Kapitel 21

 

21

 

Die See hatte sich beruhigt, und das Schiff schaukelte nicht mehr so stark, als Cynthia Dorban erwachte. Arthur schaute düster durch die offene Luke. Er war schon vollständig angekleidet.

 

»Was ist denn los?« fragte Cynthia schnell.

 

Er wandte sich nach ihr um.

 

»Es ist alles in Ordnung – nur weiß Penelope jetzt alles.«

 

»Sie weiß alles«, wiederholte sie wütend, »wer hat es ihr denn gesagt – etwa du?«

 

»Orford hat den ganzen Morgen mit ihr gesprochen. Ich glaube, sie hat ihm auch alles mitgeteilt.«

 

»Was denn?«

 

»Sie wird ihm von den Banknoten und den Radierungen in dem Koffer erzählt haben.«

 

Cynthia lächelte.

 

»Wenn er die finden will, dann muß er ein sehr tüchtiger Taucher sein. Ich habe sie selbst im Meer versenkt.«

 

»Sie hätten verbrannt werden müssen«, erwiderte er, während er noch immer durch das Fenster schaute. »Ich habe dir immer gesagt, daß es viel besser gewesen wäre, sie zu verbrennen. Aber jetzt ist es zu spät, um noch darüber zu streiten. Wenn sie nun einen Eid darauf leistet, was sie gesehen hat dann wird die Sache für uns beide sehr unangenehm.«

 

Cynthia erhob sich und zog ihren Morgenrock an, bevor sie antwortete.

 

»Du bist ein Narr. Ich hätte niemals gedacht, daß du ein solcher Schwächling wärst. Wenn sie auch schwört! Ihr Wort steht dann gegen ein Urteil. Du glaubst doch nicht, daß man deshalb eine Strafe aufhebt?«

 

»Whiplow ist auch an Bord«, fuhr er fort, ohne auf ihre Frage zu achten.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Whiplow ist hier?«

 

»Er gehört zu den Schiffbrüchigen, die letzte Nacht von dem Schiff gerettet wurden. Er war in dem zweiten Boot. Offensichtlich war er mit Spinner auf dem Weg nach Madeira, als die ›Pealego‹ auf eine Klippe auflief. Ich hörte es, als sich Whiplow mit dem Captain unterhielt.«

 

»Hast du ihn selbst gesprochen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Es ist nicht vorteilhaft für uns, ihn überhaupt zu kennen. Ich glaube nicht, daß er sehr zurückhaltend sein wird, aber ich muß ihn eben zum Schweigen bringen. Deswegen bin ich auch so früh aufgestanden, aber der Kerl schläft ja unheimlich lange.«

 

*

 

Sie setzte sich auf ihr Bett, um die Lage zu überdenken.

 

»Ich sehe nicht, daß seine Anwesenheit hier viel an der Situation ändert«, meinte sie dann.

 

Er wandte sich nach ihr um.

 

»Sie ändert sehr viel«, sagte er langsam, »das wirst du noch entdecken.«

 

»Wieso denn?«

 

»Obgleich du eine so schlaue Frau bist, kannst du doch manchmal auch furchtbar beschränkt sein. Ich gehe jetzt an Deck. Soll ich dir das Frühstück in die Kabine schicken?«

 

Sie schüttelte sich.

 

»Ich sehe, daß es dir noch nicht gut geht. Ich werde dir Keks und Sodawasser bringen lassen.«

 

Der erste, den er an Deck traf, war Mr. Orford, der in ungewöhnlich froher Stimmung war.

 

»Wie geht es unserem Freund heute morgen?« fragte Dorban.

 

»Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber ich vermute, daß ihm das Frühstück besser schmeckt als Ihnen. Es geht doch nichts über ein gutes Gewissen.«

 

Arthur lächelte.

 

»Wie können Sie darüber sprechen? Sie gehören doch auch zu dem Komplott, und ich vermute, daß Sie sich unter Arrest befinden.«

 

»Ich stehe nur unter Verdacht«, gab Xenocrates Orford vorsichtig zu. »Aber wer steht nicht unter Verdacht?«

 

Arthur lachte.

 

»Ich zum Beispiel nicht. Warum haben Sie sich denn überhaupt in die ganze Sache eingelassen? Das muß Sie doch eine unheimliche Menge Geld gekostet haben? Und Sie können doch nicht behaupten, daß Sie großen Erfolg gehabt hätten?«

 

»Mein Herr, wir sind noch nicht am Ende. Ich habe genügend Zutrauen zu meinem guten Stern, um in einer Krisis wie der jetzigen vollkommen ruhig zu bleiben.«

 

»Es gehören aber schon ganz besondere Glücksumstände dazu, aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen.«

 

Mr. Orford entdeckte eine dünne Rauchfahne am Horizont.

 

»Das ist doch die ›Polyantha‹?« rief er erregt.

 

Mr. Dorban mußte laut lachen.

 

»Ich hoffe, daß es die ›Polyantha‹ ist, denn ich habe es satt, auf diesem verdammten Tanker zu fahren. Ich will Ihnen nichts vorenthalten, Mr. Orford. Als Mr. Spinner meinen Vetter gestern verhaftete, fand man in seiner Tasche auch ein kleines Codebuch, das uns in die Lage versetzte, eine Botschaft an die ›Polyantha‹ zu senden. Wir forderten sie auf, so schnell wie möglich zu uns zu kommen. Glücklicherweise fuhr sie mit uns parallel. Sie sehen, Mr. Orford«, sagte er beinahe entschuldigend, »wir haben uns entschlossen, die ganze Bande zu fangen, einschließlich Mr. Bobby Mills.«

 

»Ich sehe«, sagte Mr. Orford und nickte.

 

In diesem Augenblick erschien John in Begleitung Mr. Spinners. Er begrüßte Mr. Orford durch ein Kopfnicken und sah seinen Vetter ruhig an, der ihn unverschämt anlächelte.

 

»Mr. Spinner sagt mir eben, daß die ›Polyantha‹ mit größter Geschwindigkeit auf uns zukommt. Dann haben wir wenigstens eine angenehme Reise nach England«, wandte sich John an den Kriminalbeamten. »Vermutlich ist es ganz gegen die Vorschriften, daß ich einige Worte mit Mr. Orford wechsle?«

 

Spinner zögerte.

 

»Ich weiß nicht, ob es darüber besondere Vorschriften gibt. In meiner Gegenwart können Sie ruhig mit ihm sprechen.«

 

»Ich danke Ihnen.«

 

John sah Dorban an, der sich mit einem Achselzucken zurückzog.

 

»Ist Miss Pitt sehr aufgeregt?«

 

»Ein wenig«, sagte Mr. Orford vorsichtig. »John, wissen Sie noch, ob ich Captain Willit den Auftrag gab, Miss Pitts Kabine sorgfältig zu durchsuchen? Ich bin jetzt so verwirrt, daß ich es nicht mehr genau sagen kann.«

 

John nickte.

 

»Ja, ich weiß genau, daß Sie ihm den Auftrag gaben – aber warum fragen Sie mich?«

 

Mr. Orford konnte seine Aufregung kaum verbergen.

 

»Ich möchte es Ihnen jetzt noch nicht sagen – vielleicht werden Sie es auch nie erfahren.« Dann wandte er sich an den Kriminalbeamten. »Können Sie sich auch noch an die Gerichtsverhandlung erinnern, Mr. Spinner?«

 

»Ich habe Lord Rivertor seinerzeit verhaftet.«

 

»Können Sie sich noch auf die Verteidigung in dem Prozeß besinnen?«

 

Der Inspektor lächelte schwach.

 

»Da war nicht viel zu verteidigen, Mr. Orford. Man behauptete, die ganze Sache sei eine wissentlich, falsche Beschuldigung und alles Beweismaterial sei künstlich gegen Feltham zusammengetragen. Die Maschinen, die Instrumente und die falschen Banknoten sollten während seiner Abwesenheit ins Haus geschafft worden sein.«

 

»Denken Sie auch noch daran, daß John Feltham erklärte, er habe zwei Radierungen an einen Fremden verkauft, den er später niemals wiedergesehen habe, und daß das falsche Geld, das man in seinem Besitz fand, der Kaufpreis für die zwei Radierungen war?«

 

Der Polizeiinspektor nickte.

 

»Nehmen wir nun einmal an«, Orfords Stimme sank zu einem Flüstern herab, »also nehmen wir einmal an, ich würde die Quittung über den Verkauf der Radierungen finden, Lord Rivertor könnte den Mann, der sie kaufte, identifizieren und wir könnten obendrein noch eine Zeugin beibringen, die die Radierungen im Besitz der Familie Dorban gesehen bat …«

 

Spinner runzelte die Stirn und dachte nach. Mr. Orfords Gründe waren sehr überzeugend.

 

»Das würde allerdings einen großen Unterschied machen. Das Justizministerium würde das Verfahren wiedereröffnen, und wenn es bewiesen werden könnte –« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube nicht, daß Ihnen dieser Nachweis gelingen wird. Die Quittung, die Sie vorzeigen, könnte doch gefälscht sein!«

 

»Ich möchte Sie ins Vertrauen ziehen«, sagte Orford und schaute argwöhnisch auf Arthur, der an der Reling lehnte. »Ich bringe jetzt ganz neue Gesichtspunkte.« Mr. Orford sprach sehr schnell, und John hörte erstaunt zu, als er alles berichtete, was er am Morgen von Penelope erfahren hatte.

 

Während er noch bei seiner Erzählung war, kam ein Mann an Deck und klopfte Arthur Dorban vertraulich auf die Schulter. Sie konnten ihn zuerst nur von hinten sehen, aber plötzlich wandte er sich um.

 

»Wer ist das?« fragte Orford.

 

John drehte sich auch um, dann sprang er mit einem Aufschrei auf den Fremden zu und packte ihn an der Kehle.

 

»Kennen Sie mich wieder?«

 

Whiplow wand sich unter seinem festen Griff, Sein Gesicht war aschfahl.

 

»Ich kenne Sie nicht – ich habe Sie niemals gesehen. Lassen Sie mich doch in Ruhe!«

 

John ließ ihn los.

 

»Dies ist der Mann, der damals in mein Atelier kam, zwei Radierungen von mir kaufte und mir die falschen Banknoten dafür gab! Das ist der Mann, den meine Freunde so lange gesucht haben und der spurlos verschwunden zu sein schien!«

 

»Sie sind verrückt«, rief Whiplow atemlos und zog seinen Rock zurecht. »Sie sind mir vollständig fremd!«

 

Der Kriminalbeamte nahm John am Arm und führte ihn fort.

 

Eine halbe Stunde später ging Mr. Spinner allein an Bord der ›Polyantha‹ und kehrte erst nach zwei Stunden zurück. Penelope stand an der Reling und sah erregt auf das Boot. Die Pulse in ihren Schläfen hämmerten, als sie sah, daß Spinner eine gelbe Wolljacke über dem Arm trug. Ob die Quittung noch in der Tasche war? Sie schaute sich nach Mr. Orford um, konnte ihn aber nicht entdecken. Auch Whiplow war nicht oben an Deck. Arthur und Cynthia standen an der Reling und schauten auf das Fallreep hinunter. Sie schienen etwas bestürzt zu sein.

 

»Warum sind wir eigentlich nicht alle auf die ›Polyantha‹ gegangen?« fragte Cynthia nervös. »Warum ist er allein –«

 

»Frage ihn doch selbst«, erwiderte El Slico lakonisch, als Mr. Spinner jetzt die Treppe heraufkam.

 

»Wo ist denn Ihr Freund?« fragte er Arthur. Es lag ein unangenehmer Ton in seiner Stimme.

 

»Meinen Sie Whiplow? Der ist unten, soviel ich weiß. Aber er ist durchaus kein Freund von mir, Inspektor.«

 

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Spinner nach unten, um den Mann zu suchen.

 

*

 

Hinter der verschlossenen Tür von Mr. Orfords Kabine fand eine Unterhaltung statt.

 

»Ich kenne zwar die Gesetze nicht so genau, Whiplow«, erklärte Mr. Orford, »aber ich vermute, daß die Leute auch auf Indizienbeweise hin verurteilt werden können. Und was machen Ihnen denn ein paar Jahre Gefängnis aus, wenn Sie nachher ein großes Vermögen haben?«

 

»Aber wer garantiert mir dafür, daß Sie Ihr Versprechen auch halten und mich nachher auszahlen?« fragte Whiplow etwas zaghaft.

 

»Sie müssen mir eben trauen«, meinte Mr. Orford. »Das ist keine große Forderung, die ich an Sie stelle. Ich habe so viel Beweismaterial in der Hand, daß ich Sie an den Galgen bringen könnte. Nun, mein Junge –«, er legte ihm die Hand auf die Schulter, »wollen Sie nicht vernünftig werden, bevor ich die Sache dem Gericht übergebe?«

 

Whiplow starrte düster auf den Fußboden.

 

Mr. Orford spielte nun seinen letzten Trumpf aus, aber das wußte der andere nicht.

 

»Spinner weiß über Sie Bescheid. Wir haben außerdem die Quittung über das Geld, das Sie für Ihren Verrat bekommen haben. Die Dorbans werden das Schiff gefesselt verlassen. Wollen Sie auch für Lebenszeit eingesperrt werden, oder wollen Sie nun endlich vernünftig werden?«

 

»Ich habe noch niemals jemanden verraten«, erwiderte Mr. Whiplow nervös. »Und es gibt doch keine direkten Beweise gegen mich. Wie weiß ich denn, daß Sie mir nachher die Summe zahlen werden?«

 

Mr. Orford hatte ihn fast überzeugt, als draußen an die Tür geklopft wurde. Mit erstaunlicher Ruhe öffnete er die Tür. Inspektor Spinner stand vor ihm und hielt ein Blatt Papier in der Hand. Es war die Quittung, die er in der Wolljacke gefunden hatte.

 

»Ich glaube, das fehlte Ihnen noch«, sagte er.

 

Aber bevor Orford etwas erwidern konnte, stieß ihn Whiplow beiseite und starrte auf das zerknitterte Papier.

 

»Das ist der Beweis«, sagte er niedergeschmettert.

 

Mr. Orford aber seufzte tief und ließ sich schwer aufs Sofa niederfallen.

 

Kapitel 15

 

15

 

Es war noch sehr dunkel, aber John führte die kleine Gesellschaft, ohne sich auch nur im geringsten zu besinnen, direkt auf die Klippen zu. Plötzlich leuchtete eine elektrische Taschenlampe auf, und Penelope sah einen engen, dunklen Spalt in dem Felsen vor sich.

 

»Hier ist die Höhle, in der wir früher Räuber gespielt haben. Wir müssen jetzt sofort hineingehen, denn die Flut kommt bald, und das Wasser bedeckt dann gewöhnlich den Eingang. Aber drinnen steigt der Fußboden an, und wir werden eine Plattform. finden, wo wir uns trocken und behaglich aufhalten können.«

 

Er setzte den großen Korb nieder, den er mitgenommen hatte, nahm eine Laterne heraus und steckte sie an. Die Höhle war tief und vorne sehr eng, so daß man das Licht im Innern vom Wasser aus nicht sehen konnte.

 

Die Höhle war nahezu dreißig Meter hoch. Im hinteren Teil erhob sich die Plattform, von der John gesprochen hatte. Er sprang hinauf, streckte die Hand aus und half Penelope nach oben. Drei Öffnungen waren hier zu sehen, die so regelmäßig angeordnet waren, als ob sie von Menschenhand angelegt worden seien.

 

»Das sind natürliche Felsenkammern. Wenn wir die Nacht hier zubringen müssen, ist die auf der linken Seite für Mr. und Mrs. Dorban bestimmt; Sie können in der rechten schlafen, Miss Pitt. Die Höhle ist noch ungefähr achthundert Meter tiefer. Ich werde jedem von Ihnen eine Laterne mitgeben, die brauchen Sie, selbst wenn draußen die Sonne scheint.«

 

Penelope hatte noch kein Wort mit Cynthia gewechselt und nahm auch an, daß diese nicht den Wunsch hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war daher sehr erstaunt und entrüstet, als sich Cynthia plötzlich an sie wandte.

 

»Wie sind Sie denn nur auf dieses Schiff gekommen, Penelope?« fragte sie mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

 

John trat dazwischen und ersparte ihr die Antwort.

 

»Ich dulde nicht, daß Sie sich mit Miss Pitt unterhalten«, sagte er streng. »Wie die Sache auch ausgehen mag, ich bin fest entschlossen, Sie vor Gericht zu bringen wegen dieses Verbrechens, das Sie an Miss Pitt begehen wollten.«

 

»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie zu meiner Frau sprechen«, erwiderte Mr. Dorban, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Miss Pitt hat sich sehr schlecht benommen, sie hat meine Ehre tief gekränkt –«

 

John lachte laut auf.

 

»Slico«, sagte er, »Sie amüsieren mich. Sie, ein gemeiner Falschspieler, der sich mit jedem Dieb Europas angefreundet hat, sprechen von Ehre!«

 

Mr. Dorban schien sich wenig aus diesen Worten zu machen.

 

»Was ich früher war, hat hiermit nichts zu tun – ich weiß, wer Sie sind, mein Freund!«

 

Penelope starrte auf den Mann, es lag eine Drohung in dem Ton seiner Stimme, die sie nicht verstehen konnte. Das Geheimnis, das über der ›Polyantha‹ lag, schien sich immer mehr auf den Matrosen John zu konzentrieren.

 

»Wenn ich erst so genau über Sie Bescheid weiß wie Sie über mich, wird es Ihnen sehr schlecht gehen, Mr. Dorban. Und wenn Sie jetzt lieber nichts mehr sagen würden, wäre ich Ihnen zu Dank verbunden.«

 

Er nahm einen kleinen, langen Kasten aus dem Korb und griff nach einer Angelrute, von der ein Draht herunterhing. Dann verschwand er durch den Eingang der Höhle. Nach einer Viertelstunde kam er wieder zurück und legte Angelrute und Kasten auf die Plattform.

