Fünfzehntes Capitel.

Von jetzt ab stieg die Sonne Tag für Tag höher über den Horizont hinauf. Wenn die lange Nacht aber auch für einige Stunden unterbrochen wurde, so nahm doch die Kälte dabei zu, wie das ja im Februar häufig beobachtet wird, und das Thermometer zeigte – 17°, die niedrigste in diesem seltsamen Winter aufgetretene Temperatur.

»Wann beginnt in diesen Meeren wohl das Thauwetter? fragte da einmal die Reisende den Lieutenant Hobson.

– In gewöhnlichen Jahren, Madame, antwortete Dieser, findet der Eisbruch in den ersten Tagen des Mai statt; nach einem so milden Winter, wie dem gegenwärtigen, könnte das aber, wenn nicht noch eine Periode strengen Frostes dazwischen tritt, schon Anfangs April geschehen, – wenigstens nach meiner Beurtheilung der einschlagenden Verhältnisse.

– Demnach hätten wir also noch zwei Monate lang zu warten?

– Mindestens noch zwei Monate, Madame, da es räthlich erscheint, unsere Einschiffung nicht zu übereilen, und ich denke, wir werden die meiste Aussicht auf glücklichen Erfolg haben, wenn wir den Zeitpunkt abwarten können, in dem die Insel sich in der engsten nur etwa hundert Meilen breiten Stelle der Behrings- Straße befinden wird.

– Was sagen Sie da, Herr Jasper? entgegnete die Reisende, erstaunt über diese Erklärung des Lieutenants. Haben Sie denn ganz vergessen, daß wir von dem nach Norden abfließenden Kamtschatka- Strome hierher geführt wurden, daß dieser uns mit Eintritt des Thauwetters wieder erfassen und möglicher Weise noch weiter hinauf verschlagen wird?

– Das denke ich nicht, Madame, antwortete Lieutenant Hobson; ja, ich möchte gerade das Gegentheil behaupten. Der Eisgang vollzieht sich immer in der Richtung von Norden nach Süden, mag nun der Kamtschatka-Strom sich zu der Zeit umkehren oder das Eis dem Behrings-Strome verfallen, oder auch ein anderer mir unbekannter Grund dafür vorliegen. Unabänderlich treiben aber die Eisberge alle nach der Behrings-Straße zu und schmelzen endlich m den wärmeren Fluchen des Pacifischen Oceans. Fragen Sie Kalumah darüber. Sie kennt diese Meere und wird Ihnen meine Aussage bezüglich der Aufeinanderfolge des Thauwetters bestätigen.«

Die herbeigerufene Kalumah bezeugte die Worte des Lieutenants. Man hatte demnach zu erwarten, daß die Insel in den ersten Tagen des April gleich einer großen Eisscholle nach Süden, und damit nach der schmälsten Stelle der Behrings-Straße treiben würde. Letztere aber befahren sowohl Fischer aus Neu-Archangel häufig, als auch Lootsen und Küstenschiffer. Brachte man indeß alle leicht möglichen Verzögerungen bei Berechnung der Zeit in Anschlag, welche diese Rückfahrt nach Süden wohl erfordern mochte, so durfte man vor Anfang Mai nicht darauf rechnen, das Festland zu betreten. Obgleich die Kälte übrigens nicht intensiv gewesen war, so mußte doch die Insel insofern haltbarer geworden sein, als sie durch Eisanlagerung von unten her gewiß an Dicke zugenommen hatte, so daß man auf ihr Ausdauern während mehrerer Monate rechnen konnte.

Die Ueberwinterer mußten sich also in Geduld fassen und ruhig die Zukunft abwarten.

