Kapitel 1

 

1

 

Der kanadische Expreß stand abfahrtbereit in der Halle des Bahnhofs von Edmonton. Ein freundlicher älterer Herr sah zu einem der geöffneten Fenster hinauf.

 

»Penelope, ich habe einen sehr guten Freund in London. Wenn Sie jemals Hilfe brauchen sollten, so wenden Sie sich an ihn. Er wird Ihnen in jeder Lage beistehen. Das heißt, ich hoffe, daß er noch in London ist, obwohl ich monatelang keine Nachricht von ihm bekommen habe.«

 

Penelope Pitt trocknete ihre Augen mit einem zerdrückten Tüchlein, das vor kurzer Zeit noch ein schönes Damentaschentuch gewesen war. Sie versuchte zu lächeln.

 

»Ach, ich bin ja so kindisch, jetzt zu heulen«, sagte sie. »Dabei hasse ich Edmonton doch und bin glücklich, daß ich von hier fortkomme. Außer Ihnen ist niemand hier, den ich auch nur im mindesten gern hätte. Außerdem werde ich ja doch niemals nach London kommen. Wahrscheinlich nehme ich irgendwo hier in Kanada eine Stellung an.«

 

»Sie haben doch eine Karte nach Toronto«, sagte der praktische alte Herr. »Es gibt mehrere kleine Städte dort in der Nähe, wo Sie Ihr Glück versuchen können. Kootney ist zum Beispiel ein Platz, an dem Sie Aussichten hätten – hier schnell, nehmen Sie diesen Brief!«

 

Das Abfahrtssignal war gegeben worden.

 

»Er heißt Orford, James X. Orford. Wir gingen zusammen in die Schule. Und, Penelope, Sie schreiben mir doch, sobald Sie etwas gefunden haben?«

 

Sie warf dem weißhaarigen Herrn noch eine Kußhand zu, als der Zug den Bahnhof verließ. Das Rattern und Poltern der Räder übertönte ihr Schluchzen.

 

Das große Abenteuer hatte nun begonnen.

 

Als sie sich etwas gefaßt hatte und nun auf ihrem Platz saß, dachte sie zum x-ten Male, wie schwächlich es doch sei, sich so aufzuführen. Die Dame ihr gegenüber beobachtete sie mit ruhigen, unaufdringlichen Blicken. Penelope hatte sie vorhin schon im Seitengang gesehen und bewundert. Selbst der alte Richter Heron, der sie zur Bahn begleitet hatte, hatte seine Abschiedsworte unterbrochen, um das intelligente Gesicht und die aristokratische Haltung dieser schlanken Frau zu betrachten.

 

»Fahren Sie weit?« fragte sie nun. Die Stimme der Fremden war weich und klangvoll. Sie sprach etwas langgezogen, und Penelope vermutete, eine Engländerin vor sich zu haben.

 

»Ich fahre nach Toronto. Meine Pläne sind noch nicht – ja, ich fahre nach Toronto.«

 

»Sie hassen Edmonton auch? Ich kann diesen Ort nicht ausstehen. Es ist dort alles so wenig kultiviert. In allen Häusern riecht es nach frischem Holz – und erst die Hotels! Sie sind furchtbar teuer, ohne den geringsten Komfort zu bieten.«

 

Penelope haßte Edmonton keineswegs, obwohl sie das manchmal behauptete. Im Grunde liebte sie die Stadt sogar. Sie war in England geboren, aber Edmonton war ihre eigentliche Heimat, und es gab in diesem Augenblick keinen Weg, kein Haus und keinen Stein dort, an dem sie nicht gehangen hätte. Jetzt, da sie der rollende, dröhnende Expreß immer weiter fortbrachte, war ihr alles doppelt lieb und teuer. Sie haßte nicht einmal mehr den Kaufmann, dessen Sekretärin sie gewesen war, obwohl dieser nicht mehr allzu junge Herr sich bis über die Ohren in sie verliebt hatte. Seine Leidenschaft für sie war so weit gegangen, daß er seine Stellung, sein Haus und seine Familie aufgeben wollte, wenn sie nur mit ihm fliehen würde. Und dabei hatte er eine Tochter, die ebenso alt war wie sie. Aber seine Frau hatte beim Staubwischen im Schreibtisch ihres Mannes das Konzept seines Abschiedsbriefes gefunden. Ihr Chef hatte tatsächlich geglaubt, daß sie seinen Antrag annehmen würde, und in dem Schreiben rührenden Abschied von seiner Frau und seiner Familie genommen. Er führte genau auf, was er schon alles für ihren Unterhalt getan habe und was er noch tun wolle.

