Sechstes Capitel.


Sechstes Capitel.

Während der vier Tage, vom 17. bis zum 20. August, war das Wetter immer schön und die Wärme beträchtlich. Die Dünste des Horizontes verdichteten sich niemals zu Wolken; nur selten erhielt sich unter so hohen Breiten die Atmosphäre bei solcher Klarheit. Selbstverständlich konnten diese klimatischen Verhältnisse Jasper Hobson keineswegs erfreuen.

Am 21. August verkündete das Barometer eine bevorstehende Witterungsveränderung, indem die Quecksilbersäule plötzlich um einige Linien fiel; doch stieg sie am anderen Tage wieder, sank dann noch einmal, und erst am 23. August blieb sie dauernd niedriger.

Am 24. August stiegen die angesammelten Nebel, statt sich zu zerstreuen, als Wolken auf und verschleierten die Sonne zur Mittagszeit vollkommen, so daß Lieutenant Hobson seine gewöhnliche Beobachtung aussetzen mußte.

Am nächsten Tage erhob sich ein scharfer Wind aus Nordosten und fiel, wenn dieser sich zeitweilig legte, reichlicher Regen. Dabei unterlag die Temperatur aber keiner wesentlichen Veränderung, sondern hielt sich immer auf +12°.

Die projectirten Arbeiten waren um diese Zeit zum Glücke ausgeführt, und Mac Nap hatte den Rumpf des Schiffes im Groben vollendet. Auch die Jagd auf eßbares Wild konnte ohne Gefahr eingestellt werden, da man hinreichende Vorräthe besaß. Uebrigens wurde das Wetter bald so schlecht, der Wind so heftig, der Regen so durchdringend und der Nebel so dicht, daß man darauf verzichten mußte, die Umzäunung des Forts zu verlassen.

»Was halten Sie von dieser Aenderung des Wetters, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett, als sie am Morgen des 27. August die Wuth des Unwetters von Stunde zu Stunde wachsen sah. Könnte sie uns nicht von Nutzen sein?

– Das weiß ich noch nicht, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, doch glauben Sie, daß für uns alles Andere besser ist, als das vorhergegangene prächtige Wetter, welches die Gewässer des Oceans mehr und mehr erwärmte. Uebrigens bemerke ich, daß der Wind aus Nordosten aushält, und da er sehr heftig ist, kann unsere Insel schon ihrer Masse wegen sich seiner Einwirkung nicht ganz entziehen. Es würde mich demnach gar nicht Wunder nehmen, wenn sie sich dabei dem amerikanischen Festlande näherte.

– Leider können wir, sagte Sergeant Long, unsere Lage nicht täglich aufnehmen. Bei dieser dicken Luft sind ja weder Sonne, noch Mond oder Sterne zu erblicken; da soll nun Einer Beobachtungen anstellen!

– Zugestanden, Sergeant Long, erwiderte Mrs. Paulina Barnett, dafür stehe ich Ihnen aber, daß wir das Land erkennen, wenn es uns nur zu Gesicht kommt, und wo es auch sei, es wird uns willkommen sein. Aller Voraussicht nach wird es ein Theil des russischen Amerika, wahrscheinlich Nord-Georgia sein.

– So scheint es in der That, fügte Jasper Hobson hinzu, denn in diesem ganzen Theile des Eismeeres trifft man auf keine Insel und kein Eiland, nicht einmal auf einen Felsen, an den wir uns anklammern könnten!

– Ei, sagte Mrs. Paulina Barnett, weshalb sollte unser Fahrzeug uns nicht direct bis an die Küste Asiens tragen? Kann es unter dem Einflusse der Strömungen nicht an der Behrings-Straße vorbei gehen und uns nach dem Lande der Tchouktchi’s führen!

– O nein, Madame, entgegnete der Lieutenant, unser Eisfeld begegnete dabei dem Kamtschatka-Strome, und würde durch diesen mit großer Schnelle nach Nordosten hin getrieben werden, was sehr zu bedauern wäre. Nein, es ist weit wahrscheinlicher, daß uns der Nordostwind dem Küstengebiete des russischen Amerika zutreibt.

– Dann werden wir wachsam sein müssen, Herr Hobson, sagte die Reisende, und unsere Richtung so gut als möglich zu erkennen suchen.

– Daran wird es nicht fehlen, Madame, antwortete Jasper Hobson, trotzdem daß diese dicken Nebel unseren Blick beschränken. Wenn wir jedoch an die Küste geworfen würden, müßte der Stoß heftig genug sein, um ihn bestimmt zu bemerken; hoffen wir nur, daß die Insel dabei nicht in Stücke bricht. Darin liegt die Gefahr! Und doch, wenn es sein sollte, würden wir Nichts dagegen vermögen.«

Natürlich fanden diese Gespräche nicht in dem allgemeinen Saale statt, in dem der größte Theil der Soldaten und die Frauen die Stunden der Arbeit verbrachten. Mrs. Paulina Barnett sprach über derlei Sachen nur in ihrem eigenen Zimmer, dessen Fenster nach dem Vordertheile der Umplankung gerichtet waren. Jetzt drang kaum hinreichendes Licht durch die trüben Scheiben, dafür hörte man draußen den schrecklichen Sturmwind sausen, gegen den das Gebäude, wenn jener von Nordosten blies, durch Cap Bathurst einigermaßen gedeckt wurde. Dafür trommelten der Sand und die Erde, welche er von der Spitze des Vorgebirges entführte, wie Schloßen auf dem Holzdache. Mac Nap beunruhigte sich neuerdings wegen seiner Kamine, vorzüglich wegen des von der Küche ausgehenden, welches ja fortwährend gebraucht wurde. In das Geheul des Windes mischte sich noch das furchtbare Tosen des empörten Meeres, das sich am Uferrande brach. Trotz der wüthenden Windstöße wollte Jasper Hobson am 28. August unbedingt Cap Bathurst besteigen, um den Horizont, das Meer und den Himmel genauer zu beobachten. Dicht eingehüllt, um den Wind sich nicht in seiner Kleidung fangen zu lassen, begab er sich nach außen.

Ohne große Beschwerden gelangte er nach Ueberschreitung des inneren Hofes bis zum Fuße des Cap Bathurst; zwar blendeten Erde und Sand ihm die Augen, doch hatte er unter dem Schutze der Uferhöhe noch nicht direct gegen den Sturm anzukämpfen.

Die schwierigste Aufgabe bestand nun aber darin, an den Seiten der Erhöhung, welche fast lothrecht abgeschnitten waren, empor zu klimmen. Nur dadurch, daß er sich an Grasbüscheln festhielt, erreichte er den Gipfel des Caps; dort konnte er aber bei der Gewalt des Sturmes weder stehen, noch sitzen, und mußte sich platt auf den Abhang nieder legen und an Gesträuche anklammern, wobei er nur den Kopf den wüthenden Windstößen aussetzte.

Jasper Hobson lugte mit aller Anstrengung durch den Nebel; der Anblick des Meeres und des Himmels war wirklich schrecklich. Schon in einer halben Meile Entfernung verschwammen Beide in einander. Ueber seinem Haupte sah er tiefgehende, zerrissene Wolken dahinjagen, während am Zenith noch dichte Nebelmassen unbeweglich hingen. Auf Augenblicke beruhigte sich wohl auch die Luft, und dann hörte man nur das Stürmen der Brandung und den Anprall der entfesselten Wellen. Dann aber setzte der Sturm wieder mit einer Gewalt ohne Gleichen ein, und Jasper Hobson fühlte den Grund des Vorgebirges erzittern. Dann und wann wurde der Regen so heftig geschleudert, daß die Tropfenlinien tausend kleinen Wasserstrahlen glichen, welche der Wind wie Kartätschenhagel dahinblies.

Es war das ein Orkan, der aus der schlimmsten Himmelsgegend herkam. Dieser Nordost konnte wohl lange Zeit andauern, und lange Zeit die Atmosphäre peitschen. Doch Jasper Hobson beklagte sich darüber nicht. Unter anderen Verhältnissen wäre ihm die verderbliche Wirkung eines solchen Sturmes gewiß zu Herzen gegangen, jetzt freute er sich über jenen! Hielt nur die Insel aus, und darauf war ja zu hoffen, so mußte sie auch durch die Gewalt des Windes, welche die Meeresströmungen überwältigte, nach Südwesten getrieben werden, und dort im Südwesten war ja das Festland, – dort wohnte die Rettung! Für ihn, für alle seine Gefährten hätte nur der Sturm bis zu dem Augenblicke anhalten sollen, wo er sie an die Küste, und sei diese, welche es wolle, warf. Was das Verderben eines Schiffes gewesen wäre, das war das Heil der irrenden Insel.

Eine Viertelstunde lang lag Jasper Hobson so unter der Geißel des Orkanes, durchnäßt vom Wasser des Meeres und des Regens, und klammerte sich mit der Kraft eines Ertrinkenden an den Boden, indem er sich schon überlegte, welchen Vortheil ihm dieser Sturm wohl gewähren könne. Dann kehrte er zurück, glitt an der Seite des Caps hinab, eilte mitten durch den umherwirbelnden Sand über den Hof und trat wieder in das Haus ein. Jasper Hubson’s erste Sorge war es, seinen Gefährten die Mittheilung zu machen, daß der Orkan seinen Höhepunkt noch nicht erreicht habe, und man darauf rechnen könne, daß er noch einige Tage anhalten werde. Das that er aber in ganz eigentümlichem Tone, als verkündete er eine gute Neuigkeit, und voller Erstaunen richteten sich die Blicke Aller auf ihren Chef, dem dieser Kampf der Elemente nur angenehm zu sein schien.

Im Verlaufe des 30. wagte sich Jasper Hobson noch einmal hinaus und drang, wenn auch nicht bis zum Gipfel des Cap Bathurst, doch bis an den Rand des Ufers vor. An diesem Ufer, gegen das die Wogen in schräger Richtung anschlugen, fielen ihm plötzlich einige lange, in der Flora der Insel bisher nicht vorgekommene Meerespflanzen in’s Auge.

Diese Gräser waren noch frisch und bestanden in langen Filamenten des Varec, welche unzweifelhaft erst vor kurzer Zeit vom amerikanischen Continente losgerissen waren. Dieser Continent konnte also nicht mehr fern sein! Der Nordostwind hatte die Insel dem Strome, der sie bis daher geführt, entrissen. Gewiß schlug dem Columbus einst das Herz nicht freudiger, als er die schwimmenden Pflanzen entdeckte, die ihm die Nähe des Landes anzeigten.

Jasper Hobson kam zum Fort zurück und theilte Mrs. Barnett und Sergeant Long seine Entdeckung mit. In diesem Augenblicke hatte er fast Lust, seinen Begleitern über Alles reinen Wein einzuschenken, so sicher war er von ihrer Rettung überzeugt. Doch noch hielt ihn eine Ahnung davon zurück; er schwieg.

Während dieser langen Tage der Einsparung blieben die Bewohner des Forts nicht unthätig und verwandten ihre Zeit auf Hausarbeiten. Manchmal stachen sie auch im Hofe kleine Rinnen aus, um dem Wasser, das sich zwischen Haus und Magazin ansammelte, einen Abzug zu verschaffen. Einen Nagel in der einen und einen Hammer in der andern Hand, hatte Mac Nap in irgend einer Ecke stets Etwas auszubessern. So blieb man den ganzen Tag über beschäftigt, unbekümmert um die Wuth des Sturmes. Als die Nacht aber hereinbrach, schien dieser sich zu verdoppeln, so daß an Schlaf unmöglich zu denken war. Wie eben so viele Keulenschläge trafen die Windstöße das Haus, und manchmal bildete sich scheinbar eine Art Wasserhose zwischen dem Cap und dem Fort. Die Dielen krachten, die Balken schienen auseinander zu weichen, und man mußte befürchten, daß der ganze Bau in Stücke gehe. Für den Zimmermann war das eine Quelle fortwährender Sorgen, für seine Leute die Veranlassung, immer auf der Huth zu sein. Jasper Hobson lag weit weniger die Solidität des Hauses, als die des Bodens am Herzen, auf welchem es errichtet war. Der Orkan wurde so heftig, die Bewegung des Meeres so furchtbar, daß der Gedanke an eine Zerstörung des Eisfeldes nahe gelegt erschien. Unmöglich konnte das ungeheure, in seiner Dicke verminderte und an der Basis abgenagte Eisfeld dem unaufhörlichen Steigen und Fallen des Meerwassers lange Widerstand leisten. Zwar fühlten die Bewohner der Insel vom Seegange Nichts, doch unterlag sie den Wirkungen desselben nicht weniger. Es handelte sich demnach Alles in Allem um die Frage: wird die Insel bis zu dem Zeitpunkte, da sie gegen die Küste stößt, ausdauern oder vorher schon in Stücke gehen?

Jasper Hobson setzte Mrs. Paulina Barnett überzeugend auseinander, daß sie bis jetzt ausgehalten habe. Wenn das nicht der Fall gewesen und das Eisfeld schon in mehrere kleine Schollen getheilt wäre, so konnte das den Bewohnern von Fort-Esperance nicht verborgen bleiben, denn dasjenige Stück, welches sie selbst trug, wäre bei diesem Zustande des Meeres nicht unbewegt geblieben, und hätte dem Seegange unterlegen. Sein Schwanken und Stampfen hätte die, welche sich auf seiner Oberfläche befanden, geschüttelt, wie Passagiere auf einem Schiffe. Das war aber nicht der Fall. Auch bei Gelegenheit seiner täglichen Aufnahmen hatte Jasper Hobson niemals ein Zittern oder irgend welche Bewegung der Insel bemerkt, die so fest zu sein schien, als ob ihr Isthmus sie noch immer an das Festland bände.

Hatte ein Bruch auch noch nicht stattgefunden, so war ein solcher doch jeden Augenblick zu gewärtigen.

Jasper Hobson lag es vorzüglich am Herzen, zu wissen, ob die Insel, wenn sie außerhalb der Strömung dem Drucke des Nordostwindes gefolgt war, sich der Küste genähert hätte, worauf sich alle seine Hoffnung gründete.

Ohne Sonne, Mond und Sterne nützten auch die Instrumente nichts und konnte man die genaue Lage der Insel nicht aufnehmen. Näherte man sich der Erde, so würde man das erst wissen, wenn sie sichtbar wurde, und auch Lieutenant Hobson wäre zur richtigen Zeit, im Falle er nicht einen Stoß fühlte, ohne Kenntniß davon geblieben, wenn er sich nicht nach dem südlichen Theile dieses gefährlichen Gebietes begab. Die Orientation der Insel hatte sich bis jetzt nicht merklich geändert; noch immer wies Cap Bathurst nach Norden, eben so wie zur Zeit, als es einen vorspringenden Punkt des amerikanischen Festlandes ausmachte. Die Insel mußte also, wenn sie anlandete, mit ihrem südlichen Theile zwischen Cap Michael und dem Winkel, den sie vormals bei der Walroß-Bai bildete, anstoßen. Mit einem Worte, die Verbindung mit dem Lande mußte an der Stelle des früheren Isthmus statt haben. Es war also eben so nützlich als wichtig, zu wissen, was auf jener Seite vorging.

Lieutenant Hobson beschloß demnach, sich trotz des abscheulichen Wetters nach dem Cap Michael zu begeben, gleichzeitig aber auch seinen Leuten den wahren Grund dieser Auskundschaftung zu verheimlichen. Nur der Sergeant allein sollte ihn durch den tobenden Sturm begleiten.

An demselben Tage, am 31. August, ließ sich Jasper Hobson, um nach allen Seiten sicher zu sein, den Sergeanten auf sein Zimmer rufen.

»Sergeant Long, sagte er zu ihm, es ist unabweislich nöthig, daß wir uns ohne Verzug über die gegenwärtige Lage der Insel Victoria Gewißheit verschaffen oder doch zum Mindesten wissen, ob die Gewalt des Windes sie, wie ich vermuthe, dem Festlande Amerikas wieder zugetrieben hat.

– Das scheint mir in der That nöthig, Herr Lieutenant, entgegnete der Sergeant, und zwar je eher je besser.

– Wir müssen deshalb, fuhr Jasper Hobson fort, nach dem Süden der Insel gehen…

– Ich bin bereit, Herr Lieutenant.

– Ich weiß, Sergeant Long, daß Sie stets bereit sind, wenn es eine Pflicht zu erfüllen gilt. Doch sollen Sie nicht allein gehen, es ist besser, wenn wir unserer Zwei sind, um für den Fall, daß Land in Sicht wäre, unsere Gefährten zu unterrichten. Wir werden also zusammen gehen.

– Wann Sie wollen, Herr Lieutenant; noch diesen Augenblick, wenn es Ihnen passend erscheint.

– Heute Abend nach neun Uhr, wenn Alles im Schlafe liegt, brechen wir auf…

– Richtig, denn Alle würden uns begleiten wollen, antwortete Sergeant Long, und doch brauchen Jene den Grund nicht zu wissen, der uns so weit von der Factorei wegführt.

– Das ist auch meine Ansicht, erwiderte Jasper Hobson, und ich möchte Allen, so lange es angeht, das Beunruhigende dieser schrecklichen Lage ersparen. Sie nehmen Feuerzeug und Schwamm mit, um, wenn es nöthig würde, z.B. wenn sich Land im Süden zeigte, ein Signal geben zu können.

– Zu Befehl.

– Unser Zug wird voller Beschwerden sein, Sergeant.

– Das wird er, aber das thut auch nichts. Doch, Herr Lieutenant, unsere Reisende?

– Auch ihr wollte ich nichts mittheilen, antwortete Jasper Hobson, denn sie würde uns unfehlbar begleiten wollen.

– Und das ist unmöglich, meinte der Sergeant eine Frau kann nicht gegen einen solchen Sturm ankämpfen. Hören Sie, wie furchtbar er jetzt wüthet?«

Wirklich erzitterte das Haus in seinen Grundpfeilern.

»Nein! sagte Jasper Hobson, jene muthige Frau kann und wird uns nicht begleiten; Alles in Allem dürfte es aber doch gerathen sein, ihr unsere Absicht mitzutheilen. Sie muß unterrichtet sein, im Fall uns unterwegs ein Unglück zustieße…

– Gewiß, Herr Lieutenant, gewiß! antwortete Sergeant Long; ihr dürfen wir Nichts verhehlen, und für den Fall, daß wir nicht wiederkehrten…

– Also, um neun Uhr, Sergeant.

– Um neun Uhr!«

Mit militärischem Gruße zog sich Sergeant Long zurück.

Einige Augenblicke später unterhielt sich Jasper Hobson mit Mrs. Paulina Barnett und brachte sein Project zu deren Kenntniß. So wie er darauf bestand, so bestand die muthige Frau darauf, ihn zu begleiten und der Wuth des Sturmes mit ihm zu trotzen. Der Lieutenant, suchte sie nicht dadurch von diesem Gedanken abzubringen, daß er ihr die Gefahren der bevorstehenden Expedition schilderte, sondern betonte nur, daß ihre Gegenwart im Fort während seiner Abwesenheit unentbehrlich sei, und daß es von ihr abhange, dadurch, daß sie zurück blieb, ihm die so nöthige Ruhe des Geistes zu bewahren. Sollte sich ein Unglück ereignen, so wäre er mindestens sicher, daß seine thatkräftige Begleiterin zur Hand sei, um bei seinen Leuten seine eigene Stelle zu vertreten.

Mrs. Paulina Barnett verstand ihn und drängte nicht weiter. Jedenfalls bat sie Jasper Hobson, sich nicht unnütz einer Gefahr auszusetzen, indem sie ihm in’s Gedächtniß zurückrief, daß er der Chef der Factorei sei und sein Leben nicht ihm allein, sondern dem Wohl aller Uebrigen gehöre. Der Lieutenant versprach, so klug zu handeln, als es unter den gegebenen Verhältnissen möglich sein werde, doch wäre es unbedingt und ohne Verzug nöthig, den südlichen Theil der Insel in Augenschein zu nehmen. Am folgenden Tage sollte Mrs. Paulina Barnett den Anderen nur sagen, daß der Lieutenant und der Sergeant zum letzten Male vor Eintritt des Winters auf Kundschaft ausgezogen seien.

Siebentes Capitel.


Siebentes Capitel.

Der Lieutenant und der Sergeant verbrachten den Abend bis zur Schlafenszeit in dem großen Saale von Fort-Esperance. Alle hatten sich da versammelt, bis auf den Astronomen, der fortwährend in seiner Zelle hermetisch abgeschlossen blieb. Die Männer beschäftigten sich auf verschiedene Weise, reinigten die Waffen, besserten die Werkzeuge aus, oder schärften sie. Mrss. Mac Nap, Raë und Joliffe betrieben mit der guten Madge ihre Nadelarbeiten, und Mrs. Paulina Barnett endlich las mit lauter Stimme vor.

Oft wurde diese Lectüre nicht allein durch den Sturm, der wie ein Mauerbrecher an die Wände des Hauses donnerte, sondern auch durch das Geschrei des kleinen Kindes unterbrochen. Corporal Joliffe, welcher Letzteres besänftigen wollte, hatte damit vollauf zu thun. Seine Knie, die als Schaukelpferd dienen mußten, waren schon ganz lahm geworden, so daß sich der Corporal entschloß, seinen unermüdlichen kleinen Reiter auf den großen Tisch zu setzen, auf dem das Kind nach Herzenslust umher kollerte, bis es der Schlaf am Ende übermannte.

Um acht Uhr verrichteten Alle gemeinsam das gebräuchliche Gebet, die Lampen wurden verlöscht, und Jeder suchte seine gewohnte Schlafstätte.

Als Alle im Schlafe lagen, schritten Lieutenant Hobson und Sergeant Long geräuschlos durch den verlassenen großen Saal und gelangten nach dem Vorraume, wo Mrs. Paulina Barnett sie zu einem letzten Händedruck erwartete.

»Also auf morgen, sprach sie zu dem Lieutenant.

– Auf morgen, Madame, erwiderte Jasper Hobson, ja auf morgen … ohne Zweifel …

– Aber im Falle Sie ausbleiben? …

– Wird man uns ruhig erwarten müssen, entgegnete der Lieutenant, denn nach der nächtlichen Beobachtung des südlichen Horizontes, an dem ein Feuer sichtbar werden könnte, – wenn wir uns beispielsweise der Küste Nord-Georgias genähert hätten – liegt mir viel daran, am Tage unsere Lage genau festzustellen. Das könnte also schon vierundzwanzig Stunden in Anspruch nehmen. Vermögen wir aber Cap Michael noch vor Mitternacht zu erreichen, so werden wir morgen Abend im Fort zurück sein. Haben Sie also Geduld, Madame, und glauben Sie, daß wir uns nicht unklug einer Gefahr aussetzen werden.

– Wenn Sie aber, fragte die Reisende, morgen, in zwei Tagen noch nicht zurück gekehrt wären? …

– Dann kehren wir auch niemals zurück!« antwortete einfach Lieutenant Hobson.

Die Thür ging auf, und Mrs. Barnett schloß sie wieder hinter dem Lieutenant und seinem Begleiter. Unruhig und gedankenvoll schlich sie nach ihrem Zimmer zurück, wo Madge ihrer wartete.

Jasper Hobson und Sergeant Long überschritten den inneren Hof und mußten sich Einer an den Anderen halten, so fegte der Wind durch diesen; doch erreichten sie das äußere Thor und drangen muthig zwischen den Hügeln und dem östlichen Ufer der Lagune hinaus.

Ein unbestimmter Widerschein lag über dem Lande. Da seit dem Tage vorher Neumond war, so versprach auch dieser keine bessere Beleuchtung und machte der Nacht ihre furchtbare Dunkelheit, welche übrigens nur einige Stunden anhalten sollte, nicht streitig. Auch jetzt sah man noch nothdürftig, um sich zurecht zu finden.

Aber welcher Sturm und welcher Regenguß! Lieutenant Hobson und sein Begleiter waren zwar mit wasserdichten Stiefeln und gut anschließenden Wachstuchmänteln versehen, deren Capuchons ihren Kopf vollkommen verhüllten. So geschützt marschirten sie schnell, denn der Wind, den sie im Rücken hatten, trieb sie gewaltsam vorwärts und konnte man eher sagen, daß sie, wenn jener seine Heftigkeit verdoppelte, schneller gingen, als sie selbst wollten. Zu sprechen versuchten sie aber gar nicht, denn sie hätten sich, betäubt und außer Athem von dem Sturm, doch nicht hören können.

Jasper Hobson hatte nicht die Absicht, dem Ufer nachzugehen, dessen Unregelmäßigkeiten seinen Weg nur unnützer Weise verlängern und ihm der ganzen Gewalt des Windes, welcher dort natürlich kein Hinderniß fand, preisgeben mußten. So viel als möglich wollte er von Cap Bathurst bis zum Cap Michael eine gerade Linie einhalten, und trug deshalb einen kleinen Taschencompaß bei sich, um seiner Richtung sicher zu bleiben. So konnte der zurückzulegende Weg nur zehn bis elf Meilen betragen, und hoffte er ungefähr zu der Zeit an seinem Ziele anzulangen, wo die Dämmerung für wenige Stunden ganz verschwinden und die Nacht in voller Finsterniß herrschen würde.

