Kapitel 16

 

16

 

Es war ein Uhr morgens, als Peter Corelly vor dem Haus des Bankiers Bertram erschien. Jose hatte ihn angerufen, und sie öffnete ihm auch selbst die Tür. Ein Blick auf ihr bleiches, ernstes Gesicht verriet ihm, daß etwas ungewöhnlich Ernstes vorgefallen sein mußte. Sie führte ihn nicht ins Wohnzimmer, sondern in die Bibliothek. Als er durch die Halle ging, sah er einen Mann die Treppe herunterkommen, in dem er einen der berühmtesten Ärzte der Stadt erkannte.

 

»Mein Vater hat einen Schlaganfall bekommen«, erklärte sie ihm ruhig. »Die Ärzte nehmen an, daß es Monate dauern wird, bevor er wieder auf der Höhe sein kann.«

 

Ihre Augen waren rot, und ihre Lippen zitterten, als sie sprach. Peter hätte kaum mehr tun können, als in konventioneller Weise sein Bedauern äußern, deshalb schwieg er.

 

»Und ich selbst bin in größten Schwierigkeiten, Mr. Corelly«, fuhr sie fort.

 

Sie setzte sich in einen Sessel an den Kamin, in dem ein schwaches Feuer brannte, und vermied seinen Blick.

 

»Sie sagten mir einmal, ich sollte mich an Sie wenden, wenn ich Sorgen hätte, dann würden Sie mir helfen.«

 

»Sie haben ganz recht getan.« Er lehnte am Kamin und sah sie an. »Erzählen Sie mir, soviel Sie können, und lassen Sie mich vermuten, was Sie nicht sagen wollen. Wann ist das Unglück geschehen?«

 

»Vor ungefähr zwei Stunden«, erwiderte sie leise. »Ich glaube, er machte sich große Sorgen – über mich. Sehen Sie, ich mußte ihm heute abend etwas sagen, Mr. Corelly, und es war nicht leicht – weder für ihn noch für mich.«

 

»War er in dem Tempel?«

 

Sie sah schnell auf.

 

»Dann wissen Sie also von dem Tempel?«

 

Er lächelte.

 

»Ich wußte nicht, daß er dort war, aber ich nahm es als sicher an.«

 

Langsam senkte sie den Kopf wieder.

 

»Mein Vater ist seit zwei Jahren in den Händen einer Verbrecherbande. Ich – ich mußte ihm alles sagen, was ich erfahren hatte. Es gab eine fürchterliche Szene.«

 

Sie nannte keinen Namen, aber er wußte, wen sie meinte.

 

»Mein armer Vater! Er hat sich immer so sehr für das Okkulte interessiert und hat auch selbst ein kleines Buch darüber geschrieben. Wußten Sie das?«

 

»Ja«, entgegnete Peter einfach.

 

»Es war betitelt ›Die Unterwelt‹«, fuhr sie fort. »Ich glaube, dieses Buch hat die Aufmerksamkeit der Bande auf ihn gelenkt, und durch den Professor ist mein Vater dann in diese entsetzliche Affäre hineingezogen worden. Ich weiß nicht, wer der Professor ist – für mich war er immer ein amüsanter, etwas eitler Mann. Und wenn er auch in mancher Weise abstoßend auf mich wirkte, hätte ich ihn doch niemals mit solchen Verbrechen in Verbindung gebracht. Ich wußte, daß mein Vater und er gute Freunde waren, da er fast jeden Abend bei uns speiste. Darüber freute ich mich sogar, da Vater nur wenig Freunde und kaum ein Vergnügen hatte. Ich fühlte mich erleichtert« – sie lächelte schwach –, »daß ich nicht allein die Verantwortung für ihn hatte. Sie müssen sich zum erstenmal getroffen haben, als ich noch auf der Schule war, denn als ich zurückkam, waren sie bereits unzertrennlich – und die große Mauer im Park war auch schon gebaut.«

 

»Ich verstehe. Daher wußten Sie auch nichts von dem Tempel, der dahintersteht. Das erschien mir zuerst etwas rätselhaft.«

 

»Ich hatte keine Ahnung von seiner Existenz, ebensowenig wußte die Dienerschaft etwas davon. Der Tempel muß unter Leitung des Professors oder eines seiner Komplicen gebaut worden sein, und es wurden nur ausländische Arbeiter zu diesem Zweck verwendet. Das habe ich erst erfahren, nachdem ich Nachforschungen anstellte.«

 

»Haben Sie eine Ahnung, wie Ihr Vater geschäftlich steht?« fragte Peter freundlich. Es schmerzte ihn, als er sah, daß sie zusammenzuckte.

