Achtundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Die Weise, in der der Rat der Drei seine offenen Zusammenkünfte hielt, wenn irgend etwas, was die mysteriöse Versammlung anging, offen genannt werden kann, ist bereits erzählt worden. Es waren wieder dieselben Anzüge, Masken und Offizianten der Inquisition wie bei jenem in einem früheren Artikel beschriebenen Auftritte. Nur der Charakter der Richter war ein anderer sowie der des Angeklagten.

Durch eine besondere Einrichtung der Lampe ward das meiste Licht auf den Fleck geworfen, wo der Gefangene stehen sollte, während die Seite des Zimmers, an der die Inquisitoren saßen, in einem Dunkel blieb, das zu ihrem düstern, geheimnisvollen Amte gar wohl stimmte. Ehe sich die Tür öffnete, durch die der Beschuldigte eintreten mußte, hörte man das Klirren der Ketten, ein sicheres Anzeichen, daß der vorliegende Fall als sehr ernstlich angesehen ward. Die Angeln drehten sich, und der Bravo stand vor den unbekannten Männern, die über sein Schicksal zu entscheiden hatten.

Da Jacopo oft vor dem Rat erschienen war, obgleich niemals als Gefangener, so verriet er weder Überraschung noch Bestürzung bei dem finsteren Anblick umher. Sein Gesicht war bleich, aber gefaßt, seine Glieder unbeweglich und seine Miene bescheiden. Als sich das kleine Geräusch gelegt hatte, das bei seinem Eintritt entstand, herrschte in dem Zimmer tiefe Stille.

»Du heißest Jacopo Frontoni?« sagte der Sekretär, der das Mundstück der Drei bei dieser Gelegenheit abgab.

»Ja.«

»Du bist der Sohn eines gewissen Ricardo Frontoni, eines durch Zolldiebstahl berüchtigten Mannes, von dem man glaubt, daß er nach den entfernten Inseln verbannt oder anderweitig bestraft wurde?«

»Signore – oder anderweitig bestraft wurde.«

»Du warst Gondoliere in deiner Jugend?«

»Das war ich.«

»Deine Mutter ist –«

»– tot«, sagte Jacopo, als er bemerkte, daß der andere schwieg, um seine Instruktion anzusehen.

Der tiefe Ton, mit dem er dieses Wort sprach, erregte eine Stille, die der Sekretär erst unterbrach, nachdem er einen Blick hinter sich auf die Richter geworfen hatte.

»Sie war nicht der Teilnahme an dem Verbrechen deines Vaters angeklagt?«

»Und wäre sie es gewesen, Signore, sie ist längst nicht mehr im Bereiche der Macht dieser Republik.«

»Bald nachdem dein Vater das Mißfallen des Staates erregt hatte, gabst du dein Geschäft als Gondoliere auf?«

»Signore, ja.«

»Du bist angeklagt, Jacopo, das Ruder mit dem Stilett vertauscht zu haben.«

»Signore, ja.«

»Die Gerüchte von deinen Bluttaten haben seit mehreren Jahren zugenommen in Venedig, bis in der letzten Zeit keiner mehr eines unzeitigen Todes starb, dessen Ermordung man dir nicht zugeschrieben hätte.«

»Das ist nur zu wahr, Signore Segretario. – Ich wollte, dem wäre nicht so.«

»Die Ohren Seiner Hoheit und die Ratskollegien sind nicht verschlossen geblieben vor diesen Gerüchten, sondern haben sie lange mit dem Ernst einer väterlichen und sorgsamen Regierung erwogen. Wenn sie dich frei herumgehen ließen, so geschah es nur, um nicht den Hermelin der Gerechtigkeit durch ein übereiltes und nicht hinlänglich begründetes Erkenntnis zu beflecken.«

Jacopo neigte sein Haupt und gab keine Antwort. Aber ein Lächeln, so wild und bedeutungsvoll, glitt bei dieser Erklärung über seine Züge, daß der Offiziant des geheimen Tribunals, der als Organ der Mitteilung diente, auf das Papier niederblickte, das er in der Hand hielt, als wollte er tiefer in die Schriften hineinsehen.

»Es ist nunmehr eine ganz besondere und fürchterliche Beschwerde gegen dich beigebracht worden, Jacopo Frontoni«, fuhr der Sekretär fort, »und aus Fürsorge für das Leben seiner Bürger hat der gefürchtete Rat selbst die Sache in die Hand genommen. Hast du einen gewissen Antonio Vecchio, Fischer hier auf unseren Lagunen, gekannt?«

»Ja, Signore, in der letzten Zeit, und ich bedaure, ihn nicht schon früher gekannt zu haben.«

»Du weißt auch, daß sein Körper ersäuft in der Bai gefunden worden?«

Jacopo schauderte und bejahte die Frage nur durch ein Zeichen. Die Wirkung, die diese schweigende Bejahung auf den Jüngsten der Drei hervorbrachte, war unverkennbar, denn er wandte sich zu seinen Kollegen in der Überzeugung, daß dieses Zeichen einem Geständnisse gleichkomme. Die beiden anderen machten zur Erwiderung würdevolle Verneigungen, und damit war die stillschweigende Mitteilung beendet.

»Sein Tod hat Unzufriedenheit unter seinen Kameraden erregt, und die Veranlassung dazu ist ein Gegenstand ernstlicher Untersuchung für den hohen Rat geworden.«

»Der Tod des geringsten Mannes in Venedig muß den Patriziern angelegen sein, Signore.«

»Weißt du, Jacopo, daß du angeklagt bist, ihn ermordet zu haben?«

»Signore, ja.«

»Man sagt, du seiest unter den Gondolieri in der letzten Regatta gewesen und würdest ohne diesen alten Fischer den ersten Preis gewonnen haben.«

»Darin hat das Gerücht nicht gelogen, Signore.«

»Du leugnest also nicht?« rief der Inquirent mit sichtlichem Erstaunen.

»Es ist gewiß, daß ich ohne diesen Fischer gewonnen hätte.«

»Und du hast den Preis gewünscht, Jacopo?«

»Gar sehr, Signore«, erwiderte der Angeklagte mit einem Ausdruck des Gefühls, den er bisher noch nicht gezeigt hatte. »Ich war bei seinen Kameraden ein verachteter Mensch, und doch ist das Ruder mein Stolz gewesen von meiner Kindheit an bis zu jener Stunde.«

Eine Bewegung des dritten Inquisitors verriet wieder dessen Anteil und Erstaunen.

»Gestehst du dein Verbrechen?«

Jacopo lächelte, aber mehr aus Spott als aus einem andern Gefühle.

»Wenn die erlauchten Senatoren hier gegenwärtig ihre Masken abnehmen wollen, so kann ich diese Frage vielleicht mit größerer Zuversicht beantworten«, sagte er.

»Dein Verlangen ist verwegen und außer der Ordnung. Niemand kennt persönlich die Patrizier, die im Staate die letzte Entscheidung haben. Bekennst du dein Verbrechen?«

In diesem Augenblick trat ein Offiziant hastig herein, legte eine Schrift in die Hand des rotgekleideten Inquisitors und entfernte sich. Nach einer kleinen Pause befahl man den Wachen, mit dem Gefangenen abzutreten.

»Hohe Senatoren«, sagte Jacopo, indem er ernst an den Tisch trat, als wollte er den Augenblick benutzen, um durchzusetzen, was er zu fordern im Begriff stand. »Gnade! Verstattet mir, einen Gefangenen unter den Bleidächern zu besuchen! Ich habe wichtige Gründe, dies zu wünschen, und bitte euch als Menschen und Väter, es mir zu erlauben.«

Das lebhafte Interesse der zwei für die eben gebrachte Nachricht, über die sie sich seitwärts besprachen, verhinderte sie, auf sein Gesuch zu achten. Der dritte Inquisitor, Signore Soranzo, war der Lampe näher getreten, begierig, in den Zügen eines so berüchtigten Menschen zu forschen, und staunte seine auffallende Gesichtsbildung an. Gerührt durch den ergreifenden Ton seiner Rede und zum Wohlwollen gestimmt durch die Züge, die er musterte, übernahm er die Verantwortlichkeit, allein den Wunsch des Gefangenen zu gewähren.

»Erfüllt ihm, was er verlangt«, sagte er zu den Hellebardieren, »aber haltet ihn bereit, wieder vorzutreten.«

Jacopo dankte ihm durch einen Blick; aber in Besorgnis, daß die andern noch plötzlich seinem Verlangen in den Weg treten möchten, verließ er eilig das Zimmer.

Der Weg der kleinen Prozession, die sich vom Zimmer des heimlichen Gerichts nach dem Sommeraufenthalt seiner Schlachtopfer begab, bezeichnete auf traurige Weise den Ort und die Regierung.

Er führte durch finstere, verdeckte Korridore, die dem uneingeweihten Auge verborgen waren, während sie nur dünne Wände von den Zimmern des Dogen trennten, die gleich jenem äußern Anstrich des ganzen Staates hinter Pracht und Glanz nichts als Nacktheit und Elend versteckten. Als das Obergeschoß erreicht war, blieb Jacopo stehen und redete seine Führer an: »Wenn ihr Menschen seid, von Gott geschaffen, so nehmt mir, wenn auch nur für einen Augenblick, diese klingenden Ketten ab.«

Die Schließer sahen überrascht einander an, keiner wollte das Liebeswerk auf sich nehmen.

»Ich will«, fuhr der Gefangene fort, »vermutlich zum letztenmal, einen bettlägerigen oder auch schon sterbenden Vater besuchen, und er weiß nichts von meiner Lage, soll er mich in diesem Zustande sehen?«

Mächtig mehr durch Ton und Gebärde als durch Worte, verfehlte diese Anrede ihre Wirkung nicht. Ein Schließer nahm ihm die Ketten ab und hieß ihn hineingehen. Mit vorsichtigem Tritt ging Jacopo, als die Tür geöffnet war, allein in das Zimmer, denn keiner nahm an der Zusammenkunft eines gemeinen Bravo mit seinem Vater so vielen Anteil, daß er sich deshalb hätte der brennenden Hitze dieses Ortes aussetzen wollen. Hinter ihm schloß sich die Tür, und das Gemach wurde dunkel.

Ungeachtet seiner angenommenen Festigkeit blieb Jacopo erschüttert stehen, als sich ihm so plötzlich das stille Elend des unglücklichen Gefangenen veranschaulichte. Ein schweres Atmen ließ ihn den Ort des Strohlagers erraten, denn die Mauern, die auf der Seite des Korridors massiv waren, verhinderten das Eindringen des Lichtes durchaus.

»Vater!« sagte Jacopo sanft. Er erhielt keine Antwort,

»Vater!« wiederholte er lauter.

Das Atmen wurde hörbarer, darauf sprach der Gefangene.

»Die heilige Maria erhört mein Flehen«, sagte er mit schwacher Stimme. »Gott hat dich mir geschickt, mein Sohn, mir die Augen zuzudrücken.«

»Verläßt dich deine Kraft, Vater?«

»Sehr, mein Stündlein ist gekommen – ich hatte gehofft, das Tageslicht wiederzusehen, deine teure Mutter und Schwester zu segnen – Gottes Wille geschehe!«

»Sie beten für uns beide, Vater. Sie sind nicht mehr in der Gewalt des Senats.«

»Jacopo – ich versteh dich nicht!«

»Meine Mutter und meine Schwester sind tot, sind Heilige im Himmel, Vater!«

»Das ist ein plötzlicher Schlag!« sprach der alte Mann leise. »Nun, so scheiden wir zusammen.«

»Sie sind längst tot, Vater.«

»Warum hast du mir das nicht früher gesagt, Jacopo?«

»Hattest du nicht ohnehin des Grams genug? Jetzt, da du im Begriff stehst, zu ihnen zu gehen, wird es dir Freude machen, zu erfahren, daß sie schon lange selig sind.«

»Und du, du wirst allein zurückbleiben – gib mir deine Hand – armer Jacopo.«

Der Bravo griff hin und faßte die schwache Hand seines Vaters. Sie war steif und kalt.

»Jacopo!« fuhr der Gefangene fort, denn sein Geist hielt noch den Körper. »Ich habe dreimal seit einer Stunde gebetet – einmal für meine eigene Seele – einmal für den Frieden deiner Mutter – und endlich auch für dich!«

»Dank, Vater, Dank! Mir tut Fürbitte not!«

»Knie hin, Jacopo – daß ich Gott noch einmal – bitten möge, deiner zu gedenken.«

»Ich bin neben dir, Vater.«

Der alte Mann hob seinen schwachen Arm empor, und mit einer Stimme, deren Kraft sich neu zu beleben schien, sprach er einen glühenden, feierlichen Segen.

»Der Segen eines sterbenden Vaters wird deine Tage versüßen, Jacopo«, sagte er nach einer Pause, »und deinen letzten Augenblicken Frieden geben.«

»Das wird er, Vater.«

Ein rauher Ruf von der Türe her unterbrach sie.

»Komm, Jacopo«, sagte einer von den Schließern, »der Rat verlangt dich.«

Jacopo fühlte das krampfhafte Zucken seines Vaters und gab keine Antwort.

»Wollen sie dich nicht – noch ein paar Minuten hierlassen?« stammelte der alte Mann. »Ich werde dich nicht lange mehr aufhalten.«

Die Tür ging auf, und ein Strahl der Lampe fiel auf die Gruppe im Gemach. Der Schließer war so menschlich, wieder zuzumachen und alles im Dunkel zu lassen. Jacopo gewann durch dies Streiflicht einen letzten Blick in seines Vaters Gesicht. Der Tod hauste darin entsetzlich, aber die Augen waren in unaussprechlicher Liebe dem Sohne zugekehrt.

»Das ist ein barmherziger Mann – er will dich nicht aussperren«, sagte der Vater leise.

»Sie können dich nicht allein sterben lassen, Vater.«

»Sohn, mein Gott ist bei mir – doch hätte ich dich freilich gern neben mir – hast du nicht gesagt – deine Mutter und deine Schwester sind tot?«

»Tot.«

»Deine junge Schwester auch?«

»Alle beide, Vater. Sie sind Heilige im Himmel.«

Der alte Mann atmete schwer, und es ward stille. Jacopo fühlte die Bewegung einer Hand im Dunkeln, als suchte sie ihn, er ergriff sie und legte sie in Ehrfurcht auf sein eigenes Haupt.

»Gott segne dich, Jacopo!« flüsterte eine Stimme, die der aufgeregten Einbildungskraft des Bravo aus der Luft herabzuschweben schien. Den feierlichen Worten folgte ein bebendes Seufzen. Jacopo barg sein Gesicht im Bettuch und betete. Darauf ward tiefe Stille.

»Vater«, fragte er, zitternd vor seiner eigenen gedämpften Stimme.

Keine Antwort. Er streckte die Hand aus und berührte das Gesicht eines Leichnams. Mit einer Gewalt, die an Verzweiflung grenzte, beugte er abermals seinen Kopf nieder und betete inbrünstig für den Toten.

Als sich die Tür der Zelle öffnete, erschien Jacopo vor den Schließern mit einer Würde der Haltung, die nur wirklichem Charakter eigen ist, und jetzt noch erhöht war durch die eben erlebten Augenblicke. Er bot seine Arme dar und stand unbeweglich, als sie ihm die Fesseln wieder anlegten. Darauf gingen sie miteinander nach dem geheimen Zimmer, und es währte nicht lange, so standen alle wie vorher vor dem Rate der Drei.

»Jacopo Frontoni«, nahm der Sekretär das Wort, »du bist noch einer andern schwarzen Tat verdächtig, die ganz kürzlich in unserer Stadt begangen worden. Hast du einen edeln Kalabrier gekannt, der auf die Senatorwürde Anspruch machte und sich lange hier in Venedig aufhielt?«

»Ja, Signore.«

»Hast du mit ihm zu tun gehabt?«

»Ja, Signore.«

Eine Bewegung unter den Zuhörern verriet den Anteil, den alle nahmen.

»Weißt du, wo Don Camillo Monforte sich gegenwärtig befindet?«

Jacopo zauderte. Er kannte die Mittel, die dem Senat zu Gebote standen, um sich von allem in Kenntnis zu setzen, so gut, daß er in Zweifel geriet, inwiefern es rätlich wäre, seinen Anteil an der Flucht der Liebenden zu leugnen. Außerdem hatte sich in diesem Augenblick ein tiefes, heiliges Gefühl für Wahrheit in seinem Gemüte eingedrückt.

»Kannst du Auskunft geben, warum der junge Herzog nicht in seinem Palaste gefunden wird?« wiederholte der Sekretär.

»Illustrissimo, er hat Venedig für immer verlassen!«

»Woher weißt du das? Hat er einen gemeinen Bravo zu seinem Vertrauten gemacht?«

Ein Lächeln voll überlegenen Selbstbewußtseins blitzte über Jacopos Züge und veranlaßte den wohlunterrichteten Agenten des geheimen Tribunals, tief in seine Papiere hineinzublicken, gleich einem, der sich getroffen fühlt.

»Bist du sein Vertrauter? Ich frage noch einmal.«

»Signore, in dieser Sache, ja! Ich habe die Versicherung aus Don Camillo Monfortes eigenem Munde, daß er nicht wiederkommen wird.«

»Das ist unmöglich, da er somit all seine schönen Hoffnungen und glänzenden Güter aufopfern würde.«

»Er tröstet sich mit dem Ersatze, Signore, den ihm die Liebe der jungen Tiepolo und deren Reichtümer bieten.«

Abermalige Bewegung unter den Dreien, die alle ihre Geübtheit in der Selbstbeherrschung und die mechanische Gravität ihres geheimnisvollen Amtes nicht zurückzuhalten vermochte.

»Die Schließer sollen sich entfernen«, sagte der Inquisitor im Scharlachkleide. Sobald der Gefangene mit den Dreien und ihrem immerwährenden Sekretär allein war, ging das Verhör fort, und selbst die Senatoren, im Vertrauen auf ihre Masken und einige Verstellung der Stimme, sprachen gelegentlich mit.

»Es ist ein wichtiger Aufschluß, den du uns gegeben hast, Jacopo!« fuhr der im roten Kleide fort. »Es kann noch dein Leben retten, wenn du klug genug bist, die Gelegenheit zu benutzen.«

»Was wünschen Ew. Exzellenz von mir? Offenbar hat der Rat Kenntnis von Don Camillos Flucht, und ich kann nicht glauben, daß Augen, die sich so selten schließen, die Erbin von Tiepolo noch nicht vermißt haben sollten.«

»Beides ist wahr, Jacopo. Aber was weißt du von den Mitteln zur Flucht? Bedenke, daß dein eigenes Schicksal von der Gunst abhängt, die du dir bei dem Rate erwirbst.«

Der Gefangene ließ wieder einen von jenen erstarrenden Blicken über sein Gesicht leuchten, vor dem seine Richter jedesmal niedersahen.

»An Mitteln zur Flucht kann es einem kühnen Liebhaber nicht fehlen, Signore«, erwiderte er. »Don Camillo ist reich und konnte tausend Diener in Bewegung setzen, wenn es nötig war.«

»Du suchst auszuweichen. Es ist dein eigener Nachteil, wenn du den Rat zum besten hast! Welche Diener benutzte er?«

»Er hatte eine ihm ergebene Dienerschaft, Exzellenz – viele dreiste Gondolieri und Leute aller Art.«

»Von diesen wollten wir nichts wissen. Er ist durch andere Mittel entkommen, oder bist du denn überhaupt ganz sicher, daß er entkommen ist?«

»Signore, ist er noch in Venedig?«

»Danach fragen wir dich eben. Hier ist eine Anklage im Löwenrachen gefunden worden, die dich zeiht, ihn ermordet zu haben!«

»Und Donna Violetta auch, Exzellenza?«

»Von ihr haben wir nichts gehört. Was erwiderst du auf diese Anklage?«

»Signore, warum sollte ich meine eigenen Geheimnisse verraten?«

»Ha, bist du doppelzüngig und treulos? Besinne dich, daß wir einen Gefangenen unter den Bleidächern haben, der dir die Wahrheit wohl abpressen kann!«

Jacopo richtete sich zu einer solchen Höhe auf, als man sich nur vorstellen kann, um die Erhebung eines freien Geistes auszudrücken. Sein Auge aber war dennoch traurig und seine Stimme, trotz der Anstrengung, sie zum Gegenteil zu zwingen, schwermütig.

»Senatoren«, sagte er, »euer Gefangener unter den Bleidächern ist frei.«

»Was! Du scherzest noch in deiner Verzweiflung!«

»Ich spreche wahr. Die so lang verzögerte Befreiung ist endlich gekommen.«

»Dein Vater –«

»– ist tot«, fiel Jacopo mit feierlichem Tone ein.

Die beiden älteren Mitglieder des Rates sahen einander überrascht an, während ihr jüngerer Kollege mit der Teilnahme zuhörte, die ein Neuling in geheimen und verwickelten Geschäften zu haben pflegt. Die ersteren berieten sich leise und sagten dann dem Signore Soranzo so viel von ihrem Beschluß, als sie in diesem Falle für nötig erachteten.

»Wirst du deine eigene Sicherheit in Erwägung ziehen, Jacopo, und uns eröffnen, was du von der Sache des Neapolitaners weißt?« fuhr der Inquisitor fort, als dieses Zwischenspiel zu Ende war.

Jacopo verriet keine Schwäche bei der Drohung des Senators, aber nach kurzer Überlegung antwortete er mit so viel Freimütigkeit, als er nur im Beichtstuhl an den Tag legen konnte: »Ihr wißt, erlauchter Senator, daß dem Staate daran lag, die Erbin von Tiepolo zu seinem eigenen Vorteile zu verheiraten, daß sie aber der neapolitanische Edelmann liebte und daß sie, wie unter jungen und empfindungsvollen Herzen zu geschehen pflegt, seine Liebe erwiderte in dem Maße, als einem Mädchen ihres Ranges und ihrer Jugend geziemend war. Ist da etwas Erstaunliches in dem Umstande, daß sich zwei Personen von so glänzenden Aussichten bemühten, ihr Unglück abzuwehren? Signori, in der Nacht, da der alte Antonio starb, war ich unter den Gräbern des Lido allein mit meiner Schwermut und meinem bittern Herzen, und mir war das Leben zur Last. Hätte der böse Geist, der damals die Oberhand gewonnen hatte, seine Meisterschaft behauptet, so wäre ich als ein hoffnungsloser Selbstmörder gestorben. Gott sandte aber Don Camillo Monforte, mich zu retten. Dort lernte ich die Wünsche des Neapolitaners kennen und begab mich in seine Dienste. Ich schwur ihm, Senatoren, gewissenhaft zu sein, für seine Sache zu sterben, wenn es nötig wäre, und ihm zu seiner Braut zu verhelfen. Die Verpflichtung hab ich erfüllt. Die glücklichen Liebenden sind jetzt im Kirchenstaate und unter dem mächtigen Schutze des Kardinalsekretärs, der Don Camillos Mutterbruder ist.«

»Narr, warum hast du das getan? Hast du nicht an dich selbst gedacht?«

»Sehr wenig, Exzellenz. Ich dachte mehr an die Wonne, mein Leid in eine menschliche Brust ausschütten zu können, als an Euer hohes Mißvergnügen. Seit Jahren hab ich keinen so süßen Augenblick gehabt, als da ich den Herzog von Sant‘ Agata seine schöne und vor Freuden weinende Braut an sein Herz drücken sah.«

Die Inquisitoren waren überrascht durch den stillen Enthusiasmus des Bravo, und die Verwunderung verursachte wieder eine Pause. Endlich nahm der Älteste von den Dreien das Verhör wieder auf. »Wirst du uns die Art ihres Entkommens mitteilen, Jacopo?« fragte er. »Bedenke, daß du noch ein Leben zu retten hast.«

»Signore, dieses eine ist kaum der Mühe wert. Aber Euch zu Gefallen soll nichts verschwiegen bleiben.« Jacopo erzählte nun einfach und ungeschminkt die Mittel, die Don Camillo zur Bewerkstelligung seiner Flucht angewendet hatte, die Hoffnungen, die Hindernisse und das endliche Gelingen. Er verheimlichte nichts bei dieser Erzählung als den Ort, wo die Damen auf kurze Zeit eine Zuflucht gefunden hatten, und Gelsominas Namen. Sogar Giacomo Gradenigos Anschlag auf das Leben des Neapolitaners und die Geschäftigkeit des Juden in dieser Sache machte er kund. Keiner hörte den Bericht so aufmerksam an als der junge Ehemann. Unbeschadet seiner öffentlichen Pflichten, klopften seine Pulse, als der Gefangene bei den wechselvollen Schicksalen der Liebenden verweilte, und als endlich ihre Vereinigung erzählt ward, hüpfte sein Herz vor Freuden. Auf der anderen Seite hörten seine erfahrenen Kollegen die Erzählung des Bravo mit berechnender Kälte. Den beiden Senatoren ward auf einmal klar, daß Don Camillo und seine schöne Gefährtin ihrer Macht entronnen waren, und sogleich sahen sie ein, daß man aus der Notwendigkeit eine Tugend machen müsse. Da sie Jacopos nicht weiter bedurften, so ließen sie die Schließer kommen und schickten ihn in sein Gefängnis zurück.

»Es wird geziemend sein, dem Kardinalsekretär ein Glückwunschschreiben wegen der Heirat seines Neffen mit einer so reichen Erbin unserer Stadt zuzusenden«, sagte der Inquisitor von den Zehnen, als sich die Tür hinter den Weggehenden geschlossen hatte. »Wir müssen uns den großen Einfluß des Neapolitaners geneigt halten.«

»Aber wenn er nun auf den Widerstand unseres Staates gegen sein Vorhaben Gewicht legte?« wandte Signore Soranzo ein, schwach genug gegen einen so kühnen Plan.

»So legen wir die Sache allein dem vorigen Rate zur Last. Solche Mißgriffe sind unausbleibliche Folgen des Eigenwillens in einer freien Verfassung, Signore. Das Roß, das im Naturzustande über die Ebene streift, kann nicht gleicherweise gelenkt werden wie das träge Tier, das den Karren zieht. Ihr sitzet heut zum erstenmal unter den Dreien, aber die Erfahrung wird Euch lehren, daß, wie vortrefflich wir auch in der Theorie sind, die Praxis nicht immer gleich vollkommen sein kann. Das ist eine wichtige Sache mit dem jungen Gradenigo, Signori!«

»Ich habe ihn längst als einen Taugenichts gekannt«, versetzte sein älterer Kollege. »Jammerschade, daß solch ein ehrenwerter und edler Patrizier ein so unwürdiges Kind gezeugt hat. Aber weder der Staat noch die Stadt darf Mordanschläge ungeahndet lassen.«

»Oh, kämen sie doch nur seltener vor!« rief Signore Soranzo in aller Aufrichtigkeit.

»Jawohl, jawohl. Es sind einige Winke in unserer geheimen Information, die Jacopos Aussage bestätigen. Auch hat uns lange Erfahrung gelehrt, daß man seinen Berichten vollkommen Glauben beimessen kann.«

»Wie? – Ist denn Jacopo ein Agent der Polizei?«

»Davon mehr bei größerer Muße, Signore Soranzo. Gegenwärtig müssen wir diesen Anschlag gegen das Leben eines unter dem Schutze unserer Gesetze gestandenen Mannes in Erwägung ziehen.«

Nun entspann sich unter den Dreien eine angelegentliche Diskussion über die beiden Verbrecher. Signore Soranzo hatte eine schöne Gelegenheit, seine hochherzige Gesinnung geltend zu machen. Er war zwar ein Verwandter des Hauses Gradenigo, nahm aber doch keinen Anstand, das Betragen des jungen Adligen ernstlich zu rügen. Er begehrte zuerst, daß ein schreckendes Exempel statuiert und der Welt bewiesen würde, daß in Venedig die Geburt nicht zu Verbrechen bevorrechtet. Von dieser Ansicht der Sache ward er jedoch durch seine verschlagenen Kollegen zurückgebracht, die ihn erinnerten, daß die Gesetze zwischen beabsichtigten und begangenen Verbrechen einen Unterschied machten. Von seiner ersten Meinung abgelenkt durch die kältere Erwägung seiner Kollegen, schlug der junge Inquisitor vor, die Sache zur Entscheidung den gewöhnlichen Gerichten zu übergeben. Es fehlte nicht an Beispielen, daß die venezianische Aristokratie einen aus ihrer eigenen Mitte dem Scheine der Gerechtigkeit zum Opfer gebracht hatte, denn solche Fälle, mit Klugheit geleitet, vergrößerten ihre eigene Macht nur, statt sie zu schwächen! Allein, das vorliegende Verbrechen war ein zu gewöhnliches, als daß es sich verlohnt hätte, so überschwenglich freigebig in Aufopferung eigener Gerechtsame zu sein, und die alten Inquisitoren widersetzten sich dem Verlangen ihres jüngeren Kollegen mit scheinbar sehr guten Gründen und einem Anstrich von Rechtmäßigkeit. Es blieb endlich dabei, daß sie selber die Sache entscheiden müßten.

Die nächste Frage war, welche Strafe zuerkannt werden sollte. Der verschmitzte Senior des Rates brachte eine Verbannung auf einige Monate in Vorschlag, denn Giacomo Gradenigo hatte schon sonst in mehr als einer Hinsicht den Zorn der Regierung verdient. Signore Soranzo widersetzte sich dieser Strafe mit dem Feuer eines unverderbten edeln Herzens. Er trug endlich den Sieg davon, indem seine schlauen Amtsgenossen besonders hervorhoben, daß sie seinen Argumenten nachgäben. Das Resultat des ganzen Manövers war, daß der junge Gradenigo auf zehn Jahre in die Provinzen verwiesen, Hosea aber auf Lebenszeit verbannt ward. Hierbei mußte der Jude froh sein, noch mit so blauem Auge davonzukommen.

»Wir dürfen diese Entscheidung und deren Veranlassung nicht geheimhalten«, bemerkte der Inquisitor von den Zehnen, sobald die Sache beendet war. »Es ist kein Nachteil für den Staat, wenn bekannt wird, wie er die Gerechtigkeit handhabt.«

»Und wenn sie wirklich geübt wird, will ich hoffen«, entgegnete Signore Soranzo. »Da aber unsere heutigen Geschäfte beendigt sind, beliebt es den Herren, daß wir nach Hause zurückkehren?«

»Vorher haben wir noch die Sache des Jacopo abzumachen.«

»Den mögen wir doch immerhin den ordentlichen Tribunalen überlassen!«

»Wie Euch beliebt. Ist es so Eure Meinung, Signori?«

Die beiden andern stimmten durch Verbeugungen bei, und man schickte sich zur Heimkehr an.

Bevor aber die beiden älteren Mitglieder des Rates den Palast verließen, hielten sie miteinander eine lange und geheime Konferenz ab, deren Resultat eine Privatinstruktion für den Kriminalrichter war. Dann gingen sie in vollkommener Gewissensruhe nach Hause. Auch Signore Soranzo begab sich nach seiner prächtigen und beglückten Wohnung. Zum erstenmal in seinem Leben betrat er sie mit einem Mißtrauen in sich selbst. Ohne zu wissen, wodurch, fühlte er sich verstimmt, denn der erste Schritt war getan auf jenem verschlungenen und verderblichen Wege, der unfehlbar zur Vernichtung aller edeln und reinen Gesinnungen führt und nur durch die Sophistereien und Täuschungen der Selbstsucht unterhalten werden kann.

Neunundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Am folgenden Morgen wurde Antonio bestattet. Die Agenten der Polizei gebrauchten die Vorsicht, in der Stadt auszubreiten, daß der Senat diese Ehre dem Andenken des alten Fischers erweise wegen seines Sieges in der Regatta und als eine Art von Ersatz für seinen unverschuldeten und geheimnisvollen Tod. Alle Lagunenmänner versammelten sich zur festgesetzten Stunde auf dem Platze, in anständiger Kleidung, sich geschmeichelt fühlend durch die ihrem Stande erwiesene Ehre und mehr als zur Hälfte geneigt, allen früheren Groll vor der gegenwärtigen Gunst zu vergessen. So leicht wird es denen, die durch die Geburt oder das mittels künstlicher Organisation herbeigeführte Vorurteil höher gestellt sind als ihre Mitmenschen, so leicht wird es ihnen, durch ein wenig Herablassung ihr wirkliches Unrecht vergessen zu machen.

