Kapitel 38

 

38

 

Ray Bennett erwachte nach einem erquickenden Schlaf und setzte sich im Bett auf. Einer der Wärter, die die ganze Nacht bei ihm gewacht hatten, stand auf und kam zu ihm.

 

»Wollen Sie Ihre Kleider haben, Carter? Der Direktor meint, es würde Ihnen nichts daran liegen, die alten Sachen zu tragen.«

 

»Er hat recht«, sagte Ray dankbar. »Dieser Anzug sieht ganz gut aus«, sagte er, als er die Hose anzog.

 

Der Wärter hustete. »Ja, es ist ein guter Anzug«, stimmte er bei. Mehr sagte er nicht, aber etwas in seinem Gehaben verriet die Wahrheit. Es waren Kleider, in denen schon ein anderer Mann gehängt worden war. Und doch zitterten Rays Hände nicht, als er sie anlegte. Um sechs Uhr brachte man ihm das Frühstück.

 

Seine Blicke schweiften von neuem zur Schreibmappe, aber er streckte die Hand nicht nach ihr aus. Der Kaplan kam, ein ruhiger Mann, Kraft in jeder Linie seines beweglichen Antlitzes. Sie plauderten eine Weile, und dann riet der Wärter, Ray möge sich in dem gepflasterten Hofraum ein wenig Bewegung machen. Ray freute sich darüber, er wollte noch einmal den blauen Himmel sehen. Dennoch wußte er, daß dies keine selbstlose Güte war, und erriet auch wohl, warum dieser Vorzug ihm gewährt wurde, als er Arm in Arm mit dem Priester im Hofe hin und her ging. Man bereitete die Exekutionszelle neben der seinen vor und wünschte seine Gefühle zu schonen. Eine halbe Stunde später war er wieder in seiner Zelle.

 

»Wollen Sie noch ein Geständnis machen, Carter? Heißen Sie überhaupt so?«

 

»Nein, Herr«, sagte er ruhig, »aber es tut nichts zur Sache.«

 

»Haben Sie den Mann getötet?«

 

»Ich weiß es nicht«, sagte Ray. »Ich wünschte ihn zu töten, daher ist es möglich, daß ich es getan habe.«

 

Zehn Minuten vor acht kamen der Direktor und der Sheriff in die Zelle, um ihm die Hand zu schütteln. Die Uhr in der Gefängnishalle ging langsam, aber unerbittlich vorwärts. Durch die offene Tür der Zelle konnte Ray sie sehen, und der Direktor, der dies bemerkte, schloß sie sanft, denn es fehlte noch eine Minute auf acht, und sie mußte sich bald wieder öffnen. Ray sah, wie die Klinke von außen niedergedrückt wurde, und eine Sekunde lang verließ ihn die Fassung. Er wendete sich ab, um den Mann, der jetzt eintreten mußte, nicht zu sehen. Er fühlte seine Hände von rückwärts zusammengebunden.

 

»Möge mir Gott vergeben! Möge mir Gott vergeben!« murmelte jemand hinter ihm, und beim Klang dieser Stimme wendete Ray sich mit einem Ruck um und sah dem Henker ins Gesicht.

 

Der Henker war John Bennett.

 

Vater und Sohn, Henker und Verurteilter, standen einander gegenüber. Mit fast unhörbarer Stimme hauchte John Bennett das Wort: »Ray!«

 

Ray nickte. Es war seltsam, daß in diesem Moment seine Gedanken zu den geheimnisvollen Fahrten seines Vaters zurückstreiften. Er entsann sich des Hasses, den dieser gegen seinen Beruf gehegt hatte, in den ihn Umstände gedrängt hatten.

 

»Ray!« hauchte der Mann nochmals.

 

»Kennen Sie diesen Mann?« Es war der Direktor, der so fragte, und seine Stimme zitterte vor Erregung.

 

John Bennett wendete sich ihm zu.

 

»Er ist mein Sohn«, sagte er und zog an den Fesseln, um sie zu lösen.

 

»Bennett, Sie müssen das Urteil vollstrecken!« Nun klang die Stimme fest und schrecklich.

 

»Vollstrecken? Meinen eigenen Sohn umbringen? Sind Sie wahnsinnig? Halten Sie mich für wahnsinnig?« Er schloß Ray in die Arme und drückte sein Gesicht fest gegen dessen bärtige Wange.

 

»Mein Junge! Mein Junge!« sagte er und strich ihm das Haar zurück, wie er es in Rays Kindheit getan hatte. Dann riß er sich plötzlich zusammen, stieß den Jungen durch die offene Tür in die Todeskammer, folgte ihm, schlug die Tür zu und verriegelte sie.

 

Ray sah das baumelnde gelbe Seil, das Zeichen auf der Falltür, und taumelte bebend gegen die Mauer, die Augen geschlossen.

 

Dann zerhieb John Bennett das Seil, zerhieb es, daß die Stücke zu Boden fielen. Es gab einen Krach, die Falltüren öffneten sich, und in die gähnende Öffnung schleuderte er das abgeschnittene Seil. Ray starrte ihn fassungslos an. Und während die Schläge gegen die Tür donnerten, kam der Alte auf ihn zu, nahm sein Gesicht in die Hände und küßte ihn.

 

»Kannst du mir vergeben, Ray?« fragte er gebrochen. »Ich mußte es tun. Ich verhungerte beinahe, bevor ich mich dazu hergab. Ich war gerade aus einer medizinischen Schule gekommen, und die Sache schien mir nicht so schrecklich. Ich versuchte alle möglichen Berufe, um Geld zu verdienen, und lebte mein ganzes Leben in Angst, daß jemand mit dem Finger auf mich zeigen und sagen würde: »Da geht Ben, der Scharfrichter!«

 

»Ben, der Scharfrichter?« fragte Ray verwundert. »Du bist Ben?«

 

Der Alte nickte.

 

»Kommen Sie heraus, Ben. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich die Hinrichtung auf morgen verschieben werde. Ihr könnt nicht hierbleiben!«

 

John Bennett sah auf das abgeschnittene Seil. Die Hinrichtung konnte nicht ausgeführt werden, denn es gab eine Vorschrift, die verlangte, daß ein völlig ungebrauchtes Seil vom Polizeidirektionsgefängnis geliefert werden mußte. Die gesamte Ausrüstung der Hinrichtung, bis auf das Stück Kreide, mit dem das T auf die Klappe gezeichnet wurde, auf das der Mann seine Füße stellen sollte, mußte genauestens aus dem Hauptgefängnis gebracht und ebenso genau zurückgestellt werden.

 

John Bennett zog den Riegel zurück und trat hinaus.

 

Die Gesichter der Leute in der Gefangenenzelle waren geisterbleich.

 

Der Gefängnisarzt schien zusammengeschrumpft, der Sheriff saß auf dem Bett und hatte das Gesicht in den Händen verborgen.

 

»Ich werde nach London telegraphieren und die Umstände mitteilen«, sagte der Direktor. »Ich verdamme Sie Ihrer Handlungsweise wegen nicht, Ben, es wäre ungeheuerlich, zu erwarten, daß Sie das vermocht hätten!« Ein Wärter kam den Gang herabgerannt. Hinter ihm hinkte ein barhäuptiger, staubbedeckter Mann, mit zerkratztem Gesicht, über das vertrocknete Blutstreifen hinliefen, die Augen rotgeschwollen vor Müdigkeit. Eine Minute lang erkannte ihn John Bennett nicht.

 

»Aufschub von des Königs eigener Hand«, stammelte Dick Gordon schwankend und überreichte das blutbefleckte Kuvert dem Direktor.

 

Kapitel 39

 

39

 

Während des ganzen Tages lag Ella Bennett halb wachend, halb im Schlaf. Sie erinnerte sich später, daß der Arzt gekommen war und sie auf Elks flehentliche Bitte das zubereitete Getränk zu sich genommen hatte. Und obgleich sie vermutete, was es war, und sich dagegen wehrte, den milchweißen Trank einzuschlürfen, hatte sie schließlich nachgegeben. Sie war durch den innerlichen Kampf, den sie geführt hatte, um ihren gesunden Verstand zu bewahren, völlig erschöpft.

 

Als ihr Bewußtsein zurückzukehren begann, fühlte sie, daß sie in einem Bett lag und daß jemand ihr die Schuhe ausgezogen und ihr Haar gelöst hatte. Es kostete sie eine entsetzliche Anstrengung, die Augen zu öffnen, und sie sah, daß eine Frau am Fenster saß und las. Das Zimmer war sichtlich das eines Mannes und roch schwach nach Rauch.

 

»Dicks Bett!« murmelte sie. Die Frau legte ihr Buch hin und stand auf.

 

Ella sah sie verwundert an. Warum trug sie nur die weiße Haube um ihr Haar und die blaue Jacke mit den weißen Manschetten? Ach, natürlich, sie war eine Pflegerin. Zufrieden, dieses Problem gelöst zu haben, schloß Ella die Augen und verlor sich wieder in das Land der Träume.

 

Sie erwachte nochmals. Die Frau war noch da, aber diesmal war Ellas Geist völlig klar.

 

»Wie spät ist es?« fragte sie.

 

Die Pflegerin kam mit einem Glas Wasser zu ihr, das Ella gierig trank.

 

»Es ist sieben Uhr«, sagte sie.

 

»Sieben?« Ella schauderte und versuchte, mit einem Aufschrei aufzustehen. »Es ist Abend!« stammelte sie.

 

»Was ist geschehen?« fragte sie dann.

 

»Ihr Vater ist unten, Fräulein«, sagte die Pflegerin, »ich werde ihn rufen.«

 

»Vater ist hier?« Sie runzelte die Brauen.

 

»Herr Gordon ist auch unten und Herr Johnson!«

 

Die Frau führte getreulich die Instruktionen, die man ihr gegeben hatte, aus.

 

»Sonst niemand?« fragte Ella flüsternd.

 

»Nein, Fräulein, der andere Herr kommt erst morgen oder übermorgen.«

 

Mit einem Schluchzen vergrub das Mädchen das Gesicht in die Kissen.

 

»Sie sagen mir nicht die Wahrheit!«

 

»O doch!« sagte die Frau, und etwas in ihrem Lachen ließ Ella aufblicken.

 

Die Pflegerin ging aus dem Zimmer, und nach einer Weile öffnete sich die Tür und John Bennett kam herein. Da lag sie auch schon in seinen Armen und schluchzte vor Freude.

 

»Ist es wahr! Ist es wirklich wahr, Papa?«

 

»Ja, mein Herz, es ist wahr!« sagte Bennett. »Ray wird morgen hier sein. Es sind noch einige Formalitäten zu erledigen. Sie können seine Befreiung nicht sofort erwirken, wie man das in Romanen liest. Wir sprechen gerade über seine Zukunft. Ach, mein armes Mädel!«

 

»Wann hast du es erfahren, Vater?«

 

»Heute morgen«, sagte er ruhig.

 

»Hat es dich nicht entsetzlich geschmerzt?« fragte sie.

 

Er nickte. »Johnson möchte Ray die Führung der Vereinigten Maitlands übergeben«, sagte er. »Das wäre etwas Herrliches für Ray. – Ella, unser Junge hat sich sehr verändert.«

 

»Hast du ihn gesehen?« fragte sie überrascht.

 

»Ja, heute morgen.«

 

Es kam Ella ganz natürlich vor, daß der Vater ihn gesehen hatte, und sie dachte auch gar nicht daran, wie es ihm wohl gelungen war, in das eifrig behütete Gefängnis zu gelangen.

 

»Ich glaube aber nicht, daß Ray Johnsons Anerbieten annehmen wird«, sagte der Vater. »Wenn ich ihn recht verstehe, so wird er es gewiß nicht tun. Er wird jetzt keine ihm fertig angebotene Stellung annehmen wollen, sondern sich lieber selbst emporarbeiten. Ella, er kommt wieder zu uns.«

 

»Papa, wenn Ray wieder zurückkommt«, sagte sie nach einem langen Schweigen, »würde es dir dann möglich sein, deine Beschäftigung, die du doch so hassest, aufzugeben?«

 

»Ich habe sie schon aufgegeben, Liebling«, erwiderte er ruhig. »Nie wieder! Niemals wieder! Gott sei gedankt!«

 

Sie sah sein Gesicht nicht, aber sie fühlte den Schauer, der durch des Vaters Gestalt rann.

 

 

Das Arbeitszimmer lag voller Rauchwolken. Dick Gordon, dessen Kopf ganz bandagiert, und dessen hübsches Gesicht ein wenig durch drei Querkratzer verunziert war, saß in seinem Schlafrock und Pantoffeln, eine Shagpfeife zwischen den Zähnen wie ein Bild der etwas mitgenommenen Zufriedenheit da. »Sehr nett von Ihnen, Johnson«, sagte er. »Ob Ray wohl Ihr Anerbieten annehmen wird? Glauben Sie es ehrlich, daß er befähigt ist, als Direktor eines so ungeheuren Unternehmens zu fungieren?«

 

Johnson sah zweifelnd drein. »Bei Maitland war er bloß Angestellter, aber man hat vielleicht keine Ahnung von seinen administrativen Qualitäten.«

 

»Sind Sie nicht fast ein bißchen zu großmütig gegen ihn?«

 

»Das weiß ich nicht. Vielleicht«, sagte Johnson. »Ich möchte ihm natürlich gern helfen. Es sind ja auch noch andere, weniger wichtige Stellungen da, und vielleicht würde Ray, wie Sie sagen, nicht einmal einen so verantwortlichen Platz einnehmen wollen.«

 

»Sicherlich nicht«, sagte Dick entschieden.

 

»Mir scheint«, sagte Elk, »das schwierigste ist, daß wir den Jungen ganz aus den Klauen der Frösche befreien. Einmal ein Frosch, allzeit ein Frosch! Und dieser alte Herr Nummer Eins ist nicht derjenige, der mit den Händen im Schoß dasitzt und seine Niederlage wie ein kleiner Edelmann aufnimmt. Heute früh hatten wir einen Beweis dafür. Johnson wurde in Ihrer Straße angeschossen.«

 

Dick nahm die Pfeife aus dem Mund und sandte eine blaue Rauchwolke in den Nebel, der über dem Raum lag.

 

»Der Frosch hat ausgespielt«, sagte er. »Die einzige Frage ist nur die, was der beste und wirksamste Weg ist, ein Ende mit ihm zu machen. Balder ist gefangen, Hagn im Kerker. Lew Brady, einer der hilfreichsten Agenten, ist tot, nur Lola …«

 

»Lola ist fort!« sagte Elk. »Heute morgen hat sie sich nach den Vereinigten Staaten eingeschifft, und Joshua Broad war es, der ihr die Oberfahrt ermöglichte. Es bleibt also nur noch der Frosch selbst übrig und die Organisation, die er leitet. Fängt man ihn, so ist es mit der ganzen Bande zu Ende.«

 

In diesem Moment kam John Bennett zurück, und das Gespräch nahm eine andere Wendung. Wenig später verabschiedete sich Johnson.

 

»Sie haben Ella doch nichts gesagt, Herr Bennett?« fragte Dick.

 

»Über mich? Nein! Ist es nötig?«

 

»Ich glaube nicht«, sagte Dick ruhig, »lassen Sie dies Ihr eigenes und Rays Geheimnis bleiben. Mir selbst war es schon lange Zeit bekannt. An dem Tag, an dem Elk mir erzählte, daß er Sie auf dem Kings-Cross-Bahnhof getroffen hat und daß ein Einbruch verübt worden ist, habe ich erfahren, daß man einen Mann im Gefängnis von York hingerichtet hat. Ich nahm mir die Mühe, in den Spalten der Zeitungen nachzusehen, und fand heraus, daß Ihre Abwesenheit tatsächlich, wie Elk behauptete, immer mit Einbruchsdiebstählen zusammentraf. Aber es werden im Lauf eines Jahres so viele Einbrüche in England verübt, daß es nur merkwürdig gewesen wäre, wenn sich dieses Zusammentreffen nicht ereignet hätte. Es gab aber auch noch andere Zufälle. An dem Tag, an dem der Mord in Ibbley Copse verübt wurde, waren Sie in Gloucester. Und an dem gleichen Tag wurde Walbsen, der Mörder von Hereford, hingerichtet.«

 

John Bennett senkte den Kopf. »Sie haben es gewußt und dennoch . . .« Er zögerte.

 

Dick nickte.

 

»Ich kannte das Scheitern all Ihrer Pläne, das Sie in Ihren schrecklichen Beruf getrieben hat«, sagte er freundlich. »Mir erscheinen Sie als ein Vollstrecker des Gesetzes – nicht mehr oder minder schrecklich als ich selbst, der ich so viel dazu beigetragen habe, Menschen aufs Schafott zu bringen. Sie sind nicht unreiner als der Richter, der aburteilt und der das Todesurteil unterschreibt. Wir alle sind nur Instrumente der Ordnung.«

 

Ella und ihr Vater blieben in jener Nacht in Harley Terrace und fuhren am Morgen nach Paddington-Station, um Ray dort zu treffen. Weder Elk noch Dick begleiteten sie.

 

»Aber es kommt mir sehr auffallend vor«, sagte Elk, »daß weder Sie noch ich Bennett kannten.«

 

»Wie sollten wir auch?« sagte Dick. »Weder Sie noch ich pflegen Hinrichtungen beizuwohnen, und die Person des Scharfrichters bleibt für gewöhnlich unbekannt. Nur wenn er vorzieht, von sich reden zu machen, genießt er eine zweifelhafte Berühmtheit. Bennett aber scheute vor der Öffentlichkeit zurück und vermied sogar die Bahnhöfe der Städte, in denen Exekutionen stattfanden. Er stieg gewöhnlich in einem abseits gelegenen Dorf aus und marschierte zu Fuß in die Stadt. Der Hauptwärter in Gloucester sagte mir, daß er immer erst um Mitternacht in das Gefängnis kam. Niemand hat ihn je kommen oder gehen sehen.«

 

»Der alte Maitland muß ihn aber erkannt haben.«

 

»Der wohl«, nickte Dick, »Maitland war eine Zeitlang im Kerker, und es ist möglich, daß besonders bevorzugte Gefangene den Scharfrichter sehen konnten. Unter bevorzugten Gefangenem verstehe ich Leute, die wegen ihres guten Betragens sich im Gefängnis frei bewegen dürfen. Maitland hat Ella doch erzählt, daß er ‹im Loch› war. Und das ist sicherlich die richtige Erklärung dafür. Alle offiziellen Briefe für Bennett kamen nach Dorking, wo er ein Zimmer fürs ganze Jahr gemietet hatte. Seine geheimnisvollen Reisen in die Stadt schienen den Leuten nicht geheimnisvoll, die ihn weder dem Aussehen noch dem Namen nach kannten.«

 

Zu Elks Überraschung war, als er abends Harley Terrace aufsuchte, Dick nicht anwesend. Der Diener meldete, daß der Herr ein wenig geschlafen und sich umgekleidet hätte. Dann sei er ausgegangen, ohne Botschaft zu hinterlassen. Dick pflegte in der Regel nicht auf einsame Spaziergänge auszugehen, und Elk dachte zuerst, er wäre nach Horsham gefahren. Elk dachte sehnsüchtig an sein eigenes bequemes Bett, aber er wollte sich nicht zurückziehen, bevor er nicht seinen Vorgesetzten gesprochen hatte. So machte er es sich im Arbeitszimmer bequem und war fest eingeschlafen, als ihn jemand leise an der Schulter rüttelte. Er schlug die Augen auf und sah Dick vor sich stehen.

