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Mr. James Xenocrates Orford gab ohne weiteres zu, daß es heiß war. Bisher hatte er nur immer verächtlich gesagt: »Wie, das soll heiß sein? Da sollten Sie erst mal nach New York kommen – da muß man in allen Büros Ventilatoren laufen lassen, um überhaupt leben zu können zu dieser Zeit! Zu Hause sagen wir erst, es ist heiß, wenn das Quecksilber oben zur Röhre herauskommt und die Bäume hochklettert. In New York kann es heiß werden, ja. Das ist etwas ganz anderes, aber schließlich gewöhnt man sich auch daran. Aber hier heiß? In London ist es noch gar nicht wieder heiß gewesen seit dem großen Feuer – und es ist schon sechshundert Jahre her, daß die ganze Stadt abbrannte!«

 

Und doch durfte man ruhig glauben, daß ihm die Hitze sehr zusetzte. Er war über einen Meter achtzig groß, aber in einiger Entfernung sah er kleiner aus, was auf seinen ungeheuren Umfang zurückzuführen war. Sein Gesicht war groß und rot, und im Laufe der Jahre hatten sich viele Falten darin gebildet. Seine klugen, blauen Augen schauten aus diesen Fettpolstern vergnügt und lustig lächelnd hervor. Er hatte ein Doppelkinn. Trotz seiner fünfundfünfzig Jahre hatte sich noch kein Grau in seine dichten schwarzen Haare gemischt. Er war geschmackvoll und sorgfältig gekleidet, trug stets einen tadellos sitzenden Anzug und einen hohen steifen Kragen, dazu eine breite schwarze Krawatte, in der eine große, kostbare Perlennadel glänzte. Er trug niemals eine Weste oder Hosenträger, sondern nur einen schwarzen Ledergürtel mit einer hübschen goldenen Schnalle.

 

Mr. Orfords Büros lagen im vierten Stock eines Gebäudes, das an den Hyde Park grenzte, und von dort aus schaute er vergnügt auf die Welt hinunter, auf die knospenden Bäume, den grünen Rasen, die vielen Blüten der Rhododendren. Wenn er manchmal noch spät arbeitete, drangen die Töne der Kapelle zu ihm herüber, die im Park konzertierte, vor allem die tiefen Klänge des Bombardons. Dann zog er zuweilen seinen Stuhl ans offene Fenster, legte die Hände auf den Gürtel und schaute hinaus, bis die Schatten tiefer und länger wurden, die Laternen aufflammten und die Autos wie große Leuchtkäfer auf den Parkstraßen umherschwirrten.

 

Auf dem Schild am Hauseingang stand nur sein Name: James Orford. Die Art seiner Tätigkeit war nicht näher bezeichnet. Trotzdem beschäftigte er einen verhältnismäßig großen Stab von Angestellten, Sekretären, Stenotypistinnen und Agenten innerhalb und außerhalb seines teuren Büros.

 

Die Inhaber der anderen Geschäftsräume in dem Hause, deren Beruf aber genau bekannt war, nannten ihn nur den ›dicken Amerikaner‹ Sie hatten ihn gern, denn er war lustig und liebenswürdig. Niemand drang näher in seine Verhältnisse ein, und da er Amerikaner war, zeigte man sich etwas zurückhaltender als sonst.

 

Mr. Orford hatte sich in England das Teetrinken angewöhnt.

 

»Setzen Sie das Tablett nur dorthin«, sagte er und zeigte mit seinem dicken Finger auf einen kleinen Tisch in der Nähe des Fensters.

 

Eine seiner Stenotypistinnen hatte ihm Tee gebracht. Aber nicht Tee, wie man ihn in England trinkt, sondern jenes starke Getränk, das heiß auf große Eisstücke gegossen und in Gläsern serviert wird.

