einer arktischen Nacht!

Dennoch zwang sich die Reisende, den Anblick zu ertragen. Sie wollte ihre Augen gewöhnen und ihre Seele gegen den Schrecken abhärten. Plötzlich aber schrie sie, die Hand des Lieutenants ergreifend, laut auf und zeigte auf eine gewaltige Masse von unerkennbarer Gestalt, die sich im Halbdunkel, kaum hundert Schritte von ihnen, bewegte.

Jene war ein Ungeheuer von blendender Weiße, riesigem Wuchse und scheinbar über fünfzig Fuß hoch. Langsam begab es sich über die einzelnen Eisstücke dahin, setzte mit furchtbarem Sprunge von einem zum anderen, und focht mit den gigantischen Tatzen; es schien selbst einen gangbaren Weg über das Eisfeld zu suchen, um diese verderbendrohende Insel verlassen zu können. Man erkannte, wie die Schollen unter seinem Gewichte einsanken, und es ihm nur nach mehreren plumpen Bewegungen gelang, in’s Gleichgewicht zu kommen.

So drang das Ungethüm etwa eine Viertelmeile über das Eisfeld vor. Dann mochte ihm der weitere Weg mangeln, und es kehrte in der Richtung nach derselben Uferstelle zurück, an der Lieutenant Hobson und Mrs. Paulina Barnett sich aufhielten.

Sofort ergriff Jasper Hobson sein Gewehr, das er am Riemen trug, und hielt sich schußfertig. Als er aber schon auf das Thier angelegt hatte, ließ er die Waffe wieder sinken und sagte halblaut:

»Es ist weiter nichts als ein Bär, Madame, dessen Dimensionen durch die Lichtbrechung so ungeheuerlich vergrößert waren!«

Wirklich war es ein Polarbär, und Mrs. Paulina Barnett erkannte bald die optische Täuschung, die sie befangen hatte.

Erleichtert athmete sie tief auf, als ihr ein eigener Gedanke kam.

»Das ist mein Bär, rief sie, ein Neufoundland- Bär! Wahrscheinlich der einzige, der auf der Insel zurück blieb. Was hat er dort aber vor?

– Er sucht zu entkommen, antwortete Lieutenant Hobson, er sucht diese verwünschte Insel zu fliehen, und vermag es noch nicht, wobei er gleichzeitig den Beweis liefert, daß der Weg auch für uns noch versperrt ist!«

Jasper Hobson tauschte sich hierin nicht. Das gefangene Thier hatte die Insel verlassen und das Festland wieder erreichen wollen, und da ihm das mißlang, kehrte es zum Ufer zurück. Der Bär schüttelte langsam den Kopf, brummte grollend und trabte kaum zwanzig Fuß neben dem Lieutenant und seiner Begleiterin vorüber. Entweder sah er diese gar nicht oder würdigte sie nur keines Blickes, denn schwerfälligen Schrittes setzte er seinen Weg nach Cap Michael zu fort, und verschwand bald hinter einem Landrücken.

Traurig und schweigsam wandten sich Lieutenant Hobson und Mrs. Paulina Barnett an diesem Tage nach dem Fort zurück.

Indessen wurden in der Factorei die Vorbereitungen zur Abreise steißig fortgesetzt, so als ob das Eis schon gangbar gewesen wäre. Es handelte sich ja auch darum, für die Sicherheit der Expedition Nichts zu vernachlässigen, Alles vorzusehen und nicht nur die Schwierigkeiten und Anstrengungen in Anschlag zu bringen, sondern auch die Launen der polaren Natur, welche ihrer Erforschung durch den Menschen so energischen Widerstand leistet.

Die Hundebespannung bildete den Gegenstand der ernsthaftesten Sorge. Die Thiere ließ man sich in der Umgebung des Forts weidlich austummeln, um durch Uebung ihre bei der langen Unthätigkeit verminderten Kräfte wieder herzustellen. Alles in Allem befanden sie sich übrigens in erwünschtestem Wohlsein, und war ihnen, wenn sie nicht überlastet wurden, wohl eine längere Reise zuzumuthen.