 

»Hallo«, sagte er, »wollen Sie die ganze Nacht aufbleiben?«

 

»Mein Auto steht vor der Tür«, sagte Dick, »nehmen Sie Ihren Überrock, wir fahren nach Horsham.«

 

Elk gähnte die Uhr an. »Sie wird jetzt an ihr Bettchen denken«, protestierte er.

 

»Hoffentlich!« sagte Dick. »Aber ich habe meine Befürchtungen. Um neun Uhr abends hat man den Frosch auf der Straße nach Horsham gesehen.«

 

Jetzt war Elk vollkommen wach. »Woher wissen Sie das?« fragte er.

 

»Ich habe ihn den ganzen Abend beobachtet«, sagte Dick, »aber er ist mir entkommen.«

 

»Sie haben den Frosch beobachtet?« wiederholte Elk langsam. »Ja, kennen Sie ihn denn?«

 

»Ich kenne ihn schon seit einem Monat«, sagte Dick. »Nehmen Sie Ihren Revolver mit!«

 

Kapitel 40

 

40

 

Es gibt eine Glückseligkeit, die mit keiner anderen im Leben zu vergleichen ist, und das ist jene, die uns überkommt, wenn einer unserer Lieben uns nach Gefahren wiedergegeben ist. Ray Bennett saß neben seinem Vater und war glücklich, all diese Liebe und Zärtlichkeit zu genießen. Es schien ihm wie ein Traum, daß er wieder in diesem gemütlichen Wohnzimmer mit seinen Kretonvorhängen, seinem schwachen Lavendelduft, seinem großen Kamin, seinen bleigefaßten Fenstern saß und Ella vor sich sah.

 

Der Regensturm, der an die Fensterscheiben prasselte, verlieh der Behaglichkeit und dem Frieden seines Daheims noch gesteigerte Wirkung. Von Zeit zu Zeit betastete er wie abwesend sein rasiertes Gesicht. Es war ihm dies der sicherste Beweis, daß er wach war und seine Eindrücke der Welt der Wirklichkeit angehörten. »Hol deinen Stuhl heran, Junge«, sagte Bennett, als Ella mit der dampfenden Teekanne ins Zimmer kam. Ray erhob sich gehorsam und stellte seinen Windsorsessel dorthin, wo er immer gestanden, zur rechten Hand seines Vaters.

 

John Bennett saß bei Tisch und beugte das Haupt. Das alte Tischgebet erklang, das der Vater jahrelang gebetet hatte und das Ray in vergangener Zeit stets mit heimlichem Spott bedachte. Nun aber schien es ihm von schöner Bedeutung erfüllt, die ihm das Herz zusammenschnürte.

 

»Für all die Segnungen, die wir heute erfahren haben, mache der Herr uns wahrhaft dankbar.«

 

Es war eine wundervolle Mahlzeit. Viel wunderbarer als jene, die er im Herons-Klub oder in jenen teueren Restaurants genossen hatte, die Lola so liebte. Er legte Messer und Gabel nieder und lehnte sich mit glücklichem Lächeln zurück.

 

»Zu Hause!« sagte er einfach. Und sein Vater faßte unter dem Schutze des Tischtuches seine Hand und drückte sie so fest, daß es den Jungen fast schmerzte.

 

»Ray, man möchte dir die Direktorstelle bei Maitlands geben. Johnson trägt sie dir an. Was denkst du darüber, mein Sohn?«

 

Ray schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin ebensowenig geeignet, das Geschäft der Vereinigten Maitlands zu führen, wie ich Präsident der Bank von England sein könnte«, sagte er mit einem kleinen Lachen. »Nein, Papa, meine Erwartungen sind heute nicht mehr so übertrieben wie früher. Ich glaube, ich könnte mir einen ganz schönen Lebensunterhalt mit dem Ausgraben von Kartoffeln verdienen. Ich würde es gern tun.«

 

Der Alte sah nachdenklich auf das Tischtuch.

 

»Ich, ich würde wohl dringend einen Assistenten bei meinen Aufnahmen brauchen, falls sie, wie Selinski sagt, weiterhin Erfolg haben werden. Inzwischen kannst du ja vielleicht Kartoffeln graben – wenn Ella erst verheiratet ist.«

 

»Ella soll heiraten? Wirklich, Ella?« Ray sprang auf das Mädchen zu und küßte es. »Aber der Vorfall mit mir wird dir doch nicht schaden?«

 

»Nein, mein Lieber«, sagte sie. »Jetzt nicht mehr.«

 

»Was willst du damit sagen?« fragte John Bennett, als er sah, wie Ellas Antlitz sich verdüsterte.

 

»Ich habe an etwas sehr Unangenehmes gedacht, Papa«, sagte sie und erzählte von dem schrecklichen Besuch.

 

»Was, der Frosch wollte dich heiraten?« fragte Ray atemlos.

 

»Das ist ja unglaublich! Und hast du sein Gesicht gesehen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Er trug eine Maske«, sagte sie, »reden wir lieber nicht mehr darüber.

 

Sie stand rasch auf und begann abzuräumen, und zum erstenmal nach langer Zeit half Ray ihr dabei.

 

»Es ist eine schreckliche Nacht heute«, sagte sie, als sie aus der Küche zurückkam. »Der Wind hat das Fenster aufgerissen und die Lampen ausgeblasen. Und es regnet in Strömen herein.«

 

»Jetzt sind alle Nächte gute Nächte für mich«, sagte Ray, und es klang wie leises Schluchzen in seinem Lachen mit. Es war noch kein Wort über seine schreckliche Todespein gesprochen worden. Sie waren stillschweigend übereingekommen, daß dieses Erlebnis für immer in die Region der schlimmen Träume verwiesen bleiben sollte.

 

»Verriegle die Hintertür, Liebling«, sagte John Bennett und sah auf, als sie hinausging. Jeder der beiden Männer rauchte, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Und dann sprach Ray mit seinem Vater natürlich von Lola.

 

»Ich glaube nicht, daß sie schlecht war, Vater«, sagte er. »Sie konnte nicht ahnen, was mit mir geschehen sollte. Der Plan war so teuflisch ausgeklügelt, daß ich bis zu der Stunde, da ich von Gordon die wahre Geschichte erfuhr, der Meinung war, ich hätte Brady wirklich getötet.«

 

Bennett nickte.

 

»Ich habe immer gedacht«, fuhr Ray fort, »daß Maitland etwas mit den Fröschen zu tun haben müßte; ich erriet es zuerst, als er nach Herons-Klub gekommen war. Was beunruhigt dich, Vater?«

 

»Ella!« rief John Bennett. Es kam keine Antwort aus der Küche.

 

»Ich möchte nicht, daß sie allein draußen bleibt und das Geschirr abwäscht, ruf sie herein, Ray.«

 

Ray stand auf und öffnete die Tür. Die Küche war dunkel.

 

»Die Lampe, bring die Lampe, Vater!« rief er. Und John Bennett eilte ihm nach.

 

Die Küchentür war verschlossen, aber nicht verriegelt. Etwas Weißes lag davor auf dem Boden, und Ray bückte sich, um es aufzuheben. Es war ein abgerissenes Stück der Schürze, die Ella getragen hatte. Die zwei Männer sahen einander an, und Ray rannte in sein Zimmer und kam mit einer Windlaterne, die er anzündete, herunter.

 

»Vielleicht ist sie im Garten«, sagte Ray gepreßt, stieß die Tür auf und schrie in den Sturm hinaus.

 

Der Regen strömte erbarmungslos hernieder. Die Männer waren durch und durch naß, ehe sie noch ein paar Meter gegangen waren. Ray leuchtete mit der Laterne den Boden ab. In dem regenfeuchten Grund sah er Spuren vieler Tritte, und plötzlich erkannte er die von Ellas Fuß. Am Rand des Rasens verschwanden sie, aber gerade vor der Seitentür kamen sie wieder zum Vorschein. Dieser -Durchgang verband die Straße mit einer Wiese hinter Maytree Haus, und die Gartentür war gewöhnlich verschlossen. Ray sah als erstes die Spuren eines Autos, dann sah er, daß das Tor offenstand. Er rannte hinaus und sah, daß die Spuren nach rechts wiesen.

 

»Wir wollen vielleicht den Garten durchsuchen, um ganz sicherzugehen, Vater«, sagte er. »Ich werde einige von den Nachbarn herausrufen und um Hilfe bitten.« Als er dies getan hatte, hatte John Bennett den Garten bereits durchsucht, ohne eine Spur von Ella zu finden.

 

»Fahr in die Stadt und telefoniere Gordon!« sägte er. Und seine Stimme war eigentümlich ruhig.

 

Nach einer Viertelstunde sprang Ray vor der Tür von seinem alten Fahrrad ab, um dem Vater die ernste Neuigkeit mitzuteilen.

 

»Die Telefonlinie ist zerschnitten«, sagte er gepreßt.

 

»Aber ich habe ein Auto bestellt, das von der Garage kommen wird. Wir wollen versuchen, den Spuren zu folgen.«

 

Das Mietauto kam gerade an, als auch schon die Scheinwerfer von Dicks Auto in Sicht waren.

 

Gordon sah ihre Gesichter und war auf das Schlimmste gefaßt, noch ehe er heraussprang. Es folgte eine kurze, sachliche Besprechung. Dick ging rasch durch die Küche und den Spuren nach, die auf die Straße führten, und dort sahen sie schon Elk, der gebückt den Boden mit einer elektrischen Taschenlampe langsam und methodisch absuchte.

 

»Hier ist noch eine schmale Radspur«, sagte er. »Aber zu schwer für ein Fahrrad und zu leicht für ein Auto. Sieht wie ein Motorradaus!«

 

Dick sandte Ray und den Vater ins Haus und bestand darauf, daß sie sich umkleideten, bevor sie weitere Schritte unternahmen. Sie kamen in Regenmäntel gehüllt heraus und sprangen in den gelben Rolls, der sich sogleich in Bewegung setzte. Die Spuren blieben auf der Strecke von fünf Meilen hinaus sichtbar, dann fuhren sie durch ein Dorf. Der Schutzmann hatte vor ganz kurzer Zeit einen Wagen und einen Motorradfahrer durchkommen sehen.

 

»Fuhr der Motorradfahrer direkt hinter dem Wagen?« fragte Elk.

 

»Nein, er folgte ihm in einem Abstand von etwa hundert Metern«, sagte der Polizist. »Ich wollte ihn aufschreiben, weil sein Licht nicht brannte, aber er kümmerte sich nicht um mich.«

 

Sie legten eine neue Meile zurück, aber da kamen sie auf die harte Oberfläche einer frisch geteerten Straße, und hier verloren sie die Spur. Noch eine Meile weiter kamen sie zu einem Punkt, wo drei Wege abzweigten. Zwei davon waren geteert und zeigten keine Radspuren. Auch der dritte nicht, obwohl dessen Oberfläche weich war.

 

»Es muß also einer von diesen beiden Wegen sein«, sagte Dick.

 

»Wir wollen die rechte Straße probieren.«

 

Sie war geteert, bis sie das nächste Dorf erreichten. Aber der Nachtwächter schüttelte den Kopf, als Dick ihn befragte.

 

»Nein, Herr, seit zwei Stunden ist kein Auto durchgekommen.«

 

»Wir müssen zurückfahren!« sagte Dick, Verzweiflung im Herzen. Das Auto wendete und flog mit größter Geschwindigkeit zu dem Straßenknotenpunkt zurück. Hier fuhren sie nun auf der neuen Straße weiter und waren noch nicht lange gefahren, als Dick das rote Hecklicht eines vor ihnen haltenden Autos erblickte und heraussprang. Seine Hoffnungen jedoch sollten sich nicht erfüllen.

 

Das Auto war nicht das, das sie suchten. Es hatte an der Straßenseite eine Panne erlitten, aber der beschmutzte Fahrer konnte ihnen doch wertvolle Fingerzeige geben.

 

Vor dreiviertel Stunden war ein Wagen vorbeigerast. Er beschrieb ihn ganz genau, ja, er war sogar imstande gewesen, die Fabrikmarke festzustellen. Der Motorradfahrer war gefolgt, sein Rad war eine Red Indian.

 

»Wie weit fuhr er hinter dem Auto?«

 

»Gute hundert Meter, möchte ich sagen«, war die Antwort.

 

Von nun an bekamen sie häufige Mitteilungen über das Auto, aber im nächsten Dorf hatte man den Motorradfahrer nicht mehr gesehen, und auch in den folgenden Orten, die das fremde Auto passiert hatte, erfuhren sie nichts mehr von ihm.

 

Mitternacht war vorbei, als sie endlich das Auto, dem sie nachjagten, antrafen. Es stand außerhalb einer Garage auf der Straße nach Shoreham, und Elk war der erste, der es erreichte. In der Garage selbst war der Besitzer beschäftige Platz für diesen letzten Gast zu machen. Das Auto war leer und ohne Fahrer.

 

»Ja, Herr, vor einer Viertelstunde«, sagte er, als Elk sich legitimiert hatte. »Der Chauffeur sagte, er wollte sich in der Stadt nach einem Quartier umschauen.«

 

Mit Hilfe einer starken elektrischen Lampe durchsuchten sie das Innere des Wagens. Es blieb kein Zweifel, daß Ella dessen Insasse gewesen war. Eine kleine Elfenbeinbrosche, die John Bennett ihr zum Geburtstagsgeschenk gemacht hatte, wurde in einer Ecke zerbrochen am Boden gefunden.

 

»Es hat gar keinen Sinn, nach dem Chauffeur zu suchen«, sagte Elk. »Unsere einzige Chance wäre, wenn er in die Garage zurückkommen würde.«

 

Die Lokalpolizei wurde zur Besprechung herbeigerufen.

 

»Es ist ein sehr großer Ort«, sagte der Polizeichef. »Wenn der Chauffeur einer Diebesbande angehört, so ist es sehr wahrscheinlich, daß Sie ihn gar nicht finden und er des Autos wegen nicht mehr zurückkommen wird.«

 

Etwas aber erschien Dick noch rätselhafter als alles andere. Es war dies das Verschwinden des Motorradfahrers. Wenn es wahr war, daß er immer in der Distanz von hundert Metern hinter dem Auto hergefahren und zwischen zwei Dörfern abgestiegen war, so hätten sie ihn passieren müssen.

 

»Wir sollten lieber zurückfahren«, sagte Elk. »Es ist fast sicher, daß man mit Fräulein Bennett irgendwo auf der Straße ausgestiegen ist. Der Motorradfahrer ist jetzt unser einziger Anhaltspunkt, denn offenbar ist sie mit ihm gewesen. Und es war entweder der Frosch oder einer seiner Leute.«

 

»Sie sind zwischen Shoreham und Morby verschwunden«, sagte Dick. »Sie kennen doch die Gegend hier, Bennett? Gibt es hier einen Ort in der Umgebung von Morby, zu dem sie hätten hinfahren können?«

 

»Ich kenne die Gegend«, stimmte Bennett zu, »es liegen noch ein paar Häuser außerhalb Morbys. Natürlich, es könnte auch Morby-Feld sein! Aber ich kann mir wirklich nicht denken, daß man Ella dorthin gebracht haben soll.«

 

»Was ist Morby-Feld?« fragte Dick, als das Auto langsam den Weg, den es eben gekommen war, zurückfuhr.

 

»Morby-Feld ist ein unbenutzter Steinbruch. Die Gesellschaft hat vor ein paar Jahren liquidiert«, erwiderte Bennett. Sie fuhren im Schneckentempo durch Morby und hielten vor dem Haus der Ortspolizei, um vielleicht etwas Neues zu erfahren, das in ihrer Abwesenheit vorgefallen sein mochte. Aber es gab nichts Neues. »Sind Sie absolut sicher, daß Sie den Motorradfahrer nicht gesehen haben?«

 

»Absolut!« sagte der Mann. »Das Auto fuhr so nahe an mir vorbei, wie Sie jetzt halten. Ich mußte tatsächlich auf den Gehsteig treten, um nicht mit Kot bespritzt zu werden. Ich hatte sogar den Eindruck, daß das Auto leer war.«

 

»Warum waren Sie dieser Meinung?« fragte Elk rasch.

 

»Erstens fuhr es sehr leicht, und zweitens rauchte der Chauffeur. Ich verbinde immer rauchende Chauffeure mit einem leeren Auto.«

 

»Mein Sohn«, sagte der bewundernde Elk, »in dir liegen Möglichkeiten verborgen!« Und der Nachwuchs für die Polizeidirektion wurde notiert.

 

»Ich möchte diesem Dorfpolizisten beistimmen«, sagte Dick, als sie zu ihrem Rolls zurückgingen. »Der Wagen war leer, als sie hier durchkamen, und das erklärt auch das Fehlen des Motorradfahrers. Wir müssen zwischen Morby und Wellan suchen.«

 

Nun bewegten sie sich mit der Langsamkeit von Fußgängern weiter. Die Scheinwerfer wurden so eingestellt, daß man den Graben und die Hecke auf beiden Seiten der Straße beleuchtete. Sie waren noch nicht fünfhundert Meter gefahren, als Elk: »Halt!« brüllte und hinaussprang. Nach ein paar Minuten rief er Dick zu sich. Die drei Männer eilten dem Detektiv entgegen, der vor einem großen roten Motorrad stand, das sich unter dem Schutz einer verfallenen Steinmauer verbarg. Sie waren, ohne es zu sehen, daran vorbeigefahren, denn es stand auf der anderen Seite der Mauer, und nur ein Lichtreflex auf der Lenkstange hatte zu seiner Entdeckung geführt. Dick rannte nach dem Auto und stellte die Scheinwerfer so ein, daß sie das Rad hell beleuchteten.

 

Es war fast neu, über und über mit Kot bespritzt, und die Lampe fühlte sich kalt an. Elk hatte eine Eingebung. An der Rückseite des Sitzes war ein schwerer Werkzeugbeutel mittels eines festen Lederriemens angebracht, und diesen schnürte er auf.