Noch immer wurden vor dem Altar des heiligen Markus Messen gelesen für die Seele des alten Antonio. Voran war unter den Priestern der gute Karmeliter, der nicht an Müdigkeit noch Hunger dachte, in der frommen Begier, die Dienste der Kirche zum Besten eines Mannes zu verrichten, von dessen Schicksal man fast sagen kann, daß er Augenzeuge gewesen. Doch blieb sein Eifer in diesem Augenblicke der Aufregung aller unbemerkt, nur nicht denen, deren Geschäft es war, jedes auffallendere Benehmen, jeden ungewöhnlichen Umstand argwöhnisch zu belauern. Als sich der Karmeliter endlich vom Altar entfernte, kurz ehe die Leiche weggetragen wurde, fühlte er sich leise am Ärmel seines Kleides fortgezogen. Er folgte der Bewegung und befand sich alsbald zwischen den Säulen der dunklen Kirche einsam einem Fremden gegenüber.

»Vater, du hast manchem Sterbenden die Absolution erteilt!« sagte der andere mehr mit zuversichtlichem, als mit fragendem Tone.

»Es ist die Pflicht meines heiligen Amtes, mein Sohn.«

»Der Staat wird deine Dienste anerkennen. Man wird deiner bedürfen, sobald die Leiche dieses Fischers beerdigt ist.«

Der Mönch schauderte, aber sich verbeugend, senkte er sein bleiches Antlitz zum Zeichen, daß er bereit sei, seine Pflicht zu erfüllen. In diesem Augenblick ward der Leichnam aufgehoben, und die Prozession begab sich hinaus auf die Piazza. Zuerst gingen wie gewöhnlich die Laienbrüder der Kathedrale. Dann folgten andere, die ihre erforderlichen Gebete absangen. Unter ihnen nahm der Karmeliter eilig seinen Platz. Hierauf kam die Leiche, aber nicht in einem Sarge, denn diesen Luxus bei der Beerdigung kannten die Leute aus dem Stande des alten Antonio nicht. Die Leiche war mit den Feiertagskleidern eines Fischers angetan. Hände und Füße waren nackt, ein Kreuz lag auf der Brust; die grauen Haare flatterten im Winde, und das Gespenstische des Todes war furchtbar gehoben durch einen an den Mund gelegten Blumenstrauß. Die Bahre war reich an Vergoldung und Schnitzwerk, wiederum ein trübes Zeichen, wie töricht das Sterben, wie falsch die Richtung menschlicher Eitelkeit ist.

Diesem eigentümlichen Aufzuge folgte ein Knabe, dessen braune Farbe, halbnackter Körper und dunkles, unstetes Auge ihn als das Enkelkind des Fischers kenntlich machten. Venedig verstand wohl zur rechten Zeit mit Anstand nachzugeben, und der Knabe war ohne weiteres von den Galeeren freigelassen worden, aus Mitleid, wie man hersagte, mit dem vorzeitigen Tode seines Großvaters. Der aufstrebende Blick, der kühne Geist und die strenge Redlichkeit Antonios sprachen sich auch schon in dem Benehmen des Knaben aus, aber diese charakteristischen Züge wurden verschleiert durch einen Anstrich von Kummer, und wie auch bei dem, dessen Leichenzuge er folgte, der Fall gewesen, ein wenig getrübt durch das harte Schicksal, das ihm zuteil geworden war. Von Zeit zu Zeit hob sich die Brust des gefühlvollen Knaben, während sie über den Kai zogen, dem Arsenal zu, und bisweilen bebten seine Lippen, daß der Schmerz seine männliche Kraft zu überwältigen drohte. Keine Träne netzte seine Wangen, bis endlich der Körper seinen Blicken entzogen ward. Da siegte die Natur. Er stahl sich aus dem Kreise, setzte sich beiseite und weinte, wie eben ein Kind in seinem Alter und in seiner Einfalt weint, wenn es sich allein findet auf dem wüsten Pfade durch das Leben.

So endete alles, was sich mit Antonio Vecchio, dem Fischer, begab, und sein Name ward bald nicht mehr genannt in der geheimnisvollen Stadt, wohl aber auf den Lagunen, wo die Genossen seines Handwerks noch lange seine Geschicklichkeit in Handhabung des Netzes rühmten und seinen Sieg über die besten Ruderleute von Venedig. Sein Enkel lebte und arbeitete gleich andern seines Standes, und wir wollen uns begnügen, von ihm nur noch als Beispiel, wie ganz er die Sinnesweise seines Großvaters geerbt hatte, dies anzuführen, daß er es vermied, sich in die Menge zu mischen, die einige Stunden später aus Neugier und Rachlust nach der Piazetta zog.

Vater Anselmo kehrte in einem Boote nach den Kanälen zurück und landete auf dem Kai des kleineren Platzes mit der Hoffnung, jetzt die aufsuchen zu dürfen, an denen er so lebhaften Anteil nahm und von deren Schicksal er nichts weiter erfahren hatte. Aber nein. Der Mann, der ihn in der Kathedrale angeredet hatte, stand dort, ihn offenbar erwartend, und da der Karmeliter wußte, daß seine Weigerung ebenso fruchtlos als gefährlich sein würde, weil der Staat mit im Spiele war, so ließ er sich führen, wohin jenem beliebte. Die beiden gelangten auf einem Umwege in das Gefängnis. Hier wies man den Priester in das Zimmer des Hauswarts und hieß ihn die weiteren Aufträge seines Führers erwarten.

Unsere Geschichte führt uns jetzt in Jacopos Zelle. Von dem Versammlungszimmer der Drei war er in sein düsteres Gemach zurückgeführt worden, wo er die Nacht zubrachte. Mit anbrechendem Tage ward der Bravo vor die gestellt, die dem Scheine nach beauftragt waren, Recht über ihn zu sprechen. Wir sagen: dem Scheine nach, weil Gerechtigkeit in einem Lande nicht herrschen kann, in dem die Regierenden durchaus ganz andere Interessen haben als die Regierten, weil bei einem solchen System immer, wenn das Übergewicht der bestehenden Autoritäten ins Spiel kommt, der Trieb der Selbsterhaltung so gewiß auf ihre Entscheidung Einfluß haben wird, als er den Menschen überhaupt treibt, Gefahren zu fliehen.

Wie im vorigen schon angedeutet worden, hatten die, die über Jacopo zu Gericht saßen, ihre Instruktionen, und das Verhör, das er ausstand, war eher ein dem äußern Schein gebrachtes Opfer als eine Huldigung der Gesetze. Alle Anklagepunkte wurden gehörig beigebracht, Zeugen wurden verhört, oder doch angeblich verhört, und man sorgte dafür, das Gerücht in der Stadt zu verbreiten, daß sich die Tribunale endlich damit beschäftigen, nunmehr die Sache des merkwürdigen Menschen zu entscheiden, der so lange seine blutigen Taten selbst mitten in der Stadt ungestraft verübt hatte. Während des Morgens waren die leichtgläubigen Handelsleute sehr emsig, einander die Untaten zu erzählen, die im Laufe der letzten drei oder vier Jahre verübt und ihm zur Last gelegt worden. Einer sprach von der Leiche eines Ausländers, die in der Nähe der Spielhäuser, wohin die Fremden zu gehen pflegen, gefunden worden war. Ein anderer erzählte von dem jungen Adeligen, der sogar auf dem Rialto erschlagen ward, und ein dritter wußte ausführlich von einem Morde zu sagen, der eine Mutter ihres Sohnes und eine junge Patrizierin ihres Anbeters beraubte. Indem so einer nach dem andern seinen Beitrag zollte, rechnete ein Häuflein, das auf dem Kai beisammen stand, nicht weniger als fünfundzwanzig Mordtaten zusammen, die Jacopo verübt haben sollte, wobei die rachsüchtige und zwecklose Ermordung des Mannes, den man eben bestattet hatte, noch nicht einmal mitgezählt war. Zum Glück vielleicht für seine Gemütsruhe wußte der, über den sich diese Gerüchte verbreiteten, nichts von ihnen und von den Verwünschungen in ihrem Gefolge. Vor seinen Richtern ließ er sich auf keinerlei Verteidigung ein und verweigerte standhaft die Beantwortung ihrer Fragen.

»Ihr Herren wisset, was ich getan habe«, sagte er stolz. »Und was ich nicht getan habe, wißt Ihr auch. Sorget Ihr nur für das, was Euch selber betrifft.«

Als er wieder in seinem Kerker war, begehrte er Speise und aß ruhig, aber wenig. Jedes Werkzeug, womit er sich möglicherweise selbst töten konnte, wurde hierauf entfernt, seine Ketten wurden zum letztenmal sorgfältig untersucht, und sodann überließ man ihn seinen Gedanken. So blieb er eine Zeitlang, da ließen sich Fußtritte vernehmen, die seiner Zelle näher kamen. Die Schlösser wurden gedreht, und die Tür ging auf. Zwischen ihm und dem Lichte erschien nunmehr die Gestalt eines Priesters. Dieser trug eine Lampe, die er, sobald die Tür hinter ihm wieder verschlossen war, auf das Brettchen stellte, worauf des Gefangenen Brot und Wasserkrug standen.

Jacopo empfing seinen Gast ruhig und mit der tiefen Ehrfurcht eines der Kirche ergebenen Mannes. Er stand auf, bekreuzigte sich und ging ihm so weit zum Empfange entgegen, als es die Ketten erlaubten.

»Sei mir willkommen, Vater«, sprach er, »ich sehe, daß mich die Ratsherren zwar von der Erde, aber doch nicht aus dem Himmel verdrängen wollen.«

»Das ginge über ihre Macht hinaus, mein Sohn. Der für sie gestorben ist, hat auch für dich sein Blut vergossen, wofern du seine Gnade nicht von dir weisest. Aber – der Himmel weiß, wie ungern ich so rede – ein Sünder, wie du bist, Jacopo, kann an keine Hoffnung denken ohne eine tiefe und herzliche Reue.«

»Kann das irgend jemand, Vater?«

Der Karmeliter staunte, denn die Schärfe der Frage und der ruhige Ton des Sprechers waren von gewaltiger Wirkung bei einer solchen Zusammenkunft.

»Jacopo, du bist nicht, wofür ich dich hielt!« erwiderte er. »Deine Seele ist nicht ganz verfinstert, und du mußt trotz deiner Verbrechen ein lebendiges Bewußtsein von deren Sündhaftigkeit in dir tragen.«

»Das ist, fürcht ich, wahr, ehrwürdiger Mönch!«

»Ihr Gewicht muß dir fühlbar sein in der Bitterkeit des Schmerzes – in –« Vater Anselmo hielt inne, denn ein Schluchzen ließ sich hören, das bewies, daß sie nicht allein waren. Der Mönch trat überrascht ein wenig zur Seite, und die zitternde Gelsomina, die durch die Gunst der Schließer mit hereingekommen war und sich hinter dem Gewande des Karmeliters versteckt hatte, wurde sichtbar. Jacopo stöhnte, als er sie erblickte, und lehnte sich mit abgewandtem Gesichte gegen die Mauer.

»Meine Tochter, was willst du hier – und wer bist du?« fragte der Mönch.

»Die Tochter des Oberschließers«, sagte Jacopo, da er bemerkte, daß sie nicht zu antworten vermochte, »ich habe sie bei meinen mancherlei Geschäften im Gefängnisse kennengelernt.«

Vater Anselmo sah die beiden abwechselnd an. Seine Miene war anfangs streng, milderte sich dann und wurde endlich ganz teilnehmend, als er ihren beiderseitigen Kampf bemerkte.

»Das ist die Folge menschlicher Leidenschaften«, sagte er halb im Tone des Trostes, halb des Vorwurfs. »So sind die Früchte des Verbrechens immer.«

»Vater«, sagte Jacopo ernst. »Mir allein mag dies Wort gelten, denn die Engel im Himmel sind nicht unschuldiger als dies weinende Mädchen.«

»Das höre ich gern. Ich will dir glauben, unglücklicher Mann, und freue mich, daß deine Seele nicht belastet ist mit der Sünde, solch junges Geschöpf verführt zu haben.«

Die Brust des Gefangenen hob sich, und Gelsomina schauderte.

»Warum hast du deiner Schwachheit nachgegeben und bist in den Kerker gekommen?« fragte der Karmeliter das Mädchen, indem er sich zwang, eine tadelnde Miene anzunehmen, der jedoch das Gefühl und die Milde seines Tones widersprachen. »Hast du den Charakter des Mannes gekannt, den du liebtest?«

»Heilige Maria!« schrie das Mädchen. »Nein – nein – nein!«

»Nun, so bist du jetzt, da du die Wahrheit erfahren hast, gewiß nicht mehr das Opfer törichter Einbildungen.«

Gelsominas Blick war verwirrt, obgleich Angst jeden andern Ausdruck verdrängte. Sie senkte den Kopf vor Scham und Schmerz und schwieg stille.

»Ich weiß nicht, Kinder, wozu diese Zusammenkunft dienen soll«, fuhr der Mönch fort. »Ich bin hergeschickt, die letzte Beichte eines Bravo anzuhören, und du, die du gewiß so viele Ursache hast, sein betrügliches Handeln zu verdammen, kannst nicht wünschen, seine einzelnen Taten mit anzuhören.«

»Es wird besser sein, Vater, daß sie mich für das abscheulichste Ungeheuer halte, das ihre Phantasie nur ersinnen kann«, sagte Jacopo mit fast erstickender Stimme. »So wird sie sich gewöhnen, mein Andenken zu hassen.«

Gelsomina erwiderte nichts, gab jedoch verneinende Zeichen mit der Gebärde des Wahnsinns.

»Das Herz des armen Kindes ist gar schmerzlich berührt«, sagte der Karmeliter teilnehmend. »Wir müssen eine so zarte Blume schonend behandeln. Höre mich an, meine Tochter, und laß deine Vernunft über deine Schwachheit Herrin werden.«

»Fragen Sie sie nicht, Vater! Lassen Sie sie mich verfluchen und gehen.«

»Carlo!« schrie Gelsomina auf.

Eine lange Pause folge. Der Mönch sah, daß seine Kunst hier nichts gegen die Leidenschaft vermochte und daß die Sache der Zeit überlassen bleiben müsse; der Gefangene seinerseits bestand einen härteren Kampf in sich, als ihm sein Schicksal bisher jemals auferlegt hatte. Das unaustilgbare Sehnen nach der Welt siegte endlich, und er brach das Schweigen.

»Vater«, sagte er feierlich und würdevoll, indem er so weit vortrat, als es seine Kette zuließ. »Ich hatte gehofft, ich hatte Gott gebeten, daß sich dies unschuldige Geschöpf von ihrer Liebe mit Schaudern abwenden möchte, wenn sie erführe, daß ihr Geliebter ein Bravo sei. – Aber ich habe dem weiblichen Herzen unrecht getan! – Sage mir, Gelsomina, und so lieb dir deine Seligkeit ist, täusche mich nicht – kannst du mich ansehen ohne Abscheu?«

Gelsomina zitterte, aber sie schlug die Augen auf und lächelte ihn an, wie das weinende Kind den zärtlich ernsten Blick der Mutter erwidert. Dies Lächeln wirkte so mächtig auf Jacopo, daß von dem Beben seines kräftigen Körpers der verwunderte Karmeliter die Ketten rasseln hörte.

»Genug«, sagte er und suchte Fassung zu erzwingen. »Gelsomina, du sollst meine Beichte hören. Du hast so lange das eine große Geheimnis besessen – es soll dir auch kein anderes verborgen bleiben.«

»Antonio!« ächzte das Mädchen. – »Carlo, Carlo! Was hatte jener alte Fischer dir getan, daß du ihm nach dem Leben trachtetest?«

»Antonio?« wiederholte der Mönch. »Hat man dir seinen Tod zur Last gelegt?«

»Um dieses Verbrechens willen bin ich zum Tode verurteilt.«

Der Karmeliter sank auf den Stuhl des Gefangenen und saß ohne Regung, den Blick mit Entsetzen von dem Gesichte des bewegungslosen Jacopo zur zitternden Gelsomina lenkend. Die Wahrheit fing an zu tagen in seiner Seele, obgleich sie sich noch nicht ganz aus dem venezianischen Truggewebe herauszuwinden vermochte.

»Hier herrscht ein fürchterlicher Irrtum«, sagte er leise. »Ich will zu deinen Richtern eilen, sie zu enttäuschen.«

Der Gefangene lächelte ruhig und streckte die Hand aus, um der Hastigkeit des einfachen Karmeliters Einhalt zu tun.

»Es wird nichts helfen«, sagte er. »Die Drei belieben einmal, mich für den Tod des alten Antonio büßen zu lassen.«

»So wirst du ungerechterweise sterben! Ich war Zeuge, daß er durch andere Hände fiel.«

»Vater!« schrie Gelsomina. »Oh, wiederhole dies Wort – sage, daß Carlo diese grausame Tat nicht kann getan haben!«

»An diesem Morde wenigstens ist er unschuldig.«

»Gelsomina«, sagte Jacopo und versuchte seine Arme nach ihr auszustrecken, indem sein volles Herz überströmte, »und an jedem andern auch.«

Ein wilder Schrei des Entzückens von den Lippen des Mädchens, und im nächsten Augenblick lag sie besinnungslos an seiner Brust.

Der Karmeliter überließ die beiden fast eine Stunde lang ungestört ihrem Schmerz und ihrer stillen Seligkeit, dann setzte er sich auf den Stuhl, und vor ihm knieten Jacopo und Gelsomina hin. Jacopo sprach angelegentlich, während seine Zuhörer jede Silbe haschten, die von seinen Lippen kam, mehr aus Freude an seiner Unschuld als aus Neugier.

»Ich habe Euch erzählt, Vater«, fuhr der Gefangene fort, »wie eine falsche Anklage, daß mein Vater die Zollgesetze übertreten habe, diesem unglücklichen Mann den Unwillen des Senats zuzog, weshalb man ihn viele Jahre lang in einem dieser verfluchten Löcher unschuldig eingesperrt hielt, während wir ihn auf die Inseln verbannt glaubten. Endlich gelang es uns, dem Rate Beweise vorzulegen, die hinreichend waren, die Patrizier ihrer Ungerechtigkeit zu überführen. Ich fürchte, daß die, die da annehmen, die Gewalt auf dieser Erde werde von Auserwählten geübt, wenig geneigt sein mögen, deren Fehlbarkeit zuzugeben, weil dies den Irrtum ihrer Annahme beweisen müßte. Der Rat schob es lange auf, uns Gerechtigkeit zu gewähren – so lange, daß meine arme Mutter endlich ihren Leiden erlag. Meine Schwester, ein Mädchen in Gelsominas Jahren, folgte ihr bald nach – denn die Regierung gab, zum Beweise gedrängt, keinen andern Grund an als den Verdacht, daß der Geliebte meiner Schwester des Verbrechens schuldig sein möchte, um das mein Vater verschmachtete.«

»Und haben sie sich geweigert, ihre Ungerechtigkeit wieder gutzumachen?« rief der Karmeliter.

»Sie konnten es nicht, Vater, ohne öffentlich den Ruf ihrer Unfehlbarkeit zu gefährden.«

»Das mag wahr sein, mein Sohn. Wenn eine Verfassung auf falschen Grundsätzen beruht, so kann sie natürlich nur durch Lug und Trug erhalten werden. Gott wird diese Sache anders ansehen!«

»Sonst wäre auch kein Trost in der Welt, Vater. Nach jahrelangen Bitten und Verwenden erhielt ich, nachdem man mir einen feierlichen Eid abgenommen hatte, Zutritt zum Gefängnis meines Vaters. Ich fühlte mich glücklich, daß ich für seine Bedürfnisse sorgen, seine Stimme hören, vor dem Segnenden knien durfte. Gelsomina war damals ein Kind, nahe zur Jungfrau. Mich zu meinem Vater zu führen, gebrauchte man sie, ich wußte nicht weshalb, obgleich es mir später klargeworden ist. Als sie mich genugsam in ihren Schlingen verstrickt glaubten, verleiteten sie mich zu den Mißgriffen, die alle meine Hoffnungen zerstört und mich in diese Lage gebracht haben.«

»Du hast deine Unschuld erwiesen, mein Sohn.«

»Keines Blutvergießens bin ich schuldig, Vater, wohl aber des Frevels, mich zu ihren Kunstgriffen hergegeben zu haben. Ich will Euch nicht die langwierige Geschichte der Mittel, durch die sie mein Gemüt bearbeiteten, hererzählen, frommer Mönch. Man vereidete mich, dem Staate eine Zeitlang als geheimer Agent zu dienen. Der Lohn sollte meines Vaters Freiheit sein. Hätten sie mich mitten aus dem Leben herausgefaßt und während ich Herr meiner Sinne war, nimmer würden sie gesiegt haben, aber da ich täglicher Augenzeuge war von den Leiden dessen, der mir das Leben geschenkt, der mir nunmehr alles war, was ich noch übrig hatte, so waren sie zu mächtig für meine Schwachheit. Sie sprachen mir heimlich von Foltern und Rädern, zeigten mir Gemälde von sterbenden Märtyrern, um mir die Qual begreiflich zu machen, die sie anwenden konnten. Morde fielen häufig vor und machten der Polizei Sorge – kurz, Vater«, Jacopo verbarg sein Gesicht in Gelsominas Gewändern, »ich willigte ein, daß man Gerüchte aussprengte, die die Aufmerksamkeit des Publikums auf mich ziehen mußten. Ich brauche nicht zu sagen, daß, wer sich zu seiner Schande selber herleiht, bald von ihr ereilt werden muß.«

»Wozu ward aber dieser elende Betrug erfunden?«

»Vater, man wandte sich an mich als an einen öffentlichen Bravo, und meine Denunziationen waren dem Rate in vielerlei Beziehung von Nutzen. Wenigstens ist für den Fehltritt, für das Verbrechen, darin ich verfallen bin, ein kleiner Trost, daß ich einige Menschenleben retten konnte.«

»Jetzt verstehe ich, Jacopo. Ich habe gehört, daß Venedig keinen Anstand nimmt, feurige und wackere Männer auf solche Weise zu gebrauchen. Heiliger Markus! Kann solch arger Betrug unter dem Schilde deines gelobten Namens geübt werden!«

»O ja, Vater, und noch ärgerer. Ich hatte mich der Republik auch noch zu anderen Diensten verpflichtet, in deren Ausübung ich denn auch Gewandtheit erlangte. Die Bürger wunderten sich, daß ein Mensch wie ich frei umhergehen durfte, während es die Rachsüchtigen für einen Beweis von Geschicklichkeit hielten. Wenn das Gerücht einmal zu anstößig wurde, so trugen die Drei Sorge, es anderswohin zu lenken, und wenn es ihnen zu schwach schien, so wußten sie es anzufachen. Kurz, drei lange, bittere Jahre hindurch hab ich dies Leben eines Verdammten geführt – nur durch die Hoffnung aufrecht gehalten, daß ich meinen Vater befreien würde, und beglückt durch die Liebe dieses schuldlosen Wesens.«

»Armer Jacopo, wahrlich, du verdienst Mitleid! Ich will in meinem Gebete deiner nicht vergessen.«

»Und du, Gelsomina?«

Die Tochter des Schließers gab keine Antwort. Sie hatte begierig jede Silbe seiner Rede eingesogen, und da nun die ganze Wahrheit in ihrer Seele aufstieg, strahlte ihr Auge mit einem Glanze, der den Anwesenden übernatürlich schien.

»Wenn ich dich nicht überzeugt habe, Gelsomina, daß ich nicht solch elender Mensch bin, als ich schien«, fuhr Jacopo fort, »so wollte ich lieber, ich wäre verstummt.«

Sie streckte eine Hand nach ihm aus, senkte ihr Haupt auf seine Brust und weinte.

»Ich sehe, wie sie dich in Versuchung geführt haben, armer Carlo!« sagte sie sanft. »Ich weiß, wie groß deine Liebe zu deinem Vater war.«

»Vergibst du mir, teure Gelsomina, daß ich deine Unschuld hintergangen habe?«

»Du hast mich ja nicht hintergangen. Ich hab dich für einen Sohn gehalten, der für seinen Vater sterben könnte, und ich finde nun, daß du bist, wofür ich dich hielt.«

Der gute Karmeliter betrachtete diese Szene mit teilnehmenden, nachsichtsvollen Blicken. Tränen netzten seine Wangen.

»Eure Liebe, Kinder«, sagte er, »ist so, daß Engel ihr verzeihen müssen. Hat euer Umgang miteinander lange gedauert?«

»Jahrelang, Vater!«

»Und du, meine Tochter, hast mit Jacopo die Zelle seines Vaters besucht?«

»Ich war immer seine Führerin bei dem frommen Gange, Vater.«

Der Mönch verfiel in tiefes Sinnen. Einige Minuten lang herrschte Schweigen, dann erfüllte er die Obliegenheiten seines heiligen Amtes. Er empfing die Beichte des Gefangenen und erteilte die Absolution mit einem Feuer, das seine innige Teilnahme an dem Schicksale des jungen Paares bewies. Hierauf gab er Gelsomina seine Hand und nahm mit milder Zuversicht in seinen Mienen von Jacopo Abschied.

»Wir verlassen dich«, sagte er, »aber sei mutig, mein Sohn. Ich kann mir nicht denken, daß selbst Venedig vor einer Geschichte, wie die deinige ist, die Ohren verschließen sollte! Vertrau vor allem deinem Gotte – und glaube, daß dies treue Mädchen so wenig als ich einen letzten Versuch zu deiner Rettung versäumen wird.«

Jacopo nahm diese Versicherung hin wie ein Mann, der an Wagnisse gewöhnt ist. Aber in sein Lächeln beim Abschied mischten sich Unglauben und Schwermut. Zugleich aber glänzte darin doch die Freude eines erleichterten Herzens.

Drittes Kapitel

Drittes Kapitel

Anninas Gegenwart setzte Gino sehr in Verlegenheit. Sobald sich das Boot dem Ende des Kanals näherte, schaute er umher, die wohlbekannte Feluke des Kalabresen zu suchen.

Der Hafen war von Schiffen aus sehr entfernten Gegenden belebt, und man sah die Flaggen der meisten Seemächte Europas in angemessenen Entfernungen innerhalb der Grenzen des Lido. Der Mond stand hoch genug, um sein mildes Licht über das schimmernde Bassin zu ergießen.

»Du verstehst nichts von der Schönheit eines Schiffes, Annina«, sagte der Gondoliere, der tief hinten im Boote stand, »sonst hätt ich dir geraten, diesen Fremden von Kandia anzusehen. Ein schönerer Bau soll nie innerhalb des Lido gesehen worden sein als eben dieser Grieche.«

»Wir haben nichts mit dem Kaufmann von Kandia zu schaffen, Gino, darum rudre nur zu, die Zeit eilt.«

»Er hat viel herben griechischen Wein im Raume, aber wie du sagst, wir haben nichts mit ihm zu tun. Jenes stolze Schiff, das abgesondert liegt von den übrigen kleinen Fahrzeugen unsrer Gewässer, gehört einem Ketzer von den englischen Inseln, ’s war ein Unglückstag für die Republik, Mädchen, an dem sie diesen Fremden zuerst erlaubte, das Adriatische Meer zu befahren.«

»Ist’s denn gewiß, Gino, daß San Marcos Arm stark genug war, es ihnen zu verwehren?«

»Element! Ich wollte, du tätest eine solche Frage nicht an einem Ort, wo so viele Gondeln in Bewegung sind! Hier sind Ragusaner, Malteser, Sizilianer, Toskaner in Unzahl, und dort liegt an der Einfahrt der Giudecca eine kleine Anzahl französischer Schiffe dicht beieinander, ’s ist ein Volk, das zu Wasser und zu Lande immer zusammenhält, weil’s das Schwatzen liebt. Doch hier sind wir am Ende unsrer Fahrt.«

Ginos Ruder machte eine Rückbewegung, und die Gondel hielt neben einer Feluke still.

»Einen guten Abend der ›Bella Sorrentina‹ und ihrem ehrenwerten Padrone«, grüßte der Gondoliere, indem er auf das Verdeck des Schiffes trat. »Ist der wackere Stefano Milario an Bord der behenden Feluke?«

Der Kalabrese antwortete ohne Verzug, und in wenigen Augenblicken war der Padrone mit seinen beiden Gästen in ein Gespräch vertieft.

»Ich hab dir hier jemanden gebracht, der Lust hat, gute venezianische Zechinen in deine Tasche zu schaffen, caro«, sagte der Gondoliere, nachdem die ersten Vorläufer der Unterhaltung in bester Form erledigt waren. »Es ist die Tochter eines höchst reellen Weinhändlers und ist ebenso bereit, eure sizilianischen Trauben in die Inseln zu versetzen, als sie imstand und gesonnen ist, sie zu bezahlen.«

»Und gewiß auch ebenso schön«, sagte der Seemann mit plumper Galanterie, »wenn die schwarze Wolke vor ihrem Antlitz behend weggezogen würde.«

»Eine Maske hindert nicht beim Handel, sofern nur ordentlich bezahlt wird. Wir haben hier in Venedig immerwährend Karneval, und der Käufer wie der Verkäufer hat es frei, sein Gesicht zu verstecken, so gut als seine Gedanken. Was hast du im Artikel verbotener Weine, Stefane, damit meine Gefährtin den Abend nicht mit müßigen Worten verliere?«

»Per Diana! Meister Gino, du bist ohne Umstände in deinen Fragen. Der Raum der Feluke ist leer, wie du dich überzeugen kannst, wenn du die Treppe runtersteigen willst. Was aber Wein anbelangt, so lechzen wir nach einem Tropfen, unser Blut zu wärmen.«

»Statt also herzukommen, ihn hier zu suchen«, sagte Annina, »hätten wir besser getan, nach der Kathedrale zu gehen und ein Ave zu beten für deine glückliche Heimfahrt. Und nun, da unser Witz aus ist, wollen wir gehen und einen andern suchen, der weniger pfiffig im Antworten ist als du, Meister Stefano.«

»Cospetto! Du weißt nicht, was du sprichst«, flüsterte Gino, als er sah, daß die vorsichtige Annina nicht bleiben wollte, »der Mann besucht nicht die kleinste Bucht in Italien, ohne auf eigne Rechnung etwas Nutzbares in der Feluke versteckt mitzubringen. Ein einziger Kauf von ihm entscheidet die Frage, ob deines Vaters Weine oder die von Baptista besser sind.«

Annina ward nachdenklich. Die lange Übung in dem kleinen, aber geheimen und überaus gefährlichen Handel, den ihr Vater, trotz der wachsamen und strengen venezianischen Polizei, bisher glücklich geführt hatte, machte ihr es einerseits bedenklich, einem gänzlich Unbekannten ihre Absicht zu zeigen, andererseits aber ein Geschäft aufzugeben, wobei etwas zu gewinnen sein konnte. Daß Gino sie in bezug auf seinen Auftrag geäfft hatte, war ganz klar, da ein Diener des Herzogs von Sant‘ Agata nicht leicht einer Verkleidung bedürfen konnte, um so einen Priester aufzusuchen, doch kannte sie seine Sorge für ihr persönliches Wohl zu gut, um ihm in einer Sache zu mißtrauen, die ihre eigene Sicherheit anging.