Auch die Schlitten erfuhren eine aufmerksame Prüfung, da die holperige Eisfläche sie nothwendig den heftigsten Stößen aussetzte. Deshalb verstärkte man dieselben in ihren Haupttheilen, den Kufen und den vorn aufstrebenden Bögen u.s.w., was der sachverständige Mac Nap mit seinen Leuten ausführte.

Ebenso baute man zwei groß angelegte Lastschlitten, den einen zum Transport der Provisionen, den anderen zu dem der Pelzwaaren. Die dazu ganz geeigneten zahmen Rennthiere sollten diesen als Zugkraft dienen. Die Pelzwaaren bildeten zwar eine scheinbar überflüssige Last, mit der man sich vielleicht nicht beladen sollte, Jasper Hobson wollte aber die Interessen der Compagnie nach Kräften wahrnehmen, war jedoch entschlossen, jene zurück zu lassen, wenn sie den Zug der Karawane aufhalten oder wesentlich verzögern sollten. Man wagte also nicht zu viel, da jene kostbaren Pelzfelle, wenn sie in den Magazinen der Factorei zurückblieben, doch rettungslos verloren waren.

Bezüglich des Proviantes war die Sachlage eine andere. Lebensmittel mußten reichlich vorhanden und leicht transportabel sein, da auf etwaige Jagdbeute gar nicht zu, rechnen war. Das eßbare Wild lief gewiß, wenn der Uebergang statthaft war, nach dem Continente voraus, und entfloh in südlichere Gegenden. Deshalb wurden auf dem eigens dazu bestimmten Schlitten conservirtes Fleisch, Pökelfleisch, Hasenpasteten, getrocknete Fische, Zwieback, dessen Vorrath leider sehr zusammengeschmolzen war, ferner ausreichend Sauerampher und Löffelkraut, Branntwein und Alkohol zur Bereitung warmer Getränke u.s.w. vorsorglich verpackt.

Gern hätte Jasper Hobson auch Brennmaterial mitgeführt, denn auf der ganzen Strecke von sechshundert Meilen war auf die Auffindung irgend welchen Ersatzes dafür nicht zu zählen; doch mußte man auf eine solche Mehrbelastung verzichten. Zum Glücke fehlte es an warmen Kleidungsstücken nicht, und waren diese aus dem Vorrath auf dem Schlitten im Nothfalle leicht zu ergänzen.

Thomas Black, der sich seit seinem Mißgeschicke von aller Welt zurück gezogen hatte, seine Umgebung floh, sich auf sein Zimmer beschränkte und an den Berathungen Jasper Hobson’s und des »Generalstabes« überhaupt keinerlei Antheil nahm, trat endlich wieder an’s Tageslicht, nachdem die endgiltige Bestimmung des Tages der Abreise sein Ohr erreichte. Aber auch dann beschäftigte er sich einzig und allein mit dem Schlitten, der seine Person nebst Instrumenten und Büchern aufnehmen sollte. Kein Wort war aus ihm hervorzulocken. Er schien Alles vergessen zu haben, selbst daß er ein Gelehrter sei, und seitdem ihm die Beobachtung »seiner« Sonnenfinsterniß so jämmerlich mißglückte, seitdem die Entscheidung der Frage bezüglich der Protuberanzen ihm entschlüpfte, fehlte es ihm auch an jeder Aufmerksamkeit für die anderen, jenen hohen Breiten eigenthümlichen Erscheinungen, wie die Nordlichte, Mondhöfe, Nebenmonde u.s.w.

Die letzten Tage über hatte Jedermann mit solchem eifrigen Fleiße gearbeitet, daß man schon am Morgen des 18. Novembers zur Abreise bereit gewesen wäre.