 

»Ich glaube nicht, daß wir uns darüber Sorgen machen müssen. Vater ist sehr vermögend. Als meine Mutter starb, hinterließ sie mir eine Million Dollar, die von Treuhändern verwaltet wird, so daß ich also wegen der Finanzlage der Bank nicht ängstlich bin.«

 

Diese Mitteilung erleichterte Peter sehr, denn er hatte in dieser Beziehung die schlimmsten Befürchtungen gehabt. Er hatte das Gefühl, daß der Name Bertram, seit drei Generationen geachtet und angesehen, noch eher mit Mord verknüpft sein dürfte als mit einem Bankrott.

 

»Sie müssen mir noch eines zu meiner Beruhigung sagen«, bat er. »Dieser absurde Vorschlag, daß Sie den Erwählten der Götter heiraten sollen, ist doch nach diesen Enthüllungen vollständig für Sie erledigt?«

 

Zu seiner Überraschung antwortete sie nicht sofort und sah ihn auch nicht an.

 

»Sie meinen doch nicht…«, sagte er erstaunt.

 

»Ich meine, daß diese Heirat stattfinden muß«, erklärte sie und unterdrückte ein Schluchzen. »Mr. Corelly, wissen Sie nicht, daß der Gedanke an diese Heirat von der Bande ausgeht und daß sie den Repräsentabelsten aus ihrer Mitte ausgewählt haben?«

 

»Das konnte ich mir denken«, erwiderte er, »aber es gibt zehntausend Gründe dafür, ein Versprechen, das Ihr Vater oder Sie gegeben haben, nicht zu erfüllen. Um Himmels willen, das wäre ja ein entsetzlicher Gedanke!«

 

Sie schaute immer noch nicht auf.

 

»Ich möchte Sie bitten, mir in dieser schwierigen Lage zu helfen. Aber sagen Sie mir erst, ob es einen Weg gibt, den Namen meines Vaters aus dieser fürchterlichen Geschichte herauszuhalten?«

 

Nun mußte er schweigen. Er wußte sehr wohl, daß das unmöglich war. Sie deutete sein Schweigen richtig.

 

»Merken Sie jetzt, daß ich vollkommen in den Händen dieser drei Leute bin, Mr. Corelly? Das Wort meines Vaters steht gegen das ihre, und sie können ihn … Ach, es ist grauenhaft!«

 

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

»Sie können ihn in die Mordaffäre hineinziehen, wollen Sie sagen?«

 

Sie nickte zustimmend.

 

»Und Sie glauben, wenn Sie einen von ihnen heiraten, vermutlich den Führer der Bande, werden sie Ihren Vater in Ruhe lassen? Miss Bertram, Sie kennen die Methoden dieser Verbrecher nicht. Die Sache liegt nicht mehr in Ihren Händen, sie liegt in den Händen der Behörden. Es handelt sich auch nicht mehr darum, daß sie jemanden verraten. Wir haben genügend Beweise …«

 

Sie schüttelte den Kopf, und zum erstenmal sah sie ihm offen und gerade in die Augen.

 

»Sie irren sich, Mr. Corelly«, erklärte sie ruhig. »Sie haben gar keine Beweise, Sie haben nur Theorien. Nur mein Vater könnte beweisen, daß sie ihn betrogen und hintergangen haben, und er – er …«

 

Sie hielt inne und preßte das Taschentuch an die Lippen.

 

Peter zog zerstreut eine Zigarre aus der Tasche, schnitt das Ende ab und steckte sie an, bevor er wußte, was er eigentlich tat. Er wollte sie in den Kamin werfen, aber Jose hinderte ihn daran.

 

»Bitte, rauchen Sie doch …«

 

Sie fühlten sich beide äußerst unglücklich. Peter hatte sich Jose gegenüber niedergesetzt und starrte ins Feuer; sie hatte sich vorgelehnt und das Kinn in die Hände gestützt. Ihre Gedanken hatten dieselbe Richtung.