 

Penelopes Gleichmut war schon genügend erschüttert gewesen durch die Entdeckung, welchen Eindruck ihre grauen Augen auf ihren wenig anziehenden kahlköpfigen Chef gemacht hatten, aber sie mußte nun auch noch den Zornesausbruch seiner Frau über sich ergehen lassen. Nach der Auseinandersetzung war sie ganz verwirrt und schauderte vor all den Vorwürfen und Beleidigungen, mit denen die erbitterte Frau nicht gespart hatte.

 

»Ich muß Ihnen gestehen, daß ich Edmonton eigentlich nicht hasse«, erklärte sie der Fremden. »Die Stadt ist mir lieb, nur – nun, ich bin froh, daß ich fortkomme.«

 

»Wollen Sie eine Reise nach England machen?«

 

»Das war eine meiner phantastischen Ideen«, erwiderte Penelope, und ihre Lippen zuckten. »Ich könnte ebensogut eine Reise zu den Plejaden planen.«

 

Die Dame runzelte die Stirn.

 

»Wohin?«

 

»Ich meine zu dem Sternbild«, erklärte das Mädchen.

 

Ihre Reisegefährtin nickte. Sie war wirklich hübsch. Ihre großen, braunen Augen waren von einer so dunklen Farbe, daß sie fast schwarz erschienen. Sie mochte achtundzwanzig Jahre alt sein, vielleicht war sie auch jünger. Ihre klassisch schönen Züge faszinierten Penelope, und nur etwas störte sie. Es war der gerade Mund mit den feinen und etwas zu dünnen Lippen. Das war aber auch der einzige Fehler, den sie entdecken konnte. Penelope selbst war auch schön, aber in einer ganz anderen Art. Sie hatte ein offenes, freies Wesen, war lebhaft und lebendig, ein Kind der Prärie, von der Sonne gebräunt. Ihre Haltung war aufrecht und frei, ihre Haut sammetweich und makellos.

 

Die andere Dame mußte man dagegen zierlich und hübsch nennen; man hätte sie mit kostbarem, zartem Porzellan vergleichen können. Sie hatte etwas von der Geschmeidigkeit feiner, eleganter Kätzchen.

 

Penelope schlief in dieser Nacht in dem Bett über ihr. Sie hätte zu gern gewußt, wer diese fremde Dame war. Sie mußte ihre Gedanken auf andere Dinge richten, sonst hätte sie weinen müssen, weil sie sich so elend und verlassen fühlte. Das dauernde, gleichmäßige Stoßen der Wagen, das die anderen Passagiere in den Schlaf wiegte, hatte gerade die entgegengesetzte Wirkung auf sie. Sie war vollkommen wach. Immer wieder erinnerte sie sich an ihr trauriges Erlebnis; dann wieder dachte sie an die Frau, die unter ihr lag. Aus den Nachbarabteilen drang das Schnarchen der Schläfer. Der Lokomotivführer kam ihr in den Sinn, der auf der Plattform der Maschine stehen mußte.

 

Allmählich fiel sie in einen leichten Halbschlaf, aber plötzlich erwachte sie wieder. Sie schaute hinunter und sah in das blasse Gesicht ihrer Reisegefährtin, die vor sich hinstarrte.

