Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Neue Lords. – Neue Gesetze. – Gyration, Rotation und noch eine Nation; auch eine Invitation.

Ich fühlte, meine Lage war nun ganz sonderbar. Freilich war meine Bescheidenheit ganz unerwartet durch die scharfsinnige Wendung geschont worden, die Doktor Raisono der Geschichte von unsrer Verbindung mit einander gegeben hatte; aber ich konnte nicht finden, daß ich irgend einen andern Vortheil dadurch erlangt hätte. Alle von meiner eignen Art hatten mich gewisser Maßen verstoßen, und ich war genöthigt, niedergeschlagen und gedemüthigt mich nach dem Wirthshaus zu wenden, wo das von Poke bestellte Gastmahl unserer wartete. Ich war auf den großen freien Platz gekommen, als ein Schlag auf mein Knie meine Aufmerksamkeit auf jemand neben mir zog. Der sich Aufdringende war ein Monikin, der alle physische Eigenthümlichkeiten eines Unterthans von Springhoch hatte, der sich jedoch von den meisten Einwohnern dieses Landes durch einen längern und weniger sorgfältig behandelten Wulst auf seinem Naturgewand, durch größere List im Ausdruck der Augen und des Mundes, durch ein geschäftiges Ansehn und, eine große Neuheit, durch einen gestutzten Schweif auszeichnete. Er war offenbar von dem am wenigsten begünstigten Wesen seiner Art begleitet, das ich jemals gesehen. Der Erstere redete mich an:

»Guten Morgen, Sir hohe Goldenkalb!« begann er mit einer Art Stoß, der, wie ich später erfuhr, ein diplomatischer Gruß sein sollte; »Ihr habt heute gerade nicht die beste Behandlung erfahren, und ich habe auf eine gute Gelegenheit gewartet, Euch mein Bedauern darüber zu bezeigen und meine Dienste anzubieten.«

»Sir, Ihr seid zu gütig; ich fühle mich etwas gekränkt, und muß sagen, Teilnahme ist meinem Gefühl sehr angenehm. Ihr müßt mir indeß erlauben, mein Erstaunen zu erkennen zu geben, daß Ihr mit meinem wahren Namen wie mit meinem Unglück bekannt seid.«

»Ei, Sir, die Wahrheit zu sagen, ich gehöre zu einem forschenden Volk. Die Bevölkerung ist in meinem Land sehr zerstreut, und so haben wir das Nachfragen uns angewöhnt, das bei einem solchen Zustand der Dinge sehr natürlich ist. Ich denke, Ihr müßt bemerkt haben, daß auf einer Landstraße Ihr selten an Einem ohne ein Nicken vorübergeht, während Ihr Tausenden in einer lebhaften Gasse ohne einen Blick begegnet. Diesen Grundsatz entwickeln wir weiter und lassen nur eine Thatsache aus Mangel an löblicher Neugier uns entwischen.«

»Ihr seid also kein Unterthan von Springhoch?«

»Gott bewahre! Nein. Herr, ich bin ein Bürger von Springniedrig, einer großen und glorreichen Republik, die drei Tagreisen zur See von dieser Insel liegt; eine ganz neue Nation, die alle Vortheile der Jugend und Kraft genießt, und ein wahres Wunder ist wegen der Kühnheit ihrer Begriffe, der Reinheit ihrer Einrichtungen und ihrer heiligen Achtung vor den Rechten der Monikins. Ich habe die Ehre, außerdem der außerordentliche Gesandte und bevollmächtigte Minister der Republik bei dem König von Springhoch zu sein, ein Volk, von dem wir ursprünglich abstammen, das wir aber auf der Laufbahn des Ruhms und Nutzens weit hinter uns gelassen. Ich muß Euch als Erwiedrung für den Vorzug, den ich in Hinsicht Eurer in diesem Punkt habe, mit meinem Namen bekannt machen.«

Hierauf legte mein neuer Bekannte mir eine von seinen Visitenkarten in die Hand, worauf stand, wie folgt:

»General – Kommodore – Richter – Kolonel, Volksvollmächtigter Minister der Republik Springniedrig bei Sr. Majestät dem König von Springhoch.«

»Herr,« sagte ich und nahm mit einer tiefen Verbeugung den Hut ab, »ich wußte nicht, mit wem ich die Ehre zu sprechen hatte. Ihr scheint eine große Menge von Aemtern und ohne Zweifel mit gleichem Geschick zu bekleiden.«

»Ja, Sir, ich glaube, ich bin in dem einen meiner Geschäfte so gut als in dem andern.«

»Ihr werdet mir jedoch die Bemerkung erlauben, General – Kom – Richter – ich weiß kaum, welcher dieser Titel am meisten nach Eurem Geschmack ist.«

»Nehmet, welchen Ihr wollt, Sir; ich begann mit General, war aber bis zum Kolonel herabgekommen, ehe ich die Heimath verließ. Volksfreund ist die einzige Benennung, woran ich halte. Nennt mich so, Sir, und dann mögt Ihr noch hinzufügen, was Euch beliebt.«

»Sir, Ihr seid zu gefällig. Darf ich fragen, ob Ihr in eigner Person wirklich alle diese verschiedenen Stellungen im Leben bekleidet habt?«

»Freilich, Sir; ich hoffe, Ihr haltet mich nicht für einen Betrüger.«

»Ich bin weit davon entfernt. Aber Richter und Kommodore zum Beispiel sind zwei Stände, deren Pflichten in Menschen-Angelegenheiten so gänzlich verschieden sind, daß ich selbst bei einem Monikin die Verbindung derselben ein wenig außerordentlich finde.«

»Gar nicht, Sir. Ich ward gehörig zu Beidem gewählt, diente meine Zeit darin aus und hab‘ für beide ehrenvolle Abschiede aufzuweisen.«

»Ihr müßt einige Schwierigkeit in der Ausübung so verschiedener Pflichten gefunden haben?«

»Ah, ich sehe. Ihr seid lang genug in Springhoch gewesen, um einige seiner Vorurtheile anzunehmen. Es ist ein in Vorurtheilen befangnes, trauriges Land. Ich selbst blieb mit meinem Fuß in einigen von ihnen stecken, sobald ich das Land berührte; ei, Sir, meine Karte ist eine Erklärung dessen, was wir in Springniedrig Rotation im Amt nennen.«

»Rotation im Amt?«

»Ja, Sir; es ist ein System, das wir für unsre eigne Bequemlichkeit erfanden, und das wahrscheinlich dauerhaft sein wird, da es auf ewigen Principien ruht.«

»Darf ich fragen, Kolonel, ob es einige Verwandtschaft mit dem socialen Anhaltspunkt-System hat.«

»Nicht im Geringsten. Dieses, wie ich’s verstehe, ist ein stationäres, während das andre ein rotirendes ist. Nichts ist einfacher. Wir haben in Springniedrig zwei ungeheure Kasten von der Gestalt der Räder. In den einen werfen wir die Namen der Bürger, in den andern die der Aemter. Wir ziehen dann, wie bei einer Lotterie, und das gilt für ein Jahr.«

»Ich finde diesen rotirenden Plan außerordentlich einfach, – geht er so gut, als er es verspricht?«

»Mit der größten Vollkommenheit. Wir schmieren natürlich die Räder zu gewissen Zeiten.« »Und werden nicht manch Mal Betrügereien von denen begangen, die zur Ziehung der Zettel auserwählt werden?«

»O, sie werden ganz auf dieselbe Art gewählt.«

»Aber die, welche für sie die Zettel ziehen?«

»Alles rotirend; sie werden ganz auf dieselbe Art gezogen.«

»Aber es muß doch ein Anfang sein; die wieder, die ihre Zettel ziehen, können das Vertrauen hintergehen.«

»Unmöglich; sie sind immer die patriotischsten Patrioten des Landes; nein, nein, Sir, wir sind keine solche Gimpel, um der Bestechung freies Feld zu lassen. Alles kommt auf den Zufall an; der Zufall macht mich heute zum Kommodore, zum Richter morgen. Der Zufall macht die Lotteriejungen und die Patrioten. Man muß sehen, um zu verstehen, wie viel reiner unser Lotterie-Patriot ist, als einer, der dazu erzogen worden.«

»Ei, das schmeckt aber immer nach der Lehre von der Abstammung, die wenig besser, als Sache des Zufalls ist.«

»Es wäre freilich so, Sir, wenn dieser Zufall nicht in einem patriotischen System wurzelte. Unsre erprobten Patrioten sind unsre Bürgen gegen Mißbräuche.«

»Hm!« fiel der Begleiter des Kommodore Volksfreund mit einer seltsamen Vernehmbarkeit ein, als wolle er sich uns bemerkbar machen. »Sir John, ich bitte, meine große Vergessenheit zu entschuldigen, laßt mich meinen Mitbürger, Brigadier Geradaus, Euch vorstellen, einen Mann, der, wie Ihr, auf der Reise ist, und ein so vortrefflicher Bursche, wie nur immer im ganzen Monikin-Land zu finden.«

»Brigadier Geradaus, bitte um die Ehre Eurer Bekanntschaft; aber, ihr Herren, auch ich bin sehr unhöflich gewesen. Ein Banket, das hundert Promessen gekostet, wartet auf mich; und da einige der erwarteten Gäste nothwendig abwesend sein müssen, könnten wir, wenn Ihr mich mit Eurer angenehmen Gegenwart beehren wollt, eine angenehme Stunde in fernerm Besprechen dieser wichtigen Interessen zubringen.«

Da keiner der Fremden das Geringste gegen den Vorschlag einwendete, saßen wir alle bald gemächlich am Tisch. Der Kommodore, der wohl genährt schien, erwies dem Banket nur wenig Ehre, aber Geradaus griff es an mit Zähnen und Nägel, und ich hatte nicht sehr Ursache, Poke’s Abwesenheit zu bedauern. Indeß stockte die Unterhaltung nicht.

»Ich denke, ich verstehe die äußeren Umrisse Eures Systems, Richter Volksfreund,« begann ich wieder, »nur den Theil ausgenommen, der sich auf die Patrioten bezieht. Dürft‘ ich noch um einige Belehrung über diesen besondern Punkt bitten?«

»Gewiß, Sir. Unser Staatsgebäude ist auf einen Wink von der Natur gegründet, eine Basis, wie Ihr zugeben werdet, breit genug, das Weltall zu tragen. Als Volk sind wir ein Schwarm, der früher von Springhoch ausging; und als wir uns frei und unabhängig sahen, machten wir uns alsbald daran, das Staatsgebäude nicht nur auf sichre Grundlage, sondern auch sichre Principien zu gründen. Da wir bemerkten, daß die Natur in Duplikaten verfährt, verfolgten wir den Wink als leitende Idee–«

»In Duplikaten, Kommodore?«

»Freilich, Sir John! Ein Monky hat zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenlöcher, zwei Lungen, zwei Arme, zwei Hände, zwei Beine, zwei Füße und so fort. Auf diesen Wink hin verordneten wir, daß in jedem Distrikt von Springniedrig zwei deutliche und getrennte Linien in der Idee gezogen werden sollten, die sich in rechten Winkeln durchschnitten. Diese hießen die politischen Landmarken des Landes, und man erwartete, jeder Bürger würde sich an einer oder der andern hin rangiren. All das müßt Ihr indeß nur als eine ideelle, nicht wirkliche Vorkehrung ansehen.«

»Ist die Verpflichtung dieser moralischen Vorkehrung gebietend?«

»Zwar nicht gesetzlich, aber wer sie nicht achtet, ist gleichsam aus der Mode und wird so allgemein für einen armen Teufel gehalten, daß der Gebrauch weit mehr, als Gesetzeskraft für sich hat. Erst wollte man es in die Konstitution aufnehmen. Aber einer unsrer erfahrensten Staatsmänner zeigte so klar, wir würden dadurch nicht nur das Wesen der Verpflichtung schwächen, sondern auch sehr wahrscheinlich eine Partei dagegen aufregen, daß die Idee wieder aufgegeben ward. In der That, wenn etwas, so scheint sowohl der Buchstab, als der Geist der Konstitution sich ein wenig dagegen aufzulehnen; aber da der Gebrauch gehörig durch Folgerung eingeführt worden, ist er jetzt Bein von unserm Bein und Fleisch von unserm Fleisch. Nun, Sir, nachdem diese beiden politischen Landmarken recht gezogen worden, muß es nun die erste Bemühung dessen, der für einen Patrioten gelten will, sein, eine Uebung darin zu erhalten, mit den Fußspitzen schnell und mit Leichtigkeit auf der Marke hinzugehn. Aber wenn ich meine Sätze durch einige Experimente erläutre, werdet Ihr Alles um so besser verstehn; denn obwohl freilich die wahren Evolutionen rein ideell sind, wie ich Euch schon zu sagen die Ehre gehabt habe, haben wir doch ein anschauliches Mittel angeordnet, das mit unsern Gewohnheiten sehr stimmt und womit der Neophyte immer anfängt.«

Hier nahm der Kommodore ein Stück Kreide und zog zwei sehr deutliche Linien mitten durch das Zimmer, die sich in rechten Winkeln durchkreuzten. Als dies geschehen, stellte er die Füße zusammen, und hieß mich dann untersuchen, ob es möglich wäre, etwas von den Dielen zwischen seinen äußersten Zehen und den Linien zu sehen. Nach einem genauen Blick mußte ich mit Nein antworten.

»Das nennen wir die Marke betreten; es ist sociale Stellung No. 1. Fast jeder Bürger wird darin auf der einen oder der andern Linie erfahren. Nachher beginnt, wer sein Glück weiter treiben will, seine Carriere mit dem großen rotatirenden Princip.«

»Verzeiht, Kommodore, wir nennen es rotirend.«

»Sir, das ist nicht ausdrucksvoll genug. Jetzt will ich Euch Stellung No. 2 zeigen.

Hier machte der Kommodore einen Sprung, und warf seinen Körper, wie ein Soldat es nennen würde, gerade rechtsum, und brachte zugleich seine Füße ganz auf die andre Seite der Linie, immer aber genau die Marke berührend.

»Sir,« sagte ich, »das war sehr brav; aber ist diese Evolution auch so nützlich, als sie geschickt ist?«

»Sie hat den Vortheil, daß sie die Fronte wechselt; ein Manöver, so nützlich in der Politik, als im Krieg.«

So zeigte er mir noch viele solcher Positionen, und ich äußerte meinen Beifall darüber, und fragte, ob Viele dieselbe Geschicklichkeit erlangten. Der Kommodore und Brigadier lachten über die Einfalt der Frage; der Erstere antwortete: »das Volk von Springniedrig sei so außerordentlich thätig und kühn, und beide Linien seien so geschickt geworden, daß auf’s Kommando-Wort sie ihre Sprünge eben so sehr auf’s Tempo und ganz so schnell machten, als ein Garde-Regiment die Patrontasche auf und zu klappte.«

»Wie, Sir,« rief ich voll Verwundrung aus, »die ganze Bevölkerung?«

»Allerdings, Sir, dann und wann findet sich ein Pfuscher, aber er wird alsbald weggebracht und zählt im Ganzen für nichts.«

»Aber bis jetzt, Kommodore, sind Eure Evolutionen viel zu allgemein, um die selt’ne Auswahl von Patrioten zuzulassen, da ja Patriotismus gewöhnlich ein Monopol ist.«

»Sehr wahr, Sir John! Ich will deßhalb ohne Weiteres zur Hauptsache übergehen. So weit ist es allerdings, wie Ihr sagt, Sache der ganzen Bevölkerung, da Wenige die Marke zu betreten oder die nöthigen Sprünge, wie Ihr es scharfsinnig genannt, zu machen sich weigern. Die Linien, wie Ihr bemerkt haben mögt, durchkreuzen sich in rechten Winkeln, und so ist natürlich einiges Drängen und manch Mal auch viel Zusammenstoßen an und nahe dem Punkt des Zusammentreffens der Linien. Wir nennen dann einen Monikin einen Patrioten, wenn er diese Evolution gerade an dieser Stelle ausführen kann.«

Hier warf der Kommodore seine Beine mit solcher Schnelligkeit in die Luft, daß ich nicht recht sagen konnte, was er machte, obgleich man deutlich sah, daß er nach dem rotirenden Princip verfuhr. Ich bemerkte, daß er mit selt’ner Genauigkeit an derselben Stelle wieder herunterkam, wo er vorher gestanden, und auf die Marke mit schöner Präcision trat.

»Das ist, was wir Gyration Nro. 3 oder Position Nro. 4 nennen. Wer das ausführen kann, wird als ein Adept in der Politik betrachtet, und nimmt seine Stellung unwandelbar nahe bei dem Feind ein oder bei dem Zusammentreffen der feindlichen Linien.«

»Wie, Sir, werden denn diese Linien, obgleich mit Bürgern desselben Landes besetzt, für feindlich gehalten?!«

»Sind Hunde und Katzen feindlich, Sir? Obgleich sie sich Gesicht gegen Gesicht gegenüber stehen, handeln sie doch nach denselben Grundsätzen oder dem rotirenden Impuls, und haben genau denselben Zweck im Auge, nämlich das allgemeine Beste, und sind also sociale, politische und, ich mögte fast sagen, moralische Antipoden von einander. Sie heirathen selten unter sich, und wollen häufig selbst nicht mit einander sprechen. Kurz, wie der Brigadier Euch sagen könnte, wenn er dazu geneigt wäre, sie sind Antagonisten, Leib und Seel, mit einem Wort: sie sind Feinde, Sir.«

»Das ist sehr seltsam für Bürger eines Staats.«

»So ist der Monikin-Charakter,« bemerkte Herr Geradaus, »gewiß sind die Menschen viel weiser.«

Da ich die Rede nicht gern von dem gegenwärtigen Gegenstand wegbringen wollte, nickte ich nur bei der Bemerkung, und bat den Richter, fortzufahren.

»O, Herr, Ihr könnt Euch leicht denken, begann er wieder, »daß die am Durchschneidungs-Punkt der beiden Linien keine Sinekuren haben; in Wahrheit, sie necken sich aus allen Kräften und der, welcher den meisten Erfindungsgeist in dieser hohen Eigenschaft zeigt, wird gewöhnlich für den tüchtigsten Burschen gehalten. Nun, Sir, niemand anders, als ein Patriot, könnte natürlicher Weise dies Alles ertragen, wenn er nicht seines Landes Bestes immer im Auge hätte, und dafür halten wir sie denn auch.«

»Aber die patriotischsten Patrioten, Kommodore?« – –

Der Gesandte in Springhoch führte einen sehr künstlichen Sprung aus, der ihn auf die Linie der Gegenkämpfer brachte, und sah dann mich an, als erwarte er Lob.

»Herrlich, Herr Richter! Ihr müßt auf diese Uebung großen Fleiß verwandt haben.«

»Ich habe dies Manöver, Sir John, fünf Mal im wirklichen Leben ausgeführt, und auf den jedesmaligen Erfolg gründet sich mein Anspruch auf den Titel des patriotischsten Patrioten. Ein einziger falscher Schritt hätte mich vernichtet; aber, wie Ihr sagt, Uebung macht vollkommen, und Vollkommenheit ist die Mutter des Erfolgs.«

»Und doch begreife ich nicht recht, wie ein so plötzliches Verlassen seiner eignen Seite, um auf diese schnelle Weise, Hals über Kopf, zur andern überzugehen, mit Recht einen Anspruch auf den so reinen Charakter eines Patrioten gibt.«

»Ei, Herr, ist nicht der, welcher sich vertheidigungslos gerade in die Mitte der feindlichen Reihen stürzt, der Held der Schlacht? Da nun dies ein politischer Wettstreit und kein feindlicher ist, einer, worin das Beßte des Landes allein berücksichtigt wird, muß offenbar der Monikin, der so die größte Hingebung für die Sache zeigt, der reinste Patriot sein. Auf meine Ehre, Sir, mein ganzer Anspruch ist nur auf dies besondre Verdienst gegründet.«

»Er hat Recht, Sir John, Ihr könnt jedes Wort glauben, was er sagt.« bemerkte der Brigadier nickend.

»Ich fange an, Euer System zu begreifen, das allerdings herrlich den Monikin’schen Gewohnheiten angepaßt ist, und einen edlen Wetteifer im Ueben des rotirenden Princips erregen muß. Aber, ich glaube, Ihr sagtet, Kolonel, das Volk von Springniedrig sei eine Kolonie von Springhoch?«

»Ganz so, Sir!«

»Wie kommt es aber denn, daß Ihr Euch das edle Glied stümpft, während die Einwohner jenes Landes es wie ihren Augapfel, ja als den Sitz der Vernunft selbst lieben?«

»Ihr meint unsre Schweife? Ei, Sir! die Natur hat diese Zierde mit sehr ungleicher Hand ausgetheilt, wie Ihr bemerken könnt, wenn Ihr dem Fenster hinausseht. Wir geben zu, daß der Schweif der Sitz der Vernunft, und die Enden der einsichtsvollste Theil sind; aber da die Regierungen angeordnet wurden, um diese natürlichen Ungleichheiten gleich zu machen, klagen wir sie als antirepublikanisch an. Das Gesetz verlangt daher, daß jeder Bürger, wenn er majorenn wird, nach einem in jedem Distrikt aufbewahrten Maas abgestümpft werde. Ohne solch ein Mittel könnte eine Aristokratie des Verstandes unter uns aufkommen, und alle unsre Freiheiten hätten ein Ende. Auch qualificirt es den Stimmberechtigten, und folglich streben wir alle darnach.«

Hier lehnte sich der Brigadier über den Tisch und lispelte: ein großer Patriot hätte einst bei einer sehr drängenden Gelegenheit einen Sprung von seiner auf die gegenkämpfende Linie gemacht, und da er alle die heiligen Principien mit sich genommen, für welche seine Partei viele Jahre wüthend gekämpft hätte, wäre er ohne Weiteres an seinem Schweif zurückgezogen worden, der unglücklicher Weise in den Bereich eines seiner ehemaligen Freunde gekommen, denen er den Rücken gewandt; so sei das Gesetz in Wahrheit zum Besten der Patrioten ergangen. Er fügte bei, das Gesetz erlaube einen längern Stumpf, als gewöhnlich getragen würde, aber man sehe es als einen Mangel an Erziehung an, einen Stumpf länger als zwei und dreiviertel Zoll in Gesellschaft zu haben, ja die meisten ihrer politischen Streblinge besonders begnügten sich mit ein und einviertel Zoll als Zeichen außerordentlicher Demuth.

Ich dankte Herrn Geradaus für seine klare und anschauliche Erklärung, und das Gespräch wurde fortgesetzt.

»Ich hatte gedacht, da Eure Institutionen auf Vernunft und Natur gegründet sind,« fuhr ich fort, »daß Ihr mehr geneigt sein würdet, dieses Glied zu pflegen, als zu verstümmeln, um so mehr, da ich höre, daß alle Monikins es für die wahre Quintessenz der Vernunft halten.«

»Freilich, Sir, wir pflegen unsre Schweife, aber nach dem vegetabilischen Grundsatz, wie der geschickte Gärtner die Zweige stümpft, damit sie kräftigere Schößlinge treiben. Freilich erwarten wir nicht, daß die Schweife selbst wieder treiben, aber wir sehen auf das Wachsthum der Vernunft darin und ihre allgemeinere Verbreitung in der Gesellschaft. Die Enden unsrer Schweife, sobald sie abgehauen sind, werden in die große intellektuelle Mühle geschickt, wo der Geist aus der Materie gezogen und der erstere auf Staatsrechnung den Herausgebern der täglichen Zeitungen verkauft wird. Das ist die Ursache, warum unsre Springniedrig-Journalisten so ausgezeichnet wegen ihres Scharfsinns und ihrer Fähigkeit sind; die Ursache, warum sie so treu die Höhe der Springniedrig-Bildung angeben.«

»Und auch die der Rechtlichkeit derselben, solltet Ihr hinzufügen,« murmelte der Brigadier.

»Ich sehe die Schönheit des Systems ein, Herr Richter. Diese Essenz der abgehauenen Schweife stellt die Höhe des Springniedrig-Gehirns dar, da sie ein Compositum von allen Schweifen des Landes ist; und da eine tägliche Zeitung an den allgemeinen Verstand einer Gemeinde sich richtet, so findet sich eine selt’ne Anpassung zwischen den Lesern und dem Gelesenen. Um mich jedoch vollständig über diesen Punkt zu belehren, werden sie mir die Frage erlauben, welche Wirkung dieses System auf die Gesammtheit des Springniedrig-Verstandes hat.«

»Eine wunderbare! Da wir ein Gemeinwesen sind, müssen wir eine Einheit des Gefühls in allen Hauptsachen haben, und indem wir so alle Extreme jeder einzelnen Vernunft zusammenkneten, erlangen wir, was man öffentliche Meinung nennt, die sich wieder durch die Journale ausspricht.«

»Und ein patriotischster Patriot wird immer zum Aufseher der Mühle erkoren,« fiel der Brigadier ein.

»Immer schöner! Ihr sendet alle feineren Theile eures besondern Verstandes zum Mahlen und Zusammenkneten; dies Compositum wird den Journalisten verkauft, die es wieder als die Ergebnisse der vereinten Weisheit des Landes aussprechen.«

»Und der öffentlichen Meinung; wir halten viel auf Vernunft in allen unsern Geschäften, und nennen uns immer das erleuchtetste Volk auf der Erde, aber wir sind dann auch wieder sehr gegen ein isolirtes Streben des Geistes, das beleidigend, antirepublikanisch, aristokratisch und gefährlich ist. Wir setzen unser ganzes Vertrauen auf diese Repräsentation des Verstandes, die ungemein, wie Sie einsehen müssen, mit dem Grundsatz unsrer Staatsgesellschaft harmonirt.«

»Wir sind auch ein Handelsvolk,« fiel der Brigadier ein, »und an die Assekuranzgesetze gewöhnt, lieben wir uns mit solchen Höheberechnungen zu beschäftigen.«

»Ganz recht, Bruder Geradaus; wir sind ganz besonders, gegen alle Ungleichheit; es ist fast eine eben so große Beleidigung von einem Monikin, wenn er mehr weiß, als seine Nachbarn, als wenn er nach seinen eignen Eingebungen verfährt. Nein, nein, wir sind gewiß, ein freies, unabhängiges Gemeinwesen, und unterwerfen jeden Bürger der öffentlichen Meinung in Allem, was er thut, sagt, denkt und wünscht.«

»Bitte, Herr! schicken die beiden großen politischen Linien ihre Schweife in dieselbe Mühle und bekennen sie sich zu denselben Gefühlen?«

»Nein, Herr! Wir haben zwei öffentliche Meinungen in Springniedrig.«

»Zwei öffentliche Meinungen?«

»Freilich, Herr! die horizontale und perpendikuläre.«

»Das zeigt von einer außerordentlichen Gedankenfruchtbarkeit, die ich fast für unmöglich hielte.«

Hier lachten der Kommodore und Brigadier sogleich beide, so laut sie konnten, und zwar mir grade in’s Gesicht.

»O, Sir John! Ihr seid in der That der drolligste Bursche von der Welt, die seltsamste Frage, die ich je hörte.« Er rieb sich jetzt die Thränen des Lachens aus den Augen, worauf er dann besser fortfahren konnte. »Nur eine öffentliche Meinung, Himmel! das hätte ich nicht gedacht! Ich sagte Euch ja gleich Anfangs, mein guter Sir John, daß wir, einem Wink der Natur folgend, nach Duplikaten verfahren und nach dem rotirenden Princip. Nach dem einen haben wir immer zwei öffentliche Meinungen, und obgleich die großen politischen Landmarken in einem, so zu sagen, stationären Sinn gezogen sind, sind sie doch auch eigentlich rotirend. Die eine, die man als parallel mit dem Fundamental-Gesetz denkt, der constitutionelle Meridian des Landes, wird die horizontale genannt, und die andere die perpendikuläre. Nun, da nichts wirklich stationär im Springniedrig ist, wirken diese zwei großen Landmarken stets gleichförmig auf das rotirende Princip, und ändern periodisch ihre Stellen; die also, welche die respektiven Marken betreten, bekommen dadurch nothwendig neue Ansichten von den Dingen, wie sie ihren Gesichtspunkt ändern. Diese großen Umwälzungen gehen jedoch höchst langsam vor sich, und sind für die ganz unmerklich, die sie mitmachen, ganz wie die Umwälzungen unseres Planeten seinen Bewohnern.«

»Und die Gyrationen der Patrioten, von denen der Richter eben gesprochen,« fügte der Brigadier hinzu, »sind so ziemlich dieselben, wie in excentrischen Bewegungen die Kometen, die das Sonnensystem verschönern, ohne es durch ihren ungewissen Lauf zu stören.«

»Nein, Sir!« begann der Richter wieder, »wir wären übel daran, wenn wir nur hier öffentliche Meinung hätten. O, ich wüßte nicht, was aus den patriotischsten Patrioten in solch einem Falle werden würde.«

»Bitte, erlaubt mir die Frage! Da Ihr die Plätze verloos’t, habt Ihr eben so viele Plätze als Bürger?«

»Freilich, Sir! Unsre Plätze zerfallen erstlich in die zwei großen Unterabtheilungen, die innern und äußern. Die, welche auf die Marke an der populärsten Seite treten, nehmen die ersten ein, und die aus der unpopulärsten natürlich alle übrigen. Die erstern jedoch, müßt Ihr wissen, sind die einzigen, bei denen es sich der Mühe lohnt – – –« Ich hätte gern die Unterhaltung fortgesetzt, die eine Fluth von Licht über meine politische Einsicht zu verbreiten versprach; aber grade jetzt erschien ein Bursche, dem Anscheine nach ein Bedienter, mit einem Paket an dem Ende seines Schweifs gebunden. Er wandte sich um und übergab seine Last mit tiefer Ehrfurcht, worauf er sich zurückzog. Ich fand, das Paket enthielt drei Schriften, mit folgenden Adressen:

»Sr. königl. Hoheit, Bob, Prinz von Wales u.s.w.«

»Mylord, Ober-Admiral Poke u.s.w.«

»Herren Goldenkalb, Schreiber u.s.w.«

Nach einer Entschuldigung gegen meine Gäste eröffnete ich eifrigst das Schreiben an mich. Es lautete so:

»Der hochedle Graf von Chatterino, aufwartender Kammerherr Sr. Majestät, benachrichtigt Herrn John Goldenkalb, Schreiber, daß ihm hiedurch aufgegeben wird, im Kabinet diesen Abend zu erscheinen, wo die Verlöbnißfeierlichkeiten zwischen Graf Chatterino und Lady Chatterissa, erster Ehrendame Ihrer Majestät der Königin, Statt finden werden.«

NB. »Die Herren erscheinen in voller Galla.«

Als ich den Inhalt meines Schreibens dem Richter mittheilte, sagte er mir, er wisse von der nahen Feierlichkeit, da auch er eine Einladung, in seinem officiellen Charakter zugegen zu sein, erhalten habe. Ich bat, als eine besondre Gunst, er möge, da England keine Gesandten zu Springhoch habe, in seiner Eigenschaft als fremder Minister mich vorstellen. Der Gesandte hatte nichts dagegen, und ich fragte nach dem nöthigen Costume; da, so viel ich gesehen, es zu Springhoch zur guten Sitte gehöre, nackt zu gehen. Der Gesandte hatte die Güte, mir zu bemerken, daß obwohl in Hinsicht bloßer Kleidung jede Bedeckung sowohl in Springhoch als Springniedrig außerordentlich anstößig wäre, doch im erstern Land sich Niemand, die fremden Minister allein ausgenommen, an den Hof begeben könnte, ohne einen Schweif. Da wir uns bald darüber verständigt hatten, trennten wir uns mit der Verabredung, daß ich, nebst meinen Gefährten, deren Interesse ich nicht vernachlässigt hatte, bereit sein sollte, zu einer bestimmten Stunde den Gesandten und den Brigadier zu begleiten.

Eilftes Kapitel.

Eilftes Kapitel.

Eine auf etwas Solides gegründete Philosophie; – einige deutlich dargestellte Gründe und spöttische Einwürfe dagegen in die Flucht geschlagen durch einen logischen Bayonettenangriff.

Doktor Raisono war in Verschönerung seiner Person wie seines Lyceums ganz so vernünftig, als ich nur jemals einen öffentlichen Professor mich erinnere gesehen zu haben, wenn er sein Lehramt in Gegenwart von Damen üben soll. Wenn ich sage, daß sein Fell gebürstet, sein Schweif neu gekräuselt und sein ganzes Aeussere mehr als gewöhnlich »solennisirt« war, wie Kapitain Poke es in einem bescheidnen Lispeln beschrieb, glaube ich alles gesagt zu haben, was nöthig und wahr ist. Er stellte sich hinter einen Schemel, der als Tafel diente, glättete dessen Teppich ein wenig mit seinen Pfoten, und schritt alsbald zur Sache. Ich muß wohl noch hinzufügen, daß er ohne Geschriebenes las, und da der Gegenstand nicht gerade Experimente verlangte, auch ohne einigen Apparat.

Seinen Schweif nach den verschiednen Theilen des Zimmers wedelnd, wo seine Zuhörer saßen, begann er also:

»Da gegenwärtig, meine Zuhörer, nur ganz zufällig die Wissenschaft in Anspruch genommen wird, wo alle den Academie’n Zugehörige auftreten mögen, und jetzt nur eine Erklärung der Hauptstücke unsrer Thesis verlangt wird, werde ich nicht auf den Grund des Gegenstands eingehen, sondern mich auf allgemeine Bemerkungen beschränken, die nur dazu dienen mögen, eine Skizze unsrer Philosophie zu geben, die moralischen, natürlichen und politischen – –«

»Wie, Sir,« schrie ich, »haben Sie eine politische und eine Moral-Philosophie?«

»Unstreitig und eine sehr nützliche Philosophie ist es. Keine Interessen verlangen mehr Philosophie als die mit der Politik verbundnen. Nochmals – nur eine Skizze unsrer Philosophie wollen wir geben, der natürlichen Moral- und politischen Philosophie, indem wir den größten Theil der Sätze, Beweise und Folgerungen größerer Muße und einem weiter fortgeschrittenen Stande der Gelehrsamkeit bei unsren Zuhörern aufbewahren. Indem ich mir also selbst diese heilsamen Schranken setze, werde ich nun mit der Natur beginnen.

»Natur ist ein Ausdruck, den wir gebrauchen, um das alles durchdringende und beherrschende Princip der erschaffenen Dinge auszudrücken. Es ist bekanntlich eine allgemeinere und besondere Bezeichnung, indem sie im ersteren Falle die Elemente und Verbindungen der Allmacht, angewandt auf die Materie, im Allgemeinen bezeichnet, im andern, deren besondre Unterabtheilungen, in Verbindung mit der Materie in ihren unendlichen Verschiedenheiten. Sie wird ferner wieder eingetheilt, in ihre physische und moralische Attribute, und bekommt dann diese beiden Beziehungen. So wenn wir sagen, die Natur in abstracto und es physisch meinen, so verstehen wir darunter jene allgemeinen, gleichförmigen, unumgänglichen, feststehenden und schönen Gesetze, die das ganze Wirken, die Verwandschaften und Bestimmungen des Weltalls als eines großen Ganzen beherrschen und in Harmonie bringen, und wenn wir sagen die Natur im Besondern, so wollen wir z. B. von der Natur eines Felsen, eines Baums, der Luft, des Feuers, Wassers und der Erde reden. Wieder, wenn wir auf eine moralische Natur in abstracto hinweisen, meinen wir die Sünde, ihre Schwäche, ihr Anzügliches, ihr Häßliches, in Einem Wort, ihre Totalität, während auf der andern Seite, wenn wir den Ausdruck in diesem moralischen Sinn, aber speciell gebrauchen, wir seine Bedeutung auf die besondern Schattirungen der natürlichen Eigenschaften beschränken, die den besonders genannten Gegenstand bezeichnen. Lassen Sie uns unsre Sätze durch einige kurze Beispiele erläutern.