 

»Die Leute sind doch tüchtiger, als ich vermutet hatte«, sagte er. »Ihre Funkgeräte arbeiten schon die ganze Zeit. Ich konnte nicht alles verstehen, aber ich glaube, daß Vigo jezt in Verbindung mit einem Kriegsschiff steht, das draußen auf hoher See kreuzt. Die ›Polyantha‹ wird früh am Morgen Besuch bekommen. Hollin, Sie sind gerade noch mit knapper Not entkommen!«

 

Hollin, der zufrieden auf einer Kante der Plattform saß, rauchte aus einer kurzen hölzernen Pfeife und brummte vor sich hin.

 

»Woher wissen Sie denn das alles schon wieder? Was ist denn das eigentlich?« Er runzelte die Stirn und zeigte auf den Kasten.

 

»Das ist eine transportable Funkstation. Mr. Orford hat mich vorsorglich damit ausgerüstet. Wenn sie das Morsealphabet benützt hätten, wäre ich hilflos gewesen, aber glücklicherweise verständigten sie sich durch Sprechfunk. Sie wissen übrigens alles von Ihnen, Hollin.«

 

Allmählich wurde es heller in der Höhle, und das Licht, das durch die Felsspalte hereinfiel, machte den Gebrauch der. Laternen unnötig. Bei Tagesanbruch stieg auch das Wasser. Weiß schäumend brauste es herein und stieg dann immer höher, bis nur noch ein schmaler Spalt vom Eingang frei blieb.

 

John beobachtete aufmerksam, daß das hereindringende Tageslicht immer schwächer wurde. Zu gewissen Jahreszeiten wurde der Eingang der Höhle vollständig von der Flut bedeckt, und das Wasser kam bis an die Plattform heran. Darin lag jedoch keine Gefahr, denn die Höhle war so groß, daß sie genügend Luft und Sauerstoff hatte. Sie waren ja auch nicht zu lange von der äußeren Luft abgeschnitten.

 

Als die Flut ihren Höhepunkt erreicht hatte, machte John sich daran, das Frühstück zu bereiten.

 

Mr. und Mrs. Dorban hatten sich in ihre ›Privathöhle‹ zurückgezogen und sprachen leise miteinander. Hollin lehnte mit untergeschlagenen Beinen an der Felswand. Penelope war allein bei John.

 

»Diese Leute scheinen alles über Sie zu wissen«, brach sie plötzlich das Schweigen. »Ist es etwas, was Ihnen schaden könnte?«

 

»Die Frage könnte man mit Ja und Nein beantworten, Sie wissen nichts von mir, was meine Ehre berührte, aber vieles, was meine Sicherheit gefährdet.«

 

Mit dieser geheimnisvollen Erwiderung mußte sie sich zufriedengeben.

 

Cynthia beobachtete die beiden dauernd und sah, wie sich John zu dem Mädchen hinneigte. Sie vermutete, daß sie vertraulich miteinander sprächen, da sie nur den leisen Klang seiner Stimme hörte. Sie flüsterte ihrem Mann etwas zu.

 

»Du bist verrückt«, sagte Arthur ruhig. »Was schadet es denn, wenn er sich in sie verliebt?«

 

»Er kann sie doch heiraten!«

 

Arthur runzelte die Stirn. »Sie heiraten?« wiederholte er.

 

»Nimm doch einmal an, die beiden heirateten und bekämen ein Kind, du Narr!« sagte sie ärgerlich.

 

»Wie könnten sie heiraten? Du bist die reinste Närrin! Augenblicklich schaut man in jedem spanischen Hafen und in jedem Hafen der Welt nach der ›Polyantha‹ aus.«

 

»Der Captain kann sie doch trauen!« unterbrach sie ihn. »Jeder Captain kann auf hoher See ein Paar trauen. Weißt du denn das nicht? Du bist doch, soviel ich weiß, auch schon auf Schiffen gefahren?« fragte sie sarkastisch.

 

»Ich habe mich niemals um Captains gekümmert«, sagte Mr. Dorban höflich. »Ich glaube, du überschätzt die Möglichkeit, Cynthia. Sie ist doch hübsch, nicht wahr?«

 

Er fragte ganz gleichgültig, und ebenso gleichgültig betrachtete Mrs. Dorban das Profil des Mädchens.

 

»Ja, sie ist hübsch. Hast du mit dem Mann gesprochen?«

 

»Er schläft«, erwiderte Arthur und warf dem schlummernden Hollin einen Blick zu.

 

»Wenn unser Wärter die Höhle verläßt, weckst du ihn auf, Arthur.«

 

Eine Weile später watete John hinaus, um einen kleinen Erkundungsgang zu machen. Er war als einziger mit hohen Seemannsstiefeln ausgerüstet. Aber schon nach wenigen Augenblicken kehrte er wieder zurück.

 

»Es ist nichts zu sehen«, sagte er. »Wir wollen jetzt frühstücken. – Nanu, Sie haben ja meinen Freund Hollin aufgeweckt!«

 

Dorban hatte den Mann nur wecken können, zum Sprechen blieb ihm nicht genügend Zeit. Aber er hatte später Gelegenheit dazu, als das Wasser fiel und John mit Penelope hinausgegangen war, um frische Luft zu schöpfen.

 

»Wenn er Spazierengehen kann, können wir das auch«, revoltierte Hollin. »Wenn er denkt, daß ich hier den ganzen Tag zubringen werde, hat er sich aber schwer geirrt!«

 

Mr. Dorban nickte ihm ermunternd zu.

 

»Er behandelt Sie wie einen Hund«, sagte er. »Ich kann sein Verhalten uns gegenüber wohl verstehen, denn wir sind nicht seine Freunde. Aber ein Mann, der ihm soviel geholfen hat wie Sie –«

 

»Ja, das stimmt, sie behandeln mich wie Dreck!« rief Mr. Hollin aufgebracht. »Und alles nur, weil ich ein paar Worte über diese junge Dame gesagt habe.« Er zeigte mit dem Kopf nach dem Ausgang der Höhle. »Das hat ihn so in Wut gebracht, daß er mir den Schädel einschlagen wollte. Das ist doch keine Art, mit einem Freunde umzugehen!«

 

»Warum dienen Sie ihm denn?« fragte Cynthia freundlich. »Er hat Ihnen wahrscheinlich viel Geld versprochen. Aber wissen Sie denn, ob er sein Versprechen halten wird?«

 

Mr. Hollin wurde unruhig.

 

»Er dürfte es nicht wagen –«, begann er.

 

»Sind Sie Ihrer Sache so sicher?« unterbrach Cynthia ihn und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was hindert die Leute denn, Sie beiseite zu schaffen, bevor die Jacht nach Südamerika kommt? Das ist doch furchtbar einfach. In irgendeiner dunklen Nacht – Sie verstehen mich doch, Mr. Hollin, ich möchte Sie nicht unnötig erschrecken. Aber ich fühle, daß es meine Pflicht ist, Sie darauf aufmerksam zu machen, mit welchen Leuten Sie sich eingelassen haben. Wer legt denen denn etwas in den Weg, Sie über den Haufen zu schießen und über Bord zu werfen? John würde sich keinen Augenblick besinnen, das zu tun – ein Mann mit diesem Vorleben …«

 

Hollin hatte nicht die geringste Ahnung, welches Vorleben John geführt hatte, aber er erinnerte sich jetzt daran, daß ihm John eines Abends furchtbar gedroht hatte, und er grübelte darüber nach.

 

»Sie kommen jetzt zurück«, sagte Cynthia leise. »Wenn wir erst wieder an Bord der ›Polyantha‹ sind, dann möchte ich einmal mit Ihnen sprechen.«

 

Hollin nickte.

 

Als John aus dem hellen Licht wieder in die dunkle Höhle trat, konnte er zuerst nicht sehen, daß sich die Dorbans in der Nähe von Hollin aufgehalten hatten und sich nun eilig auf den ihnen zugewiesenen Platz zurückzogen.

 

Am frühen Nachmittag nahm er Penelope beiseite.

 

»Ich werde mich jetzt hinten schlafen legen, denn ich muß in der Nacht ganz wach sein. Ich möchte Sie bitten, sich an den Eingang zu setzen und mich zu rufen, wenn irgend etwas passieren sollte. Verstehen Sie mit einer Pistole umzugehen?«

 

»Ich habe schon verschiedentlich geschossen«, sagte sie lächelnd, »aber ich fürchte, ich kann nicht gut zielen.«

 

»Sehen Sie mich jetzt nicht an«, sprach er in seinem gewöhnlichen Ton weiter. »Ich werde eine kleine Pistole in Ihre Manteltasche stecken. Fühlen Sie sie?«

 

»Ja, sie ist sehr schwer. Was soll ich denn damit tun?«

 

»Schießen Sie ruhig«, erwiderte er gelassen, »sobald es nötig ist. Ich glaube nicht, daß die Dorbans irgend etwas unternehmen werden, aber man kann ihnen nie trauen. Wenn jemand die Höhle verlassen will, rufen Sie.«

 

John hatte kaum eine halbe Stunde geschlafen, als Mr. Hollin aufstand. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schlenderte dem Ausgang zu.

 

»Sie dürfen nicht hinausgehen!« rief Penelope in gebieterischem Ton.

 

Er drehte sich um.

 

»Ich lasse mir von einer Frau nichts befehlen«, sagte er verächtlich. Als er aber sah, daß sie sich der inneren Höhle zuwandte, fuhr er hastig fort: »Machen Sie keinen Lärm, es ist doch nur ein Spaß gewesen.« Mit diesen Worten ging er wieder zurück.

 

Um fünf Uhr kochte Penelope Tee auf dem Spirituskocher und brachte auch John eine Tasse. Sie war nun durch die Umstände zu seiner Gehilfin geworden und empfand eine gewisse Genugtuung darüber, daß die anderen sich gegen sie zusammenschlossen.

 

Um sieben Uhr abends stieg die Flut wieder, und nach zehn watete John erneut hinaus.

 

»Von der ›Polyantha‹ ist noch nichts zu sehen«, sagte er, als er zurückkam. »Ich erwarte sie auch kaum vor Mitternacht. Es wird aber nicht einfach sein, bei Flut an Bord zu kommen.«

 

Während der Nacht lösten sich John und Penelope im Wachen ab. Er hatte die Kopfhörer umgelegt, und sie hielt die lange Stange, an der die Antenne hing. Als der Morgen zu dämmern begann, fing er eine Nachricht auf. ›Nicht in dieser Nacht, John.‹

 

In Zwischenräumen von zehn Minuten wurde die Botschaft wiederholt, und er glaubte, Bobbys Stimme zu erkennen.

 

»Dann müssen wir also noch einen Tag hierbleiben«, seufzte John. »Nun müssen Sie aber schlafen. Die kleine Höhle, die ich für Sie bestimmt habe, ist ganz nett. Kommen Sie nur mit.«

 

Sie gingen zusammen hinein, aber plötzlich hob er warnend den Finger. Er hatte das taktmäßige Geräusch von Rudern gehört, und jetzt vernahm sie es auch.

 

»Ist das …?« flüsterte sie.

 

»Nein – sie wollten das Motorboot herschicken. Warten Sie!«

 

Er ging auf die Plattform zurück. Sie sah ihn nur undeutlich in dem Licht des Morgengrauens, das zur Höhle hereindämmerte, und folgte ihm. Er schien sie auch erwartet zu haben, denn er machte ihr Platz.

 

Plötzlich hörten sie draußen eine Stimme.

 

»Hier müssen sie sein. Hier in der Nähe muß die Höhle liegen, in der er als Junge immer gespielt hat.«

 

»Das war Spinner – ein englischer Kriminalbeamter«, flüsterte er ihr zu.

 

»Wenn er hier ist, Inspektor, dann sind auch meine beiden Freunde hier, Mr. und Mrs. Dorban«, sagte ein anderer.

 

Sie sah, daß John plötzlich ungeheuer erregt wurde und dem Ausgang der Höhle zustürzen wollte. Instinktiv riß sie ihn zurück.

 

»Was wollen Sie denn tun?« fragte sie kaum hörbar, aber ihre Stimme zitterte.

 

»Ich will den Kerl packen, der eben gesprochen hat«, stieß John wütend zwischen den Zähnen hervor.

 

»Sie sind außer sich!« sagte sie verzweifelt. »Ich kenne diesen Mann. Er heißt Whiplow!«

 

Kapitel 16

 

16

 

Spinner sprach jetzt spanisch, er wandte sich offenbar an eine Respektsperson. John vermutete, daß er sich mit dem Polizeioffizier unterhielt, den er in der vorigen Nacht überfallen hatte.

 

»Befindet sich hier eine Höhle?«

 

»Auf der anderen Seite der Klippen werden wir eine große Höhle finden. Ich kann mich nicht darauf besinnen, daß auf dieser Seite eine liegt, und ich bin seit meiner frühesten Jugend in Vigo.«

 

»Was hat er eben, gesagt?« fragte Whiplow ungeduldig.

 

»Er sagt, daß die Höhle –« Die nächsten Worte des Kriminalbeamten gingen in dem Geräusch der Ruder unter. Das Boot entfernte sich immer weiter.

 

»Whiplow – ja, das ist der Mann. Bobby hat schon immer vermutet, daß er es sei. Aber wir konnten niemals Gewißheit darüber bekommen.« Er sprach halb zu sich selbst, und sie konnte nicht alles verstehen, was er sagte. Aber dann wandte er sich ihr wieder zu. »Sind Sie ganz sicher, daß Sie Whiplows Stimme erkannt haben?« fragte er leise.

 

»Ja – ich würde seine Stimme stets wiedererkennen.«

 

Nach einem langen Schweigen begann John wieder zu sprechen, aber er schien nur laut zu denken.

 

»Es handelt sich jetzt darum, ob sie nicht noch einmal zurückkommen, wenn sie die andere Höhle vergeblich durchsucht haben. Aber es handelt sich noch um etwas viel Wichtigeres.«

 

Sie warteten eine ganze Stunde und lauschten angestrengt. Endlich hörten sie das Geräusch der Ruder wieder, aber das Boot fuhr an dem Eingang der Höhle vorbei, nach Vigo zu.

 

Das Tageslicht dämmerte jetzt, und Penelope war sehr erschöpft.

 

John konnte sie zwar nicht sehen, doch mußte er gespürt haben, wie müde sie war, denn er befahl ihr in ziemlich scharfem Ton, sich nun hinzulegen.

 

»Wollen Sie mir immer noch nicht sagen, was das alles bedeuten soll?« bat sie ihn. »Ich bin so verwirrt – und fürchte mich auch.«

 

»Sie brauchen sich nicht im mindesten zu fürchten. Ich soll Ihnen alles sagen?« Er lachte leise vor sich hin. »Nun, ich glaube, Sie werden noch heute abend alles erfahren müssen. Auf jeden Fall werden Sie bald eingeweiht werden.«

 

Er knipste seine Taschenlampe an, um ihr den Weg in ihre Höhle zu zeigen. Mrs. Dorban stand an der Ecke der erhöhten Plattform.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte sie aufgeregt.

 

»Es ist alles in Ordnung«, antwortete John vergnügt.

 

»Ich dachte, Sie hätten draußen mit jemandem gesprochen!«

 

John gab ihr keine Antwort, bis er Penelope auf die Plattform geholfen hatte.

 

»Ja, ein Freund von Ihnen war draußen«, sagte er dann. »Aber er hat nicht mit mir gesprochen.«

 

»Ein Freund?« fragte sie schnell. »Wen meinen Sie denn?«

 

»Whiplow.«

 

Er hatte eine Laterne angezündet, und bei ihrem Licht sah er, wie sich der Ausdruck ihres Gesichtes änderte.

 

»Whiplow?« wiederholte sie fast ungläubig. »Sie lügen! Wie sollte denn der hierherkommen! Wer ist denn überhaupt dieser Mr. Whiplow?«

 

John lächelte.

 

»Ich dachte mir schon, daß Sie ihn vielleicht gar nicht kennen«, antwortete er ironisch, »aber trotzdem war er hier. Miss Pitt hat seine Stimme wiedererkannt.«

 

Cynthia erholte sich allmählich wieder.

 

»Wie lächerlich Sie sich benehmen! Natürlich kenne ich Mr. Whiplow. Er hat meinen Mann einmal besucht, als ich in London war. Aber es ist einfach absurd, zu behaupten, daß er mein Freund sei. Haben Sie ihn gesprochen?« Sie sah John argwöhnisch an.

 

»Nein, ich habe ihn nicht gesprochen. Allein die Tatsache, daß ich wieder hierher zurückgekommen bin, beweist, daß er mich überhaupt nicht gesehen hat. Aber eines Tages werde ich noch mit ihm sprechen, und ich weiß, daß dies ein sehr böser Tag für Sie sein wird, Mrs. Dorban!«

 

Die Selbstbeherrschung dieser Frau war ungewöhnlich. Sie konnte selbst in diesem kritischen Augenblick lächeln.

 

»Ach, wie romantisch!« sagte sie höhnisch. »Diese Phrase klingt, als ob sie aus einem Kriminalroman stammte!«

 

Sie zuckte die Schultern und ging in die Höhle zurück, in der ihr Mann schlief. Sie fand den Weg im Dunkeln und weckte ihn auf.

 

»Was gibt es?« fragte er leise.

 

»Whiplow ist hier.«

 

»Hier in der Höhle?«

 

»Nein, du Narr! In Vigo! Und offensichtlich sucht er uns. Wahrscheinlich war er in einem Boot, unser Freund John hat ihn gesehen.«

 

Arthur Dorban war ganz wach geworden.

 

»Was, Whiplow ist hier? Dieses Schwein! Er hat mir doch geschworen, mit dem nächsten Schiff nach Amerika zu fahren!«

 

»Für einen Mann mit deiner Vergangenheit bist du noch reichlich naiv«, erwiderte sie spöttisch. »Whiplow ist schon die ganze Zeit hinter uns her, er muß uns durch Frankreich und Spanien gefolgt sein. Und wenn du es dir überlegst, ist es doch verständlich, daß er das Nest mit den goldenen Eiern nicht so ohne weiteres im Stich läßt. Dieses verdammte Mädchen hat seine Stimme erkannt!«

 

»Du glaubst also, daß John alles weiß?«

 

»Er hat es anscheinend schon lange vermutet«, entgegnete sie kühl. »Aber solange er seine Stimme nicht auch wiedererkannt hat, haben wir eigentlich nichts zu fürchten. Wir dürfen jetzt aber keine Zeit mehr verlieren. Hast du mit Hollin gesprochen?«

 

»Ja.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich glaube, daß er sich leicht gefügig machen läßt, wenn wir es nur richtig anfangen. Aber hier in der Höhle können wir nichts unternehmen.«

 

Sie machte eine ungeduldige Bewegung.