 

»Sie haben nicht unrecht, Miss Bertram«, meinte er schließlich. »Deshalb sind wir ja auch so niedergeschlagen. Es ist eine verblüffende Tatsache, daß wir bis jetzt keine Beweise haben. Niemand sah, daß Mrs. Laste erschossen wurde, niemand sah den Mann, der Wilbur Smith halbtot schlug oder Frank Alwin entführte. Es besteht starker Verdacht, aber dieser Verdacht führt zu keiner Verurteilung.«

 

Schweigend rauchte er einige Minuten. Nur die französische Uhr tickte auf dem Kamin, sonst war alles still.

 

»Ja, Sie haben wirklich nicht unrecht, Jose«, sagte Peter noch einmal.

 

Sie sah ihn etwas verwirrt an, aber offenbar wußte er gar nicht, daß er eben ihren Vornamen genannt hatte.

 

»Wir wußten schon die ganze Zeit um diese Schwierigkeiten«, fuhr er fort, »solange wir die Bande kennen. Wir hofften wider alles Erwarten, die richtigen Beweise zu bekommen, aber bis jetzt steht nur eine Person unter unmittelbarem Verdacht – und zwar Sie.«

 

»Ich?« erwiderte sie bestürzt.

 

»Es gibt genug Beweise, um Sie dreimal verurteilen zu können, aber ich weiß, daß Sie ein vollkommen unschuldiges Werkzeug in den Händen dieser Verbrecher waren. Ich weiß auch, daß die Leute im Ernstfall, wenn sie nicht besondere Ursache haben zu schweigen, Ihren Vater in die Mordaffäre hineinziehen werden, und zwar in einer solchen Weise, daß es praktisch unmöglich sein würde, seine Unschuld zu beweisen.«

 

Wieder trat Schweigen ein, dann erhob sich Jose.

 

»Sie sehen also doch auch«, sagte sie und machte eine verzweifelte Geste, »daß ich um meines Vaters willen auf die Wünsche dieser Leute eingehen muß – selbst wenn es sich um eine Heirat handelt.«

 

Sie brachte das Wort nur mühsam hervor. Peter stand langsam auf. Er lächelte ein wenig, und das seltsame Leuchten seiner Augen faszinierte sie.

 

»Miss Bertram, vermutlich werden sich dann eben wegen des goldenen Hades noch ein paar Tragödien mehr abspielen.«

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Diese Bande besteht aus drei Mitgliedern«, sagte Peter bedächtig. »Rosie Cavan – das ist der Professor; Tom Scatwell ist ein anderer englischer Verbrecher. Außerdem haben wir noch Sam Featherstone. Vielleicht hatten sie noch einen Helfer, als sie Wilbur Smith überfielen, denn Wilbur ist nicht gerade beliebt in diesen Kreisen. Drei Leute«, fügte er nachdenklich hinzu. »Und wenn die Geschichte nicht anders verläuft, als sie bis jetzt aussieht, dann werden sich wegen des goldenen Hades drei weitere Tragödien ereignen, drei nicht wiedergutzumachende Unglücksfälle.«

 

Im ersten Augenblick verstand sie nicht, aber dann trat sie schnell einen Schritt vorwärts, legte beide Hände auf seinen Arm und schaute ihm in die Augen.

 

»Das werden Sie nicht tun!« rief sie erregt. »Hören Sie? Das dulde ich auf keinen Fall! Lieber will ich alles auf mich nehmen, lieber soll mein Vater die volle Verantwortung tragen, als daß Sie so etwas Entsetzliches tun.«

 

Es wurde ihr klar, welchen Vorsatz er gefaßt hatte.

 

»Sie dürfen es nicht tun. Versprechen Sie mir, daß Sie es nicht tun – bitte, bitte!«

 

Er sah ihr lächelnd ins Gesicht.

 

»Es ist viel besser –«

 

Ihre Hand legte sich auf seinen Mund und brachte ihn zum Schweigen.

 

»Peter!«

 

Dieses eine Wort verwirrte ihn.

 

»Wenn Sie mich nicht ganz unglücklich machen wollen, dann schlagen Sie sich diesen Gedanken aus dem Kopf. Sollen die Gauner die Sache ruhig vor Gericht bringen!«

 

Er konnte nicht sprechen. Sie verstand sein Schweigen falsch und schüttelte ihn mit aller Kraft.