 

»Wenn es eine neue Maschine ist, so hat der Fabrikant den Namen und die Adresse des Besitzers in den Beutel eingeschrieben«, sagte er.

 

Sie nahmen den Beutel ab. Elk löste den letzten Riemen und schlug die Klappe zurück.

 

»Du großer Moses!« sagte Elk.

 

Auf dem rohen Leder zeigte sich die säuberlich gemalte Inschrift: »Joshua Broad, Caverley Haus, Cavendish Square.«

 

Kapitel 41

 

41

 

Ellas erster Eindruck, als sie in die Küche kam, war der, daß das auf einer Leine unter der hohen Decke zum Trocknen aufgehängte Tischtuch herabgefallen war.

 

Mit überraschender Plötzlichkeit wurde sie von rückwärts her in die Falten des schweren feuchten Tuches eingehüllt. Ein Arm preßte sich um sie, eine Hand bedeckte ihren Mund und drückte ihren Kopf nach unten. Sie versuchte zu schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor. Sie stieß mit dem Fuß gegen die Tür, doch ein eiserner Arm legte sich um ihre Knie. Sie hörte einen Ton wie von zerreißendem Stoff, und ihre Gelenke wurden zusammengebunden. An dem eiskalten Luftzug spürte sie, daß die Tür geöffnet wurde, und in der nächsten Sekunde war sie im Garten.

 

»Geh!« zischte eine Stimme, und sie fühlte, daß ihre Füße jetzt wieder befreit wurden. Sie vermochte nichts zu sehen, sie fühlte nur, daß der Regen auf das Tuch, das ihren Kopf bedeckte, herniederströmte und daß es vom Wind mit aller Kraft ihr ins Gesicht geweht wurde. Der Wind blies es ihr so eng um Mund und Nase, daß sie kaum zu atmen vermochte. Erst als sie die Füße in dem feuchten Straßenkot versinken fühlte, wußte sie, daß sie in der kleinen Allee neben dem Haus war. Und als sie dies erkannte, fühlte sie sich auch schon erfaßt und in ein Auto gehoben. Sie hörte, wie jemand den Platz neben ihr einnahm und der Wagen ansprang. Dann löste eine geschickte Hand das Tuch von ihrem Kopf. Auf einem der beiden Vordersitze saß eine dunkle Gestalt, deren Gesicht sie nicht zu erkennen vermochte.

 

»Was wollen Sie, wer sind Sie?« fragte sie. Aber lange bevor die Stimme des Mannes an ihre Ohren klang, hatte sie schon gewußt, daß sie in der Gewalt des Frosches war.

 

»Ich will dir noch eine letzte Chance geben«, sagte er. »Nach dieser Nacht ist die Frist zu Ende.«

 

Sie beherrschte mit Anstrengung das Zittern ihrer Stimme und fragte: »Was wollen Sie von mir?«

 

»Du wirst dich verpflichten, mich zu heiraten und das Land am Morgen mit mir zu verlassen. Ich habe solches Zutrauen zu dir, daß ich mich mit deinem Wort zufrieden gebe.«

 

Sie schüttelte heftig den Kopf, bis ihr zum Bewußtsein kam, daß er sie in der Finsternis des Wagens ja nicht zu sehen vermochte. Erst dann sprach sie.

 

»Das werde ich nie tun«, antwortete sie ruhig. Und es wurde während der ganzen Fahrt kein anderes Wort mehr gesprochen. Einmal flüsterte der Mann mit der Maske, sie sah trotz der zugezogenen Vorhänge den Reflex seiner Glimmerbrille, als das Auto durch eine Dorfstraße fuhr, einen Befehl, und der Mann, der neben ihr saß, spähte durch das rückwärtige Fenster.

 

»Nichts!« sagte er.

 

Es wurde ihr keine Gewalt angetan. Sie wurde nicht gehindert oder gebunden, aber sie wußte wohl, daß es vollkommen aussichtslos war, an Flucht auch nur zu denken.

 

Nun fuhren sie in verlangsamtem Tempo dahin, und das Auto blieb stehen. Die Insassen sprangen heraus, und sie verließ als letzte den Wagen. Ein Mann faßte ihren Arm und zog sie durch die Lücke einer Hecke auf ein gepflügtes Feld, wie ihr schien.

 

Der andere kam nach und brachte einen Regenmantel, in den er ihr hineinhalf. Der Regen strömte herab und trommelte auf die ölgetränkten Mäntel. Der Frosch ging voraus, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Sie glitt oft aus und wäre gefallen, hätte sie der Arm des Begleiters nicht so fest gehalten.

 

»Wohin führen Sie mich?« fragte sie endlich. Es kam keine Antwort. Sie überlegte, ob sie sich nicht losmachen konnte, um in der herrschenden Finsternis zu entfliehen. Gerade als ihr dieser Gedanke kam, sah sie einen Schimmer von Wasser zu ihrer Rechten, einen runden, gespenstisch bleichen Fleck.

 

»Das ist ja Morby-Feld«, sagte sie, denn nun hatte sie den Ort erkannt. »Sie bringen mich zum Steinbruch!«

 

Wieder keine Antwort. Unaufhörlich marschierten sie weiter, bis sie wußte, daß man in nicht zu großer Entfernung vom Steinbruch selbst angelangt war. Sie hätte gern erfahren, welches Schicksal ihrer wartete, wenn sie den Frosch bis zum Ende zurückweisen würde, wie sie es zu tun gedachte. Wollte dieser furchtbarer Mensch sie töten?

 

»Warte!« sagte der Frosch plötzlich und verschwand im Finstern. Dann sah sie ein Licht, das aus einem kleinen Holzhaus kam. Eigentlich waren es zwei Lichtflecken, ein langer und ein viereckiger. Ein Fenster und eine Tür. Das Fensterviereck verdunkelte sich sogleich, denn der Laden wurde geschlossen. Dann sah sie die Gestalt des Frosches mit dem abenteuerlichen Kopfschmuck wie eine höllische Silhouette in der Tür stehen.

 

»Komm!« befahl er, und sie ging wie hypnotisiert auf ihn zu. An der Tür der Hütte wollte sie zurückweichen, aber seine Hand erfaßte ihren Arm und hielt ihn fest.

 

Sie wurde in das Innere der Hütte hineingezogen, die Tür wurde zugeschlagen und verriegelt. Sie war mit dem Frosch allein. Ihre Neugierde war nun stärker als ihre Angst. Sie sah sich in dem kleinen Raum um. Er war ungefähr sechs Meter lang und vier Meter breit. Das Mobiliar war sehr einfach: ein Tisch, ein Bett, zwei Sessel, ein Kamin. Der hölzerne Fußboden war mit einem alten, schmutzigen Teppich bedeckt. An einer der Wände standen lange Glaszylinder, die eine opalene Substanz oder Flüssigkeit enthielten. Daneben sah sie zwei flache Kisten, deren Holz ganz neu schien.

 

Der Maskierte folgte ihrem Blick, und sie hörte ihn kichern.

 

»Gold!« sagte er. »Dein Gold, unser Gold. Es ist eine Million Pfund Sterling darin.«

 

Ella sah geblendet hin.

 

»Setz dich nieder«, sagte er. Er sprach rasch und geschäftsmäßig. Sie erwartete, als er sich ihr gegenübersetzte, daß er die Maske abnehmen würde. Aber sie wurde enttäuscht. Durch die Glimmerbrille sah sie, wie seine harten Augen sie beobachteten. »Nun, Ella Bennett, willst du mich heiraten? Oder willst du lieber in ein willkommenes Nichts eingehen? Du verläßt diese Hütte als mein Weib oder als Leiche.« Er stand auf, ging zu den Glaszylindern und. tippte mit dem Nagel daran. »Einen von diesen hier werde ich zerschlagen und meine Maske herunternehmen. Du wirst dann wenigstens die Genugtuung haben, sicher zu wissen, wer ich bin, bevor du stirbst!«

 

»Ich werde Sie nie heiraten!« sagte sie. »Niemals! Und wäre es aus keinem anderen Grund, als um Ihres elenden Komplotts gegen meinen Bruder willen.«

 

»Dein Bruder ist ein Narr«, sagte die hohle Stimme, »und er hätte diese Qualen nie durchmachen müssen, wenn du mir schon damals versprochen hättest, mich zu heiraten. Ich hatte einen Mann, einen Halbblödsinnigen, bereit, der gestanden hätte, daß er Lew Brady getötet hat, und ich hätte selbst das Risiko auf mich genommen, sein Geständnis zu unterstützen.«

 

»Ja, aber warum wollen Sie mich eigentlich heiraten?« fragte sie. Es klang banal, fast töricht, aber die Situation war so grotesk, daß sie kaltblütig und ohne innere Bewegung sprach.

 

»Weil ich dich liebe«, war die Antwort. »Ob ich dich so wie Gordon liebe, weiß ich nicht. Es kann ja wohl sein, daß du etwas bist, was ich nie besitzen darf und mir deshalb kostbarer erscheint als alles. Noch nie hat sich etwas meinem Wunsch verweigert.«

 

»Eher will ich den Tod willkommen heißen«, sagte sie rasch, und sie hörte wieder ein verhaltenes Kichern.

 

»Es gibt ärgere Dinge als den Tod für ein feinfühliges Mädchen«, sagte er bedeutungsvoll, »und du wirst erst sterben, wenn alles zu Ende ist.«

 

Er sah sie an, und etwas in seinen Augen ließ sie erstarren.

 

»Vielleicht wirst du nie mein Gesicht sehen«, sagte er und streckte die Hand nach der Petroleumlampe aus, die auf dem Tisch stand. Er drehte den Docht langsam tiefer.

 

Da wurde ein gedämpftes Klopfen an der Tür hörbar.

 

»Tapp, tapp, tapptapptapp, tapp.«

 

Der Frosch stand still, die Hand an der Lampe.

 

Das Klopfen wiederholte sich. Er drehte ein wenig das Licht auf und ging zur Tür. »Wer ist da?« fragte er.

 

»Hagn!« antwortete eine tiefe Stimme, und der Frosch trat erstaunt zurück. »Schnell, öffne!«

 

Der Frosch schob die schwere Eisenstange zurück, zog den Schlüssel aus der Tasche und schloß auf. »Hagn, wie bist du losgekommen?«

 

Die Tür wurde mit solcher Gewalt aufgestoßen, daß er gegen die Wand taumelte, und Ella stieß einen Freudenschrei aus.

 

Im Türrahmen stand ein Mann, barhaupt, in einem glänzenden Regenhautmantel. Es war Joshua Broad: »Zurück!«

 

Er sah sie nicht an, aber Ella wußte, daß die Worte an sie gerichtet waren und stand starr wie ein Steinbild in der Ecke. Broads Hände steckten in den Manteltaschen. Seine Augen hingen an der Maske.

 

»Harry«, sagte er gedämpft, »du weißt, was ich fordere.«

 

»Nimm, was dir gebührt!« schrie der Frosch. Zwei Schüsse erklangen gleichzeitig, und der Frosch taumelte gegen die Wand. Sein Fuß war nur ein paar Zoll von den Zylindern entfernt, und er erhob ihn. Aber Broad schoß noch einmal, und der Frosch fiel rücklings, sein Kopf schlug auf den Kamin auf. Er erhob sich noch einmal auf die Füße, fiel aber mit einem kleinen, erstickten Seufzer zurück, die Arme weit ausgebreitet.

 

Dann kam der Klang von Stimmen von draußen, das Geräusch von Tritten auf dem kotigen Weg, und John Bennett stürzte in die Hütte. Ella flog in seine Arme. Elk und Dick blieben in der Tür stehen.

 

»Meine Herren«, sagte Joshua Broad und trat den drei Männern entgegen, »ich rufe Sie zu, Zeugen auf, daß ich diesen Mann aus Notwehr getötet habe. Es ist der Frosch! Sein Name ist Harry Lyme. Er ist ein englischer Sträfling.«

 

»Ich habe gewußt, daß es Harry Lyme ist«, sagte Elk.

 

Broad beugte sich hinab und fuhr mit der Hand unter die Weste des Mannes.

 

»Ja, er ist tot. Es tut mir leid, daß ich Sie Ihrer Beute beraubt habe, Herr Elk, aber es war Lebensnotwendigkeit, daß er von mir getötet wurde; denn einer von uns beiden mußte in dieser Nacht sterben.«

 

Elk kniete neben der stillen Gestalt nieder und begann, die scheußliche Gummimaske zu lösen.

 

»Hier wurde Genter getötet«, sagte Dick Gordon leise. »Sehen Sie dort das Glas?« Elk sah auf die Zylinder und nickte. Dann wanderten seine Augen zu dem barhäuptigen Amerikaner.

 

»Saul Morris, wie ich glaube?« sagte er. Und »Joshua Broad« nickte. Elk kratzte nachdenklich sein Kinn und blickte neuerdings auf die stille Gestalt zu seinen Füßen.

 

»Nun, Frosch, laß dir ins Gesicht sehen!« sagte er und riß die Maske ab. Er sah in das Gesicht des Philosophen Johnson.

 

Kapitel 5

 

5

 

Elk begleitete Johnson in sein Büro zurück, und als sie sich dem Bankpalast der Vereinigten Maitlands näherten, brach Herr Johnson mitten in der interessanten Darlegung seiner Philosophie ab und beschleunigte den Schritt. Elk sah auf dem Gehsteig vor ihnen Ray Bennett und neben ihm die schmale Gestalt eines Mädchens. Sie wendete den beiden Männern den Rücken zu, aber Elk erriet sogleich, daß es Ella Bennett war. Er hatte sie zweimal vorher gesehen und besaß ein wunderbares Gedächtnis für Rückenlinien. Als Johnson auf sie zustrebte, grüßte Ella ihn mit einem freundlichen Nicken.

 

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Fräulein Bennett.« Johnsons gemütliches Gesicht erglühte rosig, und Elk stellte fest, daß sein Handschlag noch wärmer und herzlicher war als sonst.

 

»Ich wollte heute gar nicht in die Stadt kommen, aber Vater ist wieder auf einem seiner Ausflüge fort«, sagte sie. »Und ganz komisch – wenn ich nicht genau wüßte, daß sein Zug schon vor zwei Stunden abgefahren ist, so würde ich schwören, ihn soeben auf einem Autobus gesehen zu haben.«

 

»Mein Freund, Herr Elk«, stellte Johnson ein wenig ungeschickt vor.

 

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Fräulein Bennett«, sagte Elk.

 

Ray verabschiedete sich, und Ella sprach zu ihrem Bruder noch ein leises Wort. Elk sah, wie der Junge die Stirn runzelte.

 

»Nein, nein, ich werde nicht mehr so spät kommen«, sagte er so laut, daß der Detektiv es hörte. Er zog den Hut und war schon im Tor verschwunden. Ella sah ihm mit einem kleinen schmerzlichen Mundzucken nach, dann nahm sie sich zusammen, reichte Johnson die Hand, grüßte Elk mit einem leisen Neigen ihres Hauptes und ging.

 

»Haben Sie Fräulein Bennett schon gekannt?«

 

»Oberflächlich«, antwortete Elk mürrisch. »Oberflächlich kenne ich fast jeden. Gute und schlechte Leute. Je besser sie sind, desto weniger kenne ich sie. Auf Wiedersehen!«

 

Als Johnson die Treppe zu Maitlands Haus hinaufstieg, schlenderte Elk ziellos fort. Er überquerte die Straße und blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Es war vier Uhr, und ein Taxi hielt vor der Tür der Vereinigten Maitlands und wartete. Elk sah wenige Minuten später den alten Maitland herauskommen, hastig, weder rechts noch links blickend. Elk betrachtete ihn mit mehr als dem gewöhnlichen Interesse. Er kannte den Finanzier vom Sehen her und hatte zwei oder drei Besuche im Büro gemacht, die mit ein paar kleinen, von Aufwartefrauen begangenen Diebstählen in Verbindung standen. So war er auch mit Philo Johnson bekannt geworden, denn der alte Mann hatte die Unterredung seinem Angestellten überlassen. Elk schätzte Maitland auf fast siebzig Jahre, und zum ersten Male überkam ihn die Neugier, wo er wohnen mochte. Es kam ihm als eine merkwürdige Tatsache zum Bewußtsein, daß er nicht das geringste über den Finanzier wußte und daß Maitland die einzige der Stadtgrößen war, über die die Zeitungen nichts schrieben.

 

Als das Auto davonfuhr, konnte Elk dem Anreiz nicht widerstehen und winkte einen zweiten Wagen heran.

 

»Verfolgen Sie das Auto!« sagte er. Und der Fahrer nickte ohne Frage, denn es gab keinen Chauffeur in den Straßen von London, der den melancholischen Polizeimann nicht gekannt hätte. Der erste Wagen fuhr schnell in der Richtung nach London-Nord und hielt bei einem belebten Straßenknotenpunkt in Finsbury-Park. Maitland stieg aus und eilte um die Ecke, eine belebtere Straße entlang, und Elk folgte ihm auf den Fersen. Der Alte ging eine kleine Strecke, dann stieg er in einen Straßenbahnwagen. Elk sprang hinter ihm auf, als der Wagen sich eben in Bewegung setzte. Der Alte fand einen Platz, zog eine verknüllte Zeitung aus der Tasche und begann zu lesen. In Tottenham stieg Herr Maitland aus.

 

Er bog in ein Seitengäßchen, überquerte die Straße, kam in eine engere und noch armseligere Gasse und dann – zu Elks namenlosem Erstaunen – schloß er die eiserne Tür eines dunkeln und schmutzigen Hauses auf, trat ein und warf sie hinter sich zu.

 

Der Detektiv blickte die Straße hinauf und hinunter. Sie war von armen Kindern bevölkert. Elk betrachtete wieder das Haus.

 

Die Fenster waren schmutzig, die Vorhänge hingen in Fetzen, der winzige Vorhof war vernachlässigt. Und dies war das Haus Ezra Maitlands, des Mannes, der Millionen besaß.

 

Elk faßte einen Entschluß und klopfte an die Tür. Lange kam keine Antwort, dann war das Schlürfen von Füßen, die in Pantoffeln steckten, hörbar, und eine alte Frau mit krankhaft gelbem Gesicht öffnete die Tür.

 

»Verzeihen Sie«, sagte Elk; »Ich glaube, der Herr, der gerade hereingegangen ist, hat dies hier fallen gelassen.« Er zog ein Taschentuch hervor, und sie starrte es einen Augenblick lang an. Dann streckte sie wortlos die Hand aus, zog es ihm weg und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

 

Das war das letzte meiner guten Taschentücher, dachte Elk bitter. Er hatte einen Blick in das Innere des Hauses geworfen. Ein trüb aussehender Gang, mit einem Streifen verblichenen Teppichs belegt, war zu sehen gewesen. Er entschloß sich, fortzugehen und Erkundigungen einzuziehen.