 

»Hier ist doch die beste Gelegenheit dazu – worauf willst du denn noch warten?« fragte sie wild. »Ihr seid doch beide bewaffnet –«

 

»Unglücklicherweise stimmt das nicht«, unterbrach er sie. »Während Hollins Abwesenheit von dem Schiff sind die Patronen in seinen Pistolen durch Platzpatronen ersetzt worden. Er hat es erst heute nacht entdeckt. Ich habe daraufhin sofort auch meine Pistole untersucht und habe hier denselben Wechsel vorgefunden. Das Magazin ist vollkommen leer und im Lauf befindet sich nur eine leere Patronenhülse. Meine liebe Cynthia, wir haben es mit sehr klugen Leuten zu tun. Und es war sehr töricht von uns, zu glauben, wir könnten sie so leicht fangen. Als ich meine Pistole unter das Sofa steckte, hätte ich mir überlegen müssen, daß die Kabine bei der nächsten Gelegenheit genau durchsucht werden würde. Während wir in den Salon gebracht wurden, war Zeit genug dazu.«

 

Es wurde wieder Tag – das Warten war sehr langweilig. Die einzige Unterbrechung brachte die Flut.

 

Um zehn Uhr abends hörte John, der am Eingang der Höhle stand, das leise Geräusch eines Motorbootes, und bald darauf knirschte ein Kiel im Sand.

 

»Ist alles in Ordnung, John?«

 

»Ja, es ist alles gut gegangen.«

 

»Kommt schnell an Bord, wir haben eine weite Fahrt. Die ›Polyantha‹ liegt zehn Meilen weit draußen auf See. Glücklicherweise ist das Meer spiegelglatt.«

 

John ging in die Höhle zurück und rief alle zusammen.

 

Der Korb war schon gepackt, und ein paar Minuten später waren sie in dem Motorboot, das in die offene See hinaussteuerte.

 

Es war schon fast Mitternacht, als sie am Fallreep anlegten. Cynthia wurde unterwegs seekrank und war froh, wieder an Bord des großen Schiffes zu kommen. Auch Penelope freute sich‘ auf ihr schönes, weiches Bett.

 

Sie sah John nicht mehr, sie war zu müde und schlief schon lange, bevor die ›Polyantha‹ ihre Fahrt wieder aufnahm.

 

In der Nacht wurde sie durch das Heulen der Sirene aufgeweckt und schaute durch das Kabinenfenster hinaus. Das Schiff fuhr mit beträchtlich verminderter Geschwindigkeit durch eine dichte Nebelbank.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, schien die Sonne hell in ihre Kabine herein. Die Uhr neben ihrem Bett zeigte halb elf, und dicht neben der Tür stand ein Tablett. Der Kaffee war schon ganz kalt und das Toastbrot trocken und unschmackhaft geworden. Sie zog schnell ihren Morgenrock an und klingelte.

 

Gleich darauf klopfte es an die Tür, und John wünschte ihr guten Morgen.

 

Kapitel 17

 

17

 

»Ich dachte, Sie schliefen noch. Ich habe Ihnen frischen Kaffee gebracht. Bitte denken Sie aber in Zukunft daran, daß Sie Ihre Kabine nachts verschließen müssen.«

 

»Ich war so müde«, entschuldigte sie sich, als sie das Tablett an der Tür in Empfang nahm. »Wo sind wir jetzt?«

 

»Irgendwo auf See. Ich war niemals ein großer Mathematiker, und Navigation ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Soweit ich es beurteilen kann, fahren wir nach Südwesten, mit Kurs auf die Kanarischen Inseln. Aber beeilen Sie sich jetzt bitte und ziehen Sie sich an. Mr. Orford möchte Sie gern sprechen.«

 

Seine Stimme klang heute merkwürdig schüchtern und verlegen. Mr. Orford erwähnte er hastig und abgerissen, und er war schon verschwunden, ehe er den Satz noch ganz beendet hatte.

 

Penelope war sehr verwundert – von dieser Seite hatte sie ihn noch nicht kennengelernt.

 

Als sie das Deck entlangging, fand sie Mr. Orford in seinem Lieblingsstuhl unter einem Sonnenschirm sitzen, den man für ihn aufgespannt hatte. Er sah nicht sehr vergnügt aus, und sie glaubte, noch mehr Falten in seinem Gesicht zu entdecken. Seine Augen lagen tief, und seine großen Hände, die er gewöhnlich über dem Bauch faltete, waren unruhig.

 

»Guten Morgen. Nehmen Sie bitte Platz.«

 

Sie war neugierig, was er ihr wohl zu sagen hätte.

 

»Miss Pitt«, begann er nach einem nervösen Räuspern, »man rechnet bei allen Organisationen wegen der menschlichen Schwächen und Irrtümer mit zehn Prozent Fehlern. Ich kann wohl eine Reise von London nach Konstantinopel, nach Belgrad, nach Jaffa, nach Cincinnati oder sonstwohin organisieren, bei der alles bis auf die Minute klappen wird. Aber wenn ich eine Reise von London nach Gibraltar zu arrangieren habe und der Mann, der diese Reise unternimmt, in Cordoba unterbricht, um sich die Kathedrale anzusehen, und dabei ein hübsches junges Mädchen trifft, sie zum Essen einlädt und dadurch den Zug versäumt, dann ist natürlich alle Disposition umsonst …« Er biß wütend das Ende einer Zigarre ab und steckte sie an, bevor er weitersprach. »Miss Pitt, durch Ihr Dazwischentreten ist die Ausführung meines Planes sehr gefährdet, ja, fast unmöglich geworden.«

 

»Durch mein Dazwischentreten?«

 

»Ja. Wir wären nicht nach Vigo gegangen, wenn Sie nicht Kleider notwendig gehabt hätten, und Sie hätten keine Kleider gebraucht, wenn Sie nicht an Bord gekommen wären. Dadurch ist alles in die Binsen gegangen.«

 

»Das tut mir sehr leid, Mr. Orford. Aber ich kenne ja Ihren Plan nicht und weiß nicht, warum Sie über den Atlantischen Ozean fahren. Sicher haben Sie einen guten und triftigen Grund dazu, und ich fühle, daß ich in gewisser Weise dafür verantwortlich bin, daß Sie Ihre Pläne ändern mußten. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann –«

 

»Das können Sie wirklich«, sagte er und schaute auf die See hinaus. »Sie könnten John heiraten.«

 

Penelope erhob sich halb von ihrem Stuhl, aber seine große Hand legte sich auf ihre Schulter.

 

»Warten Sie. Ich habe von Natur aus viel Sinn für Familie, obgleich ich niemals verheiratet war. Ich bin sehr menschenfreundlich und könnte es niemals übers Herz bringen, Sie oder eine andere Frau absichtlich oder wissentlich zu beleidigen. Aber wenn Sie meiner Anregung folgen, können Sie vieles gutmachen, ohne selbst zu Schaden zu kommen.«

 

»Ich soll John heiraten? Aber das ist doch unmöglich! Ich kenne ihn doch gar nicht! Natürlich ist er kein Matrose, sondern eine bedeutende Persönlichkeit, die viel mit Ihrer Organisation zu tun hat. Er ist mir sogar sympathisch, ich habe ihn gern – aber heiraten…«

 

»Die meisten Menschen haben ja noch nicht einmal die Leute gern, die sie heiraten«, meinte Mr. Orford nachdenklich. Er traute sich aber immer noch nicht, sie anzusehen. »Und diese Heirat würde – wird – nun ja, es würde keine Ehe im gewöhnlichen Sinne werden. Sie könnten mir und John damit den größten Dienst tun, den ein Mensch einem andern erweisen kann. Der Captain hat die Autorität, die Trauung zu vollziehen. Sie können ja die kirchliche Feier später nachholen, wenn Sie Gelegenheit dazu haben.«

 

»Aber ich möchte ja gar nicht heiraten«, protestierte Penelope.

 

»Sind Sie vielleicht verlobt?«

 

»Nein«, sagte sie fast zornig. »Ich muß doch nicht verlobt sein, um diesem Plan zu widersprechen. Die ganze Geschichte ist doch absurd!«

 

»Das ist nun wieder der menschliche Faktor!« sagte er leise zu sich selbst. »Überlegen Sie es doch noch einmal.« Er rauchte eine Weile heftig. »Ich zahle Ihnen hunderttausend Dollar, wenn Sie John heiraten«, schlug er dann kühl und geschäftsmäßig vor.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Und Sie werden ein Einkommen haben, wie Sie es sich niemals haben träumen lassen –«

 

»Das hat alles keinen Zweck, Mr. Orford«, erwiderte sie ruhig. »Geld hat keinen Einfluß auf meine Entschlüsse. Weiß John, daß Sie für ihn um meine Hand anhalten?«

 

Er nickte.

 

»John ist in gewisser Weise sehr scheu. Er selbst hat nicht die leiseste Hoffnung, daß Sie meinem Vorschlag zustimmen werden.«

 

»Ich hätte ihn für etwas vernünftiger gehalten«, sagte sie bitter, als sie sich erhob.

 

Er sah zu ihr auf.

 

»Miss Pitt, würden Sie John auch nicht heiraten, wenn Sie dadurch sein Leben retten könnten?« fragte er ruhig.

 

»Aber das ist doch eine rein hypothetische Frage –«

 

»Nein, glauben Sie mir. Ich hatte John allerdings versprochen, Ihnen dies nicht zu sagen. Wenn sich im nächsten Monat gewisse Dinge ereignen und er nicht verheiratet ist – ja, dann würde ich keine zehn Cent mehr für sein Leben geben.«

 

Sie starrte ihn an.

 

»Ist das Ihr Ernst?«

 

»Mein voller Ernst.« Mr. Orford stand auf, ging zur Reling und schaute auf das Meer hinaus. »Es ist möglich, daß Sie ihn nicht vor einer Gefängnisstrafe retten, das liegt nicht in Ihrer Macht. Bevor Sie an Bord kamen, hoffte ich, ihn retten zu können. Aber Sie können wenigstens sein Leben schützen. Zweimal wurde schon ein Mordanschlag auf ihn verübt.«

 

»Von wem?«

 

Er zeigte mit dem Kopf nach unten.

 

»Dorbans?« fragte sie atemlos.

 

»Zweimal versuchten sie, ihn beiseite zu schaffen«, erwiderte er grimmig, »und sie werden vielleicht noch Erfolg haben.«

 

»Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat«, rief sie verzweifelt. »Das klingt so schrecklich, daß ich es kaum glauben kann –«

 

»Sie müßten doch eigentlich Mrs. Dorban kennengelernt haben. Sie ist zu allem fähig.«

 

Penelope schauderte.

 

»Ich werde Sie jetzt nicht mehr belästigen, Miss Pitt. Wir müssen eben sehen, alles so gut wie möglich zu arrangieren.« Er warf seine Zigarre ins Meer. »Ich bin schon so weit gekommen, daß ich mich über den Fehlschlag meiner Organisation nicht mehr aufrege. Früher war ich der Ingenieur, jetzt bin ich Zuschauer und Fatalist geworden.«

 

Er blieb an der Reling stehen, stützte die Ellenbogen auf das Geländer und schaute düster in das Wasser. Sie stand unentschlossen neben ihm, ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und ihr Herz schlug wild.

 

»Wenn ich nun meine Einwilligung gäbe, Mr. Orford – was würde das für mich bedeuten?« fragte sie heiser.

 

»Ich will Sie nicht drängen.«

 

»Aber bitte, sagen Sie mir doch, in welche Lage ich dadurch kommen würde?«

 

»Sie würden nur Ihren Namen ändern – im übrigen wären Sie so frei, wie Sie jetzt sind, sogar noch unabhängiger, denn Sie würden über viel Geld verfügen. Ich weiß, daß das Ihre Entscheidung nicht beeinflußt, aber ich möchte Ihnen doch den Rat geben, das Geld nicht zu verachten. Es ist ein wesentlicher Faktor in dieser bösen Welt, und es birgt eine große Macht in sich. Es erlaubt Ihnen, sich ganz Ihren Liebhabereien zu widmen.« Das sagte er mit einem so strahlenden Lächeln, daß sie lachen mußte.

 

»Nun gut – ich will es mir überlegen.« Sie runzelte die Stirn. »Nein, ich will es nicht mehr überlegen – ich will Sie meine Entscheidung gleich wissen lassen. Wenn Sie mir in allem Ernst sagen, daß ich Johns Leben dadurch retten kann, werde ich ihn heiraten. Wer wird uns trauen?«

 

»Der Captain«, erwiderte Mr. Orford schnell. »Die Sache kann sehr bald geregelt werden.«

 

Plötzlich fuhr er zusammen und beugte sich hinunter. Dann legte er den Finger auf die Lippen und führte sie von dem Geländer fort. »Sie haben uns wahrscheinlich gehört!«

 

»Wer? Meinen Sie die Dorbans?«

 

Er nickte.

 

»Wir haben uns direkt über ihrem Kabinenfenster unterhalten! Ich fange an, alt zu werden.«

 

Kapitel 18

 

18

 

Cynthia Dorban kniete auf dem Sofa und horchte. Sie hatte fast das ganze Gespräch gehört. Arthur Dorban lag auf seinem Bett, hatte ein Buch auf den Knien und eine Zigarette im Mund. Er beobachtete seine Frau, ohne zu wissen, worauf sie lauschte.

 

»Nun?« fragte er schließlich, als sie sich erhob.

 

»Sie will ihn heiraten!« rief Cynthia erregt. »Ich habe dir ja vorausgesagt, was Orford tun würde.«

 

Arthur legte seine Zigarette sorgfältig weg und stand auf.

 

»Wann wird das geschehen?« fragte er ruhig.

 

»Heute, morgen – woher soll ich das wissen?« fuhr sie ihn an.

 

Er schlüpfte in seinen Rock, öffnete die Kabinentür und schaute den Gang entlang. Die nächsten Kabinen bewohnten der Schiffsarzt und Bobby. Auf der anderen Seite waren Mr. Orford und der Chefingenieur untergebracht. Die Kabine des Kapitäns lag der ihrigen gerade gegenüber, er schlief aber gewöhnlich oben im Kartenzimmer hinter der Kommandobrücke.

 

Arthur Dorban versuchte die Kapitänskabine zu öffnen, aber sie war, wie gewöhnlich, verschlossen.

 

»Geh schnell zur Treppe und paß auf, ob jemand kommt!«

 

»Was hast du denn vor?« fragte Cynthia. »Du weißt doch, daß wir nicht an Deck gehen dürfen.«

 

»Halt jetzt den Mund und tu, was ich dir sage«, fuhr er sie unwirsch an. Sie folgte ihm, ohne noch eine Frage zu stellen.

 

Er ging in die Kabine zurück, holte einen Bund Schlüssel aus seinem Koffer und probierte einen nach dem andern an der Tür. Er hatte nur wenig Zeit, denn jeden Augenblick konnte jemand von der Schiffsbesatzung vorbeikommen und ihn entdecken.

 

Als von Hause aus träger Charakter hatte er gehofft, daß es sich vermeiden ließe, Gewaltmaßnahmen zu ergreifen, oder daß er wenigstens noch mehr Zeit hätte. Aber nun erkannte er plötzlich den Ernst der Lage und übersah die Folgen, die Penelopes Zustimmung mit sich brachte.

 

Keiner der Schlüssel paßte. Im Gang hing ein Glaskasten, in dem für Feuersgefahr und andere Unglücksfälle eine Axt aufbewahrt wurde. Der Kasten war nicht verschlossen. Arthur nahm die Axt heraus, trat einen Schritt zurück und ließ sie mit voller Wucht auf das Schloß fallen. Dann klemmte er die Schneide zwischen die Tür und den Rahmen und brach das Schloß auf.

 

Er schaute sich schnell um – es war niemand in Sicht, und es war auch nicht anzunehmen, daß jemand den Lärm gehört hatte. Alle schienen oben an Deck zu sein, und das Geräusch der Maschinen hatte den Schall sicherlich überdeckt.

 

Die Kapitänskabine war sehr groß. Ein Schreibtisch, eine Messingbettstelle und ein großer Schrank standen darin. Er zog die Schreibtischschubladen nacheinander auf und fand gleich in der ersten, was er suchte – ein paar Schnellfeuerpistolen und ein paar Schachteln Patronen. Er vermutete, daß sich irgendwo noch eine Kiste mit Waffen befand. Der Gedanke kam ihm, während er die Schachteln aufmachte und die Pistolen lud. Er suchte die Kabine ab und entdeckte tatsächlich unter dem Bett eine flache, schwarzlackierte unverschlossene Kiste, in der ein halbes Dutzend schwere Armeerevolver, zwei Gewehre, fünfzig Schachteln Munition und ein halbes Dutzend Handschellen lagen. Er trug alles in seine Kabine. Cynthia hielt noch am anderen Ende des Ganges Wache, und er winkte sie zu sich.

 

»Hol schnell Hollin her!«

 

Sie hatte ihn eben an der Treppe gesehen, wo er die Messingbeschläge putzte, denn nach seinem Ausflug nach Vigo war seine Stellung an Bord eine andere geworden, und er mußte jetzt wie ein gewöhnlicher Matrose arbeiten. Sie eilte hin und rief ihn herunter. In demselben Augenblick erschien auch der Captain oben.

 

»Wo wollen Sie hin?« fragte er.

 

»Schnell!« rief Cynthia, und Hollin gehorchte.

 

Trotz seines Alters war der Captain sehr behende, und er lief rasch hinter ihm den Gang entlang. Aber plötzlich blieb er stehen: Mr. Dorban hatte die Pistole auf ihn gerichtet.

 

»Wenn Sie rufen, schieße ich Sie nieder«, sagte Arthur. »Gehen Sie hier hinein!« Er zeigte auf die Kapitänskabine.

 

»Was haben Sie gemacht?« fragte der alte Mann vorwurfsvoll.

 

Neben der Kabine lag ein kleiner Baderaum, in den der Captain eingeschlossen wurde.

 

»Was ist denn los?« fragte Hollin, der die veränderte Situation nicht gleich begriffen hatte.