»Wenn du Furcht hast, daß hier Polizeispione sind«, sagte sie zu dem Padrone in einem Tone, der ihren Wunsch verriet, »so kann dich Gino leicht enttäuschen. Bezeug ihm doch, Gino, daß mich bei einem Geschäfte der Art kein Verdacht eines Verrats treffen kann.«

»Laß mich dem Kalabresen ein Wort ins Ohr sagen«, erwiderte der Gondoliere mit Nachdruck. – »Stefano Milano, wenn du mein Freund bist«, sprach er, als sie ein wenig beiseite getreten waren, »so verwickle das Mädchen hier in eine Unterredung und handle mit ihr auf gut Glück.«

»Soll ich ihr Don Camillos Weinernte oder die des Vizekönigs von Sizilien verkaufen, caro?«

»Wenn du wirklich trocken bist, so stelle dich wenigstens, als hättest du was, und mach Schwierigkeiten mit dem Preis. Halte sie nur eine Minute mit Redensarten hin, daß ich inzwischen unbemerkt in meine Gondel kommen kann, und dann, einem alten geprüften Freund zuliebe, bringe sie sänftiglich auf den Kai mit der schönsten Manier, die nur möglich ist.«

»Aha! Ich fange an, den Sinn von der Sache zu begreifen«, sagte der gefällige Padrone. »Ich will mit dem Frauenzimmer eine Stunde lang von der Blume meines Weines oder, wenn du willst, von ihrer Schönheit schwatzen, aber aus den Rippen der Feluke einen Tropfen Besseres als Lagunenwasser pressen, wäre ein Wunder San Teodoros würdig.«

»Du brauchst nicht eben von was anderm zu sprechen als von der Güte des Weines. Sie nimmt’s bald übel, wenn man von ihrem Äußeren schwatzt.«

»Da sich Gino offenherzig über die Sache ausgelassen hat«, nahm der gewandte Kalabrese das Wort, als hätte er plötzlich Zutrauen gefaßt, »so fang ich an zu glauben, daß wir doch noch einig werden können. Beehrt mich, schöne Donna, in meine arme Kajüte zu treten, da wollen wir mit Ruhe sprechen, wie es unser beiderseitiger Vorteil und unsere beiderseitige Sicherheit erfordern.«

Annina hatte im stillen wohl Bedenklichkeiten, dennoch aber ließ sie sich vom Padrone an die Stufen führen, als täte sie es mit der größten Bereitwilligkeit. Kaum wandte sie den Rücken, so schlüpfte Gino in die Gondel, die ein einziger Druck seines kräftigen Arms über eines Mannes Sprungweite vom Schiffe abtrieb. So schnell und geräuschlos dies geschah, hatte Anninas eifersüchtiges Auge dennoch die Flucht des Gondoliere entdeckt. Nicht imstand, diese zu verhindern, ließ sie sich, ohne Unruhe zu verraten, hinunterführen, als wäre alles so verabredet gewesen.

Mit einer Geistesgegenwart, die zufällig mit dem Plan ihres vorigen Gefährten zusammentraf, warf sie hin: »Gino sagte mir, Ihr hättet ein Boot, das mir nach beendigter Unterredung den freundlichen Dienst erweisen würde, mich an den Kai zu setzen.«

»Die Feluke selber sollte es tun, wenn andre Mittel fehlten«, versetzte der Seemann galant, als sie in die Kajüte eintraten.

Gino, nunmehr ungehindert, seine Schuldigkeit zu tun, betrieb seine Arbeit mit verdoppeltem Eifer. Das leichte Boot glitt durch die geschickte Handhabung des einzigen Ruders zwischen den vielen Fahrzeugen in solchen Windungen hin, daß alles Zusammenstoßen vermieden ward, bis er in den engen Kanal einfuhr, der den Dogenpalast von dem in schönerem und gediegenerem Stil erbauten Gefängnisse der Republik trennt.

Er passierte erst die Brücke, die zur Verbindung der Kais gehört. Darauf stahl er sich unter jenen berühmten Bogen, den Träger einer bedeckten Galerie, die das obere Stockwerk des Palastes mit dem des Kerkers vereinigt. Es ist dies der Gang, durch den die Gefangenen geführt werden, um vor ihren Richtern zu stehen, und man hat ihm deshalb den Namen der Seufzerbrücke gegeben.

Ginos Ruder ließ jetzt ein wenig nach, und die Gondel näherte sich einer Treppe. Indem er auf die unterste Stufe trat, warf er einen kleinen, eisernen Anker, der an einem Tau hing, in eine Spalte zwischen zwei Steinen und überließ sein Boot der Sicherheit dieser eigentümlichen Befestigung. Darauf schritt er die Stufen unter dem gewölbten Wassertor des Palastes hinauf und trat in den weiten, düsteren Hof.

Dieser war beinahe ganz menschenleer, denn es war spät, und alles zog sich nach dem dicht dabei gelegenen, munter belebten Platze. In der offenen Galerie am Eingang der Riesentreppe schritt ein Hellebardier auf und nieder, und hier und da scholl der Fußtritt anderer Schildwachen unter den gewölbten, schweren Bogen der langen Korridore. Aus den Fenstern blinkte kein Licht, sondern das Gebäude gab ein passendes Bild jener geheimnisvollen Macht, die das Geschick Venedigs und seiner Bürger leitete.

Da der Gondoliere die Hoffnung, seinen Mann unter dem Bogen zu finden, getäuscht sah, ging er weiter; er schmeichelte sich, ihn gar nicht mehr zu treffen, und das ermutigte ihn, durch ein lautes Hm! seine Gegenwart bemerklich zu machen. In diesem Augenblick glitt von der Seite des Kais eine Gestalt in den Hof und ging schnell bis in dessen Mitte. Ginos Herz pochte heftig, aber er nahm sich zusammen und trat dem Fremden entgegen. Da zeigte das Mondlicht, das auch in diesen düstern Raum drang, daß der Fremde ebenfalls maskiert war.

»San Teodoro und San Marco mögen Euch behüten«, hob der Gondoliere an. »Wenn ich mich nicht irre, seid Ihr der Mann, den ich hier treffen soll.«

Der Fremde stutzte und schien sich anfangs schnell davonmachen zu wollen, besann sich aber plötzlich und entgegnete: »Kann sein oder auch nicht. Nimm die Maske ab, daß ich sehen kann, ob dem so ist, wie du sagst.«

»Mit Eurer gütigen Erlaubnis, würdiger und werter Herr, möchte ich’s vorziehen, die Abendluft abzuhalten durch dies Stückchen Pappe und Seidenzeug.«

»Hier ist keiner, dich zu verraten. Wenn ich nicht weiß, wer du bist, wie soll ich dir traun?«

»In der Tat, Signore, ich weiß wohl, was ein unmaskiertes Gesicht vermag, und drum bitt ich Euch selbst, mir zu zeigen, was die Natur an Eure Gesichtsbildung gewendet hat, denn ich, der ich Euch was anzuvertrauen habe, muß erst wissen, ob es an den rechten Mann kommt.«

»Das ist gut und zeugt von deiner Klugheit, doch hab ich nicht Lust, meine Maske abzulegen, und da wenig Aussicht ist, daß wir uns verständigen werden, so will ich meiner Wege gehn. Schöne gute Nacht.«

»Cospetto! Signore, Ihr seid zu eilig für mich, der ich an solche Unterhandlungen nicht gewöhnt bin. Hier ist ein Siegelring, der uns vielleicht verständigen kann.«

Der Fremde nahm das Juwel und hielt es gegen das Mondlicht, wobei sich Überraschung und Vergnügen in seiner Bewegung verrieten.

»Das ist der Falkenbusch des Neapolitaners – dessen, der Herr von Sant‘ Agata ist.«

»Ja, und von manchen andern Lehen, guter Signore, nicht zu gedenken der Ehrenstellen, auf die er in Venedig Anspruch hat. Hab ich recht, daß mein Auftrag Euch angeht?«

»Es ist wahr, daß mein gegenwärtiges Geschäft eben niemanden betrifft als Don Camillo Monforte. Aber dir war doch nicht bloß aufgetragen, den Ring vorzuzeigen?«

»O nein, hier ist ein Paket, das nur darauf wartet, daß ich über die Person dessen, mit dem ich rede, Gewißheit erlange, um es in seine Hände zu geben.«

Der Fremde dachte einen Augenblick nach, dann, umherblickend, sprach er hastig: »Hier ist nicht der Ort, Freund, sich zu demaskieren. Wart hier, ich will gleich wiederkommen und dich an einen gelegeneren Platz führen.«

Kaum waren diese Worte gesprochen, so sah sich Gino allein mitten im Hofe. Der maskierte Fremde war schnell fortgegangen und befand sich schon am Fuße der Riesentreppe, ehe der Gondoliere Zeit hatte, sich zu besinnen. Mit leichtem, schnellem Schritt und ohne den Hellebardier zu beachten, stieg er hinauf und näherte sich der ersten von den drei bis vier Öffnungen der Mauer, die berühmt sind als die Behälter zur Aufnahme geheimer Anklagen und denen die geschnitzten Tierköpfe umher den Namen der Löwenrachen gegeben haben. Er warf etwas in den gähnenden Marmorschlund hinab; die Entfernung und die Dunkelheit der Galerie verhinderten Gino, zu bemerken, was es war. Darauf aber sah er die Gestalt wie einen Schatten die massiven Stufen hinunterschweben.

Gino hatte sich nach dem Bogen des Wassertores zurückgezogen und erwartete, daß sich der Fremde im Schutze des Schattens zu ihm gesellen würde, er sah aber zu seiner großen Bestürzung, die Gestalt durch das äußere Portal des Palastes dem St.-Markus-Platz zueilen. Im Augenblick jagte er ihm mit atemloser Eile nach. Er erreichte die glänzende, munterbelebte Piazza, die gegen den düsteren Hofraum abstach wie Tag gegen Nacht. Hier sah er, wie ganz vergeblich eine weitere Verfolgung des Fremden sein würde. Doch, geängstigt durch den Verlust des Siegelringes, warf sich der unvorsichtige, aber ehrliche Gondoliere in die dichte Volksmenge und suchte umsonst seinen Dieb aus tausend Masken herauszufinden.

Gino musterte mit wachsamen Augen die Menge. Fünfzigmal war er im Begriff zu reden, und ebensooft zeigte ihm eine kleine Verschiedenheit des Wuchses oder Anzugs, ein Gelächter oder ein leicht hingeworfenes Wort, daß er sich geirrt hatte. Er drang bis zum Ausgang der Piazza, dann nahm er seinen Weg zur andern Seite durch das Gedränge des Portikus, blickte in jedes Kaffeehaus und betrachtete jeden Vorübergehenden, bis er wieder zurück zur Piazetta gelangte. Da fühlte er seinen Ellbogen leicht gestreift und hemmte seinen Schritt, indem er sich umsah. Ein Frauenzimmer, gleich einer Contadina gekleidet, redete ihn mit verstellter Stimme an: »Wohin so schnell? Was hast du in diesem lustigen Haufen verloren?«

»Corpo di Bacco!« rief der Gondoliere. »Ist dir nicht ein Domino begegnet, der etwa so aussieht wie andere ordentliche Leute und einen Gang hat ungefähr wie ein Senator oder ein Padre und der eine Maske trägt, die tausend andern hier auf dem Platze so ähnlich ist wie eine Seite des Campanile der andern?«

»Du zeichnest den Mann so vortrefflich, daß man ihn nicht verfehlen kann. Da steht er neben dir.«

Gino drehte sich geschwind um und sah an dem Orte, wo er den Fremden zu finden gedachte, einen grinsenden Harlekin Possen treiben.

»Deine Augen, schöne Contadina, sind so blöd wie die eines Maulwurfs.« Er unterbrach seine Worte, denn sobald die, die ihn angeredet hatte, sah, daß sie sich in der Person geirrt hatte, war sie verschwunden. So immerfort getäuscht, drängte er sich dem Wasser zu. Endlich erreichte er einen Platz am Kai, der mehr Raum für Beobachtungen darbot. Er blieb stehen, unentschlossen, ob er zurückkehren und seinem Herrn seine Unvorsichtigkeit eingestehen oder ob er den Versuch zur Wiedererlangung des eingebüßten Ringes noch einmal erneuern sollte. Auf dem leeren Raum zwischen den beiden Granitpfeilern befand sich niemand als er und noch ein anderer, der regungslos wie eine Bildsäule am Fußgestell des Löwen von San Marco stand. Zwei oder drei streiften dicht an dem unbeweglichen Fremden hin, sei es aus Neugier, sei es, weil sie jemanden suchten, der sich hier einfinden sollte, aber wie zurückprallend von seiner Steinphysiognomie, glitten sie vorüber. Da Gino mehrmals dies auffallende Zurückschrecken vor dem Unbekannten bemerkt hatte, fühlte er sich bewogen, sich diesem über den Platz hin zu nähern und die Ursache zu erforschen. Beim Schalle der Tritte drehte sich der Fremde ein wenig um, und als das volle Mondlicht jetzt auf seine Züge fiel, zeigten sich dem Gondoliere das ruhige Gesicht und forschende Auge dessen, an den er abgeschickt war.

Zuerst durchzuckte den Gondoliere wie alle andern die Lust, sich schnell zu entfernen, aber er gedachte seines Auftrags und seines Verlustes und suchte seinen Widerwillen und seine Bestürzung zu bemeistern. Noch sprach er nicht, sondern starrte nur den Banditen mit einem Blick an, der zugleich die Verwirrung seines Gemüts und halbe Lust zur Anrede kundgab.

»Willst du was von mir?« fragte Jacopo, da sich beide länger angesehen hatten, als beim zufälligen Hinblicken zu geschehen pflegt.

»Meines Herrn Siegelring!«

»Ich kenne dich nicht.«

»Dies Bild San Teodoros, wenn es reden könnte, müßte bezeugen, daß ich die heilige Wahrheit sage. Ich hab die Ehre nicht, Euch bekannt zu sein, Signore Jacopo, aber man kann auch mit einem Fremden Geschäfte haben. Wenn Ihr es wart, der mit einem friedlichen und unschuldigen Gondoliere im Hofe des Palastes zusammentraf, eben als der Turm der Piazza das letzte Viertel schlug, und von diesem einen Ring erhielt, der keinem als dem rechtmäßigen Eigentümer was nützen kann, so wird ein so edelmütiger Mann nicht anstehen, ihn zurückzugeben.«

»Hältst du mich für einen Juwelier vom Rialto, daß du von Ringen mit mir sprichst?«

»Ich halte Euch für einen Mann, der gar wohl bekannt und geschätzt ist bei vielen Leuten von Rang und Bedeutung hier in Venedig, wie der Auftrag meines Herrn an Euch beweisen kann.«

»Nimm die Maske ab. Ehrliche Leute brauchen das Gesicht nicht zu verstecken.«

»Ihr sprecht gar sehr wahr, Signore Frontoni, was nicht zu verwundern ist, da Ihr so oft Gelegenheit habt, in die Handlungsweise der Menschen zu schauen. Aber mein Gesicht hat nichts, das die Mühe verlohnte, es anzusehen, und ich möchte gern wie alle andern tun in dieser lustigen Zeit, wenn’s Euch beliebt.«

»Wie du willst. Ich bitt dich aber, laß mich desgleichen tun.«

»Wer wollte so verwegen sein, Euch Euer Belieben streitig zu machen, Signore?«

»Mir beliebt, allein zu sein.«

»Cospetto! Kein Mensch in Venedig hülf Euch lieber dazu als ich, wenn nur meines Herrn Auftrag besorgt wäre«, murmelte Gino zwischen den Zähnen. »Ich habe hier ein Paket, Signore, das ich Euch und keinem andern abgeben soll.«

»Ich kenne dich nicht. – Hast du einen Namen?«

»So wie Ihr’s meint, eben nicht, Signore! In der Art von Ruf bin ich so namenlos wie ein Findelkind.«

»Wenn dein Herr nicht mehr bedeutet als du, so kann das Paket zurückgegeben werden.«‘

»’s gibt wenige im Gebiet von San Marco, die edleren Stammes sind und schönere Aussichten haben als der Herzog von Sant‘ Agata.«

Die Kälte in den Zügen des Banditen verschwand.

»Wenn du von Don Camillo Monforte kommst, warum zögerst du, mir das zu sagen? Was verlangt er?«

»Ich weiß nicht, ob das, was in diesem Papiere steht, von ihm selber ist oder von irgendeinem andern, aber so, wie es da ist, Signore Jacopo, ward mir befohlen, es Euch abzuliefern.«

Er nahm schweigend das Paket, der Blick aber, den er auf das Siegel und die Aufschrift warf, schien dem schüchternen Gondoliere der Blick eines Tigers zu sein, der Blut sieht,

»Du sprachst was von einem Ringe. Hast du den Siegelring deines Herrn mitgebracht? Ich bin gewohnt, Wahrzeichen zu sehen, ehe ich Zutrauen fasse.«

»Wollte Gott, ich hätt ihn noch! Aber jemand, den ich fälschlich für Euch hielt, Meister Jacopo, hat ihn an seinem eigenen langen Finger, fürcht ich.«

»Das magst du mit deinem Herrn ausmachen«, erwiderte der Bandit kalt und betrachtete das Siegel von neuem.

»Wenn Ihr die Handschrift meines Herrn kennt«, fiel der Gondoliere hastig ein, der für das Schicksal seines Pakets fürchtete, »so werdet Ihr in diesen Zügen seine schöne Hand erkennen. Wenig Leute in Venedig oder gar in ganz Sizilien schreiben eine bessere Hand mit ihrem Gänsekiel als Don Camillo Monforte. Ich selbst kann’s nicht halb so schön machen.«

»Ich bin kein Schreiber«, sagte der Bandit, ohne sich dieses Geständnisses zu schämen. »Ich hab’s nicht gelernt, solche Schreiberei zu entziffern. Wenn du die Kunst so gut verstehst, sag mir, an wen die Aufschrift lautet.«

»Es wäre sehr unziemlich, auch nur ein Silbchen auszusprechen von den Geheimnissen meines Herrn«, erwiderte der Gondoliere, sich plötzlich eine Hintertür suchend. »Es ist hinlänglich, daß er mir befahl, den Brief abzugeben; außerdem auch nur ein wenig zu flüstern wäre gar sehr anmaßend.«

Das dunkle Auge des Banditen rollte über die Gestalt seines Gefährten hin, daß diesem das Blut aus den Adern entwich.

»Ich sage dir, lies laut den Namen, der auf diesem Papier steht«, rief Jacopo in strengem Ton. »Hier ist keiner, uns zu behorchen, als der Löwe und der Heilige da über unsern Köpfen.«

»Gerechter San Marco! Wer kann sagen in Venedig, welches Ohr offen ist und welches geschlossen! Wenn’s Euch beliebt, Signore Frontoni, wollen wir die Untersuchung auf eine passendere Gelegenheit aufschieben.«

»Freund, ich laß mich nicht zum Narren haben! Den Namen, oder zeig mir irgendein Pfand, daß du von dem kommst, den du mir nennst, sonst nimm dein Paket zurück, ’s ist kein Geschäft für mich.«

»Denkt einen Augenblick an die Folgen, Signore Jacopo, und beschließt nicht so hastig.«

»Es kann keine Folgen haben, eine solche Botschaft abzuweisen!«

»Per Dio, Signore! Der Herzog wird Lust haben, mir kein Ohrzipfelchen zu lassen, um Vater Battistas Rat anzuhören.«

»So wird der Herzog dem Henker eine Müh sparen.«

Mit diesen Worten warf der Bandit dem Gondoliere das Paket vor die Füße und fing an, langsam die Piazetta hinaufzugehen. Gino hob den Brief auf, und sein Hirn wirbelte von der Anstrengung, einen von seines Herrn Bekannten auszudenken, an den ein Brief bei solcher Gelegenheit gerichtet sein konnte.

»Ich wundre mich, Signore Jacopo«, sagte er, »daß ein so kluger Mann wie Ihr nicht daran denkt, daß ein Paket, das an ihn angegeben wird, auch an ihn selbst adressiert sein muß.«

Der Bandit nahm das Papier und hielt die Schrift gegen das Mondlicht.

»Das ist nicht der Fall… Ich kann nicht lesen, aber die Züge meines Namens hat mich die Notdurft schon kennengelehrt.«

»Diamine! So geht mir’s auch, Signore. Wenn der Brief an mich gerichtet wäre, so wollte ich’s so geschwind erkennen wie die Alte ihr Junges.«

»Du kannst also nicht lesen?«

»Ich hab nie Anspruch drauf gemacht. Auch hab ich nur ein bißchen vom Schreiben gesprochen. Die Gelehrsamkeit teilt sich, wie Ihr wohl wißt, Meister Jacopo, in Lesen, Schreiben und Rechnen; man kann wohl das eine verstehen, ohne ein Wörtchen vom andern zu wissen.«

»Das hättest du gleich sagen sollen. Geh, ich will die Sache bedenken.«

Gino war froh loszukommen; er hatte aber kaum einige Schritte getan, so sah er eine Frauengestalt hinter einer der Granitsäulen hervorgleiten. Indem er sich geschwind so drehte, daß er entdecken konnte, wer es wäre, der vermutlich gehorcht hätte, sah er, daß Annina Zeugin gewesen war von seinem Gespräch mit dem Banditen.

Dreißigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Die Schließer erwarteten den Karmeliter und Gelsomina und verwahrten, sobald diese fort waren, die Tür für die Nacht. Da die beiden nichts weiter mit den Leuten vom Gefängnisse zu tun hatten, so ließ man sie ungestört gehen. Aber am Ende des Korridors, der zu den Gemächern des Hauswarts führte, blieb der Mönch stehen.

»Fühlst du dich stark zu einem großen Unternehmen, das den Unschuldigen retten könnte?« fragte er schnell und doch mit so feierlichem Tone, daß sich darin die Wichtigkeit seines Vorhabens erkennen ließ.

»Vater!«

»Ich möchte wissen, ob dich deine Liebe zu dem jungen Manne mit Mut genug beseele zu einem gewagten Versuche. Denn ohne einen solchen muß er unvermeidlich sterben.«

»Ich wollte sterben, um Jacopo einen Seufzer zu ersparen.«

»Täusche dich nicht selbst, meine Tochter! Kannst du deinem gewöhnlichen Benehmen entsagen, die Ängstlichkeit, die dein Alter und dein Stand mit sich bringen, überwinden, furchtlos dastehen und sprechen vor den Hohen und Gefürchteten?«

»Ehrwürdiger Karmeliter, sprech ich doch täglich ohne Furcht, wenn auch nicht ohne Ehrerbietung zu einem, der furchtbarer ist als irgend jemand in Venedig.«

Der Mönch sah bewundernd auf das sanfte Wesen, in dessen Zügen mild die Entschlossenheit glühte, die Unschuld und Liebe verleihen. Er machte ein Zeichen, ihm zu folgen.

»So wollen wir denn, wenn nichts anderes hilft«, sagte er, »vor den Stolzesten und Furchtbarsten der Erde hintreten. Wir wollen unsere Schuldigkeit nicht versäumen, weder gegen den Bedrücker noch gegen den Unterdrückten, auf daß keine Unterlassungssünde unser Gewissen beschwere.«

Ohne weiteren Aufschluß zu geben, führte Vater Anselmo das bereitwillige Mädchen in den Teil des Palastes, der als die Privatwohnung des sogenannten Oberhauptes der Republik bekannt war.

Geschichtlich ist die Eifersucht der venezianischen Patrizier, die den Dogen zu einem Spielzeug in ihren Händen machten, indem sie ihn ihrer Regierungsmethode gemäß zu nichts weiter gebrauchten als zu einer Prunkfigur bei den imposanten Zeremonien, die ihr Schein suchendes System erforderte, und bei den Verhandlungen mit dem Auslande. Er wohnte in seinem Palaste wie die Bienenkönigin im Stocke, äußerlich geehrt und gepflegt, in Wahrheit aber von denen abhängig, die allein die Macht haben zu verletzen und, gleich demselben Insekt, mehr als einen gewöhnlichen Teil von den Früchten des gemeinsamen Fleißes zu verzehren.

Vater Anselmo verschaffte sich durch seine Entschlossenheit und durch die Zuversichtlichkeit seines Benehmens Zutritt zu den inneren Gemächern eines Fürsten, der so abgeschlossen und bewacht lebte.

Mehrere Schildwachen ließen ihn durch, aus seinem heiligen Stande und seinem gemessenen Schritte schließend, daß der Mönch in seinem gewöhnlichen Dienste herkomme, der ihm ein Vorrecht vor allen andern gab. Durch dies ruhige, stille Verfahren gelangte der Karmeliter mit seiner Gefährtin bis in das Vorzimmer des Fürsten, das Tausende durch weit künstlichere Mittel zu erreichen vergeblich sich bemüht hatten.

Nur zwei oder drei niedere Beamte vom Hause hielten schläfrig Wache. Einer stand jedoch schnell auf, als er die unbekannten Gäste so unerwartet hereintreten sah, und drückte durch das Überraschte und Verwirrte seines Blickes sein Erstaunen über den ungeahnten Besuch aus.

»Seine Hoheit erwartet uns wohl schon?« fragte Vater Anselmo ganz einfach und zwang seine bekümmerte Miene zu einem Blicke voll ergebener Höflichkeit.

»Santa Maria, heiliger Vater, das müßt Ihr am besten wissen, aber –«

»So wollen wir denn die Zeit nicht mit müßigen Worten verlieren, mein Sohn, da wir schon zu lange gezögert haben – führe uns in das Gemach Seiner Hoheit.«

»Wir dürfen niemanden ungemeldet vor –«

»Du siehst, dies ist kein gewöhnlicher Besuch. – Geh, sage dem Dogen, daß der Karmelitermönch, den er erwartet, und das junge Mädchen, an dem sein fürstliches Herz einen so väterlichen Anteil nimmt, seine Befehle erwarten.«

»Also hat Seine Hoheit befoh…«

»Sage ihm ferner, daß die Not dringend ist, denn die Stunde steht nahe bevor, in der die Unschuld leiden soll.«

Der Diener ließ sich durch den Ernst und die Zuversicht des Mönchs täuschen. Erst besann er sich noch, dann stieß er eine Tür auf und führte die Gäste in ein inneres Zimmer, wo er sie bat, seine Rückkehr zu erwarten. Demnächst begab er sich in das Kabinett seines Herrn, um seinen Auftrag auszurichten.

Es ward schon angeführt, daß der regierende Herr, wenn anders dieser Titel einem Fürsten beigelegt werden kann, der nur eine Puppe der Aristokraten ist, daß dieser ein bejahrter Mann war. Er hatte die Sorgen des Tages beiseite geworfen und las einen der Klassiker seines Vaterlandes. Seinen Putz hatte er, um sich bequemer und freier bewegen zu können, abgelegt. Der Mönch konnte keinen glücklicheren Augenblick für sein Geschäft gewählt haben, denn der Mann war nicht verschanzt mit den öffentlichen Insignien seines Ranges und sanft gestimmt durch das Eingehen in einen Schriftsteller, der es wohl verstand, des Lesers Gefühle nach seinem Belieben zu erregen und zu lenken.

Eben war der Doge so vertieft in seinen Gegenstand, daß er den eintretenden Kämmerling nicht bemerkte und daß dieser schon eine Minute lang dastand, den Wink des Herrn erwartend, ehe er gesehen wurde.

»Was willst du, Marco?« fragte der Fürst, als er von dem Buche aufsah.

»Signore«, entgegnete der Diener in der vertraulichen Weise, die denen verstattet ist, die der Person des Fürsten am nächsten stehen, »draußen warten der ehrwürdige Karmeliter und das junge Mädchen.«

»Was sagst du? – Ein Karmeliter und ein Mädchen?«

»Ja, Signore. Dieselben, die Ew. Hoheit herbestellt haben.«

»Was ist dies für ein freches Vorgehen?«

»Signore, ich wiederhole nur die Worte des Mönchs. – Sage Seiner Hoheit – sprach der Pater –, daß der Karmeliter, den er zu sprechen wünscht, und das junge Mädchen, an dessen Wohl sein fürstliches Herz so väterlich Anteil nimmt, seine Befehle erwarten.«

Über die alten Züge des greisen Fürsten zog die Glut des Unwillens röter als die der Scham, und sein Auge blitzte.

»Dies bietet man mir – in meinem eigenen Palaste!«

»Verzeihung, Signore! Dieser Priester ist nicht schamlos, wie so viele, die die Tonsur in Unehren bringen. Der Mönch und das Mädchen sehen beide unschuldig aus und arglos, und Eure Hoheit haben vielleicht vergessen –«

Die Röte von den Wangen verschwand, und sein Auge nahm wieder einen väterlichen Ausdruck an. Aber sein Alter und die Erfahrungen seiner schwierigen Stellung hatten den Dogen Vorsicht gelehrt. Er wußte recht gut, daß er nichts vergessen hatte, und ahnte, daß die ungewöhnliche Meldung eine verborgene Bedeutung haben müsse. Es konnte ein Anschlag seiner Feinde sein, denn er hatte deren viele und tätige, oder es war vielleicht ein anderer verzeihlicher Beweggrund, der zu einem so kecken Mittel, sich Zutritt zu verschaffen, geführt hatte.

»Hat der Karmeliter sonst noch etwas gesagt, guter Marco?« fragte er nach tiefem Sinnen.

»Signore, er sagte, daß die Sache dringend wäre, denn die Stunde sei nahe, wo die Unschuld leiden könnte. Ich zweifle nicht, daß er kommt, für irgendeinen jungen Extravaganten zu bitten, denn es sollen mehrere Jünglinge von Adel wegen ihrer Tollheiten beim Karneval verhaftet worden sein. Das Frauenzimmer mag eine verkleidete Schwester sein.«

»Laß einen von deinen Kameraden hereinkommen, und du, führe die Gäste mir zu, sobald ich klingle.«

Der Diener entfernte sich und ging auf einem anderen Wege in das Vorzimmer, um sich den Wartenden nicht zu früh zu zeigen. Der zweite Kämmerling erschien sogleich vor dem Dogen und wurde von diesem abgeschickt, einen vom Rate der Drei herbeizurufen, der in einem nahen Zimmer mit wichtigen Papieren beschäftigt war. Der Senator leistete dem Rufe sogleich Folge, denn er trat hier als der Freund des Fürsten auf und war als solcher öffentlich und mit den üblichen Ehrenbezeigungen hereingelassen worden.

»Man hat mir einen Besuch ungewöhnlicher Art angekündigt, Signore«, sagte der Doge und stand auf, den Mann zu empfangen, den er aus Vorsicht gegen sich selbst herbeschieden hatte. »Ich wünschte, daß Ihr Zeuge wäret von ihrem Begehren.«

»Es ist gut, daß Ew. Hoheit uns Senatoren Anteil an Ihren Geschäften vergönnt. Aber wenn der Irrtum, daß es durchaus so nötig sei, Euch bewegen sollte, die Gegenwart eines Rates zu verlangen, sooft jemand den Palast besucht –«

»Ich weiß, Signore«, unterbrach ihn der Fürst mit sanfter Stimme und schellte. »Ich hoffe, mein Begehren hat Euch nicht unangenehm gestört. Da kommen aber schon, die ich erwarte.«

Vater Anselmo und Gelsomina traten miteinander in das Gemach. Der Doge sah auf den ersten Blick, daß sie ihm gänzlich fremd waren. Er und das Mitglied des geheimen Rates blickten einander an und nahmen gegenseitiges Erstaunen wahr.

Dem Dogen gegenüberstehend, warf der Karmeliter seine Kutte zurück und enthüllte dadurch ganz seine asketischen Züge, während sich Gelsomina, aus Scheu vor dem hohen Range des Mannes, der sie empfing, schamhaft zurückzog und sich hinter dem Gewande des Mönchs halb versteckte.

»Was bedeutet dieser Besuch«, fragte der Fürst, »und diese ungewöhnliche Begleitung? Weder die Zeit noch die Art der Meldung ist herkömmlich.«

Vater Anselmo stand zum erstenmal vor dem Oberhaupt von Venedig. Gewohnt aber, wie alle seine Landsleute und mehr noch seine Altersgenossen, vorsichtig die Möglichkeit des Erfolges zu berechnen, ehe er seinen Gedanken Worte zu geben wagte, heftete der Mönch erst einen festen Blick auf den Fragenden. »Erlauchter Fürst«, sagte er dann, »wir kommen, um Gerechtigkeit zu bitten. In solcher Angelegenheit gilt es, kühn zu sein, um nicht seinem eigenen Charakter und der guten Sache etwas zu vergeben.«

»Gerechtigkeit ist der Stolz des heiligen Markus und das Glück seiner Untertanen. Dein Verfahren, Vater, ist nicht der bestehenden Ordnung und den heilsamen Schranken gemäß, doch es findet vielleicht seine Verteidigung – stelle dein Anliegen vor.«

»In den Gefängnissen sitzt einer, den die öffentlichen Gerichte zum Tode verurteilt haben und der, sobald der Tag wiederkehrt, sterben muß, wenn ihn Euer fürstlicher Machtspruch nicht rettet und ich habe bei der Ausübung meines heiligen Amtes ermittelt, daß er unschuldig ist.«

»Sagtest du, verurteilt von den gewöhnlichen Gerichten, Vater?«

»Zum Tode verdammt, Hoheit, durch einen Spruch des Kriminalgerichts.«

Der Fürst schien erleichtert. Solange die Sache öffentlich war, hatte er wenigstens Hoffnung, seiner natürlichen Menschenfreundlichkeit nachzuhängen und weiter zu hören, ohne der verschlungenen Staatspolitik zu nahe zu treten. Er warf einen Blick auf den unbeweglichen Inquisitor, gleichsam forschend, ob dieser es billige, und trat dem Karmeliter einen Schritt näher, mit zunehmender Teilnahme an dem Gesuche.