Gejagt vom Winde und mit gekrümmtem Rücken, eingezogenem Kopfe und auf ihre Stöcke gestützt kamen der Lieutenant und sein Sergeant ziemlich geschwind vorwärts. So lange sie in der Nachbarschaft des Seeufers gingen, traf sie noch nicht die volle Gewalt des Sturmes und hatten sie verhältnißmäßig weniger zu leiden, da die Hügel und die Bäume, welche letztere bedeckten, sie einigermaßen schützten. Mit einer Wuth ohne Gleichen pfiff der Sturm durch die Aeste, immer nahe daran, einen lockeren Stamm zu entwurzeln und zu zersplittern, doch »brach« er sich selbst dabei. Selbst der Regen schlug nur zu feinem Staub zertheilt nieder. So wurden die Kundschafter auf einer Strecke von vier Meilen weniger geplagt, als sie selbst gefürchtet hatten.

Als sie aber das südliche Ende des Hochwaldes erreichten, da wo die Hügel auslaufen und der flache Erdboden, der ohne irgend welche Erhöhung oder Baumschutz war, vom Seewind überfegt wurde, hielten sie einen Augenblick an. Noch blieben sechs Meilen bis zum Cap Michael zu durchwandern.

»Das wird nun etwas härter hergehen! rief Lieutenant Hobson dem Sergeant Long in’s Ohr.

– Ja, erwiderte dieser, Wind und Regen werden uns um die Wette in’s Gebet nehmen.

– Ich fürchte sogar, daß sich zeitweilig etwas Hagel einmischen wird, fügte Jasper Hobson hinzu.

– Das ist immer noch besser, als Kartätschen! entgegnete gelassen der Sergeant. Uebrigens werden Sie, Herr Lieutenant, so gut wie ich, schon durch den Kugelregen gegangen sein, also in Gottes Namen vorwärts!

– Vorwärts, mein wackerer Soldat!«

Es war nun zehn Uhr; das letzte Dämmerlicht verschwand, als wäre es in Wasserdunst untergetaucht oder durch Wind und Regen ausgelöscht worden. Nur sehr verschwommen war noch die Spur eines Lichtscheines bemerkbar. Der Lieutenant schlug Feuer an und sah nach seiner Boussole, indem er diese unter seinem Ueberrocke hielt und mit einem Stückchen brennenden Schwammes über sie hinleuchtete; dann wagte er sich mit dem Sergeanten auf die ungeheure Ebene, welche weithin ohne jeden Schutz war, hinaus.

Im ersten Augenblick wurden Beide gewaltsam niedergeworfen; sie erhoben sich mühsam, klammerten sich Einer an den Andern und setzten sich, gebeugt wie zwei alte Männchen, schnell in Gang.

Der Sturm war wahrhaft prächtig in seinem Schrecken! Zerrissene Fetzen von Nebel, ein wahres Gemisch von Luft und Wasser, jagten über die Erde. Sand und Erde flogen wie Kartätschen umher, und an dem Salze, welches sich an ihre Lippen ansetzte, erkannten die Wanderer, daß das Wasser des Meeres mindestens aus einer Entfernung von zwei bis drei Meilen in Staubform bis zu ihnen hergetragen wurde.

In den seltenen und kurzen Pausen des Sturmes hielten sie an und schöpften Athem. Der Lieutenant corrigirte dann so gut als möglich unter Abschätzung des zurückgelegten Weges ihre Richtung, und wieder gingen sie weiter.

Mit eintretender Nacht nahm die Gewalt des Sturmes aber nur noch zu. Beide Elemente, die Luft und das Wasser, schienen ganz ineinander aufzugehen. Sie bildeten eine jener furchtbaren Tromben, welche Häuser umstürzen und Wälder entwurzeln, und auf die die Schiffer mit Kanonen feuern. Man hätte wirklich glauben können, daß der ganze, seinem Bette entrissene Ocean über die schwimmende Insel herstürze.

Jasper Hobson stellte sich auch die gegründete Frage, wie das Eisfeld, welches sie trug, einer solchen Wasserfluth Widerstand leisten könne und bei dem furchtbaren Seegange noch nicht an hundert Stellen gebrochen sei. In der Ferne hörte man das Meer rauschen. Da blieb Sergeant Long, der dem Lieutenant um einige Schritte voraus war, plötzlich stehen und stieß nur die wenigen Worte heraus:

»Nicht dorthin!

– Warum nicht?

– Das Meer! …

– Wie? Das Meer? Wir sind doch jetzt noch nicht am südwestlichen Ufer?

– Da, sehen Sie selbst, Herr Lieutenant.«

Wirklich erschien in der Dunkelheit eine breite Wasserfläche, und wüthend brachen sich die Wellen zu Füßen des Lieutenants.

Jasper Hobson schlug noch einmal Feuer und beobachtete mittels eines neuen Stückchen Schwammes aufmerksam die Nadel seiner Bussole.

»Nein, sagte er, das Meer liegt weiter nach links. Noch haben wir den Hochwald nicht durchschritten, der uns vom Cap Michael trennt.

– Nun, dann ist das …

– Ein neuer Bruch der Insel, fiel Lieutenant Hobson ein, der sich gleich seinem Begleiter hatte auf den Boden werfen müssen, um dem Ungestüm des Windes zu widerstehen. Entweder hat sich ein großer Theil der Insel losgerissen und treibt nun fort, oder es ist das nur ein Einschnitt, welchen wir umgehen können. Vorwärts also!«

Jasper Hobson und der Sergeant erhoben sich und wandten sich nach rechts, indem sie der Wasserlinie folgten, welche zu ihren Füßen schäumte. So gingen sie wohl zehn Minuten lang, immer mit der Furcht, von aller Verbindung mit dem südlichen Theile der Insel abgeschnitten zu sein. Da verstummte die Brandung, welche zu dem Lärmen des Sturmes sonst noch hinzu gekommen war.

»Das ist nur ein Einschnitt, sagte Lieutenant Hobson seinem Sergeanten in’s Ohr. Kehren wir um!«

Auf’s Neue schlugen sie die Richtung nach Süden ein. Gewiß setzten sich die muthigen Männer einer Gefahr aus, doch trotzdem sie das Beide recht wohl wußten, theilten sie ihre Gedanken einander doch nicht mit.

In der That konnte dieser Theil der Insel Victoria, über welchen sie jetzt schritten, und der schon auf eine weite Strecke aus der Ordnung geschoben war, sich jeden Augenblick gänzlich davon loslösen. Vertiefte sich der Einschnitt unter dem Zahn der Brandung noch weiter, so wurden sie mit ihm unfehlbar verschlagen. Sie zauderten aber nicht, sondern drangen durch die Finsterniß, ohne zu fragen, ob ihnen ein Weg zur Rückkehr übrig sein würde.

Welche beunruhigende Gedanken lasteten da auf Jasper Hobson’s Seele. Konnte er jetzt noch hoffen, daß die Insel bis zum Winter zusammen halten werde? War jenes nicht der Anfang des unvermeidlichen Bruches? Wenn sie jetzt der Wind nicht gegen die Küste trieb, war sie dann nicht verurtheilt, bald zu Grunde zu gehen, zu schmelzen und zu versinken? Welch eine trostlose Zukunft und welche Aussicht verblieb dann noch den unglücklichen Bewohnern dieses Eisfeldes?

Niedergeschmettert und zerschlagen von der Wucht der Windstöße verfolgten die beiden muthigen Männer, die nur das Gefühl einer zu erfüllenden Pflicht noch aufrecht erhielt, unaufhaltsam ihren Weg. So kamen sie an den Saum jenes weiten Hochwaldes, der an Cap Michael grenzte. Dieser war zu durchschreiten, um möglichst bald das Ufer zu erreichen. Jasper Hobson und Sergeant Long begaben sich also hinein, trotz der tiefsten Finsterniß, trotz des Höllengetöses des Sturmes in den Tannen und Birken. Alles krachte rings um sie und die abgerissenen Zweige schlugen ihnen in’s Gesicht. Jeden Augenblick liefen sie Gefahr, durch einen umstürzenden Baum erschlagen zu werden, oder stießen sich an den schon gefallenen Stämmen, die in der Dunkelheit nicht zu bemerken waren. Dennoch gingen sie jetzt nicht mehr auf gut Glück weiter, denn das Rauschen des Meeres leitete ihre Schritte durch das Gehölz. Sie vernahmen den furchtbaren Rückprall der Wogen, die sich mit schrecklichem Geräusche brachen, und mehr als einmal fühlten sie den dünner gewordenen Boden unter ihren Füßen zittern. Endlich kamen sie Hand in Hand, um sich nicht zu trennen, sich unterstützend und Einer dem Anderen aufhelfend, wenn sie gegen ein Hinderniß stießen, an den Küstenrand auf der anderen Seite des Waldes.

Dort riß sie aber ein Wirbelwind von einander; sie wurden mit Gewalt getrennt und zur Erde geschleudert.

»Sergeant! Sergeant! Wo seid Ihr? rief Jasper Hobson mit aller Kraft seiner Lungen.

– Hier, Herr Lieutenant!« antwortete der Sergeant.

Auf dem Boden hin kriechend suchten sich Beide wieder zu vereinigen, doch schien es, als ob eine übermächtige Hand sie an die Stelle banne. Nach unerhörten Anstrengungen näherten sie sich endlich und banden sich, um einer Wiederholung eines solchen Zufalls vorzubeugen, mit den Gürteln an einander; dann krochen sie auf dem Sande hin, um eine leichte Bodenerhöhung zu gewinnen, welche eine Gruppe dürftiger Tannen krönte. Unter dem geringen Schutze derselben gruben sie endlich ein Loch auf, in welchem sie erschöpft und athemlos eine Zuflucht suchten.

Jetzt war es um elf Uhr Nachts.

Einige Minuten verharrten Jasper Hobson und sein Begleiter schweigend. Die Augen halb geschlossen, konnten sie sich nicht mehr rühren, und eine Art Halblähmung oder Schlafsucht ergriff sie, während der tobende Sturm über ihren Köpfen die Tannen schüttelte, welche wie die Knochen eines Skelettes klapperten. Mit aller Anstrengung widerstanden sie dem Schlafe, und erquickten sich durch einige Schlucke Branntwein aus der Kürbisflasche des Sergeanten.

»Wenn nur diese Bäume aushalten! sagte Lieutenant Hobson.

– Und wenn nur unser Loch nicht mit ihnen dahingeht! fügte Sergeant Long hinzu, der sich mit dem Ellenbogen auf den Sand stützte.

– Da wir nun aber einmal hier sind, fuhr Jasper Hobson fort, nur wenig Schritte vom Cap Michael, und hergekommen sind, um Umschau zu halten, so wollen wir es auch thun. Sergeant Long, ich habe eine Ahnung, daß wir nicht mehr weit vom festen Lande sind, freilich ist das nur eine Ahnung.«

Von der Stelle, wo sie sich befanden, hätten ihre Blicke zwei Drittel des südlichen Horizontes umfassen können, wenn dieser nur sichtbar gewesen wäre. Eben jetzt herrschte aber vollkommene Finsterniß und mußten sie, sobald kein Feuer aufleuchtete, wohl den folgenden Morgen abwarten, um sich von dem Vorhandensein einer Küste zu überzeugen, vorausgesetzt, daß der Wind sie weit genug nach Süden getrieben hatte. Fischerei-Anstalten sind nämlich, – wie Lieutenant Hobson schon der Mrs. Barnett versicherte – in dieser Gegend des nördlichen Amerika, welches zu Neu-Georgia gehört, nicht gerade selten. Auch trifft man hier auf zahlreiche Etablissements, wo die Eingeborenen nach Mammuth-Zähnen suchen, denn diese Seegegenden bergen eine große Anzahl versteinerter Skelette jener vorweltlichen Kolosse. Einige Grade tiefer erhebt sich Neu-Archangel, die Verwaltungsstation des ganzen Archipels der Aleuten und Hauptort des russischen Amerika. Die Jäger besuchen aber fleißiger die Küste des Eismeeres, vorzüglich seitdem die Hudsons-Bai-Compagnie die Jagdgebiete, welche früher Rußland ausbeutete, erpachtet hat. Ohne das Land selbst zu kennen, war Jasper Hobson doch mit den Gewohnheiten der Agenten vertraut, welche es zu dieser Jahreszeit besuchten, und hatte alle Gründe zu der Annahme, dort Landsleute, vielleicht Collegen anzutreffen, und wenn nicht diese, dann doch nomadisirende Indianer, welche längs der Küste hinzuziehen pflegen.

Hatte denn Jasper Hobson aber ein Recht, zu glauben, daß die Insel Victoria nach der Küste zu getrieben sei?

»Ja, und hundertmal ja! wiederholte er dem Sergeanten. Viele Tage wehte dieser Nordostwind mit der Kraft eines Orkans. Wohl weiß ich, daß unsere sehr flache Insel ihm nur wenig Angriffspunkte bietet, dennoch müssen ihre Hügel, ihre Wälder, welche die Stelle der Segel vertreten, der Wirkung eines solchen Luftstromes unterliegen. Selbst das Meer, welches uns trägt, entgeht nicht ganz diesem Einflusse, und sicher verlaufen jene großen Wogen nach der Küste. Mir scheint es demnach unmöglich, daß wir aus der Strömung, die uns nach Westen führte, nicht heraus gekommen, unmöglich, daß wir nicht nach Süden getrieben worden wären. Bei unserer letzten Aufnahme waren wir nur zweihundert Meilen vom Lande entfernt, und seit sieben Tagen …

– Ihre Schlüsse sind gewiß ganz richtig, Herr Lieutenant, antwortete Sergeant Long; haben wir die Hilfe des Windes, so haben wir auch die Hilfe Gottes, der es nicht wollen kann, daß so viele Unglückliche verderben; darauf setze ich alle meine Hoffnung!«

So sprachen Jasper Hobson und der Sergeant in Sätzen, die das Toben des Sturmes oft unterbrach. Ihre Blicke suchten die dichte Finsterniß zu durchdringen, welche die durch den Orkan umhergetriebenen Nebelmassen noch undurchsichtiger machten.

Gegen ein Uhr Morgens legte sich der Sturm auf wenig Minuten. Nur das Donnern des furchtbar aufgeregten Meeres schwieg nicht. Die Wogen stürzten mit entsetzlicher Gewalt über einander.

Plötzlich ergriff Jasper Hobson den Arm seines Begleiters und rief:

»Sergeant, hören Sie?

– Was?

– Das Geräusch des Meeres?

– Ja, Herr Lieutenant, antwortete Sergeant Long, der gespannter aufhorchte, und seit einigen Augenblicken scheint mir das Tosen der Wellen …

– Nicht mehr dasselbe zu sein … nicht wahr, Sergeant? Hören Sie … hören Sie… das klingt wie Brandung … man sollte meinen, daß das Wasser sich an Felsen breche!« …

Jasper Hobson und der Sergeant lauschten mit gespanntester Aufmerksamkeit. Gewiß war das nicht mehr das eintönige und dumpfe Geräusch der Wellen, die in offener See einander treffen, sondern es klang, wie das Rollen flüssiger Massen, welche gegen einen harten Körper geworfen werden, wenn es das Echo der Felsen wieder giebt. Am ganzen Ufer der Insel fand sich aber nicht ein einziger Felsen, und pflanzte diese mit ihrem Boden aus Sand und Erde den Schall nicht so kräftig fort.

Hatten sich die beiden Lauscher getäuscht? Der Sergeant suchte sich zu erheben, um besser hören zu können, wurde aber von dem Sturmwinde, der sich auf’s Neue erhob, sofort wieder umgeworfen. Die kurze Pause war vorüber, und ununterscheidbar brauste der Lärmen wieder durch einander. Aber wer stellt sich nicht die Angst der beiden Beobachter vor, wenn er bedenkt, daß sie, zurückgezogen in ihre Vertiefung, den Sand unter ihren Füßen sinken, und die Tannen bis in ihre Wurzeln erzittern fühlten! Und trotzdem blieb ihr Blick auf den Süden geheftet. Ihr ganzes Leben concentrirte sich jetzt in diesem Blicke, und ihre Augen stierten in die Finsterniß, welche kaum die ersten Strahlen der Morgenröthe färbten.

Plötzlich, etwas vor zwei ein halb Uhr Morgens, rief der Sergeant:

»Ich habe Etwas gesehen!

– Was?

– Ein Feuer!

– Ein Feuer?

– Ja! … Dort, in dieser Richtung!«

Der Sergeant wies mit der Hand nach Südwesten. Sollte er sich getäuscht haben? Nein, denn Jasper Hobson gewahrte auch einen unbestimmten Lichtschein in der angegebenen Richtung.

»Ja! rief er freudig, ja, Sergeant! Ein Feuer! Das ist das Land!

– Wenn dieses Licht nicht von einem Schiffe herrührt! entgegnete Sergeant Long.

– Bei einem solchen Unwetter ein Schiff auf offener See! Das ist unmöglich. Nein, nein! Das Land ist dort, sage ich Ihnen, und nur einige Meilen von unserer Insel entfernt!«

Jetzt fehlte es aber an einer Fackel, um diese zu entzünden; nur die Tannen standen über ihnen, welche der Sturm beugte.

»Ihr Feuerzeug, Sergeant«, sagte Jasper Hobson.

Der Sergeant zündete etwas Schwamm an und kroch auf der Erde bis zu der Baumgruppe. Der Lieutenant folgte ihm. Dürres Holz fehlte nicht. Sie häuften es um die Wurzeln eines Baumes, setzten es in Brand, und mit Hilfe des Windes ergriff die Flamme die ganze Baumgruppe.

»O, rief Jasper Hobson, da wir jenes Feuer sehen konnten, wird man auch uns bemerken!«

Die Tannen brannten mit hellem Scheine und erzeugten eine lange, rauchende Flamme, wie etwa eine riesige Fackel. Das Harz knisterte in den alten Stämmen, welche schnell verzehrt wurden. Bald ward das Feuer stiller und stiller und – Alles verlosch.

Jasper Hobson und der Sergeant warteten, ob ein neues Feuer dem ihrigen antworten werde …

Zehn Minuten beobachteten sie vergeblich, und suchten den Punkt wieder aufzufinden, woher der erste Lichtschein gekommen war; schon verzweifelten sie irgend welches Signal zu erhalten, als sich plötzlich ein Schrei vernehmen ließ, ein deutlicher, verzweifelter Schrei aus dem Meere.

Jasper Hobson und der Sergeant glitten bis zu dem Ufer hinab … kein Laut war mehr zu hören.

Seit einigen Minuten flammte aber das Morgenroth weiter und weiter auf. Auch der Sturm schien mit dem Wiedererscheinen der Sonne an Heftigkeit zu verlieren. Bald wurde es hell genug, um den Horizont übersehen zu können.

Da war aber kein Land in Sicht, und Himmel und Meer verschwammen noch immer in derselben Linie am Horizonte.

Achtes Capitel.


Achtes Capitel.

Den ganzen Morgen verbrachten Jasper Hobson und Sergeant Long noch in dieser Gegend der Küste. Das Wetter hatte sich wesentlich geändert. Es regnete fast gar nicht mehr, dagegen war der Wind außergewöhnlich schnell nach Südosten umgesprungen, ohne dabei an Heftigkeit einzubüßen. Dieser sehr unangenehme Umstand vergrößerte nur Lieutenant Hobson’s Unruhe, da er nun jede Hoffnung, auf das Festland zu treffen, aufgeben mußte.

In der That konnte dieser Südostwind die umherirrende Insel nur mehr und mehr von jenem entfernen, und sie den so gefürchteten Strömungen, welche nach dem Norden des Arktischen Oceans verlaufen, zuführen.

Hatte man denn aber überhaupt eine Gewißheit darüber, daß die Insel in jener Schreckensnacht der Küste nahe gewesen, oder beruhte diese Annahme nur auf einer nicht in Erfüllung gegangenen Ahnung Jasper Hobson’s? Die Luft war ja jetzt ziemlich klar und auf mehrere Weilen hin durchsichtig, dennoch aber keine Spur eines Landes zu sehen. Mußte man nicht auf die Ansicht des Sergeanten zurück kommen, daß während der Nacht ein Fahrzeug der Insel in Sicht vorbei gekommen, eine Schiffslaterne einen Augenblick sichtbar gewesen sei, und der gehörte Schrei von einem verunglückten Seemann hergerührt habe? Und würde dieses Schiff nicht wahrscheinlich selbst bei dem furchtbaren Sturme untergegangen sein?

Auf jeden Fall traf man indeß auf keine Schiffstrümmer.

Der Ocean, über den der Landwind jetzt in entgegengesetzter Richtung brauste, thürmte bergehohe Wellen auf, denen ein Fahrzeug nur sehr schwer mochte widerstehen können.

»Nun, Herr Lieutenant, sagte der Sergeant, zu einem Entschlüsse werden wir kommen müssen.

– Ja freilich, Sergeant, antwortete Jasper Hobson und strich mit der Hand über die Stirn, und zwar müssen wir auf unserer Insel ausharren, um den Winter zu erwarten. Er allein vermag uns zu retten.«

Der Mittag war herangekommen. Da Jasper Hobson jedenfalls vor dem Abend in Fort-Esperance zurück sein wollte, schlug man nun den Weg nach Cap Bathurst ein, wobei die Wanderer wiederum vom Winde im Rücken unterstützt wurden.

Nicht unberechtigt erfüllte sie die Frage mit großer Unruhe, ob sich die Insel bei diesem Kampfe der Elemente nicht in zwei Theile getrennt, ob sich also der in vergangener Nacht beobachtete Riß durch ihre ganze Breite fortgesetzt habe. Waren sie vielleicht jetzt schon von ihren Freunden geschieden? Der Lage der Dinge nach mußten sie auf Alles gefaßt sein.

Bald kamen sie an den die Nacht vorher durchschrittenen Hochwald. In großer Menge lagen da die Bäume auf der Erde, die einen mit geknicktem Stamme, die anderen sammt den Wurzeln aus dem Boden, dessen dünne Erdschicht ihnen keinen genügenden Widerhalt bot, herausgerissen. Blätterlos starrten ihnen die übrigen wie grinsende Silhouetten entgegen, und klapperten lärmend im Winde.

Zwei Meilen über diesen verwüsteten Wald hinaus trafen Lieutenant Hobson und der Sergeant auf den erwähnten Spalt, dessen Größenverhältnisse sie in der Dunkelheit nicht hatten wahrnehmen können. Er stellte einen gegen fünfzig Fuß breiten Bruch dar, der das Ufer halbwegs zwischen Cap Michael und dem ehemaligen Barnett-Hafen theilte, und eine Art Bucht bildete, die etwa anderthalb Meilen in das Land einschnitt. Wenn ein neuer Sturm das Meer aufwühlte, war zu erwarten, daß der Riß sich vergrößern und erweitern werde.

Bei Annäherung an die Küste sah Jasper Hobson eben einen gewaltigen Eisblock sich von der Insel loslösen und in die Weite treiben.

»Ja wohl, murmelte der Sergeant Long, darin liegt die Gefahr!«

Mit raschem Schritte wandten sich Beide nach Westen um den großen Einschnitt herum, und von dessen Ende aus direct auf Fort-Esperance zu.

Auf dem Wege kam ihnen keine weitere Veränderung zu Gesicht. Um vier Uhr erreichten sie das Palisadenthor, und trafen ihre Genossen bei den gewohnten Beschäftigungen an.

Gegen seine Leute sprach sich Jasper Hobson dahin aus, daß er zum letzten Male vor Eintritt des Winters nach Spuren der von Kapitän Craventy versprochenen Sendung habe suchen wollen, das aber auch diesmal fruchtlos gewesen sei.

»Ich glaube wohl, Herr Lieutenant, ließ sich Marbre vernehmen, daß wir für dieses Jahr unbedingt darauf verzichten müssen, unsere Kameraden aus Fort-Reliance zu sehen.

– Ganz meine Meinung, Marbre«, antwortete ihm Jasper Hobson, und zog sich in den allgemeinen Saal zurück.

Mrs. Paulina Barnett und Madge wurden von den beiden merkwürdigsten Ereignissen der kleinen Reise des Lieutenants, jenem Aufblitzen eines Lichtes und der Wahrnehmung eines Schreies, unterrichtet. Jasper Hobson und der Sergeant bekräftigten noch ganz besonders, daß ihnen in Bezug auf Beides nicht etwa die erhitzte Einbildung nur einen Streich gespielt habe. Das Feuer war wirklich gesehen, der Schrei unzweifelhaft vernommen worden. Nach reiflichster Ueberlegung einigte man sich dahin, daß gewiß ein nothleidendes Schiff an der Insel vorüber gekommen, diese aber nicht, nach der früheren Voraussetzung, nahe dem amerikanischen Festlande gewesen sei.

Mit dem Südostwinde heiterte sich indeß der Himmel vollkommen auf und befreite sich die Atmosphäre von den Dünsten, welche sie bis dahin trübten. Jasper Hobson konnte darauf rechnen, am nächsten Tage eine Lagenbestimmung auszuführen.

Wirklich wurde die Nacht ziemlich kalt und fiel ein feinflockiger Schnee, welcher die ganze Insel leicht bedeckte. Beim Erwachen am anderen Morgen begrüßte der Lieutenant dieses erste Vorzeichen des ersehnten Winters.