 

»Nehmen Sie das«, sagte Dorban und gab ihm ein Gewehr. »Cynthia, du bleibst hier und bewachst den Captain.«

 

Er eilte die Treppe zum Deck hinauf. Hollin folgte ihm etwas verstört, er fühlte sich nicht recht wohl.

 

Mr. Orford sprach gerade mit Penelope, als Arthur erschien.

 

»Was wollen Sie? Sie sollen doch unten in Ihrer Kabine bleiben!«

 

Plötzlich sah er die Pistole in Arthurs Hand.

 

»Bei dem geringsten Laut sind Sie ein toter Mann!« drohte Mr. Dorban. »Bewachen Sie diese beiden, Hollin, bis ich mit den Leuten oben fertig bin!«

 

Auf dem Bootsdeck befanden sich nur ein Matrose und der Steuermann. Dorban wußte, daß er den Leuten der Besatzung keine große Beachtung zu schenken brauchte. Die einzigen Waffen an Bord waren nun in seinem Besitz, höchstens Bobby und John konnten noch Waffen bei sich führen. Aber er hatte Glück, denn er fand die beiden auf der Kommandobrücke im Gespräch mit dem Zweiten Offizier.

 

»Hände hoch!«

 

John wandte sich schnell um und sah sich von der Mündung einer Pistole bedroht.

 

»Es ist nicht notwendig, Ihnen ausdrücklich zu erklären, daß ich dem Gesetz nach berechtigt bin, jeden von Ihnen sofort niederzuschießen. Drehen Sie sich um!«

 

John gehorchte; er ahnte, was geschehen war, und wußte, daß im Augenblick jeder Widerstand nur zu schweren Zusammenstößen führen würde. Dorban legte ihm und Bobby Handfesseln an.

 

»Nun, mein Herr«, wandte er sich an den Offizier. »Sie wissen, daß Sie jetzt in einer sehr ernsten Lage sind. Ich habe den Captain verhaftet, und Sie können den Folgen Ihrer ungesetzlichen Handlung nur entgehen, wenn Sie meine Anordnungen befolgen.«

 

Der Offizier war ein großer, hagerer Mann mit verbissenem Gesichtsausdruck. »Was verlangen Sie von mir?« fragte er.

 

»Sie werden das Schiff nach England zurücksteuern!«

 

»Das können Sie selbst tun«, sagte der Offizier. »Sie machen sich hier der Seeräuberei schuldig, und wenn die Sache böse Folgen hat, dann haben Sie das selbst zu verantworten.« Er stellte den Maschinentelegrafen auf ›Stop‹ und ging an Arthur vorbei nach hinten in seine Kabine.

 

Arthur war wütend über diesen Mißerfolg. Aber es blieb ja noch der Steuermann. Nachdem er seine Gefangenen unten eingeschlossen hatte, kehrte er nach oben zurück und hatte eine lange Unterredung mit dem Mann, in deren Verlauf er ihn überredete, seinen Anweisungen zu folgen.

 

Als er wieder hinunterkam, fand er seine Frau an Deck. Hollin stand neben ihr. Er hatte sich gleich über den Whisky hergemacht, war begeistert und sah das Leben im Augenblick von der rosigsten Seite an.

 

»Ich habe den Steuermann bestimmt, nach Cadiz zu fahren«, sagte Arthur. »Die Ingenieure und Heizer haben sich ebenfalls bereit erklärt, auf ihrem Posten zu bleiben. Auf diese Weise können wir alles zu unseren Gunsten wenden.«

 

»Und was wird aus dem Mädchen?« fragte Cynthia.

 

Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist in ihrer Kabine.«

 

»Bist du denn so dumm, sie auch nach Cadiz mitzunehmen? Denk doch daran, daß sie die Banknoten und die Radierungen gesehen hat! Denk daran, daß ich versucht habe, sie zu ertränken!«

 

»Wer wird denn ihren Aussagen Glauben schenken?« fragte er eigensinnig. Aber sie kannte ihn zu gut, um nicht zu wissen, daß er sich sehr unbehaglich fühlte. »Sie kann keinen Zeugen beibringen, der ihre eventuellen Anklagen bestätigt, und die Tatsache, daß sie mit diesem Mann zusammen ist, genügt schon, um sie selbst verdächtig zu machen.«

 

Cynthia schien sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben, aber Arthur Dorban ließ sich nicht täuschen.

 

»Ich kann mich unmöglich jetzt auch noch damit befassen«, erklärte er. »Ich habe gerade genug zu tun, um Herr der Situation zu bleiben. Hollin, gehen Sie nach vorne und bewachen Sie die Quartiere der Mannschaft. Ich will auf die Brücke gehen und mich vergewissern, daß der Steuermann mich nicht betrügt. In ein paar Stunden werden wir ein Kriegsschiff treffen. Der Steuermann sagte mir, daß man solchen Schiffen hier häufig begegnet. Wir sind nur dreihundert Meilen von Gibraltar entfernt.«

 

Bobby und John saßen in Bobbys Kabine und besprachen die Lage. Sie saßen zusammen, weil sie mit den Handschellen aneinandergefesselt waren.

 

»Ich glaube, wir können dies ruhig als das Ende unseres Abenteuers ansehen«, sagte John mit unnatürlicher Ruhe. »Es tut mir furchtbar leid, und ich kann es mir nie vergeben, daß ich dich in diese furchtbare Lage gebracht habe, Bobby.«

 

»Und ich bin noch trauriger, daß es mir nicht gelungen ist, dich vollständig zu befreien«, erwiderte Bobby bitter. »Es war doch zu unvorsichtig, daß wir nicht daran dachten, wie leicht uns diese Leute übertölpeln konnten.«

 

John schaute auf den Teppich.

 

»Ich möchte nur wissen, was sie mit Miss Pitt gemacht haben.«

 

»Sie ist in ihrer Kabine. Er sagte es zu Hollin, als sie eben an unserer Tür vorbeikamen. Was werden sie wohl unternehmen?«

 

»Wahrscheinlich laufen sie den nächsten Hafen an und übergeben uns der Polizei. Wenn uns der nette alte Xenocrates aus dieser Patsche heraushilft, dann werde ich ihm ein silbernes Denkmal setzten.«

 

»Du kannst es auch aus Gold anfertigen lassen«, meinte Bobby traurig, »es ist eines so schön wie das andere. Wo ist er eigentlich geblieben?«

 

»Er ist in der nächsten Kabine, die dem Schiffsarzt gehört.« John stand auf und klopfte an die Wand. Sofort wurde ihm geantwortet. »Ja, er ist dort.«

 

Bobby schaute auf seine Handschellen und versuchte schon zum soundsovielten Male, seine Hand durchzuzwängen.

 

»Es hat alles keinen Zweck«, stöhnte er. »Es ist einfach schrecklich, wenn man bedenkt, daß zwei Leute das ganze Schiff überrumpelt haben!«

 

»Hollin ist doch auch mit ihnen im Bunde.«

 

»Ich hatte gar nicht an ihn gedacht. Sicher ist Cynthia Dorban der leitende Kopf.« Plötzlich hielt er inne, und Bobby sah, daß seine Augen glänzten. »Ich habe eine gute Idee«, sagte er leise, und ohne eine nähere Erklärung abzugeben, trat er heftig mit dem Fuß gegen die Kabinentür. Sofort erklang Cynthias scharfe Stimme.

 

»Was wollen Sie?«

 

»Bekommen wir denn nichts zu essen? Haben Sie die Absicht, uns verhungern zu lassen?« fragte John.

 

»Wenn Sie etwas zu essen haben wollen, müssen Sie es sich schon selbst holen«, erwiderte Cynthia, schloß die Tür auf und erschien mit der Pistole in der Hand. »Gehen Sie in die Küche und holen Sie sich so viel, daß es für zwei Tage reicht. Dann werden ja wohl die spanischen Behörden für Sie sorgen.«

 

Bobby hatte durchaus keinen Hunger; schon der Gedanke an Essen war ihm widerwärtig, und er wunderte sich, daß John in einem solchen Augenblick Appetit haben konnte. »Lassen Sie es sich nicht einfallen, mir einen Streich spielen zu wollen«, drohte Cynthia, während sie ihnen folgte.

 

»Dann wollen Sie uns natürlich niederschießen – das glaube ich Ihnen«, erwiderte John. »Wenn wir es mit dem sanften Slico zu tun hätten, wäre es etwas anderes.«

 

Sie gingen in den Anrichteraum, der hinter der Küche lag. Es war niemand dort.

 

»Beeilen Sie sich etwas«, sagte Cynthia, die draußen auf dem Gang stehengeblieben war und die Tür genau beobachtete.

 

John führte Bobby in einen kleinen, dunklen Raum, in dem die Vorräte aufbewahrt wurden. Er machte keinen Versuch, den Eisschrank zu öffnen, sondern fühlte mit der Hand die Wand entlang, bis er ein kleines Schaltbrett fand. Es war dunkel, aber er tastete mit den Fingern und zählte die Knöpfe. Als er an den sechsten gekommen war, drückte er ihn schnell herunter und nahm einen Hörer auf.

 

»Singe, so laut du kannst«, flüsterte er Bobby zu. »Willst du wohl singen?«

 

Plötzlich ertönte Bobbys wohlklingende Stimme.

 

»Sind Sie es, Penelope?« fragte John schnell. Ihm war vorhin eingefallen, daß eine telefonische Verbindung zwischen der Anrichte und den großen Kabinen bestand.

 

»Ja, wo sind Sie?«

 

»Das ist gleichgültig. Sie kennen doch Bobbys Kabine – sie liegt direkt unter dem roten Ventilator. Können Sie sich irgendwelche Schußwaffen beschaffen, irgendeine Pistole, die Sie so über die Reling herunterlassen, daß sie vor unserem Kabinenfenster hängt und wir sie von da aus erreichen können?«

 

»Ich darf ja meine Kabine nicht verlassen!«

 

»Bitte, versuchen Sie es unter allen Umständen!«

 

»Was machen Sie denn da drinnen?« fragte Cynthia scharf. »Kommen Sie sofort heraus!«

 

John hängte schnell den Hörer an, nahm ein großes Brot und folgte Bobby.

 

»Ich habe gehört, daß Sie mit jemandem gesprochen haben – wer war das?«

 

»Ich habe mich mit meiner Lieblingsfrau unterhalten«, erwiderte John kühl. »Finden Sie nicht, daß Stamford Mills sehr schön singen kann?«

 

»Was haben Sie gemacht?« fragte Cynthia argwöhnisch. Arthur kam vorbei, und sie rief ihn an.

 

»Du bist verrückt, daß du die beiden herausgelassen hast«, sagte er zu ihr, nachdem John und Bobby wieder in ihrer Kabine eingeschlossen waren. »Es wäre doch eine Kleinigkeit gewesen, ihnen das Essen bringen zu lassen. Hollin ist doch auch noch da. Dem Mädchen muß erlaubt werden, an Deck zu gehen, ich kann sie nicht die ganze Zeit einsperren.«

 

»Warum denn nicht? Ist es etwa für sie schlimmer als für uns?«

 

Er füllte sein Zigarettenetui von dem Vorrat, den er in der Kapitänskabine gefunden hatte. Dann wandte er sich wieder an seine Frau. »In den nächsten vierundzwanzig Stunden kann viel passieren. Ich bitte dich, Cynthia, mir zu helfen, daß nichts geschieht, was ich später bereuen könnte.«

 

Sie erbleichte, obwohl sie mutig war. Plötzlich taten sich unergründliche Tiefen in Slicos Charakter auf, die sie bisher nur dunkel geahnt hatte.

 

»Ich habe nicht die Absicht, dieses Mädchen irgendwie zu kränken«, fuhr er fort. »Wenn es aber dazu käme, dann würdest du mir sehr im Wege stehen. Das ist dir doch klar?«

 

Sie nickte und zitterte an allen Gliedern. Sie wußte, was er sagen wollte, aber sie hatte niemals daran gedacht, daß er ihr so gegenübertreten würde.

 

»Als du Penelope umbringen wolltest, habe ich dir freie Hand gelassen, weil ich beabsichtigte, ein für allemal aufzuräumen. Wärst du zurückgekommen und hättest mir die Nachricht von ihrem Tod gebracht, so hättest auch du den nächsten Morgen nicht mehr erlebt. Willst du, bitte, immer daran denken, Cynthia?«

 

Seine sonst so sanfte Stimme klang drohend.

 

»Das wirst du doch nicht tun!« stieß sie atemlos hervor. »Es geschah doch alles nur für dich!«

 

Er ging lächelnd aus der Kabine. Cynthia aber fiel schwer auf das Sofa nieder.

 

Kapitel 19

 

19

 

»Sie können ruhig an Deck gehen, Miss Pitt«, sagte Arthur Dorban liebenswürdig. »Aber es ist Ihnen natürlich nicht gestattet, mit irgendeinem der Leute in Verbindung zu treten, die ich leider habe einsperren müssen. Ich bin sicher, daß Sie nicht wußten, was Sie taten; sonst hätten Sie diese Schurken nicht unterstützt, die sich nur dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen suchten.«

 

Er stand, vor der Tür und machte keinen Versuch hineinzugehen. Seine Haltung war sehr höflich.

 

»Ich verspreche Ihnen, daß Sie weder von mir noch von einem anderen gestört werden sollen«, setzte er nachdrücklich hinzu.

 

Sie nickte dankbar, und er verließ sie wieder.

 

Sie ging an Deck auf und ab und versuchte ihre Fassung wiederzuerlangen. Allmählich gelang es ihr auch. Hollin saß oben auf der Treppe. Er hatte seinen Pistolengürtel umgeschnallt, und auf seinen Knien lag ein Gewehr. Zu seinem Erstaunen redete sie ihn an.

 

»Sie haben nichts zu befürchten, Miss«, sagte er, denn in gewisser Beziehung fühlte er sich selbst in nüchternen Augenblicken als Kavalier. »Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen niemand zu nahetritt.«

 

»Wissen Sie, wohin wir fahren?«

 

»Habe nicht die geringste Ahnung. Der Chef sagt, daß wir einen spanischen Hafen anlaufen. Er wird alles für mich regeln. Immerhin werden mehrere tausend Pfund für mich dabei abfallen.«

 

Sie fragte ihn nicht weiter, welche Versprechungen Arthur Dorban ihm gemacht hatte, und ging wieder fort. Bei dem roten Ventilator blieb sie stehen und lehnte sich über die Reling. Sie konnte Bobbys Kabinenfenster sehen. Ihr Herz schlug schnell, und sie eilte wieder zu ihrer eigenen Kabine, um alle Schubladen nach den Gegenständen zu durchsuchen, die sie brauchte. Im Schreibtisch fand sie eine Rolle Bindfaden, schnitt mehrere Stücke davon ab und machte eine Schlinge an das Ende. Sie hatte sich nun einen Plan zurechtgelegt, wie sie vorgehen wollte.

 

Sie ging wieder zu Hollin zurück, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Er blieb auf dem Fußboden sitzen, schaute zu ihr auf und grinste.

 

»Ich bin hier auf Posten«, rühmte er sich. »Die ganze Mannschaft ist dort unten.« Er zeigte hinunter, wo mehrere Leute mit nicht gerade sehr vergnügten Gesichtern an der Reling standen, rauchten und leise miteinander sprachen. Einer wandte sich um und schaute düster zu ihm hinauf. »Wenn sie frech werden, weiß ich, was ich zu tun habe.«

 

»Das glaube ich auch«, sagte sie stockend. Aber er legte ihre Erregung anders aus.

 

»Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben, ich schieße nur, wenn es absolut notwendig ist. Ich bin im Grunde ein sehr gutherziger Mensch, jeder kann alles von mir haben.« Er sah sie wieder an. »Besonders wenn mich Frauen um etwas bitten …«

 

Als er dann wieder schmunzelnd auf das Vorderdeck hinunterschaute, führte sie ihr Vorhaben aus und hatte vollen Erfolg. Ihr Herz stand fast still, als sie die hintere Pistole aus seinem Gürtel zog. Er merkte es nicht, weil der Gürtel hinten auflag und er deshalb den Gewichtsunterschied nicht wahrnehmen konnte.

 

Plötzlich erhob sie sich mit einer Entschuldigung und ging wieder nach hinten. Ihre Knie zitterten. Mit bebenden Fingern befestigte sie die Schnur am Pistolengriff, und als sie an den roten Ventilator kam, ließ sie den Bindfaden nach unten hängen. Es dünkte ihr fast eine Ewigkeit, bis sich eine Hand aus dem Fenster streckte und die Waffe nach innen zog. Sie war einer Ohnmacht nahe und mußte sich am Geländer festhalten.

 

Nach einer Weile ging sie wieder zu Mr. Hollin. Er wandte sich nach ihr um, aber glücklicherweise hatte er nichts von alledem bemerkt, was sie eben getan hatte.

 

»Sie fühlen sich wohl ein wenig seekrank?« fragte er so stolz wie jemand, der nicht unter diesem Übel zu leiden hat. »Sie sehen so blaß wie der Tod aus, mein Fräulein. Setzen Sie sich doch wieder!«

 

»Ja, das will ich tun«, erwiderte Penelope.

 

»Nehmen Sie einen guten Rat von mir an. Lassen Sie sich nicht mit diesem John ein; das ist ein Verbrecher, ein ganz gemeiner Kerl, der seinen besten Freund verrät. Er war gerade im Begriff, das auch mit mir zu machen. Er wollte mich in einem offenen Boot auf dem Meer aussetzen, und vorher hat er mir doch versprochen, mich nach Südamerika mitzunehmen. Und ich sollte so viel Geld bekommen, daß ich mein ganzes Leben lang von den Zinsen leben könnte. Was halten Sie von einer solchen Gemeinheit?«

 

»Ich glaube nicht, daß er so etwas getan hätte.«

 

»Sie glauben es nicht?« fuhr Hollin böse auf. »Da sieht man mal, wie wenig Sie von ihm wissen. Ich kann Ihnen nur sagen – aber was ist denn das?« Er war mit der Hand an das leere Pistolenfutteral gekommen. »Nun machen Sie keine Tricks mit mir, mein Fräulein! Wo ist die Pistole?«

 

»Was für eine Pistole?« fragte Penelope, und es gelang ihr, Erstaunen zu heucheln.