»Wenn wir sagen: O Natur, wie glorreich, erhaben und belehrend bist du! meinen wir, daß ihre Gesetze aus einer Allmacht unendlicher Weisheit und Vollkommenheit herfließen; und wenn wir sagen: O Natur, wie bist du hinfällig, eitel und unzulänglich! meinen wir, daß sie bei dem allen doch nur etwas Untergeordnetes ist, unterworfen dem, der sie in’s Dasein rief, und zwar zu bestimmten, begrenzten und unzweifelhaft weisen Zwecken. In diesen Beispielen sprechen wir von der Natur in abstracto

»Die Beispiele über Natur im Besonderen werden meinen Zuhörern geläufiger und obwohl keineswegs wahrer, so doch verständlicher erscheinen. Die Natur im Besondern in physischer Bedeutung fällt in die Sinne, verräth sich in den äußern Formen der Dinge, durch ihre Stärke, Größe, Substanz und ihre Verhältnisse; und in ihren mehr geheimnißvollen Eigenthümlichkeiten, erst bei näherer Untersuchung, durch ihre Gesetze, Harmonie und Wirkungen. Besondre moralische Natur zeigt sich in den verschiednen Neigungen und Fähigkeiten, in dem Benehmen der verschiednen Classen aller moralischen Wesen. In diesem letztren Sinn haben wir Monikins-Natur, Hunde-Natur, Pferde-Natur, Schwein-Natur, Menschen-Natur – –«

»Erlauben Sie mir, Dr. Raisono;« unterbrach ich, »hier zu fragen, ob Sie diese Classifizirung für mehr als zufällige Stellung von Beispielen geltend machen wollen.«

»Nur das letztre, versichre Sie, Sir John.«

»Und geben Sie den großen Unterschied zwischen animalischer und vegetabilischer Natur zu?«

»Unsre Academie’n sind über diesen Punkt getheilter Meinung. Eine Schule behauptet, die ganze lebende Natur müsse in ein großes alles begreifendes Genus zusammengefaßt werden, während die andre die von Ihnen genannten Unterscheidungen zuläßt. Ich bin der letztern Meinung, und neige mich zu der Ansicht, daß die Natur selbst die Linie zwischen den zwei Classen gezogen hat, indem sie der einen die doppelte Gabe moralischer und physischer Natur zugetheilt und der andern die erstere vorenthalten hat. Das Dasein der moralischen Natur zeigt sich im Dasein eines Willens. Die Academie von Springhoch hat eine scharfsinnige Classification aller bekannten Thiere gemacht, an deren Ende sich der Schwamm, an deren Spitze sich der Monikin befindet.«

»Schwämme sind sonst gewöhnlich am obersten,« murmelte Noah.

»Herr,« sagte ich mit einem unangenehmen Anschwellen der Kehle, »soll ich das so verstehen, daß Ihre Gelehrten den Menschen für ein Thier halten, in einem Mittelzustand zwischen Schwamm und Affe?«

»Wirklich, Sir John, diese Hitze ist ganz unstatthaft bei philosophischen Verhandlungen; wenn Sie fortfahren, sich ihr zu überlassen, muß ich die Vorlesung aussetzen.«

Bei diesem Tadel machte ich einen glücklichen Versuch mich zu fassen, ob mich gleich der esprit de corps fast erstickte. Ich gab, so gut ich konnte, Besserung zu verstehen, und Dr. Raisono, der über seinen Tisch gelehnt, zweifelhaft da gestanden hatte, wedelte mit dem Schweif und fuhr fort:

»Schwämme, Austern, Krabben, Störe, Kröten, Schlangen, Eidechsen, Opossum, Ameisenlöwen, Paviane, Neger, Waldtauben, Löwen, Eskimo, Faulthiere, Schweine, Hottentoten, Ourangnikins sind ohne allen Zweifel alles Thiere, der einzige bestrittene Punkt bei uns ist, ob sie alle von demselben Genus sind und nur Varietäten oder Species bilden, oder ob sie in drei große Familien wieder zerfallen müssen, in die verbesserlichen, unverbesserlichen und die rückgängigen. Die, welche behaupten, daß wir nur eine große Familie bilden, urtheilen nach gewissen in die Augen fallenden Analogien, die als eben so viele Glieder dienen, um die animalische Welt in einer großen Kette zu vereinen. Indem sie z. B. den Menschen als den Mittelpunkt annehmen, zeigen sie, daß dieß Wesen, gemeinsam mit jedem andern Geschöpf, eine sehr bemerkbare Eigenthümlichkeit besitzt. So ist der Mensch in einer Hinsicht gleich einem Schwamm, in einer andern gleich einer Auster, ein Schwein ist dem Menschen ähnlich, der Hamster hat etwas eigenthümliches von dem Menschen, der Ourang-Outang wieder etwas anders, das Faulthier ebenfalls – –«

»König!«

»Und so bis zuletzt. Diese Philosophenschule jedoch, während sie sehr scharfsinnig vertheidigt wird, ist gerade in diesem Augenblick nicht die begünstigste in der Academie von Springhoch.«

»Gerade in diesem Augenblick, Doktor!«

»Freilich, Sir. Wissen Sie nicht, daß Wahrheiten, eben sowohl physische als moralische, eben so sehr ihre Umwälzungen erleiden, als die ganze geschaffne Natur. Die Academie hat diesem Gegenstand große Aufmerksamkeit geschenkt, und sie gibt jährlich ein Taschenbuch heraus, worin die verschiednen Phasen, Umwälzungen, Umläufe, Verfinsterungen, totale und partielle, die Entfernungen vom Mittelpunkt des Lichts, die Erdferne und Erdnähe aller wichtigsten Wahrheiten mit seltner Genauigkeit berechnet sind, und vermittelst dessen die Vorsichtigen sich so nah als möglich im Bereich der Vernunft halten können. Wir halten diese Bemühung des Monikin’schen Geistes für die erhabenste aller seiner Erfindungen, für den stärksten Beweis seiner nahen Annäherung zu der Erreichung seiner irdischen Bestimmung. Doch hier ist nicht der Ort, bei diesem besondern Punkt unsrer Philosophie zu verweilen, und für jetzt wollen wir diesen Gegenstand aussetzen.«

»Doch werden Sie mir erlauben, Dr. Raisono, kraft der ersten Bestimmung des Art. 5. Protokoll Nro. 1. (welches Protokoll, wenn auch nicht geradezu angenommen, doch den Geist des damals angenommenen enthielt) Sie zu fragen, ob die Berechnungen der Umwälzung in der Wahrheit nicht zu gefährlichen moralischen Ausschweifungen führen, zu verderblichen Speculationen mit Ideen, und zum Umsturz der Staatsgesellschaft.«

Der Philosoph zog sich einen Augenblick mit Mylord Chatterino zurück, um zu berathschlagen, ob es klug sei, die Gültigkeit des Protokolls Nummer 1. selbst in dieser indirekten Weise zuzulassen; worauf sie denn übereinkamen, daß eine solche Annahme alle kitzliche Fragen, die eben noch so glücklich beseitigt worden, wieder in Anregung bringen würden, da die erste Bestimmung des Artikels 5. in direkter Verbindung mit der zweiten stünde, indem sie nur einen Artikel ausmachten, und der 5. Art. in seiner Gesammtheit einen wesentlichen Theil des ganzen Dokuments bildete, die Lehre der Auslegung aber einschärfe, daß Dokumente gleich Testamenten nach ihrem allgemeinen Inhalt ausgelegt werden müßten, nicht aber nach ihren besondern Bestimmungen; es würde also für die Zwecke der Zusammenkunft gefährlich sein, diese Anwendung zuzugeben. Aber unser Vorbehalt, daß es nicht in ein Recht übergehe, könnte man wohl als Höflichkeit zugeben, was man als Recht verweigert hätte, und so benachrichtigte mich denn Dr. Raisono, daß diese Berechnungen über die Umwälzung in den Wahrheiten zu gewissen moralischen Übertreibungen führten, und in manchen Fällen selbst zu gefährlichen Spekulationen mit Ideen. Die Academie von Springhoch, und soweit seine Kenntniß ginge, die Academie jedes andern Landes hätte die Sache mit der Wahrheit, und besonders mit moralischer Wahrheit immer als die allerschwierigste zu leiten gefunden, als die, welche am leichtesten mißbraucht, und am gefährlichsten allgemein verbreitet würde. Es ward mir ausserdem für die Zukunft weitre Erläuterung über diesen Zweig des Gegenstandes versprochen.

»Den regelmäßigen Faden meiner Vorlesung wieder anzuknüpfen,« fuhr Dr. Raisono fort, nachdem er aus Höflichkeit diese Abschweifung gemacht, »theilen wir also diese Classen der erschaffnen Welt in belebte und vegetabilische Natur; die erstre wird wieder eingetheilt in verbesserliche, unverbesserliche und rückgängige. Die verbesserliche umfaßt alle jene Arten, welche in langsamen, fortschreitenden aber unabwendbaren Verändrungen nach der Vollkommenheit des irdischen Lebens fortgehen, nach jenem letzten, erhabenen, höchsten Zustand der Sterblichkeit, wo das materielle seinen letzten Streit mit dem immateriellen, – der Geist mit der Materie auskämpft. Die verbesserliche Classe von Thieren fängt nach der Monikins-Lehre mit jenen Arten an, wo die Materie das augenscheinlichste Uebergewicht hat, und endigt mit denen, wo der Geist der Vollkommenheit so nahe ist, als diese sterbliche Hülle nur immer zuläßt. Wir halten dafür, daß Geist und Materie in jener geheimnißvollen Vereinigung, die das geistige mit dem physischen Wesen verbindet, in einem Mittelzustand anfängt, und nicht, wie einige behauptet haben, nur Seelenwanderungen erleidet, sondern jene stufenförmigen und unmerklichen Veränderungen beides der Seele und des Leibes erfährt, die die Welt mit so wunderbaren Wesen bevölkert haben; wunderbar, geistig und physisch, und die alle (die verbesserliche Classe nämlich) nichts weiter als Thiere von demselben großen Genus sind, die auf der Heerstraße zu ihren Zwecken, auf die letzte Stufe der Vollkommenheit zugehen, bevor sie endlich auf einen andern Planeten, zu einem neuen Dasein versetzt werden.

»Die rückgängige Classe besteht aus jenen Arten, welche ihrem Geschick folgend, eine falsche Richtung nehmen, welche statt auf das immaterielle los zu gehen, nach dem materiellen streben, die stufenweise mehr und mehr unter die Herrschaft der Materie kommen, bis durch eine Reihenfolge physischer Wechsel der Wille ganz und gar verloren geht, und sie mit der Erde in Eins zerfallen. In dieser letzten Umbildung werden diese blos materiellen Wesen chemisch in dem großen Laboratorium der Natur zersetzt und ihre sie bildenden Theile getrennt; so werden die Gebeine zu Felsen, das Fleisch zu Erde, die Geister zu Luft, das Blut zu Wasser, der Knorpel zu Lehm und die Asche des Willens geht in die Elemente des Feuers über. Zu diesen Classen zählen wir Wallfische, Elephanten, Nilpferde und verschiedne andre Thiere, welche offenbar Anhäufungen von Materie verrathen, die schnell über die weniger materiellen Theile ihrer Natur triumphiren müssen.«

»Und doch, Doktor, finden sich Thatsachen, die gegen die Theone streiten; der Elephant z. B. wird für das vernünftigste aller Vierfüßler gehalten.«

»Nur eine falsche Darstellung, Sir. Die Natur gefällt sich in jenen kleinen Zweideutigkeiten; so haben wir falsche Sonnen, falsche Regenbogen, falsche Propheten, falsche Erscheinungen und selbst falsche Philosophien. Es gibt ganze Rassen von unsern beiden Geschlechtern, wie die Congo und die Eskimo in Ihrem und die Paviane und gewöhnlichen Affen, die dem Menschen unterworfene Erdstriche bewohnen, in unserm Geschlecht, die bloße Schatten von der Gestalt und den Eigenschaften sind, die eigentlich das Thier in seinem Zustand von Vollkommenheit auszeichnen.«

»Wie, Sir, sind Sie also nicht von derselben Familie, wie all die andern Affen, die wir auf den Straßen herum hüpfen und springen sehen?«

»Eben so wenig als Sie, Sir, dieselbe Familie mit den plattnasigen, dicklippigen, niedrig gestirnten, dintenfarbigen Negern, oder den schmutzigen, leidenschaftslosen, thierischen Eskimo ausmachen. Ich habe gesagt, die Natur gefalle sich in Abschweifungen, und alles dies ist nichts weiter als Täuschung von ihr. Von der Art ist auch der Elephant, der, während er sich am meisten dem reinen Materialismus zuneigt, trügerisch Parade mit einer Eigenschaft macht, die er in schnellem Grade verliert. Beispiele von diesem Schnippchenschlagen, wenn ich mich so ausdrücken darf, sind in allen Klassen von Wesen gemein. Wie oft z. B. paradiren Menschen gerade in dem Augenblick, wo sie Bankerott machen wollen, mit ihrem Reichthum; Frauen scheinen unerbittlich, im Augenblick, wo sie kapituliren, und Diplomaten rufen den Himmel zum Zeugen ihrer Entschlüsse den Tag vorher an, ehe sie das Gegentheil unterzeichnen und besiegeln. Im Falle mit dem Elephanten jedoch ist eine kleine Ausnahme von der allgemeinen Regel, die sich auf das ausserordentliche Ringen zwischen Geist und Materie gründet, indem der erstre Anstrengungen macht, die man als ungewöhnlich, als eine Ausnahme von der gewöhnlichen Art Krieg zu führen, zwischen diesen zwei Principien betrachten kann. Das untrüglichste Zeichen des Triumphs des Geistes über die Materie liegt in der Entwicklung des Schweifs – –«

»König!«

»Des Schweifs, Dr. Raisono!«

»Allerdings, Herr, jenes Sitzes der Vernunft, des Schweifs! Bitte, Sir John, welchen andern Theil unsers Körpers hielten Sie für den Sitz des Verstandes?«

»Unter den Menschen, Dr. Raisono, hält man das Haupt für das edelste Glied, und seit kurzem haben wir analysirende Charten von diesem Theil unsrer Körperbildung gemacht, wonach man dann die Breite und Länge einer moralischen Eigenschaft, eben so gut als ihre Grenzen bestimmen will.«

»Sie haben den besten Gebrauch von Ihrem Material, wie es gerade war, gemacht, und ich muß sagen, die besagte Charte im Ganzen ist ein sehr gutes Stück Arbeit. Aber in der Verwickelung und Schwierigkeit eben dieser moralischen Charte (ich sehe eine davon auf Ihrem Kamin stehen) können Sie sich von der Verwirrung überzeugen, die noch in der Menschen-Vernunft herrscht. Nun, wenn Sie uns betrachten, können Sie das gerade Gegentheil Ihrer Verlegenheit bemerken. Wie viel leichter z. B. ist es eine Elle zu nehmen, und durch einfache Abmessung eines Schweifs zu einem gefunden, in die Augen fallenden, unwidersprechlichen Schluß über die Ausdehnung des Verstandes bei einem Individuum zu gelangen; weit besser als durch die verwickelte, widersprechende, zweideutige und bestreitbare Art, wozu Sie gezwungen sind. Schon diese Thatsache würde hinreichend den höheren moralischen Standpunkt der Monikinsrasse in Vergleich mit dem des Menschen begründen.«

»Soll ich, Dr. Raisono, wirklich glauben, daß die Monikins-Familie einen so abentheuerlichen Stolz ernsthaft behauptet; daß Sie einen Monikin für ein verständigeres und hoher civilisirtes Wesen als den Menschen hält?«

»In allem Ernst, Sir John. Ei, Sie sind in der That die erste verehrte Person, die ich getroffen, welche nur die Thatsache zu bezweifeln schien. Es ist wohlbekannt, daß beide zu der verbesserlichen Classe gehören, daß die Affen, wie Sie uns zu benennen belieben, einst Menschen waren mit ihren Leidenschaften, Schwächen, Unbeständigkeiten, ihren philosophischen Systemen, ungesunder Moral, Gebrechen, Inconsequenzen und Knechtschaft unter der Materie; daß sie stufenweise in den Monikin-Stand übertraten, und große Abtheilungen von ihnen beständig in die immaterielle Welt verdunsten, vollständig Geist geworden und frei von der groben Materie des Fleisches. Ich glaube nicht an das, was man Tod nennt, denn es ist nichts weiter, als ein gelegentliches Ablegen der Materie, um sie in neuer Gestalt und mit größrer Annäherung zu den wichtigen Erfolgen (bei der verbesserlichen sowohl als bei der rückgängigen Classe) wieder anzunehmen; nichts weiter als jene endlichen Wechsel, die uns auf einen andern Planeten versetzen, um einen höhern Standpunkt des Daseins zu genießen, und uns immer auf der Heerstraße nach endlicher Vortrefflichkeit zu führen.«

»Das ist alles sehr scharfsinnig, Sir; aber bevor Sie mich überzeugen können, daß der Mensch niedriger als der Affe steht, müssen Sie es mir, mit Ihrer Erlaubniß zu sagen, beweisen.«

»Ja, ja, und mir auch,« fiel Capitain Poke bitter ein.

»Brauchte ich Beweise anzuführen, meine Herren,« fuhr der Philosoph fort, der weit weniger durch unsre Zweifel gerührt schien, als wir durch seine Lehre, »so würde ich zuerst Sie auf die Geschichte verweisen. Alle Monikinschen Schriftsteller stimmen in der allmähligen Abstammung aller Arten von dem Menschengeschlecht überein.«

»Das wäre genug, Sir, für die Breitegrade von Springhoch, aber erlauben Sie mir, kein menschlicher Geschichtschreiber von Moses bis Buffon hat je solch eine Ansicht unsrer verschiedenen Rassen gehabt. Es findet sich bei keinem ein Wort davon.«

»Wie sollte es auch, Sir? Die Geschichte ist keine Vorhersagung, sondern eine Erzählung des Geschehenen. Ihr Schweigen ist in so fern ein negativer Beweis zu unsern Gunsten. Spricht Tacitus z. B. von der Französischen Revolution? Schweigt nicht Herodot von dem Abfall des amerikanischen Continents? oder giebt uns irgend ein griechischer oder römischer Schriftsteller die Annalen von Stonington? einer Stadt, die offenbar erst nach der christlichen Zeitrechnung gegründet ward? Es ist moralisch unmöglich, daß Menschen oder Monikins getreu Begebenheiten erzählen sollten, die sich nie zugetragen, und da es noch nie einem Menschen begegnet ist, daß er in den Monikins-Stand versetzt worden, so geht als nothwendige Folge daraus hervor, daß er nichts davon wissen kann. Wenn Sie daher historische Beweise von dem, was ich sage, wollen, müssen Sie die Monikins-Annalen nach Belehrung aufschlagen; da findet man es mit einer Menge seltsamer Einzelheiten, und ich hoffe, die Zeit ist nicht mehr fern, wo ich das große Vergnügen haben werde, Ihnen die Hauptcapitel unsrer besten Schriftsteller darüber anzudeuten. Aber wir sind nicht auf das Zeugniß der Geschichte beschränkt, um unsern Zustand als eine fortgeschrittene Bildung darzustellen. Der innere Beweis ist schlagend, wir berufen uns auf unsre Einfachheit, unsre Philosophie, den Zustand der Künste unter uns, kurz auf alle jene mitwirkenden Beweise, welche aus dem höchst möglichen Zustand der Civilisation hervorgehen. Ausserdem haben wir noch das untrügliche Zeugniß, die Entwickelung unsrer Schweife, unser System der Caudologie ist an und für sich ein triumphierender Beweis von der hohen Vervollkommnung der Monikinschen Vernunft.«

»Verstehe ich Sie recht, Dr. Raisono, so stellt Ihre Caudologie oder Lehre vom Schweif, um es zu übersehen, die Möglichkeit auf, der Verstand des Menschen, der heut zu Tage sicher in seinem Gehirn ist, könne je in einen Schweif sich herabsenken.«

»Wenn Sie Entwickelung, Verbesserung, Vereinfachung ein Herabsteigen nennen, dann freilich, Sir. Aber Ihr Bau ist ein schlechter, Sir John; Sie sehen’s mit eignen Augen, daß ein Monikin seinen Schweif so hoch tragen kann, als ein Mensch den Kopf. Unsre Nase ist in diesem Sinn moralisch höher, und es kostet uns keine Anstrengung, auf gleicher Höhe mit menschlichen Königen zu stehen. Wir behaupten mit Ihnen, daß das Gehirn der Sitz der menschlichen Vernunft ist, so lange der Mensch in dem, was wir Prüfungsstand nennen, sich befindet; aber dann ist die Vernunft unentwickelt, unvollkommen, verwirrt, gleichsam in eine Hülse, die für ihre Funktionen nicht passt, eingehäußt, so wie sie jedoch nach und nach aus diesem engen Gehäuse heraustritt, nach der Basis des Thiers zu, gewinnt sie Festigkeit, Helle, und endlich durch Verlängerung und Entwickelung Pointe. Wenn Sie das menschliche Gehirn untersuchen, werden Sie es, obgleich einer großen Ausdehnung fähig, in einem kleinen Raume zusammengedrückt, in einander gewirrt, beengt finden; während nur in der Monikinsspecies dasselbe Einfachheit, einen Anfang und ein Ende erlangt, eine Richtung und Aufeinanderfolge, die zur Logik nötig sind, wie schon gesagt, eine Pointe, welches alles, der Analogie gemäß, die großen Vorzüge derselben beweis’t.«

»Ja, Herr, wenn Sie auf Analogie kommen, so möchte diese leicht mehr beweisen, als Sie wünschen. Bei den Vegetabilien z.B. steigen die Schößlinge der Befruchtung und Nutzbarkeit wegen aufwärts, und nach dieser Analogie ist es weit wahrscheinlicher, daß die Schweife sich zu Gehirn vervollkommnet als umgekehrt; und daß folglich weit wahrscheinlicher der Mensch eine Vervollkommnung vom Affen, als der Affe vom Menschen ist.«

Ich wußte, ich sprach mit Wärme, denn Dr. Raisono’s Lehre war mir neu; und um diese Zeit hatte mein esprit de corps fast gänzlich meine Ueberlegung unterdrückt.

»Ihr gabt ihm einen tüchtigen Schlag, Sir John,« lispelte Kapitain Poke an meiner Seite; »wenn Ihr jetzt wollt, will ich all diesen kleinen Schelmen die Hälse herumdrehen, und sie dem Fenster hinauswerfen.«

Ich stellte ihm sogleich vor, daß jede Aeußerung roher Gewalt gerade gegen unsere Sache sprechen würde, besonders da die Unterhaltung gerade jetzt so immateriell als möglich wäre.

»Gut, gut, macht es, wie Ihr wollt, Sir John; ich will mich so immateriell verhalten, als Ihr nur wünschen könnt; aber sollte dieß listige Ungeziefer wirklich in dem Streit über uns obsiegen, werde ich nie mehr wagen, auf Miß Poke zu schauen, oder mein Gesicht wieder in Stonington zu zeigen.«

Dieß kleine Zwischengespräch ward heimlich geführt, während Dr. Raisono ein Glas Zuckerwasser trank; aber er kehrte bald wieder zum Streitpunkt mit dem würdevollen Ernst zurück, der ihn nie verließ.

»Ihre Bemerkung über die Schößlinge schmeckt ganz nach menschlicher Weisheit, jedoch mit der sprichwörtlichen Kurzsichtigkeit Ihres Geschlechts verbunden. Es ist wahr, die Schößlinge steigen der Befruchtung wegen aufwärts, aber was ist diese Befruchtung? es ist nichts weiter als eine falsche Darlegung der Kräfte der Pflanze. Zu allen übrigen Zwecken des Wachsthums, Lebens, der Dauerhaftigkeit und endlichen Verwandlung des vegetabilischen Stoffs in ein Element ist die Wurzel der Sitz der Macht und Gewalt, und über allen, oder vielmehr unter allen besonders die Pfahlwurzel. Diese Pfahlwurzel kann man den Schweif der Vegetation nennen. Sie können ohne Schaden Früchte abbrechen, ja selbst die Spitze aller Zweige, und der Baum lebt; aber legt die Axt an die Wurzel und der Stolz des Haines fällt.«

Alles dieß war zu augenscheinlich wahr, um es zu leugnen, und ich fühlte mich ermüdet und beschämt, denn niemand sieht sich gern in einem Streit dieser Art geschlagen, und besonders von einem Affen. Ich erinnerte mich des Elephanten, und entschloß mich, mit Hülfe seiner mächtigen Hauer noch einen Angriff zu machen, ehe ich den Streitpunkt aufgäbe.

»Ich denke, Doktor Raisono, Ihre Gelehrten sind nicht sehr glücklich gewesen,« begann ich wieder, sobald als möglich, »indem sie ihre Theorie vermittelst des Elephanten erläuterten. Dieß Thier, ausser seiner Fleischmasse, ist zu sehr mit Verstand versehen, um als Dummkopf zu gelten; und er hat nicht blos einen, sondern man könnte fast sagen zwei Schweife.«

»Das ist gerade sein Hauptunglück, Sir; die Materie, in ihrem großen Kampf mit dem Geist, hat das Princip: »Theile und beherrsche« angenommen; Sie sind näher der Wahrheit, als Sie dachten, denn der Rüssel des Elephanten ist nur ein verunglückter Schweif; und doch, sehen Sie, enthält er fast allen Verstand, den das Thier besitzt. Was indeß den Elephanten betrifft, so wird die Theorie hier durch die wirkliche Erfahrung bestätigt. Sprechen nicht Geologen und Naturforscher von den Ueberresten von Thieren, welche nicht weiter unter den lebenden Wesen gefunden werden?«

»Freilich, Sir; – das Mastodon, das Megatherium, Iguanodon und der Plesiosaurus.«

»Und finden Sie nicht auch unzweideutige Zeichen von thierischen Stoffen in Felsen?«

»Auch das muß man zugeben.«

»Diese Phänomene, wie Sie sie nennen, sind nun aber nichts weiter, als der letzte Niederschlag, den die Natur bei solchen Thieren zurückgelassen, wo die Materie gänzlich ihren Nebenbuhler besiegt hat, den Geist nämlich. Sobald der Wille gänzlich erloschen ist, hört das Wesen zu leben auf, oder ist nicht länger ein Thier. Es fällt und kehrt gänzlich in das Element der Materie zurück. Der Proceß der Zersetzung und Verkörperung währt mehr oder weniger lang, je nach den Umständen, und diese fossilen Ueberreste, wovon Ihre Schriftsteller soviel reden, sind nur Fälle, wo die endliche Zersetzung auf zufällige Hindernisse gestoßen ist. Was unsre zwei Arten betrifft, so muß auch eine nur flüchtige Untersuchung ihrer Eigentümlichkeiten jedes aufrichtige Gemüth von der Wahrheit unsrer Philosophie überzeugen. So ist der physische Theil im Menschen im Verhältniß zum geistigen viel größer als bei dem Monikin; seine Gewohnheiten sind gröber und weniger geistig, er bedarf der Sauce und Gewürze zu seiner Nahrung, er ist weiter von der Einfachheit entfernt, und so auch nothwendig von wahrer Civilisation, er ißt Fleisch, ein sichrer Beweis, daß das materielle Princip bei ihm noch sehr das Uebergewicht hat, er hat keinen Schweif – –«

»Hier möchte ich Sie fragen, Doktor Raisono, ob Ihre Gelehrten einiges Gewicht auf Tradition legen.«

»Ganz ausserordentliches, Sir. Es ist Monikin’sche Tradition, daß unser Geschlecht aus verfeinerten Menschen besteht, aus verringerter Materie und vermehrtem Geist, die Vernunft befreit aus der Gefangenschaft und Verwirrung des Hauptes, und ausgedehnt, entwirrt und logisch und consequent geworden in dem Schweif.« »Nun, Sir, wir haben auch unsre Traditionen, und ein ausgezeichneter Schriftsteller, nicht weit von uns entfernt, hat es als unbestreitbar aufgestellt, daß die Menschen einst Schweife gehabt.«

»Ein bloßer prophetischer Blick in die Zukunft; wie ja bekanntlich kommende Ereignisse ihren Schatten vor sich werfen.«

»Sir, der besagte Philosoph begründet seine Behauptung, indem er auf die Stümpfe hindeutet.«

»Er hat unglücklicher Weise den Grundstein für eine Ruine gehalten. Solche Irrthümer sind nicht selten bei eifrigen und scharfsinnigen Leuten. Daß die Menschen einst noch Schweife erhalten werden, bezweifle ich nicht im Geringsten, aber daß sie je diesen Punkt der Vollkommenheit erreicht, leugne ich feierlichst. Es sind viele vorausverkündende Symptome da, daß sie diesen Zustand erreichen werden; die gewöhnlichen Ansichten des Tages, die Kleidung, Gewohnheiten, Moden, die Philosophie der Gattung bestärken in diesem Glauben; aber bis jetzt habt ihr noch nicht diese neidenswerthe Auszeichnung erlangt. Was Tradition betrifft, so ist Ihre eigne zu Gunsten unsrer Theorie. So z. B. haben Sie eine Tradition, daß die Erde einst von Riesen bevölkert war; nun, das kömmt daher, daß die Menschen einst noch mehr unter dem Einfluß der Materie standen als heut zu Tag. Sie geben zu, daß Sie an Größe ab- und in moralischen Vorzügen zunehmen; alles dieß Beweise für die Monikin’sche Philosophie. Sie fangen an, weniger Gewicht auf physische und mehr auf moralische Vorzüge zu legen; und mit einem Wort, vieles zeigt, daß die Zeit der endlichen Befreiung und großen Entwicklung Ihres Gehirns nicht mehr fern ist. Soviel gebe ich gern zu; denn während die Dogmen unsrer Schulen nicht zu verwerfen sind, gestehe ich gerne, daß Sie unsre Mitgeschöpfe sind, obwohl in einem jüngern und weniger vollkommnen Zustand der Staatsgesellschaft.«

»König!«

Hier äusserte Doktor Raisono die Notwendigkeit einer kleinen Pause, um sich zu erfrischen. Ich zog mich mit Kapitain Poke zurück, und unter den besondern Umständen, worin wir uns befanden, meinem Gefährten mich mitzutheilen, und ihn nach seiner Meinung von dem Gesagten zu befragen. Noah fluchte bitterlich über einige von den Schlüssen des Monikin’schen Philosophen, und versicherte, er wünsche nur ihn in den Strassen von Stonington Vorlesungen halten zu hören, wo solche Lehren nicht länger geduldet werden würden, als nöthig wäre, eine Harpune scharf zu machen oder eine Büchse zu laden. In der That, er wisse nicht anders, als der Doktor werde alsbald ohne alle Umstände in Rhode-Island nieder gemacht werden.

»Da wünschte ich mir’s nicht besser,« fuhr der unwillige alte Robbenfänger fort, »als die große Zehe meines rechten Fußes mit vollen Segeln gegen den Theil anfahren zu lassen, wo der Schelm seinen geliebten Schweif befestigt hat. Das sollte ihn bald zur Vernunft bringen. Ei, was seinen Schweif betrifft, Ihr könnt mir glauben, Sir John, ich sah einst an der Küste von Patagonien einen Menschen, – einen Wilden natürlich und keinen Philosophen, wie dieser Schelm sein will,– der hatte einen Ringler dieser Art, so lang, wie ein Schiffs-Vordermast. Und was war er bei dem allem, nur ein armer Teufel, der kein Seekalb von einem Wallfisch unterscheiden konnte.«

Diese Versicherung des Kapitain Poke erleichterte mein Gemüth beträchtlich; und indem ich die Büffelhaut bei Seite legte, bat ich ihn, mit einiger Genauigkeit die Lokalitäten um das Ende des Rückenbeins zu untersuchen, um sich zu versichern, ob da ein ermuthigendes Zeichen zu entdecken wäre. Kapitain Poke setzte die Brille auf, denn die Zeit hatte dem würdigen Seemann ihren Gebrauch aufgedrungen, »so oft,« wie er sagte, »er seinen Druck zu lesen hatte,« und nach einiger Zeit hatte ich die Freude, die Erklärung zu vernehmen, daß, wenn es mir nur an einem Schweif gebräche, sich ein so guter Ort, einen einzufügen fände, als nur je an einem Monikin in der ganzen Welt gefunden werden könnte; »und Ihr braucht nur ein Wort zu sagen, Sir John, und ich gehe in’s nächste Zimmer und mit Hilfe meines Messers und einiger Geschicklichkeit in der Auswahl will ich Euch mit einem derartigen Artikel versehen, der, wenn nur sonst einige Kraft in diesem Zeug ist, Euch mit einem Male zu einem Richter, oder auch Bischof befähigen soll.«

Wir wurden nun wieder in das Vorlesungszimmer berufen, und ich hatte kaum Zeit, Kapitain Poke für sein verbindliches Anerbieten zu danken, das gerade damals Umstände mir nicht erlaubten anzunehmen.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Besser und Besser – Höherer Flug der Vernunft – Augenscheinlichere Wahrheiten – Tiefere Philosophie – Thatsachen, die selbst ein Straus verdauen könnte.

»Ich verlasse gerne, was einige Anwesende als den persönlichen Theil meiner Vorlesung betrachtet haben mögen,« begann Doktor Raisono wieder, »um mich zu jenen Theilen meines Themas zu wenden, die ein allgemeines Interesse besitzen, allgemeinen Stolz erwecken, allgemeine Glückwünsche auffordern sollten. Ich will nun einige Worte über jenen Theil unsrer Naturphilosophie sagen, der mit dem Planetensystem zusammenhängt, mit der Stellung der Monikins und als Folge von beiden mit der Erschaffung der Welt.«

»Obwohl ich vor Ungeduld sterbe, über alle diese interessanten Punkte belehrt zu wetden, werden Sie mir doch, Doktor Raisono, erlauben en passant zu fragen, ob Ihre Weisen die Mosaische Nachricht von der Erschaffung annehmen oder nicht.«

»Soweit sie unser eignes System bestätigt, Sir, und nicht weiter. Es wäre offenbar Inconsequenz, wenn wir einem Gegner Ansehn bei einer feindlichen Lehre geben wollten; das wird Ihr angeborner gesunder Verstand und die spätere Bildung desselben einsehen.«

»Erlauben Sie mir, Doktor Raisono, zu bemerken, daß die Unterscheidung Ihrer Philosophen hierin einem sehr eigensinnigen Kanon in den Gesetzen der Evidenz widerspricht, welcher behauptet, man müsse das ganze Zeugniß verwerfen, wenn man einen Theil verwirft.»