Die Genesung des kleinen Kindes machte weitere Fortschritte. Am 20. Februar kam es nach vierzigtagiger Krankheit zum ersten Male wieder an die Luft, d.h. es trippelte von dem Zimmer seiner Eltern nach dem allgemeinen Saale hinüber, wo es von Zärtlichkeiten überhäuft wurde. Seine Mutter, die es schon mit Vollendung des ersten Lebensjahres entwöhnen wollte, that das auf Madge’s Zureden nicht, und so erlangte es, nur abwechselnd Rennthiermilch genießend, bald seine vollen Kräfte wieber. Tausenderlei Spielsachen hatten die freundlichen Soldaten während seiner Krankheit hergestellt, und selbstverständlich war es dabei das glücklichste Baby von der Welt.

Die letzte Februarwoche zeichnete sich durch außerordentlichen Regen- und Schneefall aus, bei kräftigem Winde aus Südwesten. Bei der niedrigen Temperatur einzelner Tage lagerte sich wieder fußhoher Schnee ab. Dabei wuchs der Wind zum Sturme. Von Cap Bathurst und der Packeismauer her erklang das Heulen des Sturmes wahrhaft betäubend, dazu stürzten an einander geworfene Eisberge mit donnerähnlichem Krachen zusammen, und ein unsichtbarer Druck häufte im Norden die Schollen an das Ufer der Küste. Es stand selbst zu befürchten, daß das Cap, – eigentlich doch auch eine Art mit Sand und Erde überdeckter Eisberg, niedergeworfen würde. Zum Glücke für die Factorei leistete es jedoch aushaltenden Widerstand und schützte die Baulichkeiten vor vollkommener Zerstörung.

Man sieht leicht ein, wie höchst gefährlich sich die einstige Lage der Insel an der engen Meeresstraße gestalten mußte, vor welcher das Eis sich staute. Sie konnte dort von einer horizontalen Lawine, wenn man so sagen darf, zerdrückt, von den aus der offenen See herantreibenden Eisschollen zersprengt werden, bevor sie in den Abgrund zu versinken drohte. Hierin lag eine neue, zu den übrigen noch hinzutretende Gefahr. Als Mrs. Paulina Barnett die furchtbare Kraft des Eisdruckes und die unwiderstehliche Gewalt sah, die jene Berge übereinander thürmte, wurde ihr klar, wie bedrohlich das erwartete Thauwetter für die Insel werden mußte. Sie sprach davon mehrmals gegen Lieutenant Hobson; doch dieser zuckte nur mit den Achseln, wie Jemand, der nicht antworten will oder es auch nicht kann.

In den ersten Tagen des März legte sich der Sturm vollkommen und konnte man nun die an dem Eisfelde eingetretenen Veränderungen übersehen. In der Thai schien es, als ob die Packeismauer über die Oberfläche des Eises hinweg gleitend sich der Insel Victoria genähert habe. An manchen Stellen kaum noch zwei Meilen von letzterer entfernt, ähnelte sie in gewisser Hinsicht den Gletschern, nur mit dem Unterschiede, daß diese herabsinken, während jene nur vorwärts schritt.

Der Boden, oder vielmehr das Eisfeld zwischen der hohen Mauer und der Küste mit seiner krampfhaften Umwälzung, den starrenden Spitzhügeln, zerbrochenen Eisnadeln, gestürzten Stämmen und eingesunkenen Pyramiden, dazu seiner wellenförmige!! Grundfläche, – das Bild eines während des tollsten Sturmes verzauberten Meeres, – war gar nicht wieder zu erkennen. Man hätte die Ruinen einer zerstörten Stadt, in der kein Stein auf dem anderen geblieben war, zu sehen geglaubt. Nur die hohe, wunderbar geschnittene Packeismauer mit ihren himmelan strebenden Kegeln, Kuppeln und Kämmen und ihren spitzigen Pics erhielt sich unverändert, und umschloß das pittoreske Gewühl mit erhabenem Rahmen.