 

»Ich möchte einen Eid darauf leisten, daß ich sie in meinen Gurt gesteckt habe!«

 

Er schaute sie argwöhnisch an, aber er sah ganz deutlich, daß sie keine Waffe von der Größe verstecken konnte. Er wandte sich wieder um.

 

»Ich habe sie doch bestimmt in meinen Gürtel gesteckt! Aber vielleicht täusche ich mich auch.«

 

»Haben Sie etwas verloren?« fragte sie unschuldig.

 

Aber in diesem Augenblick fielen mehrere Schüsse. Hollin eilte die Treppe hinunter.

 

Arthur und Cynthia unterhielten sich gerade darüber, welchen Weg sie von Cadiz aus nehmen wollten, als sie ein dröhnendes Geräusch hörten. Jemand trat heftig mit dem Fuß gegen die Tür, und sie konnten leicht feststellen, woher der Lärm kam.

 

»Wenn Sie beide nicht ruhig sind, dann werde ich Sie an Händen und Füßen fesseln«, drohte Arthur, aber er sprang hastig zur Seite, als eine der Türfüllungen splitterte und die Tür aufflog. Er zog sofort seinen Revolver und schoß, ohne zu zielen. Aber sein Schuß und der andere klangen wie einer, und er fiel zu Boden.

 

Cynthia gab den dritten Schuß ab, aber ihre Hand zitterte, und die Kugel verfehlte ihr Ziel. Im nächsten Augenblick ergriff John sie an der Schulter und übergab sie Bobby, der sie entwaffnete.

 

»Schnell in die Kabine mit ihr!« rief er.

 

Sie stießen sie in die Kabine, die sie eben verlassen hatten. John fand den Schlüssel zu den Handschellen auf Mr. Dorbans Kabinentisch, wo auch Schachteln mit Munition standen. Gleich darauf waren sie wieder frei. John kam gerade zur rechten Zeit, um dem wütenden Hollin in den Weg zu treten, der den Gang entlanglief. Mit philosophischer Ruhe ergab sich der Mann in die veränderte Situation, als ihm die Waffen abgenommen wurden.

 

»Wo ist Dorban?« fragte Bobby.

 

»Ich werde nach ihm suchen. Bewache du so lange die beiden, Bobby.«

 

John öffnete schnell die Kabinen, in denen der Captain und Mr. Orford eingeschlossen waren, und eilte dann nach oben. Arthur Dorban war nirgends zu sehen, auch auf dem Bootsdeck war er nicht zu entdecken. Nur die beiden Steuermannsmaate hielten sich auf der Kommandobrücke auf. Zwischen den beiden Schornsteinen auf dem rechten Achterdeck erhob sich eine kleine Kabine, in der die Funkstation untergebracht war. Instinktiv eilte John dorthin und fand dort auch Dorban, der eben hinaushinkte, als John zur Tür kam.

 

»Sie kommen zu spät, mein Freund. Ich habe Ihren Funker veranlaßt, eine Botschaft abzusenden, die sehr unangenehme Folgen für Sie haben wird.«

 

John stieß ihn beiseite und ging hinein.

 

»Sie ist schon abgegangen«, sagte der Mann. »Er hat gedroht, mich zu erschießen, wenn ich ihm nicht gehorchte.«

 

»Wie lautete der Spruch?«

 

»Ich habe dem Kriegsschiff mitgeteilt, daß Sie an Bord sind.«

 

»Welchem Kriegsschiff?«

 

Er eilte an Deck und beschattete die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können. Der Funker zeigte auf eine schwere graue Wolke am Horizont; es war schwer, die Umrißlinien des ebenfalls grauen Kriegsschiffes davon zu unterscheiden.

 

Sie gingen wieder zurück.

 

»Wir bekommen jetzt Antwort«, sagte der Funker, als er wieder an seinem Gerät saß.

 

»Was funken sie?« fragte John.

 

»Drehen Sie hart nach Backbord bei und halten Sie eine Meile von uns entfernt. Wir kommen an Bord.«

 

Der Captain stand am Steuer, als John auf die Brücke trat. Er sah eben noch, wie Dorban von zwei Matrosen gefesselt und die Treppe hinuntergebracht wurde. John erklärte in einigen Worten die Lage.

 

»Wir werden ihm aus dem Wege fahren«, sagte der Captain. »Das Schiff gehört zur Mynthic-Klasse; die fahren so langsam, daß sie uns nicht überholen können.«

 

Er gab schnell seine Befehle, und die ›Polyantha‹ legte sich zur Seite, als sie eine vollständige Wendung machte und in entgegengesetzter Richtung weiterfuhr. Als sie kaum eine halbe Meile weit waren, kam eine neue drahtlose Nachricht. Der Captain brummte, als er sie las.

 

»Sie wollen das Feuer auf uns eröffnen, wenn wir nicht sofort stoppen.«

 

Er telefonierte zum Maschinenraum.

 

»Holen Sie aus den Maschinen heraus, was Sie können, Mackenzie! Wir müssen einen Rekord machen!«

 

Kaum hatte er das gesagt, als eine Rauchwolke von dem Kriegsschiff emporstieg. Sie hörten das Donnern des Geschützes, und gleich darauf erhob sich eine Wassersäule an der Stelle, wo das Geschoß eingeschlagen hatte. Die zweite Granate kam ihrem Ziel schon näher.

 

»Wir bieten ihnen ein zu großes Ziel. Wenden Sie nach links«, sagte er zu dem Steuermann.

 

Jetzt waren drüben zwei Geschütze in Tätigkeit. John sah die Mündungsfeuer und hörte das Heulen der großen Granaten. Aber sie richteten keinen Schaden an. Das Schiff fuhr mit größter Geschwindigkeit und war bald aus der Feuerzone entkommen. Das Kriegsschiff stellte das Feuer ein. Gleich darauf wurde ein eiliger Kriegsrat im Salon abgehalten. Penelope sah durch ein Deckenlicht hinunter, wie alle um den großen Tisch saßen und eifrig auf den Karten suchten.

 

»Das ist der Augenblick, in dem sich meine Organisation bewährt«, sagte Mr. Orford, der seit langer Zeit wieder einmal vergnügt dreinschaute. »Hier ist der Punkt, Captain.« Er bezeichnete mit dem Bleistift eine Stelle auf der Karte. »Dorthin habe ich einen Tanker beordert. Er wartet auf uns, um uns mit Brennstoff zu versorgen. Ich habe das Tankschiff gechartert, es fährt unter amerikanischer Flagge.«

 

»Ich bin nicht wegen des Brennstoffs beunruhigt«, erwiderte der Captain. »Wir haben noch genug für weitere zehn Tage. Ich habe viel schwerere Sorgen. In vierundzwanzig Stunden werden wir hier von Torpedobootszerstörern angehalten werden. Sie haben außerdem ein Flugzeug in Gibraltar, das sie ausschicken werden; ich sehe nicht, wie wir ihnen entkommen könnten.«

 

»Lassen Sie sie uns doch ruhig anhalten«, meinte Orford. »Das einzige Zeugnis gegen uns sind die beiden Leute, die wir an Bord haben.«

 

»Und Mr. John – und die junge Dame«, verbesserte ihn der Captain.

 

»Sie haben recht«, nickte Mr. Orford. »Aber wenn sie uns eingeholt haben, werden wir nicht mehr an Bord sein.«

 

»Aber wo wollen Sie denn bleiben?« fragte der Captain. »Wir können doch nicht zur spanischen Küste zurückfahren?«

 

»Wir werden einfach an Bord des Tankers gehen und mit ihm nach Boston, Massachusetts, fahren. Niemand wird etwas davon wissen. Den Kapitän kenne ich persönlich, und die Mannschaft werde ich schon irgendwie beruhigen können.«

 

Der Captain biß sich nachdenklich auf die Lippen.

 

»Wenn der Tanker wirklich dort ist –«

 

»Der ist bestimmt dort«, entgegnete Mr. Orford etwas ungehalten. »Ich habe so disponiert.«

 

John ging nach oben, um Penelope die Lage zu erklären.

 

»Ich fürchte, wir können Ihnen an Bord des Tankschiffes nicht dieselben Annehmlichkeiten bieten wie hier, aber Sie haben dann wenigstens ein festes Reiseziel. Wir fahren nach Boston und werden in zehn Tagen dort ankommen. Dann sind alle Schwierigkeiten für Sie zu Ende, und Sie kommen nach allem doch wieder heil nach Kanada zurück!«

 

Sie lächelte ein wenig traurig.

 

»Ich hatte nicht erwartet, auf diese Weise wieder nach Kanada zurückzukommen. Aber solange wir überhaupt noch irgendwo hinkommen –«

 

Sie fühlte sich sehr unzufrieden und wußte eigentlich selbst nicht, warum, bis sie erkannte, daß seine Worte sie verletzt hatten. Er nahm einfach an, daß sie nur wünschte, nach Kanada zurückzukehren. Von dieser phantastischen Heirat, die Mr. Orford plante, erwähnte er überhaupt nichts. Es war so absurd, aber sie hatte doch ihre Einwilligung gegeben. Sie mußte ihre Gedanken erst wieder sammeln.

 

»Es ist eigentlich sehr schade«, gestand sie. Sie hätte sich die Zunge abbeißen können, daß sie das gesagt hatte.

 

Glücklicherweise schien er ihrem Gedankengang jedoch nicht gefolgt zu sein.

 

»Ich werde mich an Bord des Tankers ganz wohl fühlen. Bitte, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich habe die ›Polyantha‹ allerdings sehr liebgewonnen, und es tut mir leid, daß ich sie verlassen muß.«

 

»Trotz der vielen Aufregungen und geheimnisvollen Dinge, die Sie erlebt haben?« fragte er lächelnd.

 

Sie nickte.

 

Die Organisation Mr. Orfords klappte so genau, daß sie morgens um zwei Uhr schon das Tankschiff trafen. Die außerordentlich ruhige See machte es möglich, direkt neben ihm anzulegen.

 

Kapitel 11

 

11

 

Es war ganz dunkel, als Penelope wieder aufwachte. Das Schiff war in Fahrt, aber es brannte kein Licht in ihrer Kabine. Sie langte nach dem elektrischen Schalter, machte Licht und richtete sich auf. Sie fühlte sich merkwürdig leicht im Kopf und hatte nicht die geringsten Schmerzen. Als sie aber aufstand, wankten ihre Knie. Der Arzt hatte also doch recht!

 

»Um Gottes willen!« rief sie laut, als sie sich im Spiegel betrachtete. Ihr ganzes Gesicht, die Stirn, der Hals waren mit roten Flecken bedeckt.

 

Sie mußte schwer krank sein, sie hatte entweder Masern oder Scharlach. Sie legte sich wieder zu Bett.

 

Als sie zum zweitenmal aufwachte, war es heller Tag. Ein leises Klopfen an der Tür hatte sie geweckt.

 

Sie öffnete schnell und huschte zu ihrem Bett zurück.

 

»Setzen Sie das Tablett auf den Boden, John. Kommen Sie bitte nicht näher – ich habe Scharlach!«

 

Die Tür öffnete sich nur ein wenig, und ein sehniger Ann setzte ein Tablett nieder. Dann hörte sie Johns Stimme.

 

»Probieren Sie es einmal mit Wasser und Seife!«

 

»Was sagen Sie da?« fragte sie ungläubig.

 

»Sie müssen sich ordentlich mit Seife waschen«, wiederholte John begütigend. »Das ist das beste Mittel gegen Scharlach. Ich denke schon daran, mir diese Heilmethode patentieren zu lassen.«

 

Er hatte die Tür kaum geschlossen, als sie schon aus dem Bett sprang und in den Baderaum eilte. Mit dem nassen Schwamm rieb sie ihr Gesicht heftig ab, und die Flecken verschwanden tatsächlich.

 

Als sie sich angekleidet hatte, ging sie an Deck. John saß in einer schattigen Ecke und schälte Kartoffeln. Es ist nun eigentlich nicht Brauch, daß solche Arbeiten, die in die Küche gehören, auf dem Promenadendeck einer Jacht vorgenommen werden, das zur Erholung der Gäste reserviert ist. Aber Penelope war nun schon etwas an die sonderbaren Verhältnisse gewöhnt, die auf diesem Schiff herrschten. Wenn sie John auf der Spitze des Schornsteins Champagner trinken gesehen hätte, hätte sie das auch nicht mehr gewundert.

 

John ließ sein Messer sinken, erhob sich und wischte die Hand an seiner Jacke ab.

 

»Das ist zwar gerade nicht sehr schicklich«, sagte er, »aber ich darf kein Taschentuch tragen, um nicht den Neid der übrigen Mannschaft zu erregen.«

 

Sie schaute sich um. Außer einem Matrosen, der hinten an Deck zwei Taue zusammensplißte, war niemand zu sehen.

 

»John, nun sagen Sie mir einmal, wie diese Flecken in mein Gesicht gekommen sind.«

 

»Ein offenes Geständnis erleichtert des Gewissen – ich habe sie Ihnen aufgemalt!«

 

»Sie?« fragte sie atemlos.

 

Er nickte.

 

»Sie hatten doch schon vorher eine Probe meiner künstlerischen Fähigkeiten gesehen. Die Scharlachflecken sahen überzeugend naturgetreu aus. Es war nur schade, daß wir sie Ihnen nicht auch wieder abwaschen konnten, ohne Sie aufzuwecken.«

 

»Ich bin also betäubt worden?«

 

Er zögerte.

 

»Antworten Sie mir doch!« bat sie ihn.

 

»Man hat Ihnen einen Schlaftrunk gegeben, soviel ich weiß«, erwiderte John vorsichtig. »Es geschah ganz gegen meinen Willen, aber Mr. Orford bestand darauf. Wir begegneten nämlich einem englischen Kriegsschiff, das uns den Befehl gab, anzuhalten. Da wir den Aufenthalt der fremden Offiziere bei uns möglichst beschränken wollten, hißten wir die gelbe Flagge, um anzuzeigen, daß wir schwere, ansteckende Krankheiten an Bord hätten – und Sie waren eben der Patient.«

 

»Hatten Sie wirklich keine anderen Gründe?«

 

Er schwieg einen Augenblick.

 

»Vielleicht fürchtete Mr. Orford auch, daß Sie den Leuten unangenehme Dinge über die Heimlichkeit unserer Fahrt sagen würden. Immerhin, es war eine etwas peinliche Angelegenheit, und ich bin froh, daß alles vorüber ist.«

 

Sie konnte nur hilflos den Kopf schütteln.

 

»Ich verstehe die ganze Sache nicht!«

 

»Aber Sie fürchten sich doch nicht vor uns?« fragte er und sah sie forschend an.

 

»Nein – ich ärgere mich nur.«

 

»Dann ist ja alles in Ordnung.« Er schien von einer schweren Sorge befreit zu sein. »Nun will ich Ihnen auch etwas mehr mitteilen. Das Schiff läuft Vigo an. Eine der Maschinen ist nämlich nicht in Ordnung. Ich weiß nicht, was es ist, denn ich bin kein Ingenieur. Aber in zwei bis drei Tagen laufen wir Vigo an, und Sie haben die Möglichkeit, sich Kleider zu kaufen.«

 

»Kann ich denn an Land gehen?«

 

»Ja, unter Bedeckung«, erwiderte er ernst. »Und ich habe es übernommen, Sie zu begleiten. In mancher Beziehung war Ihr Erscheinen an Bord dieses Schiffes wie von der Vorsehung bestimmt. Man könnte es fast ein Wunder nennen. Ich weiß nicht, es ist vielleicht – aber das hängt ganz von Ihnen ab. Sehen Sie, hier kommt der nette Bobby, und ich werde jetzt wieder meine Kartoffeln schälen.«

 

Bobby sah viel vergnügter aus als während der letzten Tage.

 

»Hat John Ihnen schon gebeichtet? Können Sie uns verzeihen, Miss Pitt? Es war schrecklich, daß wir das getan haben. Wir mußten all unsere Überredungskunst aufbieten, um den Doktor zu überzeugen, daß er uns bei diesem niederträchtigen Plan helfen mußte. Er lag uns dauernd in den Ohren, daß er im Entdeckungsfalle sieben Jahre ins Gefängnis gesteckt wird, daß man seinen Namen von der Liste der Ärzte streicht und daß er dann lebenslänglich ruiniert ist.«

 

»Warum hat er es dann überhaupt getan?« fragte Penelope ein wenig kühl.

 

»Weil Dr. Fraser ein Verwandter von uns ist. Sie verzeihen uns doch, Miss Pitt?«

 

»Ich sehe nicht ein, was das ausmachen soll, ob ich Ihnen vergebe oder nicht«, erwiderte sie lächelnd. »Sie hätten es mir doch vorher sagen können. Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, die Rolle eines interessanten Patienten zu spielen.«

 

»Das allein hätte aber nicht genügt«, sagte Bobby ernst. »Sie wissen schon, daß wir nach Vigo fahren?«

 

Sie nickte.

 

»Das hat Ihnen wieder John erzählt – er ist doch ein zu schwatzhafter Kerl. Das tut er bloß, weil …«

 

»Warum tut er das?«

 

»Nun ja, Männer sind eigentlich geborene Klatschbasen«, sagte er ganz unlogisch.

 

Kapitel 12

 

12

 

Als sich die ›Polyantha‹ am frühen Morgen der felsigen, im blauen Nebel verschwimmenden Küste Spaniens näherte, sprang Penelope aus dem Bett, zog sich rasch an und ging an Deck.

 

Sie war erstaunt, auch Mr. Orford schon dort anzutreffen. Da der Morgen kühl war, hatte er einen Wintermantel angezogen und den Kragen hochgeschlagen. Seine Hände steckten in den Taschen, und er schaute düster und unzufrieden zur Küste hinüber.

 

Er fuhr zusammen, als sie ihn ansprach.

 

»Sind Sie schon so früh auf, Miss Pitt?«

 

Sie glaubte zu bemerken, daß er sie böse anschaute, und ihr Argwohn wurde noch vermehrt, als er mit dem Kopf nach dem Lande hinwies.

 

»Das ist nun so Ihre Idee«, sagte er vorwurfsvoll.

 

»Meine Idee? Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Mr. Orford.«

 

»Wenn sich erst Gefühle in eine gute Organisation mischen, geht die Organisation zum Teufel«, erwiderte er bitter. »Ich dachte, Sie seien die Ursache, daß wir nach Vigo fahren, aber vielleicht irre ich mich auch.«

 

Sie sah ihn verwundert an, ohne ihn zu verstehen.