»Das mag eine Menschen-, kann aber keine Monikins-Unterscheidung sein. Nicht nur, daß wir die Richtigkeit dieses Grundsatzes nicht annehmen, behaupten wir auch, daß kein Monikin je ganz Recht hat oder haben wird, so lange er im Geringsten unter dem Einfluß der Materie bleibt; und deswegen scheiden wir das Falsche vom Wahren, werfen das erstre als schlechter, als nutzlos weg, und behalten das andre als Stoff zu Thatsachen.«

»Ich wiederhole jetzt meine Entschuldigung, daß ich Sie so oft unterbreche, verehrter und gelehrter Herr, und bitte Sie, keinen Augenblick länger mit Beantwortung meiner Fragen zu vergeuden, sondern mit Einem Male zur Erklärung Ihres Planetensystems zu schreiten, oder sonst zu etwas, wie es Ihrer Bequemlichkeit angemessen erscheint. Wenn man einem wahren Philosophen zuhört, ist man sicher, etwas nützliches oder angenehmes zu lernen, mag der Gegenstand sein, welcher er will.«

»Nach der Monikin-Philosophie, meine Herrn,« fuhr Doktor Raisono fort, »theilen wir die großen Bestandtheile dieser Erde in Land und Wasser ein. Diese zwei Principien nennen wir die primären Elemente. Menschen-Philosophie hat Luft und Feuer hinzugefügt, aber diese verwerfen wir entweder ganz oder lassen sie nur als secundäre Elemente zu; daß weder Luft noch Feuer ein primäres Element ist, kann durch Versuche gezeigt werden. So kann die Luft zu Gas werden, kann rein und verdorben sein, ist der Verdunstung ausgesetzt, und überhaupt nichts als gewöhnliche Materie im Zustand hoher Verflüchtigung. Das Feuer hat keine unabhängige Existenz, verlangt Nahrung zu seinem Unterhalt, und ist offenbar eine Eigenthümlichkeit, die aus den Combinationen andrer Principien herrührt. So wenn man zwei oder mehrere Stücke Holz zusammenbringt, erhält man durch schnelle Reibung Feuer. Schließt die Luft plötzlich ab, und das Feuer geht aus; entzieht ihm das Holz und ihr habt dieselbe Wirkung. Aus diesen beiden Experimenten geht hervor, daß das Feuer kein unabhängiges Dasein hat, und also kein Element ist. Dagegen nehmt ein Stück Holz und sättigt es vollständig mit Wasser, das Holz erlangt eine neue Eigenthümlichkeit, (wie auch bei Anwendung des Feuers, das es in Asche und Luft verwandelt) denn seine specifische Schwere wird größer, es wird weniger entzündlich, läßt den Dampf reichlicher frei, und widersteht mehr der Art. Bringt dasselbe Stück Holz unter eine starke Schraube, und ein Gefäß darunter, preßt es, und bei gehöriger Anwendung von Kraft, ist das Holz vollkommen trocken und das Gefäß enthält Wasser. So ist gezeigt, daß das Land (alle vegetabilische Materie ist nur wie Schwämme der Erde) ein primäres Element ist, und Wasser auch; nicht so Luft und Feuer.«

»Nachdem ich die Elemente festgestellt, werd‘ ich, der Kürze wegen, die Welt als geschaffen betrachten. Im Anfang war der Erdball in ein Vacuum, fest und mit seiner Achse perpendicular auf die Ebene seiner jetzt so genannten Bahn gestellt. Seine einzige Umwälzung war die tägliche.«

»Und der Wechsel der Jahrszeiten?«

»War noch nicht eingetreten. Die Tage und Nächte waren gleich; es gab keine Finsternisse, dieselben Sterne waren immer sichtbar. Dieser Zustand der Erde wird nach gewissen geologischen Zeichen als tausend Jahre dauernd angenommen; während dieser Zeit beschränkte sich der Streit zwischen Geist und Materie nur auf vierfüßige Thiere. Der Mensch, nimmt man an, soweit unsre Documente die Thatsache bestimmen, erschien im Jahre tausend und drei, um diese Zeit auch soll das Feuer erzeugt worden sein, durch die Reibung der Erdachse während ihrer täglichen Bewegung; oder, wie andre glauben, durch die Reibung der Peripherie der Bahn, indem sie mit dem Vacuum im Verhältniß so vieler tausend Meilen in einer Minute in Berührung kam. Das Feuer, die Oberfläche durchdringend, kam bald zu den Wassermassen, die die Höhlen der Erde ausfüllen; von der Zeit an schreibt sich das Dasein eines neuen und sehr wichtigen Agens in den irdischen Phänomenen, der Dampf nämlich. Die Vegetation begann sich zu zeigen, da die Erde Wärme von innen erhielt –«

»Aber darf ich fragen, von was die Thiere vorher sich nährten?«

»Sie fraßen einander. Der starke verschlang den schwachen, bis die kleinsten der Thiere an die Reihe kamen, die dann gegen ihre Verfolger sich wandten, und ihre Unbedeutendheit benutzend, die stärksten zu verzehren anfingen. Sie finden täglich ähnliches in der Geschichte des Menschen; der, welcher durch seine Thatkraft und Stärke über seines Gleichen triumphirt hat, wird häufig der Raub des Unbedeutenden und Schlechten. Sie wissen ohne Zweifel, daß die Polargegenden, selbst in der ursprünglichen Stellung der Erde, weil sie die Strahlen der Sonne nur schief empfingen, ein weniger erfreuliches Clima gehabt haben müssen, als die Erdtheile zwischen dem arctischen und antarctischen Kreise. Das war eine weise Vorkehrung der Vorsehung, um eine zu frühe Besetzung jener auserwählten Gegenden zu verhindern, und sie unbewohnt zu lassen, bis der Geist in soweit die Materie bemeistert hatte, daß er den ersten Monikin in’s Dasein rief.«

»In welche Zeit sehen Sie wohl die Erscheinung des ersten Ihres Geschlechts?«

»In die Monikins-Epoche, natürlich, Sir; aber wenn Sie wissen wollen in welchem Jahr, um’s Jahr 4017. Freilich wollen einige unsrer Schriftsteller meinen, mehrere Menschen hätten sich vor dieser Zeit der Höhe des Monikin’schen Geistes genähert; aber die bessere Ansicht ist, daß diese Fälle nur als vorbereitende gelten können. So waren Sokrates, Plato, Confuzius, Aristoteles, Euclid, Zeno, Diogenes und Seneca nur vorbereitende Vorbilder des künftigen Zustands des Menschen, indem sie ihre nahe Annährung zu der Monikins- oder endlichen Uebersiedlung andeuteten.«

»Und Epikur?«

»War eine Übertreibung des materiellen Princips, die den Rückschritt eines großen Theils der Masse zur Brutalität und Materie andeutete. Solche Phänomene zeigen sich noch täglich.«

»Sind Sie denn der Meinung, Doktor Raisono, daß Sokrates z. B. jetzt ein Monikins-Philosoph ist, dessen Gehirn entwickelt und logisch consequent geworden, und Epikur vielleicht in ein Nilpferd, oder Nashorn mit Hauern, Hörnern und Haut verwandelt worden?«

»Sie mißverstehen gänzlich unsre Lehren, Sir John. Wir glauben gar nicht an Wanderungen des Einzelnen, sondern an die der Classen. So behaupten wir, daß wenn eine gegebene Generation von Menschen, in einem besondern Zustand des Staats, alle zusammen einen gewissen Grad von moralischer Vervollkommnung oder Mentalität erreichen, wie wir es in den Schulen nennen, eine Vermischung ihrer Eigenschaften in Massen Statt hat, einige glauben nach Schock, andre nach Hunderten, noch andre nach Tausenden; und wenn es sich bei der Analyse, die die Natur regelmäßig anstellt, findet, daß die Verhältnisse richtig sind, wird die Materie zur Monikin-Geburt bestimmt, wenn nicht, zurück gewiesen, und entweder auf’s neue zu einem zweiten menschlichen Experiment verarbeitet, oder den großen Vorräthen todter Materie überantwortet. So verliert sich alle Individualität, soweit sie mit dem Vergangenen zusammenhängt.«

»Aber, Sir, bestehende Thatsachen widersprechen einem der wichtigsten Ihrer Sätze; während Sie zugeben, daß kein Wechsel der Jahrszeiten die Folge der Perpendicularität der Erdachse auf der Ebene ihres jetzigen Kreises sein würde, ist doch dieser Wechsel eine nicht zu bestreitende Thatsache. Fleisch und Blut zeugen hier gegen Sie, nicht weniger als die Vernunft.«

»Ich sprach von Dingen, wie sie vor Entstehung von Monikinia waren, Sir, seit dieser Zeit ist eine große, heilsame, harmonische und wohlberechnete Veränderung vor sich gegangen. Die Natur hatte die Polargegenden für die neuen Arten zu augenscheinlichen, wohlthätigen Zwecken aufbewahrt. Sie waren unbewohnbar wegen der Schiefe der Sonnenstrahlen, und obwohl die Materie in Gestalt von Mastodon und Wallfisch, seine entgegenkämpfende Bestimmung voraussehend, oft in die Grenzen des Landes eingedrungen war, geschah es doch nur, damit der erstre Ueberreste, in Eisfelder gebettet, als einen Beweis von der Vergeblichkeit des Kampfes gegen das Schicksal zurücklassen sollte, und der andre dieselbe große Wahrheit bethätige, denn wenn er auch als Herr der großen Tiefe in die Polarbecken vordrang, ließ er doch entweder seine Gebeine da, oder kehrte in derselben Gestalt, wie er gekommen, zurück. Vom Erscheinen animalischer Natur auf der Erde bis zur Zeit, wo die Monikin-Rasse sich erhob, waren die genannten Gegenden nicht allein unbewohnt, sondern wahrhaft unbewohnbar. Als jedoch die Natur, immer vorsichtig, weise, gütig und nie zu hindern, den Weg gebahnt hatte, traten jene Phänomene ein, die den Weg dem neuen Geschlecht frei machten. Ich habe vom innern Kampf des Feuers und Wassers und ihrem Produkt, dem Dampf, gesprochen; eben dieser neue Agent sollte nun wirken. Ein Augenblick Aufmerksamkeit auf die Art, wie der nächste große Schritt in der Fortbildung geschah, wird zeigen, mit welcher Vorsicht und Berechnung unsre gemeinsame Mutter ihre Gesetze geordnet hatte. Die Erde ist an den Polen abgeflacht, das wissen Ihre Philosophen wohl, wegen der täglichen Bewegung nämlich, die schon anfing, als der Erdball noch in einem weichen Zustand war, und welche also einen Theil der ungekneteten Materie nach der Peripherie warf. Dieß geschah aber nicht ohne guten Zweck. Der am Aequator so angehäufte Theil ward nothwendig wo anders abgerissen, und so ward die Erdkruste am dünnsten an den Polen. Als hinlänglicher Dampf im Mittelpunkt des Erdballs erzeugt worden, war offenbar eine Sicherheitsklappe nöthig, eine gänzliche Zersprengung zu verhindern. Da nur die Natur die Werkmeisterin war, arbeitete sie mit ihren Werkzeugen und nach ihren eignen feststehenden Gesetzen. Die dünnsten Theile der Kruste gaben zu rechter Zeit nach, um eine Katastrophe zu verhindern, wo dann der überflüssige und erhitzte Dampf in gerader Linie mit der Erdachse in’s Vacuum entwich. Dieß Phänomen fand statt, soweit wir es haben berechnen können, um’s Jahr 700 vor der christlichen Zeitrechnung, oder etwa zwei Jahrhunderte vor der Geburt des ersten Monikin.«

»Und warum so früh, wenn ich fragen darf, Doktor?«

»Nur damit das neue Clima Zeit hätte, das Eis zu schmelzen, das sich um die Inseln und Continente jener Gegenden (denn nur am Südende der Erde hatte der Ausbruch Statt gehabt) während so vieler Jahrhunderte angehäuft hatte. Zwei hundert und siebzig Jahre strenger, unaufhörlicher Einwirkung des Dampfs reichten zu diesem Zweck hin; seit dieser Zeit ist die Monikin- Rasse im ungestörten Genuß des ganzen Landes und seiner Früchte gewesen.«

»Soll ich das so verstehen,« fragte Capitain Poke mit größrem Antheil, als er bisher während des Philosophen Vorlesung gezeigt, »daß Eure Leute, wenn sie zu Hause sind, südwärts von der Eiszone wohnen, die wir Seeleute immer so gegen den 77ten Grad südlicher Breite antreffen?«

»Ganz so; ach, daß wir heute so weit sein müssen von jenen Ländern des Friedens, des Entzückens, der hohen Einsicht und des Heils. Aber der Wille der Vorsehung geschehe, ohne Zweifel haben unsre Leiden, unsre Gefangenschaft einen weisen Zweck, und mögen zum weitern Ruhm der Monikinrasse, führen!«

»Wollen Sie gefälligst mit Ihren Erklärungen fortfahren, Doktor? Wenn Sie die jährliche Umdrehung der Erde leugnen, wie erklären Sie den Wechsel der Jahreszeiten, und andre astronomische Erscheinungen, wie die so häufig vorkommenden Finsternisse?»

»Sie erinnern mich, daß der Gegenstand noch nicht erschöpft ist,« erwiederte der Philosoph hastig und wischte schnell und heimlich eine Thräne vom Auge. »Das Glück brachte unter den Gründern unseres Geschlechts seine gewöhnlichen Wirkungen hervor. Einige Jahrhunderte fuhren sie fort sich zu vermehren, ihre Schweife noch mehr zu verlängern und consequenter zu machen, in Wissenschaft und Kunst fortzuschreiten, – bis einige Geister, kühner als die übrigen, des langsamen Gangs der Begebenheiten überdrüssig wurden, der sie auf eine, ihrer feurigen Ungeduld schlecht angemessene Weise zur Vollkommenheit führte. Zu dieser Zeit hatten die mechanischen Künste unter uns die höchste Spitze erreicht, – wir haben sie später größtentheils als ungeeignet und unnöthig für einen hohen Stand der Civilisation wieder aufgegeben, – wir trugen Kleider, bauten Kanäle und verrichteten andre Arbeiten, die unter den Arten, von denen wir ausgewandert, sehr geschätzt waren. Zu dieser Zeit auch lebte die ganze Monikinfamilie als ein Volk beisammen, erfreute sich derselben Gesetze und verfolgte die nämlichen Zwecke. Aber eine politische Sekte erhob sich unter der Leitung verkehrter, wilder Führer im Land, die die gerechten Strafen Gottes und eine Menge Uebel über uns brachten, welche Jahrhunderte erst wieder heilen können. Diese Sekte nahm bald zur Erreichung ihrer Zwecke zu religiösem Fanatismus und philosophischen Sophismen ihre Zuflucht. Sie wuchs schnell an Macht und Anzahl, denn wir Monikins sind, wie die Menschen, gierig nach Neuem. Zuletzt schritt sie zu offenbar verrätherischen Handlungen gegen die Vorsehung selbst. Die erste wilde Aeußerung ihrer Raserei und Tollheit war die Behauptung, es sei der Monikinrasse dadurch Unrecht geschehen, daß man die Sicherheitsklappe der Welt in ihrem Lande geöffnet. Obgleich wir gerade diesem Umstand unser glückliches Clima verdankten, den Werth unsrer Besitzungen, die Gesundheit unsrer Familien, ja sogar unser abgesondertes Dasein selbst als eine unabhängige Rasse, dennoch kriegten diese aufgeregten, schlecht berathene Schurken gegen den wohlwollendsten und offenbarsten Freund, den sie hatten. Scheinbare Vordersätze führten zu Theorien, Theorien zu Deklamationen, Deklamationen zu Combinationen, Combinationen zu Denunciationen und Denunciationen zu offenen Feindseligkeiten. Der Streit ward zwei Generationen lang gekämpft, wo denn, nachdem ein gehöriger Grad von Wahnsinn erreicht worden, die Führer der Parthei, die damals durch ihre Ränke sich zur obersten Leitung der Monikin-Angelegenheiten gedrängt hatten, eine Versammlung all ihrer Anhänger beriefen, und gewisse Beschlüsse erließen, welche nie im Andenken der Monikins erlöschen werden, so unglückbringend waren ihre Folgen, so verderblich eine Zeitlang ihre Wirkungen. Sie waren wie folgt:

»In voller, überfließender Versammlung der eifrigsten Monikins in der Monikinrasse, gehalten im Hause des Peleg Pat (wir hatten damals noch die menschlichen Benennungen) im Jahr der Welt 3007 und der Monikin-Aere 317 ward Plausible Schreier auf den Rednerstuhl berufen, und Kielfertig zum Sekretair ernannt.«

»Nach vielen vortrefflichen und beredten Anreden aller Gegenwärtigen, wurde einmüthig beschlossen wie folgt:

»Dampf ist ein Fluch, kein Segen und muß von allen patriotischen und wahren Monikins verworfen werden.

»Wir halten es für die höchste Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Natur, daß sie die große Sicherheitsklappe der Welt innerhalb der rechtmäßigen Grenzen des Monikins-Gebiets gesetzt hat.

»Die genannte Sicherheitsklappe soll alsbald entfernt werden, friedlich, wo möglich, sonst mit Gewalt. »Wir billigen von ganzem Herzen die Gesinnungen John Kinnlads, unsers gegenwärtigen verehrten obersten Magistrats, des unbestechlichen Partheimanns, des unerschrocknen Freundes seiner Freunde, des abgesagtesten Feindes des Dampfs, und des vernünftigen, reinen, orthodoxen, wahren Monikin.

»Wir empfehlen den genannten John Kinnlad dem Vertrauen aller Monikins.

»Wir fordern das Land auf, uns in unserm großen, heiligen, glorreichen Plan zu unterstützen, und verpfänden uns, die Nachkommen, die Gebeine unsrer Vorfahren, und alle, welche vor uns gewesen und nach uns kommen werden, zur getreuen Ausführung unsrer Absichten.

Unterzeichnet
Plausible Schreier, Präs.
Kielfertig, Sekr.«

»Nicht sobald waren diese Beschlüsse erlassen, (denn statt in voller Versammlung, weiß man jetzt, wurden sie von den Herren Schreier und Kielfertig unter dem besondern Einfluß Kinnlads entworfen) als das Volk ernsthaft zum Aeußersten zu schreiten beschloß. Jene Vollkommenheit in den mechanischen Künsten, die bisher unser Stolz und Ruhm gewesen, zeigte sich nun als unsern größten Feind. Die Führer sollen wirklich die übelberathene Parthei in gewissen Schranken haben halten wollen, aber wer kann den Gießbach stemmen oder den Drang des Vorurtheils aufhalten! Die Fluth war losgelassen gegen den Dampf; alle Erfindungskraft unseres Geschlechts wurde in Bewegung gesetzt, und ein Jahr, nachdem die genannten Beschlüsse durchgegangen, waren Berge versetzt, endlose Haufen von Felsen in den Abgrund geworfen, Bogen gebaut, und die Oeffnung der Sicherheitsklappe hermetisch versiegelt. Sie können sich einen Begriff von dem Aufwand von Verstand und Kraft bei dieser Gelegenheit machen, wenn ich Ihnen noch sage, daß durch wirkliche Beobachtung sich ergab, daß dieser künstliche Theil der Erde dicker, stärker und dauerhafter war, als der natürliche. So weit führte Bethörung die Opfer, daß sie wirklich die ganze Gegend sondiren ließen, und nachdem sie die Lage der dünnsten Kruste ausgekundschaftet, verlegten John Kinnlad und alle die eifrigsten seiner Anhänger dahin im Triumph den Sitz ihrer Regierung. Die ganze Zeit über war die Natur auf ihrer Huth, ruhig ihrer Stärke sich bewußt. Doch bald bemerkten unsre Vorfahren die Folgen ihrer That in der Zunahme der Kälte, der Seltenheit der Früchte und der schnellen Vermehrung des Eises. Der Monikinsche Enthusiasmus wird leicht zu Gunsten einer in die Augen fallenden Theorie erregt, weicht aber bald dem physischen Druck der Umstände. Gewiß verräth das Menschengeschlecht, besser mit dem Materiellen physischen Widerstands versehen, nicht solche Schwäche, aber – –«

»Schmeicheln Sie uns nicht mit dieser Ausnahme, Doctor. Ich finde viele Aehnlichkeiten zwischen uns, daß ich wirklich zu glauben anfange, daß wir Einen Ursprung gehabt, und wenn Sie nur zugeben wollten, daß der Mensch von der zweiten Umbildung und der Monikin von der ersten, würde ich Ihre ganze Philosophie ohne einen Augenblick Bedenkens annehmen.«

»Da ein solches Zugeständniß gegen Thatsache und Theorie sein würde, hoffe ich, mein theurer Herr, Sie werden die gänzliche Unmöglichkeit einsehen, daß ein Professor auf der Universität Springhoch selbst in diesem entfernten Theil der Welt ein solches Zugeständniß mache. Wie ich eben bemerken wollte, das Volk begann Unruhe über die zunehmende und beständige Rauheit der Witterung zu zeigen, und Herr John Kinnlad hielt es für nöthig, ihre Leidenschaften durch eine neue Entwickelung seiner Grundsätze anzufeuern. Seine Freunde und Anhänger wurden alle auf dem großen freien Platz der neuen Hauptstadt versammelt, und folgende Beschlüsse, nach den Worten einer noch in den Archiven der historischen Gesellschaft zu Springhoch aufbewahrten Chronik (sie schienen gedruckt worden zu sein, ehe sie durchgegangen) »einmüthig, enthusiastisch und für immer angenommen, nämlich:

  • Die Versammlung hat die größte Verachtung vor dem Dampf.
  • Sie trotzt dem Schnee, der Unfruchtbarkeit und allem andern Ungemach der Natur,
  • Wir wollen immer leben.
  • Wir wollen in’s Künftige nackt gehen, um dadurch noch besser dem Frost zu trotzen.
  • Wir sind jetzt auf der dünnsten Stelle der Erdkruste in den Polarländern.
  • Künftig soll kein Monikin zu einem öffentlichen Amt zugelassen werden, der sich nicht verpflichtet, alle seine Feuer auszulöschen, und das Kochen für immer aufzugeben.
  • Wir sind von dem wahren Geist des Patriotismus, der Vernunft, Treue und Festigkeit belebt.
  • Diese Versammlung löst sich nun auf, ohne einen Tag zu bestimmen.«

»Man erzählt uns, daß der letzte Beschluß eben durch Zuruf angenommen, als die Natur sich erhob in ihrer Macht, und reichliche Rache nahm für all diese Unbill. Der große Kessel der Erde barst mit einer schrecklichen Explosion und riß mit sich fort als den schlechtesten Theil der Arbeit nicht allein Herrn John Kinnlad und alle seine Anhänger, sondern auch 40,000 Morgen Land. Das letzte Mal, daß man etwas von ihnen sah, war etwa 30 Sekunden nach dem Ausbruch, wo dann die ganze Masse in der Nähe des nördlichen Horizonts verschwand, dahin fliegend mit einer Eile, die noch die Kanonenkugel übertrifft, wenn sie eben das Geschütz verlassen.«

»König,« rief Noah, »das nennen wir Seefahrer schneiden und laufen.«

»Ward nie wieder etwas von Herrn Kinnlad und seinen Gefährten gehört?«

»Nichts gewisses. Einige unsrer Naturforscher behaupten, daß die Monikins, die die andern Theile der Erde bewohnen, ihre Nachkommen sind; diese, durch den Stoß betäubt, hatten die Vernunftkräfte verloren, während sie jedoch noch Spuren ihres Ursprungs zeigten. Dieß ist in der That die bessere Ansicht unsrer Gelehrten, und gewöhnlich bezeichnen wir alle diese Arten von Monikins mit dem Namen »die verlornen Monikins.« In meiner Gefangenschaft hat der Zufall mich mit einigen dieser Thiere zusammengebracht, die gleichfalls unter der Herrschaft der grausamen Savoyarden standen. In der Unterredung mit ihnen, wo ich nach ihren Traditionen fragte, und die Analogien der Sprache erforschen wollte, habe ich einigen Grund für diese Meinung gefunden. Davon jedoch hernach.«

»Bitte, Dr. Raisono, was ward aus den 40,000 Morgen Land?«

»Darüber haben wir bessere Nachrichten; eins unsrer Schiffe, das weit nördlich auf einer Entdeckungsreise begriffen war, traf es auf einige Grade der Länge und Breite von Springhoch, und dadurch erfuhr man, daß schon verschiedene Inseln durch gefallne Bruchstücke sich gebildet hatten, und nach der Richtung des Hauptlandes zu schließen, als man es zuletzt sah, nach seiner Fruchtbarkeit und andern geologischen Zeichen zu urtheilen, glauben wir, daß der große westliche Archipelagus der Niederschlag des übrigen ist.«

»Und Monikinsland, Sir? welchen Einfluß hatte jenes Phänomen auf diesen Theil der Welt?«

»Einen schrecklichen, erhabenen, mannichfaltigen, dauernden! Die wichtigeren oder persönlichen Folgen sollen zuerst erwähnt werden. Ein volles Drittel der Monikinsrasse wurde zu todt gebrüht. Viele bekamen Asthma und andre Lungenkrankheiten durch Einhauchen des Dampfs. Die meisten Brücken wurden durch das plötzliche Schmelzen des Schnees weggeschwemmt, und große Vorräthe durch die unerwartete Erscheinung und den heftigen Charakter des Thauwetters verdorben. Dieß sind die traurigen Vorfälle. Zu den angenehmerern rechnen wir eine endliche und liebliche Verbesserung des Climas, das so ziemlich seinen frühern Charakter wieder annahm, und durch plötzliche Erwerbung von Weisheit eine schnelle und merkliche Verlängerung unsrer Schweife.«

»Die sekundären oder tellurischen Folgen waren diese: Durch das plötzliche und heftige Vordringen des Dampfs in den Raum, einige Grade vom Pol, wurde die Erde aus ihrer perpendikularen Stellung gerissen, und ihre Achse bekam eine Neigung von 23º27′ gegen die Ebene ihrer Bahn. Zur selben Zeit fing die Kugel sich im Vacuum zu bewegen an, und durch Gegenstrebungen zurückgehalten, vollbrachte sie die jährliche Umwälzung.«

»Ich kann wohl begreifen, Freund Raisono,« bemerkte Noah, »daß die Erde unter einem so plötzlichen Windstoß sich neigen mußte; wie wohl ein Schiff mit gutem Ballast bald wieder gerade sein würde, wenn der Puff vorüber wäre; aber ich kann nicht verstehen, wie ein wenig Dampf, an einem Ende eines Fahrzeugs herauskommend, es auf eine solche Weise in Bewegung setzen sollte, wie wir hören, daß die Erde geht.«

»Wenn der Ausfluß des Dampfs beständig wäre und die tägliche Bewegung ihm jeden Augenblick eine neue Stellung gäbe, würde freilich, Capitain Poke, die Erde nicht fortgetrieben werden; aber da in Wahrheit dieser ausströmende Dampf einen pulsirenden Charakter hat, periodisch und regelmäßig ist, hat die Natur es so angeordnet, daß es nur ein Mal in 24 Stunden geschieht, und zwar zu einer Zeit, daß seine Wirkung gleichförmig, sein Impuls immer in derselben Richtung geschieht. Das Princip, wonach die Erde diese Bewegung erhält, kann man leicht durch ein gewöhnliches Experiment deutlich machen. Nehmen Sie z.B. eine Vogelflinte mit zwei Läufen, laden Sie beide mit einer großen Menge Pulver, bringen Sie eine Kugel und zwei Propfen in jeden Lauf, richten Sie den Kolben 4628/1000 Zoll von dem Unterleib, und sehen Sie, daß Sie beide Läufe zugleich losschießen. In diesem Falle werden die Kugeln ein Beispiel von der Wirkung der 40,000 Morgen Land geben, und die experimentirende Person wird unfehlbar den Impuls oder die rückgängige Bewegung der Erde nachmachen.«

»Während ich nicht läugne, Dr. Raisono, daß ein solches Experiment beide Theile in Bewegung setzen würde, sehe ich doch nicht, warum die Erde nicht endlich stehen bleiben sollte, wie es sicher bei dem Menschen der Fall, nachdem er mit Hüpfen, Schlagen, Schwören fertig wäre.«

»Die Ursache, warum die Erde, ein Mal im Vacuum in Bewegung gesetzt, nicht stille steht, kann auch durch folgendes Beispiel erläutert werden. Nehmt den Capitain Poke, von der Natur mit Beinen und der Kraft sich zu bewegen versehen, führt ihn auf den Vendome-Platz, laßt ihn drei Sous bezahlen, wofür er an die Säule darf, laßt ihn auf ihren Gipfel steigen, und von da mit aller Kraft in einer rechtwinkligen Richtung mit dem Schaft der Säule in die freie Luft springen, und man wird finden, daß, obgleich der ursprüngliche Impuls den Körper wahrscheinlich nicht mehr als zehen bis zwölf Fuß bewegen würde, die Bewegung doch fortdauert, bis er die Erde erreicht hat. Folgesatz: Dadurch ist bewiesen, daß alle Körper, in welchen die vis inertiae ein Mal besiegt ist, in ihrer Bewegung beharren, bis sie in Contakt mit einer Gewalt kommen, die sie aufhalten kann.«

»König! Nun, da ist doch noch Verstand darin, während ich nie begreifen konnte, daß diese kleinen Stückchen von Sternen ein Schiff wie die Erde im Lauf erhalten sollten; während sie so einen weiten Weg vor sich hat, wie sie nothwendig täglich machen muß, um in einem Jahr so weit zu kommen. Das wollt ich noch viel weiter ausführen und Euch erklären, denn ich glaube, daß die Wissenschaft gleich einem guten Liqueur von einem zum andern gehen muß, und nicht in einem Winkel von Einem eingeschluckt werden darf. Und hiebei will ich auch noch sagen, was Ihr bei einer nächsten Vorlesung als Folgesatz anführen mögt, daß nämlich, wenn alles, was Ihr vom Springen des Dampfkessels und dem Polarstoß sagt, wahr ist, die Erde das erste Dampfschiff ist, welches je erfunden ward, und dann alles, was Franzosen, Engländer, Spanier und Italiener darüber prahlen, nichts weiter als Rauch ist.«

»Und die Amerikaner auch, Capitain Poke,« wagte ich zu bemerken.

»Ei, Sir John, das kommt noch darauf an; ich sehe nicht recht, wie Foulton die Idee gestohlen haben könnte, da er den Doktor nicht kannte und wahrscheinlich nie in seinem Leben etwas von der Insel Springhoch hörte.«

Wir alle lächelten, selbst die liebenswürdige Chatterissa, über die Feinheit von des Seemanns Distinctionen, und da des Philosophen Vorlesungen in ihrer didaktischen Form nun größten Theils beendet waren, trat eine lange und leichte Unterredung ein, worin eine Menge scharfsinniger Fragen von Capitain Poke und mir vorgelegt, und sehr artig von dem Doktor und seinen Freunden beantwortet wurden.

Zuletzt kam Dr. Raisono, der, obgleich Philosoph und Freund der Wissenschaft, sich doch nicht alle diese Mühe ohne weiter sehende Plane gegeben hatte, frei mit seinen Wünschen heraus. Der Zufall hatte offenbar alle Mittel zusammengebracht, um mein brennendes Verlangen zu befriedigen, weitere Nachrichten von der Monikins-Politik, ihrer Moral, Philosophie und allen andern großen socialen Interessen des Theils der Welt, den sie bewohnen, zu erhalten. Ich war reich über alle Maßen, und die Ausrüstung eines geeigneten Schiffs war eine Ausgabe von nicht besonderm Belang; der Doktor und Lord Chatterino waren gute praktische Geographen, nachdem sie ein Mal über die Parallele von 77° südlich hinaus waren, und Kapitain Poke nach seiner eignen Aussage von sich, hatte die Hälfte seines Lebens im Herumstreifen unter den unfruchtbaren, unbewohnten Inseln des Eismeeres zugebracht. Was konnte also die Erfüllung der ernstesten Wünsche aller Gegenwärtigen hindern. Der Capitain war ohne Beschäftigung und würde ohne Zweifel froh sein, den Oberbefehl über ein gut gefügtes Seeschiff zu erhalten; die Fremdlinge sehnten sich nach Hause, und mein heißester Wunsch war es, meinen Anhaltspunkt in der Staatsgesellschaft noch zu stärken, indem ich ferneren Antheil an den Monikins nähme.

So machte ich dem alten Robbenjäger freimüthig den Vorschlag, sich dem Geschäft; die liebenswürdigen, aufgeklärten Fremdlinge ihrem Heerd und ihrer Familie wiederzugeben, zu unterziehen. Der Capitain zeigte bald etwas von seinem Stoningtoner Hang; denn je mehr ich wegen der Sache in ihn drang, desto mehr Einwände fand er. Die Hauptgründe für sein Verwerfen des Vorschlags mögen folgende gewesen sein: Es wäre wahr, er wolle Beschäftigung, aber er wolle auch Stonington wiedersehen; er zweifle, daß Monikins gute Seeleute abgeben würden; es sei kein Scherz, unter’s Eis einzulaufen, und noch weniger einer, wieder herauszukommen; er hätte die Leiber von todten Eisbären und Seehunden so hart gefroren gesehen, wie ein Stein, und sie möchten, denn was wisse er, da hunderte von Jahren gelegen haben, er aber wünsche begraben zu werden, wenn er zu nichts sonst mehr gut sei; wer wisse, ob diese Monikins die Menschen nicht fingen, wenn sie sie erst ein Mal recht in ihrem Land hätten, sie auszögen und Sprünge machen hießen, wie die Savoyarden den Doktor und die Dame Chatterissa zu thun gezwungen hätten; er wisse, er würde bei’m ersten Burzelbaum den Hals brechen; wenn er zehen Jahre jünger wäre, würde er sich vielleicht den Spaß gefallen lassen; er glaube nicht, daß die rechte Mannschaft könne in England gefunden werden, und er liebe, mit den Sternen und dem Steuer zu fahren; vielleicht könnte er es thun, wenn er Stoningtoner Leute hätte; mit solchen Leuten wisse er immer fertig zu werden; er könne den einen erschrecken, indem er ihm drohe, es seiner Mutter zu sagen, wie er sich aufführe, und den andern zur Vernunft bringen, indem er ihn bedeute, die Winde würden ihn fliehen, wenn er nicht verträglicher wäre; sodann könnte vielleicht gar so kein Ort wie Springhoch da sein, oder wenn’s wäre, er ihn nicht finden; Büffelhäute unter dem Aequator zu tragen, daran sei gar nicht zu denken, da eine Menschenhaut schon eine schwere Last wäre für die stillen Breitegrade; und endlich, er sehe nicht genau ein, was er dabei gewinne.

Diesen Einwürfen begegnete ich einem nach dem andern, indem ich die Ordnung, in der sie gemacht, umkehrte und mit dem letzten begann.

Ich bot ihm tausend Pfund als Belohnung, welcher Vorschlag einen Schein der Befriedigung in seine Augen brachte, obwohl er den Kopf schüttelte, als wenn er es für sehr wenig hielte. Ich gab ihm dann zu verstehen, wir würden zweifelsohne gewisse Inseln entdecken, wohl versehen mit Seehunden, und ich würde alle Rechte als Eigenthümer aufgeben, damit er diese Entdeckungen zu seinem Privatvortheil benutze. Bei dieser Lockspeise biß er an, und ich dachte, er würde sich fangen lassen. Aber er blieb hartnäckig. Nachdem wir alle unsre Beredsamkeit vereint, und die Summe der Belohnung verdoppelt hatten, verfiel Dr. Raisono endlich glücklicher Weise auf den allgemeinen Hebel menschlicher Schwachheit, und der alte Robbenjäger, der dem Geld (von großer Wirksamkeit bekanntlich in Stonington), dem Ehrgeiz, dem Geheimniß neuer Robbengründe und all den gewöhnlichen Reizen widerstanden, die man bei Leuten von seiner Classe von Gewicht halten könnte, ward endlich durch seine eigne Eitelkeit geangelt.

Der Philosoph ließ sich sehr listig über das Vergnügen aus, das der alte Seemann haben würde, vor der Academie von Springhoch über seine eigenthümlichen Ansichten von der Umwälzung der Erde und den segelnden Planeten Vorlesungen zu halten, wo dann alle seine dogmatischen Scrupel wegschmolzen, gleich dem Schnee beim Thauwetter.

Einleitung.

»Und du, du kanntest sie,« sprach dann der Ritter.

»O nein,« erwiederte der Knapp‘, »doch er, der mir die Geschichte erzählte, sagte mir, sie sei so wahr und gewiß, daß wenn ich sie etwa wieder erzählte, ich eidlich versichern könnte, ich hätte es mit eignen Augen gesehen.«

Don Quixote

Einleitung.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß manche, die dies lesen, wünschen mögen zu erfahren, wie ich in Besitz des Manuscripts gekommen. Ein solch‘ Verlangen ist zu billig und natürlich, um ihm nicht zu willfahren, und die Sache soll so kurz als möglich erzählt werden.

Im Sommer 1828 auf einer Reise in jenen Schweizerthälern, die zwischen den zwei großen Alpenreihen liegen, und in welchen, beide, die Rhone und der Rhein ihren Ursprung nehmen, war ich von den Quellen des letzteren zu denen jenes Flusses fortgegangen, und hatte das Becken in den Gebirgen erreicht, das so berühmt ist, weil es den Gletscher der Rhone enthält, als der Zufall mir einen jener seltnen Augenblicke von Erhabenheit und Stille verschaffte, welche in dieser Halbkugel wegen ihres nicht häufigen Vorkommens nur um so köstlicher sind. Auf jeder Seite war die Aussicht durch hohe, zerrissene Berge begrenzt, deren Gipfel nahe an der Sonne erglänzten, während unmittelbar vor mir und auf gleicher Linie mit dem Auge jener wunderbare gefrorene See lag, aus dessen Ueberfluß die Rhone hervorstürzt, um, ein schäumender Strom, weg nach dem fernen Mittelländischen Meer zu enteilen. Zum ersten Mal, auf einer Pilgerfahrt von vielen Jahren, fühlte ich mich in Europa allein mit der Natur. Ach, der Genuß, wie nothwendiger Weise alle solche Genüsse im Drängen der alten Welt, war kurz und trügerisch. Ein Trupp kam um die Ecke eines Felsens herum, auf dem engen Maulthierpfad, in einzelnen Reihen; zwei Damen beritten, ebenso viel Herren zu Fuß, und voran der gewöhnliche Führer. Es war nichts weiter als Höflichkeit, aufzustehen und die Taubenaugen zu begrüßen, die blühenden Wangen der ersteren, als sie vorüberzogen. Sie waren Engländer und die Herren schienen mich für ihren Landsmann zu erkennen. Einer der letztern blieb stehen, und erkundigte sich höflich, ob der Uebergang über die Furka nicht durch Schnee gesperrt sei. Die Antwort war Nein, und für diese Belehrung sagte er mir, ich würde den Grimsel etwas schwierig finden, »aber,« fügte er lächelnd hinzu, »den Damen gelang der Uebergang, und Sie werden sich kaum bedenken.« Ich dachte, ich möchte wohl Schwierigkeiten überwinden, über die seine schönen Gefährtinnen hinausgekommen; er sagte mir dann, Sir Herbert Taylor sei Generaladjutant geworden, und wünschte mir guten Morgen.

Ich saß, sinnend über Charakter, Hoffnungen, Erstrebungen und Interessen der Menschen, eine Stunde lang, und schloß dann, daß der Fremde Soldat sein müsse, der selbst in dieser kurzen und zufälligen Zusammenkunft einiges von dem gewöhnlichen Arbeiten seiner Gedanken über sein Gemüth hatte überfließen lassen. Meine einsame Wanderung über die Rhone wieder aufzunehmen und mich den Weg der steilen Seite des Grimsel hinaufzuarbeiten, kostete zwei weitere Stunden, und froh war ich, als ich die kleine kaltblickende Wasserfläche auf seinem Gipfel zu Gesicht bekam, die der todte See heißt. Der Pfad war an einer sehr kritischen Stelle mit Schnee erfüllt, wo in der That ein fehlgesetzter Tritt den Unvorsichtigen in’s Verderben verlocken mochte. Eine große Gesellschaft erschien auf der andern Seite und erkannte vollkommen das Schwierige, denn sie hatte Halt gemacht, und war in ernster Berathschlagung mit dem Führer über die Möglichkeit des Durchgangs. Man beschloß es zu versuchen. Zuerst kam eine Dame mit dem lieblichsten, heitersten Antlitz, wie ich es nur je gesehen. Sie war auch eine Engländerin, und obwohl sie zitterte und erröthete und über sich selbst lachte, schritt sie vor mit Muth, und würde sicher meine Seite erreicht haben, hätte nicht ein unglücklicher Stein sich unter einem Fuße gedreht, der viel zu niedlich war für diese wilden Berge. Ich sprang vor und war so glücklich, sie vom Untergang zu retten. Sie fühlte die ganze Fülle ihrer Schuld, und bezeigte ihren Dank bescheiden aber mit Wärme. In einem Augenblick war ihr Gemahl bei uns; er ergriff meine Hand mit der Bewegung, die der empfinden mußte, der Zeuge gewesen war, wie er Gefahr gelaufen, einen Engel zu verlieren. Die Dame schien froh, uns zusammen allein zu lassen.