Jetzt war der 2. September. Als der Himmel sich nach und nach ganz entwölkte, brach die Sonne wieder hindurch. Zu Mittag wurde eine gelungene Beobachtung bezüglich der Breite, und gegen zwei Uhr eine Berechnung der Stundenwinkel vorgenommen.

Diese Beobachtungen ergaben: Für die Breite 70º 57′; für die Länge 170º 30′.

Trotz der Macht des Orkanes hatte sich die Insel also nahezu in derselben Parallele gehalten und ihre Lage nur in Folge der Strömung gegen Westen hin verschoben. Nun befand sie sich gegenüber der Behrings-Straße, jedoch mindestens vierhundert Meilen nördlich vom Ostcap und dem Cap Prince-de-Gallas, welche die engste Stelle der Straße bezeichnen.

Diese neue Lage gab sehr ernsthaft zu denken. Mit jedem Tage näherte sich die Insel jenem großen Kamtschatka-Strome, der, wenn er sie einmal ergriff, sie weit nach Norden verschlagen mußte. Binnen Kurzem stand die Entscheidung ihres Schicksals bevor: entweder verharrte sie zwischen den beiden gegnerischen Strömen unbewegt bis zum Festwerden des umgebenden Meeres, oder – sie verlor sich in den Einöden der hyperboräischen Regionen.

Jasper Hobson, der sehr peinlich erregt seine Unruhe doch vor Anderer Blicken verbergen wollte, zog sich in sein Zimmer zurück und erschien den ganzen Tag nicht wieder. Die Karten vor den Augen setzte er seine ganze Erfindungsgabe, seinen ganzen praktischen Verstand daran, eine Lösung zu finden.

Die Temperatur sank weiter um einige Grade, und die abendlichen Nebel des südöstlichen Horizontes schlugen sich während der Nacht als Schnee nieder. Am anderen Tage maß die weiße Decke schon zwei Zoll – endlich kam der Winter.

An diesem Tage, den 3. September, beschloß Mrs. Paulina Barnett, den Küstenstrich zwischen Cap Bathurst und dem Cap Eskimo auf einige Meilen hin zu durchstreifen. Sie wollte die Veränderungen in Augenschein nehmen, die der Sturm der eben vergangenen Tage dort veranlaßt haben könnte. Jasper Hobson hätte, wenn sie diesem von ihrer Absicht Kunde gab, sich gewiß zu ihrer Begleitung angeschlossen. Da sie ihn aber bei seinen Ansichten über jene Veränderungen belassen wollte, entschied sie sich, nur in Gesellschaft Madge’s aufzubrechen.

Eine Gefahr schien ja nicht zu besorgen. Die einzigen wirklich zu fürchtenden Thiere, die Bären, hatten die Insel seit dem Erdbeben verlassen. Zwei Frauen konnten sich demnach, ohne den Vorwurf der Unklugheit zu verdienen, wohl auf einen nur für wenige Stunden berechneten Ausflug in die Umgebungen des Forts hinaus wagen.

Madge ging ohne Widerrede auf Mrs. Paulina Barnett’s Vorschlag ein, und Beide stahlen sich, ohne Jemand davon Kenntniß zu geben, mit dem einfachen Schneemesser, einer Kürbisflasche und einer Reisetasche ausgerüstet, schon um acht Uhr Morgens davon, stiegen den Abhang des Caps hinab und lenkten ihre Schritte nach Westen.

Schon glitt die Sonne langsam über den Horizont hin, denn selbst bei ihrer Culmination erhob sie sich nur auf wenige Grade. Ihre schrägen Strahlen waren aber hell, eindringend und schmolzen an Stellen, die sie unmittelbar beschienen, noch den leichten Schneeteppich weg.

Zahlreiche Vögel aller Art flatterten in Schwärmen umher und belebten die Küste. Die Luft hallte von ihrem Geschrei wieder, wenn sie, je nachdem das süße oder salzige Wasser sie anlockte, unaufhörlich zwischen der Lagune und dem Meere hin- und herflogen.

Mrs. Paulina Barnett machte auch die Bemerkung, wie zahlreich die verschiedensten Pelzthiere sich in der nächsten Nachbarschaft von Fort-Esperance aufhielten. Ohne Mühe konnte die Factorei wohl ihre Magazine füllen; aber zu welchem Zwecke wäre das jetzt geschehen?

Diese unschuldigen Thiere, welche zu wissen schienen, daß ihnen kein Jäger nachstelle, gingen und kamen mit zunehmender Vertraulichkeit bis an die Palissaden heran. Ihr Instinct mochte ihnen verrathen haben, daß sie auf dieser Insel gefangen seien, gefangen wie deren Bewohner, und daß Alle ein gemeinschaftliches Schicksal theilten. Höchst eigenthümlich erschien es aber, und war übrigens Mrs. Paulina von Anfang an nicht entgangen, daß Marbre und Sabine, zwei so leidenschaftliche Jäger, dem Befehle des Lieutenants, die Pelzthiere jetzt ausnahmslos zu schonen, so ohne jede Uebertretung nachkamen und nicht die geringste Lust zeigten, das kostbare Wild mit einem Büchsenschusse zu begrüßen. Füchse und Andere entbehrten freilich noch ihres Winterpelzes, was ihren Werth sehr beträchtlich herabsetzte, aber doch genügte dieser Grund wohl kaum, die auffallende Lustlosigkeit der beiden Nimrods zu erklären.

Im wackeren Zuschreiten faßten Mrs. Paulina Barnett und Madge bei der Unterhaltung über ihre ganz fremdartige Lage den sandigen Saum der Küste immer aufmerksam in’s Auge. Die Verwüstungen, welche das Meer in jüngster Zeit verursacht hatte, waren sehr merkbar. Da und dort bewiesen frische Schollen das Vorhandensein neuer Brüche. Das an manchen Stellen abgenagte und flachere Ufer zeigte eine beunruhigende Neigung zum Versinken, und schon rollten da lange Wellen darüber hin, wo jenen sonst ein steiler Uferrand ein Halt geboten hatte. Offenbar waren einige Theile der Insel gesunken und schwebten jetzt mit der Wasserfläche nur noch in gleicher Höhe.

»Meine liebe Madge, sprach da Mrs. Paulina Barnett unter Hinweisung auf die ausgedehnten Bodenstrecken, über welche hin die Wellen jetzt plätschernd ausliefen, unsere Lage ist seit jenem verderblichen Sturme weit übler geworden! Gewiß erniedrigt sich das allgemeine Niveau der Insel nach und nach. Unsere Rettung bildet nun blos noch eine Zeitfrage. Wird sich der Winter frühzeitig genug einstellen? Hierauf beruht Alles.

– Der Winter wird kommen, meine Tochter, erwiderte Madge mit ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen. Schon fiel zwei Nächte über Schnee. Da oben am Himmel wird jetzt die Kälte geboren, und ich glaube es bestimmt, daß Gott sie uns zu Hilfe sendet.

– Du hast recht, Madge, antwortete die Reisende, wir müssen den Glauben haben. Wir Frauen, die wir dem natürlichen Grunde und Laufe der Dinge nicht nachgehen, dürfen da nicht verzweifeln, wo es die bestunterrichteten Männer thun, und darin liegt eine Gnade für uns! Leider ist unser Lieutenant dieser nicht theilhaftig. Er kennt das Warum der Dinge, er überlegt und rechnet, er mißt die Zeit, welche uns noch bleibt, und schon sehe ich ihn nahe daran, jede Hoffnung aufzugeben!

– Doch ist er aber ein thatkräftiger Mann, in dem ein muthiges Herz klopft, entgegnete Madge.

– Gewiß, fügte Mrs. Paulina Barnett hinzu; und wenn unser Heil noch von Menschenhand zu erhoffen ist, so wird er uns retten!«

Um neun Uhr hatten die beiden Frauen eine Entfernung von vier Meilen zurück gelegt. Oft mußten sie von dem Wege am Ufer nach dem Innern der Insel zu abweichen, um die schon überschwemmten niedrigen Theile des Erdbodens zu umwandern. An gewissen Stellen waren die Spuren des Meeres wohl eine halbe Meile landeinwärts noch zu erkennen, wo die Dicke des Eisfeldes also ganz besonders vermindert sein mochte. Es stand demnach zu befürchten, daß es an mehreren Punkten ganz nachgeben und deshalb neue Buchten und Baien an diesem Küstenstriche bilden würde.

Je weiter sie sich von Fort-Esperance entfernten, desto mehr bemerkte Mrs. Paulina Barnett auch eine Abnahme in der Zahl der Pelzthiere. Diese armen Geschöpfe fühlten sich offenbar in der Nähe der Menschen, welche sie doch bis dahin flohen, sicher, und aus diesem Grunde drängten sie sich in der Umgebung der Factorei zusammen. Eigentliche wilde Thiere, die ihr Instinct nicht zur rechten Zeit von dieser gefährlichen Insel vertrieben hatte, mußten sehr selten sein. Doch beobachteten Mrs. Paulina und Madge einzelne, fern in der Ebene umherschweifende Wölfe. Diese kamen übrigens nicht heran, sondern verschwanden bald hinter den kleinen Hügeln im Süden der Lagune.

»Was wird zuletzt, fragte Madge, aus diesen Thieren, welche auf der Insel zugleich mit uns gefangen sind, werden, und was mögen sie beginnen, wenn ihnen einst das Futter mangelt, und der Winter sie aushungert?

– Aushungert! Meine gute Madge, beruhigte Mrs. Barnett, o glaube mir, daß wir von diesen Nichts zu fürchten haben. Ihnen wird es nicht an Nahrung fehlen, ihnen fallen alle jene Marder, Polarhasen und Hermeline, deren Leben wir jetzt schonen, zur sicheren Beute. Vor einem Angriffe durch Jene brauchen wir nicht zu zittern. Nein! Hierin liegt keine Gefahr für uns! Der zerbrechliche Boden birgt sie, der einst bersten wird, und jeden Augenblick schon unter unseren Füßen in Stücke gehen kann. Da sieh, wie sich hier das gierige Meer in das Innere des Landes einfrißt. Schon bedeckt es einen Theil der Ebene, den sein verhältnißmäßig wärmeres Wasser nun von oben und von unten abnagt. Wenn der Frost ihm nicht entgegen tritt, wird es sich bald mit der Lagune vereinigen, und wir verlieren unseren See, wie wir Fluß und Hafen schon eingebüßt haben.

– Dieser Umstand, sagte Madge, dürfte für uns aber zum unheilbaren Unglück sein.

– Und warum das, Madge? fragte Mrs. Paulina Barnett, und sah ihre Begleiterin erwartungsvoll an.

– Nun, weil wir damit alles süßen Wassers beraubt würden.

– O, meine brave Madge, Süßwasser wird uns niemals ausgehen. Regen, Schnee, Eis, Eisberge des Oceans, ja, selbst der Boden der Insel, die uns trägt, – Alles besteht aus süßem, genießbarem Wasser. Nein, ich wiederhole Dir’s, auch hierin beruht für uns nicht die Gefahr.«

Gegen zehn Uhr befanden sich Mrs. Paulina Barnett und Madge in der Höhe des Cap Eskimo, aber mindestens zwei Meilen im Innern der Insel, da sie dem Ufer nicht nahe zu folgen im Stande waren. Die von einem so weiten und durch die unvermeidlichen Umwege noch verlängerten Marsche etwas ermüdeten Frauen beschlossen vor der Rückkehr nach Fort-Esperance ein wenig auszuruhen. An diesem Punkte erhob sich ein kleines Gehölz von Birken und Strauchwerk, das einen niedrigen Hügel krönte. Eine von gelblichem Moose überwachsene, und durch die Sonnenstrahlen vom Schnee befreite Stelle bot sich ihnen bei ihrem frugalen Mahle als geeigneter Ruheplatz.

Eine halbe Stunde später schlug Mrs. Paulina Barnett vor, erst den jetzigen Zustand des Cap Eskimo zu überschauen, bevor sie sich östlich, nach der Factorei zurück wendeten. Es drängte sie, zu wissen, ob dieser Landvorsprung den Angriffen des Seesturmes widerstanden habe oder nicht. Madge erklärte sich bereit, ihrer »Tochter« überallhin zu folgen, wohin es dieser zu gehen beliebte, und erinnerte sie nur, daß zwischen ihnen und Cap Bathurst eine Entfernung von acht bis neun Meilen läge, sowie, daß man Lieutenant Hobson nicht durch eine zu lange Abwesenheit beunruhigen dürfe.

Dennoch bestand Mrs. Paulina Barnett, so als ob eine Ahnung sie dahin zöge, auf ihrem Gedanken, und wie man bald sehen wird, zum größten Glücke. Dieser Umweg konnte übrigens die ganze Dauer des Ausflugs nur um eine halbe Stunde verlängern.

Die beiden Frauen erhoben sich also und gingen aus das Cap Eskimo zu.

Noch hatten sie jedoch keine Viertelmeile zurück gelegt, als die Reisende plötzlich stehen blieb, und Madge sehr regelmäßige Fußspuren zeigte, welche scharf im Schnee abgedrückt waren. Dieselben mußten ganz neuerdings hinterlassen und höchstens neun bis zehn Stunden alt sein, denn im anderen Falle hätte sie der zuletzt gefallene Schnee unzweifelhaft wieder überdeckt.

»Was für ein Thier ist hier vorbei gekommen? fragte Madge.

– Das ist kein Thier gewesen, verbesserte Mrs. Paulina Barnett und beugte sich nieder, um die Eindrücke besser zu sehen, denn ein solches hinterläßt ganz anders gestaltete Spuren. Sieh, Madge, diese hier stimmen alle mit einander überein, und man ist versucht, sie einem menschlichen Fuße zuzuschreiben.

– Wer könnte aber hierher gekommen sein? antwortete Madge. Weder ein Soldat, noch eine der Frauen hat das Fort verlassen, und da wir uns auf einer Insel befinden … Nein, Du mußt Dich täuschen, meine Tochter. Zum Ueberfluß laß uns diesen Spuren nachgehen und sehen, wohin sie führen.«

Die beiden Frauen setzten ihren Weg fort, und achteten aufmerksam auf die Fußtapfen im Schnee.

»Halt … sieh hier, Madge, begann die Reisende, indem sie ihre Begleiterin zurückhielt, und sage selbst, ob ich mich irrte.«

Neben den Fußspuren sah man an einer Stelle, wo der Schnee durch einen schweren Körper zusammengedrückt war, sehr deutlich den Abdruck einer Menschenhand.

»Die Hand einer Frau oder eines Kindes! rief Madge aus.

– Ja, bestätigte Mrs. Barnett, hier ist ein Kind oder eine Frau erschöpft, leidend und kraftlos umgesunken … Dann hat sich das arme Wesen wieder aufgerafft und seinen Weg fortgesetzt… Sieh, dort führt die Spur weiter … Dort ist es auch wiederholt hingefallen! …

– Aber wer? Wer? forschte Madge.

– Weiß ich’s? erwiderte Mrs. Paulina Barnett. Vielleicht irgend ein Unglücklicher, der so wie wir seit drei bis vier Monaten auf dieser Insel abgesperrt ist. Vielleicht ein Schiffbrüchiger, den der Sturm an diese Küste warf … Denk‘ an das Licht und den Schrei, von denen Lieutenant Hobson und Sergeant Long uns berichteten! … Komm, komm, meine Madge, vielleicht gilt es, einen Unglücklichen zu retten! …«

Mrs. Paulina Barnett zog ihre Gefährtin mit sich fort und folgte eilend dem im Schnee vorgezeichneten Schmerzenspfade, auf welchem sich bald Blutstropfen fanden.

»Einen Unglücklichen zu retten!« hatte die theilnehmende, muthige Frau gesagt. Vergaß sie wohl in diesem Augenblicke gänzlich, daß auf dieser vom Wasser halb zersetzten Insel, deren Untergang im Oceane früher oder später bevorstand, weder für einen Anderen, noch für sie selbst das Heil zu suchen war?

Die Eindrücke im Fußboden wiesen nach dem Cap Eskimo hin. Gespannt folgten ihnen die beiden Frauen, doch bald wurden die Blutspuren umfänglicher, und verschwanden die einzelnen Fußtapfen. Jetzt zeigte sich nur eine Art unregelmäßigen, über den Schnee hingezogenen Pfades. Von hier aus hatten dem Unglücklichen die Kräfte versagt, sich aufrecht zu erhalten. Kriechend und schleppend hatte er sich noch mit Hilfe der Hände und Füße fortbewegt. Da und dort lagen abgerissene Fetzen seiner Bekleidung, die aus Robbenfell und Pelzwerk bestehen mußte.

»Vorwärts! Vorwärts!« trieb Mrs. Paulina Barnett, deren Herz dem Zerspringen nahe war.

Madge folgte ihr. Das Cap Eskimo war nur noch fünfhundert Schritte entfernt. Schon sah man es, wie es sich über der Meeresfläche von dem Hintergrunde des Himmels abhob. Es war verlassen!

Die von den beiden Frauen verfolgten Spuren wandten sich nach rechts. Mrs. Paulina Barnett und Madge durchsuchten den kleinen Hügel, welcher das Cap bildete, um vielleicht von einer Stelle desselben Etwas wahrnehmen zu können. Vergeblich. Auf’s Neue verfolgten sie nun die Spuren, die einen Pfad längs des Meeres darstellten.

Mrs. Paulina Barnett lief schnell nach rechts weiter; sobald sie aber an das Ufer hinabkam, hielt sie Madge, welche ihr folgte und immer sorgsam den Blick umherschweifen ließ, mit der Hand zurück.

»Halt‘ ein! rief sie ihr zu.

– Nein, Madge, nein! antwortete Mrs. Barnett, von einem gewissen Instinct fast wider Willen fortgetrieben.

– Halt‘ ein, meine Tochter, und sieh‘ erst!« erwiderte Madge, welche Jene jetzt kräftiger zurück hielt.

Fünfzig Schritte vom Cap Eskimo trottete an dem nämlichen Ufer unter dumpfem Brummen eine weiße Masse daher.

Es war ein Polarbär von riesiger Größe. Vor Schreck an den Boden gefesselt, sahen ihn die beiden Frauen. Das gewaltige Thier lief um ein auf dem Schnee liegendes Bündel Pelzwerk herum; dann hob er es auf und ließ es wieder fallen, um dasselbe zu beschnüffeln. Das Bündel hätte man wohl für ein todtes Walroß ansehen können.

Mrs. Paulina Barnett wußte weder, was sie davon denken, noch ob sie vorwärts gehen sollte, als durch eine dem Körper ertheilte Bewegung sich eine Art Capuchon von dem Kopfe zurückschlug und lange, braune Haare darunter hervorquollen.

»Ein Weib! rief Mrs. Paulina Barnett, welche schon auf die Verunglückte zustürzen wollte, um zu sehen, ob sie noch am Leben oder schon todt sei.

– Halt, halt! mein Kind, mahnte aber Madge, bezwinge Dich; er wird ihr kein Leid zufügen.«

Wirklich glotzte der Bär den Körper aufmerksam an, und begnügte sich, ihn um und um zu wenden, ohne daran zu denken, ihn mit seinen furchtbaren Krallen zu zerfleischen. Dann entfernte er sich davon und kehrte wieder zurück, scheinbar unschlüssig, was er damit anfangen sollte. Die beiden Frauen, welche ihm mit entsetzlicher Angst zusahen, hatte er nicht bemerkt.

Plötzlich – ein lautes Krachen – der Boden erzitterte – man hätte glauben können, daß jetzt das ganze Cap Eskimo im Meere versinke. –

Doch es löste sich nur ein großes Stück vom Ufer los, eine ungeheure Scholle, deren Schwerpunkt sich durch die Veränderung ihres specifischen Gewichtes verschoben hatte, und welche jetzt mit dem Bären und dem weiblichen Körper hinaus zu treiben begann.

Mrs. Paulina Barnett stieß einen verzweifelnden Schrei aus, und wollte nach der Scholle eilen, bevor diese das Ufer ganz verließ.

»Halt‘ ein, halte noch ein, meine Tochter!« wiederholte kaltblütig Madge, deren Hand sie krampfhaft fesselte.

Bei dem Krachen des Bruches war auch der Bär plötzlich zurück gewichen; er brummte gewaltig, verließ dann den Körper und trollte nach der Seite der Insel zu, von der er schon gegen vierzig Fuß weggetrieben war. So als wäre er ganz außer sich, lief er um das Eiland herum, bearbeitete den Boden mit den Tatzen, scharrte, daß Schnee und Sand um ihn herum flogen, und kehrte endlich zu dem leblosen Körper zurück.

Dann packte das Thier, zum größten Entsetzen der beiden Frauen, jenen an der Kleidung, hob ihn mit der Schnauze auf, ging an den Rand der Scholle und stürzte sich in das Meer.

Nach kurzer Zeit hatte der Bär, ein rüstiger Schwimmer, wie alle seine Verwandten in den Arktischen Ländern, das Gestade der Insel erreicht. Mit kräftiger Anstrengung schwang er sich vollends hinauf, und legte da den mitgebrachten Körper nieder.

Jetzt konnte sich Mrs. Paulina Barnett nicht mehr zurück halten. Ohne an die Gefahr zu denken, wenn sie sich dem fürchterlichen Raubthiere gegenüber befand, entwand sie sich Madge’s Händen und eilte nach dem Ufer.

Als der Bär sie gewahr wurde, hob er sich auf den Hintertatzen in die Höhe und kam geraden Weges auf sie zu. Zehn Schritte vor ihr blieb er stehen, senkte den ungeheuren Kopf und kehrte um, als habe er unter dem Einflüsse des Schreckens, der die ganze Thierwelt der Insel umzuwandeln schien, seine ganze natürliche Wildheit verloren. Mit grollendem Brummen trottete er nach dem Innern der Insel von dannen, ohne sich nur einmal umzusehen.

Sofort war Mrs. Paulina Barnett nach dem auf dem Schnee hingestreckten Körper geeilt.

Ein Schrei entrang sich ihrer Brust.

»Madge, Madge!« rief sie.

Madge kam herzu und betrachtete den leblosen Körper.

Es war der – Kalumah’s, des jungen Eskimomädchens!

Neuntes Capitel.


Neuntes Capitel.

Kalumah auf der schwimmenden Insel, zweihundert Meilen von dem Festlande Amerikas! Das war doch kaum möglich!

Doch zunächst, athmete denn die Unglückliche noch? Würde man sie zum Leben zurückrufen können? Mrs. Paulina Barnett hatte die Kleidung des Eskimomädchens aufgerissen und horchte nach dessen Herzschlage. Noch war er, wenn auch nur schwach, hörbar. Das Blut, das die Arme verloren, entstammte nur einer minder bedeutenden Handwunde. Madge verband die Stelle mit ihrem Taschentuche und stillte dadurch die Hämorrhagie.

Mittlerweile kniete Mrs. Paulina Barnett neben Kalumah nieder, unterstützte den Kopf der jungen Eingeborenen und träufelte durch ihre geöffneten Lippen einige Tropfen Branntwein; dann rieb sie ihre Stirn und Schläfe mit etwas kaltem Wasser.

So verflossen einige Minuten. Weder Mrs. Barnett noch Madge sprachen ein Wort. Beide lauschten in größter Angst, denn das wenige Leben, das in der Geretteten noch vorhanden war, konnte jeden Augenblick verlöschen.

Da rang sich ein schwacher Seufzer aus der Brust Kalumah’s, leise regte sich ihre Hand, und noch bevor sie die Augen öffnete und Diejenigen erkennen konnte, welche sie jetzt pflegten, lispelte sie die Worte:

»Madame Paulina! Madame Paulina!«

Die Reisende war nicht wenig erstaunt, ihren Namen unter diesen Umständen aussprechen zu hören. War denn Kalumah freiwillig auf die schwimmende Insel gekommen, und wußte sie, daß sie der Europäerin, deren Güte sie nicht vergessen hatte, begegnen würde?

Wie konnte sie aber von der Insel Victoria Kenntniß haben, und auf welche Weise diese, zweihundert Meilen von der Küste, erreichen? Wie hatte sie überhaupt vermuthen können, daß dieses Eisfeld Mrs. Paulina Barnett und alle ihre Genossen von Fort-Esperance barg? Alles das blieb völlig unerklärbar.

»Sie lebt und wird leben bleiben! rief Madge, die unter ihrer Hand die Wärme und die Bewegung in dem halberstarrten Körper wiederkehren fühlte.

– Das unglückliche Kind! sagte Mrs. Paulina Barnett mit bewegtem Herzen, und meinen Namen hatte sie noch auf den Lippen, als sie dem Tode so nahe war.«

Jetzt schlug Kalumah die Augen wieder auf; mit wirrem unbestimmten Blicke schaute sie umher. Plötzlich belebte sie sich und stützte sich auf die Reisende. Ein Augenblick, nur ein Augenblick, doch er war ihr hinreichend, Mrs. Paulina Barnett, ihre »gute Dame«, wieder zu erkennen, deren Namen nochmals ihren Lippen entschlüpfte, während ihre Hand, die sie ein wenig erhoben hatte, in die Mrs. Barnett’s zurücksank.