 

»Maitland oder Mainland, das weiß ich nicht genau«, sagte ein Kaufmann, der an der Ecke sein Geschäft hatte. »Der alte Herr geht jeden Tag um neun Uhr fort und kommt immer um dieselbe Stunde wie heute zurück. Ich kann nicht sagen, wer er ist. Aber das eine weiß ich: essen tun sie nicht viel. Er kauft alle seine Waren bei mir, und das alles, wovon die beiden Leute einen Tag lang leben, könnte ein gesundes Kind bei einer einzigen Mahlzeit verzehren.«

 

Elk kehrte niedergeschlagen nach dem Westen der Stadt zurück. Er beschloß, sich mit der Angelegenheit weiter zu befassen.

 

Doch schien es ihm für den Moment angebrachter, alle seine Kräfte auf diese interessante junge Dame, Fräulein Lola Bassano, zu konzentrieren. In einer jener modernen Straßen, die von Cavendish Square auslaufen, gibt es eine Reihe Appartements, die nur von reichen Mietern bewohnt werden. Die Miete ist auch für jenes exklusive Viertel ganz besonders hoch bemessen, und Elk, den man nicht leicht zu überraschen vermochte, war ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht, als er sah, daß Lola Bassano in diesem luxuriösen Gebäude eine Flucht von Zimmern innehatte.

 

Der Liftboy, dem Elk mit reichlicher Berechtigung ein wenig verdächtig vorkam, berichtete ihm, daß Fräulein Bassano im dritten Stock wohne.

 

»Wie lange wohnt sie hier?« fragte Elk.

 

»Das geht Sie nichts an«, antwortete der Liftboy, »dort ist der Eingang für Lieferanten.«

 

Beim Anblick von Elks Dienstmarke wurde er jedoch sofort höflicher und mitteilsamer.

 

»Sie wohnt seit zwei Monaten hier«, sagte er. »Und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, es hat mich oft gewundert, daß sie die Wohnung im Caverley-Haus bekommen hat. Wie ich gehört habe, hat sie einmal einen Spielklub in der Germynstraße gehabt. Sie sind doch nicht gekommen, um sie zu verhaften?« fragte er ängstlich. »Das wäre ein schönes Renommee für Caverley -Haus.«

 

»Ich mache nur einen freundschaftlichen Besuch«, sagte Elk. Der Liftboy trat aus dem Aufzug und wies nach einer der beiden glatten Mahagonitüren, die auf den Flur mündeten.

 

»Die andere Wohnung gehört einem amerikanischen Millionär.«

 

Elk war im Begriff zu antworten, als der Liftboy zur Tür ging und auf eines der polierten Paneele deutete. »Das ist doch sonderbar –«, sagte er. »Da, schauen Sie einmal her.«

 

Elk trat neben ihn, und mit einem Blick erfaßte und verstand er. Auf der Mahagonitafel war ein kleiner weißer Frosch sichtbar, ein genaues Stempelbild desjenigen, den er heute morgen auf Dick Gordons Fotografien gesehen hatte.

 

Ein Frosch, kauernd und ein wenig schief. Er rührte mit spitzem Finger daran. Die Farbe war noch naß und blieb haften.

 

Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein Mann mittleren Alters erschien in ihrem Rahmen. Mit dem langläufigen Revolver in der Hand zielte er auf das Herz des Detektivs.

 

»Halten Sie die Hände hoch!« befahl er scharf.

 

Dann stockte er und starrte dem Detektiv ins Gesicht. Elk erwiderte sprachlos den Blick, denn der elegante Herr, der vor ihm stand, war der Hausierer, den er in Whitehall gesprochen hatte. Der Amerikaner gewann als erster die Selbstbeherrschung zurück, und Elk sah von neuem das Aufblitzen innerer Belustigung in seinen Augen. Er trat zurück und öffnete die Tür ganz. »Kommen Sie herein, Herr Elk«, sagte er und nickte dem verblüfften Liftboy zu. »Schon gut, Worth, ich habe mir einen kleinen Scherz mit Herrn Elk erlaubt.«

 

Er schloß die Tür und ließ den Detektiv in seinen Salon eintreten. Elk beschloß, den Frosch an der Tür zum Gegenstand einer späteren Diskussion zu machen.

 

»Wir sind ganz allein, Herr Elk, und Sie brauchen nicht leise zu sprechen. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?« Elk streckte mechanisch die Hand aus und wählte eine blonde Havanna.

 

»Wenn ich mich nicht sehr irre, so haben wir uns schon heute morgen gesehen«, sagte er.

 

»Sie täuschen sich nicht«, unterbrach ihn der andere kühl. »Wir haben uns in Whitehall getroffen, und ich habe mit Schlüsselringen hausiert. Mein Name ist Joshua Broad. Sie können mir also nicht vorwerfen, daß ich unter falschem Namen gehandelt habe.«

 

Der Detektiv zündete die Zigarre an, bevor er sprach.

 

»Diese Wohnung scheint sehr kostspielig zu sein«, sagte er langsam. »Und ich verstehe es, daß Sie versuchen, etwas zu verdienen. Aber es dünkt mich, daß das Hausieren mit Schlüsselringen einem Geschäftsmann nur recht armselige Verdienstmöglichkeiten bieten kann.«

 

Joshua Broad nickte.

 

»Es macht mir aber Spaß, Herr Elk. Ich bin eine Art von Kriminalpsychologe.« Er zündete seinerseits eine Zigarre an und machte es sich in einem tiefen, kattunüberzogenen Armsessel bequem, die gekreuzten Beine von sich streckend, ein Bild der Zufriedenheit.

 

»Als Amerikaner habe ich Interesse an sozialen Problemen, und ich habe immer gefunden, daß der einzige Weg, um die Armen irgendeines Landes zu verstehen, der ist, unter ihnen zu leben.«

 

Elk setzte seine Brille fester auf die Nase, und seine Blicke streiften Herrn Broads Tasche, in die der Revolver zurückgekehrt war. »Wir leben in einem ziemlich freien Lande«, sagte er.

 

»Und jedermann kann hier mit Schlüsselringen hausieren, sogar wenn er im Nebenberuf Mitglied des Oberhauses wäre. Aber etwas ist hier doch verboten, Herr Broad, und das ist, ehrbaren Polizeileuten Revolver auf die Brust zu setzen!«

 

Broad kicherte. »Ich bedauere, ich war ein wenig zu heftig«, sagte er. »Aber ich habe in Wahrheit mehr als eine Stunde auf jemanden gewartet, der zu mir kommen sollte. Und als ich Ihre Schritte hörte …« Er zuckte die Achseln. »… ich bin darüber so zerknirscht, wie Sie es nur verlangen können.«

 

Elks Blicke ließen nicht von ihm ab. »Ich möchte Ihnen nicht lästig werden, wenn ich Sie frage, ob Sie einen Freund erwartet haben? Ich möchte gar zu gerne den Namen des Gastes wissen.«

 

»Das möchte ich auch«, sagte der andere. »Und noch eine ganze Menge von Leuten mit mir.« Er sah Elk gedankenvoll an. »Ich habe einen Mann erwartet, der jeden Grund hat, sich sehr vor mir zu fürchten. Er heißt –, nun das tut nichts zur Sache. Ich habe ihn nur einmal im Leben getroffen und sah damals sein Gesicht nicht.«

 

»Aber Sie sind aneinandergeraten?« fragte Elk.

 

»Keineswegs, ich benahm mich sehr gutmütig gegen ihn. Ich war nicht länger als fünf Minuten mit ihm in einem verfinsterten Raum allein, der nur von einer Laterne, die auf dem Tisch stand, erhellt wurde. Und ich glaube, daß dies alles ist, was ich Ihnen darüber erzählen kann, Herr Inspektor.«

 

»Sergeant!« murrte Elk. »Es ist doch merkwürdig, wie viele Leute meinen, daß ich Inspektor wäre.«

 

Eine recht unbehagliche Pause entstand. Und dann fragte Elk und wies mit dem Kopf nach dem Gang: »Verkehren Sie mit Ihren Nachbarn?«

 

»Mit der Bassano und ihrem Freund? Nein! Sind Sie ihretwegen da?« Elk schüttelte den Kopf.

 

»Ich wollte nur einen freundschaftlichen Besuch machen«, sagte er. »Ich bin gerade aus Ihrem Land gekommen, Herr Broad. Es ist ein schönes Land, aber es gibt dort zu große Entfernungen für mich.« Er studierte noch eine ganze Weile das Teppichmuster, dann sagte er: »Ich hätte Ihren Freund von Herzen gerne kennengelernt. Ist er vielleicht auch Amerikaner?«

 

Broad schüttelte den Kopf. Als er Elk hinausbegleitete, sprachen sie beide kein Wort, und es schien fast, als ob Elk ohne guten Tag zu sagen gehen wollte, denn er schritt geistesabwesend weiter. Aber er drehte sich doch in der Tür um und lächelte trüb.

 

»Ich würde mich freuen, Sie wiederzusehen, Herr Broad«, sagte er. »Vielleicht treffen wir uns wieder in Whitehall?«

 

Seine Blicke hafteten an dem grotesken weißen Frosch an der Tür. Broad wischte mit dem Finger über das Zeichen.

 

»Der Abdruck ist noch ganz frisch«, sagte er. »Haben Sie sich schon Ihre Meinung darüber gebildet, Herr Elk?«

 

Elk prüfte die Matte vor der Tür. Ein kleiner weißer Fleck war auf ihr sichtbar, zu dem er sich hinabbückte. »Vollkommen frisch. Es muß gerade, bevor ich hierhergekommen bin, geschehen sein.«

 

Und hiermit schien sein Interesse an dem Frosch erschöpft.

 

»Ich werde jetzt hinübergehen. Guten Tag«, sagte er.

 

Lola Bassano saß wartend in ihrem schönen Salon. In einem tiefen Sessel kindhaft eingeschmiegt, viele weiche und farbige Kissen im Rücken, saß sie mit untergeschlagenen Beinen da, eine Zigarette zwischen den Lippen.

 

Von Zeit zu Zeit wendete sie den Kopf nach dem Mann, der, die Hände in den Hosentaschen, am Fenster stand und auf die Straße hinaussah. Er war groß, schwer gebaut, klobig und unvornehm. Alle Hilfe, die die Perfektion seines Schneiders und Kammerdieners ihm hatten angedeihen lassen, genügte nicht, um, seinen Ursprung zu verwischen. Er blieb ein recht fett gewordener Boxer. Vor einiger Zeit – vor noch ganz kurzer Zeit – war Lew Brady Schwergewichtsmeister von Europa gewesen, ein schrecklicher Kämpfer, mit gerade jenem Tropfen farbigen Blutes in den Adern, der den Unterschied zwischen Größe und Mittelmäßigkeit im Ring auszumachen pflegt. Ein stärkerer Mann hatte seine Schwäche aufgedeckt, und der Ruhm Lew Bradys welkte mit bemerkenswerter Schnelle dahin. Er hatte einen einzigen Vorteil vor seinen Gefährten, und dieser rettete ihn vor völliger Vergessenheit. Ein Philanthrop hatte ihn einst als Kind in der Gosse gefunden und ihm eine Erziehung angedeihen lassen. Er hatte eine gute Schule besucht und war mit Männern, die ein gutes Englisch sprachen, befreundet. Die Vorteile, die er dieser Freundschaft verdankte, waren nicht verlorengegangen, und seine Sprache war von so merkwürdiger Kultur, daß Leute, die den brutalen Mann zum ersten Male sprechen hörten, mit dem hellsten Erstaunen lauschten.

 

»Um wieviel Uhr erwartest du deinen Pagen?« fragte er.

 

Lola zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, wann er kommt.«

 

Der Mann wendete sich vom Fenster ab und begann langsam im Zimmer auf und nieder zu schreiten. »Ich verstehe nicht, warum sich der Frosch für ihn interessiert«, murrte er. »Lola, ich bin dieses alten Herrn Frosches entschieden überdrüssig.«

 

Lola lächelte und sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an. »Vielleicht bist du nur der Tatsache überdrüssig, daß du Geld bekommst und nichts dafür zu tun hast«, sagte sie. »Mich selbst wird solch ein Überdruß niemals anwandeln. Und sei sicher, daß der Frosch nicht nach dem jungen Bennett fragen würde, wenn er dessen nicht wert wäre.« Brady zog seine Uhr heraus und blickte auf das juwelengeschmückte Zifferblatt. »Fünf Uhr. Vermutlich weiß der Junge nicht, daß du mit mir verheiratet bist.«

 

»Du bist ein Narr!« sagte Lola, sich träge dehnend. »Sollte ich mich dessen auch noch rühmen?«

 

Lew Brady ging von neuem hin und her, hin und her. Ein schwaches Glockenzeichen wurde hörbar, und er sah Lola an. Sie nickte, erhob sich, schüttelte die Kissen auf und nahm von neuem ihre frühere Stellung ein.

 

»Mach auf!« sagte sie, und der Mann ging gehorsam. Dann kam Ray Bennett herein; er nahm Lolas Hand und küßte sie.

 

»Ich komme spät. Der alte Johnson hat mich zurückgehalten, nachdem die anderen schon lange gegangen waren. Oh, ist das aber ein schöner Raum! Ich hatte keine Ahnung, daß du in so großem Stile lebst.«

 

»Kennst du Lew Brady?«

 

Ray nickte lächelnd. Er sah wie die verkörperte Glückseligkeit aus, und die Gegenwart Bradys hinderte ihn wenig. Er wußte längst, daß Lola mit Brady in irgendeiner Geschäftsverbindung stand.

 

»Also, sprechen wir jetzt von deinem wundervollen Plan!«

 

sagte er, als er auf ein Zeichen von Lola sich neben sie gesetzt hatte. »Weiß Brady davon?«

 

»Es ist Lews Idee«, sagte sie leichthin. »Er späht ja immer nach guten Gelegenheiten aus, allerdings nicht für sich selber, sondern für andere.«

 

»Ja, das ist eine meiner Schwächen«, sagte Lew bescheiden.

 

»Ich weiß ja nicht, ob Sie mit meinen Plänen einverstanden sein werden. Ich würde die Sache selbst übernehmen, aber ich habe leider im Augenblick zuviel zu tun. Hat Lola Ihnen alles darüber gesagt?«

 

Ray nickte. »Ich kann es kaum glauben«, sagte er. »Ich habe immer gemeint, daß so etwas nur in Zeitschriften steht. Lola hat mir von einem Geheimagenten erzählt, den die japanische Regierung in London einsetzen möchte. – Jemanden, den sie desavouieren könnte, wenn es notwendig wäre. Aber worin bestünde denn eigentlich meine Arbeit?«

 

»Das weiß ich nicht«, sagte Lew kopfschüttelnd. »Soweit ich informiert bin, haben Sie nichts zu tun, als zu atmen. Vielleicht werden sie Sie brauchen, um Dinge in Erfahrung zu bringen, die in der politischen Welt vor sich gehen. Das, was mir, wie ich ehrlich gestehe, daran nicht gefällt, ist, daß Sie ein Doppelleben führen müssen. Niemand darf erfahren, daß Sie bei Maitland angestellt sind. Sie legen sich einen beliebigen Namen bei und treffen Ihre häuslichen Arrangements so gut Sie es vermögen.«

 

»Das wird nicht schwer halten«, unterbrach ihn Ray. »Vater meinte ohnedies, ich müßte ein Zimmer in der Stadt nehmen. Er findet die tägliche Reise von und nach Horsham zu kostspielig. Das habe ich Samstag mit ihm ausgemacht. Zum Wochenende werde ich immer nach Hause fahren; aber was habe ich zu tun und wem muß ich berichten?«

 

Lola stand auf und kam langsam auf ihn zu. »Armer Junge«, spottete sie mit ihrem leisen Lachen, »die Aussicht, eine schöne Wohnung zu haben und mich jeden Tag zu sehen, macht ihm solche Sorgen!«

 

Kapitel 34

 

34

 

Dicks Gesicht wurde aschfahl. »Woher wissen Sie das?«

 

»Die Photographie ist auf dem Weg zu uns, heute nachmittag wird sie in London sein. Aber ich brauche sie erst gar nicht zu sehen. Der Mann in Gloucester hat drei Impfnarben am rechten Unterarm.«

 

Es herrschte Totenstille.

 

»Ich wunderte mich, als Sie das Gespräch auf die Blattern brachten«, sagte Dick gefaßt. »Ich hätte mir denken können, daß etwas dahintersteckt. Was sollen wir nun machen?«

 

»Ich werde Ihnen lieber aufzählen, was wir nicht machen können«, sagte Elk. »Wir dürfen Bennett und Fräulein Ella nicht benachrichtigen. Ray hat sich aus guten Gründen entschlossen, seine Identität nicht zu offenbaren. Sie werden einen verdorbenen Nachmittag haben, Herr Hauptmann«, sagte Elk liebenswürdig. »Oh, ich möchte nicht mit Ihnen tauschen! Denn Sie müssen dabei Ihr leichtes Geplauder aufrechterhalten, oder die junge Dame wird erraten, daß etwas vorgeht.«

 

»Gott im Himmel, das ist ja entsetzlich!« sagte Dick leise.

 

»Das ist wohl wahr«, gab Elk zu, »und wir können nichts machen. Wir müssen es als Tatsache hinnehmen, daß er schuldig ist. Wenn Sie anders dächten, würde es Sie verrückt machen. Und selbst wenn er so unschuldig wäre wie Sie oder ich, was für Möglichkeiten hätten wir, eine Untersuchung einzuleiten oder die Ausführung des Urteils aufzuhalten?«

 

»Der arme John Bennett«, sagte Dick niedergeschlagen.

 

»Wenn Sie anfangen wollen, sentimental zu werden«, knurrte Elk und zwinkerte dabei wütend, »dann verfüge ich mich in eine nüchternere Atmosphäre. Guten Tag!«

 

»Warten Sie ein bißchen, ich kann ihr momentan nicht allein gegenübertreten. Kommen Sie mit mir zurück?«

 

Elk zögerte und folgte dann widerwillig.

 

Ella vermochte aus dem Betragen der beiden den Schrecken, der auf ihren Gemütern lastete, nicht zu erraten. Elk kam von neuem auf Geschichte und Daten zu sprechen und die Enttäuschungen, die diese ihm bereitet hatten, und dies war ein ausgiebiges und geläufiges Thema, das den ganzen Weg nach Harley Terrace vorhielt.

 

»Gott sei Dank, die Preislisten sind gekommen!« sagte Dick mit einem Seufzer der Erleichterung, als er den großen Stoß auf seinem Schreibtisch bemerkte.

 

»Und warum: Gott sei Dank?« lächelte Ella.