 

»Ist etwas passiert – sind Sie krank?« fragte Penelope und richtete sich im Bett auf.

 

Die Dame antwortete nicht. Sie stand zwischen den Vorhängen und hielt sich mit den Händen an dem Bett fest.

 

Als Penelope hinuntersteigen wollte, hörte sie ein Flüstern.

 

»Wenn er nur nicht: stirbt! Hast du auch daran gedacht, Arthur? Wenn er nur nicht stirbt, oder wenn Whiplow nicht schweigt!«

 

Die Fremde schlief und war doch wach. Penelope war sofort an ihrer Seite. Sie gab sich alle Mühe, sie wieder zu Bett zu bringen, und es gelang ihr schließlich auch. Ein paar Minuten später schlief die Fremde wieder ruhig.

 

Als Penelope ihr das Kissen zurechtschob, fiel eine flache Lederhandtasche auf den Boden und öffnete sich. Das Mädchen sah die kleine Fotografie eines hübschen jungen Mannes und vermutete, daß es Arthur war.

 

*

 

»Ich habe im Schlaf gesprochen? Wie sonderbar! Was habe ich denn gesagt?«

 

Penelope hatte es ihr während des Frühstücks im Speisewagen erzählt.

 

»Nicht viel. Ich erschrak so sehr, als ich Sie sah, daß ich kaum verstand, was Sie sagten. Sie sprachen mit einem Arthur und erwähnten jemand, der sterben sollte, ich glaube Whiplow war der Name.«

 

Die Dame sah sie ernst an.

 

»Den Namen kenne ich ja gar nicht. Und ich habe auch früher nie einen Anfall von Schlafwandel gehabt. Wahrscheinlich war ich ein wenig übermüdet. Arthur? Das kann ich Ihnen erklären. Er ist mein Mann. Ich bin Mrs. Arthur Dorban – Cynthia Dorban. Ich dachte, ich hätte es Ihnen gestern abend schon mitgeteilt? Wie merkwürdig!«

 

Mrs. Dorban machte keinen Versuch, noch näher auf dieses Thema einzugehen.

 

Sie erzählte Penelope, daß sie nach einem zweitägigen Aufenthalt in Toronto nach Quebec weiterfahren wollte. Auch Penelope schenkte ihr nun Vertrauen, soweit eine natürliche Vorsicht ihr das gestattete. Unter keinen Umständen hätte sie ihr Abenteuer mit dem Kaufmann erwähnt.

 

Mrs. Dorban hörte ihr nachdenklich zu.

 

»Haben Sie noch keine neue Stellung? Auch keine Freunde im Osten Kanadas? Was sagten Sie eigentlich dem älteren Herrn? Wollen Sie wirklich nach England gehen?«

 

Penelope schüttelte lachend den Kopf.

 

»Das war ein verrückter Plan – einer meiner unerfüllbaren Träume. Ich möchte es natürlich gern; ich bin nämlich in London geboren und habe schon immer Sehnsucht nach Europa gehabt, aber ich werde wohl niemals dazu kommen, eine solche Reise zu machen.«

 

Eine lange Pause trat ein. Der Zug fuhr durch unübersehbare Weizenfelder, die wie ein Meer wogender Wellen anzusehen waren. So weit das Auge reichte, wiegte sich das goldgelbe Getreide im Wind.

 

»Haben Sie in Edmonton englische Zeitungen gelesen?«

 

Penelope verneinte.

 

»Es tut mir leid, daß ich mich um die Zustände in England gar nicht gekümmert habe. Ich weiß wohl, wer zur Zeit Premierminister ist und was für Auseinandersetzungen die Gemüter erregen, aber sonst –«

 

Mrs. Dorban erzählte nun von ihrem Heim in Devonshire, von dem prachtvollen Garten am Kliff, den herrlichen Kiefern und dem wilden, goldgelben Ginster, die auf dem Abhang wuchsen, der sich bis zu den Dünen von Borcombe hinzog. Einmal erwähnte sie zufällig auch einen Namen, den Penelope kannte.