Die Pflege der beiden Frauen rief die junge Eskimodin indessen bald ganz in’s Leben zurück, die Arme, welche nicht nur von der Anstrengung, sondern auch durch Hunger bis auf das Aeußerste erschöpft war. Mrs. Paulina Barnett vernahm von ihr, daß sie seit achtundvierzig Stunden nichts genossen hatte. Einige Stück frisches Wild und ein Schluck Branntwein gaben ihr bald ihre Kräfte wieder, und eine Stunde später war Kalumah im Stande, mit ihren Freunden den Weg zum Fort einzuschlagen.

Doch in dieser Stunde, während der sie zwischen Mrs. Paulina Barnett und Madge auf dem Sande saß, fand Kalumah Zeit, ihren Dank auszusprechen, ihre Anhänglichkeit zu beweisen und ihre Geschichte zu erzählen. Die junge Eingeborene hatte die Europäerin von Fort-Esperance nicht vergessen, immer war ihr das Bild der Mrs. Barnett im Gedächtniß geblieben, und, wie man sogleich erfahren wird, es war kein Zufall, der sie halb todt an das Ufer der Insel Victoria geworfen hatte.

Es folge hier in wenig Worten die Erzählung Kalumah’s.

Man erinnert sich, daß die junge Eingeborene bei ihrem ersten Besuche das Versprechen gegeben hatte, im folgenden Jahre, während der guten Jahreszeit, zu ihren Freunden von Fort-Esperance zurückzukehren. Als die lange Polarnacht vorüber war und der Mai heran kam, machte Kalumah sich auf, ihr Versprechen zu erfüllen. Sie verließ demnach Neu-Georgia, wo sie den Winter zugebracht hatte, und wandte sich in Begleitung eines ihrer Schwäger nach Osten.

Sechs Wochen später, gegen Mitte Juni, kam sie auf dem Gebiete Neu Britanniens, welches an Cap Bathurst grenzt, an. Sie erkannte leicht die vulkanischen Berge wieder, deren Höhe die Bai Liverpool beherrschen und gelangte zwanzig Meilen weiter nach der Walroß-Bai, welche sie mit den Ihrigen bei der Jagd nach jenen Amphibien so häufig besucht hatte.

Aber jenseits dieser Bai nach Norden war Nichts mehr zu sehen! In gerader Linie verlief die Küste nach Süden; es gab kein Cap Bathurst, kein Cap Eskimo mehr!

Kalumah begriff, was vorgegangen war, wußte aber nicht, ob dieses ganze Gebiet, das seitdem zur Insel Victoria geworden war, untergegangen sei oder noch im Meere umherirre. Kalumah brach in Thränen ans, da sie Diejenigen nicht angetroffen hatte, welche sie von so weiter Ferne her aufgesucht. Ihr Schwager zeigte sich über die stattgefundene Katastrophe viel weniger erstaunt.

Nach einer Art Legende, einer sich unter den nomadisirenden Stämmen forterbenden Tradition, war Cap Bathurst vor tausend Jahren an den Continent angeschwommen, ohne je einen Theil desselben zu bilden, und sollte auch eines Tages durch Naturkräfte wieder davon losgerissen werden. Daher rührte die Verwunderung der Eskimos, als sie die von Lieutenant Hobson am Fuße des Cap Bathurst errichtete Factorei erblickten. Bei der bedauerlichen, ihrer Race eigentümlichen Zurückhaltung aber, vielleicht auch in der Voreingenommenheit, welche jeder Eingeborene gegen den Fremdling hat, der sein Vaterland in Besitz nimmt, sprachen sich die Eskimos nicht gegen Lieutenant Hobson aus. Kalumah kannte jene Ueberlieferung nicht, welche übrigens eines genügenden Nachweises entbehrte und nur den zahlreichen Legenden der hyperboräischen Kosmogenie beizuzählen war; deshalb erfuhren die Bewohner von Fort-Esperance nichts von der Gefahr, welche ihnen hier drohte.

Gewiß hatte Jasper Hobson, wenn die Aussagen der Eskimos über diesen Boden seinen Verdacht gegen denselben verstärkten, ein neues und sicher unerschütterliches Gebiet zur dauernden Begründung der Factorei aufgesucht.

Als nun das Verschwinden des Cap Bathurst festgestellt war, setzte Kalumah ihre Nachforschungen noch bis zur Washburn-Bai fort, ohne jedoch eine weitere Spur zu finden, und nun blieb ihr nichts Anderes übrig, als nach Westen, nach den Fischereien des russischen Amerika zurückzukehren.

Mit dem letzten Tage des Juni verließ sie also mit ihrem Schwager die Walroß-Bai. Sie zogen am Ufer hin und kamen Ende Juli nach einer vergeblichen Reise wieder bei den Etablissements in Neu-Georgia an.

Niemals hoffte Kalumah jetzt Mrs. Paulina Barnett und ihre Genossen von Fort-Esperance wieder zu sehen, welche sie vom Eismeere verschlungen wähnte.

Bei diesen Worten wandte die Erzählerin die feuchten Augen nach Mrs. Barnett und drückte ihr zärtlich die Hand, dann sprach sie ein leises Gebet und dankte Gott für ihre Rettung durch die eigene Hand der Freundin.

Nach der Rückkehr in den Schooß ihrer Familie ab sie sich wieder den gewohnten Beschäftigungen hin. Mit den Ihrigen war sie bei der Fischerei in der Nähe des Eiscaps thätig, welches letztere fast genau im siebenzigsten Breitengrade, aber über sechshundert Meilen vom Cap Bathurst entfernt liegt.

In der ersten Hälfte des August ereignete sich nichts Besonderes. Gegen Ende aber erhob sich jener furchtbare Sturm, welcher Jasper Hobson so große Unruhe einflößte und der sich über das ganze Polarmeer, ja bis über die Behrings-Straße hinaus erstreckte. Am Eiscap wüthete er mit derselben Gewalt, wie auf der Insel Victoria. Zu jener Zeit befand sich diese, wie es Jasper Hobson auch berechnet hatte, nicht über zweihundert Meilen von der Küste.

Während sie Kalumah’s Worten lauschte, begann es in Mrs. Barnett’s Geiste langsam zu tagen, da diese ja über die Sachlage hinlänglich unterrichtet war, und endlich fand sie in jenen Worten auch den Schlüssel für manche sonderbare Erscheinungen und für die Ankunft der jungen Eingeborenen auf der Insel.

Die ersten Tage des Sturmes hindurch blieben die Eskimos am Eiscap auf ihre Hütten beschränkt; sie konnten diese nicht verlassen, noch viel weniger den Fischfang betreiben. In der Nacht vom 31. August bis 1. September trieb Kalumah eine gewisse Ahnung jedoch nach dem Ufer. Trotz des um sie tobenden Sturmes und Regens wagte sie sich hinaus und prüfte mit sorgenvollem Blicke das bewegte Meer, dessen Wellen in der Dunkelheit sich wie eine Bergkette aufthürmten.

Da glaubte sie kurze Zeit nach Mitternacht eine weiße Masse zu sehen, welche vom Orkan getrieben, längs der Küste hinglitt. Ihre sehr scharfen Augen, gleich denen aller Eingeborenen an die Finsterniß der langen Polarnacht gewöhnt, konnten sie nicht getäuscht haben.

Ein ungeheuer großer Gegenstand passirte gegen zwei Meilen entfernt das Ufer, und dieser Gegenstand konnte weder ein Wallfisch, noch ein Schiff, in dieser Jahreszeit auch kein gewöhnlicher Eisberg sein.

Kalumah überdachte das zwar gar nicht, ihr Geist sah Alles klar, wie durch eine Offenbarung. Vor ihrem überreizten Gehirn stieg das Bild ihrer Freunde auf. Sie sah sie Alle vor sich, Mrs. Paulina Barnett, Madge, Lieutenant Hobson und auch das kleine Kind, dem sie in Fort-Esperance ihre Zärtlichkeiten zugewendet hatte. Ja, sie mußten es sein, die dort auf einem schwimmenden Eisfelde vom Sturm verschlagen vorüber fuhren.

Kalumah zweifelte und zögerte keinen Augenblick. Sie sagte sich nur, daß sie die Schiffbrüchigen von der Nahe des Landes, welche sie gewiß nicht ahnten, unterrichten müsse. Nach ihrer Hütte zurück eilend ergriff sie eine der aus Werg und Harz hergestellten Fackeln, wie sie die Eskimos bei dem nächtlicher Fischfang gebrauchen, entzündete diese und bewegte sie auf dem Gipfel des Eiscaps hin und her.

Das war das Feuer gewesen, welches Jasper Hobson und Sergeant Long, die damals auf dem Cap Michael lagen, in der Nacht des 31. August mitten durch die Dunkelheit wahrgenommen hatten.

Wie groß war die Freude, die Erregung der jungen Eskimodin, als sie eine Antwort auf ihr Signal aufleuchten sah, jene von Jasper Hobson angezündete Tannengruppe, die ihr fahles Licht bis an das Ufer Amerikas, dem sich Jasper Hobson nicht so nahe glaubte, hinüberwarf. Doch bald war es wieder ganz finster. Die Pause im Sturme währte nur wenige Minuten, und nach Südosten umspringend erhob sich der Orkan mit erneuter Wuth.

Kalumah sah ein, daß »ihre Beute«, – so drückte sie sich aus – ihr entgehen, und daß die Insel nicht an’s Land stoßen werde. Sie sah sie vor sich, diese Insel, sie fühlte, wie jene durch Nacht und Dunkel wieder davon und in das offene Meer hinaus trieb.

Das war ein furchtbarer Augenblick für die junge Eingeborene. Um jeden Preis, sagte sie sich, mußten ihre Freunde Nachricht über die dermalige Lage erhalten, da jetzt doch vielleicht irgend etwas zu thun wäre, während jede Stunde sie weiter vom Festlande entführte …

Sie zögerte nicht. Ihr Kayack lag in der Nähe, das zerbrechliche Fahrzeug, in dem sie mehr als einmal den Stürmen des Eismeeres Trotz geboten hatte. Sie stieß den Kayak in’s Wasser, band um den Gürtel und um die Oeffnung desselben die Robbenfelljacke fest, und das Doppelruder in den Händen wagte sie sich in die Finsterniß hinaus.

Hier drückte Mrs. Paulina Barnett die junge Kalumah, das muthige Kind, inbrünstig an ihr Herz.

Kalumah wurde auf den bewegten Wogen von dem umgesprungenen Sturme, der nach der offenen See hinaus wehte, fortgetrieben. Sie strebte der großen Masse zu, welche sie unklar in der Dunkelheit erkannte.

Oft fluthete das Meer über ihren Kayack hinweg, vermochte aber Nichts gegen das unversenkbare Fahrzeug, das wie ein Strohhalm auf den Kämmen der Wellen tanzte. Mehrmals kenterte es zwar, doch immer richtete es ein Ruderschlag leicht wieder auf.

Nach einstündiger Anstrengung konnte Kalumah endlich die irrende Insel deutlich erkennen. Sie zweifelte gar nicht an der Erreichung ihres Zieles, denn nur eine Viertelmeile lag noch zwischen ihr und jener.

Da stieß sie jenen Schrei aus, den Jasper Hobson und Sergeant Long beide hörten.

Von hier an aber fühlte Kalumah, wie eine unwiderstehliche Strömung, der sie mehr unterlag, als die Insel Victoria, sie nach Westen verschlug. Vergeblich kämpfte sie mit ihrem Ruder dagegen an, ihr leichtes Boot flog wie ein Pfeil dahin. Von Neuem schrie sie auf, wurde aber der großen Entfernung wegen nicht mehr gehört, und als die Morgenröthe anbrach, bildeten die Küste Neu-Georgias, die sie verlassen hatte, und die schwimmende Insel, welche sie verfolgte, nur zwei unerkennbare Massen am Horizonte.

Verzweifelte die junge Eingeborene nun etwa? Nein. Nach dem Festlande zurückzukehren war ihr zunächst unmöglich geworden, denn sie hatte den Wind, jenen schrecklichen Wind gegen sich, der die Insel binnen sechsunddreißig Stunden zweihundert Meilen weit in die offene See hinaustrieb.

Kalumah blieb nur ein Ausweg übrig, sie mußte die Insel, während sie sich in derselben Strömung hielt, einzuholen suchen.

Aber ach, jetzt unterstützten die Kräfte nicht mehr den Muth des armen Kindes. Wenigstens peinigte sie der Hunger, und Anstrengung und Erschöpfung lähmten ihre Ruderschläge.

Mehrere Stunden lang kämpfte sie und glaubte sich der Insel zu nähern, von welcher aus man sie, einen Punkt im ungeheuren Meere, unmöglich gewahr werden konnte. Sie kämpfte noch, als ihr die Arme halb gebrochen waren und die blutende Hand den Dienst versagen wollte! Sie kämpfte bis zum Ende ihrer Kräfte und verlor endlich das Bewußtsein, während ihr Kayack zum Spiel des Windes und der Wellen wurde.

Was weiter mit ihr geschehen war, vermochte sie nicht zu sagen. Wie lange sie umher geworfen wurde, sie wußte es nicht, und war erst wieder zu sich gekommen, als ihr Kayack heftig anstieß und unter ihr in Stücke ging.

Sie sank in das kalte Wasser, das ihre Lebensgeister von Neuem wach rief, und einige Augenblicke später warf sie eine Welle halbtodt auf den Ufersand. Das geschah in der vergangenen Nacht, etwa zur Zeit der Morgenröthe, also zwischen zwei und drei Uhr früh.

Seit der Zeit, da Kalumah den Kayack bestiegen, bis zu der, da dieser unterging, waren demnach siebenzig Stunden verflossen!

Als sie sich aus den Fluthen gerettet sah, konnte sie nicht sagen, an welches Ufer der Sturm sie geworfen habe. War sie an das Festland zurückgekommen?

Hatte er sie im Gegentheil der Insel zugeführt, welche sie mit so kühner Ausdauer verfolgte? Sie hoffte es gewiß! Wind und Strömung mußten sie ja in’s freie Meer hinaus und nicht an die Küste zurückgetrieben haben.

Dieser Gedanke verlieh ihr neue Kräfte. Sie erhob sich und folgte dem Ufer.

Ohne Zweifel war die junge Eingeborene auf den Theil der Insel Victoria geworfen worden, welcher ehemals den oberen Winkel der Walroß-Bai bildete. Jetzt konnte sie aber den Küstenstrich, den die Wellen seit dem Bruche des Isthmus benagt hatten, nicht wieder erkennen.

Kalumah ging vorwärts und hielt, als sie nicht mehr weiter konnte, an, um später mit neuem Muthe ihren Weg fortzusetzen, der sich vor ihren Schritten dehnte. Bei jeder Meile mußte sie um Uferstrecken herumgehen, die das Meer schon in Besitz genommen hatte. So gelangte sie, sich hinschleppend, fallend und wieder aufstehend, nach dem kleinen Hügel, an dem Mrs. Paulina Barnett und Madge denselben Morgen rasteten. Die beiden Frauen hatten, wie erwähnt, auf ihrem Wege nach dem Cap Eskimo ihre Fußspuren und Eindrücke in dem Schnee gefunden. Dann war die arme Kalumah eine Strecke davon zum letzten Male zusammengebrochen.

Von dieser Stelle aus kam sie erschöpft von Hunger und Anstrengung nur noch kriechend vorwärts.

Einige Schritte vom Ufer hatte sie auch das Cap Eskimo wieder erkannt, an dem sie im vergangenen Jahre mit den Ihrigen gelagert hatte. Jetzt wußte sie, daß sie nur noch acht Meilen von der Factorei entfernt war, und den Weg einschlagen müsse, der ihr von den häufigen Besuchen bei ihren Freunden her so gut bekannt war.

Noch hielt sie dieser Gedanke aufrecht, doch brach sie, am Ufer angekommen, kraftlos zusammen und verlor das Bewußtsein. Ohne Mrs. Paulina Barnett hätte sie hier ihren Tod gefunden.

»Aber, meine gute Dame,« sagte sie, »ich wußte, daß Sie mir zu Hilfe kommen würden, und daß mich Gott durch Ihre Hand retten werde.«

Das Weitere ist bekannt. Man weiß, welches Vorgefühl an diesem Tage Mrs. Barnett und Madge trieb, diesen Theil des Ufers zu besuchen, und wie sie dazu kamen, noch das Cap Eskimo zu betreten, bevor sie sich auf den Rückweg nach der Factorei begaben. Es ist auch bekannt, – Mrs. Paulina Barnett theilte es der jungen Eingeborenen mit – daß sich eine große Eisscholle ablöste, und was der Bär dabei that.

Lächelnd fügte die Reisende noch hinzu:

»Ich habe Dich nicht gerettet, mein Kind, das hat eigentlich jener brave Bär gethan! Ohne ihn wärest Du verloren gewesen, und wenn er je zu uns zurückkommt, so soll er als Dein Retter geehrt werden.«

Kalumah hatte durch Ruhe und stärkende Speise indessen ihre Kräfte wieder gewonnen. Mrs. Barnett wollte nun ohne Aufschub zum Fort zurückkehren, um ihre Abwesenheit nicht allzu lange auszudehnen. Die junge Eingeborene erhob sich sofort und war zum Mitgehen bereit.

Mrs. Paulina Barnett drängte es, Jasper Hobson die Erlebnisse dieses Morgens mitzutheilen und ihm zu erklären, was sich während der Sturmnacht, als die Insel dem Ufer Amerikas so nahe gewesen war, zugetragen hatte.

Vor Allem empfahl die Reisende Kalumah aber, von ihren Erlebnissen unbedingt zu schweigen und auch die Lage der Insel Niemand zu verrathen. Es sollte angenommen werden, daß sie auf ganz natürlichem Wege gekommen sei, um ihr Versprechen vom Jahre vorher einzulösen und ihre Freunde während der schönen Jahreszeit zu besuchen. Gerade ihr Erscheinen mußte die Bewohner der Factorei in dem Glauben bestärken, daß mit dem Gebiete des Cap Bathurst keine Veränderung eingetreten sei, wenn ja der Eine oder der Andere einen Verdacht hätte.

Gegen drei Uhr Nachmittags schlugen Mrs. Barnett, die junge Eingeborene, die sich auf ihren Arm stützte, und Madge den Weg nach Westen wieder ein, und vor fünf Uhr Abends gelangten alle Drei glücklich an das äußere Thor von Fort- Esperance.

Zehntes Capitel.


Zehntes Capitel.

Den Empfang, welcher der jungen Kalumah seitens der Insassen des Forts zu Theil wurde, kann man sich wohl leicht vorstellen. Ihnen schien das Band, welches sie sonst mit der übrigen Erde in Verbindung setzte, wieder angeknüpft zu sein. Mrs. Mac Nap, Mrs. Raë und Mrs. Joliffe überhäuften Jene mit Zärtlichkeiten. Kalumah lief, sobald sie des kleinen Kindes ansichtig ward, auf dieses zu und bedeckte es mit ihren Küssen.

Die junge Eskimodin war von der Gastfreundschaft ihrer europäischen Freunde vollkommen gerührt. Alle thaten ihr die größte Ehre an. Man freute sich zu hören, daß sie den ganzen Winter in der Factorei zubringen werde, da die Jahreszeit schon zu weit vorgeschritten war, um ihr die Rückkehr nach den Etablissements von Neu-Georgia zu gestatten.

Wenn die Bewohner von Fort-Esperance aber von der Ankunft der jungen Eingeborenen so freudig überrascht waren, was mußte Jasper Hobson darüber denken, als er Kalumah am Arme der Mrs. Paulina Barnett erscheinen sah? Er wollte kaum seinen Augen trauen. Ein plötzlicher Gedanke schoß mit Blitzesschnelle durch sein Gehirn, – der Gedanke, daß die Insel Victoria unbemerkt und trotz der täglichen Ortsaufnahme bei irgend einem Punkte Amerikas einmal an’s Land gelaufen sei.

Mrs. Paulina Barnett las diese unwahrscheinliche Hypothese aus den Augen des Lieutenants und schüttelte verneinend mit dem Kopfe.

Jasper Hobson verstand daraus, daß die Lage sich in keiner Weise geändert habe, und erwartete von Mrs. Paulina Barnett Aufklärung über dieses fast wunderbare Erscheinen Kalumah’s.

Kurze Zeit darauf lustwandelten Jasper Hobson und die Reisende am Fuße des Cap Bathurst, und aufmerksam lauschte der Lieutenant dem Berichte von den Abenteuern Kalumah’s.

Alle seine Annahmen waren also begründet gewesen!

Während des Sturmes aus Nordosten hatte die Insel die Strömung, die sie entführte, verlassen! In der schrecklichen Nacht vom 30. zum 31. August war das Eisfeld dem amerikanischen Festlande auf weniger als eine Meile nahe gewesen. Nicht das Leuchtfeuer eines Schiffes, nicht der Schrei eines Verunglückten erreichte ihre Augen und Ohren! Das Land lag vor ihnen, das rettende Land, und blies der Wind damals nur noch eine Stunde lang in der früheren Richtung, so hätte die Insel Victoria die Küste des russischen Amerika berührt!

Und gerade damals mußte der unselige, verderbliche Wind umspringen und die Insel wieder nach der offenen See hinaustreiben. Die unwiderstehliche Strömung hatte sie auf’s Neue erfaßt, und seitdem war sie mit unerhörter Schnelligkeit, unter der Peitsche eines Südweststurmes bis zu jener gefährlichen Stelle hin abgewichen, von der sie aus ihrer Lage zwischen zwei entgegengesetzten Strömungen, welche beide ihr selbst und den Bewohnern derselben den gleichen Untergang drohten, offenbar einer von jenen zuletzt verfallen mußte.

Wohl zum hundertsten Male unterhielten sich der Lieutenant und Mrs. Paulina Barnett über dieses Thema. Dann erkundigte sich Jasper Hobson nach den etwaigen Veränderungen des Gebietes zwischen dem Cap Bathurst und der Walroß-Bai.

Mrs. Paulina Barnett belehrte ihn, daß sich das Küstengebiet an manchen Stellen gesenkt zu haben scheine, und daß solche Strecken, welche früher davon frei blieben, jetzt überfluthet würden. Sie erwähnte auch des Vorfalls bei dem Cap Eskimo, und beschrieb den umfänglichen Eisbruch an jenem Theile der Küste.

Gewiß erschien das sehr beunruhigend. Offenbar löste sich das Eisfeld, die Grundlage der Insel, weiter auf, je nachdem das verhältnißmäßig wärmere Wasser die untere Fläche abnagte. Was beim Cap Eskimo geschehen war, konnte sich beim Cap Bathurst jeden Augenblick wiederholen. Die Gebäude der Factorei konnten zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht im bodenlosen Abgrunde versinken – immer stellte der Winter das einzige Hilfsmittel in dieser Lage dar, der Winter mit all‘ seiner Strenge, der Winter, dessen Eintritt sich doch so sehr verzögerte.

Eine Tags darauf, am 4. September, angestellte Beobachtung Jasper Hobson’s zeigte, daß die Ortslage der Insel Victoria sich noch nicht nachweisbar verändert hatte. Unbewegt verweilte sie zwischen den beiden Strömungen, was den gegebenen Verhältnissen nach als das Beste betrachtet werden konnte.

»Möchte der Frost uns hier ereilen und das Packeis uns hier aufhalten! sagte Jasper Hobson. Wenn das Meer jetzt um uns erstarrte, würde ich unsere Rettung für gesichert ansehen! Nur zweihundert Meilen trennen uns von der Küste, und über das feste Eisfeld könnten wir entweder das russische Amerika oder auch die Küste Asiens recht wohl erreichen. Aber nur der Winter komme, der Winter um jeden Preis, und so schnell als möglich!«

Inzwischen wurden auf des Lieutenants Anordnung die letzten Zurüstungen für den Winter vollendet. Man versorgte die Hausthiere für die ganze Dauer der langen Polarnacht mit hinreichendem Futter. Die Hunde waren wohlauf und wurden bei ihrer Unthätigkeit fett, doch durfte man sich darüber nicht zu viel Sorge machen, denn den armen Thieren sollte es an Arbeit nicht mangeln, wenn man erst Fort-Esperance verließ, um quer über das Eis das Festland zu erreichen. Vielmehr erschien es demnach von Belang, jene bei vollen, frischen Kräften zu erhalten. So schonte man das frische Fleisch und vorzüglich das der Rennthiere, die in der Nachbarschaft der Factorei erlegt wurden, für sie nicht.

Die zahmen Rennthiere gediehen vortrefflich. In ihrem entsprechend den Bedürfnissen eingerichteten Stalle häufte man ebenso, wie in den Magazinen des Forts, einen großen Vorrath von Heu und Moosen an. Mrs. Joliffe bezog von den Weibchen ausreichend Milch, welche in der Küche täglich Verwendung fand.

Der Corporal und seine kleine Frau hatten auch ihre Aussaaten wiederholt, die in der vergangenen warmen Jahreszeit ja so sichtlich gediehen waren. Das Land war zu dem Zwecke für Löffelkraut, Sauerampfer und Labradorthee schon vor dem ersten Schneefalle in Stand gesetzt worden. Diese köstlichen Antiscorbutica durften ja der Colonie nicht fehlen.