 

Keiner von seinen sieben Angestellten hatte übrigens die geringste Ahnung, womit sich Mr. Orford eigentlich beschäftigte. Man wußte nur, daß er sich gern als ›Organisator‹ bezeichnete. Aber ganz gewiß gehörte er nicht zu jenen Leuten, die einem den Gebrauch von Kartotheken, Patentschnellheftern und dergleichen Kram beibringen oder die sich engagieren lassen, um einen Betrieb zu ›rationalisieren‹, und die dann das ganze Büro rebellisch machen.

 

Zuerst dachten alle, sein Geschäft hinge irgendwie mit Schiffen zusammen. In einem großen Zimmer stand nämlich ein gewaltiger Tisch, auf dem eine Weltkarte ausgebreitet war. Hier wurden jeden Tag kleine Schiffsmodelle hin und hergeschoben. Ein Angestellter, der von Mr. Orford besonders geschult wurde, war für die Ordnung auf dem Tisch verantwortlich. Tausende kleiner Schiffe bevölkerten diese Miniaturwelt. Sie fuhren nach allen Himmelsrichtungen, nach Norden, Süden, Osten, Westen. Jede Nachricht über die Position der Schiffe wurde zweimal am Tage in Mr. Orfords Büro bekanntgegeben, und mindestens einmal am Tage erschien James selbst in dem Raum und überschaute die Situation.

 

»Was hat denn die ›Nippon Muru‹ dort zu tun, Stanger, wie? Sie ist doch näher an Yokohama als an Shanghai. Und dieses Schiff der Cunard-Linie ist ja vollständig außer Kurs, der legt doch nicht an den Azoren an! Den haben Sie wieder einmal mit einem Schiff der Union-Castle-Linie verwechselt!«

 

Er schimpfte heftig, aber er schaute doch ganz liebenswürdig drein.

 

Ein junges Mädchen mußte alle Eisenbahnverbindungen in Europa kennen. Sie wurde auch täglich von ihm getestet.

 

»Jemand fährt nach Como, Basel, Genua, Belgrad, Wien. Er will auf der Ausreise einen Geschäftsfreund in Valorbe eine Stunde lang sprechen, einen anderen in Luzern. Hat er dazu Zeit, ohne seinen Anschluß zu versäumen, wie? Sie meinen, er hat Zeit dazu? Da irren Sie sich aber sehr. Der Aufenthalt in Luzern verdirbt ihm die ganze Reise. Sie müssen sich besser informieren, Miss Jay. Sie bilden sich natürlich ein, er könnte eine Stunde dadurch sparen, daß er die Bahnverbindung über den Gotthardtunnel benützt – das ist ganz verkehrt, sehen Sie nur im Kursbuch nach.«

 

In seinem Kartenzimmer hingen große Landkarten von Europa, auf denen alle Verkehrswege, Flughäfen, Tankstationen für Schiffe und Kohlendepots eingezeichnet waren. Er konnte aufs Pfund genau angeben, wieviel Gefrierfleisch ein Kapitän zu irgendeiner Zeit in Vigo, Triest, Dakar, Kapstadt oder Colombo kaufen konnte.

 

Er selbst kaufte jedoch weder Fleisch, noch verkaufte er Schiffe. Er handelte auch nicht mit Eisenbahnaktien. Anscheinend organisierte er nichts weiter als die Arbeiten in seinem Büro und sein eigenes, angenehmes Leben.

 

Während er tief in Gedanken vor seinem Schreibtisch saß, brachte ein Angestellter eine Karte herein. Es war keine Visitenkarte, sondern eines jener kleinen Formulare, die Mr. Orford im Wartezimmer für Leute auflegte, die ihn sprechen wollten.

 

Er setze seine schwarzumrandete Brille auf und sah wohlwollend auf den Namen.

 

»Miss Penelope Pitt«, las er. Unten, wo der Besucher eigentlich den Zweck seines Kommens angeben sollte, standen die Worte: ›Auf Empfehlung des Richters Heron in Edmonton.‹

 

»Führen Sie die Dame herein«, sagte er sofort.