»Sie sind ein Engländer,« sagte der Fremde.

»Ein Amerikaner.«

»Ein Amerikaner! Das ist seltsam. – Wollen Sie mir eine Frage vergönnen? – Sie haben mehr als mein Leben gerettet, Sie haben mir wahrscheinlich die Vernunft erhalten. Wollen Sie mir eine Frage vergönnen? Kann Geld Ihnen dienen?«

Ich lächelte, und sagte ihm, daß, so närrisch es ihm auch scheinen möge, ich, obgleich ein Amerikaner, doch ein Mann von Ehre wäre. Er schien verlegen, und sein schönes Gesicht arbeitete sich ab, bis ich anfing ihn zu bemitleiden; es war augenscheinlich, er wollte mir irgendwie zeigen, wie sehr er sich für meinen Schuldner halte, und doch wußte er nicht genau, was er vorschlagen sollte.

»Wir können uns wieder treffen,« sagte ich, seine Hand drückend.

»Wollen Sie meine Karte hinnehmen?«

»Sehr gerne.«

Er legte »Viscount Householder« in meine Hand, und dafür gab ich ihm meinen unbedeutenden Namen.

Er sah von der Karte auf mich und von mir auf die Karte, und ein angenehmer Gedanke schien über seinen Geist hinzublitzen.

»Werden Sie Genf diesen Sommer besuchen?« fragte er ernst.

»In einem Monat.«

»Ihre Adresse –

»Hotel de l’Ecu.«

»Sie sollen von mir hören. – Adieu.«

Wir schieden; er, seine liebliche Frau, seine Führer stiegen zur Rhone herab, während ich meinen Weg zum Grimsel-Hospiz fortsetzte. Nach einem Monat erhielt ich ein dickes Paquet im Ecu; es enthielt einen werthvollen Diamantring, mit der Bitte, ich möchte ihn als ein Andenken der Lady Householder tragen, und außerdem ein schön geschriebenes Manuscript. Das folgende kurze Schreiben erklärte das Weitere:

»Die Vorsehung brachte uns zu mehr Zwecken, als zuerst ersichtlich, zusammen. Ich habe lange gezögert, anliegende Erzählung herauszugeben, denn in England herrscht die Neigung vor, über außerordentliche Thatsachen zu spotten, aber die Entfernung Amerika’s von meinem Wohnort wird mich hinlänglich vor dem Lächerlichen schützen. Die Welt muß die Wahrheit haben, und ich sehe dazu kein besseres Mittel, als zu Ihnen meine Zuflucht zu nehmen. Alles, was ich erbitte, ist, daß Sie das Buch schön drucken lassen, und ein Exemplar an meine Adresse, Householder-Hall, Dorshetshire, England, und ein andres an Capitain Noah Poke, Stonington, Connecticut, in Ihrem Vaterland, schicken wollen. Meine Anna betet für Sie, und ist für immer Ihre Freundin. Vergessen Sie uns nicht.

Ihr ergebenster
Householder.

Ich bin genau dieser Bitte nachgekommen, und nachdem ich die beiden Exemplare, wie mir geboten, abgesendet habe, ist der übrige Theil der Auflage zur Verfügung eines jeden, der sich geneigt fühlen mag dafür zu bezahlen. Für das nach Stonington gesandte Exemplar erhielt ich folgenden Brief:

»An Bord des Debby und Dolly.
Stonington, 1. April 1835.

Dem Verfasser des Spion, Esq.

Sir,

Ihr Geehrtes ist mir zugekommen, und fand mich in guter Gesundheit, so wie ich hoffe, daß es mit diesen Zeilen bei Ihnen der Fall sein wird. Ich habe das Buch gelesen und muß sagen, es ist einiges Wahre darin, was, die Bibel, den Kalender und die Staatsgesetze ausgenommen, überhaupt alles ist, was man von einem Buch sagen kann. Ich erinnere mich des Sir John wohl, und werde dem, was er versichert, nichts entgegensagen, schon aus dem Grund, weil Freunde einander nicht widersprechen sollen. Ich war auch mit den vier Monikins bekannt, wovon er spricht, wiewohl ich sie anders nennen hörte. Meine Frau sagt, sie wundre sich, daß alles wahr sein sollte, und ich lasse sie dabei, da etwas Ungewißheit eine Frau vernünftig macht. Was mein Segeln ohne Geometrie betrifft, so war das kaum nöthig zu drucken, denn es ist nichts seltnes in diesen Breitegraden, wenn man nur ein oder zwei Mal des Tags einen Blick auf den Compaß wirft. Und so nehme ich Abschied von Ihnen, und erbiete mich, jeden Auftrag für Sie bei den Inseln zu besorgen, nach denen ich morgen, wenn es Wind und Wetter erlaubt, absegle. Ihr

Noah Poke.

Neuntes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Anfang der Wunder, die in Betracht ihrer Wahrheit um so ausserordentlicher sind.

Ich darf sagen, mein Haupt lag eine volle Stunde auf dem Kissen, ehe mir der Schlaf die Augen schloß. Während dieser Zeit hatte ich hinlängliche Gelegenheit, die Thätigkeit desselben kennen zu lernen, was man »geschäftige Gedanken« nennt. Meine Seele war fieberisch, glühend, ruhlos; sie wanderten über ein weites Feld; es begriff Anna mit ihrer Schönheit, ihrer milden Wahrheit, ihrer weiblichen Sanftheit und ihrer weiblichen Grausamkeit; es begriff Capitain Poke und seine besondern Ansichten, die liebliche Familie der Vierfüßler und ihr verwundetes Gefühl, und dann die Vortrefflichkeit des gesellschaftlichen Anhaltspunkts-Systems; kurz, den größten Theil dessen, was ich während der letzten vier und zwanzig Stunden gesehen und gehört. Als der Schlaf langsam kam, überraschte er mich gerade in dem Augenblick, wo ich bei mir schwur, meine herzlose Geliebte zu vergessen, und den übrigen Theil meines Lebens der Verbreitung der Lehre von dem »expandirenden-superhumanen-generalisirenden-Affektionsprinzip« zu widmen, um gänzlich auszuschließen alle engherzige und selbstische Absichten, dazu mich verbindend mit Capitain Poke, der einen großen Theil dieser Erde und ihrer Bewohner gesehen, ohne sein Mitgefühl zu Gunsten eines Ortes oder einer Person zu beschränken, Stonington und ihn selbst natürlich ausgenommen.

Es war heller Tag, als ich am folgenden Morgen erwachte. Mein Geist war durch den Schlaf beruhigt, meine Nerven waren besänftigt worden durch die balsamische Frische der Atmosphäre. Es schien, mein Diener war hereingekommen und hatte die Morgenluft zugelassen, sich aber dann wie gewöhnlich wieder zurückgezogen, um das Zeichen der Schelle zu erwarten, bevor er wieder einzutreten wagte. Ich lag viele Minuten in köstlicher Ruhe, im Genuß des periodischen Zurückkehrens zu Leben und Vernunft, die mit sich brachten die Vergnügungen des Gedankens und seine zehen Tausend liebliche, sich anschließende Bilder. Das entzückende Träumen indeß, worin ich unmerklich versank, wurde bald durch leise, lispelnde und, wie ich glaubte, klägliche Stimmen, nicht weit von meinem Bett entfernt, aufgehalten und gestört. Ich richtete mich auf, ich lauschte aufmerksam und mit vielem Staunen, denn es war nicht leicht sich zu denken, woher diese Töne, so ungewöhnlich zu dieser Stelle und Stunde, kommen könnten. Die Unterredung war ernst und selbst lebhaft, aber sie ward so leise geführt, daß sie ohne die tiefe Stille im Hotel gänzlich unhörbar gewesen. Gelegentlich traf ein Wort mein Ohr, aber ich vermochte ganz und gar nicht auch nur zu bestimmen in welcher Sprache. Daß es in keiner der fünf großen europäischen Sprachen war, wußte ich sicher, denn alle diese sprach oder las ich, und es fanden sich ganz besondre Töne und Inflexionen, die mich auf den Gedanken brachten, es schmecke nach der ältern von den beiden Classischen. Freilich ist die Aussprache dieser beiden, während sie selbst das Schibboleth der Gelehrsamkeit sind, ein strittiger Punkt, da der Ton der Vokale bei jeder Nation anders bestimmt ist; das lateinische Wort dux z. B. wird Docks in England, Duk’s in Italien und Dükes in Frankreich; doch ist, ich weiß nicht welche, Feinheit in dem Ohrengeschmack eines wahren Gelehrten, die ihn selten irre führen wird, wenn seine Ohren von Worten begrüßt werden, die Demosthenes oder Cicero (Tschitschero, Zizero oder Kikero, wie es dem Leser gefällt,) gebraucht haben. Im gegenwärtigen Fall hörte ich genau das Wort: »Meibomeinosfoskomeiton,« welches sicher ein Zeitwort im Dual und in der zweiten Person von einer griechischen Wurzel war, obwohl von einer Bedeutung, die ich für den Augenblick nicht herausbringen konnte; über allen Zweifel aber wird jeder Gelehrte anerkennen, daß sie eine starke Aehnlichkeit mit einem wohlbekannten Vers im Homer hat. Wenn ich wegen der Silben in Verlegenheit war, die mich manchmal erreichten, ward ich nicht weniger verwirrt von den verschiedenen Intonationen der Stimmen der Sprechenden.

Während man leicht wahrnehmen konnte, daß sie von verschiednem Geschlechte waren, hatten sie doch keine besondre Aehnlichkeit mit dem verschluckenden Gelispel der Engländer, der großen Monotonie der Franzosen, dem schallenden Wohllaut der Spanier, der geräuschvollen Melodie der Italiener, der ohrzerreißenden Octaven der Deutschen, oder der wallenden hals-über-kopf Aussprache der Landsleute meines intimen Bekannten Capitain Noah Poke. Von allen lebenden Sprachen, von denen ich einige Kenntniß hatte, kam die Aehnlichkeit der Dänischen und Schwedischen näher als irgend einer andern, aber ich zweifelte sehr, und beanstande es jetzt noch, ob wirklich selbst in diesen Sprachen so ein Wort zu finden ist wie: »Meibomeinosfoskomeiton.« Ich konnte die Zweifel nicht länger ertragen. Die classischen und gelehrten Bedenklichkeiten, die mich besessen, wurden ausserordentlich peinlich; ich stand mit der größten Vorsicht auf, um die Sprechenden nicht zu stören, und wollte dem allen durch den einfachen und natürlichen Proceß wirklichen Beobachtens ein Ende machen.

Die Stimmen kamen von dem Vorzimmer, dessen Thüre etwas offen war; ich warf einen Schlafrock über, fuhr in die Pantoffeln hinein, und auf den Zehen mich der Oeffnung nähernd; richtete ich mein Auge so, daß ich die Personen überschauen konnte, die noch ernstlich im anstoßenden Zimmer mit einander sprachen. Alles Erstaunen verschwand, sobald ich die vier Affen in einer Ecke des Zimmers gruppirt fand, wo sie eine lebhafte Unterredung miteinander pflogen, in der die zwei ältesten (ein Männchen und ein Weibchen) die Hauptsprecher waren. Man konnte nicht erwarten, daß selbst ein Graduirter von Oxford, wenn auch zu einer Sekte gehörig, die wegen ihrer classischen Studien so sehr zum Sprüchwort geworden ist, daß Viele von ihnen nichts weiter wissen, – daß selbst einer von ihnen bei’m ersten Anhören, über die Analogie und den Charakter einer Sprache hätte entscheiden mögen, die selbst in jenem alten Sitz der Gelehrsamkeit so wenig angebaut ist. Obwohl jetzt auf der Spur zur Wurzel des Dialekts der Sprechenden, fand ich es doch ganz unmöglich, eine nützliche Kenntniß von dem, was eigentlich unter ihnen vorgehe, zu erhalten. Da sie aber meine Gäste waren, und möglicher Weise etwas nöthig haben konnten, was ihren gewohnten Bedürfnissen abginge, oder vielleicht unter noch schwereren Verlegenheiten litten, hielt ich es für meine Pflicht, die gewöhnlichen gesellschaftlichen Gebräuche bei Seite zu setzen, und mit einem Male, was in meiner Macht stünde, anzubieten, selbst auf die Gefahr hin, in Umstände mich einzudrängen, die sie vielleicht geheim zu halten hätten wünschen mögen. Indem ich daher die Vorsicht gebrauchte, etwas Lärm zu verursachen, als das beste Mittel meine Annäherung bekannt zu machen, öffnete ich leise die Thür und stellte mich ihnen vor. Erst war ich in Verlegenheit, wie ich die Fremden anreden sollte, aber in der Voraussetzung, Leute, die eine so schwer auszusprechende und so reiche Sprache redeten, wie die eben gehörte, mußten, gleich denen die von Slavischer Wurzel abgeleitete Dialekte sprächen, alle andre inne haben, und in der Erinnerung, daß das Französische das Unterhaltungsmittel unter allen gebildeten Leuten sei, beschloß ich zu jener Sprache meine Zuflucht zu nehmen.

»Messieurs et Mesdames,« sagte ich und verbeugte mich grüßend, »mille pardons pour cette intrusion peu convenable,« aber da ich in einer andern Sprache schreibe, werde ich wohl im Fortgang der Erzählung die Reden übersetzen müssen, obwohl ich nur ungern den Vortheil aufgebe, sie hier buchstäblich mitzutheilen, und in der eigentlichen Sprache, in der sie gehalten wurden.

»Meine Herrn und Damen,« sagte ich, und verbeugte mich grüßend, »ich bitte tausend Mal um Verzeihung für dieses unschickliche Eindringen in Ihre Zurückgezogenheit, aber da ich etwas von dem, was, wie ich sehr fürchte, nur zu begründete Klagen über die falsche Stellung sind, in welcher Sie sich befinden, mit anhörte, und als der Besitzer dieses Zimmers und in diesem Sinne als Ihr Wirth habe ich’s gewagt, in keiner andern Absicht als mit dem Wunsche mich zu nähern, Sie möchten mich zum Vertrauten all Ihrer Noth machen, damit ich ihr, wo möglich, sobald als die Umstände es einiger Maßen erlauben mögen, abhelfen könne.«

Die Fremden waren natürlich ein wenig erstaunt über mein unerwartetes Erscheinen, und überlegten, was ich eben gesagt. Ich bemerkte, daß die beiden Damen selbst offenbar in einiger Weise betrübt darüber waren, da die jüngere in mädchenhafter Bescheidenheit den Kopf zur Seite kehrte, während die ältere, eine dummartig aussehende Person, die Augen auf den Boden warf, aber ihre Selbstbeherrschung und ihren Ernst besser zu behaupten vermochte; der ältere der beiden Herrn trat mir nach einem Augenblick Zauderns mit würdevoller Haltung entgegen, und meinen Gruß erwiedernd, indem er mit seltner Grazie und vielem Decorum mit dem Schweif wedelte, antwortete er mir, wie folgt. Ich darf wohl hierbei behaupten, daß er das Französische fast eben so gut wie ein Engländer sprach, der lange genug auf dem Continent gelebt, um sich einzubilden, er könne in den Provinzen reisen, ohne als Fremder entdeckt zu werden. Uebrigens war sein Accent ein wenig Russich und seine Aussprache lispelnd und harmonisch. Die Frauenzimmer, besonders in dem tiefern Schlüssel ihrer Stimmen, brachten Töne, nicht unähnlich dem Seufzen der Aeols-Harfe, hervor. Es war in der That ein Vergnügen sie zu hören, aber ich habe immer zu bemerken Gelegenheit gehabt, daß in jedem Lande, nur eins ausgenommen, das ich nicht nennen will, die Sprache bei dem sanftern Geschlecht neue Reize annimmt und dem Ohr lieblicher erscheint.

»Sir«, sagte der Fremde, nachdem er mit dem Schwanz ausgewedelt hatte, »ich würde meinen Gefühlen und dem Monikins-Charakter im Allgemeinen groß Unrecht thun, wenn ich nicht einen kleinen Theil von der Dankbarkeit ausdrückte, den ich bei dieser Gelegenheit fühle. Verlassene, hauslose, beschimpfte Wanderer und Gefangne, sehen wir endlich, daß das Schicksal einen Strahl des Glücks über unsre traurige Lage geworfen hat, und die Hoffnung beginnt wieder durch die Wolken der Trübsal wie ein vorübergleitender Blick der Sonne zu scheinen. Bis von meinem Schweif an, Sir, in meinem und dieser herrlichen und klugen Matrone Namen, so wie auch in dem der zwei edlen, jugendlichen Liebenden danke ich Ihnen; ja verehrtes und menschliches Wesen von dem »genus: homo, species: Anglicus,« wir alle legen dir unsere schweif-gefühltste Anerkennung deiner Güte dar!«

Hier schwenkte die ganze Gesellschaft mit vieler Grazie den erwähnten Schmuck über ihre Häupter, berührte ihre zurückgebognen Stirnen mit den Zehen und verbeugte sich. Ich würde in diesem Augenblick zehen tausend Pfund darum gegeben haben, wenn ich rechte Actien in Schweifen gehabt, um ihre Art Höflichkeit nachmachen zu können; aber bloß, kahl und verlassen wie ich war, mußte ich mit einem erniedrigenden Gefühl mein Haupt ein wenig auf eine Schulter neigen, und als Erwiederung ihrer mehr ausgesuchten Höflichkeit, den gewöhnlichen englischen Knix machen.

»Wenn ich blos sagen wollte, Herr,« fuhr ich fort, als die eröffnenden Grüße gehörig ausgetauscht waren, »daß ich über diese zufällige Zusammenkunft erfreut bin, würde das Wort, mein Entzücken auszudrücken, sehr unzureichend sein. Betrachten Sie dieß Hotel wie Ihr eignes, seine Diener wie die Ihrigen, seine Vorräthe als Ihre Vorräthe, und seinen scheinbaren Inhaber als Ihren ergebensten Diener und Freund. Ich bin außerordentlich durch die Unwürdigkeiten beleidigt worden, denen Sie bis jetzt ausgesetzt gewesen, und verspreche Ihnen jetzt Freiheit, Güte und alle jene Aufmerksamkeiten, zu welchen Sie augenscheinlich durch Geburt, Erziehung und die Zartheit Ihrer Gefühle berechtigt sind. Ich wünsche mir tausendfach Glück, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Mein größtes Verlangen ist immer gewesen, mein Mitgefühl anzuregen, aber bis auf diesen Tag haben verschiedne Zufälle den Anbau dieser himmelgebornen Eigenschaft größtentheils auf mein eignes Geschlecht beschränkt; doch blicke ich jetzt vorwärts zu einer herrlichen Laufbahn neugeborner Interessen an der ganzen animalischen Schöpfung, – ich brauche kaum noch zu sagen, in’s Besondere an den Vierfüßlern Ihrer eignen Familie.«

»Ob wir zu den Vierfüßlern gehören oder nicht, ist eine Frage, die unsre eignen Gelehrten sehr in Verlegenheit gebracht hat,« entgegnete der Fremde. »Es ist eine Zweideutigkeit in unsrer physischen Einrichtung, die diesen Punkt etwas zweifelhaft macht, und deswegen glaub‘ ich, ziehen die höheren Classen unsrer Naturphilosophen es vor, lieber der ganzen Monikins-Spezies mit all ihren Varietäten den Namen caudam jactans, Schweifschwinger, zu geben, indem sie die Benennung von dem edleren Theil der animalischen Bildung hernehmen. Ist dieß nicht die bessere Meinung daheim, Mylord Chafferim?« fragte er und wandte sich zum Jüngling, der ehrerbietig an seiner Seite stand.

»Dieß, glaube ich, mein theurer Doktor, war die letzte von der Academie angenommene Classification;« erwiederte der edle Jüngling, mit einer Schnelligkeit, welche ihn als wohl unterrichtet und verständig darstellte, und zu gleicher Zeit mit einer Rückhaltung in seiner Art und Weise, welche seiner Bescheidenheit und Erziehung gleich viele Ehre machte. »Die Frage, ob wir Zweifüßler sind oder nicht, hat die Schulen seit länger als drei Jahrhunderte in Bewegung gesetzt.«

»Die Nennung des Namens dieses Herrn,« fügte ich hastig hinzu, »erinnert mich, Sir, daß wir nur halb mit einander bekannt sind. Erlauben Sie mir, alle Ceremonie bei Seite zu setzen, und mich sogleich als Sir John Goldenkalb, Baronet, von Householder-Hall im Königreich Großbritannien bei Ihnen anzukündigen; als einen demüthigen Bewundrer der Vortrefflichkeit, wo immer, und unter welcher Form sie auch zu finden ist, und als Anhänger des Systems vom »gesellschaftlichen Anhaltspunkt.«

»Ich fühle mich glücklich zur Ehre dieser förmlichen Einführung zugelassen zu werden, Sir John. Dagegen bitte ich, werden Sie mir erlauben zu sagen, daß dieser junge Edelmann in unsrer eignen Sprache Nro. 6. purpurn, oder den Namen zu übersetzen, Mylord Chatterino ist. Diese junge Dame ist Nro. 4. violet, oder Milady Chatterissa, diese vortreffliche, kluge Matrone ist Nro. 4,626243, röthlich oder Mistreß Vigelanza Lynx, u]m ihren Namen auch in’s Englische zu übertragen: und ich bin Nro. 22817, braun Stubenfarbe, oder der Raisono; um Ihnen eine buchstäbliche Erklärung meines Namens zu geben, nur ein ärmlicher Schüler der Philosophen unsres Geschlechts, ein Dr. der Philosophie und vieler gelehrten Gesellschaften Mitglied, der Reisegefährte dieses Erben eines der berühmtesten und ältesten Häuser der Insel Springhoch, von der Monikins-Section der Sterblichen.«

»Jede Sylbe, gelehrter Doktor Raisono, die von Ihren verehrten Lippen kommt, reizt nur meine Neugierde, und gibt neue Nahrung der Flamme des Verlangens, noch weiter in Ihre besondre Geschichte, Ihre künftigen Absichten, die Politik Ihres Geschlechts und in alle jene interessante Umstände zu dringen, die sich schnell einem Manne von Ihrer großen Fassungskraft und ausgedehnten Wissenschaft aufdringen werden. Ich fürchte für zudringlich gehalten zu werden, und doch, wenn Sie sich in meine Stelle sehen, hoffe ich, Sie werden ein so natürliches, brennendes Verlangen entschuldigen.«

»Entschuldigung ist unnöthig, Sir John, und nichts würde mir größere Freude machen, als alle und jede Fragen zu beantworten, die Sie an mich thun wollen.«

»Dann, Sir, alle unnöthige Umschweife abzuschneiden, lassen Sie mich Sie sogleich um eine Erklärung des Zahlensystems bitten, wonach Sie die Einzelnen benamen? Sie heißen Nro. 22,817, braun – Stubenfarbe – –.«

»Oder Dr. Raisono. Da Sie ein Engländer sind, werden Sie mich vielleicht besser verstehen, wenn ich mich auf eine bürgerliche Vorkehrung der neuen Londner Polizei beziehe. Sie werden bemerkt haben, daß die Leute Buchstaben in Roth und Weiß tragen, und Zahlen auf den Aufschlägen ihrer Röcke. Durch die Buchstaben kann der Fremde die Compagnie herausbringen, während die Zahl das Individuum bedeutet. Nun die Idee zu dieser Verbesserung kam zweifelsohne von unserm System her, wo die Gesellschaft der Harmonie und Subordination wegen in Kasten eingetheilt ist, und diese Kasten durch Nuancen von Farben bezeichnet werden, die ihren Stand und ihre Gewerbe andeuten. Der einzelne, wie bei der Polizei, wird durch die Zahl erkannt. Da unsre Sprache sehr sentenziös ist, ist sie im Stande die verwickeltste dieser Combinationen in sehr wenig Worten auszudrücken. Ich muß noch hinzufügen, daß zur Bezeichnung der Geschlechter kein weitrer Unterschied gemacht wird, nur daß jedes besonders gezählt wird, und jedes sein zu seiner Farbe gehöriges Gegenpaar von derselben Caste in dem andern Geschlecht hat. So sind Purpur und Violet beide adlig, das erste männlich, das andre weiblich, und röthlich ist das Gegenpart von Braun-Stubenfarbe.«

»Und – entschuldigen Sie mein natürliches Verlangen, mehr zu wissen, – tragen Sie in Ihrem Vaterland diese Zahlen und Farben auf Ihrer Kleidung?«

»Was Kleidung betrifft, Sir John, so sind die Monikins zu weit, geistig und physisch, um deren zu brauchen. In allen Fällen begegnen sich bekanntlich die Extreme. Der Wilde ist der Natur näher als die blos Civilisirten; und die Wesen, die über die Täuschungen des Mittelzustands hinaus sind, finden sich wieder näher den Gewohnheiten, Wünschen und Zwecken unsrer gemeinsamen Mutter. So wie der wahre Mann von Stand einfacher in seiner Haltung ist als der blose Nachahmer, wie Gewohnheiten und Moden in der Provinz übertriebener sind, als in gebildeten Hauptstädten, und der tiefe Philosoph weniger Ansprüche macht als der Anfänger, so lernt auch unser gemeinsames Geschlecht, so wie es der Erfüllung seiner Bestimmung und seinen höchsten Erstrebungen sich nähert, die Hochgeschätztesten Gebräuche des Mittelzustandes ablegen, und kehrt mit Eifer zur Natur wie zu einer ersten Liebe zurück. Aus diesem Grunde, Sir, trägt die Monikins-Familie nie Kleider.«

»Ich konnte jedoch nicht anders, ich mußte bemerken, daß die Damen, seitdem ich eingetreten, einige Verlegenheit gezeigt; wäre es möglich, daß ihr Zartgefühl über den Zustand meiner Toilette erschrocken?«

»Ueber die Toilette mehr selbst, als über den Zustand derselben, Sir John, wenn ich offen reden darf. Das weibliche Gemüth, auferzogen, wie es bei uns der Fall ist, von Kindheit an, in den Gebräuchen und Gewohnheiten der Natur, wird durch die geringste Abweichung von ihren Regeln unangenehm berührt. Sie werden dieß den Launen des schönen Geschlechts zu gut halten, denn ich glaube, in ihnen gleicht es sich ziemlich, es mag von einem Theil der Welt herkommen, woher es will.«

»Ich kann die anscheinende Unhöflichkeit nur durch meine Unwissenheit entschuldigen, Dr. Raisono. Ehe ich aber noch eine Frage thue, soll das Versehen gut gemacht werden. Ich muß, Herren und Damen, für einen Augenblick mich in mein Zimmer zurückziehen, und bitte Sie, bis ich zurückkomme, sich zu vergnügen, wie immer möglich. Nüsse sind, glaub‘ ich, in dieser Schublade, Zucker steht gewöhnlich auf dem Tisch und vielleicht könnten die Damen einige Unterhaltung finden, indem sie Uebungen an den Stühlen machten. In einem Augenblick werde ich wieder bei Ihnen sein.«

Hierauf zog ich mich in mein Schlafzimmer zurück, und legte den Schlafrock sowohl als das Hemd ab. Da mir jedoch einfiel, daß ich mir sehr leicht den Kopf verkältete, ging ich, Dr. Raisono zu bitten, ein wenig herein zu kommen. Als ich ihm meine Verlegenheit mittheilte, nahm dieser Herrliche es auf sich, die Damen vorzubereiten, den leichten Mißstand, daß ich nämlich noch eine Nachtmütze und Pantoffeln trug, zu übersehen.

»Die Damen würden sich nichts dabei denken,« bemerkte, um meine Betrübniß über Verwundung ihres Zartgefühls zu mindern, gutmüthig der Philosoph, »erschienen Sie selbst in einem Militair-Rock und Suwarow-Stiefeln, wenn man nur nicht glaubt, Sie wären von ihren Bekannten, und in ihrer unmittelbaren Gesellschaft. Ich denke, Sie müssen oft bemerkt haben, daß das schöne Geschlecht von Ihrer eignen Gattung oft ganz gleichgültig gegen Nuditäten ist (seine Vorurtheile sind nämlich nicht wie die unsern), welche auf der Straße erscheinen, während es sogleich aus dem Zimmer gestürzt wäre, wenn sie in der Person eines Bekannten zur Schau ausgestellt worden; diese conventionellen Ungleichheiten werden überall geduldet, weil sonst das Leben unerträglich würde.«

»Diese Unterscheidung ist zu vernünftig, Sir, um noch ein Wort der Erklärung zu bedürfen. Nun lassen Sie uns zurück zu den Damen gehen, da ich jetzt endlich einiger Maßen mich sehen lassen kann.»

Ich wurde für diese zarte Aufmerksamkeit durch ein billigendes Lächeln von der liebenswürdigen Chatterissa belohnt; und die gute Mad. Lynx warf nicht länger ihre Augen zu Boden, sondern richtete sie auf mich mit Blicken der Bewunderung und Dankbarkeit.

»Nun, da dieser kleine Zwischenfall weiter kein Hinderniß ist,« begann ich wieder, »so lassen Sie mich die Fragen fortsetzen, welche Sie bisher mit so viel Güte und so befriedigend beantwortet haben. Da Sie keine Kleider haben, wie wird dann jene Ähnlichkeit zwischen Ihrem Gebrauch und der neuen Londner Polizei ausgeführt?«

»Obgleich wir nicht bekleidet sind, hat uns doch die Natur, deren Gesetze nie ungestraft verletzt werden, sondern die eben so gütig als unbedingt gebietend ist, mit einer sanften Decke versehen, um die Stelle der Kleider, wo sie der Bequemlichkeit wegen nöthig werden, zu ersetzen. Wir haben Gewänder, die die Moden zu Schanden machen, keine Schneider brauchen und nie ihren Glanz verlieren. Aber es wäre unpassend ganz auf diese Art gekleidet zu sein; und deßwegen ist, wie Sie sehen, das Innere unsrer Hand ohne Handschuhe, und der Theil, worauf wir sitzen, unbedeckt gelassen, sehr wahrscheinlich, damit nicht durch zufällige und ungünstige Stellungen ein Mißstand entstehe. Dieß ist auch der Theil bei der Monikins-Art, der am besten geeignet ist, bemalt zu werden, und die Zahlen, wovon ich gesprochen, werden daher zu gewissen Zeiten von Staatswegen da angebracht. Unsre Buchstaben sind so klein, daß sie dem Menschenauge entgehen, aber wenn Sie dieses Opernperspectiv nehmen, zweifle ich nicht, werden Sie noch etwas von meiner Bezeichnung bei mir finden, obgleich, ach! ungewöhnliche Reibung, große Noth und ich darf wohl sagen, unverdiente Leiden mich hierin sowohl als in verschiedenen andern Stücken ganz entmonikint haben.«

Da Dr. Raisono die Güte hatte, sich umzudrehen und seinen Schweif wie ein Deutholz an einer schwarzen Tafel gebrauchte, gewahrte ich mit Hülfe des Glases sehr genau die besprochenen Figuren. Statt jedoch gemalt zu sein, wie er mich hatte vermuthen lassen, schienen sie unauslöschlich eingebrannt, wie wir gewöhnlich Pferde, Diebe und Neger brennen. Als ich es dem Philosophen bemerkte, erklärte er es mir mit seiner gewöhnlichen Leichtigkeit und Höflichkeit.

»Sie haben ganz Recht, Sir,« sagte er, »das Weglassen der Malerei geschah zur Vermeidung der Tautologie, die ein Fehler gegen die Einfachheit der Monikins- Sprache wäre, sowie auch gegen den Geschmack, und leicht bei unsern Ansichten die Regierung umstoßen könnte.«

»Tautologie!«

»Tautologie, Sir John; wenn Sie den Grund des Gemäldes untersuchen, werden Sie finden, daß er schon von einer düstern, dunklen Farbe ist; da dieß nun von einem betrachtenden, ernsten Charakter zeugt, hat man es in unsrer Academie »braun-Stubenfarbe«genannt, und es wäre offenbar unnöthig gewesen, dieselbe Farbe noch darauf zu bringen. Nein, Sir, wir vermeiden Wiederholungen selbst in unsern Gebeten, indem wir sie für Beweise eines unlogischen und unconsequenten Geistes halten.«

»Dieß System ist herrlich, ich sehe jeden Augenblick neue Schönheiten. Sie haben z. B. durch diese Art der Aufzählung den Vortheil, ihre Bekannten von hinten zu erkennen, ganz so als wenn Sie ihnen gegenüber stünden.«

»Diese Folgerung ist scharfsinnig und zeugt von einem thätigen, beobachtenden Geist, aber sie erreicht nicht ganz die Ursache unseres politico-numerischen-Identitäts-Systems, wovon wir sprechen. Die Zwecke hiervon sind von einer höheren und nützlicheren Art; auch erkennen wir unsre Freunde gewöhnlich nicht an ihrem Antlitz, welche höchstens nur falsche Signale sind, sondern an ihren Schweifen.«

»Das ist bewundernswerth; mit welcher Leichtigkeit können Sie dann einen Bekannten erkennen, der auf einem Baum sitzt; aber darf ich fragen, Dr. Raisono, welches so die eigentlichsten Vortheile Ihres Systems sind? Ich brenne vor Begierde.«

»Sie hängen mit Staatszwecken zusammen. Sie wissen, Sir, die Staatsgesellschaft ist der Regierungen wegen da, und Regierungen selbst hauptsächlich, um Contributionen und Taxen leichter einzutreiben. Durch dieß numerische System nun haben wir jede Gelegenheit die ganze Monikinsrasse bei den Steuerbüchern beizuziehn, wenn sie von Zeit zu Zeit nach ihrer Zahl aufgeschrieben werden. Die Idee war ein glücklicher Gedanke eines unsrer ausgezeichnetsten Statistiker, der durch die Erfindung großen Credit bei Hofe erlangte, und wirklich in Folge seines Scharfsinns in die Akademie aufgenommen wurde.«

»Doch muß man zugeben, mein theurer Doktor,« fiel Lord Chatterino, doch immer mit der Bescheidenheit, und ich darf hinzufügen, mit der Großmuth eines Jünglings ein, »daß es unter uns viele giebt, die leugnen, daß die Staatsgesellschaften der Regierungen wegen da sind, und behaupten die Regierungen seien wegen der Staatsgesellschaften gemacht, oder mit andern Worten für die Monikins.«

»Bloße Theoretiker, mein guter Lord; auch wird nach ihren Ansichten, selbst wenn sie wahr wären, nie verfahren; Praxis ist alles in der Politik, und Theorien sind von gar keinem Werth, nur in soweit sie die Praxis bestätigen.«

»Beide, Theorie und Praxis sind vollkommen!« schrie ich, »und ich zweifle nicht, daß die Eintheilung in Farben und Kasten die Obrigkeiten in den Stand setzt, bei den Auflagen mit »den Reichsten, den Purpurnen« zu beginnen.«

»Sir, Monikins-Weisheit legt nie den Grundstein oben hin; sie sucht den Grund des Gebäudes auf, und da Auflagen die Mauern der Staatsgesellschaft sind, fangen wir am Boden an. Wenn Sie uns besser kennen, Sir John Goldenkalb, werden Sie anfangen, die Schönheit und Wohlthätigkeit der ganzen Monikins-Oekonomie zu begreifen.«

Ich wieß nun auf den häufigen Gebrauch dieses Wortes Monikin hin, und meine Unwissenheit eingestehend, bat ich um eine Erklärung des Ausdrucks, sowie um eine allgemeinere Nachricht über den Ursprung, die Geschichte, Hoffnungen und Politik der interessanten Fremdlinge, wenn sie anders noch so genannt werden können, da sie mir schon so wohl bekannt waren. Doktor Raisono gab zu, daß das Verlangen natürlich und zu ehren wäre, aber er zeigte auch auf die Notwendigkeit hin, erst die animalischen Funktionen durch einige Nahrung zu unterstützen, besonders da die Damen den Abend vorher nur ein unbedeutendes Nachtessen gehabt, und auch er, obgleich Philosoph, mit weit mehr Eifer und Erfolg die verlangten Erklärungen geben würde, wenn er erst die geringe Bekanntschaft, die er schon mit einigem Eingemachten in einem der Schränke angeknüpft, weiter fortsetze, als er im jetzigen Zustand seines Appetits möglicher Weise könnte. Diese Hinweisung war so augenscheinlich, daß man nichts entgegnen konnte; indem ich daher meine Neugier unterdrückte, zog ich die Schelle, und ging in mein Schlafzimmer zurück, wo ich soviel von meiner Kleidung wieder anzog, als die Halbbildung des Menschen nöthig macht, und dann den Bedienten die geeigneten Befehle gab; jene wurden, beiläufig gesagt, unter dem Einflusse der gewöhnlichen und gemeinen Vorurtheile gelassen, wie sie fast allgemein von der menschlichen gegen die Monikins-Familie gehegt werden.