Holzvorräthe erfüllten die Schuppen bis zu den Dachsparren. Nun konnte der rauhe und eisige Winter herankommen, das Quecksilber in der Kugel des Thermometers gefrieren, ohne zum Verbrennen des Hausrathes, wie im letzten Winter der Fall eintrat, zu zwingen. Der Zimmermann Mac Nap hatte seine Maßnahmen entsprechend getroffen, und auch der Abfall beim Bau des Schiffes lieferte einen beträchtlichen Zuwachs zum Heizmateriale.

Zu dieser Zeit fing man auch schon einige mit dem neuen Winterfell versehene Pelzthiere, wie Marder, Wiesel, Blaufüchse und Hermeline, da der Lieutenant Marbre und Sabine ermächtigt hatte, nahe der Umplankung einige Fallen herzustellen. Jasper Hobson glaubte aus Besorgniß, den Verdacht seiner Leute wachzurufen, diese Erlaubniß nicht verweigern zu sollen, denn er hatte keinen stichhaltigen Vorwand, das Einsammeln von Pelzfellen einzustellen. Wohl wußte er, daß es unnütze Arbeit war und daß aus dieser Vertilgung kostbarer und unschuldiger Thiere Niemand Vortheil ziehen werde. Jedenfalls diente das Fleisch jener Nager als Futter für die Hunde, und ersparte man dadurch wesentlich an dem der Rennthiere.

Alles rüstete sich also zur Durchwinterung, so als wäre Fort-Esperance auf unerschütterlichem Boden errichtet, und die Soldaten arbeiteten mit einem Eifer, den sie bei Kenntniß ihrer tatsächlichen Lage wohl kaum entwickelt hätten.

Auch in den folgenden Tagen ergaben die sorgfältigsten Beobachtungen keine merkbare Lagenveränderung der Insel Victoria. Schon fing Jasper Hobson mit Rücksicht auf diese Unbewegtheit an, neue Hoffnung zu schöpfen. Hatten sich die Vorzeichen des Winters auch in der anorganischen Natur noch nicht gezeigt, so verriethen sie sich doch schon durch Züge wilder Schwäne, die nach milderen Klimaten steuerten. Auch andere Zugvögel, welche ein weiter Flug über die Meere nicht abschreckte, verließen nach und nach die Insel. Diese wußten recht gut, daß der amerikanische oder der asiatische Kontinent mit ihrer minder rauhen Temperatur, ihren gastlichen Gebieten und ihren Hilfsquellen aller Art nicht allzu fern lagen und daß die Kraft ihrer Flügel ausreichte, sie dorthin zu tragen. Eine Anzahl solcher Vögel ward eingefangen und befestigte der Lieutenant nach Mrs. Paulina Barnett’s früherem Vorschlage an deren Halse ein Billet aus gummirter Leinwand, auf dem die dermalige Lage der Insel und die Namen ihrer Bewohner verzeichnet standen. Dann ließ man sie stiegen, und sah dieselben nicht ohne Befriedigung nach Süden ziehen.

Es bedarf nicht der Erwähnung, daß diese Botensendung heimlich geschah, und keine anderen Zeugen hatte, als Mrs. Paulina Barnett, Madge, Kalumah, Lieutenant Hobson und Sergeant Long.

Die auf der Insel eingeschlossenen Vierfüßler waren natürlich verhindert, in südlicheren Gegenden ihre gewohnten Winterquartiere aufzusuchen. Rennthiere, Polarhasen, selbst Wölfe verließen ja zu dieser Jahreszeit gewöhnlich schon Gegenden, wie Cap Bathurst, und zogen sich nach dem See des Großen Bären oder dem Sklaven-See, jedenfalls weit unter den Polarkreis zurück. Dieses Jahr bildete das Meer für sie ein unüberwindliches Hinderniß, dessen Uebereisung sie abwarten mußten, um nach wohnlicheren Gegenden zu entfliehen. Gewiß hatte ihr Instinct jene schon zu einem Versuche getrieben und nach dem Fehlschlagen desselben in die Nachbarschaft der Factorei zurückgeführt, in die Nähe der Menschen, Gefangenen, wie sie selbst, in die Nähe der sonst so gefürchteten Jäger.

In der Zeit vom 5. bis zum 9. September ergaben die Beobachtungen noch immer keine Lagenveränderung der Insel Victoria.

Der ungeheure Wasserwirbel zwischen den beiden Strömungen, dessen Gebiet sie noch nicht verlassen hatte, hielt sie auf ein und derselben Stelle fest. Noch vierzehn Tage bis höchstens drei Wochen dieses Status quo, und Lieutenant Hobson konnte sich für gerettet halten.

Doch war das Maaß der Leiden noch nicht gefüllt, und standen den Bewohnern von Fort-Esperance noch wahrhaft übermenschliche Prüfungen bevor.

Am 10. September nahm man zuerst wieder eine Ortsveränderung der Insel Victoria wahr, die sich zunächst nur langsam in nördlicher Richtung vollzog.

Jasper Hobson war wie vom Donner gerührt! Definitiv hatte der Kamtschatka-Strom die Insel erfaßt, und diese entwich nun in jene unbekannten Meeresgebiete, in denen sich das Packeis bildet; in jene dem Fuße des Menschen verbotenen Einöden des Polarmeeres, aus denen man nicht zurückkehrt!

Den Mitwissern seines Geheimnisses verhehlte Jasper Hobson auch diese neue Gefahr nicht. Alle empfingen den niederschmetternden Schlag mit ruhiger Ergebung.

»Vielleicht, sagte die Reisende, kommt die Insel doch noch zum Stehen, oder bleibt ihre Bewegung eine sehr langsame. Laßt uns die Hoffnung nicht verlieren! Der Winter kann nicht mehr fern sein, und überdies fahren wir ihm entgegen. Doch – des Herrn Wille geschehe!

– Meine Freunde, fragte Jasper Hobson, glauben Sie, daß es nun an der Zeit wäre, unsere Gefährten aufzuklären? Sie wissen, in welcher Lage wir uns befinden, und was uns noch widerfahren kann. Heißt es nicht, eine zu große Verantwortlichkeit auf sich nehmen, wenn man ihnen die drohende Gefahr verbirgt?

– Ich würde jetzt noch damit warten, entgegnete schnell die Reisende. So lange nicht jede Aussicht erschöpft ist, dürfen wir unsere Begleiter nicht der Verzweiflung preisgeben.

– Das ist ganz meine Ansicht«, fügte Sergeant Long einfach hinzu.

Jasper Hobson dachte ebenso und war erfreut darüber, seine Anschauungen getheilt zu sehen.

Am 11. und 12. September ward die Lageveränderung nach Norden zu bemerkbarer. Die Insel schwamm mit einer Schnelligkeit von zwölf bis dreizehn Meilen den Tag dahin. Um ebenso viel entfernte sie sich dabei von dem Lande, wahrend sie dem Kamtschatka-Strome nach Norden folgte. Aus dem siebenzigsten Parallelkreis, der die Spitze des Cap Bathurst durchschnitt, mußte sie wohl bald heraustreten; darüber hinaus existirt aber in der Fortsetzung des Längengrades, unter dem man sich eben befand, kein bekanntes Ländergebiet.

Jeden Tag trug Jasper Hobson die Lage auf seiner Karte ein, und ersah daraus, welch grenzenlosen Weiten die Insel entgegen trieb. Die einzige, verhältnißmäßig günstigste Aussicht lag darin, daß man, nach Mrs. Paulina Barnett’s Bezeichnung, dem Winter entgegen fuhr. So begegnete man der Kälte früher, die das Eisfeld vergrößern und befestigen mußte. Konnten die Bewohner desselben dann auch darauf hoffen, nicht in das Meer zu versinken, welchen ungeheuren, vielleicht ungangbaren Weg hatten sie dafür zurückzulegen, um aus jenen Tiefen des höchsten Nordens zu entkommen? Wäre das Schiff jetzt, wenn auch in halbfertigem Zustande, brauchbar gewesen, Lieutenant Hobson hätte gewiß nicht gezögert, sich ihm mit der ganzen Bevölkerung der kleinen Colonie anzuvertrauen; trotz alles Fleißes des Zimmermanns war es aber bis jetzt weder so weit fertig, noch vor langer Zeit darauf zu rechnen, da seine Construction, wenn sich zwanzig Personen, und noch dazu in diesen gefährlichen Meeren, darauf einschiffen sollten, die größte Sorgsamkeit Mac Nap’s erforderte.

Am 16. September befand sich die Insel Victoria fünfundsiebenzig bis achtzig Meilen nördlicher, als der Punkt, auf dem sie kurze Zeit verweilt hatte. Schon vermehrten sich aber die Vorzeichen des nahenden Winters, und die Quecksilbersäule sank allmälig. Zwar hielt sich die Mitteltemperatur des Tages noch auf 6 bis 7° über Null, sank aber während der Nacht auf den Gefrierpunkt herab. Nur in sehr flachem Bogen zog die Sonne über den Horizont, erhob sich zu Mittag nur wenige Grade, und blieb schon elf Stunden von vierundzwanzig verschwunden.

In der Nacht vom 16. zum 17. September traten endlich die ersten Spuren von Eis auf dem Meere hervor. Kleine isolirte, dem Schnee ähnliche Krystalle schossen zu Flecken auf der Oberfläche zusammen. Dabei machte man die schon von dem berühmten Seefahrer Scoresby mitgetheilte Beobachtung, daß dieser Schnee das Meer sofort beruhigte, wie es von dem Oele bekannt ist, welches Seefahrer wohl zur vorübergehenden Beruhigung der Wellen ausgießen. Jene kleinen Eistheilchen zeigten das Bestreben, sich an einander zu schließen, und hätten das bei ruhigem Wasser unzweifelhaft gethan; jetzt zerbrachen und trennten sie aber die Bewegungen der Wellen, bevor sie eine umfänglichere Fläche bilden konnten.

Mit gespanntester Aufmerksamkeit beobachtete Jasper Hobson das erste Erscheinen des jungen Eises. Er wußte, daß vierundzwanzig Stunden hinreichen würden, um der an der Unterfläche nachwachsenden Eiskruste eine Stärke von zwei bis drei Zollen zu ertheilen, wobei sie schon das Gewicht eines Menschen trägt. Er zählte also darauf, daß die Insel Victoria binnen Kurzem in ihrem Laufe aufgehalten sein werde.

Bis jetzt zerstörte der Tag freilich stets die Arbeit der Nacht, und die Abweichung nach Norden nahm zu, ohne daß man etwas gegen dieselbe zu thun im Stande war.

Am 21. September, zur Zeit des Herbstäquinoctiums, währten Tag und Nacht vollkommen gleich lang, und von da ab verlängerte sich die Nacht stets auf Unkosten der Tagesstunden. Sichtbar trat nun der Winter ein, aber weder anhaltend noch streng. Jetzt hatte die Insel Victoria schon nahezu einen Grad über die siebenzigste Parallele zurück gelegt, und zum ersten Male unterlag sie einer Drehbewegung, welche Jasper Hobson auf etwa 90° schätzte.

Man begreift, welche Sorgen das dem Lieutenant machte! Die Sachlage, die er bis jetzt zu verbergen gesucht hatte, drohte die Natur selbst nun auch dem blödesten Auge zu enthüllen, da durch diese Drehung die Cardinalpunkte der Insel verschoben waren. Cap Bathurst lief nicht mehr nach Norden zu, sondern nach Westen aus. Sonne, Mond und Sterne gingen nicht mehr an den gewohnten Stellen des Horizontes auf und unter, und unmöglich konnte Leuten mit einiger Beobachtungsgabe, wie Mac Nap, Raë, Marbre und Anderen, eine solche auffällige Veränderung, die Alles verrathen mußte, entgehen.

Zur großen Befriedigung Jasper Hobson’s schienen die wackeren Soldaten aber nicht das Mindeste zu bemerken. Die Atmosphäre war glücklicher Weise immer etwas dunstig und verhinderte die Beobachtung des Aus- oder Unterganges der Himmelskörper.

Leider fiel jene Drehung auch mit einer schnelleren Fortbewegung zusammen. Von diesem Tage an wich die Insel Victoria mit der Schnelligkeit von einer Meile die Stunde nach Norden ab. Noch immer überließ sich Jasper Hobson der Verzweiflung, welche seinem Charakter fern lag, nicht, doch hielt er sich nun für verloren, und wünschte den Winter aus Herzensgrunde herbei.

Die Temperatur erniedrigte sich noch weiter. Am 23. und 24. September fiel reichlicher Schnee, der die Dicke der kleinen Eisschollen, die sich schon zu verlöthen begannen, noch mehr verstärkte. Nach und nach wurde die ungeheure Ebene von Eis geboren. Noch durchbrach sie die dagegen anschwimmende Insel, doch nahm die Widerstandskraft jener von Stunde zu Stunde zu. Das Meer gefror rings um sie und über Sehweite hinaus.

Endlich, am 27. September, ergab die Beobachtung, daß die von dem grenzenlosen Eisfelde eingeschlossene Insel Victoria seit dem Tage vorher ihre Lage nicht geändert hatte! Unbeweglich stand sie unter 177° 22′ der Länge und 77° 57′ der Breite, – mehr als sechshundert Meilen vom Continente entfernt.

Zweiundzwanzigstes Capitel.


Zweiundzwanzigstes Capitel.

Die Nacht verlief ruhig. Jasper Hobson erhob sich zeitig, da er die Einschiffung der kleinen Colonie noch an dem nämlichen Tage veranlassen wollte, und ging nach der Lagune.

Noch wälzte sich ein dicker Nebel dahin, über dem man jedoch den hellen Sonnenschein gewahr wurde. Der Himmel war durch den Gewittersturm gereinigt worden, und der Tag versprach ziemlich warm zu werden.

Als Lieutenant Hobson an dem Binnenwasser anlangte, konnte er nicht einmal dessen Oberfläche übersehen, so dichte Nebelmassen lagerten noch darüber.

Da kamen ihm Mrs. Paulina Barnett, Madge und einige Andere nach.

Langsam stieg der Dunst empor und wich zusehends zurück, wobei er die Wasserfläche mehr und mehr bloßlegte. Von dem Flosse war aber noch nichts zu entdecken.

Plötzlich entführte ein Windstoß die letzten Nebelmassen.–

Kein Floß lag mehr am Ufer, kein See zeigte sich dem Auge – das unendliche Meer dehnte sich vor ihren Blicken aus.

Lieutenant Hobson vermochte seine Verzweiflung nicht mehr zu verbergen, und als er und seine Begleiter sich umdrehten und vergeblich den ganzen Horizont durchsuchten, entrang sich ihrer Brust ein greller Schrei – ihre Insel war nur noch ein Eiland!

Während der Nacht hatten sich sechs Siebentel des früheren Gebietes neben Cap Bathurst geräuschlos abgetrennt, in’s Meer versenkt und das frei gewordene Floß war in die offene See hinaus getrieben, ohne daß diejenigen, deren letzte Hoffnung es gewesen war, auch nur das Geringste davon bemerkten.

Wohl ergriff die Verzweiflung die armen Schiffbrüchigen, die über einem Abgrunde standen, der sie jeden Augenblick zu verschlingen drohte. Einige Soldaten wollten sich in’s Meer stürzen. Mrs. Paulina Barnett warf sich ihnen entgegen. Sie ließen ab, und Manchem traten die Thränen in’s Auge. Konnten die Unglücklichen bei dieser entsetzlichen Lage noch ein Fünkchen Hoffnung haben? Und wer malt sich die Stellung des Lieutenants mitten unter den halb verwirrt gewordenen Leuten aus? Einundzwanzig Personen auf einem Scholleneilande, das nur zu bald unter ihren Füßen schmelzen mußte! Mit jenem großen Theil der Insel waren alle bewaldeten Hügel verschwunden und kein Baum weiter vorhanden. Zum Ersatz verblieben höchstens noch einige Planken der vormaligen Gebäude, die aber zum Neubau eines Flosses, das Alle aufnehmen sollte, bestimmt unzureichend waren. Das Leben der Schiffbrüchigen hing also nur noch von der Dauer des Eilandes ab, welche sich auf wenige Tage berechnete, denn um die Zeit der Mitte des Juni hielt sich die Temperatur fast stets auf zwanzig Grad Wärme.

Schnell nahm Lieutenant Hobson noch eine wiederholte Untersuchung der Insel vor, um zu erfahren, ob es sich empfehlen möchte, einen anderen Theil des Ueberrestes zum Aufenthalt zu wählen, wenn die Eisdicke da länger auszuhalten verspräche. Mrs. Paulina Barnett und Madge begleiteten ihn dabei.

»Hoffst Du noch immer? fragte die Reisende ihre treue Gefährtin.

– Immer und ewig!« erwiderte Madge.

Mrs. Paulina Barnett gab keine Antwort. Eiligen Schrittes lief sie mit Jasper Hobson längs des Uferrandes hin. Die Küste von Cap Bathurst bis Cap Eskimo erwies sich in einer Ausdehnung von acht Meilen noch unversehrt. Von letzterem Punkte aus zog sich der Bruch in einer krummen Linie zur äußersten Spitze der Lagune und weiter in’s Innere hinein. Hier bildete demnach das Ufer der Lagune, welches nun die Meereswellen bespülten, die neue Küste. Von dem anderen Ende des Sees aus reichte die Spaltung bis nach einer Stelle zwischen Cap Bathurst und dem ehemaligen Barnett- Hafen. Die Insel repräsentirte also einen Streifen, dessen Breite kaum eine Meile betrug.

Von den hundertundzwanzig Quadratmeilen der früheren Oberfläche blieben jetzt noch zwanzig übrig.

Lieutenant Hobson beachtete mit peinlicher Sorgfalt die jetzige Gestaltung des Eilandes und fand, daß die Stelle der vormaligen Factorei noch immer die verläßlichste sei. Es erschien ihm deshalb rathsam, die jetzige Lagerstätte nicht aufzugeben, welche auch die Thiere durch Instinct noch beibehalten hatten.

Dennoch bemerkte man, daß eine beträchtliche Menge Wiederkäuer und Nager, so wie eine große Anzahl der weit umher revierenden Hunde mit dem größten Theil der Insel verschwunden waren, obgleich von ersteren nicht wenig noch vorhanden blieben. Der Bär trabte auf dem Eilande umher und streifte längs der Ufer, wie es die wilden Thiere im Käfig zu thun pflegen.

Gegen fünf Uhr Abends kehrte Lieutenant Hobson nebst seinen zwei Begleiterinnen zurück. In der so mangelhaften Wohnung befanden sich Alle, Männer und Frauen, versammelt; Keiner wollte noch Etwas sehen, Keiner etwas hören. Mrs. Joliffe machte ein Abendbrod zurecht. Der weniger als seine Kameraden niedergeschlagene Jäger Sabine ging ab und zu und suchte etwas frisches Wild herbeizuschaffen. Der Astronom saß in der Ecke und blickte unsicher und fast empfindungslos über das Meer hinaus. Es schien, als ob ihn Nichts mehr berührte.

Jasper Hobson theilte Allen seine Erfahrungen mit und versicherte sie, daß die zur Zeit benutzte Lagerstätte noch eine verhältnißmäßig größere Sicherheit böte, als jeder andere Küstenpunkt, auch empfahl er Allen, sich nun nicht mehr zu entfernen, denn schon traten halbwegs zwischen der Wohnstätte und dem Cap Eskimo die Vorzeichen weiterer Brüche zu Tage. Voraussichtlich mußte sich die Oberfläche der Insel also bald noch bedeutend verkleinern, und nichts, nichts war dagegen zu thun! Der Tag wurde sehr warm. Die zur Darstellung von Trinkwasser ausgegrabenen Schollen schmolzen ohne Mithilfe des Feuers. An steileren Uferstrecken flossen fortwährend Wasserstrahlen in’s Meer, und deutlich erkannte man eine allgemeine Senkung der ganzen Insel. Unaufhörlich nagte das wärmere Wasser an ihrer Basis.

Während der folgenden Nacht kam Niemand Schlaf in die Augen. Wer wäre auch zu schlummern im Stande gewesen, wenn er jede Minute die Oeffnung des Abgrundes unter sich fürchte, außer vielleicht das kleine Kind, das seine Mutter, die es nicht verlassen konnte, sorglos anlächelte?

Auch am 24. Juni stieg die Sonne am wolkenlosen Firmamente empor. Im Laufe der Nacht war weder eine Veränderung eingetreten, noch die Gestalt der Insel wesentlich anders geworden.

An demselben Tage verirrte sich ein Blaufuchs in die Wohnung, die er gar nicht wieder verlassen wollte, ebenso wie alle sonst vorkommenden Thiere bei der vormaligen Factorei umher schweiften und mehr eine Heerde Hausthiere zu sein schienen. Die Wolfsbanden fehlten allein der arktischen Fauna; offenbar war dieses Raubgesindel bei der Theilung der Insel auf dem abgetrennten Stücke mit weggeführt worden und im Wasser umgekommen. Wie von einer Ahnung gehalten, wich der Bär nicht mehr aus der Nähe des Cap Bathurst, wo auch die übrigen Pelzthiere seine Anwesenheit gar nicht zu fürchten schienen. Die Schiffbrüchigen selbst waren mit dem gigantischen Thiere ganz vertraut geworden und ließen ihn ohne Belästigung kommen und gehen. Die allgemeine Gefahr hatte eben alle Scheidewände zwischen den Menschen und den übrigen Geschöpfen niedergerissen.

Kurze Zeit vor Mittag sollten die Unglücklichen noch einmal freudig erregt und doch recht traurig enttäuscht werden.

Als der Jäger Sabine auf eine kleine Erhöhung stieg und von da aus das Meer überschaute, rief er plötzlich aus:

»Ein Schiff! Ein Schiff!«

Wie elektrisirt sprangen Alle nach dem Jäger zu; Lieutenant Hobson befragte ihn mit den Augen.

Sabine wies auf einen Punkt im Osten, der sich wie ein leichter weißer Hauch vom Horizont abhob. Ohne eine Silbe zu sprechen, starrten Alle dahin, und bald erkannte Jeder deutlich die Masten eines Schiffes.

Wahrscheinlich gehörte Letzteres einem Walfänger an; über die Sache selbst konnte man sich nicht täuschen, denn nach Verlauf einer Stunde wurde auch der Schiffsrumpf sichtbar.

Leider erschien dasselbe im Osten, d. h. auf der entgegengesetzten Seite von der, nach welcher das entführte Floß geschwommen sein mußte. Den Walfänger trieb nur der Zufall in diese Meerestheile, und durfte man sich nicht dem Glauben hingeben, daß er etwa nach Schiffbrüchigen suche, da ihm das leere Floß nicht begegnet war.

Jetzt handelte es sich um die Frage, ob man von jenem Schiffe aus das wenig über dem Wasser aufragende Eiland wahrnehmen und die Nothsignale erkennen würde, die man nach besten Kräften gab. Bei Hellem Tage war das nicht eben wahrscheinlich. Bei Nacht hätte man ein weithin sichtbares Feuer unterhalten können. Würde das Schiff aber nicht vor Einbruch der Nacht verschwunden sein? Auf jeden Fall machte man sich durch Zeichen und Gewehrschüsse bemerkbar.

Doch – das Schiff kam näher! Man erkannte einen Dreimaster, offenbar einen Walfischfänger aus Neu-Archangel, der nach Umsegelung der Halbinsel Alaska der Behrings-Straße zusteuerte. Er befand sich hinter dem Wind der Insel und fuhr mit dem halben Segelwerk nach Norden. Ein Seefahrer hätte es an der Segelstellung erkennen müssen, daß jenes Schiff nicht eigentlich auf die Insel zuhielt. Aber vielleicht bemerkte es diese?

»Wenn es uns gewahr wird, flüsterte Lieutenant Hobson dem Sergeant Long in’s Ohr, wenn es uns gewahr wird, sucht es zu entfliehen!«

Jasper Hobson hatte mit diesen Worten vielleicht recht. In diesen Meeren fürchten die Seefahrer Nichts mehr, als die Annäherung von Eisbergen und Eisinseln, an welche schwimmende Klippen sie in der Dunkelheit der Nacht so leicht stoßen können. Deshalb eilen sie, sobald ihnen selbige zu Gesicht kommen, ihre Richtung zu ändern. Würde jenes Schiff nicht dasselbe thun, wenn es das Eiland bemerkte?

Wahrscheinlich.

Keine Feder vermöchte den Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung zu schildern, den die Schiffbrüchigen zu erdulden hatten. Bis zwei Uhr Nachmittags konnten sie noch glauben, daß die Vorsehung endlich Mitleid mit ihnen habe, daß die Hilfe käme, daß die Rettung da sei. Immer hatte sich das Fahrzeug in schräger Richtung genähert. Jetzt war es nur noch sechs Meilen von dem Eilande entfernt. Man verdoppelte die Nothsignale, schoß so stark man konnte, erzeugte selbst einen möglichst dicken Rauch, indem man einige Planken von der Wohnung opferte….

Vergeblich. Entweder sah Niemand auf dem Schiffe das Eiland, oder es beeilte sich doch, demselben zu entgehen.

Um zweiundeinhalb Uhr wendete es ein wenig und entfernte sich nach Nordosten.

Eine Stunde nachher war es wiederum nur wie ein weißlicher Rauch zu sehen, und bald darauf vollkommen verschwunden.