Um diese Zeit kam das Fahrzeug zur Vollendung. Trotz ihrer etwas plumpen Form, bei der es indeß bewenden mußte, machte die Schaluppe ihrem Baumeister alle Ehre und versprach mit ihrem gallionenförmigen Vordertheile dem Stoße des Eises desto besser zu widerstehen. Sie ähnelte etwas jenen holländischen Barken, welche sich weit in die nördlichen Meere hinauf wagen. Ihre Takelage bestand, wie die eines Kutters, aus Fockmast und Klüverbaum, die Zeltleinwand der Factorei war zu den Segeln verwendet worden.

Das Schiff vermochte die ganze Bewohnerschaft der Insel Victoria bequem aufzunehmen und voraussichtlich, wenn die Insel der Erwartung gemäß nach der Behrings-Enge zu trieb, auch die größte Entfernung bis zur amerikanischen Küste leicht zu durchschneiden. Nur mußte eben das Thauwetter abgewartet werden.

Da kam dem Lieutenant Hobson der Gedanke, zum Zwecke der Recognoscirung des Eisfeldes eine ausgedehnte Expedition nach Südosten zu unternehmen, welche mit dazu dienen sollte, etwaige Vorzeichen der Auflösung zu finden, die eigentliche Schollenwand selbst zu beobachten und aus dem tatsächlichen Zustande des Meeres zu ersehen, ob noch jeder Weg nach dem amerikanischen Continente versperrt sei. Mancherlei Ereignisse und Unfälle konnten ja noch statt haben, bevor der Eisbruch das Meer wieder frei legte, und so erschien diese vorzunehmende Besichtigung als ein Gebot der Klugheit.

Die Expedition wurde also beschlossen und auf den ?. März festgesetzt. Die Theilnehmer an derselben bestanden aus Lieutenant Hobson, der Reisenden, Kalumah nebst Marbre und Sabine. Wenn ein Weg ausfindig zu machen war, wollte man auch die Packeiswand überschreiten; jedenfalls sollte die Abwesenheit vom Fort nicht länger als achtundvierzig Stunden währen.

Der nöthige Proviant wurde mitgenommen, und am Morgen des 7. verließ das für jeden Zufall wohl bewaffnete kleine Detachement Fort-Esperance in der Richtung nach dem Cap Michael.

Das Thermometer stand auf dem Gefrierpunkte. Die Luft war etwas dunstig, aber ruhig. Sieben bis acht Stunden lang beschrieb die Sonne ihren Tagesbogen über dem Horizonte und durchblitzten ihre schrägen Strahlen mit hinreichendem Lichte die Massen des Eises.

Nach kurzer Rast stiegen Lieutenant Hobson und seine Begleiter gegen neun Uhr den Abhang am Cap Michael hinab, und schritten in südöstlicher Richtung über das Eisfeld. Von dieser Seite war die Eiswand etwa drei Meilen entfernt.

Selbstverständlich ging es nur langsam vorwärts. Fortwährend mußte man entweder eine tiefe Spalte oder einen unübersteiglichen Spitzhügel umwandern. Auf dem unebenen Wege hätte ein Schlitten sich gar nicht verwenden lassen. Jener bestand nur aus einer chaotischen Anhäufung von Blöcken jeder Gestalt und Größe, von denen sich nicht wenige nur noch durch ein Wunder im Gleichgewicht hielten. Andere waren erst neuerdings zusammen gestürzt, wie man an ihren frischen, glatten Bruchstellen sah. Aber nirgends zeigte sich die Spur eines Menschen oder Thieres in diesem Gewirr! Kein lebendes Wesen athmete in diesen selbst von den Vögeln verlassenen Einöden!

Verwundert fragte Mrs. Paulina Barnett, wie man bei einer Abfahrt im December wohl dieses durcheinander gewürfelte Eisfeld habe überschreiten wollen; doch machte sie Jasper Hobson darauf aufmerksam, daß jenes zur erwähnten Zeit ein ganz anderes Aussehen geboten hätte. Wegen des damals noch nicht wirksamen enormen Druckes durch das Packeis müßte die Oberfläche verhältnißmäßig eben gewesen sein, und lag das einzige Hinderniß de: Reise nur in der mangelhaften Verbindung der Schollen, und nirgends anders.