Leider war das Eisfeld noch immer nicht zu Passiren. Wenn die Temperatur auch noch etwas abnahm, so mangelte doch die lebhafte Kälte, welche das Meer zum Festwerden verlangt. Der übrigens sehr feinflockige Schnee fiel nicht gleichmäßig und anhaltend genug. Jasper Hobson, Marbre und Sabine durchstreiften Tag für Tag den Küstenstrich zwischen Cap Michael und der Ecke an der ehemaligen Walroß-Bai. Fast anderthalb Meilen weit wagten sie sich wohl auch über das Eisfeld hinaus, kamen aber dabei zu der Einsicht, daß jenes noch viel zu sehr von offenen Stellen, Sprüngen und Spalten durchsetzt war. Von Schlitten gar nicht zu sprechen, hätten sich nicht einmal Fußgänger ohne Gepäck und unbehindert in ihren Bewegungen ihm anvertrauen können. Die Mühseligkeiten Jasper Hobson’s und seiner beiden Leute gelegentlich dieser nur kurzen Ausflüge riefen öfters die Befürchtung wach, daß sie bei den veränderlichen Wegen und inmitten der noch beweglichen Eisschollen kaum die Insel Victoria wieder erreichen würden.

In der Thai gewann es den Anschein, als ob die Natur sich gegen die unglücklichen Wintergäste verschworen habe, denn am 18. und 19. November stieg das Thermometer von Neuem, während das Barometer andererseits fiel. Diese Wandlung der atmosphärischen Verhältnisse ließ das Schlimmste befürchten. Mit dem Nachlassen der Kälte verhüllte sich der Himmel in einen Dunstmantel. Mit 1° über Null trat Regen, statt Schnee, ein, der im Ueberfluß herabströmte, und schmolz bei diesem Rückschlag des Wetters zu verhältnißmäßiger Wärme die weiße Decke des Bodens stellenweise weg. Man begreift unschwer die Wirkung der geöffneten Schleusen des Himmels auf das Eisfeld, dessen lose Verbindung sich dadurch noch weiter lockerte. Auch an den Eisschollen traten Anfänge des Schmelzens ein, so als ob das Thauwetter anbräche. Lieutenant Hobson, der trotz der abscheulichen Witterung jeden Tag die südlichen Theile der Insel aufsuchte, kam ganz in Verzweiflung von dort zurück.

Am 20. entfesselte sich noch in jenen verderbendrohenden Seegebieten ein heilloser Sturm, der an Heftigkeit fast jenem gleichkam, welcher zwei Monate vorher über die Insel gebraust war. Die Ueberwinternden waren gar nicht im Stande, nur einen Fuß in’s Freie zu setzen, und blieben mehrere Tage über in Fort-Esperance eingesperrt.

Erstes Capitel.


Erstes Capitel.

Das von Jasper Hobson an der Grenze des Polarmeeres gegründete Fort-Esperance war von seiner Stelle gewichen! Verdiente der muthige Agent der Compagnie deshalb einen Vorwurf? Nein, jeder Andere hätte sich dabei eben so getäuscht. Keine menschliche Vorsicht hätte vor einer solchen Zufälligkeit schützen können. Er hatte auf Felsen zu bauen geglaubt und hatte nur – auf Sand gebaut.

Dieser die Halbinsel Victoria bildende Theil des Landes, welchen die genauesten Karten des englischen Amerika an das Festland anfügten, hatte sich nun plötzlich davon getrennt. Im Grunde bestand diese Halbinsel nur aus einem ungeheuren Eisfelde von etwa hundertundfünfzig Quadratmeilen Oberfläche, dem allmälige Anschwemmungen nach und nach das Aussehen eines festen Landes, welchem weder die Vegetation, noch der Humus fehlte, ertheilt hatten. Seit undenklichen Jahrtausenden mit dem Ufer verbunden, hatte die Erderschütterung am 3. Januar seine Bande zerrissen, und aus der Halbinsel war eine Insel, aber seit drei Monaten eine umher schwimmende geworden, welche die Strömungen auf dem Arktischen Oceane hinwegführten.

Ja, ein Eisfeld war es nur, das Fort-Esperance nebst seinen Bewohnern davontrug! Jasper Hobson hatte es sogleich begriffen, daß die Veränderung der beobachteten Breite nicht anders zu erklären war.