Da stieß einer der Soldaten, Kellet, ein gellendes Gelächter aus. Man hätte glauben sollen, daß er wahnsinnig geworden sei.

Mrs. Paulina Barnett sah ihrer Madge gerade in’s Gesicht, so als wollte sie fragen, ob sie noch immer Hoffnung hege.

Madge wendete den Kopf ab.

Am Abend dieses unseligen Tages wurde wieder ein lauter Krach hörbar – der größte Theil des Eilandes löste sich los und verschwand im Meere. Laut schallte der Angstschrei der Thiere. Von der Insel war noch das Stückchen zwischen der früheren Wohnung und dem Cap Bathurst übrig!

Nun war sie zur – Scholle geworden!

Dreiundzwanzigstes Capitel.


Dreiundzwanzigstes Capitel.

Eine Scholle! Ein unregelmäßiges dreieckiges Stück Eis, dessen Seiten von hundert bis höchstens hundertfünfzig Fuß maßen! Und darauf einundzwanzig menschliche Wesen, gegen hundert Pelzthiere, ein riesiger Polarbär – Alle auf diesen letzten Ueberrest zusammengedrängt.

Ja, noch waren die Schiffbrüchigen wenigstens Alle am Leben, Keiner bei dem Bruche verschlungen worden, der gerade stattfand, als sie sich Alle in der Wohnung aufhielten. Sollte das Schicksal sie bis jetzt nur gerettet haben, um sie Alle mit einem Schlage zu verderben?

Welch‘ eine schlaflose Nacht! Niemand sprach ein Wort, oder rührte sich von der Stelle, da die geringste Erschütterung hinreichen konnte, eine weitere Zerstückelung zu veranlassen.

Selbst einige Stücken getrockneten Fleisches, welche Mrs. Joliffe austheilte, wollte Niemand anrühren.

Die Meisten verbrachten die Nacht in der freien Luft; sie wollten wenigstens Gottes weiten Himmel über sich verschlungen werden, und nicht in einer beengenden Baracke.

Am andern Tage, dem 5. Juni, stieg die Sonne glänzend über den Unglücklichen auf. Diese sprachen kaum mit einander und suchten sich zu meiden. Mit irrendem Blicke schweiften Einige über den kreisförmigen Horizont, in dessen Mittelpunkte die elende Scholle schwankte.

Auf dem vollkommen verlassenen Meere zeigte sich kein Segel, nicht einmal eine andere Insel oder ein Eiland von Eis. Diese Scholle war offenbar die letzte, welche noch auf dem Behrings-Meere schwamm.

Die Temperatur nahm täglich weiter zu; kein Lüftchen regte sich, in der Atmosphäre herrschte eine wahrhaft erschreckende Ruhe. Lange, flache Wellen hoben und senkten nur sanft jenes Stückchen Eis und Erde, die Reste der Insel Victoria, aber ohne es weiter zu treiben, so wie ein verlassenes Wrack auf- und abschwankt.

Die Trümmer eines Schiffs aber, ein Rest des Gerippes, ein Theil eines Mastes, eine zerbrochene Segelstange, einige Planken u. dgl. schwimmen doch wenigstens und können nicht versinken. Eine Scholle dagegen, ein Stück erstarrtes Wasser, die der Strahl der Sonne zerschmilzt…

Daß diese Scholle so lange ausgedauert, erklärt sich dadurch, daß sie den dicksten Theil der vormaligen Insel gebildet hatte. Eine Decke von Erde und Pflanzen lag über ihr und ihre Eiskruste mußte voraussichtlich von nicht geringem Durchmesser sein. Gewiß hatten die lange anhaltenden Fröste des Polarmeeres sie »mit Eis ernährt«, als jenes Cap Bathurst früher Jahrhunderte hindurch die nördlichste Spitze des amerikanischen Festlandes bildete.

Jetzt überragte diese Scholle das Niveau des Meeres im Mittel noch um fünf bis sechs Fuß; sie mußte also auch unter Wasser noch eine beträchtliche Masse darstellen. Lief sie aber bei dem ruhigen Wasser keine Gefahr zu bersten, so mußte sie doch nach und nach selbst zerfließen, was man an ihren Rändern recht deutlich wahrnehmen konnte, welche unter der Zunge der langen Wellen verschwanden, so daß unaufhörlich ein Stückchen Land nach dem andern sammt seiner grünenden Decke im Meere verschwand.

Ein derartiges Nachbrechen des Bodens fand noch an demselben Tage an der Stelle statt, welche die Wohnung trug, die jetzt unmittelbar am Rande der Scholle stand. Zum Glück war diese menschenleer, doch konnte man von ihr nur einige Planken und Dachbalken retten; der größte Theil der Geräthschaften und die astronomischen Instrumente gingen verloren. Die ganze kleine Colonie mußte sich nun auf den höchsten Punkt des Bodens zurückziehen, wo sie nichts gegen die Unbill der Witterung schützte.

Dorthin brachte man auch einige Werkzeuge, die Pumpen und das Luftreservoir, von dem Jasper Hobson zum Ansammeln des reichlich strömenden Regens Gebrauch machte, um Trinkwasser zu gewinnen, da es jetzt nicht mehr gerathen erschien, dem Boden zu diesem Zwecke Eis zu entnehmen.

Gegen vier Uhr näherte sich der Soldat Kellet, derselbe, der schon einige Spuren von Geistesabwesenheit gezeigt hatte, Mrs. Paulina Barnett und sagte zu ihr in ernstem Tone:

»Madame, ich gehe in’s Wasser.

– Kellet! rief erschrocken die Reisende.

– Ich sage Ihnen, ich gehe in’s Wasser. Ich hab‘ es mir wohl überlegt; eine andere Rettung giebt es doch nicht, so will ich lieber freiwillig sterben.

– Kellet, mahnte die Reisende und ergriff die Hand des Soldaten, dessen unstäter Blick auf ihr ruhte, Kellet, das werden Sie nicht thun!

– Doch, Madame; und da Sie immer so gut gegen uns Alle waren, wollte ich nicht sterben, ohne von Ihnen Abschied zu nehmen.«

Kellet wandte sich nach dem Meere zu. Entsetzt klammerte sich Mrs. Paulina Barnett an ihn fest; ihre Schreie riefen Jasper Hobson und den Sergeanten herbei. Alle unterstützten ihre Bemühungen, den Wahnwitzigen zurückzuhalten. Der Unglückliche, den seine fixe Idee einmal erfaßt hatte, schüttelte abwehrend den Kopf.

Vermochte man wohl diesem Geisteskranken Vernunft beizubringen? Nein! Und wie leicht konnte sein Beispiel ansteckend sein! Wer weiß, ob nicht so manche Kameraden Kellet’s, die im höchsten Grade entmuthigt und verzweifelt waren, seinen Selbstmord nachahmten? Um jeden Preis mußte also das Vorhaben jenes Unglücklichen verhindert werden.

»Kellet, sagte da Mrs. Paulina Barnett mit sanftester Stimme und halb lächelnd, sind Sie mein guter und offenherziger Freund?

– Ja, Madame, erwiderte Kellet ruhig.

– Nun gut, Kellet; wenn Sie wollen, werden wir zusammen in den Tod gehen, … aber heute noch nicht.

– Madame! …

– Nein, mein wackerer Kellet, dazu bin ich nicht vorbereitet; doch morgen, wollen Sie morgen…«

Fester als je sah der Soldat der beherzten Frau in’s Gesicht; einen Augenblick schien er zu zweifeln, warf einen wilden Blick über das glitzernde Meer, strich sich mit der Hand über die Augen und murmelte:

»Also morgen!«

Dann mischte er sich wieder ruhig unter seine Genossen.

»Der arme Unglückliche! sprach Mrs. Paulina Barnett für sich, bis morgen habe ich ihn zu warten vertröstet, wer weiß, ob wir bis dahin nicht Alle schon versunken sind?«

Die ganze folgende Nacht verbrachte Jasper Hobson am Ufer. Er überdachte hin und her, ob es nicht ein Mittel gebe, die Auflösung der Insel so lange hinzuhalten, bis sie ein Land erreichte.

Mrs. Paulina Barnett und Madge wichen keinen Augenblick von einander. Kalumah lag auf dem Boden, wie ein Hund vor seiner Herrin, und suchte diese zu erwärmen. Mrs. Mac Nap war, bedeckt mit einigen Pelzen, den Ueberbleibseln der Reichthümer aus der Factorei, ihr Kind am Herzen eingeschlummert.

Mit unvergleichlicher Reinheit erglänzten die Sterne. Die Schiffbrüchigen lagen da und dort hingestreckt, unbeweglich wie Leichname. Kein Geräusch unterbrach diese fürchterliche Ruhe. Nur die Wellen hörte man, wie sie die Scholle abnagten, und dann und wann ein Abbröckeln und Nachbrechen, dessen Ausdehnung man aus dem begleitenden trockenen Tone errieth.

Manchmal richtete sich der Sergeant empor und sah rings um sich, als könnten seine Augen die Finsterniß durchbohren, aber bald fiel er wieder in seine horizontale Lage zurück. An dem äußersten Ende der Scholle erschien der Bär wie eine unbewegliche, große Schneemasse.

Auch diese Nacht verstrich, ohne daß sich in der allgemeinen Lage etwas Wesentliches änderte; nur nahmen die niedrigen Morgennebel nach Osten zu eine leichte Färbung an. Einige Wolken im Zenith zehrten sich auf, und bald vergoldeten die Strahlen der Sonne die Wellen des endlosen Meeres.

Des Lieutenants erste Sorge war es, die Scholle ringsum zu untersuchen. Ihr Umfang erschien noch weiter verkleinert, ernstlicher fiel aber der Umstand in’s Gewicht, daß auch ihre mittlere Höhe über dem Wasser geringer wurde. Selbst die jetzt so schwache Bewegung der Wellen reichte hin, sie theilweise zu bedecken. Nur der Gipfel der kleinen Erhöhung blieb eigentlich noch frei von Wasser.

Auch Sergeant Long hatte seinerseits die Veränderungen während der vergangenen Nacht in’s Auge gefaßt. Die Fortschritte der Auflösung traten so deutlich zu Tage, daß ihm jede Hoffnung schwand.

Mrs. Paulina Barnett wandte sich zu Lieutenant Hobson.

»Madame, fragte sie dieser, werden Sie heute das Versprechen halten, das Sie Kellet gegeben haben?

– Herr Hobson, erwiderte in fast feierlichem Tone die Reisende, haben wir Alles gethan, was in unseren Kräften stand?

– Alles, Madame!

– Nun, dann geschehe der Wille des Herrn!« Doch sollte im Laufe dieses Tages noch ein letzter verzweifelter Rettungsversuch gemacht werden. Von Nordwesten her wehte eine mäßige Brise gerade nach der Richtung hin, in welcher das nächste Land, die Inselgruppe der Aleuten, liegen mußte.

Wie weit es bis dahin war, konnte man freilich nicht sagen, da die Lage der Scholle aus Mangel an Instrumenten nicht hatte bestimmt werden können. Wahrscheinlich konnte sie, vorausgesetzt, daß ihr keine Meeresströmung zu Hilfe gekommen, nicht weit weggetrieben sein, da sie dem Winde ja fast gar keine Angriffspunkte darbot.

Immerhin blieb diese Frage offen. Wenn die Scholle nun doch dem Lande näher war, als man ahnte! Wenn eine Strömung sie nach den so sehr ersehnten Aleuten getragen hatte! Jetzt wehte der Wind dorthin und mußte das Eisstück schnell fortführen, wenn man für etwas Segelfläche sorgte. Hatte jenes auch nur noch wenige Stunden zu schwimmen, so konnte in dieser Zeit doch vielleicht ein Land in Sicht kommen oder wenigstens ein Küstenfahrer oder ein Fischerboot angetroffen werden, welche der offenen See ja stets fern bleiben.

Eine anfangs ganz dunkle Idee gewann in Lieutenant Hobson’s Geiste bald ganz bestimmte Gestalt. Warum sollte man auf der Scholle nicht ebenso, wie auf einem Flosse, ein Segel ausspannen? Die Ausführung konnte nicht schwierig sein.

Jasper Hobson theilte dem Zimmermann seinen Gedanken mit.

»Sie haben Recht, antwortete Mac Nap. Alle Segel auf!«

So wenig Aussicht auf Erfolg dieser Versuch auch haben mochte, so belebte er doch einigermaßen die gesunkenen Lebensgeister. Konnte das wohl anders sein? Mußten die Unglücklichen sich nicht an Alles anklammern, was einer Hoffnung ähnlich sah? Alle gingen an’s Werk; selbst Kellet, der Mrs. Paulina Barnett noch nicht an ihr Versprechen erinnert hatte.

Ein Giebelbalken der vormaligen Soldatenwohnung wurde roh zugerichtet und in der Erd- und Sandmenge, die den kleinen Hügel bildete, befestigt. Mehrere Seile hielten ihn nach Art der Strickleitern. Eine aus einer starken Stange bestehende Raa empfing an Stelle des Segels eine Ausrüstung durch die Tücher und Decken der Lagerstätten und wurde alsdann aufgehißt. Das sehr urwüchsige Segel schwoll, als es passend gerichtet war, unter dem günstigen Winde an, und der Strudel hinter der Scholle bewies bald, daß sich dieselbe schneller in der Richtung nach Südosten bewegte.

Das war doch ein Erfolg, der die niedergeschlagenen Geister ermunterte. Es ging doch vorwärts, und Alles jubelte über die, wenn auch nur sehr mäßige Bewegung. Der Zimmermann war von diesem Resultate vorzüglich befriedigt. Als ständen sie auf Bordswache, so starrten Aller Augen nach dem Horizonte, und hätte man ihnen jetzt gesagt, daß sich kein rettendes Land zeigen würde, sie hätten es nicht einmal geglaubt.

Und doch sollten sie lange vergeblich harren.

Drei Stunden lang segelte die Scholle schon über das ziemlich ruhige Meer dahin. Sie leistete weder dem Winde noch dem Seegange Widerstand, und die Wellen trugen sie vielmehr, statt ihr hinderlich zu sein. Doch immer noch dehnte sich der ununterbrochene Horizont in vollem Kreise aus, und immer hofften und harrten die Armen!

Gegen drei Uhr Nachmittags nahm Lieutenant Hobson den Sergeant Long bei Seite und sprach zu ihm:

»Wir kommen zwar vorwärts, aber nur auf Kosten der Festigkeit und der Ausdauer unseres Eilandes.

– Wie meinen Sie das, Herr Lieutenant?

– Ich will damit sagen, daß die Scholle sich durch die Reibung des Wassers schneller abnutzt und leichter brechen wird. Seit wir unter Segel sind, hat sie schon um einen guten Theil abgenommen.

– Das glauben Sie …

– Das weiß ich bestimmt, Long. Die Scholle wird schmäler und im Verhältniß länger, auch reicht das Meer bis auf zehn Fuß vor unseren Hügel.«

Lieutenant Hobson hatte wahr gesprochen; mit der schnell dahin geführten Scholle mußte es sich so verhalten, wie er muthmaßte.

»Sergeant, fragte da Jasper Hobson, sind Sie der Meinung, daß wir den Lauf der Insel unterbrechen?

– Ich sollte meinen, erwiderte Sergeant Long, wir müßten darüber die Ansicht Aller hören; die Verantwortlichkeit für diesen Beschluß müssen Alle gleichmäßig tragen.«

Der Lieutenant stimmte zu. Beide nahmen ihren Platz auf der kleinen Erhöhung wieder ein, und Jasper Hobson sprach sich über die gegenwärtige Lage aus.

»Diese Schnelligkeit, sagte er, verzehrt die Scholle, die uns trägt, und könnte die unvermeidliche Katastrophe wohl um einige Stunden beschleunigen. Sprecht Eure Meinung aus, meine Freunde. Wollt Ihr, daß wir weiter segeln?

– Vorwärts! Vorwärts!«

Wie aus einem Munde riefen es alle die Unglücklichen.

Man fuhr also unbeirrt weiter, und dieser Beschluß sollte zu ganz unberechneten Folgen führen. Um sechs Uhr Abends erhob sich Madge und rief, indem sie nach einem entfernten Punkt am Horizont zeigte:

»Land! Land!«

Wie elektrisirt sprangen Alle auf. Wirklich erhob sich ein Land, im Südosten, zwölf Meilen von der Scholle.

»Segel, Segel herbei!« rief Jasper Hobson.

Alle verstanden ihn. Die Segelfläche wurde vergrößert; man brachte zwischen den Seilen mittels Kleidungsstücken, Pelzfellen und Allem, in dem sich der Wind fangen konnte, eine Art Beisegel an.

Die Schnelligkeit der Fahrt nahm zu, zumal die Brise auffrischte. Von allen Seiten schmolz aber nun die Scholle. Man fühlte sie erzittern; jeden Augenblick konnte sie in Stücke gehen.

Jetzt wollte Niemand hieran denken; nur die Hoffnung erfüllte sie; da unten auf dem festen Lande war ja das Heil!

Man rief nach ihm in’s Weite, man machte Zeichen – es war ein wahrer Rausch, der Alle erfaßte!

Um sieben ein halb Uhr hatte sich die Scholle merklich der Küste genähert, aber sie schmolz und versank auch zusehends. Schon spülten die Wellen über den größten Theil derselben und begruben die meisten der Thiere, die vor Angst sich nicht zu lassen wußten.

Jeden Augenblick konnte man das Versinken in den Abgrund befürchten. An die Ränder der Scholle schaffte man noch Sand und Erde, um jene vor der directen Bestrahlung durch die Sonne zu schützen, aus demselben Grunde breitete man auch Pelzfelle, die ihrer Natur nach sehr schlechte Wärmeleiter sind, darüber aus. Alle nur erdenklichen Mittel wurden angewendet, um die endliche Katastrophe zu verzögern. Aber Alles das war nicht hinreichend. Im Innern der Scholle hörte man es krachen, und auf der Oberfläche zeigten sich die Linien der Sprünge. Schon drang das Wasser von allen Seiten darüber ein, und noch war die Küste vier Meilen unter dem Winde entfernt!

Die Nacht sank herab, – eine dunkle, mondeslose Nacht.

»Frisch auf! Macht ein Signal, meine Freunde, rief Jasper Hobson. Vielleicht wird man uns doch von dort aus gewahr!«

Schnell trug man aus Allem, was noch Brennbares vorhanden war, nämlich wenige Planken und einen kleinen Balken, zu einem Scheiterhaufen zusammen und setzte diesen in Flammen. Bald züngelte ein hellleuchtendes Feuer durch das Halbdunkel empor….

Doch immer weiter schmolz die Scholle und immer tiefer sank sie hinab. Bald tauchte nur noch der kleine Hügel über das Wasser auf. Auf denselben hatten sich Alle, eine Beute des Entsetzens, zusammengedrängt, und mit ihnen die wenigen vom Meere noch verschonten Thiere. Der Bär ließ ein furchtbares Brummen vernehmen. Immer höher stieg das Wasser, und Nichts ließ annehmen, daß die Schiffbrüchigen bemerkt worden seien. Kaum eine Viertelstunde konnte noch bis zum Untersinken vergehen….

Gab es denn kein Mittel, den Zusammenhalt der Eisscholle nur um kurze Zeit zu verlängern? Nur noch um drei Stunden, so durfte man hoffen, das kaum noch drei Meilen entfernte Ufer zu erreichen! Aber was in aller Welt, was war zu thun?

»O, rief Jasper Hobson, gebt mir ein Mittel, die Schmelzung dieser Scholle jetzt zu hindern. Mein Leben, ja mein Leben gebe ich darum!«

Da ließ sich eine Stimme vernehmen:

»Es giebt wohl noch ein Mittel!«

Thomas Black war es, der also sprach; der Astronom, der so lange Zeit kaum den Mund geöffnet hatte, der kaum noch als Lebender gerechnet wurde unter allen diesen Opfern eines grausamen Todes. Und nun erlangte er die Sprache wieder, um zu verkünden: »Es giebt noch ein Mittel, die Schmelzung dieser Scholle zu verhindern! Es giebt noch eine Hilfe, die uns retten kann!«

Jasper Hobson stürzte auf Thomas Black zu; fragend hingen Aller Augen an diesem; sie glaubten, nicht recht gehört zu haben.

»Und dieses Mittel wäre… fragte der Lieutenant.

– An die Pumpen!« erwiderte einfach Thomas Black.

War dieser zum Narren geworden? Hielt er die Scholle für ein Schiff, das bei zehn Fuß Wasser im Kielraum zu versinken drohte?

Die Ventilationspumpen und das jetzt als Trinkwasserbehälter dienende Luftreservoir befanden sich wohl noch auf der Scholle, doch was sollten sie jetzt nützen? Wie konnten sie die Ränder, welche von allen Seiten abschmolzen, wieder erhärten?

»Er ist toll geworden! sagte Sergeant Long.

– An die Pumpen! wiederholte der Astronom. Laßt wieder Luft in das Reservoir!

– Thun wir seinen Willen!« rief Mrs. Paulina Barnett.

Die Pumpen wurden mit dem Luftbehälter verschraubt, dessen Deckel schnell verschlossen und verdichtet, und in ihm die eingepreßte Luft bis zur Spannung mehrerer Atmosphären comprimirt. Da befestigte Thomas Black einen Lederschlauch an das Reservoir, öffnete den Hahn des Letzteren und ging damit längs der Ränder der Scholle hin, wo die Wärme diese auflöste.

Und was geschah dabei zum größten Erstaunen Aller? Ueberall, wo die Hand des Astronomen den Luftstrom hinleitete, hörte es auf zu thauen, schlossen sich die Spalten wieder und fror es von Neuem.

»Hurrah! Hurrah!« riefen die Unglücklichen.

Zwar ermüdete die Arbeit an den Pumpen sehr, aber an Mannschaften zur Ablösung fehlte es ja nicht. Die vorspringenden Theile der Scholle nahmen wieder feste Gestalt an, als wären sie einer neuen, strengen Kälte ausgesetzt.

»Sie retten uns wie durch ein Wunder, Herr Black, sagte Jasper Hobson.

– O, das geht ja ganz natürlich zu!« erwiderte der Astronom.

Es war das in der That ganz natürlich, und zwar vollzog sich folgender physikalische Proceß:

Das Eis gefror nämlich aus zwei Gründen: erstens, indem das Wasser an der Oberfläche durch den Luftstrom verdunstet wurde und dadurch eine bedeutende Kälte erzeugte, und zweitens, indem die stark zusammengedrückte Luft sich wieder ausdehnte und dabei viele Wärme band. Ueberall, wo ein Sprung sich zeigte, verlöthete die durch die Luftausdehnung hervorgebrachte Kälte dessen Ränder wieder, und die Eisscholle gewann, Dank diesem äußersten Hilfsmittel, nach und nach fast ihre frühere Festigkeit wieder.

Mehrere Stunden fuhr man so in Gleichem fort. Erfüllt von froher, verlockender Hoffnung arbeiteten die Schiffbrüchigen mit einem Eifer, den nichts zu lähmen vermochte.

Man näherte sich dem Lande.

Als die Küste nur noch eine Viertelmeile entfernt lag, sprang der Bär in’s Wasser, schwamm bald an’s Land und verschwand.

Einige Minuten nachher strandete die Scholle auf dem Ufersande. Die wenigen Thiere, welche sie noch geborgen hatte, entflohen in das Dunkel. Dann verließen sie die Schiffbrüchigen, sanken in die Knie und lobpreisend stieg der Dank für ihre wunderbare Erhaltung und glückliche Rettung zum Himmel empor!

Vierundzwanzigstes Capitel.


Vierundzwanzigstes Capitel.

An dem äußersten Ende des Behrings-Meeres, auf der letzten der Aleuten, der Insel Blejinic, stieß das ganze Personal von Fort-Esperance, nachdem es seit Eintritt des Thauwetters 1800 Meilen weit getrieben worden war, wieder an’s Land. Aleutische Fischer, die den Geretteten zu Hilfe kamen, nahmen sie gastfreundlich auf. Bald waren die englischen Agenten am Festlande, welche im Dienste der Hudsons-Bai-Compagnie standen, über Jasper Hobson und seine Leute in Kenntniß gesetzt. –

Erscheint es nach dieser eingehenden Erzählung noch besonders nöthig, den Muth der wackeren Leute, die ihres Chefs würdig waren, und ihre entschlossene Thatkraft bei so vielerlei Prüfungen hervorzuheben? Nie hatte jener ihnen gefehlt, weder den Männern, noch den Frauen, denen die beherzte Paulina Barnett immer als Beispiel der Willenskraft im Mißgeschick und der Ergebung in den Rathschluß der Vorsehung voranging. Alle hatten treulich gekämpft bis zum Ende und der Verzweiflung keine Macht über sich gegönnt, selbst als sie das Festland, auf dem Fort- Esperance gegründet worden war, sich in eine umherirrende Insel, diese Insel in ein Eiland, dieses Eiland sich in eine Scholle verwandeln sahen, und auch zuletzt noch nicht, als selbst diese unter dem doppelten Einfluß der Sonne und des wärmeren Wassers zu schmelzen begann! Wenn der Versuch der Compagnie wieder von vorn angefangen werden mußte, wenn das neue Fort seinen Untergang gefunden hatte, – den Lieutenant Hobson und seine Genossen, die der Spielball so vieler unvorhergesehener Unfälle gewesen waren, konnte kein Vorwurf treffen. Jedenfalls fehlte von den neunzehn, Lieutenant Hobson’s Fürsorge anvertrauten Personen keine einzige, ja, die kleine Colonie war sogar um zwei Mitglieder, die junge Eskimodin Kalumah und das Kind des Zimmermanns Mac Nap, das Pathchen der Mrs. Paulina Barnett, gewachsen.