Ehe ich mich jedoch von meinem neuen Freunde, Doktor Raisono, trennte, nahm ich ihn bei Seite, und teilte ihm mit, daß ich einen Bekannten im Hotel hätte, einen Mann von besondrer Philosophie, aber nach Menschen-Art und der viel gereist wäre; ich bäte daher um Erlaubniß, ihn in’s Geheimniß unsrer beabsichtigten Vorlesung über Monikins-Oekonomie einweihen und als Zuhörer mitbringen zu dürfen. Diese Bitte bewilligte Nro. 22,817, braun-Stubenfarbe oder Doktor Raisono sehr herzlich, gab aber auf zarte Art zugleich zu verstehen, wie er erwarte, dieser neue Zuhörer, der natürlich niemand anders als Kapitain Noah Poke war, werde es seiner Mannheit nicht für unwürdig halten, in soweit auf das Zartgefühl der Damen Rücksicht zu nehmen, daß er nur in den Gewändern jener anständigen und verehrungswerthen Schneiderin und Drappistin, der reinen Natur nämlich, erschiene. Diesen Wink billigte ich sogleich, worauf dann jeder, nach den gewöhnlichen Begrüßungen des Verbeugens und Schweifschwingens mit dem gegenseitigen Versprechen, pünktlich der Uebereinkunft nachzukommen, seines Wegs ging.

Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Viel Unterhandlung, worin Menschenwitz gänzlich zu Schanden wird und menschlicher Scharfsinn sich als eine Eigenschaft von sehr secondärem Rang dargestellt.

Herr Poke hörte auf meine Erzählung von allem, was sich zugetragen, mit einem sehr ruhigen Ernst. Er versicherte mich, er habe soviel Scharfsinn unter den Robben und Seehunden getroffen, und so viele Thiere gekannt, die Menschenverstand und so viele Menschen, die thierische Dummheit zu besitzen geschienen, daß es ihm gar nicht schwer falle, jedes Wort, was ich ihm gesagt, zu glauben. Er drückte auch seine Freude darüber aus, eine Vorlesung über Naturphilosophie und Staatsökonomie von den Lippen eines Affen zu hören, obgleich er zu verstehen gab, daß dabei gerade nicht die Erwartung zum Grund liege, etwas zu lernen; denn in seinem Lande würden alle diese Sachen ziemlich allgemein in den Distriktschulen gelehrt, und die Kinder sogar, die auf den Straßen von Stonington herumliefen, wüßten mehr davon als die ältesten Leute in andern Ländern. Doch möge ein Affe neue Idee’n haben, und er seiner Seits sei willens, zu hören, was jeder zu sagen hätte; denn wenn man in dieser Welt nicht selbst ein Wort mitspräche, könne man sicher sein, niemand sonst werde sich die Mühe geben, für einen zu reden.

Als ich aber die näheren Bestimmungen des Programms über die künftige Zusammenkunft erwähnte, und ihm mittheilte, wie man erwarte, daß aus Ehrerbietung vor den Damen die Zuhörer nur in die reine Natur gekleidet erscheinen würden, fürchtete ich sehr, mein Freund möchte sich erzürnen, daß er einen Anfall von Schlag bekäme. Der rauhe alte Robbenjäger schwur einige schreckliche Flüche und versicherte, nicht um aller Monikins-Philosophie oder hochgeborner Affenweibchen willen, womit man einen Schiffraum anfüllen könnte, werde er sich jemals selbst zum Affen machen, indem er in einem solchen Zustand erschiene; er erklärte sich sehr leicht, er habe ein Mal einen Mann gekannt, der sich unterstanden, auf solche Art die Rolle eines Thiers zu spielen, und das erste, was der arme Teufel verspürt, seien große Klauen und ein Schweif gewesen, die mit einem Male ihm gewachsen; – ein Fall, den er immer als gerechte Strafe betrachtet, wenn man sich zu mehr machen wolle, als die Vorsehung bestimmt habe, wenn nur des Menschen Ohren nackt wären, könne er ebenso gut hören, als wenn der ganze Leib nackt sei; er beklage sich nicht, daß die Monikins nur in ihr Fell gekleidet gingen, und sie sollten daher auch nicht sich um seine Kleider kümmern; er würde sich die ganze Zeit über kratzen und nur an die armselige Figur denken, die er mache; hätte dann auch nichts, wo er seinen Tabak hinbrächte, würde leicht taub, wenn es ihn fröre, er wolle verdammt sein, wenn er so etwas thäte, Menschennatur und Affennatur sei nicht dasselbe, und man könne nicht erwarten, daß Menschen und Affen derselben Mode folgten, die Zusammenkunft würde das Ansehn einer Boxparthie, statt einer philosophischen Vorlesung haben, er hätte nie so was in Stonington gehört, er würde sich beschämt fühlen, wenn er so in Gegenwart von Damen sich bloß sähe, ein Schiff fahre immer besser, unter einiger Leinwand, als unter nackten Stangen, man könne ihn wohl bis auf sein Hemd und seine Hosen herabbringen, aber diese aufzugeben, da könnte er ebenso gut daran denken, den Hauptanker am Bogen des Schiffs abzuhauen, während es an einem dem Wind entgegengesetzten Ufer läge; Fleisch und Blut wären Fleisch und Blut, und liebten es bequem zu haben; er würde die ganze Zeit über denken, es solle an’s Schwimmen gehen, und sich nach einem zum Untertauchen geeigneten Ort umsehen; – diese und viele andre ähnliche Einwürfe machte er; sie sind in der Menge von Dingen von größrem Interesse, die meine Zeit beschäftigt haben, meinem Gedächtniß entfallen. Ich habe häufig zu bemerken Gelegenheit gehabt, daß wenn der Mensch keinen guten triftigen Grund für seine Entschließung hat, es nichts leichtes ist, ihn davon abzubringen; daß aber der, welcher sehr viele hat, sie gewöhnlich, im Streit der Ansichten, von geringerem Belang hält. So war es mit Kapitain Poke bei dieser Gelegenheit. Ich beraubte ihn glücklich seiner Kleidungsstücke, eins nach dem andern, bis ich ihn bis auf’s Hemd gebracht, wo er denn gleich einem stattlichen Schiff, das durch den geringsten Windhauch in seinen gewöhnlichen Gang gebracht wird, »stack und hing« und dadurch zeigte, es würde eines stärkeren Stoßes bedürfen, um ihn noch weiter herunterzubringen. Ein glücklicher Einfall befreite uns alle aus der Verlegenheit. Unter meinen Sachen befanden sich ein Paar gute, weite Büffelhäute, und auf mein Hindeuten, den Kapitain Poke in die weiten Falten eines derselben einzuhüllen, stimmte der Philosoph Doktor Raisono freudig bei, indem er bemerkte, alles von natürlicher, einfacher Bildung sei den Monikins-Sinnen genehm, sie hätten nur gegen die Mißstände der Kunst einige Einwendungen, da sie sie als ebenso viele Vergehungen gegen die Vorsehung ansähen. Auf diese Erklärung hin, wagte ich zu verstehen zu geben, daß, da ich noch in der Kindheit der neuen Civilisation begriffen, es meinen alten Gewohnheiten sehr angemessen sein würde, wenn man mir erlauben könnte, auch von der einen der Häute Gebrauch zu machen, während Herr Poke die andere einnähme. Nicht die geringste Einwendung wurde gemacht, und Maßregeln sogleich getroffen, um uns in den Stand zu setzen, in guter Gesellschaft zu erscheinen.

Bald nachher erhielt ich von Dr. Raisono das Protocoll der Bedingungen, die die herannahende Zusammenkunft regeln sollten. Dieß Document war aus Ehrfurcht gegen die Alten lateinisch geschrieben, und wie ich nachher erfuhr, von Lord Chatterino aufgesetzt worden, der zu Hause vor dem Vorfall, der ihn ach! in Menschenhänden gebracht, eine Erziehung für die diplomatische Laufbahn erhalten hatte. Ich übersetze es frei, zum Besten der Damen, die gewöhnlich ihre eignen Zungen am meisten lieben, und sie allen andern vorziehen.

Protocoll einer zwischen Sir John Goldenkalb, Baronet, von Householder-Hall in dem Königreich Großbritanien und Nro. 22,817 braun-Stubenfarbe oder Socrates Raisono, vieler gelehrten Gesellschaften Mitglied und Prof. der Probabilitäten auf der Universität Monikinia, im Königreich Springloch, statt habenden Zusammenkunft.

Die kontrahirenden Theile kommen überein, wie folgt, nämlich:

Art. 1. Es soll eine Zusammenkunft statt haben.

Art. 2. Besagte Zusammenkunft soll eine friedliche, nicht zu kriegerisch feindlichen Zwecken sein.

Art. 3. Besagte Zusammenkunft soll logisch, explanatorisch und discursorisch sein.

Art. 4. Während derselben soll Dr. Raisono das Vorrecht haben, am meisten zu sprechen, und Sir John Goldenkalb das am meisten zu hören.

Art. 5. Sir John Goldenkalb hat das Vorrecht, Fragen vorzulegen, und Dr. Raisono das, sie zu beantworten.

Art. 6. Gehörige Rücksicht soll sowohl auf menschliche als monikin’sche Vorurtheile und Gefühle genommen werden.

Art. 7. Dr. Raisono und alle Monikins, die ihn begleiten, sollen ihre Felle glätten, und ihr natürliches Gewand überhaupt so ordnen, wie es Sir John Goldenkalb und seinem Freunde am angenehmsten sein mag.

Art. 8. Sir John Goldenkalb und sein Begleiter sollen in Büffelhäuten erscheinen, und kein andres Gewand tragen, um sich Dr. Raisono und seinen Freunden angenehm und gefällig zu bezeigen.

Art. 9. Die Bedingungen dieses Protocolls sollen gehalten werden.

Art. 10. Jeder zweifelhafte Ausdruck in diesem Protocoll soll so viel als möglich zu Gunsten beider Theile ausgelegt werden.

Art. 11. Kein Vorrecht, weder zu Nachtheil der menschlichen noch der Monikins-Sprache soll durch den Gebrauch der lateinischen bei dieser Gelegenheit begründet werden.

Erfreut über diesen Beweis von Aufmerksamkeit von Seiten Lords Chatterino, ließ ich sogleich eine Charte für den jungen Herrn zurück, und machte mich dann mit erhöhtem Eifer ernsthaft an die Vorbereitungen, um auch die geringste Bedingung des Vertrags zu erfüllen. Capitain Poke war bald bereit, und ich muß gestehen, er sah eher einem Vierfüßler auf den Hinterbeinen, als einem menschlichen Wesen, in seinem neuen Anzug ähnlich. Was mein eignes Aussehen anlangte, hoffe ich, es war meiner Stellung, meinem Charakter angepaßt.

Zur festgesetzten Zeit versammelten sich die beiden Theile, und Lord Chatterino erschien mit einer Abschrift des Protocolls in der Hand. Dieß Document wurde von dem jüngeren Herrn auf eine sehr deutliche Weise verlesen, worauf dann eine Stille folgte, die zu Bemerkungen aufzufordern schien. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber ich hörte noch nie die bestimmten Clauseln eines Handels, ohne eine Neigung in mir zu verspüren, nach den schwachen Seiten darin zu spähen. Ich fing an einzusehen, daß die Discussion zu Beweisen, die Beweise zu Vergleichungen zwischen den zwei Species führen könnten, und so regte sich etwas in mir wie ein esprit de corps; es fiel mir ein, man könne wohl die Schicklichkeit in Frage stellen, daß Dr. Raisono mit drei Beiständen erschien, während ich nur einen hatte. So wurde denn dieser Einwand meiner Seits, ich hoffe, auf bescheidne und verträgliche Weise aufgestellt. In Erwiedrung bemerkte Mylord Chatterino, daß zwar allerdings das Protokoll in allgemeinen Ausdrücken von gegenseitigen Beiständen spräche, »wenn aber Sir John Goldenkalb sich die Mühe geben wolle, im Dokument selbst nachzusehen, werde er finden, daß die Beistände des Dr. Raisono im Plural erwähnt worden, während von dem des Sir John nur im Singular gesprochen würde.«

»Ganz wahr, Mylord, aber Sie werden mir doch die Bemerkung erlauben, daß zwei Monikins ganz vollständig die Bedingungen zu Gunsten Dr. Raisano’s erfüllen würden, während er hier mit dreien erscheint; es müssen offenbar dieser Mehrheit einige Schranken gesetzt werden, sonst könnte der Doktor das Recht haben, die Versammlung in Begleitung aller Einwohner von Springhoch zu besuchen.«

»Der Einwurf ist sehr scharfsinnig und macht den diplomatischen Fähigkeiten Sir John Goldenkalb’s alle Ehre, aber unter den Monikins werden zwei Weibchen nur Einem Männchen vor dem Gesetz gleich geachtet. So sind in Fällen, welche zwei Zeugen erheischen, wie in Uebertragung von liegenden Gründen zwei männliche Monikins hinreichend, während vier weibliche Unterschriften vonnöthen sein würden, um dem Dokument Gültigkeit zu verschaffen. In gerichtlichem Sinne ist also Dr. Raisono nur von zwei Monikins begleitet.«

Capitain Poke bemerkte hierbei, daß diese Vorkehrung in dem Gesetze von Springhoch sehr gut wäre, denn er hätte oft Gelegenheit gehabt zu bemerken, daß die Weiber immer die Hälfte der Zeit über nicht wüßten, was sie thäten, und er glaube, im Allgemeinen brauchten sie mehr Ballast als die Männer.

»Diese Entgegnung würde den Fall hinlänglich entscheiden,« erwiederte ich, »wenn das Protocoll nur ein Monikins-Document und diese Versammlung nur eine Monikins-Versammlung wäre. Aber die Thatsachen sind offenbar anders. Das Document ist in dem den Gelehrten gemeinsamen Verständigungsmittel abgefaßt, und ich ergreife gerne diese Gelegenheit, hinzuzufügen, daß ich mich nicht erinnere, eine bessere Probe moderner Latinität gesehen zu haben.«

»Es ist nicht zu läugnen, Sir John,« entgegnete Lord Chatterino, indem er zur Anerkennung des Compliments mit dem Schwanz wedelte, »daß das Protokoll in einer Sprache geschrieben ist, die jetzt Gemeingut geworden; aber das bloße Verständigungsmittel ist bei solchen Gelegenheiten nicht von großer Wichtigkeit, wenn es nur in Hinsicht der contrahirenden Theile neutral ist; ausserdem enthält für diesen besondern Fall Art. 11. des Protocolls eine Clausel, daß keinerlei Folgen aus dem Gebrauch der lateinischen Sprache gezogen werden sollen; eine Clausel, die beide Theile in Besitz ihrer ursprünglichen Rechte läßt. Nun da die Vorlesung eine Monikins-Vorlesung, von einem Monikins-Philosophen auf Monikinschem Grund und Boden ist, behaupte ich unmaßgeblich, daß es sich auch geziemt, daß sie im Allgemeinen nach Monikinschen Principien gehalten werde.«

»Was den Monikinschen Grund und Boden betrifft, glaube ich doch den Herrn erinnern zu müssen, daß die contrahirenden Theile in diesem Augenblick auf neutralem Gebiet sich befinden, und daß, wenn einer Territorial-Jurisdiction oder die Rechte der Flagge in Anspruch nehmen kann, diese offenbar den Menschen gehören, da der Miether dieses Zimmers ein Mensch ist, den locus in quo inne hat, und pro hac vice der Suzerain ist.«

»Ihr Scharfsinn, Sir John, ist weit über meine Meinung hinausgegangen, und ich bitte, meine Vertheidigung ändern zu dürfen. Alles, was ich sagen will, ist, daß die Hauptbetrachtung bei dieser Versammlung, die Monikins Interessen sind, daß wir ein Monikins-Thema vorschlagen, erklären, besprechen, erläutern, ausschmücken – daß das Accessorische der Hauptsache untergeordnet sein muß, daß das Geringere im Größeren untergehen muß, und daß folglich – –«

»Sie werden verzeihen, Mylord, aber ich behaupte –«

»O, Sir John, ich vertraue Ihrem gesunden Menschenverstand, daß Sie mich entschuldigen – –«

»Ein Wort, Herr Chatterino, bitte, um – –«

»Tausend, sehr gerne, Sir John, aber – –«

»Mylord Chatterino!«

»Sir John Goldenkalb!«

Nun begannen wir beide zugleich zu reden, der edle junge Monikin richtete nach und nach seine Beobachtungen nur an Mademoiselle Vigilanza Lynx, welche, wie ich später erfuhr, eine herrliche Zuhörerin war, und ich meinerseits, nachdem ich von Auge zu Auge gewandert, kam zu einer Rede, die ich einzig an den Verstand des Capitain Noah Poke hielt. Mein Zuhörer suchte ein Ohr ganz vom Büffelfell frei zu bekommen und nickte Beifall zu allem, was von mir kam, mit einem gewissen patriotischen Menschen- und Stammverwandtschafts-Geist. Wir hätten vielleicht in dieser getrennten Weise bis jetzt fortgesprochen, wenn nicht die liebenswürdige Chatterissa vorgetreten wäre, und mit dem Takt und der Zartheit, die ihr Geschlecht auszeichnet, ihre kleine Patsche auf den Mund des jungen Herrn gelegt und so seine Mundfertigkeit gehemmt hätte. Wenn ein Pferd weggerennt ist, bleibt es gewöhnlich, nachdem es durch Gassen, Thore und Schranken durch ist, in dem Augenblick plötzlich stehen, wo es im offnen Feld Herr seiner Bewegungen wird. So auch ich; ich befand mich nicht sobald im alleinigen Besitz des Streitpunkts, als ich augenblicklich stille schwieg. Dr. Raisono benutzte die Pause, um den Vorschlag zu machen, daß der Vorgang zwischen mir und Lord Chatterino schon augenscheinlich ein Bruch des Vertrags wäre, er und Herr Poke sich zurückziehe, und versuchen wollten, über ein ganz neues Programm der Verhandlungen übereinzukommen. Dieser glückliche Gedanke stellte augenscheinlich den Frieden wieder her, und während der Abwesenheit der zwei Vermittler benutzte ich die Gelegenheit, mit der liebenswürdigen Chatterissa und ihrem weiblichen Mentor näher bekannt zu werden. Lord Chatterino, der alle diplomatische Grazie besaß, – der von einer heißen und heftigen Verhandlung sogleich zu der süßesten und gewinnendsten Höflichkeit zurückkommen konnte, war der eifrigste, meine Wünsche zu unterstützen. Er vermochte seine reizende Herrin die Rückhaltung einer kurzen Bekanntschaft bei Seite zu sehen, und mit einem Mal in ein freies, freundliches Gespräch sich einzulassen.

Einige Zeit verfloß, ehe die Bevollmächtigten zurückkehrten, denn es scheint eine konstitutionelle Eigenthümlichkeit, oder, wie er es selbst nachher ausdrückte, ein Stoningtoner Grundsatz in Capitain Poke gewesen zu sein, wonach er in einem Handel sich für verpflichtet hielt, jeden Punkt zu bestreiten, der von der Gegenparthei kam. Diese Schwierigkeit wäre wahrscheinlich unübersteiglich gewesen, hätte nicht glücklicher Weise Dr. Raisono den aufrichtigen und freimüthigen Vorschlag gethan, seinem Collegen ganz allein immer den zweiten Artikel ohne Vorbehalt zu überlassen, sich aber dasselbe Recht für die übrige Hälfte ganz ebenso ausbedungen. Noah, nachdem er sich wohl versichert, daß der Philosoph kein Rechtsgelehrter sei, gab seine Beistimmung; und das ein Mal in diesem Geist des Nachgebens begonnene Geschäft ward bald zu Stande gebracht. Ich würde diesen glücklichen Ausweg bei allen Verhandlungen über schwierige und verworrene Verträge empfehlen, da er jeden Theil seine Absicht erreichen läßt, und wahrscheinlich nicht mehr schwache Seiten für nachfolgende Streitigkeiten darbietet, als jede andre bisher befolgte Methode. Das neue Dokument lautete, wie folgt und war in duplo englisch und im Monikin’schen ausgestellt. Man wird sehen, daß die Halsstarrigkeit des einen ihm so ziemlich den Anschein einer Capitulation gab.

Protokoll für eine Zusammenkunft u.s.w. u.s.w.

Die contrahirenden Theile kommen überein, wie folgt, nämlich:

Art. 1. Es soll eine Zusammenkunft sein.

Art. 2. Zugegeben; vorausgesetzt, daß beide Partheien kommen und gehen können, wie’s ihnen beliebt.

Art. 3. Die besagte Zusammenkunft wird im Allgemeinen über philosophische und liberale Grundsätze geführt.

Art. 4. Zugegeben; vorausgesetzt, daß Tabak nach Belieben geraucht werden kann.

Art. 5. Jeder Theil soll das Vorrecht haben, Fragen vorzulegen und jeder Theil das Vorrecht, sie zu beantworten.

Art. 6. Zugegeben; vorausgesetzt, das niemand zu hören und zu sprechen braucht, er sei denn dazu geneigt.

Art. 7. Der Anzug aller Gegenwärtigen soll den abstrakten Regeln der Schicklichkeit und des Anstands angemessen sein.

Art. 8. Zugegeben; vorausgesetzt, daß die Büffelhäute von Zeit zu Zeit nach dem Stand des Wetters gelüftet werden mögen.

Art. 9. Die Bestimmungen dieses Protokolls sollen streng geachtet werden.

Art. 10. Zugegeben; vorausgesetzt, daß die Rechtsgelehrten keinen Vortheil davon ziehen.

Lord Chatterino und ich stürzten auf die gegenseitigen Dokumente wie zwei Habichte, eifrigst nach Blößen oder den Mitteln schauend, die vorher ausgesprochenen Ansichten zu unterstützen, die wir beide zu vertheidigen so viel Geschick gezeigt hatten.

»Ei, Mylord, da ist bei dieser Zusammenkunft von dem Erscheinen von Monikins überhaupt gar keine Rede!«

»Die Allgemeinheit der Ausdrücke läßt schließen, daß alle kommen und gehen können, denen es beliebt!«

»Bitte um Verzeihung, Mylord, Art. 8. enthält eine direkte Hinweisung auf Büffelhäute im Plural, und unter Umständen, woraus sich durch richtige Folgerung ergibt, daß man beabsichtigte, mehr als ein Träger der besagten Büffelhäute werde bei besagter Zusammenkunft zugegen sein.«

»Vollkommen recht, Sir John, aber Sie werden mir die Bemerkung erlauben, daß nach Art. 1. bedungen wird, es solle eine Zusammenkunft sein, und nach Art. 3. ist ferner übereingekommen, daß die besagte Zusammenkunft über philosophische und liberale Grundsätze geführt werden soll. Nun braucht aber kaum, mein guter Sir John, erst dargethan zu werden, daß es die äußerste Illiberalität sein würde, dem einen Theil ein Privilegium zu verweigern, was der andere genösse!«

»Ganz recht, Mylord, wenn es eine Sache bloßer Höflichkeit wäre, aber legale Auslegungen müssen auf legale Grundsätze sich stützen, sonst sind wir alle, Juristen und Diplomaten, der Fluth eines unbegrenzten Oceans von Vermuthungen Preis gegeben.»

»Und doch bestimmt Art. 10. ausdrücklich, daß die Rechtsgelehrten keinen Vortheil daraus ziehen sollen. Betrachten wir Art. 3. und 10. genau und in Verbindung, so sehen wir, daß es die Absicht der Vermittler war, den Mantel der Liberalität, von allen Spitzfindigkeiten und Kniffen blos legaler Praktiker entfernt, über die ganze Verhandlung zu werfen. Erlauben Sie mir, um, was ich jetzt vorgebracht, zu erhärten, an die Stimmen derer zu appelliren, die eben die Bedingungen entwarfen, über welche wir jetzt streiten. Dachten Sie, Sir,« fuhr Mylord Chatterino, zu Kapitain Poke gewandt, mit Kraft und Würde fort, »dachten Sie, Sir, als Sie diesen berühmten Artikel 10. aufsetzten, je daran, Sie stellten eine Autorität auf, von der die Rechtsgelehrten Vortheil ziehen könnten?«

Ein tiefes und sehr lautes »Nein« war die feste Antwort des Herrn Poke.

Mylord Chatterino, dann mit gleicher Grazie zu dem Doktor gewandt, nachdem er zuerst diplomatisch dreimal mit seinem Schweif gewedelt, fuhr fort:

»Und Sie, Sir, als Sie Art. 3. aufstellten, glaubten Sie, daß Sie illiberale Grundsätze unterstützten und verbreiteten?«

Auf die Frage folgte eine schnelle Verneinung, worauf denn der edle Jüngling inne hielt und mich ansah, als wenn er vollständig triumphirt hätte.

»Vollkommen beredt, ganz überzeugend, unwiderleglich beweiskräftig, unläugbar wahr, Mylord,« fiel ich ein, »aber es muß mir vergönnt seyn, zu bemerken, daß die Kraft aller Gesetze von ihrem Erlaß abhängt; nun fließt aber der Erlaß, oder im Fall eines Vertrags die Kraft der festgesetzten Bedingungen, nicht aus der Absicht des einen Theils, der zufällig ein Gesetz oder eine Clausel aufgestellt haben mag, sondern aus der Beistimmung aller legalen Deputirten. Im gegenwärtigen Fall sind zwei Unterhändler, ich bitte nun um Erlaubniß, ihnen einige Fragen vorzulegen, indem ich die Ordnung Ihrer eignen herumkehre, und dann möchte der Erfolg vielleicht eine Spur geben, zu dem wahren quo animo zu gelangen.«

Mich zum Philosophen wendend, fuhr ich fort: »Vermeinten Sie, Sir, als Sie Ihre Beistimmung zu Art. 10. gaben, alle Gerechtigkeit zu Boden zu werfen, Unterdrückung aufzufordern, und der Gewaltthätigkeit zum Schaden des Rechts beizustehen?«

Die Antwort war ein feierliches und ich zweifle nicht sehr gewissenhaftes »Nein!«

»Und Sie, Sir,« zu Kapitain Poke gewandt, »standen Sie bei Ihrer Beistimmung zu Art. 3. im mindesten in der Meinung, daß möglicher Weise die Feinde der Menschheit Ihre Beistimmung zu Mitteln verkehren könnten, um festzustellen, die Büffelhäuteträger stünden nicht auf gleichem Fuß mit den besten Monikins des Landes!«

»Verdammt will ich sein, wenn ich’s that!«

»Aber, Sir John Goldenkalb, die Sokratische Methode des Untersuchens – –«

»Wurde zuerst von Ihnen angewandt, Mylord –«

»Ei, mein Herr« – –

»Erlauben Sie« – –

»Sir John« – –

»Mylord« – –

Hier trat die liebliche Chatterissa wieder vor, und durch eine zweite Vermittlung ihres graziösen Takts zu rechter Zeit verhinderte sie glücklich die Antwort.

Das Gleichniß von dem weggelaufenen Pferd ward noch ein Mal dargestellt, und ich kam wieder zur Ruhe.

Lord Chatterino schlug jetzt sehr galant vor, die ganze Sache solle mit unbegrenzter Vollmacht den Damen überlassen bleiben. Ich konnte mich nicht weigern, und die Bevollmächtigten zogen sich, von einem Murren von Seiten Kapitain Pokes begleitet, zurück. Dieser erklärte sehr offen heraus, die Weiber verursachten mehr Streit als alle übrigen, und nach dem wenigen, was er gesehen, erwarte er, es werde auch so mit den Monikins-Weibchen kommen.

Die Frauen besitzen sicherlich eine Leichtigkeit der Zufriedenstellung, die unserm Theil der Schöpfung verweigert ist. In einer unglaublich kurzen Zeit kehrten die Bevollmächtigten mit folgendem Programm zurück.

Protokoll zu einer Unterredung u. s. w.

Die contrahirenden Theile kommen überein, wie folgt: nämlich:

Art. 1. Es soll eine freundschaftliche, logische, philosophische, ethische, liberale, generelle und controversielle Zusammenkunft sein.

Art. 2. Die Zusammenkunft soll freundschaftlich sein.

Art. 3. Die Zusammenkunft soll generell sein.

Art. 4. Die Zusammenkunft soll logisch sein.

Art. 5. Die Zusammenkunft soll ethisch sein.

Art. 6. Die Zusammenkunft soll philosophisch sein.

Art. 7. Die Zusammenkunft soll liberal sein.

Art. 8. Die Zusammenkunft soll controversiell sein.

Art. 9. Die Zusammenkunft soll controversiell, liberal, philosophisch, ethisch, logisch, generell und freundschaftlich sein.

Art. 10. Die Zusammenkunft soll sein, wie besonders bestimmt worden.

Die Katze springt nicht mit mehr Gier auf die Maus, als Lord Chatterino und ich auf das dritte Protokoll stürzten, indem wir neuen Grund für den Beweis suchten, den jeder für den seinen angenommen.

»Auguste, cher Auguste« rief die liebliche Chatterissa, im schönsten französischen Dialekt, den ich je gehört. »Pour moi! Mir zu Lieb‘!«

»A moi! Monseigneur!« schrie ich und schwang meine Abschrift des Protokolls. »Nur heran!«

Ich wurde in der Mitte meiner Streitlust durch ein Zupfen an der Büffelhaut aufgehalten, und als ich einen Blick hinter mich warf, sah ich Kapitain Poke winken und andre Zeichen machen, als wünschte er mir etwas in’s Geheim zu sagen.

»Ich denke, Sir John,« bemerkte der würdige Robbenjäger, »wenn wir anders diesen Handel zu einem Bruch wollen kommen lassen, ist es wohl jetzt die rechte Zeit. Die Damen sind schlau gewesen; aber es müßte der Teufel sein, wenn wir nicht zwei Weiber überseglen könnten, ehe alles vorüber ist. In Stonington, wenn wir’s für das Beste halten, Vorschläge anzunehmen, ei, da machen wir erst Einwände und erheben einen Sturm im Anfang, aber gegen das Ende werden wir freundlicher, sanfter und weicher, sonst käme auch der ganze Handel in Verfall. Der stärkste Wind wird zuletzt sich ausblasen; vertraut Euch mir, ich mache den besten Beweis zu Schanden, den der beste Monikin von ihnen allen vorbringen kann.«

»Die Sache wird ernsthaft, Noah, und ich bin voll esprit de corps: Fühlt Ihr Euch nicht nach und nach als Mensch?«

»Gütiger, aber büffelmäßiger als sonst etwas. Laßt sie fortfahren, Sir John, und wenn die Zeit kommt, wollen wir sie von hinten angreifen oder haltet mich für einen Stümper.«

Der Kapitain nickte pfiffig, und ich sah, es war einiger Verstand in seiner Ansicht.

Als ich zu unsern Freunden oder Verbündeten wieder zurückkam, ich weiß kaum, wie ich sie nennen soll, fand ich, daß die liebliche Chatterissa gleichfalls die diplomatische Hitze ihres Liebhabers wieder beruhigt hatte, und so traten wir auf dem besten Fuße wieder zusammen. Das Protokoll wurde durch Zuruf angenommen, und Vorkehrung sogleich zur Vorlesung Doktor Raisono’s getroffen.

Sechstes Kapitel

Sechstes Kapitel

»Hast du den bemerkt, der eben von mir ging?« fragte Signore Gradenigo eifrig.

»O ja!« »Hinlänglich, um seine Gestalt und seine Züge wiederzuerkennen?«

»Es war ein Fischer von den Lagunen, namens Antonio.«

Der Senator ließ seinen ausgestreckten Arm sinken und sah den Bravo mit einem Blick an, in dem sich Erstaunen und Bewunderung mischten. Er fuhr fort, das Zimmer auf und nieder zu gehen, während der andere auf sein Geheiß wartete. So gingen ein paar Minuten hin.

»Du hast ein scharfes Auge, Jacopo«, hob der Patrizier nach dieser Pause wieder an. »Hast du mit dem Mann zu tun gehabt?«

»Niemals.«

»Und du weißt gewiß, daß es –«

»Ew. Exzellenz‘ Milchbruder ist.«

»Ich hab nicht gefragt, ob du von seiner Jugend und von seiner Geburt weißt, sondern von seinen gegenwärtigen Umständen«, sagte Signore Gradenigo und wandte sich ab, sein Gesicht vor dem brennenden Blicke Jacopos zu verbergen. »Hat ihn dir irgendein Mann von Bedeutung bezeichnet?«

»Nein! Mein Beruf hat mit Fischern nichts zu tun!«

»Unsere Schuldigkeit, junger Mann, kann uns noch in niedrigere Gesellschaft führen. Wer die schwere Last des Staates auf seinen Schultern hat, muß nicht die Beschaffenheit dessen, was er trägt, ansehen. Wie ist dir dieser Antonio bekannt geworden?«

»Ich hab ihn als einen Mann kennengelernt, den seine Kameraden schätzen, der sein Gewerbe versteht und sehr gewandt ist in den Kunststücken der Lagunen.«

»Du meinst, er ist ein Schmuggler?«

»Durchaus nicht. Er arbeitet viel zuviel von früh bis spät, um von was anderem zu leben als von seinem Gewerbe.«

»Du weißt, Jacopo, wie streng unsere Gesetze in bezug auf die Steuern sind.«

»Ich weiß, daß die Gerechtigkeit San Marcos nirgends leise auftritt, wo der eigene Vorteil angetastet wird.«

»Du bist nicht aufgefordert, über diesen Punkt Betrachtungen zu machen. Jener Mann pflegt um das Wohlwollen seiner Kameraden zu buhlen und seine Stimme zu erheben in Dingen, darüber nur seine Obern richtig urteilen können.«

»Signore, er ist alt, und das Alter löst die Zunge.«

»Das ist nicht Antonios Fall. Die Natur hat ihn nicht stiefmütterlich behandelt. Wären seine Geburt und seine Erziehung seinen Fähigkeiten angemessen, so würde er im Senat gern gehört worden sein. – Jetzt aber fürchte ich, er schwatzt sich um seine eigene Ruhe.«

»Freilich, wenn er spricht, was San Marcos Ohr nicht gern hört.«

Ein lebhafter, mißtrauischer Blick des Senators traf den Bravo, als wollte er den wahren Sinn seiner Worte ergründen. Da aber der Senator den gewohnten Ausdruck von Selbstbeherrschung in den Zügen fand, die er durchforschte, nahm er wieder das Wort und stellte sich so, als wäre ihm nichts aufgefallen.

»Wenn er, wie du sagst, dergleichen spricht, was die Republik gefährdet, so haben ihn seine Jahre nicht besonnen gemacht. Der Mann ist mir lieb, Jacopo! Man ist gewöhnlich eingenommen für die, die dieselbe Brust genährt hat.«

»O ja, Signore.«

»Und da meine Schwachheit für ihn so groß ist, so wünschte ich, daß man ihn zur Vorsicht ermahnte. Du kennst ohne Zweifel seine Ansichten über die neuliche dringende Maßregel, alle jungen Leute von den Lagunen zum Dienst in den Flotten des Staates einzustellen?«

»Ich weiß, daß ihm die Aushebung den Jungen, der in seiner Gesellschaft arbeitete, entrissen hat.«

»Um ehrenvoll, und vielleicht nicht ohne Gewinn, für das Wohl der Republik zu arbeiten.«

»Möglich, Signore.«

»Du bist heute abend kurz in deinen Reden, Jacopo! Wenn du aber den Fischer kennst, so ermahne ihn zur Behutsamkeit. San Marco duldet die dreisten Ansichten seiner Klugheit nicht. Es ist schon das dritte Mal, daß man diesen Fischer wegen seines Vorwitzes hat tadeln müssen; die väterliche Fürsorge des Senats darf nicht Mißvergnügen in den Gemütern einer Klasse sich einnisten lassen, die er seiner Pflicht gemäß und mit Freuden beglücken möchte. Suche Gelegenheit, ihn diese ersprießliche Wahrheit hören zu lassen. Ich möchte wirklich nicht gern, daß ein Unglück den Sohn meiner alten Amme besonders in seinen letzten Jahren beträfe.«

Der Bravo beugte seine Gestalt zum Zeichen, daß er den Auftrag übernehme, während Signore Gradenigo im Zimmer auf und nieder ging, aufrichtige Teilnahme in seiner Haltung verratend.