 

»Daß wir in Vigo anlegen, ist die größte Verrücktheit«, sagte er dann wieder und zuckte die Schultern. »Ich habe es schon erlebt, daß Leute wegen geringerer Anlässe ins Irrenhaus gesperrt wurden.«

 

»Ich dachte, die Maschinen seien nicht in Ordnung?« begann sie.

 

»Die Maschinen nicht in Ordnung?« fuhr er auf. »An Bord der ›Polyantha‹ ist nichts in Unordnung – merken Sie sich das! Die ›Polyantha‹ war niemals mehr auf der Höhe. Aber in dem verrückten Hirn dieses Jungen stimmt etwas nicht«, sagte er hitzig. »Man quält sich sechs Monate lang ab, eine Sache aufs glänzendste zu organisieren, und dann –« Er sah sie scharf unter seinen buschigen Augenbrauen an. »Vielleicht können Sie auch wirklich nichts dafür.« Er wandte sich plötzlich ab und ging weiter.

 

Und sie hatte ihm doch gerade heute morgen die ganze Wahrheit über Cynthia Dorban mitteilen wollen. Sie war aufgewacht und hatte an Borcombe, an Stone House und den geheimnisvollen Koffer denken müssen und hatte beschlossen, Mr. Orford ins Vertrauen zu ziehen. Aber er schien nicht in der Stimmung zu sein, sich etwas erzählen zu lassen.

 

Um neun Uhr lief die ›Polyantha‹ in den Hafen von Vigo ein. Die Stadt lag im Morgensonnenschein, und sie bot einen imponierenden Anblick. Im Hintergrund erhoben sich die Berge. Bei näherer Besichtigung sollte sie ihr später weniger anziehend erscheinen.

 

Ein kleines Motorboot wurde hinuntergelassen, und John half Penelope beim Einsteigen. Er hatte sich fein herausgeputzt, trug einen neuen, dunkelblauen Matrosenanzug und eine Mütze mit einem schwarzen Seidenband, auf dem in goldenen Buchstaben ›Polyantha‹ stand.

 

*

 

Sie hatten die Zollschranken passiert und gingen durch eine enge Gasse zur Hauptstraße.

 

»Warum haben Sie mir eigentlich gesagt, daß die Schiffsmaschinen repariert werden müßten?« fragte sie ihn plötzlich.

 

»Müssen sie denn nicht repariert werden?« erwiderte er mit geheucheltem Erstaunen.

 

»Sie wußten doch ganz genau, daß das nicht notwendig war. Sie stecken mit Mr. Mills unter einer Decke. Warum haben Sie die ›Polyantha‹ nach Vigo fahren lassen? Mr. Orford dachte zuerst, ich sei daran schuld.«

 

»Ich glaube, Sie tun dem armen Bobby unrecht. Er hat einen ganz besonderen Grund, Vigo anzulaufen, wenn die Geschichte mit den Maschinen nicht wahr sein sollte. Hier ist übrigens die Hauptstraße.« Mit diesen Worten schnitt er das Thema ab. »Hier können Sie alles kaufen, was Sie brauchen.«

 

Plötzlich kam ihr zum Bewußtsein, daß sie kein Geld bei sich hatte, und sie lachte.

 

»Unglücklicherweise kennen mich die Geschäftsleute hier so wenig, daß sie mir keine Kleider auf Kredit geben werden«, sagte sie trocken.

 

»Haben Sie kein Geld?« fragte er schnell. »Aber natürlich, Sie können ja unmöglich Geld haben!« Er zog eine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Dutzend spanische Banknoten. »Mr. Mills gab mir das mit, falls Sie irgend etwas brauchten.«

 

Sie zögerte, bevor sie die Scheine nahm.

 

»Eine von diesen Banknoten ist reichlich genug. Wieviel sind denn eigentlich tausend Pesetas wert?«

 

»Roh gerechnet vierzig Pfund, und vierzig Pfund sind zweihundert Dollar. Ich werde dort an der Ecke warten, bis Sie wiederkommen. Drüben bei Manuel finden Sie die besten Kleider und alles, was Damen sonst noch nötig haben. Aber wenn Sie dieses Geschäft nicht befriedigt, haben wir noch einen anderen netten Laden um die Ecke, der Kathedrale gegenüber.«

 

Es war jetzt keine Zeit, ihm zu widersprechen. Sie ging zu Manuel und machte ihre Einkäufe. Sie war erstaunt, wieviel Dinge sie kaufen mußte, und noch erstaunter, daß sie die Notwendigkeit ihrer Anschaffung erst bei ihrem Anblick erkannte.

 

Sie kaufte zwei billige Kleider und verschiedene andere Sachen. Als sie wieder aus dem Laden trat, wartete John noch geduldig neben einer Droschke, die er offenbar inzwischen gemietet hatte.

 

Er nahm ihr die Pakete ab und brachte sie im Wagen unter.

 

»Ich fürchte, ich habe zuviel Geld ausgegeben«, begann sie, aber er schüttelte den Kopf.

 

»Bobby erwartet es nicht anders – außerdem sind tausend Pesetas keine tragische Summe.« Er sah sie nachdenklich an. »Würden Sie mich auf einer kleinen Fahrt begleiten?« fragte er dann. »Ich habe nämlich einen Besuch zu machen.«

 

»Sie kennen Vigo anscheinend sehr gut?«

 

»Ja, ich kenne mich hier leidlich aus. Ich möchte jetzt –«, er zögerte, »zum Friedhof fahren. Haben Sie etwas dagegen, Miss Pitt?«

 

»Nicht das geringste«, entgegnete sie schnell.

 

Sie wunderte sich über nichts mehr. Wahrscheinlich lag einer seiner Freunde in dieser weltverlassenen Stadt begraben. Aber sicherlich hatte die ›Polyantha‹ Vigo nicht angelaufen, weil der Steward John einer sentimentalen Pflicht genügen wollte.

 

Als sie durch die Straßen fuhren, zeigte er ihr verschiedene interessante Gebäude.

 

»Vigo hat nicht gerade besonders viele historische Bauten. Die meisten Kathedralen in diesem Teil des Landes sind durch Erdbeben zerstört und in einem abscheulich modernen Stil wiederaufgebaut worden.«

 

Er erzählte ihr auch, daß irgendwo auf dem Meeresboden im Hafen von Vigo eine große Menge Silber liege, die mehr als eine Million Pfund wert sei; vor langer Zeit habe ein englischer Admiral hier nämlich die spanische Silberflotte überrascht und die Hälfte der Schiffe versenkt, während die restlichen Schiffe gekapert wurden.

 

Schließlich kamen sie zu dem Friedhof, der in den Außenbezirken der Stadt lag. Es war ein großer, verlassener viereckiger Platz mit häßlichen eisernen Kreuzen und geschmacklosen Metallkränzen; umgeben war er von einer sehr hohen Mauer.

 

Ein alter Kirchhofwärter kam auf sie zu und schaute sie neugierig an. John redete ihn in fließendem Spanisch an, und der alte Mann führte sie einen schmalen Pfad entlang. Sie kamen zu einer Anlage, die von dem anderen Teil des Friedhofs durch ein Gitter abgetrennt war.

 

»Dies ist der englische Kirchhof, Miss Pitt«, erklärte John. »Aber es liegen hier mehr Amerikaner als Engländer begraben.«

 

Die kleine Anlage war sehr sorgfältig gehalten. Penelope sah überall Blumen. Die Kreuze und Grabsteine waren einfacher als auf dem spanischen Friedhof.

 

»Wollen Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen«, sagte John leise. Der Ausdruck seines Gesichtes hatte sich vollkommen verändert.

 

Sie wußte, daß er allein zu sein wünschte, und trat einige Schritte beiseite. Sie sah, wie er zu einem Grab ging, auf dem nur ein glatter Stein stand. Er beugte sich nieder, pflückte das vertrocknete Blatt eines Rosenstrauches ab und stand dann barhäuptig und unbeweglich am Fuß des Grabes. Er hielt den Kopf gesenkt, und sein Blick war zur Erde gerichtet.

 

Plötzlich schaute er wieder auf und winkte Penelope.

 

»Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, Sie hierherzuführen«, sagte er. »Es ist das Grab meiner Mutter.«

 

Sie sah auf den Stein und las:

 

Mary Tyson –

 

das nächste Wort war schon unleserlich –

 

im Alter von 46 Jahren.

 

Dritte Tochter des Lord John Medway.

 

Er beugte sich nieder, pflückte eine Rose und legte sie behutsam auf den Rasen, der den Grabhügel bedeckte. Dann faßte er schweigend ihren Arm und führte sie zurück.

 

Erst als sie wieder in der Stadt waren, gab er ihr eine Erklärung. »Wir haben viele Jahre in dieser Stadt gelebt. Mein Vater war arm, aber er fühlte sich in dem Klima von Vigo wohl. Ich kann mich kaum auf ihn besinnen, ich war erst sechs oder sieben Jahre alt, als er starb. Meine Mutter und ich lebten noch zwölf Jahre zusammen.«

 

Als sie durch die Hauptstraßen fuhren, erhob er sich, lehnte sich zum Wagen hinaus und gab dem Kutscher eine Anweisung. Die Droschke passierte eine lange, enge Straße, und auf ein Zeichen Johns hielt der Kutscher vor einem kleinen Laden.

 

»Hier haben wir gewohnt.« John zeigte nach oben. »In der zweiten Etage. Die Wohnung scheint leerzustehen. Ich bin gespannt, ob der alte Gonsalez noch lebt.«

 

Er trat auf den Gehsteig und schaute durch das Fenster. Dann öffnete er die Ladentür und ging hinein. Nach ein paar Minuten kam er schon wieder zurück.

 

»Der alte Mann ist vor vier Jahren gestorben«, sagte er dann. Er hielt einen großen Schlüssel in der Hand. »Aber ich habe die Erlaubnis, mir das Haus anzusehen. Die Wohnung ist nicht vermietet. Der alte Gonsalez hatte meine Mutter sehr gern und schwor, die Räume nicht wieder zu vermieten, wenn wir einmal fortgehen sollten. Und er hat sein Versprechen auch gehalten.«

 

Er schloß eine Seitentür des Hauses auf, und Penelope folgte ihm in einen langen, engen Gang. Dann stiegen sie eine steile, gewundene Treppe hinauf.

 

»Hier sind wir.«

 

Das Treppenpodest bekam durch ein kleines Fenster etwas Licht.

 

»Dies war unser Speisezimmer«, erklärte er, als er eine Tür öffnete.

 

Der Raum war leer und sehr staubig. Spinnweben hingen in den Ecken, und das kleine Gitter im Kamin war ganz vergraben unter Schutt und Asche. Aber die Wände waren mit Eichenholz getäfelt, und die Decke zeigte schöne Stuckarbeit.

 

»Das ist maurischer Stil. Das Haus wurde von einem Kaufmann aus Malaga gebaut, der maurische Künstler herbrachte, um die Decken verzieren zu lassen.«

 

Er führte sie von Zimmer zu Zimmer und machte hier und dort halt, um ihr etwas Besonderes zu zeigen, das die Erinnerung an seine Mutter in ihm wachrief.

 

Es kam ihr gar nicht zum Bewußtsein, daß er bei ihr ein ziemliches Interesse für sein früheres Leben voraussetzte, denn sie interessierte sich wirklich sehr für alles.

 

»Finden Sie wohl selbst hinunter?« fragte er schließlich. »Ich möchte hier noch fünf Minuten allein sein mit meinen Gedanken. Ich muß mir über gewisse Dinge klarwerden, und ich wüßte keinen Ort in der Welt, wo das besser geschehen könnte als hier.«

 

Sie nickte, denn sie glaubte ihn zu verstehen. Ruhig ging sie nach unten.

 

Als sie zu dem Podest der ersten Etage gekommen war und gerade den Fuß auf die nächste Treppe setzen wollte, hörte sie unten im Flur Stimmen.

 

»Sie können sich die Räume ansehen. Ja, es sind wirklich hübsche Zimmer, aber im Augenblick besichtigen sie gerade ein Herr und eine Dame. Mein Vater wollte die Etage ja nicht vermieten, aber ich denke anders darüber.«

 

»Sie haben vollkommen recht.«

 

Penelope fuhr erschrocken zusammen, denn sie erkannte die Stimme Mr. Arthur Dorbans.

 

»Wollen wir nach oben gehen?« fragte Cynthia.

 

Penelope lehnte sich zurück, damit man sie von unten nicht sehen konnte. Dann rannte sie wieder die Treppe hinauf und trat atemlos in den Raum, wo John auf der Fensterbank saß. Er hatte die Hände über den Knien gefaltet und den Kopf nachdenklich gesenkt. Er sah schnell auf, als sie hereinkam.

 

»Unten sind Leute – ich möchte sie nicht sehen«, rief sie atemlos.

 

»Wer ist es denn?«

 

»Mr. und Mrs. Dorban!«

 

»Dorbans sind hier?« Er eilte zur Tür, öffnete sie und lauschte auf dem Podest. Die Dorbans kamen schon die Treppe herauf. Er winkte Penelope schweigend, und sie stiegen leise zum dritten Stock empor.

 

»Kein Geräusch«, flüsterte er. »Lehnen Sie sich an die Wand.«

 

Sie hörte jetzt Cynthia sprechen.

 

»Aber warum sollte er ausgerechnet in dieses kleine, unansehnliche Haus kommen, Arthur?« fragte sie vorwurfsvoll. »Und wie hätte er überhaupt hierhergelangen können?«

 

»Es gibt viele Gründe, die ihn dazu bestimmen könnten, und viele Wege, auf denen er hierhergelangen kann«, erwiderte Arthur. »Und ich wette um mein Leben, daß ich mich nicht irre. Heute morgen ist eine Jacht in den Hafen eingelaufen, wir werden sie später einmal ansehen.«

 

»Entschuldigen Sie einen Augenblick«, unterbrach sie der Spanier, der sie begleitete. »Ich möchte nur der Dame und dem Herrn sagen, daß Sie hier sind.«

 

Offensichtlich waren sie jetzt auf dem Podest der zweiten Etage angekommen. Der Spanier öffnete die Tür zur Wohnung, kam aber bald wieder zurück.

 

»Sie sind fortgegangen«, sagte er unangenehm berührt. »Auch der Schlüssel ist verschwunden. Und ich hatte dem Matrosen doch gesagt, er solle ihn mir zurückgeben.«

 

»Was für ein Matrose war das denn?« fragte Arthur rasch.

 

Nun gingen sie alle drei hinein. John schaute vorsichtig über das Geländer und sah, daß niemand mehr auf dem Podest stand.

 

»Schnell!«

 

In kürzester Zeit eilten sie die Treppe hinunter. Als John unten die Tür zuwarf und abschloß, hörten sie oben Stimmen und schnelle Fußtritte. Er sagte etwas auf spanisch zu dem Kutscher, und der Wagen flog in einem halsbrecherischen Tempo durch die Straßen bis zu dem kleinen Kai. Der Kutscher hatte kaum gehalten, als John schon aus dem Wagen sprang und die Pakete in das kleine Boot warf, das unten vertäut war.

 

Er drückte dem Mann eine Banknote in die Hand und eilte die schmalen Stufen hinunter. Penelope hob er in das Boot. Während sie mit größter Geschwindigkeit durch den Hafen fuhren, schaute er sich von Zeit zu Zeit um, und plötzlich sah er, was er erwartet hatte. Eine zweite Droschke hielt neben der ersten. Penelope erkannte den Mann, der heraussprang.

 

»Ist das Arthur Dorban?«

 

Sie nickte.

 

»Ich hätte mir den Herrn gern etwas näher angesehen«, meinte John nachdenklich. »Ich glaube jetzt auch, daß wir den ganzen Plan des guten Mr. Orford über den Haufen geworfen haben.« Er lachte leise vor sich hin, obgleich ihm nicht danach zumute war.

 

Das Motorboot hielt unter dem Fallreep der Jacht. Penelope eilte vor ihm die Treppe in die Höhe.

 

Oben standen Bobby, der Captain und Mr. Orford, die auf ihre Rückkehr warteten.

 

»Wir hatten eine unglückliche Begegnung in der Stadt«, sagte John ohne weitere Einleitung.

 

»Sie haben doch nicht etwa Dorban getroffen?« fragte Mr. Orford aufgeregt.

 

»Ich habe ihn nicht gesehen, aber Miss Pitt. Augenblicklich schaut er sich nach einem Bootsmann um, der ihn zur ›Polyantha‹ rudern soll. Das nehme ich wenigstens an«, setzte er vorsichtig hinzu. »Es wäre wohl am besten, wenn wir den Hafen in größter Eile wieder verließen.«

 

»So, sind Sie auch der Meinung?« brummte Mr. Orford grimmig. »Ich möchte Sie aber erst fragen, ob Sie ohne Hollin fahren wollen?«

 

»Ohne Hollin?«

 

»Ja. Er hat das Schiff fünf Minuten nach Ihnen verlassen und ist in einem kleinen Boot an Land gerudert. Wir bemerkten es erst, als er schon beinahe an Land war. Wahrscheinlich ist er jetzt vollständig betrunken und macht einen entsetzlichen Krawall im Hafen.«

 

Sie sahen einander bestürzt an. Der Captain machte einen Vorschlag.

 

»Es ist besser, wenn ich jetzt die Anker lichte und draußen auf See warte. Sobald es dunkel geworden ist, können wir ein paar Leute in einem Motorboot an Land schicken, um Hollin an Bord zu bringen. Soviel ich verstehe, dürfen wir ihn nicht im Stich lassen.«

 

»Und was soll dann geschehen?« fragte Mr. Orford.

 

Der alte Captain zuckte die Schultern.

 

Bobby verließ die anderen, ging zum Achterdeck und nahm ein Fernglas, das dort an einem Haken hing. Er schaute zum Kai hinüber und bemerkte dort eine kleine Gruppe aufgeregter Menschen.

 

Der Captain wollte gerade zur Kommandobrücke hinaufsteigen, als Bobby sich umdrehte.

 

»Einen Augenblick, Captain Willit«, sagte er. »Ich glaube, dieser kleine Zwischenfall wird sich von selbst erledigen. Unsere vorschnellen Freunde haben vor, an Bord zu kommen.«

 

Orford sah Bobby überrascht an und nahm ihm das Fernglas aus der Hand. Dann seufzte er tief auf.