 

»Weil ihn sein Gewissen drückt, wenn er eine Entschuldigung dafür braucht, daß er seine Arbeit im Stich läßt!« half Elk ihm.

 

Der Zwang war so groß, daß er ihn unerträglich fand, und als Dick ihm nach einem beschwörenden Blick durch ein Nicken die Erlaubnis erteilte, sprang er mit einem Gefühl wie vor den Ferien auf.

 

»Ich muß jetzt gehen, Fräulein Bennett«, sagte er. »Ich glaube, Sie beide werden den ganzen Nachmittag brauchen, um Maytree Haus einzurichten, obgleich …«

 

Soweit war es gekommen, als eine Stimme im Vorraum laut wurde. Es war die aufgeregte, schrille, hysterische Stimme einer Frau. Bevor Dick die Tür erreichen konnte, wurde sie aufgerissen, und Lola stürzte ins Zimmer. Sie war aufgelöst, verzweifelt, ihr schönes Gesicht geschwollen von Tränen.

 

»Gordon, Gordon! Oh, du mein Gott«, schluchzte sie. »Wissen Sie es schon?«

 

»Still!« sagte Dick, denn Ella stand neben ihm. Aber Lola war außerstande zu hören und zu verstehen.

 

»Sie haben Ray gefangen und sie werden ihn hängen! Und Lew ist tot!«

 

Das Unglück war geschehen.

 

»Mein Bruder?« fragte Ella, starr vor Schrecken.

 

Erst in diesem Augenblick erkannte Lola sie und nickte heftig. »Ja, ich habe es herausbekommen«, schluchzte sie. »Ich hatte Verdacht und ich schrieb. Ich habe eine Fotografie von Phenan bekommen. Ich wußte sofort, daß es Lew sei. Der Frosch hat es getan! Der Plan war monatelang vorbereitet! Ich weine nicht um Lew. – Ich schwöre, daß ich nicht um Lew weine. Aber der Junge! Es war meine Schuld, ich habe den armen Jungen in den Tod gelockt, Gordon!« Und sie brach in hysterisches Schluchzen aus.

 

»Bringen Sie sie fort«, sagte Dick leise. Und Elk führte die willenlose Gestalt zur Tür hinaus.

 

»Ist das wahr?« hauchte Ella.

 

Dick nickte. »Ich fürchte, daß es wahr ist, Ella.«

 

»Wenn ich‘ nur wüßte, wo ich Vater finden kann!« sagte sie gefaßt.

 

»Glaubst du, daß es gut ist, ihn zu benachrichtigen, wo er nicht helfen kann?«

 

Sie forschte in seinem Gesicht.

 

»Ich glaube, du hast recht, Dick. Ja, Vater darf nichts erfahren. Dick, könnte ich Ray nicht sehen?«

 

Dick schüttelte den Kopf. »Ella, wenn Ray so tapfer geschwiegen hat, um euch das zu ersparen, so würden seine ganze Haltung und sein Mut dahin sein, wenn du ihn besuchen wolltest.«

 

Elk kam rasch herein. »Ein Telegramm für Sie, Fräulein Bennett«, sagte er. »Ich habe den Boten vor der Haustür getroffen. Es ist von Horsham nachgeschickt worden, wie ich vermute.«

 

»öffne es, bitte«, sagte das Mädchen. »Es kann von Vater sein.«

 

Dick riß den Umschlag auf, das Telegramm lautete:

 

›Ihr Bild entwickelt. Kann Mord nicht verstehen. Besuchen Sie mich. Selinski-Haus, Wardourstraße.‹

 

»Was soll das heißen?« fragte Elk.

 

»Ich verstehe es auch nicht!« sagte Dick. »Kann Mord nicht verstehen? Hat dein Vater versucht, Aufnahmen für Kinostücke zu machen?«

 

»Nein, Liebster, sicher nicht! Das hätte er mir gesagt.«

 

»Was für Bilder hat dein Vater an Selinski geschickt?«

 

Sie versuchte ihre Gedanken zu sammeln. »Es war eine Forellenaufnahme«, sagte sie. »Aber er hat mir von einem verdorbenen Film erzählt. Er war auf dem Land und ist eingeschlafen, während er auf einen Dachs gewartet hat. Und die ganze Zeit hat der Apparat gekurbelt. Er wollte den Film gar nicht entwickeln lassen. Er muß ihn verwechselt haben. Selinski erwähnt die Forellen ja gar nicht.«

 

»Wir müssen sofort nach der Wardourstraße.«

 

Es war Elk, der so entschieden sprach, der ein Auto holte und die beiden hineinschob.

 

Als sie in die Wardourstraße kamen, war Herr Selinski gerade beim Lunch, und niemand wußte etwas über den Film oder hatte Erlaubnis ihn vorzuführen. Eineinhalb Stunden warteten sie auf ihn in dem schmierigen Büro, während Boten auf der Suche nach Selinski durch die Stadt jagten. Schließlich kam er, ein höflicher, gefälliger, kleiner Mann, der sich in tausend Entschuldigungen erging, obgleich er seine Besucher gar nicht hatte erwarten können.

 

»Ja, es ist eine merkwürdige Aufnahme«, sagte er. »Ihr Herr Vater, Fräulein Bennett, ist ein sehr guter Amateur, das heißt, jetzt ist er ja Berufsfotograf. Und wenn es wahr ist, daß er die Erlaubnis für die Zoo-Aufnahmen bekommen hat, so wird er sicherlich in die erste Reihe unserer Naturfotografen treten.«

 

Sie folgten ihm in einen großen Saal, in dem die Sessel aneinandergereiht standen. Sie setzten sich vor einen kleinen, weißen Schirm.

 

»Das ist unser Theater«, erklärte Selinski. »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, Fräulein, ob Ihr Vater nicht versucht hat, Kinostücke zu drehen? Denn die Szene ist an und für sich sehr gut gespielt. Auf der Etikette stand ›Forellen in einem Teich‹, oder so ähnlich. Aber es kommen weder Forellen noch ein Teich vor.«

 

Man hörte ein Knacken, und der Raum verfinsterte sich. Dann erschien auf der Leinwand ein Bild, das im Vordergrund einen Streifen grauen, sandigen Bodens zeigte. Man sah die schwarze Öffnung eines Baues, aus der ein seltsam aussehendes Tier hervorspähte.

 

»Sehen Sie, das ist der Dachs«, erklärte Herr Selinski. »Bis jetzt sieht es sehr vielversprechend aus, aber ich verstehe nicht, was Ihr Herr Vater weiterhin damit gemacht hat. Die ganze Stellung der Kamera wird eine andere.«

 

Während er sprach, schwenkte das Bild ein wenig nach rechts, als ob es heftig gezogen würde. Und jetzt sah man zwei Männer, Landstreicher offenbar. Einer saß, den Kopf in den Händen, da, der andere neben ihm schenkte einen Becher voll.

 

»Das ist Lew Brady!« flüsterte Elk aufgeregt. Und in diesem Augenblick sah der andere Mann auf. Ella stieß einen Schrei aus.

 

»Es ist Ray! O Dick, es ist Ray!«

 

Keine Frage, er war es. Sie sahen, wie Brady ihm zu trinken anbot; sahen ihn den Becher widerwillig leeren und zurückreichen. Dann sahen sie, wie er die Arme gähnend ausstreckte und sich zum Schlaf zusammenkauerte. Die liegende Gestalt wurde auf das Gesicht gedreht, und Lew bückte sich und steckte Ray etwas in die Tasche. Sie bemerkten deutlich den Glasreflex.

 

»Die Flasche!« sagte Elk.

 

Aber dann wendete sich die Gestalt in der Mitte des Bildes hastig um. Ein Mann schritt langsam auf Lew zu. Sein Gesicht war den Beschauern unsichtbar, er wendete sich ihnen nicht ein einziges Mal während der ganzen Zeit zu. Sie sahen, wie er den Arm hob, sahen das Aufblitzen von zwei Schüssen und beobachteten atemlos, als läge Zauberbann auf ihnen, die Tragödie, die darauf folgte. Der Mörder beugte sich nieder, legte die Pistole neben den schlafenden Ray und, eben als er … jetzt … jetzt … jetzt sich ihnen zuwendete, wurde die Leinwand wieder weiß, und das Licht flammte auf.

 

»Er ist unschuldig, Dick, er ist unschuldig!« rief Ella verzweifelt. »Hast du nicht den Mann gesehen, der geschossen hat?«

 

Dick erfaßte mit festem Griff ihre beiden Schultern. Sie war halb wahnsinnig vor Schmerz und Entsetzen. Und während der verblüffte Selinski verständnislos auf die Szene blickte, sagte Dick kurz und befehlend: »Du wirst jetzt zu mir nach Hause gehen, wirst ein Buch nehmen und wirst lesen. Hörst du, Ella? Du darfst nichts beginnen, eh du Nachricht von mir erhältst! Du wirst nicht aus dem Haus gehen, du wirst nur lesen und lesen die Bibel, Polizeinachrichten, was du willst, aber du darfst nicht daran denken! Elk und ich werden alles tun, was menschenmöglich ist.«

 

Sie bemeisterte ihre wilde Angst und versuchte sogar zu lächeln. »Ich weiß, daß du es tun wirst«, sagte sie, am ganzen Leib schaudernd. »Bitte, bring mich nach Haus.«

 

Er sandte Elk nach der Fleetstraße, um auch die geringsten Berichte über den Mord in den Zeitungsbüros zu erheben, und brachte Ella selbst nach Harley Terrace.

 

Als sie aus dem Wagen stiegen, sah Dick, daß ein Mann vor dem Haus wartete. Es war Joshua Broad. Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um zu erkennen, daß er von dem Mord wußte und dessen Umstände erriet. Er wartete im Vorraum, bis Dick das Mädchen in sein Arbeitszimmer geführt und jede illustrierte Zeitung, jedes Buch, das er finden konnte, vor ihr aufgestapelt hatte.

 

»Lola ist zu mir gekommen und hat mir alles erzählt.«

 

»Das habe ich geahnt«, sagte Dick. »Wissen Sie etwas Näheres?«

 

»Ich wußte nur, daß die beiden Männer in der Verkleidung von Landstreichern ausgezogen sind. Das ist das Werk des Frosches. Aber warum hat er das getan?«

 

»Ich weiß es«, sagte Dick. »Der Frosch kam gestern nacht zu Fräulein Bennett und fragte sie, ob sie ihn heiraten will. Er versprach, ihren Bruder zu retten, wenn sie einwilligte. Aber ich kann kaum glauben, daß er den ganzen teuflischen Plan zu diesem Zweck ersonnen haben soll.«

 

»Zu keinem anderen«, sagte Broad kühl. »Sie kennen den Frosch nicht, Gordon. Der Mann ist ein Stratege. Sagen Sie, Gordon, kann ich irgend etwas für Sie tun?«

 

»Ich möchte Sie bitten, hier zu bleiben und Fräulein Bennett Gesellschaft zu leisten«, sagte Dick.

 

Ella sah mit einem peinvollen Blick auf, als der Besucher ins Zimmer trat. Sie glaubte die Anwesenheit eines Fremden zu dieser Stunde nicht ertragen zu können und sah flehentlich zu Dick auf.

 

»Falls Sie nicht wollen, daß ich hierbleibe, Fräulein Bennett«, sagte Broad, »so werde ich sogleich gehen, aber ich habe Ihnen die Mitteilung zu machen, daß Ihr Bruder sicherlich gerettet werden wird.«

 

»O Gott, haben Sie Nachrichten von ihm?« fragte Ella hastig.

 

»Ja, die habe ich, aber Sie dürfen es mir nicht verargen, wenn ich jetzt noch nicht darüber sprechen darf!« sagte der Amerikaner fröhlich.

 

Dick telefonierte an die Garage nach seinem Wagen, nach demselben gelben Rolls, den Ray gelenkt hatte, als er zum erstenmal nach Horsham gekommen War. Dicks erster Besuch galt dem Büro der Staatsanwaltschaft, wo er die Tatsachen vorlegte.

 

»Das ist eine höchst merkwürdige Geschichte«, sagte der Oberstaatsanwalt, »aber ich bin da natürlich nicht kompetent. Sie würden besser sofort den Staatssekretär aufsuchen, Gordon.«

 

»Tagt das Unterhaus jetzt?«

 

»Nein, und ich glaube sogar, daß der Staatssekretär, der als einziger etwas für Sie tun kann, sich zur Zeit nicht einmal in der Stadt befindet. In der letzten Woche wurde eine Konferenz in San Remo abgehalten. Und ich habe so eine Ahnung, daß er auch hingefahren ist.«

 

Dicks Herz stand still.

 

»Ist niemand sonst im Ministerium des Innern, der helfen kann?«

 

»Der Unterstaatssekretär. Vielleicht fahren Sie zu ihm.«

 

Das Departement der Staatsanwaltschaft war im Ministerialgebäude untergebracht, und Dick ging geradewegs auf die Suche nach dem verantwortlichen Beamten.

 

Der Sekretär, dem er die Umstände erklärte, schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte, daß wir nichts machen können, Gordon«, sagte er. »Der Staatssekretär ist auf dem Land und sehr krank.«

 

»Wo ist der Vizestaatssekretär?« fragte Dick verzweifelt.

 

»Der ist in San Remo.«

 

»Und wie weit ist Herrn Whitbys Haus von der Stadt entfernt?«

 

»Ungefähr dreißig Meilen, diesseits von Tunbridge Wells.«

 

Dick schrieb die Adresse auf ein Stück Papier.

 

Eine halbe Stunde später raste über die Westminsterbrücke ein langer gelber Rolls Royce, der sich mit einer Sorglosigkeit durch das Gewühl hindurchdrängte, die sogar den kaltblütigsten Chauffeuren den Atem stocken ließ. Vierzig Minuten, nachdem er Whitehall verlassen hatte, eilte Dick durch eine Ulmenallee nach dem Heim des Staatssekretärs.

 

Der Kammerdiener, mit dem er sprach, vermochte ihn nicht zu entmutigen.

 

»Ich fürchte, Herr Whitby wird Sie nicht empfangen können. Der Herr hat einen sehr bösen Gichtanfall gehabt, und die Ärzte haben verordnet, daß er sich von allen Geschäften fernhalten muß.«

 

»Es ist eine Sache auf Leben und Tod«, sagte Dick. »Ich muß ihn sprechen! Wenn er mich nicht empfängt, dann bleibt mir nichts übrig, als zum König zu gehen!«

 

Diese Botschaft, die er dem Kranken überbringen ließ, hatte eine Einladung zur Folge.

 

»Worum handelt es sich?« fragte der Minister scharf, als Dick hereintrat. »Ich kann mich mit keinem, wie immer gearteten Geschäft befassen. Ich leide durch diesen höllischen Fuß die Qualen eines Verdammten. Sagen Sie schnell, worum es sich handelt!«

 

Gordon erzählte ihm rasch seine Entdeckung.

 

»Eine erstaunliche Geschichte!« sagte der Minister ächzend. »Wo ist denn der Film?«

 

»In London.«

 

»Aber ich kann doch nicht nach London fahren, es ist mir physisch unmöglich. Können Sie nicht jemanden im Ministerium dazu veranlassen, dies zu bestätigen? Wann soll Ihr Mann gehängt werden?«

 

»Morgen früh um acht, Exzellenz.«

 

Der Staatssekretär dachte nach und trommelte wütend auf die Tischplatte. »Ich wäre ja ein Unmensch, wenn ich mich weigerte, diesen gottverdammten Film zu sehen«, sagte er. »Aber ich kann nicht in die Stadt fahren. Es sei denn, Sie verschaffen mir einen Krankenwagen. Vielleicht rufen Sie eine Londoner Garage an, daß sie mir einen Wagen schickt, oder, noch besser, lassen Sie mir einen vom hiesigen Spital schicken.«

 

Alles schien sich gegen Dick verschworen zu haben. Das Krankenauto des Ortes war in Reparatur. Aber schließlich meldete man Dick aus London, daß ein Krankenauto sich in zehn Minuten auf den Weg begeben würde.

 

Aber zwei Stunden vergingen, bevor der Krankenwagen kam. Der Chauffeur hatte während der Fahrt zweimal die Reifen wechseln müssen. Mit großer Vorsicht und doch unter den wütenden Flüchen des Ministers, mit denen er das schmerzende Bein bedachte, wurde die Bahre in den Krankenwagen gehoben. Die Reise schien Dick kein Ende nehmen zu wollen. Er hatte an Selinski telefoniert und ihn gebeten, sein Büro so lange offenzuhalten, bis sie kämen. Es war acht Uhr abends, als der Minister in das »Theater« geleitet und der Film abgerollt wurde.

 

Herr Whitby verfolgte das Drama mit dem größten Interesse, und als es zu Ende war, schöpfte er tief Atem.

 

»So weit wäre das in Ordnung«, sagte er. »Aber wie soll ich mich davon überzeugen, daß es nicht mit Absicht gestellt wurde, um dem Mann einen Aufschub zu verschaffen? Und wie soll ich mich davon überzeugen, daß der Vagabund derjenige ist, den Sie meinen?«

 

»Diese Sicherheit kann ich verschaffen, Exzellenz«, sagte Elk. »Ich bekam heute nachmittag die Fotografien aus Gloucester.«

 

Er zog aus seiner Brieftasche zwei Bilder hervor, das eine im Profil, das andere en face, und legte sie vor den Minister hin.

 

»Führen Sie den Film noch einmal vor«, befahl dieser, und sie sahen die Tragödie von neuem sich abrollen.

 

»Aber was, um Himmels willen, hat denn der Operateur angestellt, um diesen Film aufzunehmen?«

 

»Er ging aus, um die Aufnahme eines Dachses zu machen. Ich weiß dies, Exzellenz, weil Herr Selinski mir alle zu seiner Verfügung stehenden Informationen mitgeteilt hat.«

 

Der Minister sah Dick an. »Sie sind aus dem Staatsanwaltsdepartement, ich erinnere mich jetzt sehr gut an Sie. Ich muß Ihrem Manneswort glauben. Dies ist kein Fall für einen Aufschub, sondern nur für eine Wiederaufnahme des Prozesses, zur Aufklärung sämtlicher Umstände.«

 

»Ich danke, Exzellenz«, sagte Dick und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»Sie können mich jetzt in das Ministerium des Innern bringen«, brummte der dicke Mann. »Morgen werde ich ja wahrscheinlich Ihren Namen und Ihr Gedächtnis verfluchen, obgleich ich gestehen muß, daß ich mich seit dieser Fahrt beinahe besser fühle. Ich möchte diesen Film haben.«

 

Sie mußten warten, bis der Film in der Kassette gebracht wurde, und dann halfen Gordon und Elk dem Sekretär in das wartende Krankenauto. Um Viertel zehn lag der Urteilsaufschub zur Unterschrift des Königs bereits in Dicks Händen. Und das Wunder, das der Minister gar nicht zu hoffen gewagt hatte, begab sich. Er war imstande, mit Dicks und eines Stockes Hilfe nach seinem Auto zu humpeln.