Der Isthmus, d. h. die Landzunge, welche die Halbinsel Victoria mit dem Continente verband, war offenbar durch die Kräfte unterirdischer Convulsionen in Folge der vor einigen Monaten stattgefundenen vulkanischen Eruption gebrochen. So lange dann der Winter noch anhielt und das Meer unter dem strengen Frost fest blieb, veranlaßte dieser Bruch keinerlei Aenderung in der geographischen Lage der Halbinsel. Als aber das Thauwetter kam und das Eis unter den Sonnenstrahlen zusammen schmolz, als die Schollen in das freie Meer hinaus getrieben wurden und hinter dem Horizonte verschwanden, als endlich das ganze Meer frei wurde, gerieth auch dieses ganze Gebiet, das auf eisigem Untergrunde lagerte, mit seinen Wäldern, seinen Küsten und seinem Vorgebirge, der Lagune im Inneren unter dem Einfluß einer unbekannten Strömung in Abweichung. So war es nun schon während einiger Monate dahin geschwommen, ohne daß die Ueberwinternden, die sich gelegentlich ihrer Jagden niemals weit von Fort-Esperance entfernten, es hätten bemerken können. Ein Merkzeichen war nicht vorhanden, da die dicken Dünste kaum einen Fernblick auf einige Meilen gestatteten, und hatte auch die Unbeweglichkeit des Bodens weder den Lieutenant Hobson, noch seine Genossen wahrnehmen lassen, daß sie aus Festlandbewohnern zu Insulanern geworden waren. Zu verwundern blieb es, daß sich die Lage der Insel hinsichtlich der Himmelsgegenden trotz ihrer Abweichung nicht geändert hatte, was jedenfalls auf ihre Ausdehnung und die Geradlinigkeit des Stromes, dem sie folgte, zurückzuführen war. Denn es liegt auf der Hand, daß ein Wechsel der Hauptpunkte des Cap Bathurst durch eine Drehung der Insel, wenn also etwa die Sonne oder der Mond an anderen Stellen als früher auf- oder untergegangen wären, von Thomas Black, Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett oder irgend jemand Anderem bemerkt worden sein müßte. Aus irgend einem Grunde aber ging die Ortsveränderung parallel den Längengraden der Erde vor sich, und obgleich sie vielleicht eine schnelle sein mochte, wurde man sie doch nicht gewahr.

Obgleich Jasper Hobson den Muth, das kalte Blut und die moralische Energie seiner Begleiter durchaus nicht bezweifelte, zögerte er doch, ihnen die volle Wahrheit mitzutheilen. Ihnen über die jetzige Lage Aufklärung zu geben, mußte ja immer noch Zeit sein, wenn man sich selbst erst ordentlich darüber klar geworden war. Zum Glück verstanden diese braven Männer, Soldaten und Werkleute, wenig von astronomischen Beobachtungen, noch von geographischer Länge und Breite, und aus der seit einigen Monaten stattgefundenen Lageveränderung der Insel konnten sie die ernsten Schlußfolgerungen nicht ziehen, welche Jasper Hobson so vollberechtigt in Unruhe versetzten.

Der Lieutenant raffte mit dem Entschlusse, so lange als möglich zu schweigen und eine Situation, welche er doch nicht zu ändern im Stande war, zu verheimlichen, alle seine Energie zusammen. Mit einer äußersten Anstrengung des Willens, welche aber Mrs. Barnett keineswegs entging, suchte er seiner selbst Herr zu werden und tröstete den unglücklichen Thomas Black, welcher sich klagend die Haare raufte, nach besten Kräften.

Der Astronom seinerseits ahnte den Vorgang, dessen Opfer er geworden war, noch keineswegs.

Da er nicht, wie der Lieutenant, die Eigenthümlichkeiten des Territoriums beobachtet hatte, kam er zu keinem Einsehen und grübelte über Nichts, als über das unselige Factum, daß an jenem Tage der Mond zur voraus berechneten Stunde die Sonne nicht vollkommen bedeckt habe. Welches war aber sein natürlicher Gedankengang? Daß die Ephemeriden zur Schande der Observatorien falsch seien, und daß diese so ersehnte Sonnenfinsternis, seine, Thomas Black’s Sonnenfinsternis zu deren Beobachtung er um den Preis so vieler Strapazen so weit hergekommen war, für diese Zone des Erd-Sphäroides unter dem siebenzigsten Parallelkreise überhaupt nicht »total« gewesen wäre? Nein! Das hätte er nie zugegeben! Niemals! Deshalb war auch seine Enttäuschung so groß und mußte es sein. Aber Thomas Black mußte doch bald die Wahrheit erfahren.