 

»Der Herr hat sie in unsere Hände gegeben«, sagte er fromm. »Die Schafe kommen alle zum Stall, Willit.«

 

Der Captain sah ihn verwundert an.

 

*

 

Der Bootsmann ruderte mit allen Kräften, und eine Viertelstunde später waren Mr. Dorban und seine Frau am Fallreep der ›Polyantha‹ angelangt.

 

»Jawohl, mein Herr, Sie können den Captain sprechen«, sagte der nichtsahnende Matrose. »Wollen Sie an Bord kommen?«

 

Cynthia ergriff die ausgestreckte Hand und schwang sich auf die Plattform.

 

»Glaubst du, daß das klug ist, Cynthia? Wenn er nun wirklich hier ist?«

 

Cynthia sah ihn verächtlich an.

 

»Ich fürchte nur, daß er nicht an Bord ist«, sagte sie bedeutsam.

 

Arthur folgte ihr widerstrebend.

 

Cynthia hatte Mr. Orford noch nicht gesehen und war bei dem Anblick dieses liebenswürdig aussehenden Mannes etwas verwirrt. Er hatte seine Schiffsmütze über das rechte Auge in die Stirne gezogen und rauchte eine große Zigarre.

 

»Sind Sie der Captain?« fragte sie freundlich.

 

»Nein, das bin ich nicht.« Mr. Orford war es unangenehm, zu lügen. »Ich bin der Eigentümer.«

 

»Dann können Sie mir sogar noch besser helfen als der Captain. Dies ist mein Mann, Mr. Arthur Dorban. Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß sich ein gewisser Herr an Bord dieses Schiffes aufhält – Ihnen ist natürlich ganz unbekannt, wer er ist.«

 

Sie hielt plötzlich inne. Ihre Selbstbeherrschung verließ sie einen Augenblick, denn sie hatte drüben ein junges Mädchen in einem Deckstuhl sitzen sehen, das die Besucher interessiert betrachtete.

 

»Mein Gott«, flüsterte Cynthia, »sieh doch hin, Arthur!«

 

El Slicos Gesicht verfärbte sich.

 

»Wir wollen machen, daß wir fortkommen«, erwiderte er leise. Er wandte sich um, aber ein stämmiger Matrose vertrat ihm den Weg, und Mr. Orfords höfliche Worte brachten den beiden zum Bewußtsein, in welcher Lage sie sich befanden.

 

»Ich rate Ihnen, sich ruhig zu verhalten. Ich möchte keine Schießerei hier an Bord haben, besonders nicht im Hafen einer befreundeten Nation.« Er sah Cynthia und Arthur kühl an. »Gehen Sie durch die Tür links und steigen Sie die Treppe hinunter. Ich werde unten mit Ihnen sprechen. Wenn Sie aber irgendwelchen Spektakel machen, wird es Ihnen schlecht gehen, obgleich es mir leid täte, wenn Sie mich zu scharfen Maßnahmen zwingen sollten. Aber nun gehen Sie – bitte etwas plötzlich, schnell!« Seine Stimme war jetzt hart und drohend geworden.

 

Arthur Dorban war sich als erster über die Situation klar. Ohne ein Wort zu erwidern, ging er zu dem Salon.

 

Cynthia folgte ihm ein wenig verwirrt.

 

Mr. Orford schloß die Tür des Salons hinter sich und lud seine Gäste ein, Platz zu nehmen.

 

»Nun wollen wir uns einmal richtig aussprechen, Mr. Dorban. Sie suchen nach jemandem, und dieser Jemand ist auch an Bord. Es ist auch noch jemand anders hier, den Sie nicht erwartet haben – aber das ist ein Zufall, daß sie sich auf dem Schiff befindet.«

 

»Vermutlich wissen Sie, daß Sie sich der Seeräuberei schuldig machen und daß Sie –«

 

Mr. Orford unterbrach Arthurs Protest durch eine hochmütige Geste.

 

»Es ist schon sehr lange her, daß ich mich an Gesetze hielt. Ja, mein Herr, ich bin mir durchaus bewußt, daß ich im Augenblick mindestens drei Gesetze breche, aber kommt es denn darauf an?«

 

»Was haben Sie mit uns vor?« fragte Cynthia, die sehr blaß geworden war.

 

»Ich möchte Sie nur einladen, an unserer schönen Fahrt teilzunehmen. Wir sind gerade auf dem Weg zu den Südsee-Inseln.

 

Ich werde Ihnen sogar meine eigene Kabine geben, obwohl ich das nur sehr ungern tue. Wir sind hier auf der ›Polyantha‹ sehr gut eingerichtet, und meine Luxuskabine gefällt mir sehr gut.«

 

»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß unser Verschwinden bemerkt werden wird«, sagte Arthur Dorban. »Ich habe die Polizei verständigt, daß ich an Bord der ›Polyantha‹ gehen würde, und der britische Vizekonsul –«

 

»Sie haben niemanden benachrichtigt«, erwiderte Mr. Orford höflich. »Dazu hatten Sie ja gar keine Zeit. Ihr Zug kam um elf Uhr an, und jetzt ist es zwölf. Ich habe mir das überlegt, während ich eben die Treppe herunterstieg. Es dauerte einen Tag, bis Sie nach London kamen, dann reisten Sie über Paris nach Madrid. Und diese Reise mußten Sie sogar im Flugzeug machen. Ein Zug nach Vigo geht von Madrid früh am Morgen ab. Aber der hatte keinen Anschluß. Ich kenne alle Verbindungen ganz genau. Sie haben vergeblich versucht, mich zu bluffen.«

 

»Was werden Sie denn mit uns tun?« fragte Cynthia.

 

»Sie werden in Ihrer Kabine bleiben, und wenn Sie sich ruhig verhalten, werden Sie eine prächtige Reise haben. Wenn Sie das aber nicht tun –« Er schüttelte traurig den Kopf, als ob die Folgen für ihn selbst entsetzlich wären.

 

In der Zwischenzeit ging John zu dem Bootsmann, der auf der Plattform des Fallreeps der ›Polyantha‹ hockte und auf die Rückkehr seiner Passagiere wartete.

 

»Der Herr schickt Ihnen dies«, sagte John auf spanisch. »Er bleibt bis zum Mittagessen an Bord.«

 

»Vielleicht kann ich noch einmal zurückkommen?« fragte der glückliche Mann, denn John hatte ihm einen reichlichen Lohn gegeben.

 

»Nein, wir werden den Herrn selbst zur Küste zurückbringen«, erwiderte John ernst.

 

Der Bootsmann gab sich damit zufrieden und ruderte zurück.

 

Kurz darauf schickte der Captain mehrere Matrosen an Land. Sie hatten eine doppelte Aufgabe: Einmal mußten sie sich nach Hollin umsehen, und außerdem war das Gepäck der Dorbans an Bord zu bringen. Die praktische Cynthia hatte die Anregung dazu gegeben, und als sie eingestand, daß ihr Gepäck noch auf dem Bahnhof war, bestätigte sie damit zugleich unfreiwillig Orfords Behauptung.

 

»Es hat keinen Zweck, ohne Kleider auf diese schreckliche Reise zu gehen«, sagte sie zu ihrem Mann, als sie allein in ihrer Kabine waren. »Haben sie dich durchsucht?«

 

Er nickte.

 

»Sie haben nichts gefunden – ich hatte noch Zeit, meine Pistole unter das Sofa zu schieben. Selbst Orford, der dabeistand, hat nichts gesehen. Und wie ist es dir gegangen?«

 

»Sie schauten in meine Handtasche und fanden die Gepäckscheine. Sonst habe ich nichts bei mir. Arthur, er ist an Bord!«

 

»Natürlich ist er an Bord«, erwiderte Mr. Dorban gereizt. »Du bildest dir doch nicht ein, daß sie uns gefangengesetzt hätten, wenn er nicht hier wäre? Ich hielt es gleich für einen Unsinn, das Boot zu verlassen. Wir sind blind in eine offene Falle gegangen.«

 

Aber Cynthia hörte nicht auf seine Vorwürfe. Die Anwesenheit Penelope Pitts regte sie ungeheuer auf. Sie hatte sich schon damit beruhigt, daß Penelope tot sei. Als sie sie jetzt aber lebendig und obendrein noch an Bord der ›Polyantha‹ wiederfand, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen.

 

»Was macht sie denn hier?« fragte Arthur Dorban, der ihre Gedanken offenbar erraten hatte.

 

»Das mag der Himmel wissen. Was für ein tragischer Zufall!«

 

Arthur zupfte nervös an seinem kleinen, schwarzen Schnurrbart.

 

»Glaubst du, daß sie alles weiß?«

 

»Wäre sie wohl vor uns davongelaufen, wenn sie alles wüßte? Es ist übrigens gar nicht verwunderlich, daß sie hier an Bord ist. Sie ist einfach auf See aufgefischt worden. So erklärt sich auch, daß das Motorboot leer gefunden wurde. Aber daß sie ausgerechnet hier mit ihm zusammenkommen mußte!«

 

Cynthia saß auf dem breiten Diwan. Sie hatte die Hände um ihre Knie gelegt und blickte nachdenklich vor sich hin.

 

»Es hätte eigentlich nicht besser kommen können«, sagte sie schließlich.

 

Arthur Dorban war dabei, seinen Koffer auszupacken, und schaute erstaunt auf.

 

»Wie meinst du das?«

 

»Ich meine, daß wir mit Penelope und ihm an Bord desselben Schiffes sind. Natürlich ist auch Bobby Mills hier. Aber wer mag nur dieser korpulente Mann sein?«

 

Arthur Dorban richtete sich auf und sah sie an.

 

»Wird nicht auch Hollin hier an Bord sein? Du besinnst dich doch darauf, was man uns in London über ihn erzählte? Wenn das wahr ist –«

 

»Ich habe auch schon an ihn gedacht«, erwiderte sie langsam. »Siehst du nicht, wie gut sich noch alles für uns lösen kann, wenn Hollin nur halb soviel hält, wie er zu versprechen scheint? Wo ist deine Pistole?«

 

Er zog sie unter dem Sofa hervor; sie nahm sie ihm aus der Hand, hob ihr Kleid hoch und versteckte sie darunter.

 

Kapitel 13

 

13

 

Mr. Hollin hatte sich an diesem Tage großartig amüsiert. Schon am Morgen hatte er Glück gehabt, denn er entdeckte, als er auf dem Schiff umherstreifte, in Mr. Orfords Kabine dessen Brieftasche. Sie lag auf dem Tisch. Während das Schiff vor Anker ging, war Mr. Orford an Deck gestiegen und hatte mehr beunruhigt als interessiert zugesehen, wie Penelope Pitt und John in dem Motorboot an Land fuhren. Hollin hatte sich inzwischen in die Kabine geschlichen und die Tasche untersucht. Das Ergebnis war befriedigend, denn sie enthielt zwanzig Fünfpfundnoten. Gleich darauf war er an Deck gekommen und hatte sich umgeschaut. Für alle Fälle war ein kleines Boot heruntergelassen worden. Hollin schlich sich heimlich hinein, und alles, was dann weiter folgte, war ebenso natürlich wie unvermeidlich. Er wechselte zwanzig Pfund in spanisches Geld um und spielte den großen Herrn in Vigo.

 

Einmal sah er auch John und Penelope in einem Wagen über den Marktplatz fahren, aber er versteckte sich eilig hinter einer Häuserecke.

 

Um zwei Uhr nachmittags war er schon vollständig betrunken und schlief in einer kleinen Weinschenke seinen Rausch aus. Der Eigentümer war sehr froh, daß er in seiner Wirtschaft blieb, denn die Anwesenheit eines so reichen Mannes versprach einen ertragreichen Abend.

 

Gegen Sonnenuntergang wachte Mr. Hollin wieder auf und hatte einen furchtbaren Durst. Eine Flasche Weißwein, die ein wenig nach Fichtenholz schmeckte, brachte ihn wieder in eine glückliche Stimmung. Er konnte nicht spanisch sprechen, aber das hinderte ihn in keiner Weise. Taumelnd ging er durch die dunklen Straßen. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, sein wüstes Gesicht war vom Wein erhitzt. Nun wollte er auf Abenteuer ausgehen.

 

Plötzlich hatte sich ihm ein Fremdenführer zugesellt, eines dieser niederträchtigen Individuen, die in jedem Hafen anzutreffen sind. Er redete ihn auf englisch an, und Mr. Hollin schloß sofort Freundschaft mit ihm.

 

»Auf Sie habe ich gerade gewartet«, sagte er. »Zeigen Sie mir einmal die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Ich habe viel Geld in der Tasche, und ich möchte irgendwohin, wo es Mädel und Tanz gibt.«

 

Sie landeten denn auch in einem ziemlich wüsten Lokal, wo Männer Gitarre spielten und wenig bekleidete Mädchen spanische Tänze tanzten, die in einem weniger aufgeklärten und gesitteten Zeitalter einmal beliebt waren. Mr. Hollin saß an einem Tisch, auf dem mehrere Flaschen Rioja standen, daneben schlechter Whisky und billiger Champagner. Er hatte auf jedem Knie ein Mädchen sitzen und sang, so laut er nur konnte, ein sentimentales Lied von seiner ›alten Mutter‹.

 

Plötzlich näherte sich ihm ein Mann, der anscheinend kein Spanier war. Er war groß und schien in den mittleren Jahren zu stehen. Sein aufrechter Gang hätte Mr. Hollin gewarnt, wenn er etwas nüchterner gewesen wäre.

 

»Sind Sie Engländer?« fragte der Fremde und setzte sich an seinen Tisch.

 

»Ja, ich bin Engländer. Wenn Sie es genau wissen wollen, ich bin in Australien geboren. Trinken Sie einmal mit mir.«

 

Der Fremde schenkte sich ein Glas aus einer Flasche ein, auf deren Etikett ›Whisky‹ stand. Aber er verdünnte das giftige Zeug noch ausgiebig mit Wasser.

 

»Wie heißt denn Ihr Schiff?« fragte der Fremde scheinbar gleichgültig.

 

»Schiff? Was wollen Sie damit sagen?« Mr. Hollin runzelte die Stirn.

 

»Sie sind doch Matrose – nur Matrosen kommen nach Vigo.«

 

»Matrose? Hm – das bin ich und bin es auch nicht.« Mr. Hollin schluckte. »Ich bin ein Matrose, aber jetzt bin ich ein Passagier. Wer sind Sie denn überhaupt, mein Herr?« fragte er plötzlich unwirsch.

 

»Ich bin nur ein Reisender.«

 

»Na gut, dann reisen Sie von dannen«, sagte Hollin laut. Er war argwöhnisch geworden. »Kümmern Sie sich nicht um meine Angelegenheiten, die gehen Sie nichts an!«

 

»Tut mir leid«, erwiderte der andere mit einem ruhigen Lächeln. »Auf Ihr Wohl!«

 

Er nippte an seinem Glas. Mr. Hollin war nun wieder beruhigt und erzählte ihm mehr.

 

Es war ein ziemlich verworrenes Zeug, was er schwatzte. Nach einer Weile erhob sich sein Gast, entschuldigte sich und ging zu seinem eigenen Tisch zurück. Der Fremdenführer, der Mr. Hollin herbegleitet hatte, neigte sich zu ihm.

 

»Das war ein englischer Kriminalbeamter«, flüsterte er ihm zu.

 

Plötzlich wurde Mr. Hollin ganz nüchtern.

 

»Woher wissen Sie das?«

 

»Einer meiner Freunde hat heute morgen etwas für ihn übersetzt.«

 

Obgleich Hollin betrunken war, kam ihm der Gedanke, daß Gefahr im Verzuge sei.

 

»Ein Kriminalbeamter?« fragte er unangenehm überrascht. »Was hat denn der hier zu suchen?«

 

»Das weiß ich auch nicht. Er hat Nachforschungen nach einem Mann angestellt, der früher hier in Vigo lebte. Er ist schon seit mehreren Tagen hier.«

 

Hollin blinzelte durch den raucherfüllten Raum zu dem großen Mann hinüber, der offensichtlich in die Lektüre einer spanischen Zeitung vertieft war.

 

»Hören Sie einmal, mein Freund«, sagte er dann leise, »können Sie nicht herausbringen, wie der Kerl heißt? Ich glaube, ich kenne ihn.«

 

»Er hat einen merkwürdigen Namen – er heißt Spinner.«

 

»Zum Donnerwetter«, fluchte Hollin. »Ich wußte doch, daß ich ihn kenne!«

 

Er dachte nach, was er zu seiner Sicherheit tun konnte, soweit ihn sein geringer Verstand dazu befähigte. Schnell trank er sein großes Weinglas aus, winkte heimlich dem Kellner, zahlte seine Zeche und verließ mit dem Fremdenführer das Lokal. Er schaute noch einmal zurück und bemerkte, daß sich auch der Kriminalbeamte erhoben hatte und ihnen folgte. Er drückte dem Mann noch einen Geldschein in die Hand.

 

»Suchen Sie den Kerl in eine Unterhaltung zu verwickeln, ich muß jetzt einen Freund aufsuchen.«

 

Er lief die dunkle Straße hinunter, verirrte sich und versuchte vergeblich, auf die Hauptstraße zu kommen. Er sah sich in einem Labyrinth enger Gassen gefangen, und da er mit der Landessprache nicht vertraut war, konnte er sich nicht einmal nach dem nächsten Weg zum Hafen erkundigen. Er mußte allein sehen, wie er wieder zu seinem Boot kam.

 

Erst nach einer halben Stunde sah er endlich den Hafen und das Meer wieder vor sich. Er kam zu seiner Anlegestelle – niemand war zu sehen. Als er die kleine Steintreppe hinunterschaute, sah er sein kleines Boot auf den Wellen tanzen und atmete erleichtert auf.

 

Er wollte eben die Treppe hinuntergehen, als ihn jemand an der Schulter berührte. Er war so aufgeregt und nervös, daß er vor Furcht einen lauten Schrei ausstieß.