 

Vor dem großen Palast standen Wagen um Wagen. Es, war die Nacht des ersten Balles in dieser Saison, und die Halle bot ein unvergeßliches Bild.

 

Die fürstlichen Juwelen der Damen, das Scharlachrot, Blau und Giftgrün diplomatischer Uniformen, der Glanz der Orden, so unzählbar wie nächtliche Sterne, und mehr noch die Organisation dieser prächtigen Veranstaltung fesselten Dick, während er müde und verstaubt, eine sonderbar kontrastierende Figur, an. einer Säule lehnte und das Gepränge an sich vorüberziehen ließ.

 

Der Minister war humpelnd in einem der Vorsäle verschwunden, kam aber fast gleich darauf zurück und winkte Dick mit dem Finger.

 

Dick folgte ihm, an weißhaarigen, scharlachroten und goldenen Dienern vorbei, bis sie an eine Tür kamen, vor der ein Lakai wartete.

 

Auf ein geflüstertes Wort klopfte der Lakai, und eine Stimme bat einzutreten.

 

Der Diener öffnete vor ihnen die Tür.

 

Von dem Tisch, an dem er gesessen hatte, erhob sich ein Mann, der die scharlachrote Uniform eines Generals trug. Quer über seine Brust schlang sich das blaue Band des Hosenbandordens. Aus seinen Augen blickte so viel Güte.und Menschlichkeit, wie Dick sie hier kaum zu finden erwartet hatte.

 

»Wollen Sie Platz nehmen? Bitte erzählen Sie mir jetzt den Fall so schnell Sie es vermögen, denn ich habe noch eine andere Verabredung, und Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige«, lächelte er.

 

Er hörte aufmerksam zu und unterbrach Gordon hier und da mit einer kurzen Frage. Als Dick zu Ende war, nahm er die Feder und schrieb mit kühner, mannhafter Schrift ein Wort, löschte es ab und händigte das Dokument dem Staatssekretär aus.

 

»Hier ist Ihr Aufschub. Ich freue mich darüber«, sagte er.

 

Dick, der sich über die ausgestreckte Hand beugte, hatte das Gefühl eines ungeheuren Triumphes und vergaß für einen Augenblick die schreckliche Gefahr, in der Ray geschwebt hatte. Als er in das Ministerium des Innern zurückkehrte, verabschiedete er sich mit einem sehr ernsten Ausdruck der Dankbarkeit von dem cholerischen, aber gütigen Minister, flog die Stufen zu seinem eigenen Büro hinauf und riß das Hörrohr ans Ohr. »Verbinden Sie mich mit Gloucester 8585 Amt«, sagte er und wartete auf das Fernsignal. Es kam nach wenigen Minuten.

 

»Tut mir leid, keine Verbindung mit Gloucester, die Linie ist gestört. Die Drähte abgeschnitten.«

 

Dick legte langsam das Telefon nieder. Und in diesem Augenblick erst entsann er sich dessen, daß der Frosch noch lebte, wachsam, mächtig, rachsüchtig wie immer.

 

Kapitel 35

 

35

 

Als Elk in das Zimmer des Staatsanwalts trat, saß Dick am Tisch und füllte ein Telegrammformular nach dem andern aus. Sie alle waren an den Direktor des Gloucester-Gefängnisses adressiert und enthielten die kurze Mitteilung, daß ein Urteilsaufschub für Jim Carter auf dem Wege sei. Jedes Telegramm war nach einer anderen Route aufzugeben.

 

»Was heißt das?« fragte Elk.

 

»Das Telefon nach Gloucester ist gestört«, sagte Dick. Und Elk biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Mhm«, sagte er ger dehnt. »Nun, wenn das Telefon gestört ist, dann wird auch …«

 

»Daran möchte ich noch nicht glauben!« schnitt Dick ab.

 

Elk nahm den Apparat zur Hand. »Verbinden Sie mich mit dem Zentraltelegrafenamt«, sagte er. »Ich möchte den Chef sprechen, Fräulein. Ja, hier spricht Inspektor Elk.« Nach einer Pause meldete er sich wieder. »Wir wollen ein paar Telegramme nach Gloucester schicken, die Linien sind doch hoffentlich in Ordnung?«

 

In seinem Gesicht bewegte sich kein Muskel, während er lauschte. Dann sagte er: »Danke, vielleicht können wir mit Umweglinien arbeiten? Welches ist denn die nächste offene Stadt?« Dann wartete er. »Also, so steht es, danke.«

 

Er legte den Hörer nieder. »Alle Drähte nach Gloucester sind durchschnitten, das Hauptkabel an drei Orten zerstört, die Verbindung mit Birmingham, die in einer unterirdischen irdenen Röhre läuft, ist an drei Stellen in die Luft gesprengt worden.« Dicks Augenbrauen zogen sich zusammen.

 

»Versuchen Sie die Radiogesellschaft«, sagte er. »Sie haben jetzt eine Station in Devizes und eine andere in der Nähe von Cheltenham, und sie könnten eine Botschaft hinüberschicken.«

 

Elk ging ans Telefon. »Ist dort die Radiostation? Hier spricht Inspektor Elk, Polizeidirektion. Ich möchte eine Nachricht nach Gloucester schicken, nach dem Gefängnis, über … mhm? Aber ich denke, solch eine Schwierigkeit kann man doch beheben? … Ja, seit wann ist es denn gestört? Danke schön!« sagte er und legte das Telefon von neuem nieder.

 

»Es ist irgendwo ein Störsender«, sagte er. »Die Radioleute sagen, daß irgend jemand im Land einen geheimen Apparat hat, der von den Deutschen während des Krieges verwendet wurde und mit dem man Sendungen der Radiostation unmöglich machen kann.«

 

Dick sah nach der Uhr. Es war jetzt halb zehn.

 

»Sie können noch den 10.05-Uhr-Zug nach Gloucester erreichen, Elk, aber ich glaube, daß er nicht durchkommen wird!«

 

Als Elk sich von neuem geduldig an das Telefon begab, sagte er: »Als Telefonexperte habe ich viele Eigenschaften, die mich sozusagen zu einem großen Mann stempeln, denn .. . hallo! Verbinden Sie mich mit der großen Westbahn, bitte Groß-Westbahn, Stationsvorstand .. . denn ich habe ein tadelloses Organ, eine unendliche Geduld, Vertrauen in meine Mitbürger und . . . hallo, sind Sie das, Herr Stationsvorstand? Hier spricht Inspektor Elk. Ich sagte Ihnen das vorher . . . nein, das war jemand anders … Ist irgendeine Störung auf der Linie heute abend?«

 

Diesmal war die Pause länger.

 

»Gott im Himmel!« sagte Elk. »Gibt es irgendeine Möglichkeit durchzukommen? Was? .. . Gar keine? Wann werden die Züge wieder fahren können? .. . Danke bestens!«

 

Er wendete sich zu Dick. »Drei Bahnübergänge und eine Brücke bei Swindon in die Luft gesprengt. Zwei Leute verhaftet. Einer vom Eisenbahnwächter erschossen. Zwei Obergänge in Reading niedergerissen. Die Schienen in Slough in die Luft gesprengt. Ich werde mir nicht noch die Mühe nehmen, die anderen Linien anzurufen, denn wie ich sehe, ist der Frosch durch.«

 

Dick Gordon öffnete seinen Schrank und entnahm ihm einen ledernen Mantel und einen weichen Lederhelm. Er holte aus seiner Schublade zwei bedrohlich aussehende Brownings hervor und prüfte ihre Magazine, bevor er sie in die Tasche steckte. Dann wählte er ein halbes Dutzend Zigarren aus und verpackte sie sorgfältig in die Brusttasche seines Mantels.

 

»Sie denken doch nicht daran, allein zu gehen, Gordon?« fragte Elk.

 

Dick nickte. »Doch«, sagte er, »schicken Sie mir ein Polizeiauto nach und befehlen Sie den Leuten, daß sie vorsichtig fahren.

 

Ich denke nicht, daß man mich diesseits von Newbury aufhalten wird. Ich kann es noch erreichen, bevor es ganz finster wird. Sagen Sie Fräulein Bennett, daß der Aufschub des Urteils unterzeichnet ist, und daß ich auf dem Weg zu ihm bin.« Elk schwieg, aber er folgte seinem Vorgesetzten auf die Straße hinaus und stand so lange neben dem Polizeimann, der das Auto bewacht hatte, bis Dick den Benzintank und die Reifen auf das sorgfältigste geprüft hatte. Dann winkte er dem langen, gelben Wagen nach, solange er noch etwas von ihm sehen konnte.

 

Dick nahm den Weg nach Bath, und eine kleine Gesellschaft von Schützen, die ihn an den beiden Flugfeldstationen von London erwartet hatte, um ihn abzuschießen, falls er den Luftweg wählen sollte, wartete vergeblich.

 

Er vermied die direkte Straße nach Reading und nahm einen längeren Umweg. Er kam um elf Uhr nach Newbury und hörte von ein paar neuerlichen Sprengungen von Übergängen. In der Stadt gingen die wildesten Gerüchte um.

 

Zwei vollbesetzte Personenzüge waren auf der unteren Linie aufgehalten worden, und das Gedränge der Passagiere staute sich in den altmodischen Straßen der Stadt. Er sprach mit dem Lokalpolizeiinspektor. Die Straße war anscheinend noch in guter Verfassung, denn kaum zehn Minuten vor Dicks Ankunft war ein Auto aus Swindon gekommen.

 

»Bis Swindon sind Sie auf jeden Fall sicher«, sagte der Mann. »Die Gegend ist zwar in letzter Zeit von Vagabunden durchschwärmt worden, aber meine berittenen Patrouillen, die gerade zurückgekommen sind, haben auf der Landstraße nichts bemerkt.«

 

Ein Gedanke durchblitzte Dick, und er zog den Inspektor mit sich in das Polizeigebäude.

 

»Ich brauche ein Kuvert und ein amtliches Papier«, sagte er. Er setzte sich an das Pult und fertigte eine rohe Kopie des Urteilsaufschubs mit all seiner seltsamen Terminologie an, siegelte das Kuvert mit Wachs und steckte es in die Brusttasche. Dann nahm er das echte Dokument, zog den linken Schuh und Strumpf aus und legte es sorgfältig unter den bloßen Fuß, ehe er Strumpf und Schuh wieder anzog. Dann sprang er ins Auto und fuhr vorsichtig den Weg nach Didcot weiter. Seine Scheinwerfer beleuchteten die Straße vor ihm, trotzdem fuhr er nur mit halber Geschwindigkeit, und einer der Brownings lag auf dem Sitz neben ihm.

 

Er gewahrte drei umgekehrte V, von denen er annahm, daß sie die Ausläufer eines Gebäudes, möglicherweise eines Hangars wären. Aber dann entsann er sich, daß dies wohl die Chemische Fabrik sei, von der Elk ihm erzählt hatte.

 

Er fuhr mit immer größerer Vorsicht weiter. Er hatte eben die Bremse angezogen, als er drei rote Lichter sah, die quer über die Straße hinweg aufgestellt waren, und neben denen ein Polizist stand.

 

»Hier können Sie nicht weiter! Die Straße ist aufgerissen.«

 

»Seit wann?« fragte Dick.

 

»Sie ist vor zwanzig Minuten gesprengt worden«, war die Antwort. »Aber es gibt eine Meile zurück noch einen Seitenweg, von wo Sie auf die andere Seite der Schienen gelangen können. Hier können Sie umwenden.«

 

Er zeigte auf einen Torweg, der offenbar in die Fabrik führte. Dick zog den Schalthebel an und ließ seinen Wagen gegen die Öffnung hin zurückfahren. Seine Hand war ausgestreckt, um die Richtung zu ändern, als der Polizist, der neben dem Auto hergegangen war, einen Hieb nach ihm führte.

 

Gordons Kopf war gerade gebeugt, und nur der lederne Helm, den er trug, rettete ihn vor dem Tod. Der Schlag war kaum gefallen, als etwa ein halbes Dutzend Leute aus dem Schatten hervortraten. Einer sprang auf den Führersitz, warf die reglose Gestalt des Besitzers heraus, drehte die Lampen ab und fuhr weiter zurück. Die anderen trugen die roten Weglampen fort. Der Polizist beugte sich über Dick.

 

»Ach, ich habe geglaubt, daß er ganz hin ist«, sagte er enttäuscht.

 

»Du kannst das ja noch immer besorgen«, sagte jemand in der Finsternis, aber der Polizeibeamte hatte anscheinend seine Meinung geändert.

 

»Hagn wird ihn sehen wollen!« sagte er. »Hebt ihn auf!«

 

Sie trugen die leblose Gestalt über den unebenen Boden hin und durch eine Schiebetür in eine große, schlecht beleuchtete Fabrikhalle, aus der die Maschinen entfernt worden waren. An dem einen Ende der Halle war ein Raum durch Ziegelmauern abgetrennt und als Büro verwendet worden. Dorthin wurde Dick getragen und auf den Boden geworfen.

 

»Da hast du ihn, Hagn«, brummte der Polizeibeamte. »Ich glaube, er ist fertig.«

 

Hagn stand vom Tisch auf und ging zu Gordon hinüber.

 

»Dem ist nicht viel passiert«, sagte er. »Durch den Helm kann kein Schlag töten. Nehmt ihn ab.«

 

Sie nahmen den Lederhelm vom Kopf des Bewußtlosen, und Hagn untersuchte ihn flüchtig.

 

»Nein, ihm ist nichts geschehen«, sagte er. »Spritzt ihn mit Wasser an – nein, wartet! Wir wollen ihn lieber zuerst durchsuchen. Diese Zigarren«, sagte er und zeigte auf das braune Etui, das aus der Brusttasche herausragte, »die nehme ich.«

 

Das blaue Kuvert war das erste, was sie fanden. Hagn riß es auf und las.

 

»So!« lachte er und sperrte das Dokument in den Rollschreibtisch, »und jetzt schüttet ihn mit Wasser an.« Dick kam zur Besinnung. Sein Kopf schmerzte und pochte, und er hegte eine Art von Groll gegen das Bewußtsein, das man ihm aufzwang. Er setzte sich auf und rieb sich das Gesicht wie ein Mann, den man aus schwerem Schlaf weckt, blinzelte in das helle Licht und taumelte schwankend einige Schritte. Dann sah er einem nach dem andern in das grinsende Gesicht.

 

»Oh«, sagte er zum Schluß, »einer von euch hat mich niedergeschlagen. Wer war es?«

 

»Wir werden Ihnen sofort seine Karte überreichen«, spottete Hagn. »Aber wohin sind Sie mitten in der Nacht gefahren?«

 

»Nach Gloucester«, sagte Dick kurz.

 

»Ja, nach der Hölle!« brüllte Hagn. »Hinauf mit ihm, Jungens!«

 

Aus dem Büro führte eine Treppe von ungestrichenen Fichtenholzstufen nach oben, und über diese wurde er halb hinaufgestoßen, halb hinaufgezogen. Der obere Raum war in Kriegszeiten das Büro des Hilfsaufsehers gewesen. Eine kleine Kohlenfadenlampe warf einen kränklichen, gelben Schimmer auf die finstere Gruppe, die Dick umringte. Er fand Zeit, seine Umgebung zu betrachten.

 

Das Zimmer hatte ein großes Fenster, von dem aus man einen Überblick über die ganze Gegend gewann. Es war mit einer dicken Schmutzschicht überzogen, so wie der Fußboden mit Kehricht bedeckt war, den hinwegzuräumen die jetzigen Besitzer der Fabrik nicht der Mühe wert erachtet hatten.

 

»Durchsucht ihn noch einmal, versichert euch, daß er keine Pistolen bei sich hat und nehmt ihm die Stiefel weg!« rief Hagn von der Treppe her. »Du wirst einen oder zwei Tage hierbleiben, Gordon! Vielleicht kannst du mit dem Leben davonkommen, wenn man uns Balder zurückgibt. Wenn aber nicht, dann …: ›Gute Nacht, meine liebe Mutter!‹«

 

Kapitel 36

 

36

 

Dick Gordon wußte, daß jegliche Diskussion mit seinen Gegnern nur Zeitverlust bedeutete. Aber kaum war er allein, als er sich an eine Behandlung machte, die ihn einst ein Arzt gelehrt hatte. Er drückte das Kinn auf die Brust und seine beiden offenen Handflächen legte er hinter den Nacken, indem er mit den Fingerspitzen kräftig zudrückte und dann langsam den Kopf erhob, was ihm fast unerträgliche Qualen bereitete. Dann führte er die Finger über die Kehle. Nachdem er dies dreimal wiederholt hatte, war sein Kopf verhältnismäßig frei, und er begann die Möglichkeit der Flucht zu überdenken.

 

Die Tür bestand nur aus dünnem Holz, das man wohl leicht einzudrücken vermochte, aber es gab keinen andern Ausweg, als den über die Treppe. Und der Raum unter ihm war voll von Männern. Plötzlich ging das Licht aus, und das Haus lag im Dunkeln.

 

Er erriet, daß dies geschah, weil Hagn befürchtete, daß der Lichtschein von der Straße her bemerkt werden könnte.

 

Hagn hatte wirksame Maßregeln ergriffen, um dem nachfolgenden Polizeiauto, das er nach Dicks Ankunft erwarten mußte, zu begegnen. Zu Dicks Freude hatte man ihm die Zündhölzchen nicht fortgenommen, er strich eins an und sah um sich.

 

Vor einem offenen Kamin, der mit einem unbeschreiblichen Kehrichthaufen von halb verbrannten Papieren und Staub angefüllt war, lehnte eine Stahlplatte, die man zum Anbringen von Schrauben mit Löchern versehen hatte, augenscheinlich Teil eines Tanks.

 

Ein großer Schalter war an der Mauer angebracht, und Dick drehte ihn, in der Hoffnung, daß er zu der elektrischen Lampe führte. Aber anscheinend stand diese mit der unteren Lichtleitung in Verbindung. Er zündete ein neues Streichhölzchen an und folgte der Leitung. Ein dicker schwarzer Draht führte in die Ecke von der Wand und der Zimmerdecke hin. Er endete plötzlich rechts vom Kamin, und aus den Spuren am Fußboden verriet Dick, daß hier irgend einmal eine Versuchsschweißanlage eingebaut gewesen war. Er setzte sich nieder, um nachzudenken. Er konnte das Murmeln der Stimmen durch den dünnen Bretterboden hören, als er sich niederließ, und hielt das Ohr an die Falltür, die er mit einem Stück Draht, den er im Kamin gefunden hatte, reinigte. Hagn schien zu sprechen.