»Mit welcher Berechtigung, ehrwürdiger Priester, widersetzest du dich dem richterlichen Ausspruch?« fragte er.

»Signore, wie ich eben sagte, infolge der Kenntnis, die ich bei Ausübung meines heiligen Amtes gewonnen habe. Er hat mir sein Innerstes enthüllt als ein Mann, dessen Fuß bereits im Grabe steht, und obgleich ein Sünder vor Gott, wie alle, die vom Weibe geboren sind, ist er doch unschuldig vor der weltlichen Obrigkeit.«

»Denkst du, Vater, daß jemals das Gesetz sein Opfer erreichen würde, wenn wir nur auf Selbstanklagen hörten! Ich bin alt, Mönch, und habe lange diesen mühseligen Schmuck getragen«, er wies auf die gehörnte Mütze, das Symbol des Staates, die neben ihm lag, »und ich erinner mich nicht, daß jemals ein Verbrecher die Schuld auf etwas anderes geschoben hätte als auf ungünstige Umstände, deren Opfer er sei.«

»Daß die Menschen mit so betrüglichem Trost ihr Gewissen beschwichtigen, weiß ein Mann von meinem Berufe gar wohl. Unser Tagewerk ist ja hauptsächlich, denen ihre Täuschung nachzuweisen, die, ihre eigenen Sünden durch Bekenntnis und Selbsterniedrigung verdammend, auf ihre Demut stolz sind. Aber, Doge von Venedig! Es gibt noch eine Kraft in dem heiligen Sakramente, das ich diesen Abend zu verwalten gerufen worden bin, eine Kraft, die den Stolz des ausschweifendsten Gemütes überwältigen kann. Viele suchen sich selber zu betrügen bei der Beichte, aber durch Gottes Macht gelingt es wenigen.«

»Gepriesen sei dafür die gelobte Mutter und ihr Sohn, der Mensch geworden«, erwiderte der Fürst, von dem stillen Glauben des Mönchs ergriffen, und bekreuzigte sich fromm. »Vater, du hast vergessen, den Verurteilten zu nennen.«

»Es ist ein gewisser Jacopo Frontoni, der als Bravo verrufen ist.«

Der Fürst von Venedig stutzte, wechselte die Farbe, und sein Blick verriet unverstelltes Erstaunen.

»Sprichst du von dem blutigsten Stilett, das je die Stadt geschändet hat, als von der Waffe eines nur sogenannten Bravo? Die Kunstgriffe des Ungeheuers sind mächtiger gewesen als deine Erfahrung, Mönch! Das treue Bekenntnis eines solchen Elenden kann nur eine Geschichte blutiger und empörender Verbrechen sein.«

»Als ich in sein Gefängnis trat, war ich derselben Meinung, aber ich ging fort in der Überzeugung, daß ihm die öffentliche Stimme unrecht getan hat. Wenn Ew. Hoheit die Gnade haben will, seine Geschichte anzuhören, werdet Ihr ihn eher für einen Gegenstand des Mitleids als der Verdammung halten.«

»Unter allen Verbrechern in meinem Reiche hätte ich diesen für den letzten gehalten, zu dessen Gunsten etwas vorgebracht werden könnte! Aber sprich frei, Karmeliter. Meine Neugier ist so groß als mein Erstaunen.«

Der Doge ließ seinen Gefühlen so ganz freien Lauf, daß er im Augenblicke gar nicht an die Gegenwart des Inquisitors dachte, dessen Gesicht ihm sonst wohl mochte verraten haben, wie bedenklich die Sache zu werden anfing.

Der Mönch dankte dem Himmel, denn es war nicht immer leicht in diesem geheimnisvollen Staate, die Wahrheit vor die Ohren der Mächtigen zu bringen. Wenn ein so doppelsinniges Wesen in der ganzen Verfassung herrscht, so verwebt sich der entsprechende Sinn in die Gewohnheiten der Freimütigsten, wenn sie es auch selber nicht merken. Als daher Vater Anselmo zu der verlangten Erklärung schritt, berührte er schonend die Kunstgriffe des Staates und deutete mit Zurückhaltung die Gebräuche und Meinungen an, die ein Mann seines heiligen Berufes und seiner Redlichkeit unter anderen Umständen furchtlos verdammt haben würde.

»Es mag einem so hochgestellten Herrn, als Ihr seid, gebietender Fürst«, begann der Karmeliter, »vielleicht fremd sein, daß ein niedriger, aber fleißiger Arbeiter dieser Stadt, ein gewisser Francesco Frontoni, vor langer Zeit wegen Zollverbrechens verurteilt wurde. Dieses Verbrechen pflegt der Staat immer streng zu bestrafen, denn wenn die Menschen die Güter dieser Welt allem übrigen vorziehen, so verkennen sie den Zweck, der sie zum geselligen Verbande zusammengeführt hat.«

»Vater, wolltest du von einem gewissen Francesco Frontoni sprechen?«

»Ja, Hoheit, so hieß er. Der Unglückliche hatte einen Mann zum Freunde und Vertrauten, der als Freier seiner Tochter um seine Geheimnisse zu wissen schien. Als sich dieser falsche Freund, der Zollverbrechen verübt hatte, auf dem Punkte sah, entdeckt zu werden, ersann er einen Betrug, durch den er selbst entkam und auf seinen allzu vertrauensvollen Freund den Unwillen der Regierung lenkte. Francesco wurde zum Gefängnis unter den Bleidächern verurteilt, um ihn zum Geständnis von Tatsachen zu bringen, die nie geschehen waren.«

»Das ist ein hartes Geschick, ehrwürdiger Mönch, wenn die Sache so erwiesen werden kann!«

»Großer Doge, das ist das Übel bei Geheimhaltung und Intrige in der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten.«

»Hast du noch mehr von diesem Francesco zu sagen, Mönch?«

»Seine Geschichte ist kurz, Signore. In der Lebenszeit, die die meisten Menschen in Tätigkeit für ihr eigenes Wohl verwenden, schmachtete er im Kerker.«

»Ich erinnere mich, von einer solchen Anklage gehört zu haben – aber die Sache fiel während der Regierung des vorigen Dogen vor, nicht wahr, Vater?«

»Und hat fast bis zum Ende der Regierung des jetzigen gedauert, Hoheit.«

»Wie? Der Senat hat doch, von dem Mißgriff in Kenntnis gesetzt, sein Unrecht schnell wieder gutgemacht!«

Der Mönch sah den Fürsten ernst an, als wollte er sich Gewißheit verschaffen, ob das Erstaunen, das er wahrnahm, nicht ein hoher Grad von Verstellung wäre. Er überzeugte sich jedoch, daß die Sache zu denen gehörte, die, wie ungerecht, grausam und zerstörend sie auch für das Glück eines einzelnen sein mögen, doch nicht wichtig genug sind, um vor die gebracht zu werden, die an der Spitze einer Verwaltung stehen, die mehr ihr eigenes Bestehen als das Gemeinwohl ins Auge faßt.

»Signore Doge«, sagte er, »der Staat ist behutsam, wo es seinen eigenen guten Ruf gilt. Es sind Gründe, die ich mir nicht herausnehme zu untersuchen, die aber den Kerker des armen Francesco noch immer verschlossen hielten, als nach dem Tode und Bekenntnisse seines Anklägers schon längst seine Unschuld erwiesen war.«

Der Fürst sann nach, und sodann fiel ihm ein, die Mienen seines Gesellschafters zu Rate zu ziehen. Der Marmor des Pfeilers, an den dieser gelehnt stand, war nicht kälter und unbeweglicher als das Gesicht des Inquisitors. Der Mann hatte gelernt, vor den erkünstelten Pflichten seines Amtes jede natürliche Regung schwinden zu lassen.

»Und was hat diese Sache des Francesco mit der Hinrichtung des Bravo zu tun?« sagte der Doge nach einer Pause, während der er sich vergeblich bemühte, die gleichgültige Miene seines Rates anzunehmen.

»Das zu beantworten, werde ich hier der Tochter des Gefängniswärters überlassen! – Tritt vor, Kind, und erzähle, was du weißt. Gedenke daran, daß du, vor dem Dogen von Venedig redend, zugleich vor dem Könige der Himmel stehst.«

Gelsomina zitterte. Wie sie erzogen war, konnte sie, der Güte ihrer Sache ungeachtet, nicht leicht eine natürliche Scheu bekämpfen. Aber getreu ihrem Versprechen und ermutigt durch ihre Liebe zu dem Verurteilten, trat sie einen Schritt vor und versteckte sich nicht länger hinter dem Gewande des Karmeliters.

»Du bist die Tochter des Gefängniswärters?« fragte der Fürst mit mildem Tone, obgleich sich Erstaunen in seinem Auge malte.

»Hoheit, wir sind arm und unglücklich. Wir dienen dem Staate um Brot.«

»Ihr dient einem edeln Herrn, Kind. Weißt du etwas von diesem Bravo?«

»Hoher Herr, die ihn so nennen, kennen sein Herz nicht. Es kann keinen geben in Venedig, der gegen seine Freunde herzlicher, seinem Worte getreuer und den Heiligen ergebener wäre als Jacopo Frontoni.«

»Diesen Charakter kann die Kunst auch wohl einem Bravo beilegen. Aber wir verlieren die Zeit. Was haben die beiden Frontoni miteinander gemein?«

»Hoheit, sie sind Vater und Sohn. Als Jacopo so alt war, daß er das Unglück seiner Familie einsehen konnte, lag er den Senatoren mit Bitten für seinen Vater so lange an, daß diese befahlen, man sollte den Kerker des Gefangenen einem so frommen Sohne heimlich öffnen. Ich weiß wohl, daß die Regierenden nicht allwissend sein können, sonst wäre solch Unrecht nie möglich gewesen. Aber Francesco blieb jahrelang im Gefängnis, wo es winters kalt und dunstig und sommers eine glühende Hitze ist, bis es herauskam, daß er falsch angeschuldigt war. Da ließ man zu einigem Ersatz für die gar nicht verdienten Qualen Jacopo zu ihm.«

»Warum das, Mädchen?«

»Hoheit, war es nicht aus Erbarmen? Sie versprachen auch, daß die Dienste des Sohnes zu seiner Zeit dem Vater die Freiheit erwerben sollten. Die Patrizier waren aber schwer zu überzeugen und machten Bedingungen mit dem armen Jacopo, und er ging darauf ein, sich einem schweren Geschäft zu unterziehen, damit nur sein Vater noch einmal die freie Luft atmen möchte vor seinem Tode.«

»Du sprichst in Rätseln.«

»Ich bin nicht gewohnt, großer Doge, vor so vornehmen Herren zu reden, auch nicht über solche Sachen. Aber dies weiß ich, daß Jacopo drei lange Jahre Zutritt hatte zu seines Vaters Zelle und daß dies mit Erlaubnis der Obrigkeit geschah; mein Vater würde es sonst nicht gelitten haben. Ich begleitete ihn immer bei dem frommen Gange und will die gelobte Jungfrau und alle Heiligen zu Zeu –«

»Mädchen, hast du gewußt, daß er ein Bravo ist?«

»Ach, Hoheit, nein! Er schien mir immer ein pflichtliebender Sohn, der Gott fürchtete und seinen Vater ehrte. Ich möchte nie wieder solchen Schmerz empfinden, als mich damals durchschauerte, da sie sagten, der, den ich als den guten Carlo gekannt hatte, würde in Venedig verfolgt als der verabscheute Jacopo! Aber es ist vorüber, gelobt sei die Mutter Gottes!«

»Du bist diesem verurteilten Manne verlobt?«

»Ja, Hoheit. Wir hätten uns geheiratet, wenn es Gott gefallen hätte und diesen großen Senatoren, die so vielen Einfluß auf das Schicksal der Armen haben –«

»Und du bist noch jetzt, da du den Mann kennst, willens, dich einem Jacopo anzutrauen?«

»Weil ich ihn so kenne, wie er ist, großer Doge, darum muß ich ihn ehren. Er hat dem Staate seine Zeit und seinen guten Ruf verkauft, um seinen gefangenen Vater zu retten, und darin seh ich nichts Abschreckendes für eine, die er liebt.«

»Die Sache bedarf der Erklärung, Karmeliter. Das Mädchen hat eine erhitzte Phantasie und verwickelt, was sie entwirren will.«

»Erlauchter Fürst, sie wollte sagen, daß es der Republik genehm war, dem Sohne den Besuch bei seinem Vater zu verstatten und ihm Hoffnung zu dessen Befreiung zu machen, unter der Bedingung, daß sich der junge Mann zum Vorteil der Polizei für einen Bravo ausgab.«

»Und für diese unglaubliche Geschichte bürgt Euch nichts als das Wort eines verurteilten Verbrechers?«

»Der vor seinen Augen nichts sieht als den Tod. Es gibt Mittel, die Wahrheit klar zu durchschauen, und sie sind denen bekannt, die oft sterbenden Büßern beistehen, unbekannt aber den weltlichen Menschen. Jedenfalls, Signore, ist die Sache der Untersuchung wert.«

»Darin hast du recht. Ist die Stunde zur Hinrichtung bestimmt?«

»Mit Tagesanbruch, Fürst.«

»Und der Vater?«

»Ist im Kerker gestorben.« Eine Pause.

»Hast du vom Tode eines gewissen Antonio gehört?« nahm der erschütterte Doge, sich fassend, das Wort.

»Ja, Signore. Bei meinem heiligen Amte bezeuge ich, daß Jacopo an diesem Verbrechen unschuldig ist. Ich selbst habe dem Fischer zur Beichte gesessen.«

Der Doge wendete sich ab, denn die Wahrheit dämmerte in ihm auf, und die Glut auf seinen greisen Wangen enthielt ein Geständnis, das nicht jedes Auge merken konnte. Er suchte den Blick seines Gesellschafters, aber der Ausdruck seines menschlichen Gefühls traf auf die geregelten Züge des anderen wie Licht auf polierten Stein, davon es kalt zurückprallt.

»Hoheit«, sagte eine zitternde Stimme.

»Was willst du, Kind?«

»Es gibt einen Gott für die Republik so gut als für den Gondoliere! Wird Ew. Hoheit nicht diese große Sünde von Venedig abwenden?«

»Du sprichst geradeaus, Mädchen.«

»Carlos große Gefahr hat mich kühn gemacht. Das Volk liebt Euch sehr, und keiner spricht von Euch, ohne zugleich von Eurer Güte und Eurer Dienstwilligkeit für die Armen zu sprechen. Ihr seid unser Vater, und wir haben ein Recht, zu Euch zu kommen, auch wenn wir um Gnade bitten. Hier aber, Hoheit, fordere ich nur Gerechtigkeit.«

»Gerechtigkeit ist Venedigs Wahlspruch.«

»Die von der Vorsehung reichlich gesegnet sind, wissen nicht immer, was ein Armer zu tragen hat. Es hat Gott gefallen, meiner eigenen armen Mutter schwere Leiden aufzuerlegen, die ohne ihre Geduld und ihren christlichen Glauben schwer zu überstehen wären. Das bißchen Sorgfalt, das ich ihr spenden konnte, hat zuerst Jacopos Augen auf mich gezogen, denn sein Herz war voll von Kindespflicht. Wenn Ew. Hoheit nur Carlo besuchen wollten oder ihn hierherbringen ließen, so würde seine einfache Erzählung alle schändlichen Untaten, die sie ihm aufgebürdet haben, zur Lüge machen.«

»Das ist nicht nötig – das ist nicht nötig. Dein Glaube an seine Unschuld, Mädchen, ist beredter, als alle seine Worte sein können.«

Ein Freudenstrahl blitzte in Gelsominas Gesicht auf, sie wandte sich zu dem Mönche und sagte: »Seine Hoheit gibt Gehör, und wir werden durchdringen! Vater, sie mögen drohen in Venedig und den Furchtsamen ängstlich machen, aber sie werden das niemals tun, was wir gefürchtet haben. Ist nicht Jacopos Gott mein Gott und ihr Gott? Der Gott des Senates und des Dogen? Des Rates und der Republik? Ich wünschte, die geheimen Mitglieder vom Rate der Drei hätten den armen Jacopo gesehen, wenn er nach seinem Tagewerk, müde von der Arbeit, gepeinigt von dem ewigen Zögern, in die Winter- oder Sommerzelle trat, wie es nun gerade war, eisig kalt oder brennend heiß, und sich zwang, vergnügt zu sein, damit der fälschlich Angeklagte nicht noch mehr sein Elend fühlen möchte! – Ach, ehrwürdiger und gütiger Fürst, Ihr wisset wenig von der Last, die oft die Armen zu tragen haben, denn Euch ist das Leben Sonnenschein. Aber Millionen sind da, die tun müssen, was sie hassen, um nur nicht tun zu müssen, was sie fürchten.«

»Kind, du sagst mir nichts Neues.«

»Außer, daß ich Euch Beweise gebe, Hoheit, daß Jacopo kein solch Ungeheuer ist, als sie aus ihm machen wollen. Ich weiß nicht, aus was für geheimen Gründen der Rat den jungen Mann zu einem Betruge bewogen hat, der beinahe so unglücklich geendet hätte, jetzt aber, da alles aufgeklärt ist, haben wir nichts zu fürchten. Kommt, Vater! Wir wollen den guten und gerechten Dogen zur Ruhe gehen lassen, wie seinen Jahren zukommt, und wollen zurückgehen, Jacopos Herz aufzuheitern durch die Nachricht von unserem Erfolge, und wollen der gelobten Maria für ihre Gnade danken.«

»Halt!« rief der Greis mit erstickter Stimme. »Ist es wahr, was du mir gesagt hast, Mädchen? Vater, kann es so sein?«

»Signore, ich habe alles wahrhaft gesagt, wie mich mein Gewissen trieb.«

Des Fürsten Auge schweifte wild von dem bewegungslosen Mädchen zu dem gleichfalls unbewegten Mitgliede der Drei hinüber.

»Tritt hierher, Kind«, sagte er, und seine Stimme zitterte, »tritt her, daß ich dich segne.« Gelsomina trat schnell vor und ließ sich vor dem Herrn auf ihre Knie nieder.

Nie hatte Vater Anselmo einen lauteren und glühenderen Segen gesprochen, als jetzt von den Lippen des Dogen von Venedig floß. Der letztere hob sodann die Tochter des Gefangenenwärters auf und bedeutete den beiden Gästen, sich zu entfernen. Gelsomina gehorchte gern, denn ihr Herz, voll Begierde, ihren Erfolg mitzuteilen, war schon in Jacopos Zelle, aber der Karmeliter warf noch einen zögernden Blick zurück als ein Mann, der besser bekannt war mit den Wirkungen weltlicher Politik, wenn diese mit dem Interesse solcher Leute zusammenhängt, die die Herrschaft zum Vorteil der Bevorrechteten anwenden. Im Hinausgehen aber war seine Hoffnung neu belebt, denn er sah den greisen Fürsten, unfähig, sein Gefühl länger zurückzuhalten, mit ausgestreckten Armen, mit tränenerfüllten Augen, mit einem Blicke, in dem sich Verlangen nach der Freude menschlichen Mitgefühls lebendig aussprach, auf seinen schweigsamen Gesellschafter zueilen.

Einunddreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Wieder rief der Morgen die Venezianer an ihr Tagewerk. Agenten der Polizei hatten geschäftig die Stimmung des Volkes bearbeitet, und sobald die Sonne über dem Meere emporstieg, fingen die Plätze an, sich zu füllen. Da fand sich der neugierige Bürger ein in Mantel und Mütze, da gafften verwundert barfüßige Arbeitsleute, da kam der vorsichtige, bärtige Hebräer in seinem weiten Rock, Edelleute zeigten sich in Masken und manche aufmerksame Fremde, von den Tausenden, die diese Stadt noch immer besuchten, obgleich der Glanz ihres Handels im Abnehmen war. Man erzählte einander, daß eine Handlung der vergeltenden Gerechtigkeit für die Ruhe der Stadt und die Sicherheit der Bürger gehandhabt werden sollte.

Die Dalmatier waren unfern des Meeres dergestalt aufmarschiert, daß sie die beiden Granitsäulen der Piazetta umgaben. Ihre ernsten soldatischen Gesichter waren nach ihnen, den afrikanischen Säulen, jenen wohlbekannten Grenzzeichen des Todes, zugekehrt. Einige grimmige Krieger von höherem Range durchschritten den Raum vor den Truppen, während sich ein dichtgedrängter Haufe hinter diesen anschloß. Aus besonderer Gunst hatte man über hundert Fischern vergönnt, sich innerhalb des bewaffneten Kreises aufzustellen, damit sie sehen sollten, wie ihr Stand gerächt würde. Zwischen den hohen Fußgestellen des heiligen Theodor und des Flügellöwen befanden sich Block und Axt, ein Tragekorb und Sägespäne, die damals üblichen Gerätschaften bei Hinrichtungen. Neben diesen stand der Scharfrichter.

Eine Bewegung in der Menge lenkte endlich jedes Auge nach dem Tore des Palastes. Ein Gemurmel erhob sich, die Menge wallte hin und her, und eine kleine Schar Sbirren wurde sichtbar. Ihr Schritt war schnell, wie der Gang des Geschicks. Die Reihe der Dalmatier öffnete sich zur Aufnahme dieser Handlanger des Schicksals und schloß sich wieder hinter ihnen, als verschlössen sie mit dem Verurteilten die Welt mit allen ihren Hoffnungen. Als sie bei dem Blocke zwischen den Säulen ankamen, teilten sich die Sbirren in Reihen und zogen sich ein wenig zurück, Jacopo blieb allein vor den Todeswerkzeugen mit seinem geistlichen Ratgeber, dem Karmeliter, der gaffenden Menge sichtbar.

Vater Anselmo war in der gewöhnlichen Ordenskleidung der Barfüßermönche. Die Kapuze des heiligen Mannes war zurückgeschlagen und zeigte den Umstehenden seine kasteiten Züge. Sein Gesicht war ein Bild verworrener Ungewißheit; oft blitzten Funken von Hoffnung fieberhaft darin auf. Während sich seine Lippen betend bewegten, schweifte sein Blick unwillkürlich von einem Fenster des Dogenpalastes zum andern. Er stellte sich indessen neben den Verurteilten hin und bekreuzigte sich dreimal mit innigem Eifer.

Jacopo stand in ruhiger Haltung vor dem Block. Sein Kopf war entblößt, seine Wange farblos, Hals und Nacken bis zu den Schultern unbedeckt, sein Oberleib war mit dem Hemd und sein übriger Körper nach Brauch der Gondolieri bekleidet. Er kniete nieder, das Gesicht dem Blocke zuwendend, und betete; dann stand er auf und überschaute die Menge mit Würde und Fassung. Während sein Auge über die Reihe menschlicher Gesichter langsam hinschweifte, überflog eine flüchtige Glut sein Antlitz; denn keines von allen verriet Gefühl für sein Leiden. Seine Brust hob sich, und die zunächst standen, bildeten sich ein, nunmehr verlasse den Unglücklichen seine Selbstbeherrschung. Aber so geschah es nicht. Er schauderte wohl zusammen, dann aber gewann er wieder die vorige Ruhe.

»Du hast dich vergeblich unter der Menge nach einem wohlwollenden Auge umgesehen!« sagte der Karmeliter, dem die konvulsivische Bewegung nicht entgangen war.

»Für einen Mörder hat hier keiner Mitleid.«

»Denk an deinen Erlöser, Sohn. Er litt Schmach und Tod für ein Geschlecht, das seine Gottheit leugnete und seine Qual verhöhnte.«

Jacopo bekreuzigte sich und beugte ehrfurchtsvoll sein Haupt.

»Hast du noch mehr zu beten, Vater?« fragte der Oberste der Sbirren, dem die Aufsicht über die ganze Handlung übertragen war. »Obgleich die erlauchten Räte unerschütterlich sind in der Gerechtigkeit, so haben sie doch mit den Seelen der Sünder Erbarmen.«

»Hast du auch bestimmte Befehle?« fragte der Mönch, indem er ungewiß sein Auge wiederum auf die Fenster des Palastes heftete. »Ist es gewiß, daß der Gefangene sterben muß?«

Der Offizier lächelte über die Einfalt der Frage. Mit der Fühllosigkeit eines Mannes, der zu vertraut ist mit menschlichen Leiden, um Mitleid zu haben, fügte er hinzu: »Es ist das Schicksal aller Menschen, ehrwürdiger Mönch, und namentlich derer, über die das Gericht des heiligen Markus ergangen ist. Es wäre besser, Euer Beichtling dächt an seine Seele.«

»Du hast doch auch gewiß besonderen und ausdrücklichen Befehl? Man hat dir doch die Zeit zur Vollführung des blutigen Werkes genau bestimmt?«

»Jawohl, heiliger Karmeliter. Die Zeit wird nicht langsam sein, und Ihr tätet gut, sie Euch zunutze zu machen, wofern Ihr nicht schon mit dem Seelenzustand des Gefangenen zufrieden seid.«

So sprechend, warf der Offizier einen Blick auf die Sonnenuhr des Platzes und ging kaltblütig fort, den Priester und den Gefangenen zwischen den Säulen wieder allein lassend. Der erstere von diesen konnte offenbar noch immer nicht an die wirkliche Vollstreckung des Urteils glauben.

»Hast du Hoffnung, Jacopo?« fragte er.

»Karmeliter, auf meinen Gott!«

»Sie können dies Unrecht nicht begehen! Ich war des Antonio Beichtiger – ich war Zeuge von seinem Tode, und das weiß der Fürst!«

»Was ist ein Fürst und seine Gerechtigkeit, wo die Selbstsucht einiger weniger regiert. Vater, du bist ein Neuling im Dienste des Senats.«

»Ich vermesse mich freilich nicht, vorauszusetzen, daß Gott die Verüber dieser Tat niederdonnern wird, denn die Geheimnisse seiner Weisheit sind unerforschlich. Dies Leben und alles, was diese Welt bieten kann, ist nur ein Punkt vor seinem allumfassenden Auge, und was uns als Übel erscheint, mag des Guten voll sein. Hast du Glauben an deinen Erlöser, Jacopo?«

Der Gefangene legte seine Hand auf das Herz und lächelte mit der stillen Zuversicht, die nur denen innewohnt, die solchen Trost haben.

»Wir wollen noch einmal beten, Sohn!«

Der Karmeliter und Jacopo knieten nebeneinander, und der letztere beugte seinen Kopf dem Blocke zu, während der Mönch schließlich die göttliche Gnade für ihn erflehte. Der Karmeliter stand auf, als der andere noch betend dalag. Der Mönch war so voll von heiligen Gedanken, daß er, seines früheren Wunsches vergessend, jetzt fast mit Zufriedenheit daran dachte, wie der Gefangene nunmehr in den Genuß der Seligkeit eingehen sollte, deren Hoffnung ihn selbst so freudig erhob. Der Offizier und der Scharfrichter traten näher; ersterer stieß Vater Anselmo an und deutete auf die entfernte Uhr.

»Der Augenblick ist da«, sprach er, mehr aus Gewohnheit als aus Schonung für den Gefangenen flüsternd.

Instinktmäßig wendete der Karmeliter sein Auge nach dem Palaste, in der plötzlichen Aufregung nur seines Begriffs von irdischer Gerechtigkeit eingedenk. Es zeigten sich Gestalten an den Fenstern, und er bildete sich ein, es sollte ein Signal gegeben werden, um den entscheidenden Schlag zu hemmen.

»Halt!« rief er. »Um die Liebe der Heiligen Jungfrau, hemmet Eure Hast!«

Sein Ausruf wurde von einer durchdringenden Weiberstimme wiederholt, und in demselben Augenblicke durchbrach Gelsomina, trotz aller Bemühung, sie zurückzuhalten, die Reihe der Dalmatier und erreichte die Gruppe zwischen den Granitsäulen. Erstaunen und Neugier ergriff die Menge, und ein dumpfes Gemurmel durchlief den Platz.

»Es ist eine Wahnsinnige!« schrie einer.

»Ein Opfer seiner Kunstgriffe«, sagte ein anderer, denn wenn jemand im Rufe eines besonderen Lasters steht, unterläßt die Welt gewöhnlich nicht, ihm alle übrigen gleichfalls beizumessen.

Gelsomina ergriff Jacopos Bande und machte wahnsinnige Anstrengungen, seine Arme zu befreien.

»Ich hoffte, du würdest dir diesen Anblick sparen, arme Gessina«, sagte der Verurteilte.

»Sei nicht besorgt«, erwiderte sie atemlos. »Es ist nur Neckerei – es ist nur eine List von ihnen, um zu berücken – aber sie können nicht – nein, sie dürfen kein Haar von deinem Haupte krümmen, Carlo!«

»Teuerste Gelsomina!«

»Nein, halte mich nicht. Ich will mit den Bürgern sprechen, und du wirst sehen, ich kann gut mit ihnen sprechen und ihnen dreist die Wahrheit bekanntmachen. Mir fehlt nur der Atem.«

»Geliebte! Du hast eine Mutter – einen Vater, denen deine Zärtlichkeit gehört. Deine kindliche Pflicht gegen sie wird dich beglücken.«

»Jetzt kann ich sprechen, und du sollst sehen, wie ich deinen Namen rechtfertigen will.«

Sie riß sich aus den Armen des Geliebten, der sie seiner Bande ungeachtet fest umschlungen hielt. Es wurde ihm schwerer, ihre zarte Gestalt aus seinen Armen zu lassen, als vom Leben zu scheiden. Jetzt schien der Kampf in Jacopos Seele vorüber. Geduldig legte er sein Haupt auf den Block, vor dem er kniete, und seine gefalteten Hände ließen vermuten, daß er für sie betete, die ihn eben verlassen hatte. Gelsomina aber, mit beiden Händen ihr Haar von der blendend reinen Stirn nach den Seiten streichend, trat zu den Fischern, die sie an den roten Mützen und nackten Beinen erkannte. Sie lächelte, wie man sich denken kann, daß Selige lächeln in ihrer Liebe.

»Venezianer«, sagte sie, »ich kann euch nicht tadeln. Ihr seid hier, um Zeugen zu sein vom Tode eines Mannes, der nach eurer Meinung nicht zu leben verdient.«

»Dessen, der den alten Antonio gemordet hat«, murmelte es durch den Haufen.

»Ja, des Mörders dieses alten, herrlichen Mannes. Aber wenn ihr erfahrt, daß ihr den für einen Mörder haltet, der ein frommer Sohn gewesen ist, ein treuer Diener der Republik, ein gewandter Gondoliere, ein aufrichtiges Gemüt, so werdet ihr nach Gerechtigkeit Verlangen tragen.«

Ein allgemeines Murren übertönte ihre Stimme, die schon so zitternd und leise war, daß man nur bei der größten Stille ihre Worte vernehmen konnte. Der Karmeliter war an ihre Seite getreten und bat durch ein Zeichen angelegentlich um Stille.

»Höret sie, Männer der Lagunen«, sagte er, »sie spricht heilige Wahrheit.«

»Dieser ehrwürdige, fromme Mönch und der Himmel sind meine Zeugen. Wenn ihr Carlo besser kennen und seine Geschichte gehört haben werdet, dann werdet ihr von selbst schreien, daß man ihn losgebe. Ich sage euch dies, damit ihr, wenn der Doge dort am Fenster das Zeichen der Begnadigung gibt, nicht ärgerlich werdet und glaubt, euerm Stande geschehe Unrecht. Der arme Carlo –«

»Das Mädchen rast!« unterbrachen sie die mürrischen Fischer.

Gelsomina lächelte in der Sicherheit ihrer Unschuld und fuhr fort, sobald sie wieder zu Atem kam, doch die heftige Aufregung störte noch ihre Rede.

»Der arme Carlo –«

»Ha! Ein Zeichen vom Palast!« rief der Karmeliter laut und streckte beide Arme dorthin aus, als wollte er ein Gnadengeschenk hinnehmen. In demselben Augenblick tönten die Trompeten, und von neuem wallte die Menge durcheinander. Gelsomina stieß ein Freudengeschrei aus und wandte sich schnell, um sich an die Brust des Geretteten zu werfen, da blitzte die Axt vor ihren Augen nieder, und Jacopos Kopf rollte auf dem Pflaster dahin, als suchte er sie. Eine allgemeine Bewegung unter der Menge verriet, daß alles vorbei sei.