 

»Es muß sich ein anderer Ausweg finden!« drängte sie. »Bitte, bitte, tun Sie es nicht – um meinetwillen! Sie haben mich vorhin Jose genannt, und ich weiß, daß Sie mich gern haben.«

 

Plötzlich zog er sie in die Arme.

 

»Gern haben!« flüsterte er heiser. »Liebe, kleine Jose, vielleicht erschieße ich die Verbrecher nicht, vielleicht vergifte ich sie nur.«

 

Sie lachte wieder, denn sie wußte jetzt, daß sie gewonnen hatte.

 

Kapitel 11

 

11

 

Drei Leute saßen in einem Privatzimmer des Northern-Hospitals zusammen und verglichen ihre Aufzeichnungen und Notizen miteinander.

 

»Frank«, sagte Wilbur Smith und schüttelte den Kopf, »wir können dich nicht frei umherlaufen lassen. Du mußt versteckt bleiben.«

 

Der Schauspieler lachte.

 

»Da gibt es gar nichts zu lachen«, fuhr Wilbur Smith ernst fort. »Diese Verbrecherbande ist hinter dir her. Man hat nur deine Spur noch nicht gefunden, sonst wärst du in diesem Augenblick nicht mehr am Leben. Du weißt zuviel, und vielleicht bilden sich die Verbrecher ein, daß du eine noch größere Kenntnis hast, als es den Tatsachen entspricht.« Er wandte sich an Corelly. »Nun, Peter, haben Sie den Buchladen von Rhyburn aufgesucht?«

 

Corelly nickte.

 

»Die Geschichte klärt sich nach und nach auf, aber je mehr ich mich mit der Sache befasse, desto mehr wird Miss Bertram belastet. Sie erinnern sich noch an den Higgins-Mord, bei dem die Frau des Spielers erschossen wurde?«

 

Die beiden anderen nickten.

 

»Laste sagte doch damals aus, daß seine Frau die Dollarscheine in einem Buch fand, das sie am gleichen Nachmittag bei Rhyburn gekauft hatte. In der nächsten Nacht wurde in dem Laden eingebrochen. Die Frau las sehr viel, und sie bekam diesen Band besonders billig, weil der Umschlag einen Tintenfleck hatte. Aus diesem Grund konnte sich auch Mr. Rhyburn genau auf den Verkauf besinnen, und dadurch war es mir möglich, weitere Nachforschungen anzustellen. Sie entsinnen sich doch noch, daß Rhyburn für gewöhnlich Miss Bertram eine Auswahlsendung der neuesten Romane in die Wohnung schickte. Sie behielt die Bücher zurück, die ihr gefielen, und sandte die anderen wieder in den Laden. Und das Buch, das Mrs. Laste kaufte, gehörte zu diesen. Zweifellos hatte sie darin verschiedene Tausendollarscheine versteckt gefunden. Wahrscheinlich hat sie sogar eine viel größere Summe entdeckt, als sie ihrem Mann sagte, da sie doch wußte, daß er alles verspielen würde.«

 

»Wie erklären Sie sich das?« fragte Wilbur Smith. »Behaupten Sie, daß Miss Bertram die Scheine zwischen die Seiten des Buches legte und sie später vergaß? Oder meinen Sie, daß sie die Scheine absichtlich darin verbarg und das Buch zurückschickte?«

 

»Ich habe noch keine Theorie, die die Sache erklären könnte«, erwiderte Peter. »Ich führe nur Tatsachen an.«

 

Er schien etwas nervös zu sein, und das war ungewöhnlich an ihm. Wilbur merkte es sofort.

 

»Merkwürdig ist nur, daß sich diese Ereignisse innerhalb von vierundzwanzig Stunden zutrugen: die Rückgabe der Bücher durch Miss Bertram, der Verkauf an Mrs. Laste und schließlich der Einbruch in den Bücherladen. Und kaum zwölf Stunden darauf ist dann Mrs. Laste erschossen worden!«

 

»Wir müssen zwei Dinge herausbringen«, erklärte Wilbur nach einiger Überlegung. »Zunächst müssen wir den Tempel in dem Garten wiederfinden, und dann müssen wir entdecken, wer dieser Rosie ist.«

 

»Ich werde mich vor allem mit letzterem beschäftigen«, entgegnete Alwin. »Als ich während des Krieges in Washington war, kam ich mit Lazarus Manton in Berührung, der trotz seines sonderbaren Namens ein hervorragender Polizeibeamter ist. Ich weiß nicht, welchen Rang er jetzt in Scotland Yard einnimmt. Ich habe ihm telegrafiert.«

 

»Vor allem müssen wir den Philadelphia-Bahnhof beobachten. Die Worte, die Alwin hörte, als er gefangensaß, müssen eine besondere Bedeutung haben. Das können Sie ja leicht veranlassen, Corelly.«

 

Peter nickte.