 

Penelope trat ein. Sie war ein wenig nervös und unentschlossen, aber ihre Aufregung und ihre Unsicherheit verwandelten sich zu einem großen Erstaunen, als sie Mr. Orford sah.

 

»Nehmen Sie bitte Platz. Sie kommen aus Edmonton? Einen Brief? Lassen Sie mich einmal sehen.« Er nahm das Schreiben aus ihrer Hand, las es schnell durch, legte es dann sorgfältig beiseite und betrachtete sie liebenswürdig.

 

»Nun, was kann ich für Sie tun, Miss Pitt?«

 

Penelope fiel es schwer, ihre Geschichte zu erzählen. Sie erwähnte keinen Namen und sagte nicht einmal, wo sie augenblicklich wohnte.

 

»Ich fühle mich eigentlich wie eine Gefangene«, erklärte sie ihm. »Und ich habe augenblicklich den unangenehmen Eindruck, daß ich einem meiner Gefängniswärter entsprungen bin. Die Dame erwartete mich am Bahnhof, aber ich bin ihr glücklich entwischt.«

 

Mr. Orford faltete die Hände und zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann, Miss Pitt. Sie kommen auch gerade zu einer sehr ungünstigen Zeit, denn ich fahre Sonnabend nach New York. Und dieser Mr. John – ich weiß wohl, daß er nicht so heißt – benimmt sich gerade so wie ein Chef in New York. Die Menschen sind eigentlich überall dieselben.«

 

»Was raten Sie mir, Mr. Orford? Was soll ich tun?«

 

»Ich würde ihn einfach beim Wort nehmen, Miss Pitt, und mir meine Reise nach Kanada auszahlen lassen. Ich liebe diese offenherzigen Menschen nicht. Hat er denn irgendeine Stellung im öffentlichen Leben?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Seine Frau wohnt bei ihm? Das macht die Sache leichter. Für einen alten Freund tue ich natürlich alles, und einer jungen Dame aus Kanada helfe ich besonders gern. Sie glauben wohl kaum, daß ich auch aus diesem Lande stamme. Möglicherweise will dieser Mensch Sie nur bluffen, und wenn er Ihnen das Geld zur Rückreise nach Montreal oder Toronto nicht gibt, dann kommen Sie nur ruhig wieder hierher. Mein Sekretär wird Ihnen, ohne daß Sie sich weiter zu bemühen brauchen, eine Fahrkarte besorgen. Sie brauchen mir nicht zu danken, das ist nicht nötig.« Er machte eine abwehrende Geste. »Wenn ich nicht gerade von einer sehr wichtigen Sache in Anspruch genommen wäre, würde ich Ihnen mehr helfen können, aber augenblicklich kann ich mir selbst nicht helfen vor Arbeit. Ich fürchte, daß ich nicht einmal alles erledigen kann, bevor ich mit der ›Olympic‹ von Southampton abfahre.«

 

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie etwas für mich tun wollen, Mr. Orford«, entgegnete Penelope froh. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich werde gern wiederkommen und Sie aufsuchen –«

 

»Sie meinen meinen Bürovorsteher«, murmelte Mr. Orford. »Wenn Sie mir den Namen Ihres Chefs und Ihre Adresse geben, bin ich eher in der Lage, etwas zu unternehmen. Aber ich sehe, Sie wollen das nicht tun. Vielleicht haben Sie recht. Manche Menschen brauchen ja keine Hilfe, um aus ihren Schwierigkeiten herauszukommen, und ich glaube, Sie gehören zu denen, die sich selbst helfen können.«

 

Er gab ihr liebenswürdig die Hand. Aber als sie gegangen war, dachte er nicht mehr an sie, denn er war tatsächlich dabei, einen großen Plan durchzuführen, der seine ganze Zeit und alle seine Gedanken in Anspruch nahm. Denn der geringste Irrtum in der Beurteilung der Lage, der kleinste Fehler in der Berechnung der Zeit bedeuteten Leben oder Tod für einen Menschen, an dessen Schicksal er außerordentlich interessiert war.