Die Dalmatier schwenkten in Kolonnen. Die Sbirren drängten das Volk beiseite, um heimzugelangen; Wasser aus der Bucht wurde auf die Fliesen gegossen, die blutigen Sägespäne wurden zusammengerafft, und Kopf und Rumpf, Block, Tragekorb, Beil und Scharfrichter verschwanden. Der Haufe des Volkes ging um den verhängnisvollen Fleck herum.

Während dieses fürchterlichen Augenblicks standen Vater Anselmo und Gelsomina regungslos. Alles war vorüber, und noch schien der ganze Vorfall Täuschung.

»Schafft diese Verrückte fort!« sagte ein Polizeibeamter und deutete auf Gelsomina. Man gehorchte ihm mit venezianischer Bereitwilligkeit. Der Karmeliter atmete kaum. Er starrte die bewegliche Menge, er starrte die Fenster des Palastes und starrte die Sonne an, die so herrlich am Himmel strahlte.

»Du bist verloren in dieser Menge«, sprach eine Stimme neben ihm leise. »Ehrwürdiger Karmeliter, du wirst wohltun, mir zu folgen.«

Der Mönch war zu tief gebeugt, um sich zu besinnen. Sein Führer brachte ihn durch manche verborgene Straße bis zu einem Kai, wo er sogleich eine Gondel bestieg, die nach dem Festlande fuhr. Ehe die Sonne im Mittage stand, war der in Gedanken versunkene, zitternde Mönch auf dem Wege nach dem Kirchenstaate und in kurzem im Schlosse Sant‘ Agata wohnhaft.

Zur gewöhnlichen Stunde ging die Sonne hinter den Tiroler Bergen unter, und der Mond kam über den Lido herauf. Die engen Straßen Venedigs ergossen ihre Tausende wiederum auf die Plätze. Das sanfte Licht streifte die seltsame Architektur und den schwindlig hohen Turm und warf einen betrüglichen Glanz auf die Inselstadt.

Die Portikus erglänzten vom Scheine der Lampen. Die Fröhlichen lachten, die Unbekümmerten tändelten, die Maskierten verfolgten ihre versteckten Zwecke; die Balladensänger und Spaßmacher übten ihre Streiche, und Unzählige gaben sich dem leeren Ergötzen hin, wie es gedankenlose, müßige Leute lieben. Jeder lebte für sich, und die Staatsmaschine Venedigs behielt nach wie vor ihren lastenvollen Gang, der durch das verwegene Trugspiel, das er mit heiligen Grundsätzen trieb, die in der Wahrheit und im natürlichen Rechte ihre Wurzel haben, Regierer und Regierte entwürdigte und endlich ins Verderben stürzte.

Viertes Kapitel

Viertes Kapitel

Während jenes lebendigen Treibens auf der Piazza San Marco lag der Überrest der Stadt still und einsam im Lichte des Mondes, der so hoch stand, daß sein Schein zwischen die Häuser fiel und hier und da auch die Oberfläche des Wassers flimmernd berührte. Zuweilen entfaltete ein Blick seines Lichtes auf die schweren Karniese eines Palastes den merkwürdigsten Kontrast finsterer Einsamkeit von innen und glänzend reicher Architektur des äußern Gebäudes. Zu einem von diesen Edelsitzen führt uns jetzt unsere Erzählung.

Eine schwerfällige Pracht herrschte in der Bauart des Hauses. Der geräumige Flur war massiv gewölbt, die marmornen Stufen breit und schwer. Die Zimmer überraschten durch Bildwerk und Vergoldung, und die Wände waren reichlich geschmückt mit unzähligen Meisterwerken der größten italienischen Künstler. Die kühlen, schönen Mosaikfußböden von den kostbarsten Marmorarten vollendeten den stolzen Stil, der Glanz und Geschmack vereinigte.

Das Gebäude, das auf zwei Seiten unmittelbar aus dem Wasser hervorstieg, hatte in der Mitte, wie gewöhnlich, einen dunkeln Hof. Den verschiedenen Seiten des Hauses folgend, konnte man durch manche zu dieser Stunde dem kühlen Zug der Seeluft geöffnete Tür in die langen Reihen der mit wahrhaft königlicher Pracht ausgestattetem Gemächer blicken, in denen umschattete Lampen ein sanftes, angenehmes Licht verbreiteten.

In der Ecke des Hauses, an dem kleineren der beiden Kanäle und ganz entfernt von dem Hauptkanale der Stadt, dem das Gebäude die Front zukehrte, befand sich eine Reihe von Zimmern, die nicht mindere Pracht als die zuvor beschriebenen verrieten, aber zugleich mehr Rücksicht auf die Bequemlichkeiten des gewöhnlichen Lebens. Die Vorhänge waren von schwerstem Sammet oder von glänzendem Seidenzeuge, die Spiegel waren groß und äußerst fein geschliffen, die Fußböden wieder von gefälligen heitern Farben und die Wände mit Kunstwerken bedeckt. Aber das Ganze zeigte doch mehr ein Bild häuslicher Behaglichkeit. Die Wandbekleidung und Vorhänge hingen in ungezwungenen Falten herab, die Betten waren zum Schlafen eingerichtet, die Gemälde waren zarte Kopien von der Hand einer jungen Liebhaberin, deren Muße sich in dieser artigen und weiblichen Beschäftigung ergötzte.

Die Schöne hatte eben in ihrem Gemach eine Unterredung mit ihrem geistlichen Ratgeber und mit einer Person ihres Geschlechts, die lange bei ihr die Stelle einer Erzieherin und Mutter vertreten hatte. Die Herrin des Palastes war noch in so zartem Alter, daß sie in nördlicherer Gegend für kaum mehr als ein Kind gegolten hätte, während in ihrem Lande das Ebenmaß und die Ausbildung ihrer Formen sowie der Ausdruck eines dunkeln, sprechenden Auges weibliche Reife in körperlicher und geistiger Hinsicht kundgaben.

»Für den guten Rat danke ich Euch, mein Vater, und meine vortreffliche Florinde wird Euch noch mehr dafür dankbar sein, denn Eure Ansicht stimmt mit der ihrigen immer so ganz überein, daß ich mich oft gewundert habe, wie die Erfahrung auf eine geheimnisvolle Art den Weisen und den Tugendhaften gleiche Gedanken eingibt, und noch dazu über einen Gegenstand von so wenigem persönlichem Interesse.«

Ein leichtes verstohlenes Lächeln umzog den Mund des Karmeliters, als er die naive Bemerkung seines freimütigen Zöglings vernahm.

»Du wirst lernen, mein Kind«, erwiderte er, »wenn dich die Zeit mit Weisheit ausgerüstet haben wird, daß wir in den Dingen, die unsere Leidenschaften und Interessen am wenigsten berühren, gerade am fähigsten sind, vorsichtig und unparteiisch zu urteilen. Wenn Donna Florinde auch noch nicht das Alter erreicht hat, in dem man endlich die Begierde unterjocht, und obgleich sie noch so vieles an die Welt fesselt, so wird sie dir doch diese Wahrheit bezeugen können.«

Obgleich der Redner, sich offenbar eben zum Fortgehen rüstend, die Kutte über den Kopf gezogen hatte und sein tiefliegendes Auge mit Wohlwollen auf dem schönen Antlitz seiner Schülerin ruhte, röteten sich doch die bleichen Wangen der mütterlichen Freundin.

»Ich darf glauben, daß Violetta dies nicht erst jetzt erfährt«, sagte Donna Florinde mit merklich weicher und zitternder Stimme.

»Es wird wenig geben, das einem so unerfahrenen Mädchen, als ich bin, gesagt werden kann, was sie mich nicht gelehrt hätte«, entgegnete schnell ihr Zögling und ergriff, ohne es selbst zu merken und ohne vom Gesicht des Karmeliters den Blick abzuwenden, die Hand ihrer treuen Führerin. »Aber warum verlangt der Senat über ein Mädchen zu verfügen, das, wie bisher, auch ferner leben möchte, glücklich in ihrer Jugend und zufrieden mit der Zurückgezogenheit, die ihrem Geschlechte geziemt?«

»Die Jahre sind unaufhaltsam, selbst ein unschuldiges Kind wie du muß einst die Versuchungen eines vorgerückten Alters fühlen. Es gibt in diesem Leben gebieterische, oft tyrannische Pflichten. Du weißt, welche Politik in einem Staate herrschen muß, der sich durch hohe Waffentaten, durch Reichtümer und weit verbreiteten Einfluß so berühmt gemacht hat wie dieser. Es gibt ein Gesetz in Venedig, das jedem, der in den Angelegenheiten der Stadt irgendeine Stelle einzunehmen berechtigt ist, verbietet, sich mit Ausländern der Art zu verbinden, daß seine Ergebenheit für die Republik dabei in Gefahr käme. So darf kein Patrizier des San-Marco in einem andern Staate Güter besitzen, keine Erbin eines so hohen und geehrten Namens wie du sich einem Ausländer von Bedeutung vermählen, es sei denn mit dem Wunsch und der Bewilligung derer, die über das Gemeinwohl zu wachen eingesetzt sind.«

»Hätte mir die Vorsehung durch die Geburt einen geringeren Stand angewiesen, so wär alles dies anders. Mich dünkt, es trägt nicht viel bei zum weiblichen Glück, dem Rate der Zehn besonders am Herzen zu liegen.«

»Du sprichst unbescheiden, und ich beklage es, sagen zu müssen, gottlos. Es ist unsere Schuldigkeit, uns den weltlichen Gesetzen zu unterwerfen, und mehr als Schuldigkeit, die Ehrfurcht gebietet uns, gegen die Vorsehung nicht zu murren. Aber die Last scheint mir auch gar so schwer nicht, gegen die du dich auflehnst, meine Tochter. Du bist jung, reicher, als ein vernünftiger Wunsch zu begehren erlaubt, von einem Adel, der einen verderblichen, weltlichen Stolz erregen könnte, und schön genug, um dir selbst der gefährlichste von allen Feinden zu werden – warum murrst du gegen ein Los, das ja doch allen deines Geschlechts und deiner Verhältnisse zuteil wird?«

»Wenn ich gegen die Vorsehung gemurrt habe, so fühle ich jetzt schon Reue darüber«, entgegnete Donna Violetta, »aber fürwahr, es würde weniger unangenehm sein für ein Mädchen von sechzehn Jahren, wenn die Väter des Landes so viel Wichtigeres zu tun hätten, daß sie des Mädchens Stand und Alter und etwa auch ihren Reichtum darüber vergäßen.«

»Es wäre eben kein Verdienst, mit einer Welt zufrieden zu sein, die wir nach unseren Grillen zugeschnitten hätten, und es ist die Frage, ob wir, wenn alles nach unserem Wunsch ginge, glücklicher wären als jetzt, wo wir uns fügen müssen in die Ordnung, wie sie einmal besteht. Den Anteil, den die Republik an deinem besonderen Wohl nimmt, meine Tochter, mußt du dir gefallen lassen und so ihr vergelten für die Sicherheit und Herrlichkeit, die sie dir gewährt. Wer in dunklerem Stande, weniger gesegnet mit Glücksgütern geboren wird, kann mehr Freiheit seines Willens haben, muß aber dafür den Glanz entbehren, der die Wohnung deiner Väter erfüllt.«

»Ich wollte, es wäre weniger Pracht und mehr Freiheit darin.« »Die Zeit wird dich lehren, anders hierüber zu denken, dein Alter sieht alles in goldigen Farben; das Leben erscheint dann gleich zwecklos, sobald auch selbst der unbesonnenste Wunsch unerfüllt bleibt. Indessen leugne ich nicht, daß gerade dein Schicksal mit ganz besondern Umständen verbunden ist. Es herrscht eine Politik in Venedig, die viel berechnet und die mancher darum vielleicht für grausam hält.« Die Stimme des Karmeliters war gesunken, und einen Augenblick innehaltend, warf er einen unruhigen Blick unter seiner Kutte hervor. Dann fuhr er fort: »Die Vorsicht erheischt vom Senate, daß er solchen Interessen die Waage halte, die gegeneinander ankämpfen und wohl gar die des Staates selbst gefährden. Daher kommt es, wie ich sagte, daß ohne Erlaubnis und Aufsicht der Republik niemand, der zum Stande der Senatoren gehört, Grundbesitzer im Auslande sein und keine Person von Bedeutung sich mit Fremden, die einen gefährlichen Einfluß besitzen, verheiraten darf. Der letztere Fall ist der deinige; von den verschiedenen Großen des Auslandes, die um deine Hand anhalten, kann der Senat keinen begünstigen, ohne zu fürchten, daß ein Fremder hier mitten in der Stadt eine ungebührliche Macht erwerbe. Don Camillo Monforte, der Kavalier, dem du dein Leben verdankst und dessen du neulich voll Erkenntlichkeit gedachtest, hat wahrhaftig mehr Ursache, sich über die Härte dieser Beschlüsse zu beklagen, als du irgendwie haben kannst.«

»Mein Kummer«, fiel Violetta schnell ein, »würde noch größer sein, wenn ein Mann, der für mich soviel Mut bewiesen hat, Grund hätte, zu empfinden, wie gerecht dieser Kummer ist. Was hat den Herrn von Sant‘ Agata gerade mir zum Glücke nach Venedig gebracht, wenn es anders für ein erkenntliches Mädchen nicht unziemlich ist, so zu fragen?«

»Dein Anteil hieran ist ganz natürlich und lobenswert«, erwiderte der Karmeliter mit einer Einfalt, die seiner Kutte mehr Ehre machte als seiner Beobachtungsgabe. »Er ist jung und ohne Zweifel durch seine Reichtümer und die Leidenschaftlichkeit der Jugend zu manchem Leichtsinn geneigt. Schließ ihn in dein Gebet ein, meine Tochter. Dies ist der Dank, den du ihm abstatten magst. Das weltliche Interesse, das er hier hat, ist aber allgemein bekannt, und ich kann deine Unwissenheit darüber nur deiner zurückgezogenen Lebensweise zuschreiben.«

»Mein Pflegling hat an andere Dinge zu denken als an die Angelegenheiten eines jungen Fremden, der in Geschäften nach Venedig kommt«, bemerkte Donna Florinde sanft.

»Aber wenn ich für ihn beten soll, mein Vater, so würde mein Gebet mehr Bestimmtheit haben, wenn ich wüßte, wessen der junge Edelmann am meisten bedarf.«

»Bitte nur allein für sein geistliches Wohl. In Wahrheit, von den zeitlichen Gütern dieser Welt fehlt ihm wenig, obgleich die fleischlichen Begierden den, der am meisten hat, verführen, immer noch mehr zu verlangen. Es hat den Anschein, als ob ein Vorfahre Don Camillos vorzeiten Senator in Venedig gewesen ist, als der Tod eines Verwandten kalabrische Güter in seinen Besitz brachte. Von seinen Söhnen übernahm der jüngere diese Güter infolge eines Gesetzes, das zugunsten einer Familie, die dem Staate treu gedient hatte, ausdrücklich erlassen worden war. Auf den älteren Sohn dagegen und auf dessen Nachkommen gingen die Senatorwürde und das Familienbesitztum in Venedig über. Die ältere Linie ist nun ausgestorben, und Don Camillo bestürmt seit Jahren den Rat, ihn wieder in die Rechte einzusetzen, denen sein Ahnherr entsagt hat.«

»Können sie ihm dies verweigern?«

»Um es zu gewähren, müßten sie vom Gesetz abgehen. Wenn er seinen kalabrischen Besitzungen entsagen wollte, so würde er mehr verlieren als gewinnen. Soll er aber beides haben, so wird gegen ein Gesetz gehandelt, das man nur sehr selten suspendiert. Ich verstehe nicht viel, meine Tochter, von den Verhältnissen des Lebens, aber es gibt Feinde der Republik, die da sagen, daß sie eine schwere Knechtschaft übt und selten eine Gunst gewährt, ohne reichlichen Ersatz dafür zu fordern.«

»Ist das aber recht? Wenn Don Camillo Monforte Ansprüche hat in Venedig, betreffe es nun Paläste an den Kanälen oder Ländereien auf dem Festlande oder einen Sitz im Senat, immer sollte ihm Gerechtigkeit werden ohne Verzug, damit es nicht heiße, die Republik prahle mehr mit dieser heiligen Tugend, als sie diese selbst übe.«

»So heißt dich dein argloser Sinn reden. Es gehört zur Gebrechlichkeit des Menschen, meine Tochter, daß er seine öffentlichen Handlungen von der ängstlichen Gewissenhaftigkeit seines Tuns als Privatmann fernhält, als ob Gott, den Menschen zugleich mit Vernunft und mit dem herrlichen Trost des Christentums beschenkend, ihm zwei Seelen gegeben hätte, für deren eine nur allein zu sorgen wäre.«

»Gibt es nicht Leute, mein Vater, die es glauben, es werde nur das Böse an uns gestraft, das wir als einzelne begehen, was aber von Staats wegen geschieht, falle der Nation auch zur Last?«

»Der Stolz der menschlichen Vernunft hat manche Spitzfindigkeit ersonnen, seinen eigenen Begierden zu frönen, aber er findet an keiner unglückseligeren Täuschung, als diese ist, seine Nahrung. Die Sünde, die andere mit fortreißt in ihre Schuld oder in ihre Folgen, ist eine doppelte Sünde, und wenn es auch die Natur der Sünde ist, ihre eigene Strafe nach sich zu ziehen, sogar schon in diesem Leben, so schmeichelt der sich doch mit falscher Hoffnung, der da meint, die Größe des Vergehens werde ihm zur Entschuldigung dienen. Die größte Sicherheit für uns Menschen ist, uns von der Versuchung zurückzuziehen; der ist am meisten geborgen vor den Lockungen der Welt, der sich von ihren Lastern am meisten entfernt hält. Ich wünsche zwar, daß der edle Neapolitaner sein Recht erlange, doch kann es vielleicht um seines ewigen Heiles willen sein, daß ihm diese Vergrößerung seines Reichtums, nach der er trachtet, vorenthalten wird.«

»Ich kann mir nicht einbilden, mein Vater, daß ein Kavalier, der sich so bereitwillig zeigte, dem Unglücklichen beizuspringen, die Gaben des Glücks so leicht mißbrauchen werde.«

Der Karmeliter heftete einen unruhigen Blick auf die klaren Züge der jungen Venezianerin. Väterliche Besorgnis und Ahnung sprachen aus seinem Auge.

»Dankbarkeit für deinen Lebensretter geziemt sowohl deinem Stande als deinem Geschlechte und ist eine Schuldigkeit. Halte dies Gefühl wert, denn es ist der Verpflichtung der Menschen gegen seinen Schöpfer gar sehr verwandt.«

»Ist es denn genug, Dankbarkeit nur zu fühlen?« fragte Violetta. »Eine Person von meinem Namen und Einflusse sollte doch mehr tun. Wir können die Patrizier, die mir verwandt sind, zugunsten des Fremden bewegen, ein schnelleres Ende dieses langwierigen Prozesses herbeizuführen.«

»Ei behüte, Tochter! Der Eifer einer jungen Dame, an der die Republik so vielen Anteil nimmt, könnte dem Don Camillo eher Feinde als Freunde erwecken.«

Donna Violetta schwieg. Der Mönch und Donna Florinde betrachteten sie mit besorgter Teilnahme; der erstere brachte darauf seine Kutte in Ordnung und rüstete sich zum Aufbruch. Violetta trat dem Karmeliter näher, und ihn mit unverstelltem Zutrauen und gewohnter Ehrerbietung anschauend, bat sie um seinen Segen. Nach dieser feierlichen Handlung wandte sich der Mönch zu der Gefährtin seiner Fürsorge. Donna Florinde ließ das Seidenzeug, an dem sie nähte, in ihren Schoß fallen und saß demütig schweigend mit gebeugtem Haupt, während der Karmeliter seine Hände über sie hinstreckte. Seine Lippen bewegten sich, aber man hörte die Worte des Segens nicht. Wäre das feurige Mädchen, das ihrer beiderseitigen Sorge anvertraut war, minder mit eigenen Gefühlen beschäftigt oder mit den Interessen der Welt, in die sie erst eintreten sollte, bekannter gewesen, so hätte sie wieder einen Beweis entdeckt von jener tiefen und sanften Gemütsverwandtschaft, die sich in dem schweigenden Verständnis ihres geistlichen Vaters mit ihrer Erzieherin kundgab.

»Du wirst uns nicht vergessen, mein Vater?« sagte Violetta mit einnehmendem Ernst. »Eine Waise, mit deren Schicksal sich die klugen Herren des Staates so ernstlich beschäftigen, bedarf eines zuverlässigen Freundes.«

»Gesegnet sei dein Fürsprecher«, sagte der Mönch, »und der Friede der Unschuldigen sei mit dir.«

Er erhob seine Hand noch einmal. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Donna Florindes Auge folgte den weißen Gewändern des Karmeliters, solange sie sichtbar waren, und als es wieder auf den Seidenstoff in ihrem Schoß fiel, schloß es sich für einen Augenblick, als schaute es innen hinein auf Regungen des Gewissens.

Die junge Herrin des Palastes rief indes einen Bedienten und befahl ihm, ihrem Beichtvater bis zu seiner Gondel das Geleite zu geben. Dann begab sie sich zu dem offenen Balkon. Es folgte ein langes Schweigen, jene italienische Ruhe atmend, wie sie dieser Stadt und der Abendstunde angemessen war. Plötzlich trat Violetta bestürzt einen Schritt vom offenen Fenster zurück. »Hörst du nicht diese Töne von oben?«

»Sind die so selten auf den Kanälen, daß sie dich vom Balkon treiben können?«

»Es sind Kavaliere unter den Fenstern am Mentonipalast, die ohne Zweifel unserer Freundin Olivia ein Ständchen bringen.«

»Auch diese Galanterie ist ganz gewöhnlich. Du weißt, daß Olivia binnen kurzem ihren Verwandten heiraten wird, nun bezeigt er ihr seine Verehrung.«

»Findest du nicht, daß solch ein öffentliches Liebeszeichen lästig ist? Wollte man um mich werben, so wünschte ich, daß niemand davon hörte als eben ich.«

»Diese Gesinnung ist schlimm für eine Dame, deren Hand der Senat zu vergeben hat. Ich fürchte, ein Mädchen deines Standes muß sich dareinfinden, daß ihre Schönheit gepriesen und ihre Talente besungen werden, vielleicht bis zur Übertreibung, und zwar selbst von Mietlingen unter einem Balkon.«

»Ich wollte, es wäre aus«, rief Violetta, sich die Ohren zuhaltend.

»Geh nur wieder auf den Balkon. Die Musik hört auf.«

»Dort singen Gondolieri am Rialto; das ist eine Musik, die ich liebe. Die süßen Töne beleidigen nicht unsere heiligsten Gefühle. Willst du heut abend fahren, liebe Florinde?«

»Wo wolltest du hin?«

»Ich weiß nicht, aber der Abend ist schön, und ich hab ein Verlangen, den Glanz und die Freude da draußen zu genießen.«

»Tausende gibt es auf den Kanälen, die ein Verlangen haben, den Glanz und die Freude da innen zu genießen. So ist es immer im Leben, was wir besitzen, wird gering geachtet, und was wir nicht haben, ist uns unschätzbar.«

»Ich bin meinem Vormund einen Besuch schuldig«, sagte Violetta. »Wir wollen nach seinem Palaste fahren.«

Trotz der moralischen Predigt meinte es Donna Florinde so streng nicht. Sie warf ihre Arbeit beiseite und machte sich bereit, ihrer Pflegebefohlenen zu willfahren. Es war die gewöhnliche Stunde für Standespersonen auszufahren und die Lockung, das Freie zu suchen, so reizend, wie sie nur Italien mit seinem milden Klima, Venedig mit seinem bunten Gedränge bieten konnte. Einer Dienerin ward befohlen, das Zimmer zu hüten. Die Gondolieri wurden gerufen, die Damen nahmen ihre Mäntel und Masken und waren geschwind im Boote.

Fünftes Kapitel

Fünftes Kapitel

Der Flug der Gondel brachte die schöne Venezianerin und ihre Erzieherin bald zu dem Wassertore des Edelmannes, dem vom Senate die besondere Aufsicht über die vornehme Erbin anvertraut war. Seine Wohnung war düsterer als gewöhnlich und bekundete all die feierliche, schwerfällige Pracht, wie sie die Privatwohnungen der Patrizier in dieser Stadt des Reichtums und des Stolzes auszeichnete. Der Umfang und die Architektur des Gebäudes waren weniger großartig als an Donna Violettas Palaste, zeigten aber doch ein Privathaus ersten Ranges und verrieten in allen ihren äußeren Zieraten die Wohnung eines Mannes von großer Bedeutung. Innen kamen der geräuschlose Schritt und die mißtrauische Miene der Bedienten zu der finsteren Größe der Zimmer hinzu, um dieser Behausung den Charakter der ganzen Republik im Kleinen zu geben.

Im Vorzimmer Signore Gradenigos verweilte die junge Dame nur einen Augenblick, denn kaum erfuhr der alte Senator ihre Gegenwart, so eilte er aus seinem Kabinett zu ihrem Empfange mit solchem Eifer herbei, daß zu erkennen war, wie er sich das ihm anvertraute Amt angelegen sein ließ.

Das Gesicht des alten Patriziers, das Nachdenken und Sorge mit dem Alter in Gemeinschaft gesucht hatte, glänzte in unzweideutiger Freude, als er sich beeilte, sein schönes Mündel zu begrüßen. Er hörte nicht auf die Entschuldigungen wegen ihres Eindringens, sondern führte sie hinein.

»Du kommst nie zur unrechten Zeit, da du das Kind meines alten Freundes bist und die Sorge der Republik«, setzte er hinzu. »Die Türen des Palastes Gradenigo würden sich von selbst öffnen, und wär es in der spätesten Stunde der Nacht, um solchen Gast aufzunehmen.«

»Ich bin für Eure Nachsicht dankbar«, sagte Violetta. »Nur fürchte ich, Euch mit meinen kleinen Anliegen zu belästigen, wenn Eure Zeit eben für das Wohl des Staates in Anspruch genommen ist.«

»Du überschätzest meine Wirksamkeit. Ich besuche wohl bisweilen den Rat der Dreihundert, aber mein Alter und meine Kränklichkeit verhindern mich jetzt, dem Staate, so wie ich gern möchte, zu dienen. Gelobt sei unser Patron San Marco. Seine Angelegenheiten stehen nicht schlecht im Verhältnis zu unserem abnehmenden Glücke. Wir haben die Ungläubigen jüngst ganz tapfer geschlagen, der Vertrag mit dem Kaiser ist nicht zu unserem Schaden, und der Zorn der Kirche über unseren anscheinlichen Treubruch neulich hat sich gelegt. In der letzteren Angelegenheit verdanken wir etwas einem jungen Neapolitaner, der sich in Venedig aufhält und der nicht ohne Einfluß beim Heiligen Stuhle ist, denn sein Oheim ist Kardinalsekretär. Freunde, zur rechten Zeit gebraucht, können viel helfen. Dies ist Venedigs Staatskunststück; was die Macht nicht zustande bringen kann, muß man mit Gunst und kluger Mäßigung ausrichten.«

»Eure Rede ermutigt mich zu einer neuen Bitte, und ich will Euch gestehen, daß mich der Wunsch hergeführt hat, Euern großen Einfluß in bezug auf ein ernstliches Anliegen, das ich habe, in Anspruch zu nehmen.«

»Sieh da! Unsere junge Schutzbefohlene, Donna Florinde, hat mit den Gütern ihrer Familie zugleich deren alte Liebe zur Fürsprache und Protektion geerbt! Wir wollen ihr aber diese Gesinnung nicht verwehren, denn ihr liegt etwas Gutes zugrunde, und wenn sie recht angewendet wird, kann sich dadurch der Vornehme und Mächtige in seiner Stellung befestigen.«

»Und sollen wir nicht sagen«, erwiderte Donna Florinde sanft, »daß der Reiche und vom Glück Begünstigte, wenn er sich für den Ärmeren bemüht, eine heilige Pflicht übt und seine Seele kräftig und heilsam dadurch bildet?«

»Ohne Zweifel! Nichts kann heilsamer sein, als jedem Stande in der Gesellschaft einen gehörigen Sinn für seine Obliegenheiten und ein richtiges Gefühl für seine Pflichten beizubringen. Die Ansicht billige ich gar sehr und wünsche, daß sie sich mein Mündel ganz aneigne.«

»Sie ist glücklich, so tüchtige Lehrer zu besitzen, die so bereitwillig sind, ihr alles Wissenswerte beizubringen«, sagte Violetta. »Demnach darf ich Signore Gradenigo bitten, meinem Gesuche ein Ohr zu leihen?«

»Deine kleinen Anliegen sind immer willkommen. Ich wollte nur noch bemerken, daß hochherzige und feurige Geister einem entfernten Gegenstand oft so eifrig nachjagen, daß sie andere übersehen, die näher liegen und dringender sind und auch leichter zu erlangen. Indem wir dem einen nützlich sein sollen, müssen wir uns vorsehen, nicht vielen anderen Nachteil zuzufügen. Hat vielleicht ein Verwandter eines deiner Hausleute sich unachtsamerweise anwerben lassen?«

»Wenn das wäre, so hoffe ich, daß der Rekrut nicht so unmännlich sein wird, seine Fahnen zu verlassen.«

»Oder deine Amme, die wenig dazu gemacht ist, den Dienst zu vergessen, den sie deiner Kindheit geleistet hat, wünscht vielleicht ein Mädchen für einen ihrer Verwandten beim Zollwesen?«

»Ich glaube, es gibt in ihrer ganzen Familie keinen Unangestellten mehr«, sagte Violetta lachend, »wir müßten denn der guten Mutter selbst einen Ehrenposten geben wollen. Nein, meine Bitte betrifft sie heute nicht.«

»Die vielen Bitten um Almosen haben wohl dein Taschengeld erschöpft, oder vielleicht hat dich eine wunderliche Mode viel gekostet?«

»Nichts von dem allen. Des Goldes bedarf ich wenig, da eine standesmäßige Pracht in meinem Alter noch nicht unumgänglich nötig ist. Nein, mein Vormund, ich komme mit einer viel wichtigeren Bitte.«

»Sie betrifft doch nicht etwa jemand, dem du wohlwillst und der sich mit unziemlichen Reden vergangen hat!« rief Signore Gradenigo, einen hastigen und forschenden Blick auf sein Mündel werfend.

»Nein, wer sich insoweit vergessen hat, möge auch die Strafe seines Vergehens leiden.«

»Du hast vollkommen recht. Man kann in diesem Zeitalter neuer Meinungen und aller Arten von Neuerungen die Leute nicht streng genug halten. Wenn der Senat die wüsten Theorien der Gedankenlosen und Törichten unbeachtet lassen wollte, da würden sie bald zu den untergeordneten Gemütern der Unwissenden und Faulenzer dringen. Geld fordere von mir, zwanzigfach, wenn du willst, nur nicht Verzeihung für einen Störer der öffentlichen Ruhe.«

»Ich begehre keine Zechine. Ich habe ein edleres Geschäft.«

»So rede denn und lasse mich nicht länger raten.«

Jetzt, da sie nun, was ihres Herzens Wunsch im stillen gewesen war, in eigene Worte fassen und aussprechen sollte, schien sich Donna Violetta davor zu fürchten. Sie wechselte mehrmals die Farbe und suchte im Auge ihrer aufmerksamen und verwunderten Gefährtin Rat. Diese aber, die ihr Vorhaben nicht kannte, vermochte die Bittstellerin durch nichts zu ermutigen als durch jenen Blick des Mitgefühls, den Frauen einander nicht vorenthalten, wenn ihre eigentümlich weiblichen Empfindungen irgend ins Gedränge kommen. Violetta stockte, sich selber mißtrauend, dann aber lachte sie über den eigenen Mangel an Selbstbeherrschung und fuhr fort zu reden. »Ihr wißt, Signore Gradenigo«, sagte sie mit einem Nachruck, der, wenn auch bei weitem verständlicher, doch nicht minder auffallend war als ihre Gemütsbewegung einen Augenblick früher, »Ihr wißt, daß ich von einem Geschlechte stamme, das seit Jahrhunderten groß war in Venedig.«

»So meldet unsere Geschichte.«

»Daß ich einen altberühmten Namen führe, den von aller Befleckung rein zu erhalten mir persönlich obliegt.«

»Das ist so wahr, daß es kaum einer so deutlichen Auseinandersetzung bedarf«, entgegnete der Senator trocken.