Sechs Tage nach ihrer Rettung kamen die Schiffbrüchigen in Neu-Archangel, der Hauptstadt des russischen Amerika, an.

Dort sollten sich Alle, welche die allgemeine Gefahr zu so nahen Freunden gemacht hatte, vielleicht für immer trennen!

Jasper Hobson und seine Leute wollten Fort- Reliance auf dem Ueberlandwege wieder erreichen, wahrend Mrs. Paulina Barnett, Kalumah, die sich von Ersterer nicht mehr trennen konnte, Madge und Thomas Black über San-Francisko und die Vereinigten Staaten nach Europa zurückzukehren beabsichtigten.

Bevor sie aber von einander schieden, sprach der Lieutenant in Gegenwart aller seiner Leute mit bewegter Stimme diese Worte zu der Reisenden:

»Madame, segne Sie Gott für das Gute, das wir Alle Ihnen verdanken! Sie waren unser Glaube, unser Trost, die Seele unserer kleinen Welt! Ich danke Ihnen in Aller Namen aus tiefstem Herzensgrunde!«

Ein dreimaliges Hurrah erschallte zu Ehren Mrs. Paulina Barnett’s; dann wollte jeder der Soldaten die Hand der muthigen Reisenden drücken, jede der Frauen sie tiefgerührt umarmen.

Jasper Hobson, der eine so innige Zuneigung zu Mrs. Paulina Barnett gewonnen hatte, wurde das Herz recht schwer, als er ihr zum letzten Male die Hand bot.

»Wäre es möglich, daß wir uns nie und nimmer wiedersehen sollten? sagte er.

– Nein, Jasper Hobson, antwortete die Reisende, nein, das kann nicht sein! Und wenn Sie nicht nach Europa kommen, ich werde Sie wieder zu finden wissen, hier oder in der neuen Factorei, die Ihre Hand doch einst noch gründet …«

In diesem Augenblick trat Thomas Black, der, seit er festes Land unter den Füßen spürte, die Sprache wieder erlangt hatte, vor und sagte mit bestimmtester Miene:

»Ja, wir werden uns wiedersehen … in sechsundzwanzig Jahren. Meine Freunde, die Sonnenfinsterniß des Jahres 1860 ist mir entgangen, aber die nächste werde ich nicht verfehlen, die im Jahre 1886 unter denselben Verhältnissen und unter denselben Breiten stattfinden wird. In sechsundzwanzig Jahren also, werthe Frau, finde ich Sie, und auch Sie, mein wackerer Lieutenant, an den Grenzen des Polarmeeres wieder.«

Ende.

 

Inhalt.

Erstes Capitel. Ein schwimmendes Fort ….. 1 Zweites Capitel. Wo man sich befand ….. 14 Drittes Capitel. Ein Gang um die Insel ….. 27 Viertes Capitel. Ein Nachtlager ….. 41 Fünftes Capitel. Vom 25. Juli bis zum 20. August ….. 53 Sechstes Capitel. Zehn Tage Sturm ….. 67 Siebentes Capitel. Ein Feuer und ein Schrei ….. 78 Achtes Capitel. Ein Ausflug der Mrs. Paulina Barnett ….. 92 Neuntes Capitel. Kalumah’s Abenteuer ….. 108 Zehntes Capitel. Der Kamtschatka-Strom ….. 120 Elftes Capitel. Eine Mittheilung Jasper Hobson’s ….. 132 Zwölftes Capitel. Rettungsversuche ….. 144 Dreizehntes Capitel. Quer über das Eisfeld ….. 156 Vierzehntes Capitel. Die Wintermonate ….. 166 Fünfzehntes Capitel. Ein letzter Ausflug ….. 177 Sechzehntes Capitel. Thauwetter ….. 192 Siebenzehntes Capitel. Der Eissturz ….. 204 Achtzehntes Capitel. Alle Hände beschäftigt ….. 212 Neunzehntes Capitel. Das Behrings-Meer ….. 225 Zwanzigstes Capitel. In’s offene Meer ….. 236 Einundzwanzigstes Capitel. Die Insel wird zum Eiland ….. 244 Zweiundzwanzigstes Capitel. Die vier folgenden Tage ….. 252 Dreiundzwanzigstes Capitel. Auf einer Scholle ….. 256 Vierundzwanzigstes Capitel. Schluß ….. 273

Viertes Capitel.


Viertes Capitel.

Jasper Hobson hatte sich also bezüglich der Bruchstelle nicht getäuscht. Der Isthmus war durch die Stöße des Erdbebens getrennt worden. Westlich von der Insel zeigten sich keine Spuren des amerikanischen Festlandes, keine steilen Gestade, keine Vulkane mehr – allüberall nur Wasser!

Der jetzt durch die Südwestspitze der Insel gebildete Winkel ragte als scharf abgeschnittenes Cap hervor, welches, angenagt durch wärmere Gewässer und deren Anprall ausgesetzt, einer baldigen Zerstörung anheim fallen mußte.

Die Reisenden setzten ihren Weg längs der fast geraden und ziemlich genau von Westen nach Osten verlaufenden Bruchlinie fort. Die Fläche des Bruches selbst war so glatt, als rührte sie von einem schneidenden Werkzeuge her, und gestattete an manchen Stellen das Gefüge des Erdbodens zu erkennen. Das zur Hälfte aus Eis und zur Hälfte aus Erde und Sand bestehende Ufer tauchte gegen zehn Fuß hoch über das Wasser auf. An dem vollkommen steilen Abfalle verriethen mehrere ganz frische Stellen noch neuerliche Nachstürze. Sergeant Long wies sogar auf zwei bis drei kleine Eisschollen hin, welche eben in Auflösung begriffen waren. Durch die anbrandenden Wellen mußte das wärmere Wasser natürlich diesen Saum um so leichter benagen, da ihn die Zeit noch nicht, so wie die übrigen Küstenstriche, mit einer Art Mörtel aus Sand und Schnee bekleidet hatte; ein Umstand, der auch nicht zu besonderer Beruhigung diente.

Mrs. Paulina Barnett, Lieutenant Hobson und Sergeant Long wollten, bevor sie sich zur Ruhe begaben, die ganze südliche Kante der Insel untersuchen. Die Sonne, welche jetzt einen sehr verlängerten Bogen beschrieb, konnte vor elf Uhr nicht untergehen, und fehlte es demnach nicht an Tageslicht. Langsam zog die glänzende Scheibe über den westlichen Himmel, deren schräge Strahlen riesenhafte Schattenbilder vor die Füße der Wanderer warfen. Diese selbst kamen manchmal in lebhaftes Gespräch, manchmal aber traten lange Pausen ein, während der sie das Meer überschauten oder ihre Zukunft bedachten.

Es lag in Jasper Hobson’s Absicht, an der Washburn-Bai zu übernachten. An diesem Punkte rechnete er, wenn sich seine Voraussetzungen als richtig erwiesen, gegen achtzehn Meilen, das heißt die Hälfte der Rundreise, zurückgelegt zu haben. Wenn sich dann seine Begleiterin nach einigen Stunden der Ruhe von ihrer Anstrengung erholt hätte, gedachte er sich nach dem nördlichen Ufer zu wenden, und längs desselben nach Fort-Esperance zurück zu kehren.

Bei der Besichtigung des neuen Ufers zwischen der Walroß- und der Washburn-Bai ereignete sich nichts Besonderes. Um sieben Uhr Abends war Jasper Hobson nach dem Punkte gelangt, den er zum Uebernachten ausersehen hatte. Auch an dieser Seite zeigte sich dieselbe Veränderung; von der Washburn-Bai war nur noch die eine flachbogige Seite übrig, welche die Küste der Insel bildete. Diese erstreckte sich ohne nennenswerthe Unterbrechung bis zu einem »Cap Michel« genannten Vorsprunge in einer Länge von sieben Meilen. Dieser Theil der Insel schien durch den Bruch des Isthmus in keiner Weise gelitten zu haben. Lustig grünten Fichten- und Birkengruppen etwas landeinwärts; auch Pelzthiere sah man in ziemlicher Menge über die Ebene dahin laufen.

Mrs. Paulina Barnett und ihre beiden Begleiter hielten an dieser Stelle an. Waren ihre Blicke auch nach Norden hin beschränkt, so umfaßten sie doch nach Süden zu die volle Hälfte des Gesichtskreises. Die Sonne beschrieb einen so flachen Kreis, daß ihre von dem höheren Ufer im Westen aufgefangenen Strahlen nicht bis zur Washburn-Bai dringen konnten. Noch war es aber nicht Nacht, nicht einmal Dämmerung, denn das Strahlengestirn war noch nicht untergegangen.

»Herr Lieutenant, begann da der Sergeant im ernsthaftesten Tone der Welt, wenn jetzt durch ein Wunder eine Glocke ertönte, welche Stunde würde sie nach Ihrer Meinung schlagen?

– Die Stunde des Abendessens, Sergeant, entgegnete Jasper Hobson. Ich denke, Madame, Sie werden auch dieser Ansicht sein?

– Ganz und gar, bestätigte die Reisende; und da unser Tisch überall ist, wo wir uns niedersetzen, so wollen wir es sofort thun. Hier befindet sich gleich ein freilich etwas abgenutzter Moosteppich, den die Vorsehung eigens für uns ausgebreitet zu haben scheint.«

Die Provianttasche ward also geöffnet. Getrocknetes Fleisch und eine aus der Speisekammer der Mrs. Joliffe bezogene Hasenpastete bildeten nebst etwas Schiffszwieback die Speisekarte.

Eine Viertelstunde nach eingenommener Mahlzeit wandte sich Jasper Hobson noch einmal nach der südöstlichen Ecke der Insel zurück, während Mrs. Paulina Barnett am Fuße einer dürftigen, halb entästeten Tanne sitzen blieb, und der Sergeant sich mit der Einrichtung einer Lagerstätte für die Nacht beschäftigte.

Lieutenant Hobson wollte die Structur des Eisfeldes, welches die Insel bildete, untersuchen, und wenn möglich die Entstehungsweise desselben erforschen. An einer durch Einsturz entstandenen abschüssigen Stelle konnte er bis zum Meeresniveau hinabgelangen und von diesem Punkte aus bequem die steile Ufermauer betrachten.

An dieser Stelle stieg der Erdboden kaum drei Fuß über das Wasser heraus. Sein oberer Theil bestand aus einer dünnen Schicht von Erde und Sand, untermischt mit Trümmern von Muschelschalen. Den unteren Theil bildete eine zusammenhängende, sehr harte, fast metallähnlich gewordene Eislage, welche also unmittelbar die Humusdecke der Insel trug.

Diese Eisschicht überragte die Wasserfläche kaum um einen Fuß. An der frischen Schnittfläche waren die Einzelschichten des Eisfeldes deutlich zu unterscheiden. Die ganz horizontalen Ablagerungen schienen darauf hinzudeuten, daß die auf einander folgenden Frostperioden, denen sie ihre Entstehung verdankten, ein völlig ruhiges Wasser betroffen hatten.

Bekanntlich gefrieren Flüssigkeiten zuerst an ihrer Oberfläche; dauert der Frost dann länger an, so wächst die erste feste Schale von oben nach unten weiter. So ist der Vorgang wenigstens bei still stehendem Wasser. Bei fließendem dagegen hat man beobachtet, daß sich zuerst in der Tiefe Eisschollen bilden, welche später zur Oberfläche aufsteigen.

Für dieses Eisfeld, die Unterlage der Insel Victoria, aber war es nicht zweifelhaft, daß es am Ufer des Festlandes aus ruhigem Wasser entstanden sei, und drängte sich die Annahme auf, daß dasselbe an seiner unteren Fläche wegschmelzen werde. Gelangte es also in wärmere Gewässer, so mußte die Eisinsel an Dicke abnehmen, ihre Oberfläche dem entsprechend aber dem Niveau des Meeres näher kommen.

Hierin lag die größte Gefahr.

Jasper Hobson hatte, wie erwähnt, beobachtet, daß die feste, Unterlage der Insel, also der eigentliche Eisblock, die Wasserfläche nur um etwa einen Fuß überragte. Nun weiß man aber, daß eine Scholle höchstens zu vier Fünfteln in das Wasser einsinkt. Ein Eisfeld oder ein Eisberg hat demnach für jeden Fuß sichtbaren Durchmessers vier Fuß unter der Wasserfläche. Doch ist nicht zu übersehen, daß schwimmende Schollen je nach ihrer Bildung und Entstehungsweise eine verschiedene Dichtigkeit, also ein wechselndes specifisches Gewicht aufweisen. Solche aus Meerwasser nämlich sind poröser, undurchsichtig, je nach der Richtung der Lichtstrahlen von blauer oder grüner Färbung, und leichter, als die aus Süßwasser entstandenen. Ihre Oberfläche steigt also etwas höher über das Meeresniveau empor. Gewiß bestand nun der Untergrund der Insel Victoria aus einer Salzwasserscholle.

Brachte Jasper Hobson auch das Gewicht der mineralischen und vegetabilischen Decke derselben in Anschlag, so gelangte er zu dem Schlusse, daß ihr Durchmesser unter dem Meere nur etwa vier bis fünf Fuß betragen könne. Das wechselnde Relief der Insel, ihre verschiedenen Bodensenkungen und Erhebungen, ging offenbar nur der erdig-sandigen Oberfläche derselben an, und machte die Annahme wahrscheinlich, daß die schwimmende Insel nirgends tiefer, als höchstens fünf Fuß, eintauche.

Diese Ueberzeugung weckte in Jasper Hobson sehr ernste Sorgen! Nur fünf Fuß! War es, ohne von der Auflösung zu reden, welcher die Insel aus verschiedenen Ursachen unterliegen konnte, nicht anzunehmen, daß der geringste Anprall hinreichen werde, sie durch und durch zu spalten? – Daß eine heftige Bewegung des Wassers, etwa durch einen Sturm oder nur durch einen einzelnen starken Windstoß, sie in einzelne Schollen zersprengen und ihrer völligen Auflösung entgegen führen könnte? Wie sehnlich wünschte Lieutenant Hobson den Winter, den Frost, das Erstarren des Quecksilbers in der Thermometerkugel jetzt herbei! Nur die furchtbare Kälte der Polarländer und des arktischen Winters konnte die Grundlage der Insel fester und stärker machen, und gleichzeitig eine Verbindung zwischen ihr und dem Continente wieder herstellen.

Lieutenant Hobson kam nach dem Halteplatze zurück. Sergeant Long war damit beschäftigt, ein Nachtlager herzurichten, da er nicht unter freiem Himmel campiren wollte, obgleich Mrs. Paulina Barnett sich dabei beruhigt hätte. Er theilte Jasper Hobson seine Absicht mit, im Erdboden ein für drei Personen genügendes Eishaus auszuhöhlen, das ihnen gegen die Nachtkälte vollkommen Schutz gewähren sollte.

»Im Lande der Eskimos, sagte er, ist Nichts klüger, als zu leben wie ein Eskimo.«

Jasper Hobson stimmte zu, empfahl ihm aber, nicht zu tief in den Eisboden, dessen Dicke nur fünf Fuß betragen könne, hinein zu graben.

Sergeant Long ging an die Arbeit. Mit Hilfe der Axt und des Schneemessers hatte er bald das Erdreich bei Seite geschafft und eine Art Vorraum, der direct auf die Eisschicht stieß, ausgehöhlt. Dann nahm er diese mürbe Masse in Angriff, auf der Sand und Erde wohl Jahrhunderte hindurch geruht hatten.

Es bedurfte kaum einer Stunde, um diese unterirdische Zufluchtsstätte, oder vielmehr diese Höhle mit Eiswänden, welche die Wärme sehr gut zusammenhielt und demnach für wenige Stunden der Nacht eine hinreichende Wohnlichkeit darbot, auszuschachten.

Während Sergeant Long wie eine Termite arbeitete, gesellte sich Hobson zu seiner Reisegefährtin und theilte ihr die Resultate seiner Beobachtung der physikalischen Beschaffenheit der Insel mit, wobei er ihr die ernsten Befürchtungen nicht verhehlte, die jene Prüfung in ihm erregt hatte. Bei der geringen Stärke des Eisfeldes mußten in nicht ferner Zeit Sprünge und Brüche entstehen, deren Stelle eben so wenig vorher zu sehen, als sie selbst zu verhindern waren. Jeden Augenblick konnte die umherirrende Insel durch Veränderung ihres specifischen Gesammtgewichtes tiefer einsinken oder sich in mehr oder weniger zahlreiche Inselchen von nothwendig ephemerer Existenz zertheilen. Er hielt es demnach für angezeigt, daß sich die Bewohner von Fort-Esperance so wenig als möglich von der Factorei entfernten, um auf einem Punkte vereinigt mindestens das gleiche Geschick zu theilen.

Hier wurde das Gespräch plötzlich durch einen Aufschrei unterbrochen.

Mrs. Paulina Barnett und der Lieutenant erhoben sich sofort und blickten forschend rund umher.

Niemand war zu sehen.

Das Hilferufen verdoppelte sich.

»Das ist der Sergeant! Der Sergeant!« sagte Jasper Hobson.

Eiligst begab er sich, Mrs. Barnett hinter ihm her, nach der Lagerstätte.

Kaum angelangt an der klaffenden Mündung des Eishauses, gewahrte er den Sergeanten, der sich mit beiden Händen krampfhaft an seinem Messer hielt, das er in die Eiswand eingestoßen hatte, und mit lauter, aber völlig ruhiger Stimme um Hilfe rief.

Nur Kopf und Arme blieben noch von ihm sichtbar. Beim Aufhacken des Eises hatte der Boden plötzlich unter ihm nachgegeben, und er war bis an den Gürtel in’s Wasser gesunken.

»Aushalten!« rief ihm Jasper Hobson zu.

Den Einschnitt hinabgleitend gelangte er an den Rand der Oeffnung und reichte dem Sergeanten die Hand, welcher mit Hilfe dieses sicheren Stützpunktes aus dem Loche heraus kam.

»Mein Gott, Sergeant Long! rief Mrs. Paulina Barnett, was ist Ihnen widerfahren?

– Ei, Madame, erwiderte Long, der sich wie ein nasser Pudel schüttelte, das Eis brach unter mir und half mir zu einem unfreiwilligen Bade.

– Dann haben Sie aber, fragte Jasper Hobson, meine Mahnung, nicht zu tief zu graben, außer Acht gelassen?

– Entschuldigen Sie, Herr Lieutenant. Sie sehen, daß ich kaum fünfzehn Zoll in den Eisboden hinein war. Es ist nur anzunehmen, daß sich unter mir eine Blase, eine Art Höhlung befand, denn das Eis lag nicht auf dem Wasser auf, und ich brach durch wie durch eine Zimmerdecke. Hätte ich mich nicht an meinem Messer halten können, so konnte ich einfältiger Weise unter die Insel gerathen, und das wäre doch etwas unangenehm gewesen; nicht wahr, Madame?

– Sehr unangenehm, wackerer Sergeant!« antwortete die Reisende und bot dem braven Manne die Hand.

Sergeant Long’s abgegebene Erklärung war völlig richtig.

Aus irgend welchem Grunde, vielleicht in Folge der Entwickelung von Luft, bildete das Eis an dieser Stelle eine hohle Wölbung, und folglich hatte deren ohnehin nicht starke und durch das Schneemesser noch weiter geschwächte Decke unter dem Gewichte des Sergeanten nachgegeben.

Diese innere Gestaltung, welche sich gewiß an so manchen Punkten des Eisfeldes wiederholte, diente auch nicht zur besonderen Beruhigung. Wo war man nun sicher, den Fuß auf verläßlichen, festen Boden zu setzen? Konnte dieser nicht bei jeder Belastung einsinken? Nahm man noch hinzu, daß sich der grundlose Ocean unter jener dünnen Erd- und Sandkruste befand, welches noch so muthige Herz wäre dadurch nicht verzagt geworden?

Sergeant Long, der sich um das eben genommene Bad blutwenig kümmerte, wollte seine Mineurarbeiten an einer anderen Stelle frisch beginnen. Diesmal gab aber Mrs. Paulina Barnett ihre Zustimmung nicht, da es ihr nicht schwer ankam, eine Nacht ganz im Freien zuzubringen. Der Schutz des benachbarten Gehölzes würde ihr ebenso wie ihren Gefährten vollkommen genügen, und widersprach sie deshalb unbedingt der Wiederaufnahme einer so gefährlichen Arbeit. Sergeant Long mußte sich fügen und gehorchen.

Die Lagerstätte wurde demnach um etwa hundert Fuß vom Ufer nach rückwärts an eine kleine Bodenerhebung verlegt, wo sich einige vereinzelte Gruppen von Fichten und Weiden, welche zusammen den Namen eines Gehölzes noch nicht verdienten, erhoben. Um zehn Uhr Abends, gerade als die Sonne den Horizont, unter dem sie für wenige Stunden verschwinden sollte, noch streifte, loderte knisternd ein Feuer von dürren Aesten empor.

Dem Sergeant Long bot dasselbe eine herrliche Gelegenheit, seine Füße zu trocknen, von der er eiligst Gebrauch machte. Jasper Hobson verplauderte mit ihm die Zeit, bis die Dunkelheit an Stelle des Tageslichtes trat. Von Zeit zu Zeit mischte sich auch Mrs. Paulina Barnett in das Gespräch und suchte den Lieutenant von seinen etwas düsteren Gedanken abzulenken. Diese schöne Nacht, am Zenith so sternenreich wie alle Polarnächte, erschien einer Besänftigung des Geistes besonders günstig. Leise murmelte der Wind in den Gipfeln und das Meer an der Küste schien zu schlafen. Kaum erhoben sich langgedehnte Wellen auf seiner Fläche und verliefen sich geräuschlos am Ufersaume der Insel. Kein Schrei eines Vogels war in den Lüften, kein Laut von irgend einem Thiere auf der Ebene hörbar. Nur die vom Harze genährten Flammen brachen prasselnd aus den Tannenstämmchen hervor, und dann und wann unterbrach das Gemurmel der Stimmen, welche im Luftzug verhallten, das Schweigen der Nacht, das dadurch nur erhabener erschien.

»Wer möchte glauben, sagte da Mrs. Paulina Barnett, daß wir jetzt auf weitem Meere entführt werden? Wahrlich, Herr Hobson, jetzt habe ich Mühe, mir das richtig vorzustellen, denn uns erscheint das Meer unbeweglich, und doch treibt es uns mit unwiderstehlicher Gewalt dahin!

– Ja, Madame, antwortete Jasper Hobson, wenn der Boden dieses Fahrzeuges verläßlich wäre, wenn der Kiel dem Schiffe nicht über kurz oder lang mangeln müßte, wenn seine Planken nicht drohten, sich heut oder morgen zu öffnen, und wenn ich endlich wüßte, wohin es mich trägt, – dann, gestehe ich Ihnen, wäre ich auch nicht böse, den Ocean in dieser Weise zu befahren.

– Wahrlich, Herr Hobson, fuhr die Reisende fort, giebt es denn eine angenehmere Fortbewegung, als die unserige? Wir bemerken ja gar Nichts davon, da unsere Insel mit der Meeresströmung genau dieselbe Schnelligkeit besitzt. Entspricht das nicht vollkommen den Verhältnissen des Luftballons in der Höhe? Wie reizend müßte es sein, so mit seinem Hause, Garten, Parke, ja, mit dem ganzen Lande zu verreisen! Eine schwimmende Insel, darunter verstehe ich aber eine wirkliche Insel mit festem Grund und Boden, müßte doch das bequemste und herrlichste Fahrzeug abgeben, das nur zu erdenken wäre. Man berichtet von schwebenden Gärten; ei, warum soll man dereinst nicht schwimmende Parks herstellen, die uns nach jedem beliebigen Punkte der Erde dahintragen? Ihre Größe würde sie von dem Seegange ganz unabhängig und ihnen die Stürme unschädlich machen. Vielleicht wären bei günstigem Winde auch große Segel dabei zu benutzen. Welche Wunder der Vegetation entfalteten sich dann wohl vor den Blicken der Reisenden, wenn sie aus der gemäßigten Zone in die Tropenzone einträten! Sicher müßte man mit geschickten und über alle Meeresströmungen genau unterrichteten Lootsen sich in jeder beliebigen Breite erhalten und eines ewigen Frühlings erfreuen können!«

Jasper Hobson vermochte gegenüber diesen Traumbildern der enthusiastischen Mrs. Barnett ein Lächeln nicht zu unterdrücken. Die kühne Frau ließ ihren Gedanken so liebenswürdig freien Lauf und glich so sehr der Insel Victoria, welche sich weiter bewegte und es doch nicht verrieth. Gewiß konnte man sich nach Lage der Sachen über diese eigenthümliche Art, die Meere zu durchziehen, nicht beklagen, wenn man davon absah, daß die Insel in jedem Augenblicke zu schmelzen und zu versinken drohte.