 

»Lord Rivertor? O ja, er hatte eine Farm in der Nähe der unsrigen. Das heißt, es war die Farm, die mein Vater hatte, bevor wir nach Edmonton kamen. Ich habe dort den größten Teil meines Lebens zugebracht. Aber ich habe Lord Rivertor niemals gesehen. Er starb doch im vorigen Jahr?«

 

»Ich glaube.«

 

Mrs. Dorban schien sich nicht weiter für den verstorbenen Earl zu interessieren. Sie wechselte das Thema plötzlich und sprach über den Wert von Ländereien und Farmen im Westen. Penelope wußte hierüber sehr genau Bescheid, denn ihr früherer Chef hatte erfolgreich mit Grundstücken spekuliert, und sie hatte seine ganze Korrespondenz hierüber geführt.

 

*

 

Zwei Tage später, als der Zug noch eine Stunde von Toronto entfernt war, machte Cynthia Dorban einen unerwarteten Vorschlag.

 

Penelope hörte erstaunt zu und wollte ihren Ohren nicht trauen.

 

»Aber – oh, das wäre ja wundervoll! Glauben Sie, daß Mr. Dorban seine Zustimmung geben wird?«

 

»Er hat schon zugestimmt«, antwortete Cynthia lächelnd. »Ich habe ihm von Winnipeg aus telegrafiert und die Antwort bereits in Fort William erhalten. Er ist ganz damit einverstanden, denn er kann englische Sekretärinnen nicht recht leiden. Also, Sie haben jetzt eine Stellung, Penelope. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie mit Ihrem Vornamen anrede? Sie können mich auch Cynthia nennen, das ist mir lieber. Sehr abwechslungsreich wird es bei uns ja nicht sein, denn im Augenblick sind wir auf dem Lande begraben –«

 

»Ich bin noch ganz außer mir vor Freude. Natürlich nehme ich Ihr Angebot an – das ist die Erfüllung meines Traumes!«

 

Der Kanadische Expreß verlangsamte seine Geschwindigkeit, als er in Toronto einfuhr. Penelope wurde sich allmählich darüber klar, daß sie sich in achtundvierzig Stunden schon nach England einschiffen würde.

 

Kapitel 10

 

10

 

Der zweite Tag auf der ›Polyantha‹ begann grau und kalt, die See war nicht mehr spiegelglatt, und es regnete in fast regelmäßigen Zwischenräumen.

 

Penelope war froh, daß sie wenigstens eine Wolljacke hatte. Auch den Schiffsmantel, den John ihr brachte, nahm sie dankbar an. Sie erlaubte ihm sogar, die Ärmel aufzurollen und ihn bis unter das Kinn zuzuknöpfen.

 

»Es ist der kleinste Mantel, den wir an Bord haben«, erklärte er. »Ich glaube, er gehört Bobby Mills.«

 

»Aber Sie nennen ihn doch nicht Bobby in seiner Gegenwart?« fragte sie interessiert.

 

»Ich nenne ihn in seiner Gegenwart überhaupt nicht«, erwiderte er kühl. »Das ist nun zufällig einmal sein Name, und ich kann hier an Bord nicht alle Leute mit Mister anreden. Außerdem paßt dieser Name außerordentlich gut für ihn. Er ist der feinste Kerl auf der Erde, so ehrlich wie ein alter Seehund –«

 

»Sie scheinen ihn ja sehr gut zu kennen.«

 

»Ich weiß sehr viel von ihm – jeder kennt Stamford Mills dem Namen nach, selbst so ein kleiner Student aus Aberdeen wie ich. Sind wir uns nun darüber einig, daß ich diese Rolle spiele?«

 

»Nein, darüber sind wir uns noch nicht einig«, sagte sie ernst.