»Und daß ich trotz dieser reichen Geschenke des Glücks und der Geburt eine Gabe, die ich empfing, nicht vergolten habe, so daß es dem Hause Tiepolo keine Ehre macht.«

»Das wird ernsthaft. Donna Florinde, unser Mündel ist heute über allen Begriff feierlich gestimmt, und ich muß Euch um Aufklärung darüber bitten. Es ziemt ihr freilich nicht, Gaben der Art von irgend jemand anzunehmen.«

»Ich kenne zwar ihr Verlangen nicht«, entgegnete sanft die Gefährtin, »doch denk ich, sie spricht von der Rettung ihres Lebens.«

Signore Gradenigos Gesicht verfinsterte sich.

»Ich verstehe Euch«, sagte er kalt. »Es ist wahr, der Neapolitaner war schnell bereit, dich zu retten, als deinen Oheim von Florenz das Unglück betraf, aber Don Camillo Monforte ist kein gemeiner Taucher vom Lido, dem man für das Auffischen einer Kleinigkeit, die aus einer Gondel fiel, ein Trinkgeld gibt. Du hast dem Kavalier gedankt. Ich glaube, daß ein edles Mädchen in solchem Falle nichts weiter tun kann als dies.«

»Wohl hab ich ihm gedankt und recht herzlich gedankt«, beteuerte Violetta feurig. »Wenn ich seine Wohltat vergesse, heiligste Maria und ihr lieben Heiligen, so vergesset mich!«

»Mir kommt vor, Signora Florinde, als habe Euer Pflegekind mehr Zeit mit den leichtsinnigen Büchern in ihres Vaters Bibliothek und weniger Zeit mit ihrem Meßbuche zugebracht, als für den Stand geziemend ist.«

Violettas Auge glühte, und sie schlug einen Arm um ihre bebende Gefährtin, die bei diesem Vorwurf den Schleier fallen ließ und kein Wort entgegnete.

»Signore Gradenigo«, sagte die junge Erbin, »ich mag meinen Lehrern Schande gemacht haben. Aber wenn der Zögling träge gewesen ist, soll der Tadel doch keinen Unschuldigen treffen. Indes hat es nicht den Schein, als würden die Vorschriften der heiligen Kirche verletzt, wenn ich für einen Mann, der mein Leben gerettet hat, ein gutes Wort einlege. Don Camillo Monforte macht schon lange ohne Erfolg so gerechte Ansprüche geltend, daß, wenn auch kein anderer Grund wäre, ihm zu willfahren, die Würde Venedigs schon allein den Senatoren gebieten sollte, ihn nicht länger hinzuhalten.«

»Mein Mündel hat zur Erholung bei den Doktoren von Padua studiert! Die Republik hat ihre Gesetze, und keiner, der ein Recht hat, wendet sich an sie vergeblich. Deine Dankbarkeit ist nicht zu tadeln, ist vielmehr deines Standes und deiner Stellung würdig. Aber, Donna Violetta, wir sollten uns erinnern, wie schwierig es ist, die Wahrheit von der Spreu der Täuschung und spitzfindigen Verkehrung zu sichten; vor allem aber sollte ein Richter, bevor er ein Dekret erläßt zugunsten eines Bittstellers, erst gewiß sein, ob er nicht einen andern dadurch beeinträchtige.«

»Sie schalten mit seinen Rechten! Weil er in einem fremden Staat geboren ist, verlangt man von ihm, daß er im Auslande weit mehr aufopfere, als er in der Republik gewinnen kann. Er verschwendet sein Leben und seine Jugendkraft an ein Phantom. Ihr vermögt viel im Senate, mein Vormund; wenn Ihr ihm die Hilfe Eurer einflußreichen Stimme und Eurer wichtigen Belehrung angedeihen ließet, so würde ein Fremder, dem Unrecht geschieht, zu seinem Recht gelangen, und Venedig würde vielleicht eine Kleinigkeit einbüßen, dafür aber seine Würde rechtfertigen, auf die es so eifersüchtig ist.«

»Du bist ein beredter Advokat, und ich will mir die Sache überlegen«, sagte Signore Gradenigo, den finsteren Zug, der um seine Brauen spielte, mit der Leichtigkeit dessen, der gewohnt ist, seine Mienen jedesmal seiner Politik anzupassen, in einen Blick des Wohlwollens verwandelnd. »Ich sollte den Neapolitaner nur als Richter, meinem öffentlichen Charakter gemäß, hören, aber der Dienst, den er dir geleistet hat, und meine Liebe zu dir bestimmen mich, dir zu willfahren.«

Donna Violetta empfing dies Versprechen mit leuchtendem, treuherzigem Lächeln. Sie küßte die Hand, die er ihr zum Pfande darbot, mit einer Glut, die ihrem aufmerksamen Vormund ernstliche Besorgnisse erregte.

»Du bittest zu einnehmend«, sagte er, »als daß dir jemand widerstehen könnte, auch wer schon bis zum Überdruß unzählige, scheinbare Ansprüche in seinem Leben hat abweisen müssen. Junge und edle Gemüter, Donna Florinde, meinen, alle Menschen wären gerade so, wie sie ihr Wunsch und ihre Einfalt gern haben möchte. Was Don Camillos Recht betrifft – aber nichts weiter! –, du willst es so haben, gut, es soll untersucht werden mit der Blindheit, die ja ein Fehler der Gerechtigkeit sein soll.«

»Das Bild meint aber doch nur blind gegen Vorliebe, keineswegs unempfindlich für das Recht.«

»Ich fürchte, in bezug auf diesen Sinn des Wortes könnten unsere Hoffnungen getäuscht werden – allein, wir wollen sehen! Mein Sohn, Donna Violetta, hat doch neuerlich nicht etwa seine schuldige Ehrerbietung versäumt? Man braucht freilich den jungen Menschen nicht zu treiben, daß er meinem Mündel, der schönsten Dame von Venedig, seine Aufwartung mache. Du empfängst ihn doch freundschaftlich wegen der Liebe zu mir?«

Donna Violetta verneigte sich mit Zurückhaltung.

»Die Tür meines Palastes ist dem Signore Giacomo zu jeder schicklichen Zeit offen«, setzte sie gleichgültig hinzu. »Der Sohn meines Vormunds kann mir nur ein ehrenwerter Gast sein.«

»Ich wünschte dem Jungen einige Aufmerksamkeit, und mehr noch, ein wenig von jener hohen Achtung – doch wir leben in einer eifersüchtigen Stadt, Donna Florinde, in einer Stadt, die Vorsicht zur größten Tugend macht. Wenn sich der junge Mensch weniger eifrig zeigt, als ich wünsche, glaubet mir, so geschieht es nur aus Besorgnis, die nicht zu aufmerksam zu machen, die sich um unserer Pflegebefohlenen Schicksale kümmern.«

Beide Damen verbeugten sich und verrieten durch die Art, wie sie ihre Mäntel zusammennahmen, daß sie sich zu entfernen wünschten, und zogen sich nach den üblichen Abschiedsgrüßen in ihr Boot zurück.

Signore Gradenigo ging das Zimmer, in dem er sein Mündel empfangen hatte, mehrere Minuten lang schweigend auf und nieder. Kein Laut war hörbar in dem ganzen weiten Hause, und der leise, vorsichtige Tritt der Bewohner entsprach der Ruhe, die auch draußen in der Stadt herrschte; endlich aber fesselte ein junger Mann, der alle Spuren der Lasterhaftigkeit in seinem Gesicht hatte und durch die Zimmer schlenderte, das Auge des Senators, und er hieß ihn näherkommen.

»Du hast Unglück wie gewöhnlich, Giacomo«, sagte er halb mit dem Tone väterlicher Zuneigung, halb des Vorwurfs. »Donna Violetta war noch vor wenigen Minuten hier, und du warst nicht zugegen. Eine unwürdige Intrige mit der Tochter eines Juweliers oder ein noch schlimmerer Handel mit ihrem Vater hat dir eine Zeit geraubt, die ehrenvoller und vorteilhafter angewendet werden konnte. Ich möchte wissen, Giacomo, ob du die schöne Gelegenheit, die dir meine Vormundschaft bietet, zu deinem Vorteil auch recht benutzest und ob du die Wichtigkeit dessen, worauf ich dringe, mit hinlänglichem Ernste bedenkst?«

»Zweifelt daran nicht, Vater. Wer so sehr Mangel an dem gelitten hat, was Donna Violetta so reichlich besitzt, bedarf nicht eben, daß man ihn treibe in solchen Dingen. Ihr habt mir’s dadurch abgenötigt, daß Ihr Euch weigert, mir so viel zu geben, als ich brauche. Kein Narr in ganz Venedig seufzt lauter unter dem Fenster seiner Gebieterin, als ich der Dame die Wünsche meines Herzens vorbringe – wenn Zeit und Gelegenheit ist und ich bei Laune bin.«

»Du kennst die Gefahr, den Senat aufmerksam zu machen?«

»Habt keine Furcht. Ich mache im stillen und nur allmählich Fortschritte. Weder meinem Gesicht noch meiner Seele ist die Maske so ungewohnt – Dank sei es der Not! Mein Geist war zu sprudelnd, als daß er mich nicht hätte mit der Verstellung vertraut machen sollen.«

»Du sprichst, als ob ich dir die Freiheit entzogen hätte, die man der Jugend deines Standes und Alters vergönnt. Deine Ausschweifungen hab ich beschränken wollen und nicht deinen Geist. Doch mag ich dich jetzt nicht mit Vorwürfen belästigen. Giacomo, du hast in dem Fremden einen Nebenbuhler. Seine Tat in der Giudecca hat ihm die Phantasie des Mädchens gewonnen, und wie edle und feurige Gemüter pflegen, hat sie sich, obgleich von seinen übrigen Verdiensten nichts wissend, doch seinen Charakter mit allen Tugenden ausgeschmückt, die ihr offener Sinn kennt.«

»Ich wollte, sie machte es mit mir so.«

»Bei dir hätte mein Mündel eher zu vergessen, als zu erfinden. Hast du Bedacht genommen, den Rat auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die seiner Erbin droht?«

»Allerdings.«

»Und wie?«

»Auf die einfachste und sicherste Weise – durch den Löwenrachen.«

»Ha! Das ist wahrhaftig ein keckes Unternehmen.«

»Und gelingt, wie alle kecken Unternehmungen, am leichtesten. Fortuna hat diesmal nicht geknickert gegen mich. – Ich hab zum Beweise des Neapolitaners Siegelring beigelegt.«

»Giacomo! Weißt du auch, was du bei deiner Verwegenheit wagst? Ich hoffe doch, du wirst dich nicht durch irgendein Kennzeichen in der Handschrift verraten haben oder durch die Art, wie du dir den Siegelring verschafft hast?«

»Wenn ich deine Ratschläge, Vater, auch in minder wichtigen Angelegenheiten oft in den Wind geschlagen habe, so vergesse ich doch deine Winke über Venedigs Politik nicht. Der Neapolitaner ist angeklagt, und wenn dein Kollegium auf Treu und Glauben hält, wird er verdächtigt, «wenn nicht gar verbannt werden.«

»Daß der Rat der Drei sein Amt verwalten wird, ist nicht zu bezweifeln. Wär ich nur ebenso gewiß, daß dich dabei nicht ein unvorsichtiger Eifer irgendwie bloßstellt.«

Der Sohn starrte den Vater einen Augenblick an und ging dann in die inneren Gemächer des Palastes, wie jemand, der an zweideutiges Handeln zu sehr gewöhnt ist, um eine Sache zweimal zu überlegen. Der Senator blieb zurück. Er ging schweigend auf und ab, augenscheinlich in großer Unruhe. Dann und wann fuhr er mit der Hand über sein Gesicht, wie bei schmerzlichem Nachdenken. Inzwischen stahl sich eine Gestalt durch die lange Reihe der Vorzimmer und blieb an der Türe des Gemachs stehen, in dem sich der Senator befand. Es war ein bejahrter Mann mit gebräuntem Gesicht und dünnem, altersgrauem Haar, in der armseligen und groben Tracht eines Fischers. Aber ein angeborner Adel und ein freies, verständiges Wesen sprachen sich in seinem kühnen Auge und in seinen hervorstechenden Zügen aus, während die entblößten Arme und die nackten Beine, wohlgebaut und muskulös, die Kraft des Mannes eher in ihrem Stillstand als im Abnehmen zeigten. Er stand einige Augenblicke mit abgezogener Mütze in gewohnter Ehrerbietung, aber unbefangen, ehe seine Gegenwart bemerkt wurde.

»Ha, bist du da, Antonio«, rief der Senator, als er ihn sah. »Weshalb kommst du?«

»Signore, mein Herz ist schwer.«

»Hat der Kalender keine Heilige, der Schiffer keinen Schutzpatron? – Der Schirokko hat wohl das Wasser der Bucht gerüttelt, und deine Netze sind ledig. Wart! Du bist mein Milchbruder und sollst nicht Not leiden.«

Der Fischer trat mit Würde zurück. »Signore, wir haben von der Zeit an, da wir unsere Milch von derselben Brust empfingen, bis in unser Alter hier gelebt. Habt Ihr mich je als einen Bettler gekannt?«

»Du pflegst zwar nicht um Geschenke zu bitten, Antonio, aber das Alter bezwingt unseren Stolz wie unsere Kraft. Wenn du nicht um Geld kommst, sage, was du sonst wünscht!«

»Gibt es nicht andere Bedürfnisse als die des Körpers, Signore, und andere Leiden als den Hunger?«

Das Gesicht des Senators verdüsterte sich. Er warf einen stechenden Blick auf seinen Milchbruder und schloß, ehe er antwortete, die Tür, die nach dem äußeren Zimmer führte.

»Deine Worte verkündigen Unzufriedenheit, wie gewöhnlich. Du hast dich gewöhnt, über Maßregeln und Verhältnisse zu sprechen, die über deinen beschränkten Verstand weit hinausgehen, und du weißt, daß dir deine Meinungen schon Tadel zugezogen haben. Die unwissenden Leute des niederen Standes sind im Staate wie Kinder, deren Schuldigkeit es ist, zu gehorchen, und nicht, zu klügeln. – Aber dein Geschäft?«

»Ich bin nicht der Mann, für den Ihr mich haltet, Signore, an Armut und Entbehrung gewöhnt, bin ich mit Wenigem zufrieden. Den Senat ehre ich als meinen Herrn, aber ein Fischer hat so gut Gefühl wie der Doge.«

»Wieder! – Dies dein Gefühl, Antonio, macht allzu hohe Ansprüche. Du bringst es bei jeder Gelegenheit vor, als wäre das die Hauptsorge im Leben.«

»Signore, und ist sie es nicht für mich? Obgleich ich genug an meine eigene Sorge zu denken habe, bleibt mir doch noch Gefühl für die Leiden derer, die mir wert sind. Als Ew. Exellenz‘ Tochter, die junge, schöne Dame, abgerufen ward und zu den Heiligen versammelt, da fühlte ich den Schlag, als wäre mein eigenes Kind gestorben. Und es hat Gott gefallen, wie Ihr wohl wißt, Signore, mich nicht unbekannt zu lassen mit dem Jammer eines solchen Verlustes.«

»Du bist ein wackerer Bursch, Antonio«, versetzte der Senator, heimlich eine Träne aus dem Auge wischend, »ein redlicher und hochherziger Mensch für deinen Stand.«

»Die, von der wir beide unsere erste Nahrung erhielten, Signore, hat mich oft ermahnt, nächst meinen eigenen Verwandten besonders das edle Geschäft zu lieben, zu dessen Erhaltung sie das ihrige getan hat. Ich rechne mir ein natürliches Gefühl nicht zum Verdienste an, denn es ist eine Gabe vom Himmel, um so weniger aber sollte der Staat solche Gefühle leichthin behandeln.«

»Wieder der Staat! – Sage mir dein Geschäft!«

»Ew. Exzellenz kennt meine traurige Lebensgeschichte. Ich brauche Euch nicht zu erzählen, Signore, von den Söhnen, die es Gott gefallen hat, mir zu schenken, noch wie mir sein Ratschluß einen nach dem andern wieder genommen hat.«

»Du hast Kummer erlebt, armer Antonio, ich weiß, daß du viel gelitten hast.«

»Jawohl, Signore! Fünf kräftige, wackere Söhne zu verlieren ist ein Unglück, das einen Stein rühren muß. Aber ich habe gelernt, Gott zu verehren und für alles zu danken.« »Braver Fischer, der Doge selbst könnte dich beneiden um diese Ergebung. Es ist aber oft leichter, den Tod eines Kindes als sein Leben zu ertragen, Antonio!«

»Signore, meine Söhne haben mich nie betrübt als durch ihren Tod. Und auch da«, der alte Mann wandte sich seitwärts, um die Bewegung seines Gesichts zu verbergen, »auch da hab ich gerungen, mir nur allein vorzustellen, wie vielem Kummer, wie vielen Mühen und Leiden sie entnommen sind, um zu einem seligen Zustand überzugehen.«

Signore Gradenigos Lippe bebte, und er ging mit schnelleren Schritten auf und nieder.

»Ich denke doch, Antonio«, sagte er, »ich denke doch, mein wackerer Antonio, daß ich für ihre Seelen habe Messen lesen lassen.«

»Das habt Ihr, Signore, der heilige Antonio gedenkt Eurer Liebe in Eurer letzten Stunde. Ich sagte mit Unrecht, daß die Knaben mich einzig durch ihren Tod betrübt haben. Denn es gibt einen Gram, den kein Reicher kennt, wenn man zu arm ist, um für sein gestorbenes Kind ein Gebet zu bezahlen.«

»Willst du mehr Messen haben? Deinen Kindern soll die Fürsprache der Heiligen nicht fehlen zu ihrer Seelen Seligkeit.«

»Ich danke Euch, Exzellenz, aber ich verlasse mich auf das, was geschehen ist, und noch mehr auf Gottes Barmherzigkeit. Doch mein jetziges Geschäft betrifft Lebende.«

Das Mitgefühl des Senators wurde plötzlich erkaltet, und er horchte mit forschender Miene. »Dein Geschäft?« wiederholte er einsilbig.

»Ist, Euch zu bitten, Signore, daß Ihr mir die Loslassung meines Enkels von den Galeeren auswirkt. Sie haben den Burschen, der erst vierzehn Jahre ist, ergriffen und ihn zum Kriege gegen die Ungläubigen verdammt, ohne an sein zartes Alter zu denken, ohne an das böse Beispiel zu denken, ohne an mein verlassenes Alter zu denken, ohne alles Recht, denn sein Vater ist in der letzten Schlacht gegen die Türken geblieben.«

Als der Fischer seine Rede beschloß, blickte er in die Marmorzüge dessen, zu dem er sprach, sehnsüchtig spähend, ob seine Worte Eindruck gemacht hätten. Aber jene Züge blieben kalt, teilnahmslos, ohne menschliches Mitleid. Die empfindungslose Ausübung einer scheinbaren Staatsklugheit hatte längst in dem Senator bei denjenigen Angelegenheiten, die mit einem in ihm so lebendigen Interesse, als Venedigs Seemacht war, zusammenstießen, alles Gefühl getötet. In dem kleinsten Anlauf gegen so delikate Rücksichten sah er das Unglück einer Neuerung, und die Politik hatte sein Gemüt zu einer unbarmherzigen Härte gewöhnt, wenn es das Recht des heiligen Markus, die Dienste seines Volkes zu fordern galt.

»Ich wollte, du wärest gekommen, mich um Seelenmessen oder um Geld oder um irgend sonst etwas zu bitten, Antonio, nur nicht um dies!« erwiderte er nach einer kleinen Pause. »Du hast, wenn ich nicht irre, den Jungen von seiner Geburt an immer um dich gehabt?«

»Signore, ja, ich hatte diese Freude. Er ward als Waise geboren, und ich hätte ihn gern behalten, bis er tüchtig gewesen wäre, in die Welt zu treten, ausgerüstet mit Redlichkeit und Glauben, um ihn vor Unbill zu behüten. Wär mein eigener tapferer Sohn hier, er würde auch um kein anderes Glück für den Jungen bitten, als ihm den Rat und Beistand nicht zu rauben, den auch ein armer Mann das Recht hat, seinem Fleisch und Blut angedeihen zu lassen!«

»Er fährt nicht schlimmer als andere, und du weißt, daß der Staat eines jeden Armes bedarf.«

»Exzellenz! Als ich in den Palast trat, sah ich Signore Giacomo aus seiner Gondel steigen.«

»Oh, über dich, Gesell! Machst du keinen Unterschied zwischen dem Sohn eines Fischers, zwischen einem, der von Rudern und von Handarbeit lebt, und dem Abkömmling einer alten Familie! Geh, anmaßender Mann, und denke an deinen Stand und an den Unterschied, den Gott zwischen unsere Kinder gesetzt hat.«

»Jawohl, die meinigen haben mir niemals Kummer gemacht als in ihrer Sterbestunde«, sagte der Fischer mit dem Ton eines ernsten Vorwurfs.

Signore Gradenigo fühlte die Schärfe dieses Tadels, der aber der Sache seines rücksichtslosen Milchbruders keineswegs frommte. Er ging sehr aufgeregt im Zimmer einigemal hin und her, bezwang aber seinen Unwillen insoweit, daß er mit der Milde antworten konnte, die seinem Stande geziemte.

»Antonio«, sagte er, »deine verwegene Gesinnung ist mir nicht fremd. Wenn du Seelenmessen für die Toten verlangtest oder Geld für die Lebendigen, du solltest es haben; aber mich um Verwendung beim General der Galeeren bitten, das heißt um etwas bitten, was in so kritischen Zeiten auch dem Sohne des Dogen nicht könnte zugestanden werden, wäre der Doge selbst…«

»… ein Fischer«, fiel Antonio ein, da er bemerkte, daß der Senator stockte, »lebt wohl, Signore! Ich möchte nicht im Groll von meinem Milchbruder scheiden. Mögen die Heiligen Euch segnen. Möget Ihr nie den Schmerz erleben, ein Kind schlimmer als durch den Tod zu verlieren – durch Untergang in Sünde.«

Nachdem Antonio geendigt hatte, verbeugte er sich und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war. Der Senator bemerkte sein Weggehen nicht, denn er hatte sich abgewandt, in seinem Innern das Gewicht der Worte fühlend, die der andere in seiner Einfalt gesprochen hatte. Erst nach einer Weile bemerkte er, daß er allein war. Aber ein anderer Fußtritt fesselte alsbald seine Aufmerksamkeit; die Tür ging wieder auf, und ein Diener erschien. Er meldete jemanden, der um eine Privataudienz nachsuchte.

»Laß ihn herein«, sagte der Senator bereitwillig und ordnete seine Züge zu ihrem gewöhnlichen, vorsichtigen und mißtrauischen Ausdruck.

Der Diener entfernte sich, und ein maskierter Mann, in einen Mantel gehüllt, trat schnell ein. Er warf die Hülle über den Arm und nahm die Maske ab. Da zeigten sich die Züge und die Gestalt des gefürchteten Jacopo.

Zwanzigstes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Die Stunde war gekommen, wo die Piazza von Herumschwärmern und die Kanäle von Gondeln zu wimmeln pflegten. Masken stahlen sich wie gewöhnlich längs den Portikus, Gesang und Geschrei ließ sich hören, Venedig war wiederum der trügerischen Heiterkeit hingegeben.

Als Jacopo aus dem Gefängnis auf den Kai herauskam, mischte er sich unter den Menschenstrom, der nach den Plätzen hinwogte, durch seine Maske gegen alle Beobachtung gesichert. Wie er über die Brücke des Kanals von St. Markus kam, blieb er einen Augenblick stehen, um nach der eben verlassenen Galerie hinaufzuschauen, dann zog er weiter mit der Menge, das Bild der lieblichen und vertrauensvollen Gessina im tiefsten Herzen bewahrend. Unter den dunklen Bogen des Broglio suchten seine Blicke Don Camillo. An der Ecke des kleinen Platzes begegneten sie sich, wechselten geheime Zeichen, und der Bravo entfernte sich unbemerkt.

Hunderte von Booten lagen am Fuß der Piazetta: Unter diesen suchte Jacopo sein eigenes und ruderte es aus der schwimmenden Masse nach dem Stromwasser hin; wenige Ruderschläge, so lag er an der Seite der »Bella Sorrentina«. Der Schiffer schritt das Verdeck auf und ab, die frische Abendluft genießend, während sein Schiffsvolk am Vorderteil der Feluke gruppiert war und ein kalabrisches Schifferlied sang. Die Begrüßung war gutherzig, aber kurz, wie sie unter Männern dieser Klasse gebräuchlich ist. Aber der Padrone schien den Besuch zu erwarten, denn er führte seinen Gast, fern von den Ohren seiner Leute, ans andere Ende der Feluke.

»Hast du was Besonderes, guter Roderigo«, fragte der Seemann, der Jacopo an einem Zeichen zu erkennen pflegte und dennoch ihn nur unter jenem erdichteten Namen kannte. »Du siehst, wir sind nicht müßig gewesen, obgleich gestern Festtag war.«

»Bist du zur Fahrt in den Golf fertig?«

»Nach der Levante oder nach den Säulen des Herkules, wie es dem Senat gefällig ist. Wir haben unsere Segelstangen aufgezogen, seit die Sonne hinter den Gebirgen sank, und trotz unserer anscheinenden Gemächlichkeit bedürfen wir nur einer Stunde, um uns für die Außenseite des Lido zu rüsten.«

»Dann nehmt Eure Maßregeln.«

»Meister Roderigo, Ihr bringt Eure Neuigkeiten auf einen überfüllten Markt. Man hat mich schon unterrichtet, daß man uns diese Nacht brauche.«

Eine schnelle Bewegung des Mißtrauens von Seiten des Bravo entging dem Padrone, dessen Augen über den Windfang der Feluke liefen, mit der dem Seemann eigenen Aufmerksamkeit für diesen Teil des Schiffes, wenn sein Dienst begehrt wird.

»Du hast recht, Stefano. Indes doppelte Vorsicht schadet nicht. Bei einem schwierigen Auftrag ist Vorbereitung die Hauptpflicht. «

»Wollen Sie sich selbst überzeugen, Signore Roderigo?« sagte der Seemann mit leiser Stimme. »Die ›Bella Sorrentina‹ ist nicht der Buzentaur, auch keine Galeere des Großmeisters von Malta; doch im Verhältnis ihrer Größe sind in des Dogen Palast selbst keine besseren Zimmer zu finden. Als ich erfuhr, daß eine Dame zur Fracht gehöre, da kam die Ehre Kalabriens ins Spiel, ihr alles recht bequem zu machen.« »Gut. Wenn man dir alle Umstände mitgeteilt hat, so wirst du gewiß alles tun, um Ehre einzulegen.«

»Ich sage nicht, daß man mir die Hälfte davon mitgeteilt hätte, guter Signore«, unterbrach ihn Stefane. »Die Heimlichkeit bei euren venezianischen Ladungen ist eben das, was mir das Gewerbe am meisten verleidet. Mehr als einmal ist es geschehen, daß ich wochenlang in den Kanälen gelegen habe, meine Räume so rein wie ein Mönchsgewissen, und dann kam Befehl, die Anker zu lichten, und ein Bote, der im Hafen einstieg, ging als Fracht mit, um an der Küste von Dalmatien oder an den griechischen Inseln wieder hinauszukriechen.«

»Bei solchen Fällen hast du dein Geld leicht verdient.«

»Diamine! Meister Roderigo, hält ich einen Freund in Venedig, der mir beizeiten Nachricht gab, so könnte man die Feluke mit solchem Ballast beladen, der auf der jenseitigen Küste Gewinn brächte. Diene ich den edeln Herren nach Pflicht treu, was ginge es dann den Senat an, wenn ich nun auch zu gleicher Zeit meine Pflicht täte für mein gutes Weib und ihre kleinen braunen Kinder daheim in Kalabrien?«

»Es ist viel Vernunft in dem, was du sagst, Stefano; allein du weißt, die Republik ist ein strenger Gebieter. Ein Geschäft dieser Art will mit leiser Hand berührt werden.«

»Das weiß niemand besser als ich; denn als sie den Handelsmann mit all seinen Gerätschaften aus der Stadt sandten, da mußte ich gewisse Kisten in die See werfen, um Raum zu machen für seinen nichtswürdigen Plunder. Der Senat ist mir Ersatz schuldig für diesen Verlust, werter Signore Roderigo. «

»Den du dir wohl gern diese Nacht zueignen möchtest?«

»Allerheiligste Maria! Sie können der Doge selbst sein, Signore, so wenig kenne ich von Ihrem Angesicht, doch ich möchte am Altar drauf schwören, daß Sie, Ihres Scharfsinns wegen, zum Senat gehören müssen. – Wenn die Dame nicht gar zu sehr mit Sachen beschwert und es noch Zeit ist, so möchte ich wohl ein wenig für den Geschmack der Dalmatier sorgen, mit gewissen Artikeln, die aus den Ländern hinter den Herkulessäulen herkommen.« »Du kannst ja selbst darüber urteilen, da man dich von der Art deines Geschäftes unterrichtet hat.«

»St. Januarius von Neapel, öffne meine Augen! – Man sagte nicht ein Wörtchen weiter, als daß eine junge Dame, für die sich der Staat sehr interessiere, diese Nacht die Stadt verlassen wolle, um nach der Ostküste zu gehen. Wenn es für Ihr Gewissen nicht zu unangenehm wäre, Meister Roderigo, so würde es mich sehr beglücken, zu hören, wer Ihre Gesellschafter sein werden?«

»Davon sollst du zur rechten Zeit mehr erfahren. Bis dahin empfehl ich dir eine vorsichtige Zunge, denn St. Markus spaßt nicht mit denen, die ihn beleidigen. Ich freue mich, dich so vorbereitet zu sehen, werter Padrone, und dir eine gute Nacht und glückliche Reise wünschend, empfehle ich dich deinem Schutzpatron. Doch halt – ehe ich dich verlasse, möchte ich wohl die Stunde wissen, wann der Landwind eintritt?«

»Ihr seid in Euern Sachen exakt wie ein Kompaß, Signore, doch habt Ihr wenig Erbarmen mit Euern Freunden! Nach der heutigen brennenden Sonnenhitze zu urteilen, müssen wir die Alpenluft um Mitternacht haben.«

»Wohl – mein Auge wird dich bewachen. Nochmals, addio!«

»Cospetto! Du hast ja vom Kargo gar nichts gesagt?«

»Der wird an Wert beträchtlicher als an Umfang sein«, antwortete Jacopo, nachlässig und stieß ab von der Feluke. Während Stefano auf dem Verdeck stand und über den wahrscheinlichen Ertrag seiner Spekulation nachdachte, glitt das Boot schnell und behende nach dem Kai.

Gleich den Windungen des listigen Fuchses durchkreuzt Betrug oft seine eigenen Wege; demgemäß fallen in seine Schlingen nicht nur die, denen sie gelegt wurden, sondern auch die, die sie legten. Als Jacopo sich von Don Camillo trennte, verabredeten sie, daß ersterer all seinen angeborenen Scharfsinn oder seine Erfahrung anwenden sollte, um mit Gewißheit die Absichten des Senats hinsichtlich Donna Violettas zu erfahren. Dies war auf dem Lido geschehen, und da niemand außer ihm von ihrer Unterredung etwas wußte und ihre neuerlich geknüpfte Verbindung ahnen konnte, so übernahm der Bravo seinen neuen Auftrag nicht ohne Aussicht auf einen glücklichen Erfolg. Bei ganz besonders delikaten Geschäften ihre Agenten zu wechseln, war ein sehr gebräuchliches Mittel der Republik, um dadurch Nachforschungen zu entgehen. Oft war Jacopo ihr Werkzeug bei ihren Unterhandlungen mit dem Seefahrer, der häufig gebraucht ward, geheime polizeiliche Maßregeln auszuführen. Er hatte anfangs den Befehl bekommen, den Padrone aufzusuchen und ihm zu empfehlen, daß er sich jeden Augenblick zum Dienste bereithalten möge; seit dem Verhör Antonios aber waren ihm von seinen bisherigen Prinzipalen keine Instruktionen mehr erteilt worden. Unter diesen nachteiligen Umständen also war es, daß Jacopo seine neuen wichtigen Pflichten anzutreten hatte.