»Du hast gehört von dem Rechtsspruch in Sachen des Genuesen?« hob er wieder an, nachdem ihm eine neue Pause Zeit gegeben hatte, seine Gedanken anderswohin zu lenken. »Die Tribunale haben schnell entschieden, und obgleich eine Mißhelligkeit zwischen den beiden Staaten bevorzustehen scheint, wird die Welt nun sehen, wie streng dennoch auf unseren Inseln Gerechtigkeit geübt wird. Ich vernehme, man wird dem Genueser ansehnliche Geldbußen auferlegen, und einige von unseren eigenen Bürgern werden um große Summen gestraft werden.«

»So hab ich auch seit Sonnenuntergang auf der Piazetta gehört, Signore!«

»Und sprechen die Leute nicht von unserer Unparteilichkeit und mehr noch von unserer Schnelligkeit? Bedenk doch, Jacopo, es sind erst acht Tage, daß die Sache vor den Senat gebracht wurde.«

»Keiner zweifelt an der Schnelligkeit, mit der die Republik Beleidigungen ahndet.«

»Noch an der Gerechtigkeit, will ich hoffen, lieber Jacopo! Es ist eine solche Schönheit und ein solches Ebenmaß in den Bewegungen der Staatsmaschine bei unserer Verfassung, daß der Beifall der Menschen uns zuteil werden muß. Die Gerechtigkeit hilft den Bedürfnissen der Gesellschaft ab und zähmt die Leidenschaften mit einer so stillen und würdigen Kraft, als kämen ihre Beschlüsse vom Himmel herab. Also haben die Maskierten heute von der Rechtlichkeit unseres letzten Dekrets gesprochen?«

»Signore! Die Venezianer sind kühn, wenn Gelegenheit da ist, ihre Herren zu loben.«

»Meinst du, Jacopo? Mir scheinen sie immer geneigter, ihr aufrührerisches Mißbehagen zu äußern. Aber es ist den Menschen eigen, karg im Lob und im Tadel ausschweifend zu sein. Das Dekret des Tribunals muß im Gespräch bleiben, nicht bloß die bare Gerechtigkeit gelobt werden. Unsere Freunde sollten in den Kaffeehäusern und auf dem Lido viel darüber sprechen. Sie brauchen nichts zu fürchten, wenn sie dabei ihre Zungen ein wenig gehenlassen.«

»Freilich, Signore!«

»Ich rechne auf dich und deine Kameraden, daß die Sache nicht zu schnell vergessen werde. Die Erwägung von solchen Handlungen wie diesen muß in der öffentlichen Meinung die verborgene Saat der Tugenden zeitigen. Wer immerfort Exempel der Rechtlichkeit vor Augen hat, muß diese Eigenschaft am Ende lieben lernen. Der Genuese, hoffe ich, wird zufrieden abreisen?«

»Ohne Zweifel, Signore! Ihm ward alles, was einen Gekränkten zufriedenstellen kann, sein Eigentum mit Wucher zurück und Rache an seinen Beleidigern.«

»Ja, so lautet das Dekret, vollständige Ersatzleistung und Zuchtstrafe. Wenige Staaten würden so gegen ihren eigenen Vorteil erkennen, Jacopo!«

»Geht denn die Sache des Kaufmanns den Staat an, Signore?«

»Als seines Bürgers, freilich! Wer seine eigenen Glieder kasteiet, leidet doch. Wer kann sich von seinem eigenen Fleisch scheiden ohne Betrübnis? Sag, Bursch?«

»Es gibt Nerven, die empfindlich gegen Berührung sind, Signore, und ein Auge oder ein Zahn ist kostbar, aber ein beschnittener Nagel oder ein ausgefallenes Haar ist nicht von Belang.«

»Wer dich nicht kennt, Jacopo, sollte meinen, du stehest im Interesse des Kaisers. Es fällt kein Sperling vom Dache in Venedig, ohne daß die väterlichen Gefühle des Senats den Verlust beklagten. Genug. Geht unter den Juden noch immer das Gerede von einer Abnahme des Goldes? Zechinen sind freilich nicht mehr so in Überfluß da wie früher, und die Prellerei dieser Klasse sieht das nicht ungern, in Hoffnung größeren Gewinns.«

»Ich habe neuerlich Gesichter auf dem Rialto gesehen, die nach leeren Börsen schmecken. Die Christen scheinen ängstlich und in Not, während die Ungläubigen ihre Kittel mit zufriedeneren Mienen als sonst tragen.«

»Man hat das erwartet. Macht das Gerücht irgendeinen Juden namhaft, der jungen Adeligen Geld auf Wucherzinsen zu leihen pflegt?«

»Zu der Klasse können alle gezählt werden, die was zu verleihen haben; die ganze Synagoge, Rabbiner und alles ist dabei, wenn es sich um christliche Geldbeutel handelt.«

»Du liebst die Juden nicht, Jacopo, aber sie leisten doch der Republik gute Dienste. Wir zählen alle zu unsern Freunden, die im Notfall mit ihrem Geld zur Hand sind. Doch soll die junge Blüte Venedigs ihr Vermögen nicht in unvorsichtigem Handel vergeuden, und wenn du von einigen Vornehmen hörst, die recht in ihren Klauen stecken, so wirst du wohltun, die Beaufsichtiger des Gemeinwohls davon zu unterrichten. Wir müssen behutsam mit denen umgehen, die den Staat stützen helfen, aber wir müssen auch vorsichtig mit denen umgehen, die ihn nun bald ausmachen sollen. Hast du mir in der Art nichts zu sagen?«

»Man spricht davon, daß Signore Giacomo ihre Gunst am allerteuersten bezahlt.«

»Jesus, Maria! Mein Sohn und Erbe! Betrügst du mich nicht, Mensch, um deinen eigenen Haß gegen die Hebräer zu befriedigen?«

»Ich hege gegen dies Volk sonst keine Bosheit als nur einen heilsamen christlichen Widerwillen. Soviel, denk ich, muß einem frommen Mann erlaubt sein, außerdem aber hasse ich keinen Menschen. Es ist allbekannt, daß Euer Sohn mit seinem dereinstigen Vermögen etwas frei schaltet und es zu einem Preise hingibt, wie geringere Aussichten ihm nur auferlegen könnten.«

»Das ist wichtig! Der Junge muß so schnell als möglich an die übeln Folgen erinnert werden, und man muß Sorge tragen, daß er künftig vorsichtiger sei. Der Jude soll bestraft werden zum feierlichen Exempel für das ganze Volk, und die Schuld soll einbehalten werden zum Besten des Schuldners. Wenn sie dies Beispiel vor Augen haben, werden die Schurken nicht so bereitwillig sein mit ihren Zechinen. Großer San Teodoro, es wäre Selbstmord, wenn man einen jungen Mann von solchen Erwartungen durch einen Mangel an Vorsicht zugrunde gehen ließe. Ich will mir selber die Sache als eine besondere Pflicht angelegen sein lassen, und der Senat soll nicht sagen können, daß ich seine Interessen vernachlässige. Hast du neuerlich Beschäftigung gehabt in deinem Beruf als Rächer von Privatbeleidigungen?«

»Nichts von Bedeutung – es sucht jemand meine Hilfe eifrig nach, aber ich weiß noch nicht vollständig, was er wünscht.«

»Dein Geschäft ist von zarter Natur und heischt Vertrauen; sein Ertrag aber, wie du wohl weißt, ist gewichtig und sicher.« Er sah die Augen des Bravo funkeln und hielt unwillkürlich inne. Bald aber herrschte wieder jene merkwürdige Ruhe auf Jacopos bleichem Gesichte, und der Redner fuhr fort, als hätte keine Unterbrechung stattgefunden. »Ich wiederhole es dir, der Staat wird bei seiner Belohnung Milde nicht vergessen. Im Punkte der Gerechtigkeit ist er unerschütterlich streng, aber im Verzeihen herzlich und freigebig in seinen Gunsterweisungen. Ich hab mir viel Mühe gegeben, dir diese Tatsachen zu beweisen, Jacopo. Aber du hast mir den nicht genannt, der so ernstlich um dich wirbt.«

»Da ich seinen Handel noch nicht kenne, wird es gut sein, Signore, ehe ich etwas Weiteres tue, zu erfahren, was er wünscht.«

»Diese Zurückhaltung ist am unrechten Ort. Du brauchst der Klugheit der Staatsbeamten nicht zu mißtrauen, und es sollte mir leid tun, wenn die Inquisitoren eine üble Meinung von deinem Eifer bekämen. Jenes Individuum muß namhaft gemacht werden.«

»Ich klage ihn nicht an. Alles, was ich sagen kann, ist, daß er Lust hat, sich heimlich mit jemandem einzulassen, mit dem sich einzulassen fast ein Verbrechen ist.«

»Ein Verbrechen verhüten ist besser, als es bestrafen. Du wirst mir den Namen deines Korrespondenten nicht vorenthalten!«

»Nun denn, es ist ein edler Neapolitaner, der sich wegen wichtiger Angelegenheiten und wegen des Anrechts auf einen Sitz im Senat seit einiger Zeit hier in Venedig aufhält.«

»Ah! Don Camillo Monforte! Hab ich recht, Bursche?«

»Allerdings, Signore.«

Es erfolgte eine Pause, nur unterbrochen durch die Turmuhr vom großen Platze, die elf schlug, die vierte Stunde der Nacht nach italienischer Weise. Der Senator fuhr auf, sah auf eine Uhr seines Zimmers und sagte darauf: »Es ist gut. Deiner Aufrichtigkeit und Pünktlichkeit soll gedacht werden. Sieh nach dem Fischer Antonio. Man muß nicht zugeben, daß das Murren des alten Mannes Mißfallen erwecke um eine solche Kleinigkeit, daß man seinen Enkel von einer Gondel zu einer Galeere versetzt hat. Besonders aber beobachte die Gerüchte auf dem Rialto. Der Glanz und das Ansehen eines adligen Namens sollen nicht wanken um einiger Jugendverirrungen willen. Aber dieser Fremde – geschwind deine Maske und deinen Mantel – gehe aus dem Hause, als wärst du nur ein Freund, der die müßigen Spielereien dieser Tageszeit mitmacht.«

Der Bravo verhüllte sich mit der Gewandtheit, die ihm die lange Übung gab, aber mit einer Ruhe, die sich nicht so leicht aus ihrer Haltung bringen ließ als die des Senators. Dieser sagte nichts weiter, aber ein ungeduldiger Wink seiner Hand bedeutete Jacopo, sich eilig zu entfernen.

Als sich die Tür geschlossen hatte und Signore Gradenigo allein war, sah er noch einmal nach der Uhr, fuhr mit der Hand langsam und nachdenkend über seine Stirn und ging wieder auf und ab. Beinahe eine Stunde dauerte diese Übung ohne äußere Unterbrechung fort. Da ward leise an die Tür geklopft, und nach dem gewöhnlichen Hereinruf erschien ein anderer dicht maskierter Mann, wie denn dies allgemeiner Gebrauch zu jener Zeit in Venedig war. Der Senator schien seinen Gast an der Gestalt zu erkennen und empfing ihn wie einen Erwarteten und mit zierlichem Anstand.

»Der Besuch Don Camillo Monfortes ist mir eine Ehre«, sagte er, während dieser Mantel und Maske abstreifte. »Ihr kommt aber so spät, daß ich schon dachte, irgendein Zufall hätte mich des Vergnügens beraubt, Euch zu sehen.«

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, edler Senator, jedoch die Furcht, Euch die kostbare Zeit zu früh zu rauben, hat mich verspätet.«

»Pünktlichkeit ist nicht das größte Verdienst der vornehmen Herren in Unteritalien«, erwiderte Signore Gradenigo trocken. »Die jungen Leute sind so darauf erpicht zu leben, daß sie darüber die Minuten vergessen, die ihnen entwischen. Wir Alten lassen es uns hauptsächlich angelegen sein, die Versäumnisse der Jugend einzubringen. Wir wollen aber nicht verschwenderischer mit den Augenblicken umgehen, als nötig ist. – Können wir von dem Spanier bessere Ansicht der Sache erwarten?«

»Ich habe nichts versäumt, was irgend auf einen vernünftigen Mann wirken kann, besonders habe ich ihm vorgestellt, welche Vorteile ihm die Achtung des Senats gewähren würde.«

»Daran habt Ihr klug getan, Signore, sowohl in Rücksicht auf seine als auf Eure. Der Senat ist denen, die ihm dienen, ein freigebiger Zahlmeister und denen, die dem Staate schaden, ein furchtbarer Feind. Ich hoffe, die Sache wegen der Sukzession ist ihrem Schlusse nahe.«

»Ich wünschte, daß man dies sagen könnte. Ich liege dem Tribunal an mit allem erforderlichen Eifer und versäume keine Pflicht persönlicher Aufwartung und Bitte um Verwendung. Es gibt keinen gelehrteren Doktor von Padua als meinen Anwalt, und doch zieht sich die Sache hin wie in einem Schwindsüchtigen das Leben. Wenn ich mich nicht als würdiger Sohn des heiligen Marco in dieser Angelegenheit mit dem Spanier erwiesen habe, so liegt die Schuld an meinem Mangel an Übung in politischen Verhandlungen, ist aber nicht auf meinen Eifer zu schieben.«

»Die Waagschalen der Gerechtigkeit müssen sehr gleich abgewogen sein, daß keine weder fallen noch steigen will. Ihr müßt noch ferneren Fleiß anwenden, Don Camillo, und Euch mit großer Behutsamkeit die Gunst der Patrizier gewinnen. Es wird gut sein, durch fernere Dienstleistungen bei dem Gesandten Eure Anhänglichkeit an den Staat kenntlich zu machen. Man weiß, daß Ihr in seiner Achtung steht und daß ihn Eure Ratschläge zu bestimmen vermögen. Es sollte auch einen so wohlgesinnten und hochherzigen jungen Mann der Gedanke zu Anstrengungen befeuern, daß er, dem Vaterlande dienend, die Sache der Menschheit überhaupt fördert.«

Von der Richtigkeit der letzteren Bemerkung schien Don Camillo nicht sehr überzeugt zu sein. Indessen verbeugte er sich, des Senators Ansicht höflich zugebend.

»Es ist angenehm, Signore, solche Überzeugung zu haben«, sagte er. »Mein Verwandter aus Kastilien ist ein Mann, der Vernunft annimmt, möge sie kommen, woher sie wolle. Er begegnete meinen Argumenten zwar mit einigen Anspielungen auf die abnehmende Macht der Republik, doch bemerkte ich in ihm deshalb nicht eine Verringerung seiner Ehrfurcht vor dem Einflusse eines Staates, der sich solange durch seine Tatkraft ausgezeichnet hat.«

»Venedig, Signore Duca, ist nicht mehr das, was die Inselstadt ehedem war, aber ohnmächtig ist sie noch nicht. Die Flügel unsers Löwen sind ein wenig beschnitten, aber noch springt er weit, und seine Zähne sind gefährlich. Wenn der neue Fürst seine herzogliche Krone fest haben will auf seinem Kopfe, wird er wohltun, sich die Anerkennung seines nächsten Nachbarn zu erwerben.«

»Das ist einleuchtend, und das wenige, was mein Einfluß bei der Sache vermag, soll nicht unterbleiben. Nun aber möchte ich von Eurer Freundschaft Rat erbitten, was ich für meine eigenen, lange vernachlässigten Rechte tun soll.«

»Ihr werdet wohltun, Don Camillo, die Senatoren durch öftere Beobachtung der Höflichkeit, die Ihr ihrem und Euerm Range schuldig seid, an Euch zu erinnern.«

»Das vernachlässige ich nie, da es mein Stand und meine Angelegenheit auf gleiche Weise mir zum Gesetz machen.«

»Man soll auch die Richter nicht vergessen, junger Mann, denn es ist klug, zu bedenken, daß die Gerechtigkeit ein Ohr für Bitten hat.«

»Es kann niemand eifriger diese Pflicht erfüllen als ich, und ich gebe auch allen, denen ich mit meinem Gesuche zur Last fallen muß, die handgreiflichsten Beweise meiner Achtung.«

»Besonders eifrig müßt Ihr es Euch aber angelegen sein lassen, die Achtung des Senats zu verdienen. Dieser Körper übersieht keinen dem Staate geleisteten Dienst, und die geringste Tat für dessen Vorteil wird den beiden Ratskollegien kund.«

»Könnt ich nur mit diesen ehrwürdigen Vätern zusammenkommen! Ich glaube, die Gerechtigkeit meiner Ansprüche würde bald selber ihr Recht geltend machen.«

»Nein, das geht nicht«, erwiderte der Senator ernst. »Diese erhabenen Körperschaften halten ihre Sitzungen geheim, damit sich nicht Ihre Majestät, mit gemeinen Interessen zusammentreffend, beflecke. Gleich der unsichtbaren Macht des Geistes über den Leib regieren sie und bilden die Seele des Staates, deren Sitz gleich dem der Vernunft im Menschen allem Scharfsinn verborgen bleibt.«

»Ich muß mein Verlangen hier als einen bloßen Wunsch ansehen, nicht als etwas, was ich zu erreichen Aussicht hätte«, erwiderte der Herzog von Sant‘ Agata und hüllte sich wieder in Mantel und Maske, die er beide nicht ganz abgelegt hatte. »Lebt wohl, edler Herr, ich werde nicht aufhören, dem Kastilianer fleißig Rat zu erteilen. Dafür gebe ich meine Angelegenheit der Gerechtigkeit der Patrizier und Eurer Freundschaft anheim.«

Signore Gradenigo geleitete seinen Gast mit Verbeugungen bis in das äußerste Zimmer, wo er ihn der Sorgfalt seines Hauswarts überließ.

»Man muß den Gang des Gesetzes hemmen, um den jungen Mann zu größerer Emsigkeit in dieser Sache zu treiben. Wer die Gunst des heiligen Marco nachsucht, muß sie durch Eifer für sein Bestes verdienen.«

Diese Betrachtung machte Signore Gradenigo, langsam nach seinem Gemache zurückgehend, sobald er im äußeren Zimmer von seinem Gaste förmlich Abschied genommen hatte. Er schloß die Tür und fing wieder an, die kleine Stube zu durchmessen, mit dem Schritte und Auge eines Mannes, der sorglich allerhand bedenkt. Nach einem Weilchen tiefer Stille wurde eine Tapetentür vorsichtig geöffnet, und das Gesicht eines anderen Besuchers erschien.

»Nur herein!« sagte der Senator, ohne Überraschung zu verraten. »Die Stunde ist schon vorbei, ich habe auf dich gewartet.«

Das herabfließende Kleid, der graue, ehrwürdige Bart, die edel geformten Züge, das schnelle, lauernde Auge und ein Ausdruck von Weltklugheit machten einen Juden vom Rialto kenntlich.

»Nur herein, Hosea, entlaste dein Gewissen«, fuhr der Senator im Tone eines gewohnten Verkehres fort. »Gibt es etwas Neues, was das öffentliche Wohl betrifft?«

»Gesegnet ist das Volk, für das ein so väterliches Auge wacht! Kann der Republik, edler Signore, widerfahren Gutes oder Böses, ohne daß der Senat gerührt fühle sein Herz, gleichwie der Vater sorgt um sein Kind. Glücklich ist das Land, wo Männer von ehrwürdigem Alter und grauen Haaren die Nacht zum Tage machen und vergessen alle Müdigkeit, um dem Staate Gutes und Ehre zu bereiten.«

»Du liebst die morgendländischen Bilder aus dem Lande deiner Väter, guter Hosea, und vergissest, daß du jetzt nicht auf den Stufen des Tempels wachst. Was hat der Tag Wichtiges gebracht?«

»Sagt lieber die Nacht, Signore! Denn es ist heute nichts Erhebliches vorgefallen, daß Ihr es anhört, außer eine Sache von einiger geringer Bedeutung, die hervorging aus dem Treiben des Abends.«

»Sind Stilette auf der Brücke geschäftig gewesen?«

»Es ist niemand verbrecherisch umgekommen. Ich verrichte eben mein Gebet, bevor ich niederlegte mein Haupt, als ein Bote vom Rate mir brachte einen Juwel, um das Wappen zu entziffern und die anderen Symbole des Besitzers. Es ist ein Ring mit den gewöhnlichen Kennzeichen, die eine geheime Anvertrauung begleiten.«

»Hast du den Siegelring?« sagte der Senator, die Hand ausstreckend.

»Hier ist er, und es ist ein gutes Steinchen, ein teurer Türkis.«

»Wo kommt er her, warum hat man ihn dir geschickt?«

»Er kommt, Signore, wie ich mehr entnehme aus Winken und Andeutungen des Boten als aus seinen Worten, von einem Orte, der jenem gleicht, woraus entkam der gottselige Daniel.«

»Du meinst den Löwenrachen?«

»So sagen unsere heiligen Schriften, Signore, in Ansehung des Propheten, und so schien anzudeuten der Bote des Rates in Ansehung des Ringes.«

»Hier ist nichts als ein Federbusch und der Ritterhelm – gehört das einem in Venedig?«

»Salomos Weisheit leite das Urteil seines Knechtes in einer so feinen Angelegenheit! Der Juwel ist von rarer Schönheit, wie ihn besitzen können nur solche, die auch sonst haben Gold in Überfluß.«

»Aber wem kann das Wappen gehören?«

»Es ist zu betrachten wundervoll, was für ein großer Wert kann liegen in so kleinem Raume. Ich habe vollwichtige, schwere Zechinen sehen bezahlen für Dingelchen, die nicht waren so kostbar wie dieser.«

»Wirst du denn deine Bude und deine Handelsleute vom Rialto nun und nimmermehr vergessen? Ich sage dir, du sollst mir den nennen, dessen Familienwappen dieser Ring trägt.«

»Edler Signore, ich gehorche. Der Busch gehört der Familie Monforte, aus der gestorben ist der letzte Senator vor etwa fünfzehn Jahren.«

»Und seine Juwelen?«

»Die sind gekommen mit andern beweglichen Gütern, davon der Staat keine Notiz nimmt, an seinen Verwandten und Nachfolger – wenn es anders dem Senate beliebt, daß dies alte Geschlecht soll haben einen Nachfolger – an Don Camillo von Sant‘ Agata. Der reiche Neapolitaner, der jetzt vorbringt hier in Venedig seine Ansprüche, ist der Besitzer des Steins.«

»Gib mir den Ring! Man muß die Sache erwägen – hast du sonst noch was zu sagen?«

»Nein, Signore – bloß noch die Bitt, wenn der Juwel sollte werden verkauft, daß er zuerst möchte angeboten werden einem alten Diener der Republik, der zu klagen viel Ursach hat, daß sein Alter nicht bringt soviel Segen wie seine jungen Jahre.«

»Du sollst nicht vergessen werden. Ich höre, Hosea, daß mehrere junge Edelleute die Läden deiner Juden besuchen und Geld borgen, das sie jetzt verschwenden, späterhin aber mit bitterer Reue und Selbstverleugnung und mit Unannehmlichkeiten wiederbezahlen müssen, die für die Erben edler Namen unziemlich sind. Nimm dich in acht in diesem Punkte – denn wenn das Mißfallen des Rates einen von deinem Stamme treffen sollte, so wird es weitläufige und ernstliche Abrechnungen geben. Hast du neuerlich mit anderen Siegelringen zu tun gehabt außer dem des Neapolitaners?«

»Bloß auf dem gewöhnlichen Wege unseres täglichen Geschäfts, sonst nichts von Bedeutung, gnädiger Herr.«

»Betrachte dies«, fuhr Signore Gradenigo fort und gab ihm ein mit einem Wachssiegel versehenes Streifchen Papier, das er aus einem geheimen Schubfache hervorsuchte. »Gibt dir dieser Abdruck vielleicht eine Vermutung über den Eigentümer des Petschafts?«

Der Juwelier nahm das Papier und hielt es gegen das Licht, während sein blitzendes Auge angespannt das darauf befindliche Siegel untersuchte.

»Das wäre über die Weisheit von Davids Sohne«, sagte er nach einer langen und scheinbar fruchtlosen Untersuchung, »hier ist nichts als eine grillenhafte Liebhaberdevise, wie sie zu gebrauchen pflegen lustige Kavaliere in der Stadt, wenn sie das schwächere Geschlecht mit schönen Worten in Versuchung führen und verlockenden Tändeleien.«

»Es ist ein Herz von einem Liebespfeil durchbohrt, mit der Umschrift: pensa al cuore trafitto d’amore.«

»Weiter aber nichts, wenn mich nicht betrügen meine Augen. Ich mein, es ist nicht viel gesagt mit den Worten, Signore!«

»So viel, als darin liegt. Hast du nie einen Edelstein mit dieser Gravierung verkauft?«

»Gerechter Samuel! Wir setzen ab dergleichen alle Tag, an Christen beiderlei Geschlechts, an alt und jung. Ich weiß keine Devise, die besser ginge, woraus ich schließ, daß viel Verkehr getrieben wird mit der Art von leichter Ware.«

»Wer das Siegel benutzte, hat wohlgetan, seine Gesinnung unter so allgemeiner Chiffre zu verbergen! Hundert Zechinen aber dem, der den Eigentümer ausfindig macht.«

Hosea war eben im Begriff, das Siegel als etwas, wovon er nichts wüßte, zurückzugeben; da gerade entfuhr den Lippen Signore Gradenigos diese Äußerung. Im Augenblicke waren die Augen des Juweliers mit einem Vergrößerungsglas bewaffnet und das Papier wieder bei der Lampe.

»Ich hab einen Karneol verkauft von geringem Wert an die Frau des kaiserlichen Gesandten, worein dasselbe geschnitten war; weil ich aber glaubte, daß sie ihn nahm bloß aus einer wunderlichen Grille, so hab ich nicht gebraucht die Vorsicht, mir zu merken den Stein. Ein Herr im Hause des Legaten von Ravenna handelte mit mir auch um einen Amethyst mit derselben Devise; aber ich hab auch bei dem nicht für nötig gehalten eben besondere Umständlichkeit. Ha! Da ist ein besonderes Kennzeichen, das wahrhaftig zu sein scheint von meiner Hand.«

»Findest du ein Merkmal? Was ist es für ein Zeichen, von dem du sprichst?«

»Edler Senator, bloß ein Strichelchen in dem einen Buchstaben, das nicht eben in die Augen fallen würde einem leichtgläubigen Mädchen.«

»Und wem hast du dies Siegel verkauft?«

Hosea zauderte, denn er dachte an die Gefahr, seine Belohnung durch eine voreilige Mitteilung der Wahrheit zu verlieren.

»Wenn es wichtig ist, genau das zu wissen, Signore«, sagte er, »will ich nachsehen meine Bücher. In einer Sach von Bedeutung soll der Senat nicht werden falsch berichtet.«

»Du hast recht. Die Sache ist wichtig, und daß sie uns so erscheint, beweist dir ja die Größe der Belohnung.«

»Es fiel da ein Wort von hundert Zechinen, sehr edler Signore; aber mein Herz denkt nicht an solche Nebensachen, wenn es sich handelt um Venedigs Wohl.«

»Hundert Stück hab ich dir versprochen.«

»Ich hab einen Siegelring verkauft mit ungefähr dieser Zeichnung an ein Frauenzimmer, die bei dem vornehmsten Herrn dient im Gefolge des Nuntio. Aber dies Siegel kann nicht kommen von ihr, da ein Frauenzimmer ihres Standes –«

»Weißt du das gewiß?« fiel Signore Gradenigo schnell ein. Hosea sah ihn aufmerksam an und las in seinem Gesicht, daß die Auskunft erwünscht war. Geschwind antwortete er: »So gewiß ich stehe unter Moses Gesetz! Das Dingelchen hat mir lang dagelegen, und um nicht ruhen zu lassen mein Geld, gab ich es ihm.«

»Die Zechinen sind dein, vortrefflicher Jude! Jetzt ist die Sache klar über allen Zweifel. Geh, du sollst deine Belohnung haben, und wenn du irgendwas Bemerkenswertes in deinem geheimen Register hast, setze mich schleunigst davon in Kenntnis. Geh nur, guter Hosea, und sei pünktlich wie bisher. Die beständigen Anstrengungen meines Geistes haben mich müde gemacht.«

Der Hebräer empfahl sich, vergnügt über sein Glück, und verschwand durch dieselbe Tür, durch die er eingetreten war.

Es schien, daß Signore Gradenigo heute niemanden mehr zu empfangen hatte. Er untersuchte sorgfältig die Schlösser einiger geheimer Schubfächer in seinem Kabinett, löschte die Lichter aus, verschloß und verriegelte die Türen und entfernte sich. Noch einige Minuten durchschritt er in der äußeren Zimmerreihe eines der Hauptgemächer, bis seine gewöhnliche Stunde zum Schlafengehen erschien. Der Palast wurde nun für diese Nacht geschlossen.

Signore Gradenigo war so gut als andere Menschen mit einem fühlenden Herzen geboren, aber seine Stellung und Erziehung, die nach den Einrichtungen der Republik, wie sie sich nannte, stark gefärbt war, hatten aus ihm ein Geschöpf der herkömmlichen Staatsklugheit gemacht. Venedig schien ihm ein freier Staat zu sein, denn er selbst genoß die Vorteile seiner bürgerlichen Verfassung im Überfluß, und einerseits in den meisten Weltangelegenheiten bewandert und geübt, wurde er, in Hinsicht auf die politische Moral seines Landes, von einer seltenen anschmiegenden Stumpfheit beherrscht. Als Senator stand er in einer Beziehung zum Staat wie der Leiter eines Geldinstituts zu seiner Körperschaft, ein Verwalter allgemeiner Maßregeln ohne persönliche Verantwortlichkeit. Er konnte mit Wärme, auch wohl mit Schärfe über die Grundsätze des Regierens sprechen, und es würde schwer sein, auch in dieser geldnehmenden Zeit einen eifrigeren Anhänger der Meinung zu finden, daß Besitztum nicht eine untergeordnete, sondern eine Hauptangelegenheit des gesitteten Lebens sei. Er konnte mit Fähigkeit über Charakter, Ehre und Tugend, über Religion und persönliche Freiheit sprechen, aber wenn es galt, für diese Interessen zu handeln, so trieb ihn die Richtung seines Geistes, sie alle mit einer weltlichen Politik zu vermengen, die nicht mindere Schwerkraft hatte als die Körper im freien Falle. Als Venezianer war er der Herrschaft eines einzigen ebensosehr als der Herrschaft aller entgegen. Im Verhältnis zur ersteren Staatsform war er wütender Republikaner, in Beziehung auf die letztere zu jener seltsamen Spitzfindigkeit geneigt, wie sie die Majoritätsverfassung eine Regierung vieler Tyrannen nennt: kurz, er war ein Aristokrat und hatte geschickter und glücklicher als irgend jemand sich selbst überredet, daß alle jene Dogmen, nach denen sein Stand der bevorrechtete war, auf dem Grunde der Wahrheit ruhten. Er war ein gewaltiger Verteidiger angestammter Rechte, denn ihr Besitz brachte ihm Vorteil. Er war überaus lebhaft gegen Neuerungen in Sitten und Gebräuchen und gegen Veränderungen in den geschichtlichen Verhältnissen der Familien, denn an die Stelle seiner Liebe zu Grundsätzen trat Berechnung, und er unterließ nicht, gelegentlich zur Verteidigung seiner Meinungen von den Schickungen der Vorsehung die Analogie zu entnehmen. Mit einer Philosophie, die ihn selber zu befriedigen schien, behauptete er, da Gott absteigende Stufen vom Engel bis zum Menschen in seiner Schöpfung eingesetzt hätte, so wäre es das beste, dem Beispiel zu folgen, das die unendliche Weisheit gäbe. So richtig diese Grundlage seines Systems auch war, so lag doch in der Anwendung der große Irrtum, daß unter dem Titel der Nachahmung die Ordnung der Natur verkehrt wurde.

Siebentes Kapitel

Siebentes Kapitel

Eben als die geheimen Audienzen im Palaste Gradenigo beendigt waren, verlor auch der St.-Markus-Platz zum Teil seine Lebendigkeit. In den Kaffeehäusern saßen nur noch einzelne Gesellschaften, die Mittel und Lust hatten, kostbareren Vergnügungen zu frönen, während die übrigen, die ihre Gedanken den Sorgen des nächsten Tages zuwenden mußten, scharenweise zu ihren bescheidenen Wohnungen zurückkehrten. Einer jedoch von der letzteren Klasse blieb zurück an der Stelle, wo die beiden Plätze zusammenstießen, bewegungslos, als wären seine nackten Füße mit dem Stein zusammengewachsen, auf dem er stand. Es war Antonio.

Die Stellung des Fischers brachte seine muskulöse Gestalt und seine starren Züge ganz in die Beleuchtung des Mondes. Er heftete seinen dunkeln, kummervollen Blick fest auf die mildglänzende Scheibe, als wollte er in einer andern Welt den Frieden suchen, den er in dieser nicht gefunden hatte. Sein gebräuntes Gesicht trug den Ausdruck des Leidens. Ein tiefer Seufzer kämpfte sich aus der Brust des alten Mannes hervor, dann strich er sich die wenigen Haare, die ihm die Zeit noch gelassen hatte, hob seine Mütze vom Pflaster auf und wollte fortgehen.

»Du bist spät auf, Antonio«, ertönte eine Stimme dicht neben ihm. »Die Fische müssen hoch im Preise stehen, oder du mußt einen guten Fang getan haben, daß du dich bei deinem Gewerbe noch in dieser späten Stunde in der Piazza zu erlustigen Zeit findest. Du hörst, es schlägt eben die fünfte Stunde der Nacht.«

Der Fischer drehte den Kopf nach der Seite hin und blickte den Redenden, der maskiert war, einen Augenblick gleichgültig an, dann antwortete er: »Da du mich kennst, so weißt du wahrscheinlich auch, daß meiner nur eine leere Wohnung wartet. Wenn ich dir so bekannt bin, so ist dir ja wohl auch die Unbill nicht unbekannt geblieben, die mir widerfahren ist.«

»Wer hat dich beleidigt, guter Fischer, daß du selbst unter den Fenstern des Dogen so kühn davon sprichst?«

»Der Staat.«

»Das ist eine dreiste Rede für das Ohr des heiligen Marco! Zu laut gesprochen, könnte sie den Löwen dort zum Zorne reizen. Wessen klagst du denn die Republik an?«

»Führ mich nur hin zu denen, die dich schicken, so will ich ihnen die Mühe eines Unterhändlers ersparen. Ich bin bereit, selbst dem Dogen mein erlittenes Unrecht zu klagen, ein armer Greis wie ich hat von ihrem Zorne wenig mehr zu fürchten.«

»Du glaubst also, ich sei gesendet, dich zu verraten.«

»Du magst deine Sendung am besten kennen.«

Der andere nahm nun die Maske ab, und im Mondlicht erkannte Antonio seinen Gefährten.

»Jacopo!« rief der Fischer erstaunt. »Ein Mann deines Gewerbes kann mit mir nichts zu schaffen haben.«

Eine Röte, die selbst bei dem schwachen Mondlicht sichtbar war, überflog das Gesicht des Bravo, durch nichts anderes verriet er die Aufwallung seines Gefühls.

»Du irrst dich. Ich habe mit dir zu schaffen.«

»Achtet der Senat einen Fischer von den Lagunen der Mühe wert, daß er durch ein Stilett falle? So stoß denn zu«, sagte er und blickte auf seine braune, entblößte Brust, »hier ist nichts, das dich hindern könnte.«

»Antonio, du tust mir unrecht. Der Senat hat solche Absicht gar nicht. Vielmehr, weil ich gehört habe, daß du Grund zur Unzufriedenheit hast und nun öffentlich auf dem Lido und zwischen den Inseln über Dinge sprichst, die die Patrizier Leuten deines Standes gern aus dem Gesichte rücken, so komm ich als Freund, dich vor den Folgen solcher Unvorsichtigkeit zu warnen, nicht aber, dir Übles zuzufügen.«

»Bist du abgeschickt, mir dies zu sagen?«

»Alter Mann, die Erfahrung deiner Jahre sollte dich gelehrt haben, deine Zunge im Zaume zu halten. Was nützen eitle Klagen über die Republik, oder was für Früchte können sie bringen als Unheil für dich und das Kind, das du lieb hast.«

»Ich weiß nicht – aber wenn das Herz voll ist, so läuft der Mund über. Sie haben meinen Knaben weggenommen und haben mir wenig gelassen, das Wert für mich hätte. Das Leben, dem sie Gefahr drohen, ist zu kurz, um sich drum zu grämen.«

»Du solltest klug sein und deinen Kummer mäßigen. Signore Gradenigo hat sich dir immer freundlich bewiesen, und deine Mutter, hab ich gehört, war seine Amme. Wende dich mit Bitten an ihn, aber höre auf, den Zorn der Republik durch Klagen zu reizen.«

Antonio lauschte seinem Gefährten. Als er aber geendigt hatte, schüttelte er traurig das Haupt, als wollte er ausdrücken, daß auch von jener Seite keine Hoffnung mehr für ihn sei.