Jasper Hobson hatte indessen seine Leute glauben lassen, daß die nicht eingetroffene Sonnenfinsterniß nur den Astronomen interessire und ihnen selbst nichts angehe. Darauf hin hielt er sie zur Wiederaufnahme ihrer Beschäftigungen an. In dem Augenblicke aber, als sie den Gipfel des Cap Bathurst verlassen und nach der Factorei zurückkehren wollten, blieb Corporal Joliffe plötzlich stehen.

»Herr Lieutenant, sagte er, näher tretend und die Hand an der Mütze, dürfte ich eine Frage an Sie richten?

– Gewiß, Corporal, antwortete Jasper Hobson, der nicht recht wußte, wohinaus sein Untergebener ziele; sprechen Sie!«

Der Corporal sprach aber nicht; er zauderte, so daß ihn seine kleine Frau mit dem Ellenbogen stieß.

»Nun, Herr Lieutenant, begann er zögernd, es handelt sich um diesen siebenzigsten Breitengrad. Habe ich recht verstanden, so befinden wir uns nicht an der Stelle, welche Sie annahmen…«

Der Lieutenant zog die Augenbrauen zusammen.

»In der That, antwortete er ausweichend… wir haben uns in unserer Rechnung getäuscht. Unsere erste Beobachtung ist falsch gewesen. Aber inwiefern kann Sie das beunruhigen?

– Ei, es handelte sich dabei um den Sold, erwiderte der Corporal, der eine sehr pfiffige Miene annahm. Sie wissen selbst, der uns von der Compagnie versprochene doppelte Sold…«

Jasper Hobson athmete auf. Seine Leute hatten wirklich, wie man sich erinnern wird, für den Fall der Überschreitung des siebenzigsten Breitengrades ein Anrecht auf erhöhte Löhnung. Corporal Joliffe, der immer seinen Vortheil im Auge hatte, betrachtete die ganze Angelegenheit als eine Geldfrage, und konnte also befürchten, daß der ausgesetzte Preis noch nicht erworben sei.

»Beruhigen Sie sich, Corporal, antwortete lächelnd Jasper Hobson, und beruhigen Sie Ihre braven Kameraden. Unser wirklich unerklärbarer Irrthum gereicht Ihnen nicht zum Nachtheil. Wir befinden uns nicht unter, sondern über dem siebenzigsten Grade, und folglich bleibt Ihnen der doppelte Sold gesichert.

– Ich danke, Herr Lieutenant, sagte der Corporal, dessen Gesicht wieder freudig erglänzte, ich danke Ihnen. Es ist nicht darum, daß man am Gelde hinge, aber das verdammte Geld hängt uns so sehr an.«

Corporal Joliffe und seine Kameraden begaben sich hierauf wieder, ohne eine Ahnung der schrecklichen und sonderbaren Veränderung der Natur und der Lage des Gebietes, an ihre Arbeit. Auch Sergeant Long wollte eben nach der Factorei zurückkehren, als Jasper Hobson ihn aufhielt.

»Bleiben Sie, Sergeant Long!« rief er.

Der Unterofficier machte rechtsumkehrt und erwartete, was der Lieutenant ihm zu sagen habe.

Die einzigen jetzt noch auf dem Vorgebirge befindlichen Menschen waren Mrs. Paulina Barnett, Madge, Thomas Black, der Lieutenant und der Sergeant. Seit der Entdeckung gelegentlich der Sonnenfinsterniß hatte die Reisende noch kein Wort gesagt. Nur mit den Augen fragte sie Jasper Hobson, welcher ihr auszuweichen suchte. Das Gesicht der muthigen Frau zeigte aber mehr Erstaunen als Unruhe. Sah sie jetzt schon klar? War der Schleier vor ihren Augen ebenso schnell gefallen, wie vor denen Jasper Hobson’s? Auf jeden Fall verhielt sie sich ruhig und stützte sich auf Madge, deren Arm sie umschlang.