 

»Auch gut. Was wünschen Sie zum Frühstück? Wir haben Eier und Schinken und Schinken und Eier. Sie können auch Koteletts auf französische oder amerikanische Art haben. Dann steht Hummer in Büchsen zur Verfügung; soviel ich weiß, ist das ein Lieblingsgericht von Leuten aus Edmonton –«

 

»Woher wissen Sie denn, daß ich aus Edmonton komme?« fragte sie argwöhnisch.

 

»Das haben Sie mir doch selbst gesagt«, antwortete er, nicht im mindesten verblüfft. »Als ich Sie neulich zu Bett brachte, haben Sie im Schlaf gesprochen.«

 

»John«, sagte Penelope ärgerlich. »Sie sind unfein.«

 

Diese ganze Unterhaltung wurde durch eine kleine Türspalte geführt.

 

Penelope machte sich später klar, daß es sich nicht für sie schickte, mit einem Matrosen zu flirten. Im Grunde war es natürlich gar kein Flirt, aber die anderen hätten es dafür halten können. Freilich war es schwer, John wie einen gewöhnlichen Seemann zu behandeln. Es gab jedoch keinen Grund, warum sie höflicher und liebenswürdiger hätte sein sollen, als es die gewöhnlichen Umgangsformen verlangten. Sie nahm sich fest vor, von jetzt ab dem Steward gegenüber eine gelassene und ruhige Haltung zur Schau zu tragen.

 

Allerdings lag es nicht in ihrer Natur, kalt und abweisend zu sein, und sie konnte ihn auch nicht vor den Kopf stoßen. Aber wenn sie sich ihm gegenüber nicht anders einstellte, würde sich wohl wenig an ihrem jetzigen Verhältnis ändern. Außerdem war die Tatsache, daß John der einzige an Bord war, von dem sie wenigstens einige Informationen erhielt, ihrem Wunsch sehr hinderlich. Sie wußte gefühlsmäßig, daß Mr. Orford nicht gerade gut auf sie zu sprechen war. Er zeigte zwar keine direkt feindliche Gesinnung, aber sein Benehmen zeugte auch nicht von begeisterter Freundschaft. Aus irgendeinem Grunde hatte ihr Erscheinen auf der ›Polyantha‹ einen sorgfältig vorbereiteten Plan gestört. Sie dachte lange darüber nach, welcher Art dieser Plan wohl sein könnte, aber sie fand keine Lösung. Die Fahrt dieser Jacht hatte nicht den Charakter einer Vergnügungsreise – das war klar. Es lag über allem etwas Geheimnisvolles und Düsteres. Sie hatte zwar weder den dicken Bobby Mills noch den guten Mr. Orford in Verdacht, daß sie irgendein Verbrechen begangen hatten, und doch – warum stahlen sie sich so heimlich durch den Kanal? Warum änderte das Schiff dauernd den Kurs, warum wurden alle Lichter gelöscht? Was war mit Hollin, diesem unangenehmen Menschen, der ewig Zigarren rauchte? Und was hatte seine Kappe mit der ganzen Sache zu tun?

 

Sie legte die Hand auf ihre klopfenden Schläfen. Je länger sie darüber nachdachte, desto unheimlicher und verwirrender erschien ihr die ganze Situation. Die Schwierigkeit ihrer eigenen Lage drückte sie nicht so sehr, sie war ja völlig unabhängig, ihre Zeit gehörte ihr, und es machte ihr wenig aus, ob die ›Polyantha‹ zu den Südsee-Inseln oder zum Nördlichen Eismeer fuhr. Und trotz der sonderbaren Zustände auf der Jacht fühlte sie sich hier sicher.

 

Sie erinnerte sich an die Seegeschichten, die sie in ihrer Jugend gelesen hatte. Vielleicht war die ›Polyantha‹ auf einer Entdeckungsfahrt, um geheime Schätze zu heben, oder sie hatte geschmuggelte Waffen an Bord. Sie dachte darüber nach, welches Land sich wohl im Kriegszustand befände und die Dienste des Schiffes in dieser Weise in Anspruch nehmen könnte.