Inzwischen näherte man sich dem hohen Walle, wobei Kalumah der kleinen Truppe fast immer voraus war. Mit sicherem Schritte wandelte die lebhafte und leichtfüßige Eingeborene mitten durch die Eisblöcke. Ohne Zaudern und ohne Irrthum schlug sie, wie durch Instinct geleitet, immer den gangbarsten Weg in diesem Labyrinthe ein. Sie lief ab und zu, und ihren Weisungen konnte man vertrauensvoll nachgehen.

Gegen Mittag war die ausgedehnte Basis der Packeiswand zwar erreicht, doch hatten die drei Meilen bis dahin nicht weniger als drei Stunden beansprucht.

Welch‘ imposante Masse bildete diese Eismauer, deren einzelne Gipfel über vierhundert Fuß hoch aufstiegen! Deutlich hoben sich die Schichten, aus denen sie bestand, von einander ab, und ihre Wände waren mit den zartesten Farbenschattirungen geschmückt. Bald irisirend, bald jaspisartig gestreift, erschien sie wie mit Arabesken bedeckt, und mit einzelnen Glanzpunkten durchsetzt. Vergeblich würde der ein Passendes Bild zur Vergleichung suchen, der die Eiswand jemals in ihrer Erhabenheit erblickte, wie sie auf einer Stelle trübe, auf der anderen durchscheinend durch wechselndes Licht und Schatten in den wunderbarsten Reflexen spielte.

Wohl mußte man aber vorsichtig eine zu große Annäherung an diese lockenden Eismassen, deren Zusammenhalt sehr fraglich erschien, vermeiden. An dem fortwährenden Knistern und Krachen ihres Inneren erkannte man die geheime Arbeit des Thauwetters.

Eingeschlossene und jetzt sich ausdehnende Luftblasen sprengten ihre Wände, und man ersah daraus den vergänglichen Charakter dieser Eisbauwerke, welche den arktischen Winter nicht überleben, und den Strahlen der jungen Sonne unterliegen sollten, um die Quelle ganz ansehnlicher Ströme zu werden.

Lieutenant Hobson hatte seine Begleiter ernsthaft vor der Gefahr der Eislawinen gewarnt, die jeden Augenblick von der Höhe der Schollenwand herabstürzten. Die kleine Gesellschaft zog deshalb auch nur in gemessener Entfernung von dem Fuße derselben hin. Wie weise diese Vorsicht war, sollten sie bald erfahren, als sich gegen zwei Uhr an dem Eingänge eines Thales, das die Wanderer zu durchziehen beabsichtigten, ein ungeheurer Block von mehr als hundert Tonnen Gewicht loslöste und mit Donnerkrachen auf das Eisfeld herabstürzte. Zersplitternd brach es unter diesem Stoße, und thurmhoch spritzte das Wasser ringsum auf. Zum Glücke wurde Niemand von den abgesprengten Stücken des Blockes getroffen, als er wie eine Bombe zerplatzte.

Von zwei bis fünf Uhr folgte man einem engen, gewundenen, weit in das Innere hinein verlaufenden Thale. Ob es die ganze Packeismauer durchsetzte, ließ sich zwar vorher nicht entscheiden, doch gestattete es einen belehrenden Einblick in die innere Structur derselben. Schollen und Blöcke erschienen hier mehr in Ordnung auf einander gelagert, als an der Außenseite. An manchen Stellen fand man Baumstämme im Eise eingeschlossen, die aber nicht arktischen Baumarten, sondern solchen aus der Tropenzone angehörten. Offenbar hatte sie der Golfstrom hier hinauf getragen, wo sie vom Froste gefesselt, mit dem Eise den Rückweg nach dem wärmeren Oceane antraten. Auch Schiffskielstücke und andere Trümmer fehlten dazwischen nicht.