Der Astronom lief immer hin und her; er konnte an keiner Stelle ausdauern; sein Haar war verwirrt; er schlug die Hände zusammen und ließ sie wieder sinken. Mancher Ausruf der Verzweiflung entrang sich seinen Lippen, und gegen die Sonne ballte er die Faust, während er ihr, ohne zu bedenken, wie er sich schaden könne, frei entgegen sah.

Nach einigen Minuten schien sich seine innere Aufregung zu legen. Er bekam die Sprache wieder, und mit gekreuzten Armen, wuthflammenden Blicken und unheildrohender Stirn pflanzte er sich quer vor Lieutenant Hobson.

»Jetzt haben wir Zwei es mit einander zu thun, rief er, wir Zwei, Sie, Herr Agent der Hudsons-Bai-Compagnie!«

Diese Worte, deren Ton und seine Haltung sahen einer Herausforderung sehr ähnlich. Jasper Hobson wollte darauf kein Gewicht legen und begnügte sich, den armen Mann, dessen ungeheure Enttäuschung er sich wohl vorstellen konnte, ruhig anzusehen.

»Herr Hobson, fuhr Thomas Black mit schlecht verhehltem Zorne in seinem Tone fort, wollen Sie mir nun wohl sagen, was das Alles bedeutet? Ist das eine Mystification Ihrerseits? In dem Falle, mein Herr, würde sie ihre Wirkung auch noch weiter, als nur auf mich, äußern, und Sie dürften sie zu bereuen haben!

– Was wollen Sie damit sagen, Herr Black? fragte ganz gelassen Jasper Hobson.

– Ich will damit sagen, mein Herr, daß Sie sich verpflichtet hatten, Ihr Detachement an die Grenze des siebenzigsten Breitengrades zu führen…

– Oder darüber hinaus, Herr, fügte Jasper Hobson hinzu.

– Darüber hinaus, Herr, schrie Thomas Black, was hatte ich denn darüber hinaus zu suchen? Um diese Finsterniß zu beobachten, durfte ich mich nicht aus dem kreisförmigen Schatten, der sie begrenzt, hinausbegeben, und der hier im britischen Amerika innerhalb des siebenzigsten Breitengrades liegt, jetzt sind wir aber drei Grade darüber hinaus!

– Ja wohl, Herr Black, erwiderte Jasper Hobson immer gelassen, wir haben uns getäuscht, das ist eben Alles!

– Das soll Alles sein! rief der Astronom, den die Gelassenheit des Lieutenants noch mehr erregte.

– Ich mache Sie überdies darauf aufmerksam, fuhr Jasper Hobson fort, daß, wenn ich mich täuschte, Sie, Herr Black, diesen meinen Irrthum getheilt haben, denn nach unserer Ankunft bei Cap Bathurst haben wir zusammen, Sie mit Ihrem Instrument, ich mit dem meinigen, die Breitenlage desselben bestimmt. Sie können mich also nicht für einen Beobachtungsfehler verantwortlich machen wollen, der Sie ebenso schwer trifft!«

Diese Antwort entriß Thomas Black alle Waffen, und trotz seiner Erregung hatte er Nichts dawider vorzubringen. Es gab eben keine Entschuldigung!

War ein Fehler vorgekommen, so war er schuldig, er selbst auch. Was würde man aber im gelehrten Europa, auf dem Observatorium in Greenwich von einem Astronomen denken, der so ungeschickt war, sich bei einer Aufnahme der geographischen Breite zu täuschen? Ein Thomas Black beging einen Fehler von drei Graden bei Beobachtung der Sonnenhöhe, und das unter welchen Verhältnissen? Hier, wo die genaue Bestimmung der Parallele zur Beobachtung einer totalen Sonnenfinsterniß, welche erst nach langer, langer Zeit wiederkehrte, so besonders nöthig war! Thomas Black war von nun an ein entehrter Gelehrter!

»Aber wie in aller Welt, rief er endlich, und raufte sich von Neuem das Haar, wie habe ich mich nur so sehr irren können? Ich weiß also mit keinem Sextanten mehr umzugehen, ich verstehe keine Winkel zu berechnen – ich bin eben mit Blindheit geschlagen! Und wenn es so ist, ist es am Besten, mich überhaupt hier von dem Vorgebirge herabzustürzen…

– Herr Black, fiel Jasper Hobson mit ernster Stimme ein, klagen Sie sich nicht an, Sie haben keinen Beobachtungsfehler begangen, und haben sich keinen Vorwurf zu machen!