 

John servierte ihr das Mittagessen und war zum erstenmal recht schweigsam.

 

Penelope war darüber etwas beunruhigt, denn sie hätte gerne verschiedenes gefragt. Aber erst als er das Geschirr abräumte, schien er sich in ein Gespräch einlassen zu wollen.

 

»Wir bekommen bald gutes Wetter«, sagte er plötzlich ohne irgendwelchen Zusammenhang.

 

Sie schaute durch das offene Kabinenfenster. Der Himmel und die See waren gleichmäßig grau, und ein Schleier von Regenwolken zog sich am westlichen Horizont hin.

 

»Werden wir nicht irgendeinen Hafen anlaufen, bevor wir in die Südsee kommen?«

 

Er blieb mit dem Tablett in der Hand stehen.

 

»Habe ich gesagt, daß wir in die Südsee fahren? Wenn ich das getan habe, war es ein Scherz. Ich weiß überhaupt nicht, wohin die Fahrt geht. Sicher müssen wir irgendwo anlaufen. Ich weiß aber nicht, welche Dispositionen der Captain getroffen hat. Ich habe mich noch nicht darum gekümmert.«

 

»Fürchten Sie denn gar nicht, daß Sie etwas zu spät zum Beginn Ihrer Vorlesungen kommen?« fragte sie ironisch.

 

Er lächelte.

 

»Ich glaube, man wird den Semesterbeginn bis zu meiner Rückkehr verschieben.«

 

»John!«

 

Er war schon an der Tür, setzte das Tablett draußen auf das Deck und kam in die Kabine zurück.

 

»Kennen Sie das Geheimnis der ›Polyantha‹?«

 

»Das einzig Geheimnisvolle an Bord sind Sie. Alle Frauen sind mehr oder weniger mysteriös –«

 

»Nun seien Sie doch vernünftig!« rief sie ungeduldig. »Warum stehlen wir uns so heimlich von England fort? Diese Reise ist wirklich merkwürdig.«

 

»Ist Ihnen das so unangenehm?« fragte er schnell.

 

Sie überlegte.

 

»Eigentlich nicht, aber es fällt mir doch auf. Ich möchte nicht gern im unklaren darüber sein; ich bin nämlich ein wenig in Unruhe wegen Mrs. – wegen einer Dame.«

 

»Ach, Sie meinen die Dame, die Sie aus dem Motorboot werfen wollte. Sie brauchen sich ihretwegen keine Sorgen zu machen. Das liebe Kind lebt und wehrt sich ganz gewaltig«, sagte er grimmig.

 

»Woher wissen Sie denn das?« fragte sie erstaunt.

 

»Sie sind als tot gemeldet worden«, erwiderte John nachdenklich. »Das Motorboot wurde mitten im Meer aufgegriffen, das heißt fünfundzwanzig Meilen von Spithead entfernt. Ich vermute, daß Mrs. Dorban irgendeine Geschichte über einen Unglücksfall erfunden hat, durch den Sie beide ins Wasser fielen. Es ist übrigens keinesfalls verwunderlich, daß ich das alles weiß«, sagte er lächelnd. »Wir haben nämlich eine ausführliche Funkmeldung über die Tragödie erhalten. Es erscheint mir nur so merkwürdig, warum man ausgerechnet Sie töten wollte.«

 

Aber Penelope schwieg sich über diesen Punkt aus.

 

»Besprechen Sie eigentlich diese ganzen Angelegenheiten mit dem Captain?«

 

»Sie sind schon wieder ironisch!« sagte John traurig. »Das kann ich nicht vertragen. Wir arme, einfache Matrosen hören doch eine ganze Menge, wenn wir die Ohren spitzen.«

 

Damit ging er hinaus. Später sah Penelope, daß er an Deck Messingteile putzte, in der nachlässigen, langweiligen Art, wie Matrosen ihre Arbeit verrichten.