Gegen fünf Uhr zwang die eingetretene Dunkelheit, den Weitermarsch aufzugeben, nachdem man in dem Thale gegen zwei Meilen zurück gelegt hatte, ohne in Folge der Windungen desselben die Entfernung in gerader Linie abschätzen zu können.

Jasper Hobson ließ nun halten. In Zeit von einer halben Stunde arbeiteten Marbre und Sabine mittels der Schneemesser eine Höhle im massiven Eise aus, in welche Alle hinein schlüpften, ihr Nachtmahl verzehrten, und in Folge der Anstrengung durch den Weg sehr bald sanft entschlummerten.

Um acht Uhr früh war Alles auf den Füßen, und schlug Jasper Hobson wieder den Weg längs des Thales ein, um sich zu überzeugen, ob dieses nicht die ganze Breite der Eismauer durchziehe. Dem Stande der Sonne nach veränderte sich die Richtung desselben nach Nordosten in die nach Südosten.

Um elf Uhr stiegen Lieutenant Hobson und seine Begleiter an der anderen Seite der Eismauer hinab. Unzweifelhaft war hier also ein Durchgang vorhanden.

Die ganze Ostseite des Eisfeldes bot den nämlichen Anblick wie die Westseite, dasselbe Chaos von Schollen, dieselbe Zerklüftung durch Blöcke, Eisberge und Spitzhügel so weit das Auge reichte, da und dort durch kleine ebene Flächen unterbrochen oder durch offene Spalten, deren Ränder schon wegthauten, getrennt. Sonst gähnte überall dieselbe Wüstenei, dieselbe Verlassenheit den Beschauern entgegen.

Kein lebendes Geschöpf war in dieser Einöde sichtbar!

Eine Stunde lang verweilte Mrs. Paulina Barnett auf einem Spitzhügel, versunken in den trostlosen Anblick dieser Polar-Landschaft. Wieder kam ihr unwillkürlich die vor fünf Monaten versuchte Abreise in den Sinn, und vor ihren Augen erschien das ganze Personal der Colonie als traurige Karawane, wie sie durch Nacht und Frost inmitten solcher Eiswüsten und bedroht von lauernden Gefahren sich nach dem Festlande Amerikas zu retten suchte!

Jasper Hobson weckte sie endlich aus ihrer Träumerei.

»Madame, sagte er, wir sind nun über vierundzwanzig Stunden von dem Fort weg, und kennen den Durchmesser dieser Eisbank. Unserem Versprechen gemäß wollten wir nicht über achtundvierzig Stunden ausbleiben; demnach, denke ich, ist es Zeit, den Rückweg anzutreten.«

Mrs. Paulina Barnet widersprach nicht. Der Zweck des Ausflugs war ja erreicht morden. Die Packeiswand von mittelmäßigem Durchmesser versprach sich bald zu lösen und Mac Nap’s Schiffe ein freies Fahrwasser zu eröffnen. Der baldige Antritt der Heimkehr empfahl sich auch noch deshalb, weil ein etwaiger Witterungswechsel mit Schneewehen den Zug durch das Thal unendlich erschweren mußte.

So brach man nach eingenommenem Frühstück um ein Uhr wieder auf. Um fünf Uhr lagerte man sich, wie am Tage vorher, in einer Eishöhle, und nach der ohne Zwischenfall verbrachten, Nacht gab Lieutenant Hobson am 9. März früh um acht Uhr Befehl zum Weiterziehen.