– Also Sie allein…

– Ich trage nicht mehr Schuld als Sie. Hören Sie mich freundlichst an, ich bitte Sie, und Sie auch, Madame, sagte er, sich an Mrs. Barnett wendend, Sie auch Madge, und auch Sie, Sergeant Long. Ich verlange von Ihnen Allen zunächst nur das Eine, die vollkommenste Geheimhaltung dessen, was ich Ihnen mittheilen werde. Es ist unnütz, die Genossen unseres Winterlagers zu erschrecken und zur Verzweiflung zu bringen.«

Die Zuhörer dieser Worte hatten sich dem Lieutenant genähert. Sie antworteten nicht, aber es erschien wie eine stillschweigende Übereinkunft, die erwartete Mittheilung geheim zu halten.

»Meine Freunde, sagte Jasper Hobson, als wir vor nun einem Jahre an dieser Stelle des britischen Amerika anlangten, und die Lage des Cap Bathurst aufnahmen, befand es sich genau unter dem siebenzigsten Breitengrade, und wenn es diesen jetzt um drei Grade nach Norden zu überschritten hat, so liegt das daran, daß es von seiner Stelle – abgewichen ist.

– Abgewichen? rief Thomas Black, das erzählen Sie Anderen, mein Herr! Seit wann weicht denn ein Cap ab?

– Und doch ist es an dem, entgegnete ernsthaft Lieutenant Hobson. Diese ganze Halbinsel Victoria ist nichts als eine Eisinsel. Das Erdbeben hat sie von der Küste losgerissen, und nun entführt sie eine der großen arktischen Strömungen…

– Wohin? fragte Sergeant Long.

– Wohin es Gott gefällt! antwortete Jasper Hobson.

Die Genossen des Lieutenants verharrten in tiefem Schweigen. Unwillkürlich wandten sich ihre Blicke nach Süden, über die weiten Ebenen hinaus, und nach der Seite des zerrissenen Isthmus hin, doch von der Stelle, die sie einnahmen, konnten sie, außer im Norden, den Meereshorizont nicht wahrnehmen, der sie jetzt von allen Seiten umschloß. Wäre Cap Bathurst um einige hundert Fuß höher über dem Meere gewesen, so hätte ihr Blick wohl den ganzen Umfang ihres Gebietes umfassen und ihnen beweisen können, daß es sich in eine Insel verwandelt hatte.

Wohl krampfte sich ihnen das Herz zusammen, wenn sie Fort-Esperance betrachteten und seine Bewohner, welche vom Lande weg in die offene See trieben und mit jenem ein Spiel der Winde und Wellen geworden waren.

»Auf diese Weise also, sagte da Mrs. Barnett, erklären sich alle die sonderbaren Erscheinungen, welche Sie auf diesem Lande bemerkten?

– Ja, Madame, diese Halbinsel, oder jetzt vielmehr Insel Victoria, welche wir für unerschütterlich fest betrachteten, ist nur ein ungeheures Eisfeld, welches Jahrhunderte lang an das amerikanische Festland geschmiedet war. Nach und nach wehte der Wind Sand und Erde darauf, und verstreute die Samen, aus denen der Wald und die Moose entstanden sind. Aus den Wolken stammte das süße Wasser der Lagune und des kleinen Baches. Die Vegetation hatte das Aussehen der Oberfläche verändert. Aber unter diesem See, unter der Erde, unter dem Sande und unter unseren Füßen erstreckt sich ein Eisboden, der vermöge seiner specifischen Leichtigkeit auf dem Meere schwimmt. Ja, ein Eisfeld ist es, das uns trägt und das uns davon führt, und daher kommt es auch, daß wir während unseres Aufenthaltes hier weder einen Kiesel, noch sonst einen Stein gefunden haben. Daher kommen diese schroff abfallenden Ufer, daher die seltsame Erscheinung, daß wir bei der Anlage von Rennthiergruben zehn Fuß unter dem Erdboden auf Eis trafen, daher endlich die Unmerkbarkeit der Fluth an der Küste, weil das steigende und fallende Wasser die Insel gleichmäßig mit sich hob und senkte.