»Ich hab ihm alles gesagt, was ein Mann, der auf den Lagunen geboren und erzogen ist, zu sagen Worte hat. Er ist ein Senator, Jacopo! Und hat keinen Sinn für Leiden, die er nicht fühlt.«

»Ist es nicht unrecht, alter Mann, dem, der im Überfluß geboren ist, Hartherzigkeit vorzuwerfen, bloß weil er das Elend nicht fühlt, das auch du, wenn du könntest, gern von dir wiesest? Du hast deine Gondel und deine Netze und bist gesund und geschickt in deinem Handwerk, und so bist du glücklicher als jeder, der auch das entbehrt. – Willst du etwa dein Gewerbe liegenlassen und deinen kleinen Vorrat mit dem Bettler von San Marco teilen, damit euer Vermögen gleich sei?«

»Du magst recht haben in dem, was du über unsere Arbeit und unsere Hilfsmittel sagst, aber was unsere Kinder betrifft, da ist die Natur dieselbige in allen. Ich sehe nicht ein, warum des Patriziers Sohn frei gehen soll und der Sohn des Fischers bluten. Haben die Senatoren nicht Glücks genug an ihren Reichtümern und an ihrer Hoheit, daß sie mir mein Kind rauben?«

»Du weißt, Antonio, daß der Staat bedient sein will, und wollten die Staatsdiener in den Palästen starke Matrosen für die Flotte suchen, meinst du, sie möchten Leute finden, die dem geflügelten Löwen in der Stunde der Not Ehre machen würden? Dein alter Arm ist muskelfest, und dein Fuß wankt nicht auf dem Wasser, und sie suchen solche, die wie du für Schifferarbeit erzogen sind.«

»Du hättest noch hinzufügen können: Und deine alte Brust hat Narben. Ehe du geboren warst, Jacopo, zog ich gegen die Türken, und mein Blut ward für den Staat verschüttet wie Wasser. Aber das haben sie vergessen und haben reiche Marmorsteine in den Kirchen aufgerichtet, die Taten der Edeln zu rühmen, die doch ohne Wunde aus dem Kriege zurückkehrten.«

»Ich hab auch meinen Vater davon erzählen hören«, versetzte der Bravo düster und mit verändertem Ton der Stimme. »Auch er hat geblutet in jenem Kriege, aber es ist vergessen.«

Der Fischer warf einen Blick umher, und da er mehrere Gruppen auf dem Platze ganz in seiner Nähe sich unterhalten sah, bedeutete er seinem Gefährten, ihm zu folgen, und schritt den Kais zu.

»Dein Vater«, sagte er, während sie langsam nebeneinandergingen, »war mein Kamerad und mein Freund. Ich bin alt, Jacopo, und arm; meine Tage gehen hin mit Arbeit auf den Lagunen und meine Nächte mit Erholung und Stärkung für neues Tagwerk. Aber bekümmert hat es mich zu hören, daß der Sohn eines Mannes, den ich lieb hatte und mit dem ich so oft Gutes und Böses, Wohl und Weh geteilt habe, eine Lebensart ergriffen hat, wie die ist, die du dir erwählt haben sollst. Gold, das für Blut bezahlt wird, hat noch niemals Segen gebracht, weder dem Geber noch dem Empfänger.«

Der Bravo hörte schweigend zu, aber sein Gefährte, der ihm in einem anderen Augenblick und weniger aufgeregt als eben jetzt ausgewichen wäre, bemerkte, indem er ihm traurig ins Gesicht sah, daß sich dessen Muskeln leicht bewegten und daß eine Blässe die Wangen überzog, die das Mondlicht gespenstisch machte.

»Deine Armut hat dich zu schwerer Sünde verführt, Jacopo. Aber es ist nimmer zu spät, die Heiligen um Beistand anzurufen und das Stilett beiseite zu legen! Es dient einem Manne in Venedig nicht zum Ruhm, dein Gefährte zu heißen, aber der Freund deines Vaters wird den nicht verlassen, der seine Sünden bereuet. Wirf den Dolch weg und komm mit mir zu den Lagunen. Du wirst die Arbeit leichter zu tragen finden als die Schuld, und obschon du mir niemals das werden kannst, was mir der Junge war, den sie mir genommen haben – denn er war unschuldig wie ein Lamm! –, so wirst du mir immer der Sohn eines alten Kameraden sein. Komm mit mir zu den Lagunen, denn solche Armut und solch Elend, als ich erdulde, können nicht noch verächtlicher werden, auch nicht dadurch, daß du mein Gesell bist.«

»Was sagen denn die Menschen von mir, daß du mich so behandelst?« fragte Jacopo mit leiser, bebender Stimme.

»Ich wollte, sie sagten Unwahrheit! Aber wenige sterben in Venedig eines gewaltsamen Todes, ohne daß man dich nennte.«

»Würden sie denn leiden, daß ein so berüchtigter Mensch frei auf den Kanälen und auf dem Markusplatze umhergehe?«

»Wir kennen nie die Gründe, nach denen der Senat handelt. Einige sagen, deine Stunde sei noch nicht gekommen, andere sagen, dein Einfluß sei zu groß in Venedig, um dich zu richten.«

»Du hältst von der Tätigkeit der Inquisition nicht mehr als von ihrer Gerechtigkeit. Aber wenn ich heut nacht mit dir gehen wollte, wirst du dich dann mehr mäßigen unter deinen Kameraden vom Lido und von den Inseln?«

»Wenn das Herz beladen ist, so sucht ihm die Zunge Erleichterung zu schaffen. Ich wollte alles tun, um meines Freundes Sohn von seinen schlimmen Wegen abzuwenden, nur nicht meinen eigenen vergessen. Du bist gewohnt, Jacopo, mit den Patriziern zu tun zu haben. Könnte wohl einer in diesen Kleidern und mit einem so sonnverbrannten Gesicht dazu gelangen, mit dem Dogen zu reden?«

»Es fehlt in Venedig nicht an scheinbarer Gerechtigkeit, Antonio, der Mangel liegt in der wirklichen. Ich zweifle nicht, daß du gehört werden würdest.«

»So will ich hier warten auf den Steinen des Platzes, bis der morgende Prachtzug kommt, und sein Herz zur Gerechtigkeit zu bewegen suchen. Er ist ein Greis wie ich und hat auch geblutet für das Vaterland, und was noch mehr ist, er ist Vater.«

»Das ist auch Signore Gradenigo.«

»Du zweifelst an des Dogen Mitgefühl?«

»Du kannst es ja versuchen. Der Doge von Venedig wird das Gesuch des geringsten Bürgers anhören. Ich denke«, setzte Jacopo so leise als möglich hinzu, »er würde selbst mir Gehör geben.«

»Zwar bin ich nicht imstande, meine Bitte in geziemenden Reden einem so großen Fürsten vorzustellen, aber er wird die Wahrheit von einem gekränkten Manne hören. Sie nennen ihn den vom Staat Erwählten, nun, so sollte er auch mit Freuden der gerechten Sache ein Ohr leihen. Dies ist ein hartes Bett, Jacopo«, fuhr der Fischer fort, indem er sich auf das Fußgestell der Bildsäule San Teodoros setzte, »ich habe aber schon auf kälterer und ebenso harter Lagerstätte gelegen um geringerer Ursache willen und trefflich geschlafen.«

Der Bravo stand noch einen Augenblick neben dem alten Mann, der seine Arme über der dem Seewind offenen Brust verschränkte und sich anschickte, auf dem Platze Nachtruhe zu halten, wie dies unter Leuten seines Standes nicht ungebräuchlich war; als er aber bemerkte, daß Antonio ungestört zu sein wünschte, machte er sich auf und ließ den Fischer allein.

Die Nacht war ziemlich vorgerückt, und nur wenige Leute streiften noch auf den beiden Plätzen umher; Jacopo schaute sich um, und bemerkend, wie spät es sei und daß der Platz fast menschenleer war, ging er an den Rand des Kais. Hier lagen wie gewöhnlich die Boote der öffentlichen Gondolieri vor Anker, und über der ganzen Bucht herrschte eine tiefe Stille. Der Bravo hielt an, warf noch einen vorsichtigen Blick umher, legte seine Maske vor, machte ein Boot von seinen leichten Banden los und glitt im Augenblick mitten in das Bassin hinein.

»Wer da?« fragte jemand, der, wie es schien, auf einer etwas abseits liegenden Feluke Wache hielt.

»Ein Erwarteter!« war die Antwort.

»Roderigo?«

»Derselbe.«

»Du kommst spät«, sagte der Seemann von Kalabrien, als Jacopo auf dem niedrigen Deck der »Bella Sorrentina« stand. »Mein Volk ist längst unten, und ich hab schon dreimal von Schiffbruch und zweimal von schwerem Schirokko geträumt, seit ich dich erwarte.«

»So hast du mehr Zeit gehabt, den Zoll zu betrügen. Ist die Feluke fertig zur Arbeit?«

»Was den Zoll betrifft, so ist wenig zu lukrieren in solch einer gierigen Stadt. Die Senatoren nehmen allen Profit für sich und ihre Freunde, und wir armen Schiffsleute haben niedrige Fracht und schlechten Gewinn. Ich hab ein Dutzend Fässer Lacrimae Christi die Kanäle raufgeschickt, seit die Masken umherstreiften, außer dem hat sich nichts dargeboten. Dich zu stärken ist aber zur Not noch genug da. Willst du trinken?«

»Ich habe der Nüchternheit Treue gelobt. Ist dein Fahrzeug zu dem Geschäft bereit wie gewöhnlich?«

»Ist der Senat ebenso bereit mit seinem Gelde? Dies ist meine vierte Reise in seinem Dienste, und sie dürfen nur in ihre eigenen Geheimnisse gucken, so werden sie wissen, wie ich ihr Geschäft ausgeführt habe.«

»Sie sind zufrieden, und man hat dich gut bezahlt.«

»Sag es nicht. Ich habe durch eine glückliche Verladung in Früchten von den Inseln mehr Gold verdient als bei all ihrer nächtlichen Arbeit. Wenn die, die mich brauchten, der Feluke erlauben wollten, einigen Privathandel im Hafen zu treiben, so könnte Vorteil bei der Sache sein.«

»San Marco bestraft nichts schwerer als die Umgehung seiner Zölle. Nimm dich in acht mit deinen Weinen, daß du nicht Schiff und Reise und auch selbst deine Freiheit verlierst.«

»Das ist es gerade, worüber ich mich beschwere, Signore Roderigo. Schurke und Nichtschurke, das ist der Wahlspruch der Republik. Hier sind sie so streng gerecht wie ein Vater unter seinen Kindern, dort haben sie wieder Geschäfte, die mitten in der Nacht getan werden müssen. Ich liebe den Wiederspruch nicht, denn gerade wenn meine Hoffnungen ein wenig gestiegen sind durch das, was ich vielleicht ein bißchen zu nahe gesehen habe, werden sie in alle Winde gejagt von einem solchen Blitzblick, wie ihn nur der heilige Januarius selbst auf einen Sünder werfen mag.«

»Bedenke, daß du nicht in deinem weiten Mittelmeere bist, sondern auf einem Kanal von Venedig. Diese Sprache möchte dir nicht wohl bekommen, wenn sie minder freundliche Ohren vernähmen.«

»Ich dank dir für deinen guten Rat, aber der alte Palast dort ist schon eine gute Warnung für lose Zungen, wie ein Galgen an der Küste für einen Piraten. Ich hab um die Zeit, da die Masken hereinkamen, mit einem alten Kameraden auf der Piazetta gesprochen, und wir schwatzten über dieselbe Sache. Der hat mir erzählt, daß jeder zweite Mann in Venedig bezahlt ist, zu hinterbringen, was der erste redet und tut. ’s ist ein Jammer, guter Roderigo, daß der Senat mit all seiner scheinbaren Liebe zur Gerechtigkeit so manche Schurken frei umhergehen läßt, Menschen, deren Anblick die Steine erröten macht in Scham und Verdruß.«

»Es ist mir nicht bewußt, daß man solche Leute öffentlich in Venedig sieht. Was heimlich geschieht, mag eine Zeitlang geduldet werden, weil sich den Tätern vielleicht nichts beweisen läßt, aber –«

»Cospetto! Man sagt mir, der Senat habe eine schnelle Manier, einem Sünder das Unrechttun zu verbieten. Da, da ist der gottlose Jacopo – was fehlt dir, Mann? Der Anker, auf den du dich lehnst, ist doch nicht glühend.«

»Er ist aber auch nicht von Flaum. Nichts für ungut, daß einem die Knochen können weh tun, wenn man sich auf dies harte Eisen lehnt.«

»Das Eisen ist von Elba – ist in einem Vulkan geschmiedet. Der Jacopo ist ein Mensch, den sie in einer rechtschaffenen Stadt nicht sollten frei umhergehen lassen, und doch sieht man ihn so gelassen auf dem Platze spazieren wie einen Edeln im Broglio.«

»Daß du von der verwegensten Faust und dem sichersten Stilett in Venedig nichts weißt, ehrlicher Roderigo, gereicht dir zur Ehre. Aber wir vom Hafen, wir kennen ihn gut, und wenn wir ihn sehen, dann fallen uns unsere Sünden ein und die Bußen, die wir versäumt haben. Ich wundere mich sehr, daß ihn die Inquisitoren nicht bei irgendeiner öffentlichen Feierlichkeit dem Teufel überliefern, zum Besten der kleineren Sünder.«

»Sind seine Verbrechen so erwiesen, daß sie ihn ohne Beweis verurteilen dürften?«

»Frag nur auf den Straßen. Es kommt keine Christenseele in Venedig unverhofft ums Leben, was doch nicht selten geschieht, ohne daß die Leute einen Stoß von seiner zuverlässigen Hand vermuteten. Signore Roderigo, Eure Kanäle sind bequeme Gräber für plötzlich Gestorbene!«

»Mich dünkt, du sprichst ungereimt. Erst sagst du von Spuren einer Erdolchung, und dann sagst du wieder, die Kanäle dienten dazu, den ganzen Leichnam zu verbergen. Es wird dem Jacopo gewiß unrecht getan, und es ist vielleicht alles bloße Verleumdung.«

»Man spricht wohl bei einem Priester von Verleumdung, denn das sind Christen, die ihren Namen reinhalten müssen, zur Ehre der Kirche; aber von Unrecht gegen einen Bravo zu reden ist mehr, als die Zunge eines Advokaten durchsetzen kann. Wenn die Hand mit Blut gefärbt ist, was tut es, ob die Schattierung ein wenig dunkler ist oder nicht.«

»Du hast recht«, erwiderte der vorgebliche Roderigo und holte tief Atem. »Es tut nichts, ob einer um vieler oder weniger Verbrechen willen verurteilt wird.«

»Weißt du, Freund Roderigo, dieser Gedanke hat mich weniger bedenklich gemacht in Hinsicht auf die Ladung, die ich bei diesem unserem geheimen Handel führe. Du bist ja im Dienste des Senates, werter Stefano, sag ich zu mir selber, drum ist keine Ursache, Umstände zu machen wegen der Art und Ware. Dieser Jacopo hat ein Auge, einen Blick, die ihn verraten würden, und säße er auf St. Peters Stuhle. Aber nimm doch die Maske ab, Signore Roderigo, und laß dir die Seeluft das Gesicht kühlen, ’s ist Zeit, daß dieses argwöhnische Wesen zwischen alten und geprüften Freunden ein Ende nehme.«

»Wenn mir’s nicht meine Verpflichtung gegen die verböte, die mich schicken, wollte ich dir gern von Gesicht zu Gesicht gegenüberstehen, Meister Stefano.«

»Schön! Trotz deiner Vorsicht, schlauer Herr, wollt ich von den Zechinen, die du mir bezahlen sollst, zehn Stück verwetten, daß ich morgen früh unter die Haufen des Markusplatzes gehen will und dich öffentlich bei Namen anrufen, unter Tausenden. Du kannst dich dreist demaskieren, denn ich sage dir, ich kenne dich so gut wie die Lateinsegelstange meiner Feluke.«

»Um so weniger brauche ich die Maske abzunehmen. Es gibt freilich gewisse Zeichen, an denen sich Leute wiedererkennen mögen, die so oft miteinander zu tun haben.«

»Du hast eine schmucke Gesichtsbildung, Signore, und brauchst sie nicht zu verstecken. Ich hab dich wohl erkannt unter den Herumzüglern, und du hast dich unbemerkt geglaubt. Und ich will dir so viel von dir selber erzählen, ohne dadurch einen Deut bei unserem Handel verdienen zu wollen, ein so schmucker Kerl wie du, Signore Roderigo, sollte lieber offen gehen, als sich hinter so einer Wolke zu verstecken.«

»Ich hab dir geantwortet. Dem Befehl des Staates muß Folge geleistet werden, aber da ich sehe, daß du mich kennst, so nimm dich in acht, es weiterzuplaudern.«

»Du bist bei deinem Beichtvater nicht sicherer, Diamine! Ich bin nicht der Mann, unter den Wasserhändlern herumzuscharwenzeln mit einem Geheimnis im Maule. Aber du lugtest seitwärts, als ich dir zuwinkte auf dem Kai beim Tanze mit den Masken. Nicht so, Roderigo?«

»Du bist geschickter, Meister Stefano, als ich gedacht hätte, abgerechnet deine Gewandtheit im Seefahren, die bekannt genug ist.«

»Es gibt zwei Dinge, Signore Roderigo, auf die ich stolz bin. Als Küstenfahrer gibt es wenige, die es mir gleichtun unter allerlei Winden, Schirokko, Levantwind und Westwind. Und zweitens, wenn es gilt, einen Bekannten auf der Maskerade zu erkennen, da will ich dir des Teufels Bockfuß sicherlich herausfinden, unter welche Verkleidung er sich stecke.«

»Das sind allerdings große Gaben für einen Mann, der von der See und einem gefährlichen Handel lebt.«

»Da kam ein gewisser Gino, Don Camillo Monfortes Gondoliere, ein alter Kamerad von mir, an Bord der Feluke und brachte ein maskiertes Frauenzimmer mit. Er hat das Mädel geschickt genug hier ausgesetzt, unter Fremden dachte er, aber ich hab sie auf den ersten Blick für die Tochter eines Weinhändlers erkannt, der schon von meinem Lacrimae Christi geschmeckt hat. Das Frauenzimmer war ärgerlich über den Streich, aber wir benützten die Gelegenheit und wurden einig über die paar Fässer, die unter dem Ballast lagen, während Gino auf dem Markusplatz ein Geschäft für seinen Herrn besorgte.«

»Was das für ein Geschäft war, hast du nicht erfahren, guter Stefane?«

»Was sollt ich, Meister Roderigo, der Gondoliere gönnte sich kaum Zeit zum Gruß, aber Annina –«

»Annina?«

»Jawohl. Du kennst Annina, des alten Tommaso Tochter; sie tanzte ja in derselben Reihe, in der ich deine Gestalt erblickte. Ich würde nicht so von dem Mädchen sprechen, wenn ich nicht wüßte, daß du selber der letzte nicht bist, der unverzolltes Getränk annimmt.«

»Was das betrifft, sei ohne Furcht. Ich hab dir geschworen, daß kein Geheimnis dieser Art über meine Lippen kommen soll. Aber diese Annina ist eine lebendige und kühne Dirne.«

»Unter uns, Signore Roderigo, es ist nicht leicht hier in Venedig zu sagen, wer im Solde des Senats steht und wer nicht. Ich hab mir oft eingebildet, nach deinen Manieren und dem Ton deiner Stimme zu urteilen, daß du der Galeerengeneral selber unter Verkleidung bist.«

»Und dies mit deiner Menschenkenntnis?«

»Wenn der Glaube niemals gegen Zweifel zu kämpfen hätte, so gälte er für kein Verdienst mehr.«

»Ich glaub’s wohl. Aber wer ist der Gino, von dem du gesprochen hast, und was hat sein Gewerbe als Gondoliere mit einer deiner Jugendbekanntschaften in Kalabrien zu tun?«

»Es sind Sachen dabei, von denen ich nichts weiß. Sein Herr, und ich kann auch sagen, mein Herr, denn ich bin auf seinen Gütern geboren, ist der junge Herzog von Sant‘ Agata – derselbe, der beim Senate Ansprüche macht auf die Reichtümer und Ehrenstellen des letzten Monforte, der im Rate saß. Die Rechtssache dauerte schon so lange, daß aus dem Burschen ein Gondoliere geworden ist, denn er hat immer hin und her rudern müssen zwischen dem Palast seines Herrn und den Palästen der Edeln, denen jener sein Anliegen vorzubringen hat – wenigstens erzählt Gino seine eigene Geschichte so.«

»Ich kenne den Mann. Er trägt die Farben seines Herrn. Hat er Verstand?«

»Signore Roderigo, nicht alle, die aus Kalabrien kommen, können sich dieses Vorzugs rühmen. Gino führt sein Ruder geschickt genug und ist ein so guter Junge nach seiner Art, als not ist. Aber ein bißchen tiefer zu sehen als bloß obenauf, nu! Gino ist ein Gondoliere.«

»Und geschickt in seinem Fach?«

»Von seinem Arm und Bein sag ich nichts, die mögen beide gut genug an ihrem Flecke sein. Aber wenn es auf Kenntnis von Menschen und Sachen ankommt – da ist der arme Gino bloß ein Gondoliere. Der Bursche ist außerordentlich gutmütig und nicht faul, einem Freunde zu dienen. Ich bin ihm gut, aber ich kann doch nicht mehr von ihm sagen, als wahr ist.«

»Gut, halt deine Feluke in Bereitschaft, denn wir wissen nicht, wie schnell sie gebraucht werden wird.«

»Bring nur deine Fracht, Signore! Der Handel soll gleich abgemacht sein.«

»Leb wohl – ich wollt dir empfehlen, dich aller anderen Geschäfte zu enthalten und aufzupassen, daß deine Leute nicht im Saus und Braus des morgenden Tages die nötige Nüchternheit verlieren.«

»Gott geleit dich, Signore Roderigo. – Es soll an nichts fehlen.«

Der Bravo sprang in seine Gondel, und diese flog mit einer Schnelligkeit dahin, daß man sah, welch ein geübter Arm das Ruder regierte. Er winkte mit der Hand noch ein Lebewohl, und das Boot verschwand unter den Schiffen, die den Hafen erfüllten.

Achtes Kapitel

Achtes Kapitel

Ein schönerer Tag, als dieser Nacht folgte, war noch selten heraufgekommen über die mächtigen Dome, über die prächtigen Paläste und schimmernden Kanäle Venedigs. Die Sonne stand noch nicht hoch über dem Horizont des Lido, als Hörner und Trompeten vom Markusplatze ertönten. Wie ein starkes Echo antworteten andere vom Arsenal. Tausend Gondeln glitten aus den Kanälen hervor und durchkreuzten in allen Richtungen den Hafen, die Giudecca und die verschiedenen Außenkanäle.

Die Bürger fingen an sich zu versammeln in ihrem Sonntagsputz, und zahllose Contadini landeten an den verschiedenen Brücken in der muntern Tracht des Festlandes. Der Tag war noch nicht weit vorgerückt, als alle Zugänge zum Markusplatz voll Gedränge waren, und während das Glockengeläute der ehrwürdigen Kathedrale freudige Klänge erschallen ließ, wimmelte der Platz von einer frohen Menge. Kurz, man sah Venedig und sein Volk in alter Heiterkeit eines italienischen Lieblingsfestes, der Ausfahrt des Dogen mit dem Buzentauren und die Zeremonie seiner symbolischen Vermählung mit dem Meer.

Inzwischen begannen reich verzierte und vergoldete Gondeln sich zu Hunderten im Hafen zu versammeln. Die Schiffe kamen sämtlich in Bewegung, und eine breite Straße ward eröffnet vom Kai, am Ende der Piazetta, bis zu dem entfernten Damm, der den Fluten des Adriatischen Meeres wehrt.

Sowie der Tag zunahm, vergrößerte sich die Volksmenge; die weiten Ebenen Paduas schienen alle ihre Bewohner herzugeben, um die Zahl der Fröhlichen zu vermehren. Dann kamen die reichen Fahrzeuge der fremden Gesandten, und dann unter dem Klang der Klarinetten und dem Geschrei des Volkes ruderte der Buzentaur aus dem Kanal des Zeughauses hervor und schwebte seinem Standorte am Kai des Markusplatzes zu.

Nach diesen Präliminarien, die einige Stunden währten, sah man die Pikenträger des Staatsoberhauptes eine Gasse im Gedränge eröffnen. Darauf verkündigten die Harmonien vieler Instrumente die Ankunft des Dogen.

Da drängte sich durch die Wachen ein Mann mit gebräuntem Gesicht, mit bis ans Knie nackten Beinen und offener Brust und warf sich auf den Steinen des Kais dem Dogen zu Füßen.

»Gerechtigkeit – großer Fürst!« schrie der kühne Fremde. »Gerechtigkeit und Gnade! Höre einen Untertan, der für San Marco geblutet und der seine Narben zu Zeugen hat.«

»Gerechtigkeit und Gnade sind nicht immer Gefährten!« bemerkte ruhig der Mann, der die gehörnte Mütze trug, und bedeutete seinem Gefolge, den Eingedrungenen nicht zu verscheuchen.

»Mächtiger Fürst, ich komm, um Gnade zu bitten.«

»Wer bist du, und was treibst du?«

»Ein Fischer von den Lagunen, ich heiße Antonio und bitte um Freiheit für die Stütze meines Alters – einen prächtigen Knaben, den mir die Politik des Staates gewaltsam entrissen hat.«

»Das sollte nicht sein. Gewalt ist nicht eine Eigenschaft der Gerechtigkeit – aber der junge Mensch hat wohl die Gesetze verletzt und büßt sein Verbrechen?«

»Seine Schuld, großer und erhabener Gebieter, ist Jugend, Gesundheit und Kraft und einige Geschicklichkeit im Schifferhandwerk. Ohne seine Zustimmung haben sie ihn hinweggeführt zum Galeerendienst, und ich bin allein in meinem Alter.«

Der teilnehmende Ausdruck, der sich über die Züge des Fürsten ergossen hatte, verwandelte sich augenblicklich. Das Auge, das noch eben von Mitgefühl erglänzte, wurde kalt und der Blick entschlossen, und indem er seinen Wachen winkte, Verbeugte er sich mit Würde gegen die fremden Gesandten, die aufmerksam und neugierig umherstanden, zum Zeichen, daß er aufbrechen wolle.

»Schafft ihn hinweg!« rief ein Offizier, der des Dogen Blick verstanden hatte. »Die Feierlichkeiten sollen um solch ein müßiges Gesuch nicht verzögert werden.«

Antonio widerstand nicht, sondern von denen gedrängt, die ihn umringten, wich er bescheiden zurück unter die Menge. In wenigen Augenblicken war die durch diese kurze Szene hervorgebrachte Unterbrechung vergessen.

Als der Fürst mit seinem Gefolge Platz genommen und sich ein Admiral an das Steuerruder gestellt hatte, bewegte sich das große prächtige Schiff mit seinen vergoldeten Galerien, ganz erfüllt von Menschen, schwer und gewaltig vom Kai hinweg. Seine Abfahrt wurde wieder von einer Fanfare der Trompeten und Klarinetten und vom Jauchzen des Volkes begleitet. Die Haufen drängten sich nun an den Rand des Wassers, und als der Buzentaur etwa die Mitte des Hafens erreicht hatte, war die Flut schwarz von den Gondeln, die sich anschlossen.

Der Buzentaur machte endlich halt, ein Raum um ihn her wurde von allen Barken frei gemacht, und der Doge trat auf eine Galerie, die so hoch war, daß ihn jeder sehen konnte. Er erhob einen von Edelsteinen glänzenden Ring, und nachdem er die Trauungsworte gesprochen hatte, senkte er diesen ins Meer, in den Schoß seiner vermeintlichen Gemahlin. Beifallsgeschrei erhob sich, Trompeten schmetterten, und jede Dame wehte mit ihrem Schnupftuche, die freudige Verbindung zu beglückwünschen. Mitten unter dem Lärm, den besonders der Kanonendonner vom Bord der Kreuzer im Kanal und vom Geschütze des Zeughauses vergrößerte, glitt ein einzelnes Boot in den unter der Galerie des Buzentauren gelassenen offenen Raum. Die leichte Gondel regierte ein geschickter und noch kräftiger Arm, obgleich das Haar des Ruderers spärlich und grau war. Ein flehender Blick traf die freudeglänzenden Gesichter im Gefolge des Fürsten; darauf wandte sich das Auge aufmerksam dem Wasser zu. Eine kleine Fischerboje fiel aus dem Boote, das so schnell verschwand, daß unter dem Leben und Getümmel des Augenblicks die ganze Erscheinung von der aufgeregten Masse kaum wahrgenommen wurde.

Die Prozession schiffte nun wieder der Stadt zu. Das Volk erfüllte die Luft mit Freudengeschrei über die glückliche Beendigung einer Zeremonie, der ihr Alter und die Sanktion des Papstes eine Art Heiligkeit gegeben hatte, die noch durch Aberglauben vermehrt ward. Einigen freilich von den Venezianern selber war die berühmte Vermählung mit dem Adriatischen Meere ganz gleichgültig, und manche Gesandte der bedeutenden nördlichen Seemächte, die der Feierlichkeit beiwohnten, bargen kaum ihr Lächeln. Aber der Einfluß der Gewohnheit, weil sich auch selbst Anmaßung, wenn sie lange und mit Ausdauer behauptet wird, unter den Menschen in Geltung setzt, war noch so mächtig, daß weder die zunehmende Ohnmacht Venedigs noch das bekannte Übergewicht anderer Mächte auf dem Elemente, das durch dieses Prunkfest als Besitz des heiligen Markus zur Schau gestellt ward, die Ansprüche Venedigs so lächerlich machte, als sie verdient hätten.

Der Buzentaur kehrte nicht geradewegs zum Kai zurück, um seine schwere und würdereiche Last abzusetzen; sondern mitten im Hafen warf das verzierte Schiff Anker, der weiten Mündung des großen Kanals gegenüber. Hier waren Beamte seit dem frühen Morgen geschäftig gewesen, alle großen Fahrzeuge und schweren Boote, deren Hunderte im Hauptkanal der Stadt lagen, aus der Mitte der Straße hinwegzuräumen. Jetzt luden Herolde die Bürger ein, der Regatta beizuwohnen, die die öffentlichen Feierlichkeiten des Tages beschließen sollte.

Venedig ist in dieser Art von Kampfspiel durch die eigentümliche Geübtheit und zahllose Menge seiner Bootsleute seit alter Zeit berühmt gewesen. Sobald der Buzentaur seinen Stand eingenommen hatte, wurden einige dreißig bis vierzig Gondolieri, aufs beste geputzt, im Kreise vieler besorgter Freunde und Verwandten vorgeführt. Man erwartete, daß sie den altbegründeten Ruhm ihrer verschiedenen Familien aufrechterhalten würden, und rief ihnen die Belohnungen des Sieges in das Gedächtnis, sie stärkten sich durch Gebete zu den Heiligen; endlich wurden sie unter dem Zurufe und den Segenswünschen der Menge entlassen, um ihre bestimmten Plätze dicht an dem Spiegel des Prunkschiffes einzunehmen.

Venedig wird durch seinen breitesten Kanal in zwei beinahe gleiche Massen geteilt. Dieser heißt Canale Grande (großer Kanal ) wegen seiner Breite und Tiefe und wegen seiner größeren Wichtigkeit für die Stadt. Auf diesem Kanal sollte die Regatta vor sich gehen, weil er hinreichend lang und geräumig war und weil die Paläste der angesehensten Senatoren, die seine Ufer säumten, den Zuschauern des Kampfes die meiste Bequemlichkeit darboten.

Die Bewerber nahmen ihre Plätze ein. Die Gondeln waren bei weitem größer als die gemeinhin üblichen, und eine jede war mit drei Bootsleuten bemannt und wurde von einem vierten gelenkt, der auf dem kleinen Verdeck des Hinterteiles am Ruder stand und steuernd zugleich das Boot beschleunigen half. An den Seiten waren kleine Stäbe mit Flaggen aufgesteckt, die mit den Farben verschiedener edeln Familien der Republik oder mit andern einfachen Devisen nach der Erfindungsgabe ihrer Besitzer geziert waren. Einige Schwenkungen mit den Rudern wurden gemacht; die Boote tanzten, so wie die Rennpferde zu kurbettieren pflegen, und als zum Signale eine Kanone gelöst wurde, flogen die Gondeln wie von selbst bewegt dahin. Ihrem Laufe folgte ein Zurufen den Kanal entlang, und eine eilfertige Bewegung der Köpfe ging schnell von Balkon zu Balkon.

Einige Minuten lang war der Unterschied der Kraft und Geschicklichkeit nicht sehr merklich. Keine von den zehn Gondeln zeigte sich im Vorteile. Nun aber, als die überwiegende Kunst des Steuermannes oder die größere Ausdauer der Rudernden oder ein verborgener Vorzug des Bootes selber hier und da wirksam zu werden anfing, teilte sich allmählich der Haufen der Fahrzeuge. Der ganze Zug schoß unter der Rialtobrücke durch, so nah einer dem andern, daß der Sieg noch zweifelhaft war, und nun kam die wetteifernde Reihe dem Gesichtskreise der vornehmsten Personen des Staates auf dem Buzentaur näher.

Die Schwächeren fingen an nachzulassen, der Zug verlängerte sich, nach und nach wurden die Entfernungen zwischen den einzelnen Booten größer, während die Entfernung vom Ziel geringer wurde; endlich schossen drei Boote wie fliegende Pfeile, kaum eine Bootslänge auseinander, unter das Vorderteil des Buzentauren. Der Preis war gewonnen, die Sieger erhielten ihre Belohnung, und die Artillerie tat ihre üblichen Freudenschüsse.

Ein Herold verkündigte, daß ein neuer Wettkampf anderer Art beginne. Dieser, der ein Nationalrennen heißen könnte, stand nach altem Herkommen nur den anerkannten Gondolieri Venedigs offen. Der Preis war vom Staate festgesetzt, und das Ganze hatte einen förmlichen, fast politischen Charakter. Es wurde indessen bekanntgemacht, daß ein Wettlauf stattfinden sollte, an dem ein jeder teilnehmen dürfte, ohne Rücksicht auf Rang und Stand. Ein goldenes Ruder, das an einer Kette von demselben kostbaren Metalle hing, ward als das Geschenk des Dogen für den vorgezeigt, der die meiste Geschicklichkeit und Kraft entwickeln würde. Der zweite Preis war ein ähnlicher Zierat von Silber und der dritte ein kleines Boot von geringerem Metall. Die Fahrt sollte in den gewöhnlichen leichten Fahrzeugen der Kanäle ausgeführt werden, und da es galt, jene der Inselstadt eigentümliche Kunst zu zeigen, so durfte nur ein Ruderer die Gondel regieren, dem also das Forttreiben und Lenken des Fahrzeugs zugleich oblag. Alle, die sich anzuschließen wünschten, erhielten die Weisung, sich nach dem Spiegel des Buzentauren binnen einer festgesetzten ganz kurzen Frist zu begeben, damit ihr Wunsch vorgemerkt würde. Da diese Anzeige schon früher bekanntgemacht worden war, so verging nicht viel Zeit zwischen den beiden Wettkämpfen.

Aus der Schar von Booten, die den für die Bewerber offengelassenen Platz umringten, fuhr zuerst ein öffentlicher Gondoliere hervor, der wegen seines geschickten Ruders und wegen seines Gesanges auf den Kanälen berühmt war.

»Wie heißest du, und welchem Namen vertrauest du dein Glück an?« fragte ihn der Herold.

»Bartolomeo heiß ich, wie alle wissen, und befinde mich stets zwischen der Piazetta und dem Lido. Als ein ergebener Venezianer vertraue ich auf San Teodoro.«

»So bist du wohlbeschützt. Nimm deinen Platz ein und erwarte dein Glück.«

Voll Selbstbewußtsein schlug der Gondoliere das Wasser mit einer Rückbewegung seines Ruders, und die leichte Barke flog mitten in den leeren Raum hinein.

»Und wer bist du?« fragte der Beamte den nächsten.

»Enrico, Gondoliere von Fusina. Ich komme, um es mit den Prahlhänsen der Kanäle durch mein Ruder aufzunehmen.«

»Auf wen setzest du dein Vertrauen?«

»Auf Sant‘ Antonio di Padua.«

»Du wirst seine Hilfe nötig haben, wir loben aber deinen Mut. Fahre hinein und nimm Platz.«

»Und wer bist du?« fuhr er, zu einem dritten gewendet fort, als der zweite die kunstreiche Leichtigkeit dem ersten nachgetan hatte.

»Ich bin Gino von Kalabrien, Gondoliere in Privatdiensten.«

»Welchem Edeln dienest du?«

»Dem erhabenen und vortrefflichen Don Camillo Monforte, Herzog und Herr von Sant‘ Agata in Napoli und der seinem Recht nach Senator von Venedig ist.«

Unter den Senatoren war eine Bewegung bei Ginos Antwort entstanden, und der halb erschreckte Bursche glaubte saure Blicke auf manchen Gesichtern wahrzunehmen. Er schaute sich nach dem um, den er gepriesen hatte, als solle ihm der zu Hilfe kommen.

»Willst du deinen Schutzpatron in diesem großen Wettkampfe nicht nennen?« hob der Herold wieder an.

»Mein Gebieter«, sagte der bestürzte Gino, »und St. Januarius und St. Markus.«

»Du bist wohlbeschützt. Sollten dir die beiden letzteren fehlen, so kannst du auf den ersten doch mit Sicherheit zählen.«

»Signore Monforte hat einen berühmten Namen und ist uns willkommen bei unsern Spielen in Venedig«, bemerkte der Doge, sich leicht verbeugend gegen den jungen kalabrischen Edeln, der ganz in seiner Nähe aus einer Prunkgondel dem Schauspiel mit großer Teilnahme zusah. Er dankte dem Dogen mit einer tiefen Verbeugung dafür, daß er die Spöttereien des Beamten unterbrochen hatte, und das Geschäft ging seinen Gang fort.