 

Er war leicht gekleidet und trug nur Hemd und Hose. Das Wetter hatte sich tatsächlich geändert, wie er vorausgesagt hatte, und es war heiß an Deck, denn sie fuhren mit dem Wind. John hatte die Hemdsärmel aufgerollt, und sie sah seine starken braunen, muskulösen Arme. Plötzlich legte er sein ganzes Putzmaterial in einen Kasten und verschwand.

 

Sie ging hinter ihm her und schaute auf das Deck hinunter, wo der unvermeidliche Hollin mit seiner Zigarre saß. John war nicht mehr zu sehen, und sie war ein wenig bedrückt darüber.

 

Mr. Orford schlief unter seinem Schirm, Bobby saß an Deck und spielte irgendein Geduldsspiel, Dr. Fraser las in einem dicken Buch. Niemand unterhielt sich mit ihr. Der Schiffsarzt schaute von seinem Buch auf, als sie vorbeikam, und einer der Offiziere, den sie für den Steuermann hielt, ging ihr aus dem Weg. Zum erstenmal fühlte sie sich sehr verlassen.

 

Eine halbe Stunde später ging sie zum äußersten Ende des Schiffes, wo sich ihr ein ungewöhnlicher Anblick bot.

 

John saß auf einem kleinen Klappstuhl, und auf seinen Knien lag ein großer Malkasten, dessen zurückgeschlagener Deckel ihm als Staffelei diente. Er hatte innen ein Blatt Papier angeheftet, das er eifrig bemalte. Sie sah ihm entzückt zu. Die graugrünen Wellen der See und die zarten goldgelben Töne des westlichen Himmels gewannen unter seinem flinken Pinsel rasch Umriß und Leben.

 

Er hatte seinen Stuhl auf das Dach der vorderen Ladeluke gestellt, von wo aus man einen guten Ausblick auf das Meer hatte, und er war so in seine Arbeit vertieft, daß er Penelope erst bemerkte, als ihr Schatten auf ihn fiel. Halb schuldbewußt und halb verlegen drehte er sich um und schaute zu ihr auf.

 

»Ja, für eine Zehnminutenskizze ist es nicht gerade schlecht geworden«, sagte er, als er ihrem begeisterten Blick begegnete.

 

»Sie sind ja ein Künstler, John!«

 

Er legte seinen Pinsel fort und schloß den Kasten.

 

»Ich bin ein Amateur, ein armer Stümper. Leute wie wir müssen auch ihr Vergnügen haben, ebensogut wie die Reichen –«

 

»Zum Teufel noch einmal!«

 

Mr. Orford war herbeigekommen, und Penelope sah, daß er sehr ärgerlich war.

 

»Zum Donnerwetter, was machen Sie denn da schon wieder! Der nichtsnutzige Schlingel malt! Habe ich Ihnen denn nicht gesagt …« Mr. Orford war wirklich zornig.

 

John wurde tiefrot. Aber zu ihrem größten Erstaunen antwortete er nicht, als der große Mann die Treppe herunterkam. Der Steward sah aus wie ein ertappter Schuljunge, den man beim Obstdiebstahl in einem fremden Garten abgefaßt hat.

 

»Habe ich Ihnen nicht hundertmal gesagt, Sie dürften nicht malen?« fuhr ihn Mr. Orford wütend an. »Wozu soll denn das nützen?«

 

»Es tut mir sehr leid, Mr. Orford«, erwiderte John kleinlaut. »Es war gedankenlos von mir.«

 

Mr. Orford fuchtelte verzweifelt mit den Händen in der Luft herum.

 

»Es wird noch eine Katastrophe geben«, sagte er düster. »In meinem ganzen Leben ist noch keine Sache schlechter gegangen!«

 

Er polterte und fluchte, als er wieder nach oben ging. John sah Penelope lächelnd an, und es lag ein verschmitzter Ausdruck in seinen Augen.