 

»Es ist schon gut. Ich habe hier auf Sie gewartet, um ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen«, sagte Mr. Spinner. »Möglich, daß Sie mich nicht gesehen haben.«

 

»Nein, ich habe Sie nicht gesehen«, erwiderte Hollin atemlos. »Aber ich habe jetzt zu tun, ich habe keine Zeit, ich muß zu meinem Schiff.«

 

»Wie heißt denn Ihr Schiff?«

 

»Moss Rose«, log Hollin gewandt. »Von Swansea – das ist ein Hafen in Wales.«

 

Hollin kannte überhaupt nur diesen einen Schiffsnamen.

 

»Wie, Sie sind von der ›Moss Rose‹?« fragte Spinner nachdenklich. »Ich wußte gar nicht, daß die hier im Hafen liegt.«

 

Hollin machte einen Versuch, an dem Kriminalbeamten vorbeizukommen.

 

»Ich kann nicht länger bleiben – der Captain sagte, ich müsse an Bord sein.«

 

Aber er kam nicht weiter. Eine feste Hand packte ihm am Arm und zog ihn wieder hinauf.

 

»Sie kennen mich – ich bin Polizeiinspektor Spinner von Scotland Yard. Und Sie heißen Hollin.«

 

»Mein Name ist Jackson«, rief Hollin laut. »Ich weiß nichts von Scotland Yard.«

 

»Sie heißen Hollin, und ich werde Sie jetzt der spanischen Polizei übergeben«, erwiderte Mr. Spinner geduldig. »Wo ist denn eigentlich Ihr Freund? Es hat keinen Zweck, hier Spektakel zu machen. Sie sind doch ein vernünftiger Mann, und ich will zusehen, daß Ihnen nicht viel passiert.«

 

»Ich heiße Jackson«, widersprach Hollin hartnäckig und versuchte aufs neue, sich loszureißen.

 

Da ertönte eine schrille Pfeife, und plötzlich schien der ganze Platz von Polizeibeamten belebt zu sein. Mr. Hollin sah nun ein, daß es unmöglich war, zu entkommen, und ergab sich mit Ruhe in sein Schicksal.

 

»Nehmen Sie diesen Mann in Gewahrsam, Sergeant«, sagte Spinner auf spanisch. »Halten Sie ihn fest, während ich mir das Ruderboot einmal ansehe. Gewöhnlich steht doch der Name des Schiffes darauf.«

 

Aber zu Mr. Spinners größtem Erstaunen war das Boot, das er eben noch dort hatte liegen sehen, jetzt mitten auf dem Wasser. Es trieb scheinbar ohne Insassen auf die Mitte des Hafens zu. In dem Halbdunkel konnte er den Mann nicht sehen, der ausgestreckt im Boot lag und nur seine Hände als Ruder benützte.

 

Spinner kümmerte sich nicht weiter darum, sondern überließ es der Hafenpolizei, das Boot an Land zu bringen. Merkwürdige altmodische Handfesseln wurden Hollin angelegt. Er wurde in einen Wagen gesetzt und mußte so durch die Stadt fahren. Er fluchte und bereute seine Torheit, die ihm einen so bösen Streich gespielt hatte, während er schon von Freiheit und einem luxuriösen Leben in Südamerika geträumt hatte.

 

Ohne langes Verhör, wie er es sonst gewöhnt war, wurde er in ein Rückgebäude der Hauptwache gebracht. Eine Tür öffnete sich, und er stand in einer dunklen Zelle.

 

Kapitel 14

 

14

 

»Sie haben Hollin geschnappt«, sagte John, aber seine Stimme war ruhig und unbewegt.

 

»Also doch!« rief Mr. Orford.

 

Penelope war froh, als sie die Neuigkeit erfuhr. Sie wußte ja nicht, welche Folgen dieses Ereignis nach sich ziehen konnte. Sie war damit zufrieden, daß Hollin eingesperrt war, denn sie hatte ihn schon immer als einen Verbrecher betrachtet, den Bobby Mills aus irgendeinem Grunde aus England fortbringen wollte.

 

Penelope, Orford und Bobby saßen auf dem Achterdeck, als John die peinliche Botschaft überbrachte.

 

»Was sollen wir nun tun? Sollen wir bleiben und versuchen, Hollin aus der Patsche zu ziehen, oder sollen wir auslaufen?«

 

»Ohne Ihnen vorgreifen zu wollen, Mr. Orford, wäre ich doch dafür, Hollin mitzunehmen. Bis zum Morgen sind wir hier sicher, ich kenne die Polizei von Vigo. Die Leute nehmen eine derartig unangenehme und aufregende Sache wie eine Hafenuntersuchung nicht mitten in der Nacht vor.«

 

Er erzählte jetzt alles, was er gesehen und gehört hatte, während er auf Hollin wartete.

 

»Ich war auf dem Kai, als die Polizei kam, und vermutete schon, daß sich irgend etwas ereignen würde. Ich legte mich deshalb flach ins Boot. Hollin sitzt jetzt gewiß auf der Hauptwache.«

 

»Was halten Sie denn für das beste?« fragte Bobby. »Wir können doch nicht die Zitadelle erstürmen?«

 

John schüttelte den Kopf.

 

»Das ist eine Aufgabe für einen einzelnen, und ich bin bereit, sie zu übernehmen. Ich habe mir schon alles überlegt, als ich zur Jacht zurückruderte. Sind irgendwelche Kostüme an Bord, Mr. Orford?«

 

»Ja, ein ganzer Haufen. Ich habe zweihundertsechzig Dollar Leihgebühr dafür bezahlen müssen. Aber mein Junge, Sie können doch diese schwere Aufgabe nicht allein lösen, so etwas muß doch organisiert werden –«

 

»Die Sache ist schon organisiert«, erwiderte John kurz. »Ich habe doch viele Jahre in dieser Stadt gewohnt. Die Polizei ist die ganze Nacht mit Patrouillengängen beschäftigt, und die Leute werden nicht vor sechs Uhr morgens abgelöst. Auf der Hauptwache sind nur drei Beamte, ein Offizier, ein Sergeant und ein Schließer für die Gefängniszellen. Ich weiß das ganz genau, weil ich früher einem Polizeibeamten, der künstlerische Veranlagung hatte, Unterricht im Malen und Zeichnen gab.«

 

Mr. Orford seufzte.

 

»Dann gehen Sie in Gottes Namen«, sagte er müde. »Sie haben uns in all diese Unruhe gestürzt; nun können Sie uns auch wieder herausbringen. Sie haben eigentlich die ganze Karre verfahren, mein junger Freund.«

 

Als John verschwunden war, trat eine lange Pause ein.

 

»Was hat Hollin denn eigentlich verbrochen?« fragte Penelope nach geraumer Zeit.

 

»Fragen Sie lieber, was er nicht verbrochen hat«, entgegnete Mr. Orford bitter. »Ich glaube, es gibt vom vorsätzlichen Mord bis zum einfachen Einbruch nichts, was nicht auf seinem Sündenregister stünde. Er ist ein furchtbar dummer Mensch und hat ein Gehirn wie ein steinzeitlicher Elefant!«

 

»Aber warum machen Sie denn soviel Umstände mit ihm, wenn er so schlecht ist?«

 

Das peinliche Schweigen, das ihrer Frage folgte, sagte ihr, daß sie wieder einmal eine Indiskretion begangen hatte. Sie war völlig verwirrt. Auf der einen Seite nahm John um dieses Verbrechers willen große Gefahr auf sich, auf der anderen Seite wollte niemand etwas von Hollin wissen. Es war ihr ein Rätsel wie all die anderen Vorgänge auf der ›Polyantha‹. Sie dachte wieder an die fluchtartige Fahrt durch den Kanal, an die Nachricht von dem verunglückten Flugzeug, an ihre Betäubung, an das plötzliche Erscheinen Cynthia Dorbans an Bord des Schiffes.

 

*

 

Inspektor Spinner hatte eine lange, aber nutzlose Unterredung mit Mr. Hollin in dessen Zelle. Er stellte viele Fragen, ohne eine Antwort zu bekommen, denn Hollin hüllte sich in Schweigen und sprach nur, um die Vermutungen des Polizeiinspektors in Abrede zu stellen.

 

»Ich heiße nun einmal Jackson«, sagte er wohl zum zwanzigstenmal. »Ich werde Sie wegen Ihrer ungesetzlichen Handlungsweise anzeigen! Es ist doch unerhört, daß Sie einem armen Matrosen auflauern und ihn ins Gefängnis setzen für Dinge, die er überhaupt nicht getan hat!«

 

»Ja, ich weiß schon, Sie sind ein unschuldsvoller Engel«, erwiderte Spinner müde. »Trotzdem werde ich morgen früh wiederkommen – vielleicht kann ich Ihnen dann noch einen Freund vorstellen.«

 

»Ich habe hier keine Freunde. Ich weiß gar nicht, von wem Sie immer reden.«

 

Die eiserne Gittertür fiel krachend ins Schloß. Hollin machte es sich auf seinem harten Strohsack so bequem wie möglich und schlief bald ein.

 

Draußen war es stockdunkel, der Himmel war dicht bewölkt, ein feiner Regen fiel in den Straßen, und ein kalter Wind strich durch die Stadt. Der Offizier am Schreibpult nahm seinen Mantel von der Wand und zog ihn an. Der Sergeant hatte sich schon vorher in seinen Mantel gehüllt und saß halb schlafend am Tisch. Nur das Ticken der großen Wanduhr und das Klatschen der Regentropfen gegen die Fenster unterbrach die Stille.

 

Es hatte eben ein Uhr geschlagen, als es an der Tür zur Polizeiwache leise klopfte. Der Sergeant hörte es nicht, bis er von seinem Vorgesetzten geweckt wurde.

 

»Wer ist da?« fragte er laut, denn er konnte im Dunkeln nichts sehen.

 

»Ich bin’s«, sagte eine tiefe Stimme.

 

Der Sergeant öffnete die Tür weit, und eine dunkle Gestalt, die draußen auf der Treppe gestanden hatte, trat ein, riß ihm die Klinke aus der Hand und warf die Tür donnernd zu.

 

Der Offizier erhob sich erstaunt und starrte den Besucher an – er hatte aber auch allen Grund dazu.

 

Der Eindringling war von Kopf bis Fuß in einen enganliegenden Trikot gehüllt. Darüber trug er einen langen, ärmellosen schwarzen Mantel. Eine schwarze Maske bedeckte den oberen Teil seines Gesichts, und eine lange Hahnenfeder nickte von seiner roten Kappe herab. Aber die Polizeibeamten erschraken weniger über die düstere mitternächtliche Erscheinung dieses Mephistopheles als über die Pistole, die er in der Hand hatte und auf sie richtete.

 

»Sie beide werden mich sofort zu den Zellen begleiten«, sagte der Fremde befehlend, während er sich umwandte und die äußere Tür zur Straße abschloß. »Hören Sie gut zu, meine Herren, ich schieße Sie sofort nieder, wenn einer von Ihnen versucht, um Hilfe zu rufen. Ist das klar?«

 

»Jawohl«, sagte der Offizier kleinlaut und heiser. »Aber Sie tun da etwas Schreckliches, mein Freund –«

 

»Sprechen Sie nicht, sondern machen Sie, daß Sie zu den Zellen kommen!«

 

Er drängte die beiden in den langen Gang, der dorthin führte. Hier fand er auch den Schließer, der auf einem Stuhl eingeschlafen war.

 

»Nehmen Sie seine Schlüssel, wir brauchen ihn nicht zu wecken! öffnen Sie die Tür der Zelle, in der der amerikanische Matrose schläft, und bringen Sie ihn heraus!«

 

Der Offizier nahm Haltung an, steckte die Hände tief in die Taschen und hob den Kopf widerwillig.

 

»Meinetwegen schießen Sie, aber das tue ich nicht!«

 

Als aber Mephisto ihm wirklich die Pistole bedrohlich unter die Nase hielt, machte er doch keine weiteren Schwierigkeiten.

 

Halb schlafend und halb wachend trat Hollin auf den Gang hinaus und staunte die merkwürdige Erscheinung an.

 

John schnitt schnell noch die Telefondrähte durch, dann schob er Hollin auf die Straße, schloß die Polizeistation von außen zu und warf den Schlüssel in eine Senkgrube.

 

»Lauf, so schnell du kannst, Hollin!« rief er.

 

»Ach, du bist es?« fragte Hollin atemlos. »Warum hast du denn keinen Wagen mitgebracht, daß wir zum Hafen fahren können?«

 

»Halt jetzt den Mund, du verfluchter Windbeutel!«

 

Sie gingen eilig die Straße hinunter und kamen an einem Polizeibeamten vorbei, der sich in einem Flur zusammengekauert hatte, um sich vor dem Regen zu schützen. Er erwiderte freundlich ihren Gruß.

 

Die Dämmerung brach herein, als Mr. Hollin müde auf der ›Polyantha‹ ankam. Kaum hatten seine Füße das Deck berührt, so klingelte schon der Schiffstelegraf, die Maschinen setzten sich in Bewegung, und die Jacht fuhr aus dem Hafen von Vigo hinaus.

 

»Nun zieh dich schnell um, du niederträchtiger Kerl«, sagte John, der trotz seines nassen Anzugs noch eine gute Erscheinung bot. »Du wirst eine kleine Reise mit mir machen.«

 

»Was meinst du?« fragte der andere widerwillig.

 

»Die ›Polyantha‹ wird angehalten und durchsucht werden, sowie sie von diesem kleinen Abstecher in den Hafen auf die hohe See kommt. Und ich werde dafür sorgen, daß du dann nicht an Bord bist…«

 

Hollin war froh, als er wieder in seine Kabine zurückkehren konnte, denn dort fühlte er sich sicher. Sofort nahm er wieder die beiden großen Pistolen an sich, die er hier zurückgelassen hatte, und kam dann in den Salon zurück. John hatte sich inzwischen auch umgezogen und wartete schon auf ihn. Außerdem waren noch Penelope Pitt, ein Herr und eine Dame bei ihm.

 

»Das ist ja schrecklich – ich will das Schiff nicht verlassen«, rief Cynthia mit schriller Stimme.

 

»Sie werden das tun, was man Ihnen sagt«, erwiderte John hart und rücksichtslos. »Diese Unannehmlichkeit wird nicht länger als einen Tag dauern. Wenn die Polizei an Bord der ›Polyantha‹ kommt und uns hier findet, würde ich dagegen eine viel längere unangenehme Zeit vor mir haben, Mrs. Dorban.« Er sah sie fest und durchbohrend an. »Ich vermute nicht nur, sondern ich bin sicher, daß Sie beide für die Tragödie meines Lebens verantwortlich sind. Ich weiß zwar nicht, wie Sie es angefangen haben, aber es wird Ihnen noch alles nachgewiesen werden, und der Tag der Vergeltung wird kommen. Wenigstens Ihre Beweggründe kenne ich. Ob Sie hinter dem ganzen Plan stecken, der mich in die Hölle verdammte, muß erst noch genau festgestellt werden. Sie werden verstehen, daß ich vor nichts zurückschrecke und so unnachsichtig mit Ihnen verfahre, wie Sie es verdienen.«

 

Er schwieg eine Weile und schaute Cynthia an, dann wanderte sein Blick zu Arthur Dorban und von diesem zu Hollin.

 

»Bevor die ›Polyantha‹ das offene Meer erreicht, wird sie anhalten, und wir werden an Land fahren. Ich kenne eine einsame Höhle an der Küste, die nur von See aus zugänglich ist. Ich habe als Kind oft dort gespielt. Wir müssen vierundzwanzig Stunden dort zubringen, es kann auch etwas länger sein. Die ›Polyantha‹ wird uns dann zu gegebener Zeit wieder aufnehmen. Es ist ganz sicher, daß die Jacht angehalten und durchsucht wird – und niemand von uns darf dann an Bord gefunden werden, verstehen Sie mich, Hollin?« Seine Blicke fielen jetzt auf die Pistolen, und er lächelte schwach. Dann winkte er Penelope zu sich und ging mit ihr nach oben. »Es tut mir leid, daß ich auch Ihnen diese Mühe machen muß, Miss Pitt. Nachdem wir Sie vorher schon so schlecht behandelt haben, sollten wir Ihnen wenigstens jetzt keine Unannehmlichkeiten mehr bereiten. Aber dieser kleine Abstecher ist wirklich nicht so schlimm, wie er unseren Freunden in den frühen Morgenstunden erscheint. Die Höhle ist völlig wasserdicht, und es ist ein entzückender Platz. Wir nehmen auch genügend Lebensmittel mit.«

 

Penelope hatte gespannt zugehört.

 

»Ich bin ja gar nicht böse deshalb, John. Ich nenne Sie noch so, obgleich ich nun bestimmt weiß, daß Sie anders heißen. Aber wollen Sie mich nicht: ein wenig ins Vertrauen ziehen und mir erklären, was all diese geheimnisvollen Dinge zu bedeuten haben?«

 

»Ich vertraue Ihnen voll und ganz, und eines Tages werde ich Ihnen alles erzählen.«

 

Es war eigentlich kein Grund vorhanden, zu erröten, aber sie fühlte sich durch diese Worte sehr beglückt. Sie war verwirrt, und zum erstenmal in ihrem Leben war sie sich selbst ein Rätsel. Gleich darauf war sie wieder ärgerlich über sich. Warum gefiel es ihr denn so gut, daß er ihr vertraute?

 

Sie war aber doch in guter Stimmung, als sie etwas später, in einen schweren Mantel gehüllt, das Fallreep hinunterkletterte und in das Motorboot stieg.

 

Cynthia und Arthur Dorban hatten sich schon vorne niedergelassen. Sie waren in schlechter Laune. Hollin, der mit seinen Waffen prunkte, hatte hinten den besten Sitz eingenommen, aber John wies ihn mit scharfen Worten an, dort für Penelope Platz zu machen.

 

»Ist alles in Ordnung?« schallte Orfords laute Stimme vom Deck hinunter.

 

»Ja«, rief John von unten zurück.

 

Gleich darauf stieß das Boot – gefährlich überlastet, wie John wohl wußte – zur Küste ab.

 

John ließ den Kiel des Bootes auf dem flachen Ufer auflaufen, und die Passagiere mußten, so gut es ging, durch das seichte Wasser waten. Nur Penelope wurde von John ans Land getragen.

 

»Es ist gut, Simson«, sagte er zu dem Mann, der das Boot wieder zurückzubringen hatte. »Sie können jetzt abfahren.«

 

»Viel Glück«, entgegnete der Matrose.