 

»Wenn wir auch die Straße zwischen hier und Newbury in die Luft sprengen, so wird man den Braten riechen«, sagte er.

 

»Das ist eine stupide Idee, die du da auskramst, Hagn. Was willst du eigentlich mit dem Kerl da oben machen?«

 

»Ich weiß nicht. Ich warte auf eine Nachricht vom Frosch. Vielleicht will er ihn töten.«

 

»Es wäre aber gut, ihn als Geisel für Balder dazubehalten, wenn der Frosch denkt, daß er es wert ist.«

 

Gegen fünf Uhr vernahm Dick Hagns Stimme, die er einige Zeit nicht mehr aus dem allgemeinen Gespräch herausgehört hatte.

 

»Er will, daß er stirbt!« sagte Hagn.

 

In Dicks Arbeitszimmer hatten zwei Menschen die ganze Nacht hindurch wach gesessen, und nun war es vier Uhr früh. Elk war fort, zum zwanzigstenmal in die Polizeidirektion gegangen und zum zwanzigstenmal wieder zurückgekehrt. Ella Bennett hatte verzweifelt versucht, Dicks Bitte zu erfüllen, hatte entschlossen Seite um Seite umgewendet, hatte stundenlang gelesen und doch nichts gelesen. Mit einem Seufzer legte sie das Buch hin, faltete die Hände und sah nach der Uhr.

 

»Ach, glauben Sie, daß er Gloucester erreichen wird?«

 

»Aber sicher«, sagte Broad überzeugend. »Es ist ein Mann, der überall durchkommt. Er ist von der richtigen Art und dem richtigen Typ. Ihn kann nichts aufhalten.«

 

Sie nahm das Buch wieder auf und sah gedankenlos auf die Seiten nieder.

 

»Haben Sie nichts von den Polizeiautos gehört? Herr Elk hat mir gestern abend noch eine Menge davon erzählt«, sagte sie. »Aber seither hat er nicht mehr von ihnen gesprochen.«

 

Joshua Broad befeuchtete seine trockenen Lippen.

 

»Oh, die sind ganz gut durchgekommen«, sagte er.

 

Er erzählte ihr nicht, daß zwei Polizeiautos zwischen Newbury und Reading verunglückt waren und drei Leute von einer Mine getötet wurden, die mitten unter ihnen explodierte. Er teilte ihr auch nicht die Neuigkeit mit, die ein Motorradfahrer aus Swindon gebracht hatte, daß Dicks Auto dort nicht gesehen worden war.

 

»Es sind entsetzliche Leute! Entsetzliche!« Sie zitterte.

 

»Wie konnte so eine Bande überhaupt entstehen, Herr Broad?«

 

Herr Broad rauchte eine seiner langen, dünnen Zigarren und paffte eine Zeit, bevor er sprach.

 

»Ich fürchte, ich selbst bin der Vater der Frösche«, sagte er zu ihrem Erstaunen.

 

»Sie?« Er nickte.

 

»Ja, ich habe nicht gewußt, daß dies daraus entstehen würde. Aber jetzt ist es entstanden.«

 

Er schien nicht geneigt, das Wie gerade jetzt erklären zu wollen. Bald darauf hörte man ein Klingelzeichen, und da er glaubte, daß Elk vielleicht den Schlüssel vergessen hatte, erhob er sich, um die Tür zu öffnen. Aber es war nicht Elk.

 

»Verzeihen Sie meinen Besuch zu dieser Zeit. Sind Sie es, Herr Broad?«

 

Der Besucher versuchte ihn im Dunkeln zu erkennen.

 

»Ich bin’s, Broad, ganz recht. Sie sind Herr Johnson, nicht wahr? Kommen Sie nur herein.«

 

Er schloß die Tür hinter ihm und drehte das Licht an. Der behäbige Mann war in einer bemitleidenswürdigen Erregung.

 

»Ich bin gestern nacht lange aufgeblieben«, sagte er, »und mein Diener hat mir eine Frühausgabe des Post Herald gebracht.«

 

»So wissen Sie es also?«

 

»Es ist schrecklich, schrecklich! Ich kann es kaum glauben.«

 

Johnson zog eine verknüllte Zeitung aus der Tasche und sah die Oberschriften an, als wolle er sich dessen nochmals vergewissern.

 

»Ich habe gar nicht gewußt, daß es in die Zeitungen gekommen ist«, sagte Broad.

 

Johnson reichte das Blatt dem Amerikaner.

 

»Ja, es steht drinnen. Ich glaube, der alte Whitby muß die Geschichte verbreitet haben.«

 

»Ich glaube, sie stammt von dem Kindmann Selinski. Ist es denn wahr, daß Ray zum Tod verurteilt ist?«

 

Broad nickte.

 

»Wie entsetzlich!« sagte Johnson mit gedämpfter Stimme. »Gott sei Dank, daß man es rechtzeitig erfahren hat, Herr Broad«, sagte er ernst. »Ich hoffe, daß Sie Fräulein Ella Bennett sagen werden, daß sie über jeden Penny, den ich jetzt besitze, verfügen kann, um die Unschuld ihres Bruders zu beweisen. Ich vermute, es wird ein Aufschub und ein neuer Prozeß erwirkt werden? Wenn es dazu kommt, so müssen die besten Advokaten bestellt werden.«

 

»Sie ist hier, wollen Sie nicht hereinkommen und mit ihr sprechen?«

 

»Hier?« staunte Herr Johnson. »Davon habe ich keine Ahnung gehabt.«

 

»Kommen Sie nur herein. – Es ist ein Freund hier, der Sie besuchen möchte – Herr Johnson.«

 

Der Philosoph durchschritt schnell und nervös das Zimmer und hielt dem Mädchen beide Hände hin.

 

»Es tut mir ja so leid, Fräulein Bennett«, sagte eh »So entsetzlich leid. Und wie muß Ihnen erst zumute sein? Kann ich Ihnen helfen?«

 

Sie schüttelte den Kopf und hatte Tränen der Dankbarkeit in den Augen.

 

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Herr Johnson. Sie haben soviel für Ray getan, und Inspektor Elk hat mir auch gesagt, daß Sie ihm eine Stellung in ihrem Büro angeboten haben.«

 

Johnson schüttelte den Kopf. »Das will doch gar nichts heißen. Ich habe Ray sehr gern, und er besitzt ausgezeichnete Fähigkeiten. Wenn wir ihm aus dieser Patsche geholfen haben, müssen wir ihn sogleich wieder auf die Füße stellen. – Ihr Herr Vater weiß doch von nichts?«

 

»Gott sei Dank, nein! Wenn nur die Nachricht nicht in die Zeitung gekommen wäre«, sagte sie, als Johnson ihr erzählte, wieso er von dem Geschehnis Kenntnis erlangt hatte.

 

»Natürlich hat Selinski sie verbreitet«, sagte Broad, »ein Filmmann würde sein eigenes Begräbnis benützen, um eine Grablegung kurbeln zu können. Wie fühlen Sie sich in Ihrer neuen Lage, Herr Johnson?«

 

Johnson lächelte. »Ich bin noch immer ganz verwirrt und kann nicht einsehen, wodurch ich dies verdient habe. Aber heute habe ich bereits meine erste Froschwarnung bekommen. Ich komme mir selber höchst wichtig vor.«

 

Er zog ein Stück Papier aus seiner abgetragenen Brieftasche, auf dem nur vier Worte standen: ›Sie sind der Nächste!‹ und es trug das bekannte Handzeichen des Frosches.

 

»Ich weiß nicht, was ich den Leuten angetan habe, aber ich vermute, daß es etwas ziemlich Schlimmes sein muß, denn zehn Minuten später brachte mir der Portier meinen Nachmittagstee. Ich nahm einen Schluck, und er schmeckte so bitter, daß ich mir den Mund mit einem Desinfektionsmittel ausspülte.«

 

»Wann ist das geschehen?«

 

»Gestern«, antwortete Johnson. »Heute morgen habe ich den Tee analysieren lassen, und der Chemiker erklärte, er enthalte genug Blausäure, um hundert Menschen zu vergiften. Er konnte es nicht verstehen, wie ich auch nur einen Schluck davon zu genießen vermochte, ohne ernste Folgen zu erleiden. Ich werde die ganze Angelegenheit heute der Polizei übergeben.«

 

Die Flurtür wurde aufgesperrt, und Elk kam ins Zimmer.

 

»Was bringen Sie für Neuigkeiten?« fragte Ella begierig.

 

»Gute«, sagte Elk. »Sie brauchen sich ganz und gar nicht zu beunruhigen, Fräulein Bennett. Hauptmann Gordon kommt unter allen Umständen ans Ziel. Ich vermute, daß er jetzt in Gloucester ist und im bequemsten Bett der Stadt schläft.«

 

»Aber Sie vermuten es nur, Sie haben noch keine Nachricht aus Gloucester?« fragte Ella hartnäckig.

 

»Ich habe keine genauen Nachrichten, aber ich kann Ihnen versichern, daß die Nachrichten, die wir haben, nicht schlecht sind«, sagte Elk. »Und da können wir wetten, daß die Dinge alle wie am Schnürchen gehen. – Wieso haben Sie von der Sache erfahren, Johnson?« fragte er. Und der frischgebackene Millionär gab die Erklärung.

 

»Ich hätte Selinski und seinen Operateur in das Geheimnis einweihen sollen«, sagte Elk nachdenklich. »Diesen Filmleuten fehlt jede Zurückhaltung. Nun, und wie fühlen Sie sich als Krösus, Herr Johnson?«

 

»Herr Johnson fühlt sich nicht allzu wohl«, sagte Broad. »Er hat die Aufmerksamkeit des lieben Frosches erregt.«

 

Elk prüfte die Warnung sorgfältig. »Wann haben Sie den Wisch bekommen?«

 

»Ich fand ihn gestern morgen auf meinem Pult.« Und er erzählte auch den Zwischenfall mit dem vergifteten Tee, bevor er sich empfahl. »Ach, Herr Elk, wenn es Ihnen gelänge, den Frosch zu fangen, so würden Sie ein gutes Werk an der Menschheit tun.«

 

Es dämmerte schon, als Johnson fortging, und Elk schloß ihm das Haustor auf und sah ihm nach, als er die leere Straße hinunterschritt.

 

»Ich habe den alten Knaben gern«, sagte er zu Broad. »Und er ist sicher unter einem Glücksstern geboren, denn ich verstehe nicht, warum der Alte sein Geld nicht lieber dem Baby vermacht hat…«

 

»Haben Sie das Kind schon gefunden?« unterbrach ihn Broad.

 

»Nein, das ist auch so ein Froschmysterium, das noch auf seine Aufklärung wartet.«

 

Johnson hatte eben die Straßenecke erreicht, und sie sahen ihn die Straße überqueren, als ein Mann aus dem Schatten ihm entgegentrat. Es gab eine kurze Unterredung, dann gewahrte Elk den Blitz einer Pistole und hörte den Schuß. Johnson taumelte zurück und sein Gegner wandte sich und floh.

 

In einer Sekunde war Elk auf der Straße. Der Philosoph war anscheinend nicht verletzt, wenn auch sehr erschüttert.

 

Elk rannte um die Ecke, aber der Angreifer war verschwunden. Er kehrte zu dem Philosophen zurück, der am Rand des Gehsteiges saß und seine Glieder betastete, ob sie auch heil waren.

 

»Nein, nein, ich glaube, es war nur der Schock«, keuchte Johnson. »Ich war auf eine solche Angriffsmethode nicht vorbereitet.«

 

»Wie ist es denn geschehen?« fragte Elk.

 

»Ich begreife es gar nicht!« antwortete Johnson, der noch ganz verwirrt war. »Ich wollte die Straße überqueren, da kam ein Mann auf mich zu und fragte, ob ich Herr Johnson wäre. Und dann, ehe ich noch wußte, was geschah, hatte er geschossen.«

 

Johnsons Rock war von der Flamme versengt.

 

»Nein, ich komme nicht mehr ins Haus zurück. Ich glaube auch nicht, daß man den Versuch wiederholen wird.«

 

Es kamen soeben zwei Detektive zurück, die Harley Terrace bewacht hatten, und ihnen wurde Johnson zur Begleitung anvertraut.

 

»Das sind doch die geschäftigsten Leutchen, die ich kenne«, sagte Elk kopfschüttelnd. »Man möchte glauben, daß sie mit der Arbeit in Gloucester zufrieden sein könnten und nicht noch eine Nebenbeschäftigung brauchten.«

 

Es schlug sechs Uhr, aber aus dem Westen kam keine weitere Nachricht mehr. Um sieben Uhr wurde der Zustand des Mädchens bemitleidenswert. Sie hatte sich während der Nacht mit einem Mut aufrecht erhalten, der die Bewunderung der Männer erregte. Aber jetzt, da die furchtbare Stunde herannahte, schien es mit ihrer Kraft zu Ende. Um halb acht Uhr schrillte das Telefon, und Elk war mit einem Panthersprung beim Apparat.

 

»Hauptmann Gordon hat Didcot vor einer Stunde verlassen«, besagte die Botschaft.

 

»Didcot?« keuchte Elk verzweifelt. Er sah auf die Uhr. »Vor einer Stunde? Dann hätte er Gloucester in sechzig Minuten erreichen müssen!«

 

Ella, die sich gerade dazu zwang, den Kaffee zu versuchen, den Gordons Diener im Speisezimmer serviert hatte, kam, als sie ihn sprechen hörte, ins Arbeitszimmer, und Elk wagte nicht, das Gespräch fortzusetzen. »Schon gut!« sagte er laut und warf den Hörer hin.

 

»Wie lauten Ihre Nachrichten, Herr Elk?«

 

»Die Nachrichten?« sagte Elk und zwang sein Gesicht in ein Lächeln, »oh, die sind gut!«

 

»Wer hat angerufen?« beharrte sie.

 

»Ach, das?« sagte Elk und sah das Telefon bös an, »das war ein Freund, der mich heute abend zum Essen einlud.«

 

Ella ging still ins Speisezimmer zurück, und Elk rief den Amerikaner mit einem Wink zu sich.

 

»Gehen Sie und holen Sie einen Arzt«, sagte er leise, »und sagen Sie ihm, daß er etwas mitbringen soll, was diese junge Dame für zwölf Stunden in Schlaf versenkt.«

 

»Schlechte Nachrichten?« fragte Broad.

 

Elk nickte. »Nicht die geringste Aussicht, den Jungen zu retten«, sagte er.

 

Kapitel 37

 

37

 

Das Ohr auf den Boden gepreßt, hörte Dick die Worte: »Er sagt, daß er sterben muß«, und seine zersprungenen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Habt ihr ihn droben herumgehen hören?« fragte Hagn.

 

»Nein, ich glaube, daß er schläft«, sagte eine andere Stimme.

 

»Wir werden warten müssen, bis es hell wird. Im Finstern kann man es nicht machen. Wir würden uns gegenseitig umbringen.«

 

Diese Ansicht wurde von den meisten Anwesenden geteilt.

 

Dick glaubte, sechs Stimmen zählen zu können. Er strich ein Zündhölzchen an, um nochmals die Lage zu überblicken, und wieder fiel sein Auge auf das Kabel.

 

Und dann kam Eingebung über ihn. Er bewegte sich lautlos über den Boden hin, er faßte den Draht und zog mit aller Gewalt daran. Unter seinem Gewicht brach der unterstützende Isolator. Zum größten Glück fielen die Stücke auf den Haufen Kehricht im Kamin und verursachten kein Geräusch. In der nächsten halben Stunde arbeitete Dick fieberhaft, indem er die Gummi-Isolierung vom Kabel abwickelte, um die Kupferdrähte freizulegen. Seine Hände bluteten. Seine Nägel brachen, aber nach Ablauf einer Stunde harter Arbeit hatte er das Ende des Kabels bloßgelegt. Mit Befriedigung entsann er sich, daß die Tür nach außen aufging, und indem er die Stahlplatte mit unendlicher Mühe aufhob, legte er sie so dicht an die Tür, daß jeder darauftreten mußte, der ins Zimmer wollte,. Dann begann er die losen Kupferdrähte des Kabels in den Schraubenlöchern der Platte zu befestigen.

 

Er war kaum damit fertig, als der Tag anbrach und das Licht durch das Glasdach der Fabrik zu strömen begann. Dick hörte schwaches Flüstern und ein leises Knacken, als ob die Riegel an der Tür zurückgeschoben würden. Er kroch zum Schalter und drehte ihn auf.

 

Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann trat auf die Platte. Bevor noch sein Schrei den zweiten, der ihm folgte, zu warnen vermochte, lagen sie besinnungslos am Boden.

 

»Was ist denn los, zum Teufel?« Das war Hagns Stimme. Er kam die Stufen hinaufgelaufen und setzte den Fuß auf die elektrische Platte. Er stand eine Sekunde lang bewegungslos, dann fiel er mit einem Keuchen zurück, und Dick hörte den Krach, mit dem er die Treppe hinabstürzte.

 

Da wartete er nicht länger.

 

Er sprang mit einem weiten Satz über die Platte hinweg, rannte die Stufen hinab und stieg über den Körper des bewußtlosen Hagn.

 

Das kleine Büro war leer. Auf dem Tisch lag eine seiner Pistolen. Er ergriff sie und rannte durch die lange, öde Fabrikhalle, die ihn endlos dünkte, riß eine Tür auf, und dann war er im Freien.

 

Er hörte einen Schrei, und als er sich wendete, sah er zwei von der Bande, die ihn verfolgten. Er hob die Pistole und drückte ab. Es knackte, aber Hagn hatte das Magazin entleert.

 

Ein Browning ist eine wunderbare Waffe, selbst wenn er nicht geladen ist. Dick Gordon schlug mit dem Lauf auf den Kopf des Mannes, der ihn fassen wollte, dann rannte er weiter.

 

Er begriff, daß er sich geirrt hatte, als er annahm, daß nur sechs Männer im Gebäude anwesend waren. Es waren wohl an zwanzig darin, und die meisten in Hörweite. Dick versuchte, die Straße zu erreichen, von der ihn nur einige Büsche trennten.

 

Aber damit beging er einen Fehler. In den Büschen war ein Stacheldrahtzaun versteckt, und er mußte auf dem unebenen Boden weiterlaufen. Unbeschuht, wie er war, empfand er jeden Stein schmerzhaft. Sein langsames Weiterkommen machte es seinen Verfolgern möglich, ihn zu überholen.