 

»Da sehen Sie nun, was Sie angerichtet haben!«

 

»Was ich angerichtet habe?« rief sie entrüstet. »Ich habe doch nicht gemalt! Aber meiner Ansicht nach ist es nicht recht, daß Sie sich in Ihrer freien Zeit nicht mit Malen beschäftigen dürfen, wenn Sie es doch so gerne tun.«

 

»Ich habe überhaupt keine freie Zeit. Ich habe vierundzwanzig Stunden Dienst am Tage. Entschuldigen Sie mich, ich muß jetzt versuchen, den dicken Mann wieder zu beruhigen.«

 

Die Sonne neigte sich schon zum Horizont, als Penelope fern im Süden ein Schiff auftauchen sah, das direkt auf sie zuzufahren schien. Mr. Orford, der Captain und Bobby Mills sprachen lebhaft und ernst miteinander. Kurz darauf trat auch der Doktor zu ihnen. Plötzlich trennte sich Dr. Fraser von der Gruppe und ging auf Penelope zu.

 

»Guten Abend, Miss Pitt«, sagte er und sah sie prüfend an. »Es scheint Ihnen nicht sehr gut zu gehen.«

 

Er selbst fühlte sich anscheinend auch nicht wohl, denn sein Gesicht sah blaß aus, und seine Hände zitterten.

 

»Ich bin so gesund wie immer«, erwiderte sie erstaunt.

 

»Ich glaube nicht, daß das der Fall ist. Vielleicht haben Sie zu lange in der Sonne gesessen, und es ist so etwas wie ein Sonnenstich?« Er trat näher an sie heran und sah ihr in die Augen. »Ja, es geht Ihnen nicht gut. Sie müssen sich sofort zu Bett legen.«

 

Sie starrte ihn entsetzt; an.

 

»Aber es geht mir doch wirklich gut!«

 

»Das bilden Sie sich nur ein«, entgegnete er liebenswürdig. »Bitte, folgen Sie meinen Anordnungen.«

 

»Ich soll – mich zu Bett legen?«

 

Er nickte.

 

»Wenn Sie sich gelegt haben, werde ich kommen und Ihnen ein Medikament geben.«

 

»Aber das ist doch lächerlich!« rief sie aufsässig. »Ich sehe wirklich nicht ein, warum ich das tun soll, wenn ich mich gesund fühle –«

 

»Wollen Sie jetzt endlich tun, was ich Ihnen sage, Miss Pitt?« Diesmal war seine Stimme hart und scharf, und sie erkannte, daß ihre Gesundheit nichts mit seiner merkwürdigen Forderung zu tun hatte.

 

Sich zu widersetzen war nutzlos, da sie diesen Männern auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war. Trotzdem fürchtete sie sich nicht.

 

»Nun gut. Ich halte es zwar für ganz unnötig, da Sie es aber verlangen, werde ich es tun.«

 

Als sie im Bett lag, hätte sie über diese sonderbare Situation lachen können, wenn nicht ihr Unmut so groß gewesen wäre.

 

Der Schiffsarzt kam herein. Er hielt ein Glas in der Hand, das halb mit einer milchigweißen Flüssigkeit gefüllt war.

 

»Trinken Sie das aus!«

 

»Aber sagen Sie mir doch im Ernst, Doktor – glauben Sie wirklich, daß ich einen Sonnenstich habe? Ich kann Ihnen versichern, daß ich niemals einen klareren Kopf hatte!«

 

»Trinken Sie jetzt das Medikament!« erwiderte der Schiffsarzt barsch.

 

Sie gehorchte und schnitt ein Gesicht, als sie es hinunterschluckte, denn es schmeckte sehr bitter. Sie schüttelte sich, und der Doktor lächelte. Es war das erstemal, daß sie das sah.

 

»Wie, es war nicht gut? Aber Sie werden sich sehr wohl danach fühlen. Das Medikament hat keinerlei Nachwirkungen. Das ist der große Vorteil dieses Trankes.«

 

Schon seine letzten Worte schienen Penelope aus weiter Ferne zu kommen, und sie fühlte eine angenehme Müdigkeit.