Daß sich die List, wie gesagt, oft selber überlistet, ist sprichwörtlich und bewährte sich aufs neue in dem gegenwärtigen Falle mit Jacopo und seinen Herren. Sie hatten ihn bisher bei ähnlichen Gelegenheiten aufgesucht, jetzt schwiegen sie. Dieser Umstand war ihm nicht entgangen. Als er daher auf seinem Gange längs des Kais die Feluke erblickte, so leitete der Zufall seine Nachforschungen, und wie sehr ihm dabei die Habgier des Kalabresen zu Hilfe kam, haben wir eben erzählt.

Kaum hatte Jacopo den Kai erreicht und sein Boot angebunden, als er wieder auf den Broglio eilte, der in diesem Augenblick von Maskierten und den Pflastertretern der Piazetta angefüllt war. Die Patrizier waren nicht mehr da, sie hatten sich zurückgezogen.

Jacopo schien es, hatte gemessene Befehle; denn nachdem er sich überzeugt hatte, daß Don Camillo nicht mehr auf dem Platze war, drängte er sich durch die Menge wie einer, der einen bestimmten Gang zu tun hat. Beide Plätze waren jetzt voll, und wenigstens die Hälfte derer, die in diesen Vergnügungsorten die Nacht zuzubringen gedachten, erschien maskiert. Der Bravo, obgleich eine entschiedene Richtung nehmend, schritt nicht so eilig einher, daß er nicht im Gehen die sich auf der Piazetta bewegenden Gestalten hätte mustern können. So kam er bis an den Punkt, der beide Plätze vereinigt, als er seinen Ellenbogen leise berührt fühlte.

Er war nicht gewohnt, sich auf dem St.-Markus-Platze, noch dazu in solcher Stunde, unnötigerweise durch Sprechen zu verraten. Aber seinem fragenden Blicke erwiderte ein Zeichen, daß er folgen möchte. Die Gestalt, die ihn angehalten hatte, war so vollständig in ihrem Domino verhüllt, daß er sich vergeblich bemühte, zu erkennen, wer es wäre. Da jedoch der Teil des Platzes, wo sie ihn hinwinkte, leer war und in der Richtung lag, die er eben nehmen wollte, so gab der Bravo ein einwilligendes Gegenzeichen und folgte. Sobald sie sich außerhalb des Gedränges und an einem Orte befanden, wo sich kein Lauschender verbergen konnte, stand der Fremde still, untersuchte unter seiner Maske hervor Jacopos Person, Wuchs und Anzug und endigte zuletzt mit einer Gebärde, die anzeigte, daß er den Rechten vor sich habe. Jacopo erwiderte ebenfalls in Zeichensprache, behauptete aber strenges Stillschweigen, bis sich jener gezwungen sah, das Gespräch zu eröffnen.

»Gerechter Daniel«, brummte er, »sollte man nicht glauben, erlauchter Signore, Ihr Beichtiger habe Ihnen Stillschweigen zur Begrüßung auferlegt? Warum reden Sie Ihren Diener nicht an?«

»Was willst du?«

»Da hat man mich hierhergeschickt in die Piazza unter die Gauner, Kammerdiener, Gondolieri und alle Arten von Zechern und Schmausern, die dieses christliche Land zieren, und da soll ich suchen den Erben von einem der ältesten und geehrtesten Häuser Venedigs?«

»Wie, so weißt du denn, daß ich der bin, den du suchst?«

»Signore, ein weiser Mann sieht manches, was dem Unachtsamen entwischt. Wenn junge Kavaliere Geschmack finden daran, sich vornehm maskiert zu begeben unters Volk, wie bei einem gewissen jungen Patrizier dieser Republik der Fall ist, so brauchen sie eben nicht aufzutun den Mund, man kennt sie schon an ihrer Haltung.«

»Du bist ein schlauer Bote, Hosea; doch dein Stamm lebt ja von seiner Schlauheit.«

»Sie ist das einzige, was wir entgegensetzen können dem Unrecht des Drängers. Gehetzt sind wir wie Wölfe, warum sollten wir also nicht bisweilen zeigen die wilde Natur der Bestien, für die Ihr uns haltet. Doch was erzähl ich die Trübsale unserer Leute einem, der da glaubt, daß das Leben eine Maskerade ist?« »Aber zu deinem Auftrag! Ich wüßte nicht, daß ich ein Pfand auszulösen hätte, auch bin ich dir kein Gold schuldig.«

»Gerechter Samuel! Ihr Kavaliere vom Senat gedenkt nicht immer an das, was vergangen ist, Signore, oder Ihr hättet Euch sparen können diese Worte. Wenn Ew. Exzellenz sind geneigt, Pfänder zu vergessen, kann ich was dafür? Sicherlich, was anbelangt die Rechnung, die nun schon so lange ist angewachsen unter uns, da ist auf dem ganzen Rialto kein Handelsmann, der die Beweise wird ziehen in Zweifel.«

»Und wär’s auch so, kommst du hierher auf den vollen St.-Markus-Platz als Gläubiger, meines Vaters Sohn zu mahnen?«

»Wo werd ich Schande antun, Signore, irgendeinem, der da kommt von diesem erlauchten Geschlecht! Darum wollen wir jetzt nicht weiter sprechen von der Sache, wohl zu merken allerdings, daß Ihr, wenn die Zeit da ist, Euch bekennet zu Eurer Handschrift und Siegel.«

»Deine Klugheit gefällt mir, Hebräer, sie ist mir Bürgschaft, daß dein Geschäft diesmal nicht von der gewöhnlichen unangenehmen Art ist. Da ich eben nicht viel Zeit habe, so wirst du wohl so gut sein und damit herausrücken.«

Hosea sah sich noch einmal verstohlen, aber genau auf dem menschenleeren Fleck um, trat dann näher auf den vermeintlichen Edelmann zu und fuhr fort: »Signore, Ihre Familie ist in Gefahr, einen großen Verlust zu erleiden! Sie wissen, daß der Senat hat gänzlich und plötzlich entfernt die Donna Violetta von der Bewachung des treuen und erlauchten Senators, Ihres Vaters.«

Jacopo trat erschrocken einen Schritt zurück, doch so leise, daß die Bewegung für einen Liebhaber, dessen Hoffnung vereitelt worden, nur natürlich erschien und den Irrtum des Juden noch bestärkte.

»Beruhigen Sie sich, junger Signore«, setzte Hosea hinzu, »Diese Striche durch die Rechnung erfahren wir alle in der Jugend, wie ich weiß, durch gar schwere Versuchungen. Lea ist auch nicht gewonnen worden ohne Müh, und zunächst dem Glück im Handel ist Glück in der Liebe vielleicht das, worauf am wenigsten kann gerechnet werden. Aber Gold tut viel bei beiden, und in der Regel setzt es die Sache durch. Aber Sie sind näher daran, die Dame, die Sie lieben, und ihre Besitztümer zu verlieren, als Sie sich einbilden, denn ich bin hergeschickt, ausdrücklich, daß ich Ihnen soll sagen, daß sie soll werden entfernt aus der Stadt.«

»Wohin?« fragte Jacopo hastig, und der vermutete Liebhaber ward dem guten Hosea dadurch nur um so deutlicher.

»Das ist es ja eben, Signore, was noch ist zu erfahren. Dein Vater ist ein scharfsinniger Senator und tief eingeweiht bisweilen in die Geheimnisse des Staates. Doch wenn ich etwas darf schließen von seinem Schwanken bei dieser Gelegenheit, so kommt’s mir vor, als wenn er sich richtete mehr nach Berechnungen als nach sicherem Wissen. Gottseliger Daniel! Es hat gegeben Augenblicke, wo ich hab vermutet, daß der ehrwürdige Patrizier ein Mitglied ist des Rates der Dreimänner!«

»Sein Adel ist alt, seine Privilegien wohlbegründet – warum sollte er nicht?«

»Ich sag ja nichts dagegen, Signore. Es ist ein weises Kollegium, das viel Gutes tut und verhütet viele Übel. Niemand auf dem Rialto sagt den geheimen Beratungen Böses nach; dort legen sich die Leute auf Broterwerb und klügeln nicht über die Handlungen ihrer Beherrscher. Aber, Signore, er möge nun gehören zu diesem oder jenem Rate oder bloß sein Senatsmitglied, so hat er fallen lassen einen behutsamen Wink über die Gefahr des Verlustes, in der wir uns –«

»Wir! Hast du etwa Absichten auf Donna Violetta, Hosea?«

»Das verhüte Lea und das Gesetz! Ich sagte darum wir, Signore, weil bei dieser Heirat das Interesse der Leute auf dem Rialto ebensogut auf dem Spiel steht als das des Hauses Gradenigo.«

»Ich verstehe, du fürchtest für dein Gold.«

»Wenn ich so leicht Besorgnisse schöpfte in dieser Sache, Signore Giacomo, so würde ich es nicht hergegeben haben so bereitwillig. Indessen, ist auch die einstige Erbschaft von deinem Vater vollkommen hinlänglich, sicherzustellen jede Anleihe, die ich armer Mann machen kann, so würde die Sicherheit doch dadurch nicht werden geringer, wenn die Reichtümer des Signore Tiepolo noch kämen hinzu.«

»Du bist scharfsinnig, das geb ich zu, auch begreif ich die ganze Wichtigkeit deiner Warnung; allein, sie scheint keinen andern Zweck noch Grund zu haben als deine persönlichen Befürchtungen. «

»Und einige hingeworfene Winke Ihres geehrten Vaters, Signore.«

»Was sagte er denn noch weiteres über den Gegenstand?«

»Er sprach in Gleichnissen, junger Edelmann, Gleichnisse aber sind nicht in den Wind gesprochen für orientalische Ohren. Daß man im Begriffe steht, wegzubringen die reiche junge Dame aus Venedig, ist gewiß, und zum Besten des bißchen Interesses, das ich habe an ihrem Schicksal, gab ich den schönsten Türkis in meinem Laden darum, wüßte ich, wohin.«

»Weißt du gewiß, daß es diese Nacht geschehen soll?«

»Ich verpfände mich zu nichts, wenn’s etwa anders sollte ausfallen, aber ich habe Gewißheit genug, junger Kavalier, um unruhig zu sein.«

»Genug – ich werde meine eigene Angelegenheit und die deinige im Auge behalten.«

Jacopo machte ein Abschiedszeichen mit der Hand und verfolgte seinen Weg, die Piazza hinauf.

»Was meine Angelegenheiten betrifft«, brummte der Hebräer für sich, »so wollt ich nur, ich hätte sie selbst besser behalten im Auge. Was ging es dann mich an, heiratete die Dirne dich oder einen Türken!«

»Pst, Hosea!« rief ihm hier eine Maske ins Ohr, »ein Wörtchen allein mit dir.«

Der Jude schrak zurück, als er fand, daß er sich im Eifer denn doch von jemand hatte belauschen lassen. Auch dieser Fremde war in einem Domino und durchaus unkenntlich.

»Was beliebt, Signore Maske?« fragte der vorsichtige Jude.

»Ein Wort in Freundschaft und Vertrauen. – Du leihest Gelder auf Wucherzinsen aus, nicht wahr?«

»Diese Frage wär in der Schatzkammer der Republik eher am rechten Ort! Ich hab viele Steine, die taxiert sind weit unter ihrem Karatgewicht, und lieb wär’s mir, könnt ich sie unterbringen bei jemand, der besser imstande ist als ich, sie zu behalten.«

»Nein, das hilft dir nichts – man weiß recht gut, daß du Zechinen hast die Hülle und Fülle; ein reicher Jude aber sagt nicht nein, wenn es gilt, sein Geld auf Hypotheken anzulegen, die so sicher sind wie Venedigs Gesetze. Tausend Dukaten in deiner bereitwilligen Hand ist keine Seltenheit.«

»Die mich reich nennen, Signore Maske, belieben ihren Spott zu treiben mit dem unglücklichen Sohn eines verfolgten Volkes. Daß ich vor Mangel geschützt, daß ich sogar nicht geradezu dürftig bin, ist vielleicht nicht unwahr; wenn man aber spricht von tausend Dukaten, so sind das Dinge, zu gewichtig für meine belasteten Schultern. Geruhten Sie vielleicht einen Amethyst zu kaufen oder einen Rubin, galanter Signore, so dürften wir wohl handelseinig werden.«

»Juwelen hab ich selber, alter Hebräer, Gold ist’s, was ich brauche, dringend brauche, gleich und ohne viele Worte haben muß – nenne nur deine Bedingungen.«

»Wer so gebieterisch spricht in Geldangelegenheiten, Signore, der muß stellen können gute Sicherheiten.«

»Du hast gehört, daß die Gesetze Venedigs nicht sicherer sind. Tausend Zechinen, geschwind! Die Höhe der Wucherzinsen setze nach deinem eigenen Gewissen fest.«

Das hieß nun freilich, der Unterhandlung weiten Spielraum zu geben, und Hosea fing an, die Sache ernstlicher in Erwägung zu ziehen.

»Signore«, sagte er, »tausend Dukaten liest man nicht beliebig auf vom Pflaster des großen Platzes. Wer sie will darleihen, der muß sie erst verdienen durch lange, geduldige Arbeit, und wer sie borgen –«

»– will, der steht neben dir –«

»– will, der muß haben einen Namen und ein Gesicht, welche kreditfähig sind auf dem Rialto.«

»Nun, du verleihest ja wohl auch an Masken, bedächtiger Hosea, wenn anders der Ruf dir nicht zuviel Gutes nachsagt.«

»I nun, ein hinlängliches Pfand macht mir freilich die Sache klar genug, der Borgende mag nun so verborgen sein wie der Rat der Drei selbst. Aber ich sehe nichts. Morgen komm zu mir, mit oder ohne Maske, ganz wie es dir beliebt, denn ich verlange nicht, mich weiter zu mischen in anderer Leute Angelegenheiten, als meine eigenen es erfordern, und dann will ich nachsehen in meinen Koffern, wiewohl kein präsumtiver Erbe in Venedig leerere haben kann als ich.«

»Ich brauche das Geld gleich, ohne allen Verzug. Hast du es, unter der Bedingung, dir selbst den Zinsfuß stellen zu können, so sprich.«

»Bei hinlänglicher Bürgschaft in Edelsteinen könnte ich vielleicht zusammenscharren unter unsern zerstreuten Leuten die Summe, Signore. Doch wer umhergeht auf der Insel, um zu borgen, wie ich werde tun müssen, muß können beschwichtigen alle Zweifel hinsichtlich der Bezahlung.«

»Also das Gold ist zu haben, das ist ausgemacht?«

Hosea zauderte, denn er hatte sich vergeblich bemüht, durch des andern Verhüllung zu dringen, und obgleich dessen Zuversicht ihm ein günstiges Zeichen schien, so wollte doch seinem Leihinstinkt dessen Ungeduld nicht recht gefallen.

»Ich hab gesagt, durch den freundschaftlichen Beistand unserer Leute«, antwortete er vorsichtig.

»Diese Ungewißheit verträgt sich nicht mit meinem Bedürfnis, leb wohl, Hosea, ich muß anderswo suchen.«

»Signore, Sie eilen ja, als brauchten Sie das Geld, um damit zu bestreiten Ihre Hochzeitskosten. Wenn ich Isaak und Aaron so spät noch fände zu Hause, so glaub ich ohne Gefahr für einen Teil des Geldes stehen zu können.«

»Auf diesen Zufall kann ich mich nicht verlassen.«

»Nun, Signore, der Zufall ist nur klein, da Aaron bettlägerig ist und Isaak niemals verfehlt, durchzusehen seine Bücher, sobald vorüber ist die Mühe des Tages.«

»Ich sag dir, Jude, unsere Sache muß durchaus frei von aller Ungewißheit sein. Das Geld gegen Unterpfand und mit deinem eigenen Gewissen als Schiedsrichter in der Zinsangelegenheit, aber keine Winkelzüge, die dir nachher die Wahl lassen, zurückzutreten unter dem Vorwand, die Zwischenhändler wollten nicht.«

»Gerechter Daniel! Ihnen einen Gefallen zu tun, Signore, glaub ich es wagen zu können! – Da hat mir der wohlbekannte Hebräer aus Livorno, Levi, einen Beutel gegeben zur Aufbewahrung, der genau enthält die verlangte Summe. Unter den genannten Bedingungen will ich ihn verwenden in meinen Geschäften und dem guten Juwelier sein Gold später zahlen aus meinen eigenen Mitteln.«

»Dank für die Mitteilung, Hosea«, sagte der andere, indem er die Maske ein wenig lüftete, doch schnell wieder zurechtsetzte. »Sie kürzt unsere Verhandlung bedeutend ab. Trägst wohl den Beutel des Livorneser Juden unter deinem Domino?«

Hosea stand sprachlos da. Das Lüften der Maske hatte ihn von zwei wesentlichen Dingen in Kenntnis gesetzt: erstens, daß er vorhin seinen Verdacht wegen der Absichten des Senats mit Donna Violetta einem Unbekannten, vielleicht gar einem Polizeibeamten anvertraut hatte, und zweitens: daß er sich des einzigen Grundes entäußerte, der ihm je gegen die dringenden Zumutungen Giacomo Gradenigos etwas geholfen hatte, indem er diesem selbst soeben einräumte, daß die verlangte Summe in seinem Besitze sei.

»Ich hoffe, das Gesicht eines alten Kunden zerschlägt unsern Handel nicht, Hosea?« sagte der verschwenderische Erbe des Senators, kaum sich die Mühe gebend, das Ironische der Frage zu verbergen.

»Vater Abraham! Hätt ich gewußt, daß Sie es sind, Signore Giacomo, so hätten wir können schneller fertig werden.«

»Ja, ja, indem du, wie so oft seit kurzem, kein Geld zu haben vorgabst.«

»I nu, ich pflege nicht zu verschlucken meine Worte, Signore; aber meiner Pflicht gegen Levi muß ich doch bleiben gedenk. Der sorgfältige Hebräer hat mich ein Gelübde tun lassen auf den Namen unseres Stammes, daß ich sein Gold geben wolle niemandem, der nicht besäße die Mittel, die Wiederbezahlung zu setzen außer allen Zweifel.«

»Das gehört nicht hierher, du borgst das Geld von ihm und leihest es mir.«

»Signore, Sie versetzen mein Gewissen in eine kitzlige Lage. Sie schulden mir bereits etliche sechstausend Zechinen, wenn ich nun verborg dieses anvertraute Geld und Sie es auch zurückzahlen – was ich beides nur gesagt haben will als Voraussetzung –, so könnte mich verleiten die natürliche Vorliebe für mein Eigentum, die Zahlung auf meine eigene Rechnung zu stellen und Levis Schuld zu bringen in Gefahr.«

»Mach du das mit deinem Gewissen ab, wie du willst, Hosea. Du hast dich zu dem Gelde bekannt, und hier sind die verpfändeten Juwelen – her mit den Zechinen!«

Wahrscheinlich würde bei dem steinernen Gemüt des Hebräers die Vorstellung Giacomo Gradenigos ohne Wirkung geblieben sein. Allein, nachdem er sich von seiner Bestürzung erholt hatte, setzte er dem Wüstling seine Besorgnisse in Beziehung auf Donna Violetta, deren Vermählung, wie man sich erinnern wird, nur den Trauzeugen und dem Rate der Drei bekannt war, auseinander, und da fand er denn, daß das Gold dazu gebraucht werden sollte, die Dame an einen sichern Ort zu schaffen. Da aber dies seinem eigenen Zwecke so sehr entsprach, so gewann der Handel dadurch freilich eine ganz andere Wendung. Überdies waren die dargebotenen Juwelen wirklich ein genügendes Unterpfand für die darzuleihende Summe, und Hosea, der die Wahrscheinlichkeit mit in Anschlag brachte, durch die Güter der Erbin auch zu seinen früher verliehenen Geldern zu kommen, glaubte endlich die Zechinen des angeblichen Freundes Levi nicht besser anlegen zu können.

Sobald sich die Parteien vollkommen verständigt hatten, verließen sie zusammen den Platz, um den Handel abzuschließen.

Einundzwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Die Nachtstunden nahten ihrem Ende. Melodische Töne unterbrachen wieder die gewöhnliche Stille der Stadt, aufs neue sah man alle Kanäle von den Fahrzeugen der Großen wimmeln. Aus den Fenstern der kleinen finstern Bootspavillons winkten wohl einige im Vorbeifahren einander zu, doch nur wenige wagten es, zum Austausch der Begrüßung anzuhalten, so sehr fürchtete jeder den in allen Ecken lauernden Verrat. Selbst die Abendluft schöpfte niemand ohne Ängstlichkeit, so sehr war diese zur zweiten Natur der Bürger geworden.

Mitten durch die leichteren und geschmückteren Barken der Patrizier kam eine gemeine Gondel von mehr als gewöhnlicher Größe den Canale Grande gemächlich dahergefahren; die Gondolieri hatten das Ansehen von Leuten, die ermüdet oder eben nicht sonderlich eilig sind. Der am Ruder, ein Virtuose in seinem Fach, leitete das Boot nur mit einer Hand, während seine drei Gehilfen ihre Ruder müßig das Wasser obenhin bestreichen ließen, nur dann und wann mit einem Schlage nachhelfend. So ungefähr nahm sich ein Fahrzeug aus, wenn es auf seinem Rückwege von einem Ausflug auf eine der etwas entfernter gelegenen Inseln war.

Aber plötzlich schwenkte die mehr schwimmende als geruderte Gondel aus der Mitte des Fahrwegs, und im Nu war sie in einem der am wenigsten belebten Kanäle. Schneller und regelmäßiger ging es jetzt vorwärts nach einem Stadtteile zu, den nur Leute der untersten Klasse bewohnten. An der Seite eines Magazins ward angehalten, und einer von der Mannschaft erstieg die Brücke, während sich die übrigen wie zum Ausruhen auf ihre Ruderbänke hinwarfen. Der ans Land Gestiegene wand sich durch einige kleine Durchgänge, wie sie in Venedig so zahlreich sind, und klopfte endlich an einem Fenster an. Bald ward aufgemacht, und eine weibliche Stimme fragte, wer draußen sei.

»Ich bin’s, Annina«, erwiderte Gino, der ohnehin kein seltener Supplikant an dieser Hintertür war. »Mach nur auf, Mädchen, mein Geschäft hat große Eile.«

Annina versicherte sich erst, ob ihr Bewerber auch allein sei, und tat dann, was er verlangte.

»Du kommst aber recht ungelegen, Gino«, hob die Weinhändlerstochter an, »eben wollte ich nach dem Markusplatze, um die Abendluft zu genießen. Vater und Brüder sind schon fort, ich wollte nur noch die Türen verschließen.«

»Konnte ihre Gondel nicht noch eine vierte Person fassen?«

»Sie haben den Fußweg genommen.«

»Und du getraust dich zu dieser Stunde allein auf den Straßen zu gehen, Annina?«

»Was hast denn du danach zu fragen?« erwiderte sie schnippisch. »Dank sei dem heiligen Teodoro, daß ich noch nicht die Sklavin des Bedienten eines Neapolitaners bin.«

»Der Neapolitaner ist ein mächtiger Herr, Annina, der den Willen und die Gewalt hat, seinen Dienern Achtung zu sichern.«

»Es wird sich zeigen, was er mit seiner Gewalt auszurichten vermag. Doch was willst du von mir in dieser unzeitigen Stunde? Wisse, Gino, daß ich mir aus deinen Besuchen überhaupt nicht viel mache, wenn sie mich aber vollends in meinen Geschäften stören, so sind sie mir geradezu unangenehm.«

Wäre die Leidenschaft des Gondoliere ernstlicher Art gewesen, so würde ihn solche unumwundene Sprache gekränkt haben, allein, er empfing die Zurückweisung mit derselben Gleichgültigkeit, mit der sie gegeben wurde.

»An deine Launen, Ninchen, bin ich schon gewöhnt«, sagte er und warf sich auf eine Bank, entschlossen, nicht zu weichen. »Gewiß hat dir ein junger Patrizier einen Handkuß zugeworfen, oder dein Vater hat heute ein gutes Geschäftchen gemacht, seine Börse und dein Stolz halten ja immer gleichen Schritt.«

»Ei, hör einer den Burschen! Sollte man nicht glauben, ich hätte ihm schon mein Jawort gegeben, und es fehlte weiter nichts, als die Kerzen in der Sakristei anzuzünden, um die Trauung zu vollziehen! Was hab ich nach dir zu fragen, Gino Monaldini, daß du dir mit einem Male dergleichen rausnimmst?«

»Und was hab ich nach dir zu fragen, Annina, daß du den Vertrauten des Don Camillo mit diesen abgenutzten Kunststückchen hinhalten willst?«

»Fort, Unverschämter! Ich mag meine Zeit nicht an dich verschwenden.«

»Bist diesen Abend gewaltig eilig, Annina.«

»Ja, um dich loszuwerden. Merk dir wohl, was ich dir jetzt sage, Gino, denn es sind die letzten Worte, die du von mir zu hören bekommst. Mit deinem Herrn ist’s bald zu Ende; nicht lange, so wird er mit Schande die Stadt räumen müssen, und seine sämtlichen Diener mit ihm. Ich aber ziehe es vor, in der Stadt zu bleiben, wo ich geboren bin.«

Der Gondoliere lachte hell auf, denn ihn rührte ihre angenommene Verachtung in der Tat sehr wenig. Doch schnell erinnerte er sich seines Auftrags wieder, gewann den vorigen Ernst und versuchte nun durch ein angelegentlicheres Benehmen des Unwillens seiner wankelmütigen Gebieterin Meister zu werden.

»Behüt mich der heilige Markus, Annina! Warum sollten wir nicht ein Geschäft in Wein abmachen können, wenn wir auch nicht bestimmt sind, zusammen vor dem guten Prior hinzuknien? Ich winde mich durch die dunkeln Kanäle bis Steinwurfweite vor deine Tür und führe dir eine Gondel voll alten Lacrimae Christi zu, wie ihn der ehrliche Tommaso, dein Vater, selten noch zu kaufen bekommen hat, und du behandelst mich wie einen Hund.«

»Ich habe diesen Abend weder für dich noch deine Weine Zeit übrig. Ohne dein Geschwätz wär ich nun schon fort und guter Dinge.«

»Schließ du nur die Tür zu, Mädchen, brauchst mit einem alten Freund keine Umstände zu machen.« Dabei bot er ihr dienstfertig seine Hilfe beim Verschließen an, was sie denn auch bereitwillig zugab, so daß das Haus bald in Sicherheit und die Eigensinnige mit ihrem Bewerber im Freien war. Ihr Weg führte über die schon erwähnte Brücke, Gino wies auf die Gondel hin mit den Worten: »So fühlst du denn gar keine Versuchung, Annina?«

»Deine Unvorsichtigkeit, die Schmuggler bis vor meines Vaters Haustür zu bringen, stürzt uns noch ins Unglück, alberner Junge.«

»Du irrst, gerade diese Kühnheit schläfert allen Verdacht ein.«

»Von welchem Weinberg ist das Getränk?«

»Vom Fuße des Vesuv, die Beeren hat die Hitze des Vulkans gereift. Wenn die Leute das Weinchen deinem Feinde, dem alten Beppo, zuschlagen, wird dein Vater untröstlich drüber sein.«

Annina, die zu keiner Zeit ihren Vorteil aus dem Auge verlor, blickte jetzt das Boot lange an. Das Zelt war zu, allein, ihre einmal in Gang gesetzte Einbildungskraft füllte ohne Mühe den ganzen Raum mit neapolitanischen Schläuchen an.

»Kommst du aber auch nicht wieder vor unsere Haustür, Gino?« »Das soll von dir abhängen. Jetzt komm nur mit hinab und koste.«

Sie zauderte und – tat, was die Frauen stets tun, wenn sie zaudern – sie willigte ein. Schnell war das Boot erreicht, die Leute lungerten noch auf ihren Ruderbänken, aber Annina glitt, ohne sie anzusehen, an ihnen vorbei in das Zelt. Jedoch statt Schläuchen und Gepäcks, wie in einem dem Schmuggelhandel gewidmeten Fahrzeuge, fand sie hier die gewöhnliche Einrichtung einer Kanalbarke, Polster und darauf einen fünften Gondoliere ausgestreckt.

»Hier seh ich nichts, was mich anginge!« rief die Getäuschte. – »Wollen Sie was von mir, Signore?«

»Willkommen. Diesmal trennen wir uns so bald nicht wieder.«

Der Fremde war beim Sprechen aufgestanden und legte mit dem letzten Worte die Hand auf die Schulter des Mädchens, die sich keinem andern gegenüber sah als dem Don Camillo Monforte.

Annina war in Verstellungskünsten zu geübt, um ein Zeichen wirklichen oder geheuchelten Schreckens zu verraten. Ihre Glieder bebten zwar, aber mit voller Gewalt über ihre Züge und mit erkünstelter Heiterkeit sagte sie: »Viel Ehre für den Schleichhandel, den edeln Herzog von Sant‘ Agata in seinen Diensten zu haben!«

»Ich bin zum Scherz nicht aufgelegt, Dirne, wie du sehen sollst. Wähle: offenherziges Bekenntnis oder meinen gerechten Zorn.«

Diese Worte wurden mit Ruhe gesprochen, doch so, daß Annina ohne Mühe merken konnte, sie habe es mit einem entschlossenen Manne zu tun.

»Was für Bekenntnis verlangen Ew. Herrlichkeit von der Tochter eines armen Weinhändlers?« fragte sie, unwillkürlich erzitternd.

»Die Wahrheit! Und bedenke, daß du diesmal nicht entkommst, bis ich zufriedengestellt bin. Zwischen der venezianischen Polizei und mir ist es nun einmal zum offenen Bruch gekommen.«

»Signore Herzog, solches Verfahren mitten in Venedig ist sehr kühn.«

»Dich wird dein eigener Vorteil lehren zu bekennen.«

»Da es Ihr Wille ist, das wenige, was ich weiß, zu erfahren, so soll es mir Vergnügen machen, es Ihnen mitteilen zu dürfen.«

»So sprich, die Zeit ist kurz.«

»Signore, leugnen will ich’s nicht, es ist Ihnen schlimm mitgespielt worden. Capperi! Welches Verfahren von dem Rate! Einen edeln Kavalier aus fremdem Lande, mit den gerechtesten Ansprüchen auf die Ehre, im Senat zu sitzen, so zu behandeln macht der Republik Schande! Kein Wunder, daß Ew. Herrlichkeit nicht gut auf sie zu sprechen sind.«

»Nichts davon, Dirne, heraus mit der Sache.«

Annina tat einen Blick seitwärts aufs Wasser und bemerkte, daß das Boot den Kanal schon hinter sich hatte und sich den Lagunen näherte. Völlig in der Gewalt Don Camillos, fühlte sie wohl, daß ihr längeres Ausweichen nichts helfen würde.

»Daß der Rat in Erfahrung zu bringen gewußt, daß Sie mit Donna Violetta aus der Stadt entfliehen wollten, das haben Ew. Herrlichkeit sich wohl schon selbst gedacht.«

»Versteht sich.«

»Mir ist’s unerklärlich, zu erraten, warum man gerade mich zur Dienerin der edlen Donna ausersah. Heilige Maria von Loretto! Ich bin nicht die Person, an die sich der Staat zu wenden hat, wenn er zwei Liebende auseinanderbringen will!«

»Jetzt ist die Gondel außerhalb der Stadt, Annina, und nun ist’s aus mit meiner Geduld. Wo hast du meine Frau gelassen?«

»Gebenedeiter San Teodoro! Signore, die Handlanger der Republik bedurften meiner Hilfe nicht; bei der ersten Brücke, durch die wir kamen, setzten sie mich aus.«

»Dein Streben, mich zu täuschen, ist vergeblich. Du warst noch in später Stunde auf den Lagunen, und als du von dem Boote der Donna Violetta zurückkamst, gegen Sonnenuntergang, warst du im St.-Markus-Gefängnisse zu Besuch, das weiß ich.«

Annina erstaunte nun wirklich. »Santissima Maria! Sie sind besser bedient, Signore, als sich der Rat einbildet!«

»Wie du zu deinem Schaden finden sollst, wenn du nicht die ganze Wahrheit gestehst. Aus welchem Kloster kamst du?«

»Signore, aus keinem. Wenn Ew. Herrlichkeit herausgebracht haben, daß der Senat die Signora Tiepolo im Gefängnis des heiligen Markus eingeschlossen hat, so bin ich daran nicht schuld.«

»Fruchtlose List, Annina«, erwiderte Don Camillo mit Ruhe. »Was du im Gefängnis zu tun hattest, ist mir wohl bekannt; du holtest gewisse Schmuggelwaren dort ab, die deine Base Gelsomina, des Wärters Tochter, für dich hatte aufheben müssen, ohne zu wissen, was es war.«

»Heilige Mutter Gottes!« rief sie voller Erstaunen.