 

Dick machte einen Bogen und lief nach dem zweiten der drei Fabrikbauten zurück. Nun aber waren sie hinter ihm. Er konnte das Keuchen des Führers hören, und er selbst war mit seinen Kräften zu Ende. Aber da sah er gerade vor sich an der Mauer eine große, runde Feueralarmscheibe, und wie ein Blitzschlag flammte die Erinnerung an eine gleichgültige Unterredung auf. Er zerschmetterte das Glas mit der bloßen Faust und riß an der Glocke. Aber in dieser Minute fielen sie auch schon über ihn her. Er kämpfte, doch solcher Überzahl gegenüber war Widerstand nutzlos. Er mußte Zeit gewinnen.

 

»Laßt ab, Jungens!« brüllte er. »Hagn ist tot!«

 

Das war eine unglückselige Konstatierung, denn im gleichen Moment kam Hagn aus dem gegenüberliegenden Gebäude, wohl matt und mitgenommen, aber doch höchst lebendig. Er war fahl vor Schmerz und Zorn und kauderwelschte in einer Sprache, die Dick nicht verstand und für Schwedisch hielt.

 

»Dafür sollst du mir büßen! Du sollst selbst den elektrischen Strom kosten, du Hund!«

 

Er schlug mit der Faust nach Dicks Gesicht, aber Dick wendete den Kopf zur Seite, und die Faust schlug hart auf die Mauer auf. Mit einem Wutschrei sprang Hagn auf ihn los und kratzte und kniff ihn mit beiden Händen. Aber gerade dies wurde Dicks Rettung; denn die Männer, die seinen Arm festgehalten hatten, ließen von ihm ab, um ihrem Anführer leichteres Spiel zu gewähren. Dick versetzte Hagn einen genau berechneten Schlag gegen den Magen, und mit einem gellenden Aufschrei brach der Schwede zusammen.

 

Ehe ihn jemand aufzuhalten vermochte, war Dick fort wie der Wirbelwind, und diesmal rannte er auf das Tor zu. Er hatte es schon erreicht, als eine Hand nach ihm faßte. Er schleuderte sie beiseite und taumelte aus dem Tor, gerade, als von der langen Straße her der Ton von Glocken kam und das Glitzern von Messing und das Leuchten von scharlachenem Rot. Alles ging schnell.

 

Ein Feuerwehrauto raste mit größter Geschwindigkeit heran. Einen Augenblick starrten die Frösche dem Wagen entgegen, dann machten sie, ohne sich weiter um die Beute zu kümmern, kehrt und rannten fort.

 

Dick erklärte dem Chef der Löschmannschaft in wenigen Worten die Situation. Schon kam ein zweiter Wagen in halsbrecherischer Eile heran, und die Feuerwehrleute waren Männer, die sich vor Fröschen nicht fürchteten.

 

Während Hagn gebunden in das eine Auto getragen wurde, sah Dick auf die Uhr. Der Zeiger stand auf sechs.

 

Dick rannte zu seinem Rolls und machte sich auf das Schlimmste gefaßt.

 

Aber Hagn hatte keinen Versuch gemacht, den Wagen außer Betrieb zu setzen. Vielleicht hatte er den Plan erwogen, ihn für sich selbst zu behalten. Drei Minuten später schwang sich Dick barhaupt, schmutzig, die Zeichen von Hagns Krallen im Gesicht, ans Steuer und sauste nach Gloucester. Er hätte auch dann kaum schneller fahren können, wenn er es geahnt hätte, daß seine Uhr stehengeblieben war.

 

In halsbrecherischem Tempo fuhr er durch Swindon und war schon auf der Straße nach Gloucester, als er wieder auf die Uhr sah.

 

Es war immer noch sechs, und sein Herzschlag setzte aus.

 

Er fuhr mit der größtmöglichen Geschwindigkeit, aber die Straße war schlecht und voller Windungen, und einmal geschah es, daß er beinahe aus dem Auto fiel, als er gegen einen Wegvorsprung streifte. Ein Reifen platzte, aber er konnte das Auto wieder gerade richten und fuhr auf dem flachen Reifen weiter. Die Schnelligkeit wurde dadurch bedeutend vermindert. Und es wurde ihm heiß und kalt, als er so Meile um Meile dahinfuhr, ohne ein Zeichen von der Stadt zu gewahren..

 

Und dann, als er die Kirchturmspitzen von Gloucester auftauchen sah, platzte der zweite Reifen.

 

Aber er konnte nicht halten. Er mußte weiter, und wenn er auf den bloßen Felgen in Gloucester ankommen sollte. Aber nun wurde sein Tempo im Vergleich zu der wilden Jagd, die ihn durch Berkshire und Wiltshire bis nach Somerset gebracht hatte, unangenehm langsam.

 

Er fuhr in die Vororte der Stadt ein. Die Straßen waren entsetzlich. Er wurde von einem Straßenbahnwagen aufgehalten, und als er die Warnung eines Polizisten mißachtete, kam er beinah unter die Räder einer großen Straßenwalze, und nun sah er auch, wie spät es war. Es fehlten zwei Minuten auf acht. Und das Gefängnis war noch eine halbe Meile entfernt. Er biß die Zähne zusammen und betete.

 

Als er in die Hauptstraße einfuhr und die Tore des Gefängnisses vor sich sah, schlugen die Glocken der Kathedrale acht, und Dick schien der Klang schrecklich, wie der der Posaunen am Tage des Jüngsten Gerichts. Er wußte, daß Ray Bennetts Tod auf die Sekunde pünktlich erfolgen würde. Bei dem Gedanken an die Herzensangst dieses Augenblicks wurde er aschfahl. Er brachte den rumpelnden Wagen vor dem Gefängnistor zum Stehen und taumelte auf die Glocke zu. Zweimal läutete er, aber das Tor blieb geschlossen. Dick zog seine Socken aus, und das durchweichte, beschmutzte Dokument war mit Blut überströmt, denn seine Füße bluteten. Wieder läutete er mit der Wut der Verzweiflung. Dann öffnete sich ein kleines Gitter, und das, finstere Gesicht eines Wärters erschien.

 

»Sie dürfen nicht herein«, sagte er. »Wissen Sie nicht, was hier geschieht?«

 

»Ministerium des Innern!« keuchte Dick heiser. »Botschaft vom Ministerium des Innern. Ich habe gerade den Urteilsaufschub bekommen!«

 

Das Gittertürchen schloß sich, und nach einer Ewigkeit wurde der Schlüssel umgedreht und das schwere Tor aufgetan.

 

»Ich bin Hauptmann Gordon von der Staatsanwaltschaft«, sagte Dick. »Und ich habe einen Aufschub für Jim Carter.«

 

Der Wärter schüttelte den Kopf. »Die Hinrichtung hat vor fünf Minuten stattgefunden«, sagte er.

 

»Aber die Kirchturmuhr«, keuchte Dick.

 

»Die Kirchturmuhr geht vier Minuten nach«, sagte der Wärter. »Ich fürchte, Carter ist tot.«

 

Kapitel 31

 

31

 

Elk hatte versprochen, mit Gordon in dessen Klub zu speisen. Dick wartete mehr als zwanzig Minuten über die Stunde des Rendezvous, und Elk hatte nicht abtelefoniert. Erst fünfundzwanzig Minuten später kam er in aller Eile.

 

»Herrgott!« keuchte er und sah auf die Wanduhr, »ich hatte keine Ahnung, daß es so spät ist.«

 

Sie gingen zusammen in den Speisesaal, und Elk war es, als trete er in eine Kirche, solch feierliche Würde herrschte in dem stattlichen Raum mit seinen schweigsamen und wohlerzogenen Speisenden.

 

»Was hat Sie denn so lange aufgehalten, Elk?« fragte Dick. »Ich beklage mich ja nicht darüber, aber wenn Sie nicht zur Zeit kommen, so mache ich mir Sorgen, was Ihnen geschehen sein könnte.«

 

»Mir ist gar nichts geschehen«, sagte Elk und nickte dem verlegenen Klubkellner freundlich zu. »Wir haben nur eine Untersuchung in Gloucester gehabt. Ich dachte, ich hätte eine neue Froschaffäre aufgedeckt, aber die zwei Leute, die in die Angelegenheit verwickelt waren, hatten kein Froschzeichen.«

 

»Um wen handelt es sich?«

 

»Einer heißt Phenan, das ist der Tote.«

 

»Ein Mord?«

 

»Ich glaube schon«, sagte Elk und legte sich vor. »Er war schon tot, als man ihn in Jbbley Copse fand. Den anderen hat man eingesperrt. Er war sinnlos betrunken. Wie es scheint, waren sie in Laverstock und haben schon in der Schenke zum ›Roten Löwen‹ Streit gehabt und eine Rauferei begonnen. Die Polizei wurde informiert und hat nach dem nächsten Dorf telefoniert, der Schutzmann soll auf die beiden ein Auge haben, aber sie waren noch gar nicht hingekommen. Und deshalb schickte man eine Radfahrpatrouille aus, um nach ihnen zu suchen. Es sind nämlich in der Gegend ein paar Einbrüche verübt worden. Carter, das ist der Mörder, hat man in das Gefängnis von Gloucester gebracht. Es ist ein ganz einfacher Fall, und die Polizei von Gloucester hat ja auch hochmütig über die Idee gelächelt, die Polizeidirektion davon benachrichtigen zu sollen. Aber es ist doch immerhin ein Verbrechen, das mehr als das intellektuelle Niveau der Landpolizei verlangt.«

 

Dicks Lippen preßten sich zusammen. »Ach, gerade jetzt sollten wir nicht großtun, wo die Landpolizei so unangenehme Kommentare über unsere Weisheit abzugeben vermag«, sagte er.

 

»Mögen sie«, tröstete Elk. »Diese Leute haben doch auch ein Recht auf ihre bescheidenen Vergnügungen, und ich bin der letzte, es ihnen abzusprechen. Übrigens habe ich heute schon wieder John Bennett auf einem Bahnhof getroffen, auf dem Paddington-Bahnhof diesmal. Ich hab‘ immer das Glück, ihn auf Bahnhöfen zu treffen. Der Kerl ist sicher ein Reisender. Diesmal habe ich mit ihm gesprochen. Er war ganz verzweifelt. Er hat mir erzählt, daß er eingeschlafen ist und im Traum auf den Auslöser gedrückt und ein Vermögen an Film verschwendet hat. Ich sagte ihm, daß ich neulich eine Notiz über seine Bilder in der Zeitung gelesen hätte. Es sah ja wirklich wie ein ungewöhnlicher Erfolg aus.«

 

»Ich würde es ihm aufrichtig wünschen«, sagte Dick ruhig, und ein Etwas in seiner Stimme ließ seinen Gast aufblicken.

 

»Sie erinnern mich daran, daß ich von Freund Johnson einen Brief bekam, in dem er fragte, ob ich nicht Rays Adresse wüßte. Er hat ihn im Herons-Klub angerufen, aber Ray war schon seit Tagen nicht dort. Er möchte ihm eine Anstellung geben. Eine ganz große Anstellung. Es ist doch wirklich viel Gutes an diesem Johnson.«

 

»Haben Sie ihm die Adresse gegeben?«

 

Elk nickte. »Ich gab ihm die Adresse und habe Ray besucht, aber er ist nicht mehr in der Stadt. Er ist vor ein paar Tagen fortgefahren und wird nicht allzubald zurück sein. Es wäre zu töricht, wenn er deshalb seine Stellung verlieren sollte. Ich glaube, es tat Johnson leid, zu sehen, wie der junge Mann sich aufführt. Vielleicht ist da noch ein anderer Einfluß am Werk.« Dick verstand wohl, daß er Ella meinte, aber er reagierte nicht auf die Anspielung. Nach dem Essen gingen sie ins Rauchzimmer hinüber.

 

Während Elk mit Behagen eine der guten Zigarren seines Wirtes rauchte, schrieb Dick einen Brief an Ella, bei der seine Gedanken den ganzen langen Tag über geweilt hatten. Es war ein unnötiger Brief, ein überlanger Brief, aber die Nachricht, die Elk gebracht hatte, mochte vielleicht zu seiner Entschuldigung dienen.

 

Elk begann Dick eine neue Theorie darzulegen.

 

»Ich habe einen meiner Leute hinbeordert, um sich einmal diese Chemische Fabrik anzusehen, an die Balders Briefe gerichtet waren. Es ist eine Schwindelgesellschaft. Kaum ein Dutzend Leute sind angestellt, und auch diese nur von Fall zu Fall. Es ist eine alte Giftgasfabrik, aber sie hat eine sehr starke elektrische Anlage. Die jetzige Gesellschaft hat sie für einen Pappenstiel gekauft, und zwei Burschen, die wir in Gewahrsam nahmen, sind die nominellen Käufer.«

 

»Wo liegt sie?« fragte Dick.

 

»Zwischen Newbury und Didcot. Als die Fabrik noch unter Regierungskontrolle stand, mußte sie einen jährlichen Beitrag für die Newbury-Feuerwehr leisten, und als die jetzige Gesellschaft sie übernahm, hat sie auch den Kontrakt mitübernommen. Sie hat der Feuerwehr oftmals versichert, daß sie bereit wäre, auf den Alarmdienst zu verzichten, aber diese, die im Vorteil ist und während des Krieges durch das Arrangement viel Geld verloren hat, weigert sich, den dreijährigen Kontrakt zu annullieren.«

 

Dick war nicht im geringsten an dem Streit zwischen Löschbrigade und Fabrik interessiert, aber die Stunde war nahe, da er Elk für dieses Gespräch unendlichen Dank schuldete.

 

 

Etwa vierzehn Tage nach dem Verschwinden von Ray Bennett nahm Elk Joshua Broads Einladung zum Mittagessen an.

 

Elk, bei dem die Zeit keine Rolle spielte, kam wie gewöhnlich eine Viertelstunde zu spät.

 

»Viertel vor zwei«, sagte er. »Ich kann jetzt keine Verabredung einhalten. Es sind jetzt im Büro so viel Geschichten mit meinem neuen Safe gemacht worden, den man neulich angebracht hat; irgend etwas ist dabei nicht in Ordnung und sogar der Mechaniker weiß nicht, was los ist.«

 

»Können Sie ihn nicht öffnen?«

 

»Das ist eben die Geschichte. Ich kann es nicht und soll noch heute Akten herausnehmen, die von allergrößter Wichtigkeit sind. Sie haben doch so große Erfahrung in der Kriminalistik, und da dachte ich, als ich hierherging, ob Ihnen nicht eine Methode bekannt ist, vermittels der man diesen verfluchten Safe öffnen könnte? Eigentlich braucht man einen Ingenieur dazu, und wenn ich mich recht entsinne, so haben Sie einmal gesagt, daß Sie Ingenieur sind, Herr Broad?«

 

»Da läßt Sie Ihr Gedächtnis im Stich«, sagte der Amerikaner ruhig, indem er seine Serviette entfaltete und den Detektiv mit seinem lustigen Augenzwinkern ansah. »Nein, das öffnen von Safes gehört leider nicht zu meinem Beruf.«

 

»Es ist mir auch nicht eingefallen, das zu behaupten«, versicherte Elk herzlichst. »Aber es ist mir immer aufgefallen, daß ihr Amerikaner viel geschicktere Hände habt als meine Landsleute. Also, Sie können mir keinen Rat geben?«

 

»Ich werde Sie mit meinem Lieblingseinbrecher bekannt machen«, sagte Broad ernst, und dann lachten sie beide. »Was halten Sie eigentlich von mir?« fragte der Amerikaner unerwartet. »Ich verlange nicht, daß Sie mir ein Urteil über meinen Charakter oder meine äußere Erscheinung geben sollen. Aber was denken Sie eigentlich über meinen Aufenthalt in London, wo ich nur Amateurpolizeiarbeit leiste?«

 

»Ich habe niemals lange über Sie nachgedacht«, sagte Elk unaufrichtig. »Aber da Sie Amerikaner sind, erwarte ich auch, daß Sie etwas Ungewöhnliches sind.«

 

»Schmeichler!« sagte Broad.

 

»Oh, ich würde nie so weit gehen, Ihnen zu schmeicheln«, verwahrte sich Elk.

 

Er entfaltete mit einer Entschuldigung sein mitgebrachtes Abendblatt.

 

»Sie wollen wohl nachsehen, was die ungeschwänzten Amphibien machen, was?«

 

Elk sah verdutzt auf.

 

»Die Frösche«, erklärte der Amerikaner.

 

»Nein, ich sehe nicht gerade der Frösche wegen nach. Tatsächlich ist jetzt sehr wenig in den Zeitungen über diese interessanten Tierchen zu lesen. Aber es wird schon kommen.«

 

»Und wann?« Die Frage klang wie eine Herausforderung.

 

»Wenn wir den Frosch fangen.«

 

Herr Broad zerkrümelte eine Semmel in der Hand. »Glauben Sie, daß Sie Frosch Nummer eins früher fangen werden als ich?« fragte er ruhig, und Elk blickte ihn über die Brille hinweg an. »Das möchte ich schon lange gerne wissen«, sagte er, und beider Augen trafen sich sekundenlang. Dann senkte sich Elks Blick auf die Zeitung, und plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit durch einen Absatz gefesselt. »Rasche Arbeit«, sagte er. »In dieser Beziehung sind wir euch Amerikanern über!«

 

»In welcher?« fragte Broad.

 

»Vierzehn Tage«, rechnete Elk. »Und das hat gerade gereicht, um vom Schwurgericht zum Tode verurteilt zu werden.«

 

»Wer wurde verurteilt?«

 

»Dieser Carter, der einen Vagabunden in der Nähe von Gloucester erschossen hat«, sagte Elk.

 

»Carter? Von dem Mord habe ich gar nichts gelesen.«

 

»Es gibt eigentlich keinen Beweis. Carter hat sich geweigert, zu gestehen oder den Advokaten zu instruieren. Und es muß geradezu ein Schnelligkeitsrekord unter den Mordprozessen gewesen sein. Es hat wenig darüber in den Zeitungen gestanden. Es war eigentlich auch kein interessanter Mord, und merkwürdigerweise war keine Frau im Spiel.«

 

Elk faltete die Zeitung zusammen, und während der übrigen Mahlzeit sprachen sie von den Polizeimethoden der Vereinigten Staaten, ein Gebiet, auf dem Herr Joshua Broad eine Autorität zu sein schien. Der Zweck der Einladung war ein sehr durchsichtiger. Immer wieder versuchte Broad das Gespräch auf Balder zu bringen, und so geschickt er auch die Rede auf den Gegenstand lenkte, immer wußte Elk abzubiegen.

 

»Sie sind verschlossen wie eine Auster, Elk«, sagte Broad und winkte dem Kellner, die Rechnung zu bringen. »Und doch könnte ich Ihnen ebensoviel über Balder sagen, wie Sie selbst wissen.«

 

»Nun also, in welchem Gefängnis ist er?« fragte Elk.

 

»Er ist in Pentonville. Aufseher Nr. 7, Zelle Nr. 84«, sagte Broad, und Elk setzte sich kerzengerade in seinem Sessel auf.