– Wahrlich, jetzt erklärt sich Alles, Herr Hobson, fiel Mrs. Paulina Barnett ein, und Ihre Ahnung hat Sie nicht getäuscht. Doch möchte ich Sie bezüglich der Fluth noch fragen, warum sie früher am Cap Bathurst noch leicht bemerkbar war, während sie doch jetzt ganz verschwunden ist?

– Ganz einfach, entgegnete der Lieutenant, weil sich die Halbinsel zur Zeit unserer Hierherkunft noch durch ihren biegsamen Isthmus an das Festland hielt. Sie leistete der Fluth eben dadurch einen gewissen Widerstand, und deshalb hob sich das Wasser an ihrer Nordküste noch um etwa zwei Fuß über den niedrigen Wasserstand, statt um zwanzig, wie es eigentlich hätte der Fall sein sollen. Von dem Augenblick aber, da das Erdbeben den vollständigen Bruch veranlaßte, und die nun völlig freie Halbinsel sich mit Ebbe und Fluth senken und heben konnte, wurde deren Einfluß gleich Null, was wir ja vor einigen Tagen bei Gelegenheit des Neumondes bestätigt gesehen haben.«

Mit wechselndem Interesse hatte Thomas Black trotz seiner erklärlichen Verzweiflung der Auseinandersetzung Jasper Hobson’s gelauscht. Die Schlußfolgerungen des Lieutenants schienen ihm vollkommen richtig; aber wüthend darüber, daß solch‘ ein seltener, unerwarteter, so »absurder« Vorgang, wie er ihn später nannte, gerade stattfinden mußte, um ihm die Beobachtung der Sonnenfinsterniß unmöglich zu machen, sprach er für jetzt kein Wort, sondern hörte düster und fast verschämt zu.

»Armer Herr Black, sagte da endlich Mrs. Barnett, man muß wohl zugestehen, daß kein Astronom seit Entstehung der Welt ein solches Mißgeschick erlebt hat!

– Auf jeden Fall, Madame, fiel Jasper Hobson ein, trifft uns keine Schuld an dem Unfall, und Niemandem ist deshalb ein Vorwurf zu machen. Die Natur hat es allein gethan, sie ist die einzig Schuldige. Die Erderschütterung hat das Band zerrissen, welches die Halbinsel an den Continent fesselte, und wir selbst sind von einer schwimmenden Insel entführt worden. Das erklärt auch, warum die Pelzthiere und andere, welche mit uns gefangen sind, in der Umgebung des Forts so zahlreich bleiben.

– Und warum wir, mischte sich Madge in das Gespräch, in der guten Jahreszeit von dem Besuche aller Concurrenten verschont geblieben sind, deren Anwesenheit Sie, Herr Hobson, so besonders befürchteten.

– Und warum, fügte der Sergeant hinzu, das von Kapitän Craventy entsendete Detachement nicht bei Cap Bathurst anlangen konnte.

– Und warum ich endlich, sagte noch Mrs. Paulina Barnett mit einem Seitenblick auf den Lieutenant, mindestens für dieses Jahr auf jede Rückkehr nach Europa verzichten muß.«

Diese letzte Bemerkung hatte die Reisende in einem Tone gemacht, welcher bewies, daß sie sich in ihr Schicksal mit weit größerer philosophischer Ruhe ergab, als man hätte erwarten sollen.

Sie schien sich ganz plötzlich in diese fremdartige Lage eingelebt zu haben, eine Lage, welche ihr mindestens eine Reihe interessanter Beobachtungen versprach. Und wenn sie verzweifelt gewesen wäre, wenn alle ihre Begleiter gejammert und sich gegenseitig beschuldigt hätten, konnten sie die Vergangenheit ungeschehen machen?

Konnten sie den Lauf der umherirrenden Insel aufhalten, oder sie auf irgend eine Weise wieder an das Festland heften? Nein! In Gottes Hand allein lag das Schicksal des Fort-Esperance; seinem Willen mußten sie sich fügen.