Schon glänzte bei klarem Himmel die Sonne über der Eismauer und grüßte die Sohle des Thales mit einzelnen Strahlen. Jasper Hobson und seine Begleiter wandten ihr, da sie nach Westen zogen, den Rücken, und doch trafen jene Strahlen ihre Augen, da jene sich an den kreuz und quer gelagerten Schollen tausendfach wiederspiegelten,

Mrs. Paulina Barnett und Kalumah blieben plaudernd und umherschauend eine Strecke zurück und folgten der schmalen Fußspur Marbre’s und Sabine’s. Man gab sich der Hoffnung hin, die Eisbank bis Mittag zu durchwandern und noch die drei Meilen bis zur Insel Victoria zurück zu legen. So mußte die kleine Gesellschaft vor Sonnenuntergang im Fort eintreffen, und konnten ihre Gefährten wegen der wenigen Stunden Verspätung nicht besonders beunruhigt sein.

Hierbei rechnete man jedoch ohne einen Zwischenfall, den allerdings keine menschliche Vorsicht hätte ahnen können.

Es mochte gegen zehn Uhr sein, als Marbre und Sabine, die etwa zwanzig Schritte voraus waren, plötzlich stehen blieben. Sie schienen über Etwas nicht einig zu werden. Als die Uebrigen nachkamen, sahen sie, wie Sabine, die Boussole in der Hand, diese seinem Kameraden wies, der sie mit sprachlosem Erstaunen betrachtete.

»Das ist doch ein närrisches Ding, wendete sich dieser an Lieutenant Hobson. Könnten Sie mir sagen, Herr Lieutenant, auf welcher Seite der Eisbank die Insel Victoria eigentlich liegt? Im Westen oder Osten?

– Natürlich im Westen, antwortete Jasper Hobson, verwundert über diese Frage.

– Ja, das weiß ich zwar auch, versetzte Markire, den Kopf schüttelnd. Wenn das aber der Fall ist, sind wir auf falschem Wege, und kommen immer weiter von ihr ab.

– Was! Wir entfernten uns von ihr? fragte der Lieutenant, den der überzeugte Ton des Jägers stutzig machte.

– Gewiß, Herr Lieutenant! Hier, sehen Sie nach der Boussole, und ich will nicht Marbre heißen, wenn wir ihrer Angabe nach nicht nach Osten, statt nach Westen marschiren.

– Das ist unmöglich, warf die Reisende ein.

– Ueberzeugen Sie sich selbst, Madame«, antwortete Sabine.

Wirklich wies die Magnetnadel nach einer der angenommenen ganz entgegengesetzten Richtung.

»Wir müssen uns heute Morgen beim Verlassen des Eishauses getäuscht und den Weg nach links, statt nach rechts zu eingeschlagen haben.

– Nein, rief Mrs. Paulina Barnett, das ist unmöglich; wir haben uns nicht getäuscht!

– Aber … entgegnete Marbre.

– Nun, aber …, da betrachten Sie doch die Sonne. Geht sie etwa nicht mehr im Osten auf? Da wir ihr nun von heute Morgen ab den Rücken zurückgekehrt haben, und es auch jetzt noch thun, so steht es fest, daß wir nach Westen wandern. Weil nun die Insel im Westen liegt, so treffen wir auf diese, wenn wir auf der Westseite der Eiswand herauskommen.«

Marbre, der gegen diese Beweisführung nicht aufkommen konnte, kreuzte sinnend die Arme.

»Zugegeben, es verhalt sich so, sagte Sabine, dann widersprechen sich aber Sonne und Boussole ganz und gar.

– Wenigstens augenblicklich, belehrte ihn Jasper Hobson. Das hängt indeß nur davon ab, daß unter hohen nördlichen Breiten und in den Meeren in der Nachbarschaft des magnetischen Poles die Boussolen nicht selten alterirt werden, und die Magnetnadeln ganz falsch zeigen.

– Nun gut, sagte Marbre, so setzen wir also unseren Weg, die Sonne im Rücken, weiter fort.