»Du siehst, mich kannst du nicht betrügen. In der Regel pflegtest du deine Base nicht zu besuchen, doch diesen Abend, als du in den Kanal kamst –«

Ein tosender Lärm vom Wasser unterbrach Don Camillos Worte. Er schaute hinaus und erblickte einen gedrängten Schwarm von Booten, sämtlich wie mit einem Ruderschlage der Stadt entgegentreibend. Tausend Stimmen schwirrten durcheinander, von Zeit zu Zeit ein gemeinschaftliches Trauergeschrei erhebend, was schließen ließ, daß die rudernde Menge von einem und demselben Gefühl beseelt war. Der eigentümliche Auftritt und der Umstand, daß die Hunderte von Booten geradewegs auf seine Gondel lossteuerten, nahmen den Edelmann so in Anspruch, daß er für den Augenblick das eben vorgenommene Verhör seiner Gefangenen ganz vergaß.

»Was ist das, Jacopo?« fragte er leise den Gondoliere, der am Steuer stand.

»Fischerleute, Signore, und schwerlich auf einer friedlichen Fahrt begriffen, wenn ich mich auf ihre Art, sich der Stadt zu nähern, gut verstehe. Schon seit der Zeit, da sich der Doge geweigert hat, den Knaben ihres Kameraden von den Galeeren zu befreien, herrscht Unzufriedenheit unter ihnen.«

Einen Augenblick zauderten Don Camillos Leute, neugierig das Schauspiel anstaunend, dann aber überzeugten sie sich von der Notwendigkeit, Platz zu machen, denn die Masse von Booten kam wie ein wütender Strom herangeflutet. Allein, jetzt erscholl der drohende Befehl zu halten, und Don Camillo sah ein, daß keine Wahl übrigblieb.

»Wer bist du?« fragte einer, der die Rolle eines Anführers übernommen hatte. »Seid ihr Lagunenleute und Christen, so stoßt zu euren Freunden, und vorwärts nach St. Markus, Gerechtigkeit zu fordern!«

»Was bedeutet dieser Aufruhr?« fragte Don Camillo, dessen Kleidung seinen Rang verbarg und der des venezianischen Dialekts mächtig genug war, um sich durch die Sprache nicht zu verraten. »Warum seid ihr in solcher Anzahl versammelt, Freunde?«

»Schau her!«

Don Camillo wandte sich hin und erblickte die blassen Züge und offenen Augen des alten Antonio, starr vom Tode. Hundert Stimmen zugleich erzählten ihm den Hergang, aber so verwirrt und mit so vielen bitteren Verwünschungen vermischt, daß er nichts daraus hätte entnehmen können, wenn er nicht schon durch Jacopo vom Ganzen unterrichtet gewesen wäre.

Antonios Leiche hatten die Leute beim Fischen gefunden, die nächste Folge war eine Beratung über die mutmaßliche Art, wie er zu seinem Tode gekommen sein möchte, dann rotteten sie sich in immer größerer Anzahl zusammen, was den eben beschriebenen Auftritt herbeiführte.

»Gerechtigkeit!« schrie es aus hundert Kehlen.

»Tragt eure Forderung dem Senate vor!« erwiderte Jacopo, ohne sich zu bemühen, das Ironische in seinem Tone zu verbergen.

»Glaubst du, daß unser Kamerad wegen der Kühnheit, die er gestern bewies, bestraft worden ist?«

»Das wäre nicht das Seltsamste, was sich schon in Venedig zugetragen hätte.«

»Ha, sie verbieten uns, im Kanal Orfano, wo die geheimen Hinrichtungen sind, das Netz auszuwerfen, damit die Geheimnisse der Justiz nicht herauskommen, und doch nehmen sie sich nun schon heraus, einen unserer Leute mitten unter unseren Gondeln zu ersäufen!« »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit!« schrien zahllose Stimmen bis zum Heiserwerden.

»Fort nach St. Markus! Legt die Leiche dem Dogen zu Füßen! Fort, Brüder! Sie haben Antonios Blut auf ihren Seelen!«

Ohne geordneten Plan, nur von dem erlittenen Unrecht erfüllt, begaben sie sich nun wieder ans Ruder, und die ganze Flotte fuhr dahin, als bestände sie aus einer einzigen zusammenhängenden Masse.

Nur wenige Minuten hatten sie angehalten, doch fehlte es inzwischen nicht an allen jenen Zeichen der Wut, die einen Volkstumult zu begleiten pflegen. Nicht ohne sichtbare Wirkung blieb dies auf die Nerven Anninas, und Don Camillo benutzte ihre Angst, um ihr die Wahrheit abzutrotzen, denn zum Zaudern war nun keine Zeit mehr.

Durch ihre Aussagen bestimmt, ließ Don Camillo, während die tobende Menge in die Mündung des großen Kanals einfuhr, seine Gondel quer über die weite ruhige Fläche der Lagunen gleiten.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Der Schreck, der die Patrizier erfüllte, als sie das Geschrei der Fischer hörten, während sie auf ihrem Wege nach dem großen Platze bei den Reihen von Palästen vorüberfuhren, läßt sich leicht denken. Einige fürchteten, das letzte Ende ihrer künstlichen Existenz, das sie ein geheimer politischer Instinkt längst voraussehen ließ, sei nun gekommen, und dachten schon an Mittel zu ihrer persönlichen Sicherheit. Andere im Gegenteil gaben erstaunte Zuhörer ab, wähnten vielmehr, das Volk jauchze über einen Sieg, den der Staat davongetragen habe. Nur wenige, und zwar die nämlichen, die alle Vorteile des Staates an sich zu reißen wußten, faßten mit richtigem Blick die Gefahr ins Auge, erkannten ihren Umfang und die Mittel, sie zu entwaffnen.

Auf der anderen Seite waren die Aufrührer keiner Würdigung ihrer Kräfte fähig und wenig geschickt, ihre zufälligen Vorteile zu berechnen; sie folgten blind dem ersten Antriebe. Was ihre Gemüter zum Aufruhr vorbereitete, war der Triumph ihres bejahrten Gefährten am vorhergehenden Tage, die kalte Zurückweisung, die er vom Dogen erfuhr, und der Auftritt auf dem Lido, der eigentlich die nächste Veranlassung zu Antonios Tode abgab. Nachdem daher die Leiche gefunden war, warteten sie nur so lange, bis sich ihre Kameraden alle versammelt hatten, und der Leidenschaft gehorchend, eilten sie dem St.-Markus-Palaste zu, ohne sich vorher über ihr Vorhaben einen klaren Begriff zu machen.

Sobald sie in den Kanal einfuhren, drängte der enge Weg die Boote so dicht aneinander, daß dadurch die Ruder gewissermaßen nutzlos wurden und die Menge nur langsam vorwärts konnte. Alle wollten gern der Leiche Antonios so nahe als möglich sein, und wie immer bei Volksaufläufen, ging auch hier durch schlecht geleiteten Eifer der Zweck verloren. Ein paarmal hörte man laut die Namen einiger unbeliebter Senatoren, als wenn die Fischer damit umgingen, diese einzelnen Beamten für die Verbrechen des Staates verantwortlich zu machen. Diese Verwünschungen verschollen in der Luft und zogen keine Folgen nach sich. An der Rialtobrücke angekommen, stieg mehr als die Hälfte der Menge ans Land und nahm den kürzeren Weg durch die Straßen nach dem verabredeten Versammlungspunkt, und auch die in den Vorderreihen Rudernden legten jetzt, frei von dem Gedränge in ihrem Rücken, den Weg schneller zurück. Wie sie dem Hafen näher kamen, nahmen die Boote größere Entfernungen voneinander an, und das Ganze gewann so das Ansehen eines Leichenzuges.

Während diese Veränderung in der Stellung der Fahrzeuge vorging, kam eine stark bemannte Gondel, von gewaltigen Ruderschlägen getrieben, aus einem Seitenkanal heraus in den großen, so daß sie der Zufall der Schar von Booten gerade entgegenführte, die eben diesen Kanal hinanfuhr. Die Mannschaft stutzte bei dem außerordentlichen Anblick, der sich ihr so plötzlich darbot, und blieb einen Augenblick unentschlossen, ob sie vorwärts rudern solle.

»Eine Gondel der Republik!« schrien fünfzig Fischer. Eine einzelne Stimme setzte hinzu: »Canale Orfano!« Der bloße Verdacht, den diese Worte rege machten, war in solchem Augenblicke ausreichend, die Fischer aufzuregen. Ein Ausruf der Verwünschung, und sogleich machten einige zwanzig Gondeln zu wütender Verfolgung Anstalt. Es hatte indes bei dem drohenden Vorhaben sein Bewenden, denn geschwinder als die Verfolger trieben die Gondolieri der Republik dem Ufer zu, sprangen auf einen von den Brettergängen, die so viele Paläste Venedigs umgeben, und verschwanden in einem Seitengange.

Die Fischer, durch diesen Erfolg ermutigt, ergriffen das Boot als herrenloses Gut und bugsierten es unter Triumph ihrer eigenen Flotte zu. Einige traten aus Neugier in das Zelt, das einem Leichenwagen glich, und schleppten alsbald einen Priester darunter hervor.

»Wer bist du?« fragte mit heiserer Stimme einer, der den Anführer vorstellte. »Ein Karmeliter und Diener Gottes.«

»Dienst du dem heiligen Markus? Warst du im Canale Orfano, um eines Unglücklichen Beichte zu hören?«

»Ich bin hier in Begleitung einer jungen und edeln Dame, die meines Rates und meiner Fürbitte bedarf. Für Glückliche und Unglückliche, Freie und Gefangene sorg ich auf gleiche Weise!«

»Ha! Du wirst also tun, was deines Amtes ist! – Du wirst Seelenmesse abhalten für einen armen toten Mann?«

»Mein Sohn, ich mache, dies anbelangend, keinen Unterschied zwischen dem Dogen und dem ärmsten Fischer. Doch möcht ich die Frauen nicht gern im Stiche lassen.«

»Es soll den Damen nichts zuleide geschehen. Komm in mein Boot, hier ist deine heilige Verrichtung not.«

Pater Anselmo trat unter die Bedachung, seinen zitternden Gefährtinnen in wenigen Worten Aufschluß zu geben und dann den Fischern zu willfahren. Er ward bis zur vordersten Gondel gerudert und auf ein Zeichen zu dem Leichnam gebracht.

»Siehst du diese Leiche, Vater?« sagte sein Führer, »es ist die Gestalt eines Mannes, der ein aufrichtiger und frommer Christ war.«

»Das war er!«

»Wir alle kennen ihn für den ältesten und geschicktesten Fischer von den Lagunen, der immer bereit war, einem unglücklichen Kameraden beizustehen.«

»Ich kann dir glauben.«

»Das kannst du. Deine heiligen Schriften sind nicht wahrhaftiger als meine Worte. Gestern kam er im Triumph diesen selbigen Kanal herunter, weil er, den stärksten Ruderern von Venedig zuvor, den Ehrenpreis der Regatta davontrug.«

»Ich habe von seinem Glücke gehört.«

»Jacopo, der Bravo, der vordem das beste Ruder führte in den Kanälen, soll dabeigewesen sein! Santa Madonna! Solch ein Mann war zu gut, um zu sterben!«

»Es ist das Schicksal aller, reich und arm, stark und schwach, glücklich und unglücklich, so geht es mit allen zu Ende.«

»Nicht so, ehrwürdiger Karmeliter, denn sie haben Antonio, weil er ihr Mißfallen erregte mit seinen Bitten wegen seines Enkelkindes, das sie ausgehoben haben für die Galeeren, ins Fegefeuer fahren lassen, ohne eine christliche Hoffnung für seine Seele.«

»Es gibt ein Auge, das über den Geringsten von uns wacht, mein Sohn, wir müssen glauben, daß seiner nicht vergessen ward.«

»Cospetto! Es heißt, daß die Kirche denen nicht viel beisteht, denen der Senat nicht grün ist. Willst du für ihn beten, Karmeliter, und dein Wort wahrmachen?«

»Das will ich«, sagte Vater Anselmo mit Festigkeit. »Mach Platz, mein Sohn, daß keine Gebühr meines Amtes fehle.«

Die gebräunten, ausdrucksvollen Fischergesichter glänzten vor Freude, denn mitten im rohesten Tumult bewahrten sie ihre tiefeingewurzelte Ehrfurcht für die heiligen Verrichtungen der Kirche, in der sie erzogen waren. Bald war alles still, und die Boote zogen in größerer Ordnung als zuvor.

Es war ein auffallendes Schauspiel. – Vorn fuhr die Gondel, die die Überreste des Verstorbenen trug. Wo sich der Kanal, dem Hafen näher, erweitert, fielen die Strahlen des Mondes auf die starren Züge des alten Antonio, in denen man das Todesgefühl eines so plötzlich und schrecklich vernichteten Mannes recht wohl wahrnehmen konnte. Der Karmeliter, sein entblößtes Haupt gebeugt, mit gefalteten Händen, stand zu den Füßen des Leichnams; sein weißes Kleid flatterte im Mondlicht. Nur ein Gondoliere führte das Boot, und kein Laut war hörbar als das Plätschern des Wassers beim langsamen Fall der Ruder. Wenige Minuten dauerte dies Schweigen der Prozession. Dann hörte man die Stimme des Mönchs die Gebete für den Toten anstimmen. Die Fischer, dessen kundig, wie denn selten jemand unerfahren in den heiligen Gebräuchen war, nahmen die Responsorien auf. Das Plätschern des Wassers begleitete sanft ihre Stimmen. Die Fenster öffneten sich, wo sie vorüberfuhren, und Tausende von neugierigen und besorgten Gesichtern erschienen auf den Balkonen gedrängt und sahen den Leichenzug langsam dahinziehen.

In der Mitte des Haufens ward die Gondel der Republik von fünfzig leichteren Booten bugsiert, denn die Fischer hielten ihre Prise fest. So kam der feierliche Zug in den Hafen und näherte sich dem Kai am Fuße der Piazetta. Während sich zahllose Hände beeiferten, Antonios Leichnam ans Land zu bringen, erhob sich ein Geschrei mitten aus dem herzoglichen Palaste, zum Zeichen, daß sich der übrige Teil der Mannschaft bereits im Hofraum des Schlosses befinde.

Jetzt boten die Plätze des heiligen Markus ein neues Schauspiel dar. Gesang, Lachen und Spiel waren verstummt, verschwunden die Lichter in den Kaffeehäusern, die Schwärmer der Nacht hatten sich ihre Häuser gesucht, aus Furcht, mit denen vermengt zu werden, die sich vermaßen gegen den Zorn des Senats.

»Gerechtigkeit!« schrien tausend Stimmen, während Antonios Leiche in den Hof getragen ward. »Ruhmwürdiger Doge! Gerechtigkeit!«

Der Leichnam ward niedergelegt am Fuße der Riesentreppe, und der zitternde Hellebardier, der diese Treppe bewachte, fühlte kaum Kraft genug in sich, die Miene von Festigkeit zu behaupten, die ihm Disziplin und Soldatenstolz auferlegten. Sonst war keine militärische Macht herbeigeschafft, denn die Staatsgewalt Venedigs kannte ihr Unvermögen im drängenden Augenblicke zu gut, um zu reizen, wo sie nicht bezwingen konnte.

Der Rat der Drei hatte Kunde von der Ankunft der empörten Fischer und hielt, als der Haufe in den Hof drang, eine geheime Beratung, ob sich vermuten ließe, daß der Aufstand bedeutungsvoller sein könnte, als der Augenschein zunächst lehrte.

»Hat man die Dalmatier in Kenntnis gesetzt von diesem Aufruhr?« fragte ein Mitglied des geheimen Tribunals, dessen Nervenstärke seiner hohen Stellung nicht zu entsprechen schien.

»Wir könnten ihrer Kugeln bedürfen, ehe diese Empörung gedämpft sein wird.«

»Was das betrifft, Signore, setzt Euer Vertrauen nur auf die gewöhnlichen Autoritäten«, erwiderte der Senator Gradenigo. »Ich besorge jedoch, daß hier nur die Anzeichen einer noch verborgenen Verschwörung seien, in die auch die Treue des Militärs verwickelt sein könnte.«

»Was wollen die Elenden? Unser Seehandel gedeiht, die Bank hat Segen an tüchtigen Dividenden. Und ich versichere Euch, Signori, seit vielen Jahren hab ich nicht so bedeutenden Gewinn in allen Zweigen unserer Verwaltung bemerkt als heutzutage. Alle freilich können nicht zugleich Vorteil haben.«

»Ihr habt mit den blühenden Angelegenheiten zu tun, Signore; es gibt aber andere, mit denen es nicht so gut steht.«

»Kann denn nichts diese gierigen Gemüter zufriedenstellen? Sind sie nicht frei – sind sie nicht glücklich?«

»Es scheint, daß sie dafür bessere Bürgschaft verlangen als unsere Absicht oder unsere Versicherung.«

»Der Mensch ist ein neidisches, unzufriedenes Geschöpf. Die Armen wollen reich sein, die Schwachen stark.«

»Es gibt aber wenigstens die Ausnahme von Eurer Regel, Signore, daß die Reichen selten arm oder die Starken schwach zu sein wünschen.«

»Ihr verspottet heut meine Bemerkungen, Signore Gradenigo. Ich denke aber, daß ich spreche, wie es einem Senator von Venedig zukommt«

»Ist ein Reich in seiner schönsten Blüte, so übersehen die Untertanen in ihrem besonderen Glück die allgemeinen Mängel, ist aber ein Handelsstaat erst in Abnahme, so bekrittelt jeder Kaufmann die geringste wie die höchste Staatsmaßregel.«

»Das ist ihre Dankbarkeit! Haben wir nicht diese verschlammten Inseln in einen Markt für die halbe Christenheit umgewandelt? Nun aber sind sie unzufrieden, daß sie nicht alle die Vorrechte behalten können, die sich die Weisheit unserer Voreltern zu verschaffen wußte.«

»Sie beklagen sich nicht anders, als Ihr selber tut, Signore, aber Ihr habt recht, daß man den gegenwärtigen Aufstand nicht vernachlässigen darf. Seine Hoheit soll hinaus zum Volk mit den Patriziern, die gerade zugegen sind, und mit einem aus unserer Mitte als Augenzeuge. Mehr als dies können wir nicht tun, ohne uns der Entdeckung unseres Amtes auszusetzen.«

Der geheime Rat brach auf, um sogleich diesen Beschluß in Ausführung zu bringen, gerade in dem Augenblick, als die Fischer ihre Verstärkung vom Wasser her erhielten.

Als sie sahen, wie groß die Menschenmenge war, die sich im herzoglichen Palaste versammelt hatte, wurden die Verwegensten des Haufens dreister, und auch die noch Schwankenden wurden fest.

Eben erhob die gedrängte Masse im Hofe ihr lautes und drohendes Geschrei, als der Zug des Dogen in einer der langen, offenen Galerien erschien, die den Hauptflur des Gebäudes bilden. Die Gegenwart des ehrwürdigen Mannes, der dem Namen nach dies künstliche Staatsgebäude leitete, und die lange Gewöhnung der Fischer, Hochachtung vor den oberen Behörden zu hegen, verursachten, der gegenwärtigen mißvergnügten Stimmung ungeachtet, plötzlich eine tiefe Stille. Ein Gefühl der Ehrfurcht überschlich allmählich die Tausende von dunkeln Gesichtern, die hinauf starrten, dem kleinen Zuge der nahenden Patrizier entgegen. So tief war die plötzliche Stille, daß man das Rauschen der herzoglichen Gewänder hörte, als der Fürst, seines Alters wegen und der Würde seiner hohen Stellung gemäß, langsam daherschritt. Die vorige Heftigkeit der Fischer und ihre jetzige Ehrfurcht vor dem äußeren Prunk, der ihre Augen bestach, hatten beide dieselben Quellen – Unwissenheit und Gewohnheit.

»Weswegen seid ihr hier versammelt, meine Kinder?« fragte der Doge, als er bis an den Rand der Riesentreppe vorgetreten war. »Und vor allem, warum kommt ihr in den Palast euers Fürsten mit so unziemlichem Geschrei?«

Die Stimme des Greises war deutlich zu vernehmen, denn kaum ein Atemzug unterbrach sein leisestes Wort. Die Fischer sahen einander an und schienen den zu suchen, der kühn genug sein würde zu antworten. Endlich schrie einer, der mitten im Haufen stand und sich geflissentlich nicht sehen ließ: »Gerechtigkeit!«

»Das ist auch unser Zweck«, fuhr der Fürst mit sanftem Tone fort, »und das ist, will ich hinzufügen, was wir täglich üben. Weswegen seid ihr aber hier versammelt in einer Art, die für den Staat beleidigend und unehrerbietig gegen seinen Fürsten ist?«

Wiederum antwortete niemand.

»Will keiner reden? – Seid ihr so kühn mit euern Stimmen bereit, wo es nicht verlangt wird, und so schweigsam, wo es gilt?«

»Sprecht gelinde mit ihnen, Hoheit«, flüsterte der vom Rate, der beauftragt war, ein geheimer Zeuge der Zusammenkunft zu sein. »Die Dalmatier sind kaum fertig.«

Der Fürst beugte sich vor einem Ratschlag, der, wie er wohl wußte, nicht unberücksichtigt bleiben dürfte, und nahm seinen vorigen Ton wieder an.

»Wenn mir keiner sagen will, wessen ihr bedürft, so muß ich euch befehlen, euch zurückzuziehen, und während es meinem väterlichen Herzen wehe tut–«

»Gerechtigkeit!« wiederholte der versteckte Schreier aus dem Haufen.

»Nenne dein Begehr, daß wir’s erfahren!«

»Hoheit, habe die Gnade, auf diesen zu blicken!«

Einer, der kühner war als die übrigen, wendete Antonios Leichnam dem Mondlichte zu, daß dessen gespenstische Züge sichtbar wurden. Der Fürst staunte bei dem unerwarteten Anblick, und nachdem er, seine Gefährten und Wachen dicht hinter sich, die Treppe hinuntergestiegen war, blieb er eine Weile schweigend bei der Leiche stehen.

»Hat dies ein Mörder getan?« fragte er, auf den toten Fischer blickend und sich bekreuzend. »Was konnte der Tod eines solchen Mannes einem Bravo einbringen? Vielleicht ist der Unglückliche bei einer Schlägerei mit seinesgleichen gefallen?«

»Keins von beiden, durchlauchtigster Doge! Wir besorgen, daß Antonio den Unwillen von San Marco hat entgelten müssen.«

»Antonio! Ist dies der dreiste Fischer, der uns bei der Regatta lehren wollte, wie wir regieren müßten?«

»Derselbe, Exzellenz«, erwiderte der einfache Arbeitsmann von den Lagunen, »und eine tüchtigere Hand beim Netz oder ein treuerer Freund in der Not hat nie eine Gondel gerudert. Diavolo! Es müßt eine Freude für Eure Hoheit gewesen sein, den armen, alten Christen unter uns zu sehen am Tage eines Heiligen, wenn er unsere kleine Feierlichkeit anführte oder wenn er uns lehrte, wie unsere Eltern dem Handwerk Ehre zu machen pflegten.«

»Oder bei uns zu sein, durchlauchtigster Doge«, schrie ein anderer, denn wenn einmal Bahn gebrochen ist, sind die Zungen des Volkes bald kühn, »bei einer Lustbarkeit auf dem Lido, wo der alte Antonio immer der erste war im Lachen und immer am besten wußte, wann es Zeit war, ernsthaft zu sein.« Der Doge begann den Zusammenhang der Sache zu ahnen und warf einen Blick seitwärts, um die Mienen des ungekannten Inquisitors zu erforschen.

»Es ist bei weitem leichter«, sagte er, da ihm das abgerichtete Gesicht, das er angeschaut hatte, keinen Aufschluß gab, »die Verdienste des unglücklichen Mannes zu erfahren als die Art seines Todes. Kann einer unter euch erzählen, wie es zugegangen ist?«

Der Hauptsprecher der Fischer übernahm dies Geschäft gern und erzählte dem Dogen mit allen bei Leuten seines Standes beliebten Abschweifungen die Umstände von der Wiederfindung des Leichnams. Als er fertig war, suchte das Auge des Fürsten wiederum eine Erläuterung im Gesichte des Senators neben ihm, denn er wußte nicht, ob die Politik des Staates ein Exempel statuieren wolle oder nur den Tod dieses einzelnen für nötig erachtet habe.

»Ich finde in dem allen nichts, Ew. Hoheit«, bemerkte der vom Rate, »als was einem Fischer wohl begegnen kann. Der unglückliche alte Mann wird durch Zufall umgekommen sein, und es würde eine fromme Handlung sein, ein paar Messen für seine Seele lesen zu lassen.«

»Edler Senator«, rief der Fischer mit zweifelndem Tone, »San Marco war beleidigt.«

»Es sind viele müßige Gerüchte von San Marcos Gewogenheit und Ungewogenheit im Umlauf. Wenn wir glauben wollen, was die Leute erdenken in Angelegenheiten dieser Art, so werden die Verbrecher nicht in den Lagunen, sondern im Canale Orfano ersäuft.«

»Ganz recht, Exzellenz! Und wir dürfen dort unsere Netze nicht auswerfen, bei Strafe mit den Aalen auf dem Grunde zu wohnen.«

»Um so mehr ist Ursache, zu glauben, daß dieser alte Mann durch einen Zufall umgekommen ist. Läßt sich keine Spur eines gewaltsamen Todes an der Leiche wahrnehmen? – Denn obschon sich der Staat nicht mit einem seinesgleichen in der Art beschäftigen würde, kann es doch irgendein einzelner getan haben. Hat man den Zustand der Leiche untersucht?«

»Exzellenz, es war hinreichend, einen so alten Mann mitten in die Lagunen zu werfen. Der stärkste Arm von Venedig hätte ihn nicht retten können.«

»Es kann bei einem Zank zur Gewalttätigkeit gekommen sein, und die betreffende Behörde sollte die Sache untersuchen. Hier ist ein Karmeliter! – Vater, wißt Ihr etwas von der Sache?«

Der Mönch versuchte zu antworten, aber die Stimme versagte ihm.

»Du antwortest nicht, Mönch?« bemerkte der Doge, der durch das natürliche, gleichgültige Benehmen des Inquisitors wirklich getäuscht war wie alle anderen. »Wo fandest du diesen Leichnam?«

Vater Anselmo erzählte kurz, wie er von den Fischern zum Dienste gezwungen worden wäre.

Neben dem Fürsten stand ein junger Patrizier, der keine besondere Würde im Staate hatte als die allgemeine seines Standes. Getäuscht gleich den übrigen durch die Ruhe des einzigen, der von Antonios Tode die wirkliche Ursache wußte, fühlte er ein menschenfreundliches und lobenswertes Verlangen, sich zu vergewissern, daß dem armen Opfer nicht irgendein schändlicher Streich gespielt worden wäre.

»Ich habe gehört von dem Antonio«, sagte dieser Herr, der Senator Soranzo, dem die Natur ein empfindliches Herz gegeben hatte, »ich habe gehört von seinem Glück bei der Regatta. Hieß es nicht, daß Jacopo, der Bravo, sein Mitbewerber war?«

Ein dumpfes, bedeutungsvolles Gemurmel durchlief die ganze Menge.

»Ein so leidenschaftlicher, verwegener Mann als dieser kann wohl seine Niederlage durch Gewalttat haben rächen wollen.«

Ein zweites, lauteres Gemurmel zeigte, was diese Erklärung der Sache für Eindruck machte.

»Exzellenz, Jacopo gebraucht nur sein Stilett«, sagte der halb schon gläubige, aber doch noch schwankende Fischer.

»Wo er’s für nötig hält. Ein Mann von seinem Charakter und seiner Arglist kann auch wohl zu andern Mitteln, seine Bosheit zu befriedigen, Zuflucht nehmen. Seid Ihr nicht meiner Meinung, Signore?«

Diese Frage richtete der Senator Soranzo in seiner Unschuld an das unbekannte Mitglied des geheimen Rates. Dieser schien überrascht von der Wahrscheinlichkeit der Vermutung, die sein Gefährte aufstellte, begnügte sich aber, seine Anerkennung durch ein Nicken mit dem Kopfe kundzutun.

»Jacopo, Jacopo!« wiederholte eine Stimme nach der anderen im Haufen. – »Jacopo hat’s getan! Der beste Gondoliere in Venedig ist von einem alten Fischer besiegt worden, und nichts als Blut konnte die Schande auswischen!«

»Es soll untersucht werden, meine Kinder, und die Gerechtigkeit soll ihren Gang gehen«, sagte der Doge, indem er sich anschickte, sich zurückzuziehen. »Leute«, fügte er hinzu, sich an einige Beamten wendend, »bezahlet Messen, daß die Seele des unglücklichen Mannes zum mindesten nicht dabei leide. Ehrwürdiger Karmeliter, deiner Sorgfalt vertraue ich den Leichnam an, und du kannst keinen bessern Dienst verrichten, als die Nacht über bei ihm zu beten.«

Tausend Mützen wurden geschwenkt, den Beifall, den dieser gnädige Befehl fand, auszudrücken, und der ganze Haufen stand schweigend in Ehrfurcht, als sich der Fürst mit seinem Gefolge, wie er gekommen war, durch die lange gewölbte Galerie oben entfernte.

Ein geheimer Befehl der Inquisition ließ das Anrücken der Dalmatier absagen.

Wenige Minuten später war alles vorbereitet. Eine Bahre mit einem Zelt darüber ward von der anstoßenden Kathedrale hergeholt und der Leichnam darauf gelegt. Vater Anselmo an der Spitze, zog die Prozession durch das Haupttor des Palastes auf den Platz, die gewöhnliche Andacht absingend. Beide Plätze, der größere und der kleinere, waren noch menschenleer. Hier und da blickte das neugierige Gesicht eines Handlangers der Polizei oder eines etwas kühneren Beobachters unter den Bogen der Portikus hervor.

Aber die Fischer dachten nicht mehr an Gewalt. Mit der Unbeständigkeit von Leuten, die wenig an Überlegung gewöhnt sind, sich schnellen und heftigen Aufregungen hingeben, hatten sie alle Gedanken an Rache gegen die Diener der Polizei aufgegeben und ihre Aufmerksamkeit gänzlich dem frommen Dienste zugewendet, der, vom Fürsten selbst befohlen, für ihren Stand so schmeichelhaft war.

Einige stärkere Naturen unter ihnen mischten wohl auch Drohungen gegen den Bravo in die Gebete für den Toten, aber diese hatten keine Bedeutung für die gegenwärtige Handlung.

Das große Portal der ehrwürdigen Kirche ward aufgetan. Man trug die bescheidene Leiche des hingeopferten Antonio unter den Bogen, der die kostbaren Reliquien griechischer Kunst stützt, und setzte sie in das Schiff der Kirche nieder. Kerzen brannten vor dem Altare und umgaben die gespenstische Gestalt des Toten die ganze Nacht hindurch, und die Kathedrale San Marcos war erfüllt von den imposanten Gebräuchen der Katholischen Kirche, bis der Tag wieder heraufkam. Ein Priester folgte dem andern, um die Messe zu wiederholen, und der Haufe hörte aufmerksam zu, als fühlte sich ein jeder selber geehrt und erhoben durch diese Auszeichnung eines Mannes aus seinem Stande. Die Masken auf dem Platze waren allmählich wieder zum Vorschein gekommen, obgleich die Unruhe zu heftig und zu plötzlich gewesen war, um eine schnelle Rückkehr dem Leichtsinn zu erlauben, der gewöhnlich zwischen Sonnenuntergang und -aufgang auf diesem Flecke zu schauen war.