»Begib dich an deinen Platz, Gino von Kalabrien, und das Glück geleite dich«, sagte der Beamte, und sich dem nächsten Bewerber zuwendend, sagte er verwundert: »Weshalb kommst du hierher?«

»Um die Schnelligkeit meiner Gondel zu versuchen.«

»Du bist alt und diesem Kampfe nicht mehr gewachsen. Spare deine Kraft für dein Tagewerk. Ein übel angebrachter Ehrgeiz hat dich zu diesem nutzlosen Unternehmen bewogen.«

Der neue Bewerber hatte ein gemeines Fischerboot von gutem Bau und hinlänglicher Leichtigkeit, aber abgenutzt durch den täglichen Gebrauch, unter die Galerie des Buzentauren gebracht. Er nahm den Vorwurf demütig hin und war schon im Begriff, sein Boot mit trauriger, gekränkter Miene umzuwenden, als ein Zeichen des Dogen ihn zurückhielt.

»Frage ihn wie gewöhnlich«, sagte der Fürst.

»Wie heißest du?« fuhr der Beamte widerstrebend fort.

»Ich bin Antonio, ein Fischer von den Lagunen.«

»Du bist alt.«

»Signore, das weiß niemand besser als ich, denn es sind sechzig Sommer, seitdem ich zum ersten Male Netz oder Schnur in das Wasser warf.«

»Du bist auch nicht so gekleidet, wie sich’s bei einer Regatta vor dem Adel Venedigs geziemt.«

»So gut, als ich’s habe. Mögen die sich, die den Edeln mehr Ehre machen wollen, besser kleiden.«

»Der Kampf steht allen offen«, sagte der Doge. »Doch würde ich dem armen, alten Mann empfehlen, Rat anzunehmen. Man gebe ihm Geld, denn gewiß treibt ihn die Not zu diesem hoffnungslosen Versuch.«

»Du hörst es, Almosen wird dir geboten. Mache nur denen Platz, die zum Spiele tüchtiger und besser angetan sind.«

»Der Kampf, sagten sie, stehe allen offen, und ich bitte die Edeln um Verzeihung, weil ich nicht gemeint habe, ihnen Unehre zu machen.«

»Gerechtigkeit im Palaste und Gerechtigkeit auf den Kanälen«, fiel der Fürst hastig ein. »Wenn er drauf besteht, so hat er ein Recht dazu. Es ist der Stolz der Republik, daß sie die Waage im Gleichgewicht erhält.« »So will ich denn versuchen, was dieser nackte Arm noch vermag«, sagte Antonio. »Meine Gliedmaßen sind voll Narben, aber die Türken haben ihnen vielleicht doch noch Kraft genug gelassen zu dem Wenigen, was ich begehre.«

»Auf wen setzest du dein Vertrauen?«

»Auf den gelobten St. Antonius vom wunderbaren Fischzug.«

»So nimm deinen Platz. Ha, hier kommt jemand, der nicht gekannt sein will. Heda! Wer erscheint mit einem solchen falschen Gesicht?«

»Nenn mich Maske!«

»Ist es Ew. Hoheit Wille, daß ein verkleideter Mann am Spiele teilnehme?«

»Ohne Zweifel. Eine Maske ist geheiligt in Venedig. Es ist der Ruhm unserer vortrefflichen und weisen Gesetze, daß sie einem jeden, der seine eigenen Gedanken für sich haben will oder der die Züge seines Gesichtes vor der Neugier bergen will, verstatten, unsere Straßen und Kanäle zu durchziehen, so sicher, als wäre er in seinem eigenen Hause.

Dies sind die heiligen Vorrechte der Freiheit, und das will es sagen, ein Bürger zu sein in einer hochherzigen, edelgesinnten, freien Republik«

Tausende verneigten sich diesem Ausspruche beifällig, und es verbreitete sich von Mund zu Mund das Gerücht, ein junger Adeliger sei im Begriffe, seine Tüchtigkeit in der Regatta zu versuchen, zur Ehre einer eigensinnigen Schönen.

»Das ist Gerechtigkeit!« rief der Herold mit lauter Stimme, als bezwänge in dem Feuer des Augenblicks die Bewunderung selbst seine Ehrerbietung. »Glücklich, wer in Venedig geboren ist! Auf wen verlassest du dich?«

»Auf meinen eigenen Arm!«

»Ha, das ist gottlos! Ein Übermütiger soll nicht das Vorrecht dieser Spiele genießen.«

Ein allgemeines Murren, wie es sich bei plötzlicher und heftiger Aufregung der Menge zu erheben pflegt, folgte der schnellen Äußerung des Herolds.

»Die Kinder des Staates«, bemerkte der ehrwürdige Fürst, »stehen alle unter einer unparteiischen Behörde. Das ist unser gerechter Stolz. Doch das ist keinem vergönnt, die Anrufung der Heiligen abzulehnen.«

»Nenne deinen Patron oder verlaß diesen Ort«, fuhr der gehorsame Herold fort.

Der Fremde schwieg einen Augenblick, als lese er in seinem Innersten, und erwiderte dann: »St. Johannes von der Wüste.«

»Du nennst einen Namen von gesegnetem Andenken.«

»Ich nenne einen, der sich vielleicht über mich erbarmt in dieser belebten Wildnis.«

»Du mußt die Stimmung deines Gemüts am besten selbst kennen, aber diese ehrwürdige Versammlung von Patriziern, dieser glänzende Kreis von Schönheiten und dies stattliche Volk heischen eine bessere Bezeichnung. Nimm deinen Platz ein!«

Während der Herold noch drei oder vier andere Gondolieri, die in Privatdiensten standen, als Teilnehmer vermerkte, lief ein Gemurmel durch die Zuschauer, das den Anteil und die Neugier verkündete, die durch das Auftreten und die Antworten der beiden zuletzt erwähnten Bewerber erregt wurden. Der Herold machte kund, daß die Liste geschlossen sei, und die Gondeln wurden, wie zuvor, nach dem Platze des Auslaufs bugsiert, so daß der Raum am Spiegel des Buzentauren leer blieb. Die folgende Szene ging daher gerade unter den Augen jener ernsten Männer vor sich, die sich mit den meisten Privatverhältnissen der Familien nicht minder als mit den öffentlichen Angelegenheiten Venedigs zu beschäftigen pflegten.

Es schwärmten nämlich viele Gondeln umher, und unmaskierte Damen von hoher Geburt saßen darin, begleitet von Kavalieren in reichem Putz. Hier und da blitzten ein Paar schwarze, leuchtende Augen durch die seidene Maske, die das Antlitz einer Schönen barg. Eine Gondel vor allen andern trug eine herrliche Gestalt, deren Schönheit und Anmut sogar durch die halbe Verkleidung, in die sie sich hüllte, hindurchschimmerten. Das Fahrzeug, die Diener und die Damen, denn es waren ihrer zwei im Boote, zeichneten sich aus durch jene vollendete Einfachheit des Äußeren, die häufiger bei einem gebildeten Geschmack angetroffen wird als prunkende Überladung des Schmuckes. Ein Karmeliter, dessen Gesicht sich in der Kutte barg, ließ auf den hohen Stand der Damen schließen und verlieh als ein ernster Beschützer ihrer Erscheinung Würde. Hundert Gondeln näherten sich dieser einen und schlüpften wieder hinweg nach vergeblichem Bemühen, die Damen durch die Verkleidung zu erkennen. Geflüster und Fragen über Namen und Stand der jungen Schönheit liefen aber von einem zum andern. Endlich fuhr in den Kreis der Neugierigen eine stattliche Barke ein, mit wohlberechneter Pracht ausgestattet und mit Gondolieri in prächtiger Livree bemannt Ein einziger Kavalier saß darin. Er erhob sich und begrüßte die maskierten Damen mit der Sicherheit eines an vornehmen Umgang gewöhnten Mannes, aber mit der Zurückhaltung tiefer Ehrfurcht.

»Mein Lieblingsdiener«, sagte er galant, »nimmt an diesem Rennen teil, und ich kann auf seine Geschicklichkeit und Kraft Vertrauen setzen. Ich habe mich bisher vergeblich nach einer so schönen und tugendhaften Dame umgeschaut, daß ich sein Glück an ihr wohlwollendes Lächeln knüpfen könnte, nun aber suche ich nicht weiter.«

»Ihr habt ein durchdringendes Auge, Signore, daß Ihr auch unter diesen Masken das entdeckt, was Ihr suchet«, erwiderte eine von den Damen, während sich ihr Begleiter, der Karmeliter, mit Anstand bei der Höflichkeit des Fremden verbeugte.

»Erkennt man sich denn nur an den Augen, meine Damen, und bewundert nur mit den Sinnen? Ihr mögt Euch verstecken, wie Ihr wollt, ich weiß es dennoch, daß mir das schönste Gesicht nahe ist, das wärmste Herz und das reinste Gemüt in ganz Venedig.«

»Eine kühne Prophezeiung, Signore!« sagte die ältere von den beiden Frauen und sah auf ihre Gefährtin, als wollte sie erforschen, welche Wirkung auf diese die galante Rede hervorbringe. »Venedig ist berühmt durch die Schönheit seiner Frauen, und Italiens Sonne erwärmt manch edles Herz.«

»So herrliche Gaben sollten lieber zum Preise des Schöpfers als des Geschöpfes angewendet werden«, murmelte der Mönch.

»Es gibt doch Leute, heiliger Vater, die für beide Bewunderung hegen. Dies, darf ich hoffen, ist wenigstens das glückliche Los derer, deren der geistliche Rat eines so tugendhaften und weisen Mannes zugute kommt, als Ihr seid. Ihr überlasse ich mein heutiges Glück, komme, was da wolle, und ihr möcht ich gern wohl mehr überlassen, wenn ich dürfte.«

So sagte der Kavalier und überreichte der schweigenden Schönen einen Strauß der lieblichsten, duftigsten Blumen. Es waren auch solche darunter, denen die Dichtung die Bedeutung der Liebe und Treue beilegen. Die Dame, der dies artige Geschenk dargeboten ward, war unschlüssig, ob sie es annehmen dürfte.

»Nimm die Blumen, meine Liebe!« flüsterte ihr die Gefährtin sanft zu. »Der Kavalier, der sie darbietet, will nur einen Beweis seiner guten Lebensart geben.«

»Das wird sich am Ende zeigen«, versetzte hastig Don Camillo – denn er war es. »Signora, lebet wohl. Wir sind uns auf diesem Wasser wohl begegnet, wo uns weniger Zurückhaltung auferlegt war.«

Er verneigte sich und gab seinem Gondoliere ein Zeichen. Sogleich verlor er sich unter der Menge der Gondeln. Jedoch, ehe sich die Boote voneinander trennten, lüftete die Schöne ihre Maske ein wenig, als suchte sie Kühlung durch die frische Luft, und der Neapolitaner ward belohnt durch einen flüchtigen Blick in Violettas glühendes Gesicht.

»Dein Vormund blickt sehr verdrießlich her«, bemerkte Donna Florinde schnell. »Ich wundere mich, daß man uns erkannt hat.«

»Ich würde mich mehr wundern, wenn man uns nicht erkannt hätte. Ich würde den edeln neapolitanischen Kavalier unter Millionen herausfinden! Du denkst nicht an alles, was ich ihm schuldig bin.«

Donna Florinde erwiderte nichts. Sie wechselte mit dem Karmeliter verstohlen einen Blick voll Besorgnis; sie schwiegen aber beide, und es folgte dem Begegnen eine lange, gedankenvolle Pause.

Da weckte ein Kanonenschuß und ein Getümmel auf dem Canale Grande, dem Orte des beginnenden Kampfes, zunächst und danach eine helle Trompetenfanfare die kleine Gesellschaft aus ihrem Sinnen und erinnerte die ganze fröhliche, lachende Menge an ihren gegenwärtigen Zweck.

Neuntes Kapitel

Neuntes Kapitel

Wir haben gesehen, daß die zur Wettfahrt bestimmten Gondeln an den Ort des Auslaufs bugsiert wurden, damit die Gondolieri den Kampf mit unverringerten Kräften beginnen könnten. Bei dieser Vorsichtsmaßregel hatte man auch den halbbekleideten Fischer nicht vergessen und auch sein Boot mit an die größeren Barken befestigt, denen dies Geschäft oblag. Nun aber, als er den Kanal entlang, an den vollgedrängten Balkonen und ächzenden Schiffen, die ihn auf beiden Seiten säumten, vorüberkam, erhob sich ein verspottendes Gelächter.

Dem alten Manne entgingen die Bemerkungen nicht, die über ihn gemacht wurden.

Er schaute sehnsüchtig umher und schien in jedem Auge, dem er begegnete, ein wenig von dem Mitleid zu suchen, danach noch sein gedrücktes Herz begehrte. Aber selbst seine Handwerksgenossen ließen ihn Spottreden hören, und obgleich er vielleicht der einzige war von allen Bewerbern, dessen Ehrbegier ein trefflicher Beweggrund rechtfertigte, so galt er doch allen für die beste Zielscheibe ihres Witzes.

Die Bewegung der Boote brachte den maskierten Schiffer neben den bespöttelten Alten.

»Du bist nicht der Liebling der Menge bei diesem Kampfe«, bemerkte der erstere, als sich eine neue Flut von Spötteleien über seinen Nachbar ergoß. »Du warst nicht sorgfältig genug in deinem Anzug. Denn diese Stadt liebt die Pracht, und wer ihren Beifall begehrt, muß nicht auf den Kanälen so erscheinen mit den Spuren der Armseligkeit in seinem Äußeren.«

»O, ich kenne sie, ich kenne sie!« entgegnete der Fischer. »Sie überheben sich in ihrem Stolz und denken schlecht von jedem, der ihre Eitelkeit nicht mitmachen kann.«

»Du hättest dir die Sache besser bedenken sollen, ehe du dich so vieler Kränkung aussetztest. Wenn du unterliegst, so wird dich das Volk nicht mit größerer Schonung behandeln.«

»Mich hat eine schwere Trübsal betroffen, und vielleicht trägt dieser Wettlauf dazu bei, die Last meines Kummers zu vermindern. Ich kann nicht sagen, daß ich all dies Gelächter und diese verächtlichen Reden anhöre, wie man dem Abendwinde auf den Lagunen horcht – denn ein Mensch bleibt ein Mensch, und wenn er unter den Ärmsten lebt und sein Unterhalt der kümmerlichste ist. Aber lasset es gut sein, St. Antonio wird mir Kraft geben, es zu ertragen.«

»Du hast einen wackern Sinn, Fischer, und ich wollte gern auch meinen Patron bitten, deinen Arm zu kräftigen, wenn ich nicht selber des Sieges sehr benötigt wäre. Willst du dich aber mit dem zweiten Preise begnügen, wenn ich dich durch irgendeine Praktik in deiner Anstrengung begünstigen kann? – Denn das Metall des dritten Preises wird dir, denk ich, ebensowenig behagen als mir.«

»Was mich betrifft, so zähl ich weder auf Gold noch Silber.«

»Kann es bloß die Ehre des Kampfes sein, wonach ein so alter Mann trachtet?«

Der Greis sah seinen Gefährten ernst an, schüttelte dann aber, ohne zu antworten, den Kopf. Neue Späße auf seine Kosten bewogen ihn, sich nach den Spottvögeln umzuschauen, und er sah, daß sie eben bei einer Schar seiner eigenen Kameraden von den Lagunen vorüberkamen, die sich einzubilden schienen, daß sein unverzeihliches Streben auf die Ehre ihres ganzen Standes gewissermaßen ein schlechtes Licht würfe.

»Heda, alter Antonio«, rief der Dreisteste des Haufens, »bist du nicht zufrieden, daß du mit dem Netze Dank gewonnen hast, und willst noch ein goldnes Ruder um den Hals haben?«

»Wir werden ihn noch im Senate sitzen sehen!« schrie ein zweiter.

»Wir werden den edeln Admiral Antonio im Buzentaur daherfahren sehen mit den Edeln des Landes«, fügte ein dritter hinzu.

Ihrem Witz folgte immer ein wieherndes Gelächter. Selbst die Schönen auf den Balkonen wurden mit angesteckt durch das unaufhörliche Gespött und durch das so augenscheinliche Mißverhältnis zwischen dem Zustande und den Mitteln des seltsamen Bewerbers um den Sieg bei der Regatta. Das Vorhaben des alten Mannes fing schon an schwankend zu werden, aber ein innerer Trieb schien ihn zu nötigen und zu kräftigen, daß er standhielt.

Sein Nebenmann beobachtete mit Aufmerksamkeit den wechselnden Ausdruck eines Gesichtes, das nicht genug an Verstellung gewöhnt war, um innere Gefühle zu verbergen; und als sie sich dem Orte des Auslaufs näherten, begann er von neuem: »Noch hast du Zeit, dich zurückzuziehen! Warum sollte sich ein Mann von deinen Jahren die wenige Zeit, die ihm noch vergönnt ist, verbittern lassen durch den Spott seiner Kameraden, der nicht enden wird, solang er lebt?«

»Sankt Antonius hat ein größeres Wunder getan, als er die Fische heraufkommen hieß, um seine Predigt anzuhören, darum will auch ich nicht Feigheit verraten in einem Augenblick, wo es Entschlossenheit gilt.«

Der maskierte Schiffer bekreuzigte sich fromm, und da er nicht mehr hoffte, jenen zu bereden, daß er von seinem vergeblichen Bemühen abstehe, so richtete er alle seine Gedanken auf seinen eigenen Vorteil in dem bevorstehenden Kampfe.

Der Canale Grande, wenn man seine Windungen einrechnet, ist über eine halbe Meile lang. Man nahm daher zu dem Wettfahren nur etwa die Hälfte seiner Länge und bestimmte zum Punkte des Auslaufs den Rialto. Dort wurden alle Gondeln hingebracht, in Begleitung derer, die sie ordnen sollten.

»Gino von Kalabrien«, rief der ordnende Marschall. »Du stellst dich zur Rechten auf. Sankt Januarius geleite dich!«

Don Camillos Diener ergriff sein Ruder, und sein Boot glitt zierlich an den angewiesenen Platz.

»Du bist der nächste, Enrico von Fusina. Ruf deinen Schutzpatron von Padua nur wacker an und sei sparsam mit deiner Kraft. Denn noch hat keiner vom Festland je einen Preis gewonnen in Venedig.«

Darauf nannte er der Reihe nach alle, deren Namen wir nicht angeführt haben, und ließ sie nebeneinander mitten im Kanal aufstellen.

»Hier ist dein Platz, Signore!« fuhr der Marschall fort, sich dem unbekannten Gondoliere zuneigend. Denn auch er hatte den Eindruck bekommen, daß sich hinter der Maske das Gesicht eines jungen Patriziers berge, der dem Einfalle einer launischen Schönen willfahre. »Der Zufall hat dir die äußerste linke Seite bestimmt.« »Du hast vergessen, den Fischer aufzurufen«, bemerkte der Maskierte, während er seine Gondel in die angewiesene Lage brachte.

»Besteht der grauköpfige Narr noch darauf, seine Eitelkeit und seine Lumpen vor den Besten Venedigs zur Schau zu stellen?«

»Ich kann den Nachtrab bilden«, erwiderte Antonio geduldig.

»Mögen die in der Linie bleiben, für die es sich nicht schickt, sich einem Menschen, wie ich bin, zuzugesellen. Ein paar Stöße mit dem Ruder mehr oder weniger können bei einer so langen Fahrt wenig austragen.«

»Es würde besser sein, wenn du so bescheiden als anspruchslos wärest und zurückbliebest.«

»Wenn’s Euch beliebt, Signore, will ich lieber versuchen, was der heilige Antonius für einen alten Mann tun mag, der abends und morgens seit sechzig Jahren zu ihm gebetet hat.«

»Es ist dein Recht, und da du zufrieden damit scheinst, so behalte deinen Platz im Nachzuge. Du hast ihn so nur einige Augenblicke früher, als du ihn sonst gehabt haben würdest. Erinnert euch jetzt an die Regeln des Kampfes und rufet eure Schutzheiligen noch einmal an. Kein Ausfahren, noch andere schlechte Mittel dürfen angewendet werden, es gilt nichts als flinke Ruder und hurtiges Gelenk. Wer unnütz aus der Linie weicht, ehe er an der Spitze ist, soll beim Namen zurückgerufen werden, und wer schuldig befunden wird, das Spiel irgendwie gestört oder die Patrizier auf andere Weise erzürnt zu haben, soll angehalten und außerdem bestraft werden. – Haltet euch bereit zum Signale.«

Der Spielgehilfe, der sich in einem stark bemannten Boote befand, fuhr ein wenig zurück, während Eilboote, ähnlich ausgerüstet, voranflogen, die Neugierigen vom Wasser zu vertreiben. Kaum waren diese Vorbereitungen gemacht, so flatterte vom nächsten Dome ein Zeichen, ein ähnliches erschien alsbald auf dem Campanile, und vom Arsenal ward eine Kanone gelöst. Ein dumpfes, unterdrücktes Murmeln erhob sich unter der Menge, und eine erwartungsvolle Pause folgte.

Jeder Gondoliere hatte die Seite seines Bootes ein wenig dem linken Ufer des Kanals zugewendet, wie der Jockei zu tun pflegt mit seinem Renner, um dessen Feuer zurückzuhalten oder seine Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Aber der erste lange und breite Schwung des Ruders brachte sie alle wieder in eine Linie, und in einem Zuge flogen sie dahin.

Während der ersten paar Minuten war in der Geschwindigkeit der Gondeln kein Unterschied, und der Kundige konnte aus keinerlei Wahrzeichen auf den mutmaßlichen Erfolg schließen. Die zehn, die die Vorderreihe bildeten, durchstrichen die Flut mit gleichförmiger Schnelligkeit einer neben dem anderen, als hielte sie eine geheime Kraft zusammen, während die anspruchslose, aber ebenfalls leichte Barke des Fischers im Nachzuge blieb. Bald gewann ein jeder Gewalt über sein Fahrzeug. Die Ruder bewegten sich im richtigen Gleichgewicht und weitesten Schwünge, und die Handgelenke ihrer Führer wurden geschmeidig. Nun begann die Linie zu schwanken. Sie wallte hin und her, indem ein flimmerndes Schiffsvorderteil dem andern zuvorstrebte; da gewann das Ganze eine andere Gestalt. Enrico von Fusina war der vorderste, und nach dem Vorrecht dieses Gewinns trieb er unmerklich der Mitte des Kanals zu und vermied durch diesen Wechsel die Kreiswellen und sonstigen Hindernisse des Ufers.

Dies Manöver, in der Kunstsprache das »Gewinnen des Gleises«, brachte ihm außerdem den Vorteil, daß die von seiner Gondel zurückgeworfenen Wellen seinen Hintermann ein wenig hinderten. Zunächst kam der starke und gewandte Bartolomeo vom Lido, wie ihn seine Kameraden nannten, und schlug eine solche Bahn hinter seinem Vordermanne ein, daß ihm die Rückwirkung von dessen Ruder keinen Schaden tat. Bald schoß auch Don Camillos Diener aus der Reihe hervor, und man sah ihn weiter zur Rechten, aber ein wenig hinter Bartolomeo seine Arme kräftig rühren. In der Mitte des Kanals, und möglichst dicht hinter dem Schiffer vom Festlande, folgte ein geschlossener Haufen ohne viel Ordnung und mit wechselndem Vorteil, in dem einer den andern zum Ausweichen zwang oder auf andere Weise die Schwierigkeit der Fahrt vermehrte. Weiter zur Linken und den Häusern so nah, daß er nur eben Raum genug für die Bewegung seines Ruders hatte, fuhr der maskierte Mitkämpfer, dessen Eile durch eine verborgene Ursache gehemmt schien, denn er blieb hinter allen anderen zurück, und endlich war eine Entfernung von einigen Bootslängen zwischen ihm und den ungenannten Mitkämpfern. Doch bewegte er seine Arme mit Ausdauer und mit hinlänglicher Geschicklichkeit. Da ihm sein geheimnisvolles Auftreten Teilnahme erweckt hatte, so lief ein Gerücht den Kanal entlang, daß der junge Kavalier in der Wahl des Bootes unglücklich gewesen sei. Andere flüsterten von der Tollheit, sich als Adliger der Kränkung auszusetzen durch eine Konkurrenz mit solchen Leuten, die ihre Sehnen in täglicher Arbeit gehärtet haben und durch Übung imstande sind, jeden Vorteil der Fahrt recht und schnell zu benutzen. Wenn sich aber die Augen der Zuschauer von dem Haufen der vorbeieilenden Boote der einsamen Barke des Fischers zuwendeten, die allein hinten nachkam, so verwandelte sich die Verwunderung wieder in Spott.

Männlich, wenn auch innerlich bekümmert, ertrug Antonio alle Sticheleien, bis er sich dem Platze näherte, den seine Kameraden eingenommen hatten. Von diesem Augenblick an verminderte sich das Geschrei gegen den Fischer, und als der Buzentaur nun sichtbar wurde, obgleich noch entfernt, verschlang das Interesse am Ausgange des Kampfes jede andere Regung.

Enrico war noch an der Spitze, aber die Kenner der Gondolierekunst entdeckten schon Zeichen von Erschöpfung an seinem schwankenden Ruder. Der Schiffer vom Lido war hart hinter ihm, und der Kalabrese kam fast in eine Linie mit beiden. In diesem Augenblick entwickelte auch der maskierte Mitkämpfer eine Kraft und Geschicklichkeit, die niemand bei einem Manne von seinem vermeinten Stande erwartet hätte. Sein Körper legte sich mehr in die Kraft des Ruders, sein Bein war zur Unterstützung des Stoßes rückwärts gestemmt und bot den Augen der Beschauer eine muskulöse Fülle und ein Ebenmaß dar, daß sich ein Beifallsgemurmel rings erhob. Bald zeigte sich der Erfolg. Seine Gondel glitt an den anderen in der Mitte des Kanals Rudernden vorüber, und er wurde der vierte im Zuge. Kaum hatte die Menge, ihn dafür zu belohnen, einen Beifallsruf erhoben, als ein neues, ganz unerwartetes Schauspiel ihre Bewunderung auf sich zog.

Antonio nämlich, seinen eigenen Anstrengungen jetzt mehr überlassen und minder von Verachtung und Spott gequält, hatte sich dem Haufen seiner ungenannten Kampfgenossen bald genähert. Unter diesen sah man Gondolieri, die sich auf den Kanälen von Venedig berühmt gemacht hatten und auf deren Geschicklichkeit und Körperkraft die Stadt stolz war. Ob nun begünstigt durch seine einsame Stellung oder frei von den Hindernissen, die jene sich selber bereiteten, genug, man sah den verachteten Fischer ihnen zur Linken heraufkommen mit einem kräftigen Schwung des Ruders, der weiteren Erfolg verhieß. Bald erfüllte sich die Erwartung. Er überholte sie alle unter einem regungslosen, bewundernden Schweigen der Zuschauer und ward jetzt der fünfte im Zuge.

Von nun an war alles Interesse an der größeren Masse der Boote verloren, und jedes Auge wendete sich den Vordersten zu, unter denen der Wetteifer mit jedem Ruderschlag zunahm, während der Ausgang einen neuen zweifelhaften Charakter zu gewinnen schien. Die Anstrengungen des Schiffers von Fusina schienen sich zu verdoppeln, ohne daß sein Boot darum geschwinder ging. Bartolomeos Gondel schoß an ihm vorbei. Diesem folgten Gino und der maskierte Gondoliere, während kein Laut die Teilnahme der Zuschauer verriet, die sich kaum zu atmen getrauten. Als aber auch Antonios Boot vorbeiflog, da erhob sich ein Brausen von Stimmen, wie wenn in einer großen Menge die Stimmung ihrer wunderlichen Laune plötzlich und gewaltsam wechselt. Enrico war rasend über sein Mißgeschick. Er strengte mit verzweifelter Heftigkeit alle Kraft seines Körpers an, um die Schande von sich abzuwenden; dann aber warf er sich auf den Boden seiner Gondel und raufte sein Haar, in tödlicher Wut weinend. Die Nachgeblieben waren, folgten seinem Beispiele, aber mit größerer Fassung, indem sie seitwärts unter die Boote schlüpften, die den Kanal säumten, und sich nicht weiter blicken ließen.

Dieses offene und unerwartete Aufgeben des Kampfes zeigte den Zuschauern, wie verzweifelt es stand. Aber da man mit einem verunglückten Preisbewerber nicht viel Mitleid zu haben pflegt, so waren die Besiegten bald vergessen. Bartolomeos Name ward von tausend Stimmen hoch in die Lüfte getragen, und seine Kameraden von der Piazetta und dem Lido schrien ihm laut zu, für die Ehre ihrer Kunst zu sterben. Der kräftige Gondoliere entsprach ihren Wünschen: Palast auf Palast blieb dahinten, und die Boote befanden sich in demselben Verhältnisse ihrer Stellung gegeneinander. Aber wie sein Vorgänger verdoppelte der jetzige Vordermann seine Anstrengung mit verringertem Erfolge, und Venedig erfuhr die Kränkung, einen Fremden an der Spitze einer der glänzendsten Regatten zu sehen. Denn kaum hatte Bartolomeo seinen Platz aufgegeben, so schoß ihm Gino vorüber, dann der Maskierte und zuletzt der verachtete Fischer; er, der bisher der erste gewesen war, blieb nun der letzte. Er gab aber den Kampf nicht auf, sondern fuhr fort, mit einer Anstrengung zu rudern, die ein besseres Glück verdient hätte.

Als die Gondelreihe diese ganz unerwartete und neue Gestalt gewonnen hatte, war doch immer noch eine beträchtliche Strecke bis zu dem Ziele. Gino war voran, und manch günstiges Zeichen verhieß, daß er seinen Vorteil würde behaupten können. Der Zuruf der Menge ermutigte ihn, denn sie hatten jetzt vergessen, daß er ein Kalabrese war, und viele von den Dienstleuten seines Herrn riefen ihn anfeuernd bei Namen. Es half aber alles nichts. Der Maskierte verwandte jetzt erst seine ganze Kunst und Stärke auf sein Ruder. Die fügsame Gondel gehorchte und schoß unter den Zurufen, das sich von der Piazetta bis zum Rialto fortpflanzte, an die Spitze der übrigen.

Wie glücklicher Erfolg Kraft gibt und die geistige und körperliche Tätigkeit stärkt, so hat das Unterliegen die entgegengesetzte, traurige Wirkung. Don Camillos Diener machte keine Ausnahme von dieser Regel, und als sein maskierter Mitbewerber an ihm vorbeiflog, folgte diesem auch Antonios Boot, als würde es durch dieselben Ruderstöße getrieben. Nun schien sich sogar die Entfernung zwischen den beiden vordersten Gondeln zu verringern, und schon erwarteten alle mit atemloser Teilnahme, den Fischer trotz seiner Jahre und seines Bootes voraneilen zu sehen.

Diese Erwartung aber ward getäuscht. Dem Maskierten, wie groß auch die Anstrengung war, schien Arbeit ein Spiel, so flink zeigte sich sein Ruder, so sicher sein Stoß, so kräftig sein Arm. Aber Antonio war auch kein verächtlicher Gegner. Wenngleich seine Stellungen weniger die Zierlichkeit eines geübten Gondoliere erreichten als die seines Nebenmannes, so war doch die Kraft seiner Sehnen nicht erschlafft. Sie hielten bis zuletzt aus, denn sie waren durch sechzig Jahre unausgesetzter Arbeit gehärtet, und indem sich seine athletische Gestalt der äußersten Anstrengung hingab, merkte man kein Nachlassen seiner Rüstigkeit.

Die vordersten Gondeln waren in wenigen Augenblicken um ein paar Bootslängen von den übrigen voraus. Der dunkle Schnabel des Fischerbootes hing dicht am Hinterteil der glänzenden Gondel, die sein Gegner führte; mehr aber war nicht zu erreichen. Vor ihnen lag der Hafen offen, und immer in demselben Verhältnis der Entfernung voneinander flogen sie an Kirche, Palast, Barke und Feluke vorüber. Der maskierte Bootsmann warf einen Blick zurück, als wollte er seinen Vorteil berechnen. Dann beugte er sich wieder seinem Ruder zu und sagte gerade so laut, daß ihn nur der hören konnte, der dicht hinter ihm war: »Ich habe mich in dir getäuscht, Fischer. Du bist kräftiger, als ich dachte.«

»Wenn meine Arme noch kräftig sind, so ist doch mein Herz kindisch und kummervoll«, erwiderte der Fischer.

»Liegt dir soviel an einem goldenen Tand? Du bist der zweite, sei zufrieden mit deinem Glücke.«

»Das hilft mir nichts. Ich muß der Vorderste sein, oder ich habe meine alten Knochen umsonst angestrengt.«

Dieses kurze Gespräch wurde mit einer Leichtigkeit geführt, die hinlänglich bewies, wie beide an heftige Körperanstrengungen gewöhnt waren, und mit einer Festigkeit der Stimme, die wenigen anderen in diesem Augenblicke möglich gewesen wäre. Der Maskierte schwieg, aber sein Vorsatz schien wankend zu werden.

Der Fischer strengte seinen Körper aufs äußerste an und gewann einen Vorsprung. Ein Ruderstoß machte das Boot bis in die Mitte erzittern. Dann flog die Gondel zwischen die beiden Barken des Ziels, und die Fähnchen, die den Siegespunkt bezeichneten, fielen ins Wasser. Man merkte dies kaum, als auch schon des Maskierten glänzendes Boot vor den Augen der Richter vorbeischoß, so daß sie einen Augenblick in Zweifel waren, wer gesiegt habe. Gino blieb nicht lange zurück, und nach ihm kam Bartolomeo, als der vierte und letzte in der vollkommensten Wettfahrt, die man je auf den Wassern in Venedig gesehen hatte.

Als die Fähnchen fielen, hielt jeder der Zuschauer voll Erwartung den Atem an. Wenige wußten, wer gesiegt habe, so nahe waren die Kämpfer aneinander gewesen. Ein Trompetenzeichen gebot Ruhe, und ein Herold rief nun öffentlich aus, daß Antonio, ein Fischer von den Lagunen, mit Hilfe seines Schutzpatrons vom wunderbaren Fischzug den goldenen Preis davongetragen habe, während einem maskierten Schiffer, der sich der Obhut des heiligen Johannes von der Wüste anvertraut habe, der silberne Preis zugefallen sei, der dritte aber dem Kalabresen Gino, einem Diener Don Camillo Monfortes, des Herzogs von Sant‘ Agata, eines Herrn vieler Besitztümer in Neapel.

Dieser feierlichen Bekanntmachung folgte zuerst eine Grabesstille. Darauf erhob sich der laute Jubelruf der Menge, der Antonios Namen zu den Wolken trug, als würde der Sieg eines großen Helden gefeiert. Alle Verachtung war über seinen Triumph vergessen. Die Fischer von den Lagunen, die noch kürzlich ihren alten Kameraden mit Schimpf überhäuft hatten, priesen jetzt seinen Ruhm mit einem Eifer, wie es immer der Preis eines glücklichen Erfolges war und immer sein wird. Zehntausend Stimmen erhoben sich, seine Geschicklichkeit und seinen Sieg zu rühmen. Jung und alt, die Schönen, die Stutzer, die Edeln, die, die Zechinen gewannen, und die, die verloren: alle bemühten sich, einen Blick des alten Mannes zu erhaschen, der so unerwartet diesen Wechsel der Empfindung in den Gemütern der Menge hervorgerufen hatte.

Antonio trug seinen Triumph bescheiden. Als seine Gondel das Ziel erreicht hatte, hielt er sie an, ohne, wie sonst zu geschehen pflegt, ein Zeichen von Erschöpfung zu verraten. Er blieb stehen, obgleich das mächtige Wogen seiner breiten, gebräunten Brust bewies, daß er seinen Kräften das Äußerste geboten hatte.

Seine Züge arbeiteten, und eine brennende Träne lief über jede seiner rauhen Backen. Dann atmete der Fischer freier.

Auch der maskierte Gondoliere verriet kein Zeichen von Entkräftung. Seine Knie bebten nicht, seine Hände hielten das Ruder noch fest, und seine sichere Stellung ließ die natürliche Vollkommenheit seiner Gestalt bemerken. Gino und Bartolomeo aber sanken in ihre Boote zurück, sowie sie das Ziel nacheinander erreichten. Diese berühmten Gondolieri waren beide so erschöpft, daß einige Augenblicke vergingen, ehe sie zum Reden Atem gewannen. Während dieser augenblicklichen Pause drückten die Zuschauer dem Sieger ihren Beifall durch den anhaltendsten und lautesten Zuruf aus. Kaum erstarb das Getöse, so forderte ein Herold Antonio, den maskierten Schiffer und Gino vor den Dogen, von dessen Hand sie die verheißenen Preise der Regatta empfangen sollten.