– Ohne Zweifel, antwortete Lieutenant Hobson, zwischen Boussole und Sonne kann die Wahl nicht schwer sein, denn die Sonne kommt nicht außer Ordnung.«

Die kleine Gesellschaft zog in der Richtung, welche nach Allem eine falsche nicht sein konnte, in dem Thale weiter, brauchte aber längere Zeit dazu, als man voraus gesehen hatte. Schon gegen Mittag hätte man am Ende des Thales sein sollen, und nun kam die zweite Stunde heran, ehe der enge Ausgang wieder erreicht wurde.

Diese auffällige Verzögerung hätte Jasper Hobson wohl schon beunruhigt; man male sich nun aber sein und seiner Begleiter Erstaunen, als sie beim Wiederbetreten des Eisfeldes die Insel Victoria, welche doch vor ihnen liegen mußte, nicht mehr sahen! Die Baume auf dem Cap Michael hätte man ohne Zweifel erkennen müssen. – Nichts war vorhanden. An der Stelle des letzteren dehnte sich ein grenzenloses Eisfeld aus, auf dem die Sonne in zahllosen Lichtpunkten glitzerte.

Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett und Kalumah sahen sich fragend an.

»Dort müßte doch die Insel liegen! rief Sabine verwundert.

– Sie ist aber doch nicht da, erwiderte Marbre; können Sie wohl sagen, Herr Lieutenant, was aus ihr geworden ist?«

Mrs. Paulina Barnett wußte Nichts hierauf zu erwidern, und auch Jasper Hobson sagte kein Wort.

Da näherte sich Kalumah dem Letzteren, nahm ihn beim Arme und sprach:

»Wir haben uns in dem Thale geirrt und befinden uns jetzt an derselben Stelle, wie gestern nach dem ersten Durchschreiten des Packeises. Kommen Sie! Kommen Sie!«

Ganz maschinenmäßig ließen sich Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett, Marbre und Sabine im Vertrauen auf den Instinct der jungen Eingeborenen von dieser wegführen und kehrten noch einmal in dem engen Thale ihren eigenen Weg zurück, trotzdem nach dem Stande der Sonne alle Anzeichen gegen Kalumah’s Behauptung sprachen.

Diese Letztere hatte sich gar nicht weiter erklärt, sondern eilte unbeirrt vorwärts.

Ganz erschöpft von Anstrengung gelangten der Lieutenant, die Reisende und ihre Begleiter nach einem dreistündigen Wege, über den die Nacht sich schon herabgesenkt hatte, an der anderen Seite der Eisbank an. Zwar verhinderte die Dunkelheit zu erkennen, ob die Insel in der Nahe sei, doch sollten sie darüber nicht lange im Unklaren bleiben.

Nur wenige hundert Schritte von ihnen bewegten sich auf dem Eisfelde leuchtende Harzfackeln hin und her und knallten Flintenschüsse in kurzen Zwischenräumen. Auch wurden schallende Rufe gehört.

Die kleine Truppe beantwortete diese und befand sich bald in Gesellschaft des Sergeant Long, Thomas Black’s, den die unruhige Sorge um das Loos seiner Freunde doch einmal aufgerüttelt hatte, und noch Anderer, welche entgegen gelaufen kamen. In Wahrheit war die Angst der armen Leute keine geringe gewesen, da sie, – wir wissen, mit wie gutem Rechte, – angenommen hatten, daß Jasper Hobson auf dem Rückwege nach der Insel irre gegangen sein werde.

Wie kamen sie aber auf diesen Gedanken, während sie doch ruhig in Fort-Esperance verblieben waren? Was veranlaßte sie zu der Annahme von Schwierigkeiten bei der Auswahl des Heimweges?

Es rührte daher, daß das ungeheure Eisfeld sammt der Insel in den letzten vierundzwanzig Stunden seine Lage geändert und sich – halb um sich selbst gedreht hatte. In Folge dieses Ereignisses lag die Insel nicht mehr westlich, sondern östlich von der Packeiswand!