Die Nacht verstrich. Nach wenigen Stunden der Ruhe frühstückte man zum allgemeinen Wohlgefallen. Ein lebhaftes Feuer von dürrem Gesträuch erwärmte und belebte auch die Füße der Schläfer wieder, welche durch die Nachtkälte etwas erstarrt gewesen waren.

Um sechs Uhr Morgens begaben sich Mrs. Paulina Barnett, Lieutenant Hobson und Sergeant Long wieder auf den Weg.

Vom Cap Michael bis zum vormaligen Barnett-Hafen verlief die Küste fast geradlinig von Süden nach Norden und in einer Länge von fast elf Meilen. Sie bot nichts Besonderes und schien durch den Bruch des Isthmus nicht gelitten zu haben. Ein wenig rückwärts von dem im Allgemeinen niedrigen und ebenen Ufer brachte Sergeant Long auf Jasper Hobson’s Anordnung einige Merkzeichen an, um mit ihrer Hilfe spätere Veränderungen richtiger erkennen zu können.

Der Lieutenant wünschte Fort-Esperance noch denselben Abend wieder zu erreichen; Mrs. Paulina Barnett ihrerseits drängte es, ihre Genossen, ihre Freunde wieder zu sehen, und unter den obwaltenden Verhältnissen empfahl es sich auch nicht, die Abwesenheit des Chefs der Factorei weiter auszudehnen.

Man ging also schneller, verfolgte eine schräge Linie und kam gegen Mittag schon um das kleine Vorgebirge herum, welches vordem den Barnett-Hafen gegen die Ostwinde deckte.

Von hier bis nach Fort-Esperance war es etwa noch acht Meilen weit. Vor vier Uhr Nachmittags wurde diese Strecke zurückgelegt, und begrüßten die Hurrahs des Corporal Joliffe die Heimkehr der Reisenden.

Fünftes Capitel.


Fünftes Capitel.

Bei seiner Rückkehr in das Fort war es Jasper Hobson’s erste Sorge, Thomas Black über den Zustand der Colonie zu befragen.

Seit vierundzwanzig Stunden hatte keine merkbare

Veränderung stattgehabt, wohl aber befand sich die Insel, wie eine spätere Messung ergab, um einen Breitengrad südlicher und etwas westlicher, als vorher. Jetzt mochte sie in der Höhe des Eiscaps, einer kleinen Spitze von Nord-Georgia und zweihundert Meilen vom amerikanischen Festlande entfernt umherschwimmen. Die Schnelligkeit der Strömung schien hier etwas weniger groß zu sein, als in den östlicheren Theilen des Polarmeeres, doch trieb sie die Insel noch immer vorwärts, welche sich zu Jasper Hobson’s Leidwesen der Behrings-Straße unaufhaltsam näherte. Jetzt schrieb man erst den 24. Juli und auch ein langsamer Strom reichte wohl hin, sie binnen einem Monate durch die Meerenge in die erwärmten Gewässer des Pacifischen Oceans zu führen, in dem sie sich auflösen mußte, wie ein Stück Zucker in einem Glase Wasser.

Mrs. Paulina Barnett theilte Madge das Ergebniß ihrer Rundfahrt um die Insel mit, beschrieb ihr die streifige Lage der Schichten an der Bruchstelle des Isthmus, die auf fünf Fuß abgeschätzte Dicke des Eisfeldes unter Wasser, den Unfall Sergeant Long’s nebst dessen unfreiwilligem Bade, und legte ihr alle die Gründe vor, welche jeden Augenblick den Bruch oder die Versenkung der Eisscholle veranlassen könnten.

Indessen herrschte das Gefühl der vollkommensten Sicherheit in der Factorei. Den wackeren Insassen derselben war nie ein Gedanke daran gekommen, daß Fort-Esperance über einem Abgrunde schwebe und das Leben seiner Bewohner jede Minute in Gefahr sei. Allen ging es auf’s Beste. Das Wetter war schön, das Klima gesund und stärkend, und Männer und Frauen wetteiferten in froher Laune und strotzender Lebensfülle. Der kleine Michael wurde nun ganz reizend; er versuchte in der Umgebung des Forts seine ersten Schritte, und der ganz in ihn vernarrte Corporal Joliffe wollte ihm gar schon die Handhabung eines Gewehres und die Elemente der Soldatenschule lehren. O, welchen Kriegsmann hätte er in seinem Sohne erzogen, wenn Mrs. Joliffe ihm nur einen solchen schenkte; doch dafür war nur geringe Aussicht, und bis jetzt wenigstens verweigerte der Himmel hartnäckig dem Ehepaar jenen Segen, um den es ihn tagtäglich anflehte.

Den Soldaten fehlte es nicht an Beschäftigung. Mac Nap, der Zimmermann, und seine Werkleute, Petersen, Belcher, Garry, Pond und Hope, arbeiteten eifrig an dem zu erbauenden Schiffe, – ein lange dauerndes, schwieriges Werk, welches leicht noch mehrere Monate beanspruchen konnte. Da die Benutzung des Fahrzeuges aber doch erst für kommenden Sommer nach eingetretenem Thauwetter in Aussicht genommen war, versäumte man daneben auch nicht die Befriedigung der specielleren Bedürfnisse der Factorei. Jasper Hobson ließ Alles geschehen, als wäre der Fortbestand seines Etablissements für ewige Zeit gesichert, und hielt seine Leute fortdauernd in Unkenntniß der Sachlage. Mehr als einmal wurde hierüber zwischen denjenigen, welche man gewissermaßen den »Generalstab« der Insel nennen konnte, verhandelt. Mrs. Paulina Barnett und Madge stimmten niemals der Ansicht des Lieutenants in diesem Punkte völlig bei, sondern meinten, daß ihre thatkräftigen und entschlossenen Gefährten keine Leute seien zum vorzeitigen Verzweifeln, und der Schlag sie nur um so unerwarteter treffen müsse, wenn die Gefahren der Situation ein weiteres Verhehlen derselben unmöglich machten. Nichtsdestoweniger bestand Jasper Hobson auf seinem Urtheile, und wurde von Sergeant Long nur noch darin bekräftigt. Vielleicht hatten diese Beiden, denen bezüglich der Umstände und der Menschen die Erfahrung zur Seite stand, auch vollkommen Recht.

Die Arbeiten für die innere Einrichtung und die Vertheidigungsfähigkeit des Forts wurden ebenfalls fortgesetzt. Der durch neue Pfähle verstärkte und stellenweise erhöhte Palissadenkranz bildete eine sehr widerstandsfähige Umwallung; Mac Nap führte selbst eins seiner Lieblingsprojecte, welches auch die Zustimmung seines Chefs fand, aus, indem er an den vorspringenden Winkeln, welche die Umzäunung nach dem See zu bildete, kleine, spitze Wachtthürmchen errichtete. Corporal Joliffe seufzte fast nach dem Augenblicke, daß er dorthin die Wache zur Ablösung führen werde, wodurch die ganze Anlage erst den für ihn so herzerquickenden Anblick zu bieten versprach.

Nach Vollendung der Außenwerke construirte Mac Nap, gewitzigt durch die Strenge des verflossenen Winters, einen neuen Holzschuppen an der Seite des Hauptgebäudes rechts, und zwar so, daß man ihn von Letzterem aus, ohne sich der freien Luft aussetzen zu müssen, erreichen konnte, um das Brennmaterial immer in der Nähe der Consumenten zu haben. An der linken Seite erbaute er einen großen zur Soldatenwohnung bestimmten Raum, um das Feldbett in dem allgemeinen Saale zu räumen, der ferner nur zu den Mahlzeiten, Spielen und Arbeiten dienen sollte. Die neue Wohnung bezogen von nun an die drei Ehepaare in abgesonderten Zimmern und die übrigen Soldaten. Dazu wurde hinter dem Hause ein besonderes Pelzmagazin errichtet, wodurch der ganze Bodenraum frei ward, dessen Dachsparren und Balken eiserne Klammern in den Stand setzten, jedem neuen Angriffe zu trotzen.

Auch eine Capelle aus Holz wollte Mac Nap noch herstellen. Ursprünglich in Jasper Hobson’s Hauptplan mit aufgenommen, sollte sie die fertige Factorei noch vervollständigen, doch wurde ihr Bau bis zur nächsten Sommersaison vertagt.

Mit welcher Sorgfalt, welch‘ thätigem Eifer hätte Jasper Hobson unter anderen Verhältnissen alle Einzelheiten seines Etablissements verfolgt! Hätte er auf festem Grunde gebaut, wieviel Vergnügen hätte ihm dann das Aufwachsen dieser Häuser, Schuppen und Magazine gewährt! Und dazu noch das zukünftig ganz nutzlose Vorhaben, Cap Bathurst mit einem Werke zu krönen, welches die Sicherheit des Fort-Esperance so wesentlich erhöhen sollte! Das Fort-Esperance (Fort der Hoffnung)! Wie lastete jetzt dieser Name auf seinem Herzen! Cap Bathurst hatte ja für immer das amerikanische Festland verlassen, und Fort-Esperance hätte vielmehr Fort-Sans-Espoir (Fort ohne Hoffnung) heißen sollen!

Jene verschiedenen Arbeiten ließen keine Hand zum Feiern kommen. Der Bau des Schiffes schritt nach Vorschrift vorwärts. Nach Mac Nap’s Aufriß war es zu dreißig Tonnen Tragkraft berechnet und mußte geeignet werden, in der besseren Jahreszeit an zwanzig Passagiere wohl einige hundert Meilen weit zu führen. Der Zimmermann hatte glücklicher Weise einige krummgewachsene Bäume aufgefunden, welche zu den Rippen des Fahrzeuges verarbeitet wurden, und bald erhoben sich am Kiele der Vorder- und der Hintersteven auf der Werft am Fuße des Cap Bathurst.

Während die Zimmerleute mit Aexten, Sagen und Hohlbeilen arbeiteten, stellten die Jäger dem Tafelwilde, wie Rennthieren und Polarhasen, die in der Umgebung der Factorei in Menge vorkamen, eifrig nach. Der Lieutenant hatte Sabine und Marbre eingeschärft, sich niemals weit zu entfernen, wofür er ihnen als Grund angab, daß er vor vollkommener Fertigstellung der Factorei in der Umgebung keine Spuren zurückgelassen wissen wollte, welche irgend einen Feind herbeilocken könnten. In Wahrheit wollte Jasper Hobson freilich nur die Veränderungen, die die Halbinsel betroffen hatten, nicht bekannt werden lassen.

Eines Tages kam es sogar vor, daß Jasper Hobson, als Marbre die Frage an ihn gestellt hatte, ob es nicht Zeit sei, an der Walroß-Bai die Jagd auf jene Amphibien, die ein so vorzügliches Brennmaterial lieferten, wieder aufzunehmen, diesem lebhaft antwortete:

»Nein, das ist nutzlos, Marbre!«

Lieutenant Hobson wußte nur zu gut, daß die Walroß-Bai zweihundert Meilen im Süden zurückgeblieben war, und daß jene Thiere die Ufer der Insel nicht mehr besuchten.

Man darf indeß nicht glauben, daß er die Situation für ganz verzweifelt ansah. Davon war er weit entfernt, und hatte sich gegen Mrs. Paulina Barnett oder Sergeant Long mehrfach in diesem Sinne ausgesprochen. Er behauptete stets, daß die Insel so lange Widerstand leisten werde, bis der Winterfrost ihre Stärke wieder erhöhen und sie in seinem Laufe aufhalten müßte.

Nach seiner Umreisung der Insel hatte Jasper Hobson den Umfang seines neuen Gebietes genau gemessen. Derselbe betrug mehr als vierzig MeilenGegen zweiundfünfzig Kilometer oder sieben geographische Meilen., die Oberfläche aber mindestens einhundertundvierzig Quadratmeilen. Zur Vergleichung diene die Angabe, daß die Insel Victoria etwas größer war, als die Insel Helena, und etwa ebenso groß, als die Stadt Paris innerhalb der Befestigungslinie. Selbst wenn sie sich in mehrere Bruchstücke spaltete, konnten diese noch eine genügende Ausdehnung behalten, um eine Zeit lang bewohnbar zu sein.

Als Mrs. Paulina Barnett ihre Verwunderung über die Ausdehnung eines solchen Eisfeldes aussprach, führte ihr Lieutenant Hobson die Beobachtungen der Polarfahrer hierüber an. Nicht selten stießen Parry, Penny, Franklin und Andere bei ihren Reisen im Arktischen Oceane auf Eisschollen von hundert Meilen Länge und fünfzig Meilen Breite. Kapitän Kellet verließ sein Schiff auf einem Eisfelde von 3000 Quadratmeilen Oberfläche. Was war im Vergleich hiermit die Insel Victoria?

Immerhin konnte deren Größe hinreichend sein, um bis zum Winterfroste auszuhalten, bevor wärmere Strömungen ihre Grundlage schmolzen. Jasper Hobson setzte hierein gar keinen Zweifel und war nur tief betrübt über soviel nutzlose Bemühungen, so viel vergebliche Anstrengungen, so viele zerstörte Pläne, und darüber, daß sein der Erfüllung so naher Traum buchstäblich zu – Wasser werden sollte. Man sieht leicht ein, daß er für die eigentlichen Arbeiten kein besonderes Interesse haben konnte. Er ließ eben Alle gewähren, das war Alles!

Mrs. Paulina Barnett machte gute Miene zum bösen Spiele. Sie hielt ihre Begleiter ebenso zur Arbeit an, wie sie selbst daran theilnahm. Da sie die Sorge bemerkte, welche Mrs. Joliffe um ihre Sämereien hatte, stand sie ihr täglich rathend zur Seite. Sauerampher und Löffelkraut hatten eine reichliche Ernte ergeben, die man nicht zum kleinsten Theile dem Corporal verdankte, der mit der Ausdauer einer leibhaftigen Vogelscheuche das besäete Terrain gegen Tausende diebischer Schnäbel vertheidigte.

Die Zähmung der Rennthiere glückte vollkommen. Mehrere Weibchen warfen Junge, und der kleine Michael wurde zum Theil mit Rennthiermilch aufgezogen. Die ganze Heerde zählte nun gegen dreißig Köpfe. Die Thiere trieb man nach den Rasenflächen am Cap Bathurst auf die Weide, und sammelte auch einen Wintervorrath von kurzem, trockenem Grase an den Abhängen des Vorgebirges. Diese Rennthiere, welche gegen die Leute im Fort schon ganz zutraulich wurden, ließen sich übrigens leicht zähmen, liefen nicht aus der Umzäunung heraus, und manche von ihnen dienten beim Holztransport als Zugthiere vor den Schlitten.

Daneben fing man in der Nachbarschaft der Factorei noch eine ziemliche Anzahl derselben in der halbwegs zwischen dem Fort und dem Barnett- Hafen angelegten Fallgrube.

Im vorigen Jahre war ebenda, wie erzählt, ein riesiger Bär gefangen worden, jetzt fand man sehr häufig Rennthiere darin. Das Fleisch derselben wurde gesalzen, getrocknet und als Nahrungsmittel aufbewahrt. Wohl zwanzig jener Wiederkäuer gingen in die Falle.

In Folge der Bodengestaltung wurde dieselbe aber eines Tages plötzlich außer Gebrauch gesetzt, und als Jäger Marbre am 5. August von der Visitation zurückkam, trat er an Jasper Hobson heran, und sagte mit ganz eigenthümlichem Tone:

»Ich melde mich von der täglichen Visitation der Fallgrube zurück, Herr Lieutenant.

– Gut, Marbre, antwortete Jasper Hobson, Sie waren heute hoffentlich ebenso glücklich als gestern, und haben ein Paar Rennthiere darin vorgefunden?

– Nein, Herr Lieutenant … das nicht … entgegnete Marbre mit sichtbarer Verlegenheit.

– Wie? Ihre Falle hätte nicht den gewohnten Ertrag geliefert?

– Nein, und wenn heute ein Stück Wild hineingefallen wäre, müßte es sicherlich – ertrunken sein.

– Ertrunken? rief der Lieutenant und fixirte den Jäger mit unruhig forschendem Blicke.

– Ja, Herr Lieutenant, antwortete Marbre, der seinen Vorgesetzten aufmerksam im Auge behielt, die Grube ist voller Wasser.

– Ah, gut, fuhr Jasper Hobson in einem Tone fort, als lege er auf die Sache gar kein besonderes Gewicht, Sie wissen ja, daß die Grube zum Theil im Eise ausgebrochen war. Nun hat die Sonne die Wände abgeschmolzen, und dann …

– Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche, Herr Lieutenant, fiel Marbre ein, jenes Wasser kann aber nicht von geschmolzenem Eise herrühren.

– Weshalb nicht, Marbre?

– Weil es dann, wie Sie seiner Zeit erklärt haben, Süßwasser sein müßte; das Wasser in der Grube ist im Gegentheil aber salzig!«

So sehr sich Jasper Hobson sonst beherrschte, so erbleichte er jetzt doch leicht und hatte keine Erwiderung.

»Im Uebrigen, fügte der Jäger hinzu, wollte ich eine Sondirung vornehmen, um die Höhe des Wasserstandes zu erfahren, doch zu meiner großen Verwunderung, ich gestehe es, konnte ich keinen Grund finden.

– Nun wohl, Marbre, sagte Jasper Hobson, was ist dabei groß zu verwundern? Zwischen der Fallgrube und dem Meere wird durch einen Bodenspalt eine Verbindung eingetreten sein; das kommt manchmal vor, selbst bei dem festesten Boden. Darum beunruhigen Sie sich also nicht, mein wackerer Jäger. Verzichten Sie vorläufig auf die Benutzung der Falle, und beschränken sich auf die Aufstellung von Schlingen in den Umgebungen des Forts.«

Marbre legte grüßend die Finger an die Stirn, drehte sich auf den Fersen um und verließ den Lieutenant, nicht ohne einen eigentümlichen Blick aus seinen Chef zu werfen.

Nachdenklich verweilte Jasper Hobson einige Augenblicke. Es war das eine wichtige Neuigkeit, die er durch Marbre erfahren hatte. Offenbar war der Grund der Grube durch wärmeres Wasser geschmolzen, geborsten, und bildete nun die Oberfläche des Meeres den Grund der Fallgrube.

Jasper Hobson suchte den Sergeant Long auf, und machte ihm von dem Zufalle Mittheilung. Beide begaben sich unbemerkt von den Anderen nach der Uferstelle am Cap Bathurst, an der sie Marken angebracht hatten.

Sie sahen nach diesen.

Seit der letzten Beobachtung hatte sich das Niveau der Insel um sechs Zoll gesenkt!

»Wir gehen nach und nach unter, murmelte halblaut Sergeant Long; das Eisfeld schmilzt unter Wasser weg!

– O, der Winter! Der Winter!« rief Jasper Hobson, und stampfte den verwünschten Boden mit den Füßen.

Noch trat aber kein Vorzeichen der kalten Jahreszeit ein. Das Thermometer hielt sich im Mittel auf 15º über Null, und auch die wenigen Nachtstunden hindurch fiel das Quecksilber kaum um drei bis vier Grade.

Indessen wurden die Vorbereitungen für die zweite Durchwinterung eifrig fortgesetzt. Es mangelte ja an Nichts, und obgleich Fort-Esperance durch kein vom Kapitän Craventy entsendetes Detachement mit neuen Vorräthen versorgt worden war, durfte man doch den langen Stunden der Polarnacht mit vollkommener Ruhe entgegen sehen. Nur die Munition erheischte einige Sparsamkeit. An Spirituosen, von welchen übrigens nur ein sehr beschränkter Gebrauch gemacht wurde, und an dem an Ort und Stelle nicht zu ersetzenden Schiffszwieback war noch ein tüchtiger Vorrath vorhanden. Dazu hatte man für das consumirte frische Wild und conservirte Fleisch hinlänglichen Ersatz und erhielt diese reichliche und gesunde Nahrung, in Verbindung mit antiscorbutischer Pflanzenkost alle Mitglieder der kleinen Colonie bei bester Gesundheit.

In dem Walde, welcher die Ostseite der Lagune bekränzte, fällte man reichlich Holz für den Winterbedarf. Eine große Menge Weiden, Fichten und Tannen fielen unter dem Beile Mac Nap’s, und die gezähmten Rennthiere schleiften sie nach dem Schuppen. Der Zimmermann schonte die Waldung nicht; er mußte der Ansicht sein, daß das Holz dieser Insel, welche er noch für eine Halbinsel hielt, nie ausgehen könne, wozu ihn wohl der reiche Bestand an verschiedenen Baumarten in der Nachbarschaft des Cap Michael verleiten mochte.

Häufig war er ganz außer sich vor Freude und beglückwünschte den Lieutenant, dieses vom Himmel so gesegnete Gebiet erschlossen zu haben, auf dem das neue Etablissement zweifelsohne gedeihen müßte. Holz, Wild, Pelzthiere für die Magazine der Compagnie – Alles bot sich in Ueberfluß dar. Dazu eine Lagune zum Fischen, deren Ergebnisse die Tischfreuden durch angenehme Abwechselung erhöhten; Gras für die Hausthiere und »doppelter Sold für die Mannschaften«, hätte Corporal Joliffe sicher noch hinzugesetzt. War dieses Cap Bathurst also nicht ein bevorzugtes Stück Erde, dem kaum eine Gegend des Arktischen Continentes gleich kommen konnte? O gewiß, Lieutenant Hobson hatte eine glückliche Hand gehabt, und mußte der Vorsehung danken, ihn nach diesem Lande ohne Gleichen geführt zu haben.

Natürlich wurde in der kleinen Colonie die Herstellung der nöthigen Winterkleidung daneben nicht vernachlässigt. Das ganze weibliche Personal, auch Mrs. Joliffe, wenn sie aus der Küche abkommen konnte, arbeitete fleißig. Mrs. Paulina Barnett, welche ja wußte, daß man das Fort bald verlassen müsse, wollte für den Fall eines weiten Zuges bei strenger Winterkälte, über das Eis bis zum Festlande, Jedermann mit hinreichend schützender Kleidung versehen wissen. Voraussichtlich war in der langen Polarnacht einer furchtbaren Kälte Trotz zu bieten, und das viele Tage lang, wenn die Insel Victoria sich in großer Entfernung von der Küste festsetzte. Hunderte von Meilen unter solchen Verhältnissen zurückzulegen, stellten an Kleidung und Schuhwerk weitgehende Ansprüche. Die Reisende bemühte sich, nebst ihrer Madge, deshalb ernstlich um deren Vollendung. Das Pelzwerk, welches zu retten ja keinerlei Aussicht war, fand unter den verschiedensten Formen Verwendung. Man legte es z.B. doppelt, so daß die Kleidungsstücke innerlich und äußerlich eine Haarseite zeigten. Die Soldaten und deren Frauen mußten, wenn jene Zeit herankam, ebenso wie ihre Officiere, in den kostbarsten Pelzen einhergehen, um welche sie die reichsten Ladys und die verwöhntesten russischen Fürstinnen beneidet hätten.

Die Mrss. Raë, Mac Nap und Joliffe waren einigermaßen verwundert über diese Vergeudung der Schätze der Compagnie. Lieutenant Hobson’s Befehl lautete aber dahin, und ohnedem konnten ja die Zobelmarder, Wiesel, Bisamratten, Biber und Füchse jeder Zeit durch einige Flintenschüsse ersetzt werden. Als Mrs. Mac Nap überdies das kostbare Hermelinkleidchen sah, das Madge für ihr kleines Kind hergestellt hatte, erschien ihr die Sache gar nicht mehr so außerordentlich.

So enteilten die Tage bis Mitte August. Die Witterung war immer prächtig, und wenn auch dann und wann am Horizonte Nebel auftauchten, so sog die Sonne sie doch unverzüglich auf.

Tagtäglich bestimmte Lieutenant Hobson die Lage der Insel, entfernte sich aber immer weit genug, um von seinen Leuten nicht dabei bemerkt zu werden, da die so häufige Wiederholung dieser Beobachtung einen gewissen Verdacht nothwendig erregen mußte. Auch nahm er wiederholt verschiedene Theile der Insel in Augenschein, zum Glücke ohne wesentliche Veränderungen derselben zu bemerken.

Am 16. August befand sich die Insel Victoria unter 167° 27′ der Länge und 70° 49′ nördlicher Breite. Sie war seit einiger Zeit demnach wieder nach Süden zurückgegangen, doch ohne eine Annäherung an die Küste, welche hier auch selbst bogenförmig zurückwich, und deshalb immer noch gegen zweihundert Meilen nach Südosten entfernt blieb.

Den von der Insel seit dem Bruche des Isthmus oder genauer seit der letzten Thauperiode zurückgelegten Weg konnte man wohl auf elf- bis zwölfhundert Meilen veranschlagen.

Doch wie gering war diese Strecke gegenüber dem unermeßlichen Oceane? Hat man nicht Schiffe unter der Gewalt von Strömungen schon Tausende von Meilen verschlagen sehen, wie die »Resolute«, ein englisches Fahrzeug, die amerikanische Brigg »Advance« und den »Fox«, welche mit ihren Eisfeldern viele, viele Grade weit hinweg geführt wurden, bis der Winter sie in ihrem Unglückszuge aufhielt!