 

»Eine ziemlich schwierige Aufgabe. Ich habe zwei Beamte dorthin beordert, aber ich würde meiner Sache doch erst sicher sein, wenn ich eine größere Anzahl von Beamten zu diesem Zweck zur Verfügung hätte.«

 

»Wo haben Sie die Leute postiert?« fragte Smith.

 

»In den Warteräumen. Ich bin auch der Ansicht, daß wir den nächsten Schritt der Verbrecher auf dem Philadelphia-Bahnhof erwarten können … Ein paar Stunden meiner Zeit verwende ich an jedem Nachmittag auf die Lösung dieser Aufgabe. Aber worauf sollen wir denn achten? Alwin kann uns nicht helfen, die beiden Leute wiederzuerkennen, und da wir nicht genau wissen, was sie unternehmen werden, erscheint mir von vornherein die ganze Sache hoffnungslos.«

 

Aber trotz dieser pessimistischen Äußerung war Corelly am nächsten Tag doch auf der Station. Er hatte sich auf eine Bank gesetzt, so daß er die Menschenmenge beobachten konnte, die in ununterbrochenem Strom vorüberflutete.

 

Peter hatte dabei einen sechsten Sinn. Rein gefühlsmäßig wandte er seine Aufmerksamkeit einem Mann in mittleren Jahren zu, der eine Anzahl Pakete unter dem Arm trug. Er war müde, ließ sich auf einem freien Sitz nieder und legte die Päckchen neben sich auf die Bank. Es war nichts Auffallendes an dem Mann, und Peter sah wieder die Treppe hinauf, auf der die vielen Menschen herunterkamen. Als er den Blick dann wieder in die alte Richtung wandte, bemerkte er, daß sich ein anderer neben dem Mann niedergelassen hatte, jedoch nur eine Minute blieb, dann erhob er sich schon wieder und ging fort. Peter konnte die beiden nur von hinten sehen; der zweite kam ihm bekannt vor, wenn er ihn auch im Augenblick nicht identifizieren konnte. Der Mann mit den Paketen schaute auf die Uhr und erhob sich dann unentschlossen, nachdem er sich hilflos umgesehen hatte.

 

Peter beobachtete genau, wie sich der Mann einem der vielen Ausgänge zuwandte, die zu den Bahnsteigen führten. Bis jetzt hatte er noch keinen besonderen Grund, ihn zu verdächtigen, auch dann noch nicht, als in der Nähe des Ausgangs ein Mädchen auf ihn zutrat. Sie sprachen eine Weile miteinander, und er entnahm aus der Haltung des Mannes, daß das Mädchen ihm fremd sein mußte. Nach einiger Zeit gingen sie beide zu einer anderen Bank. Der Mann legte die Pakete darauf und zählte sie, während das Mädchen danebenstand. Dann nahm er eines der Pakete und reicht es ihr mit einem Lächeln.

 

Peter sah immer noch nichts Außergewöhnliches an diesen Vorgängen.

 

Er wird Einkäufe gemacht und dabei zufällig ein falsches Paket mitgenommen haben, dachte er. Das junge Mädchen hat Glück, daß sie ihr Eigentum zurückerhält, bevor es zu spät ist!

 

Sie trennten sich; der Mann nahm den Hut ab und wandte sich zu einem Ausgang; das Mädchen ging zur Treppe. Sie hatte gerade die Hälfte der Stufen zurückgelegt, als Peter sich entschloß, ihr zu folgen. Er verlor sie aber aus den Augen, und erst auf der Siebenten Avenue traf er sie wieder. Sie ging schnell und sah weder nach rechts noch nach links. Er überlegte gerade, ob er ihr weiter nachgehen sollte, als plötzlich ein Auto direkt vor ihr hielt. Sie öffnete die Tür und stieg ein, worauf sich der Wagen sofort wieder in Bewegung setzte. In diesem Augenblick kam Peter ein guter Gedanke. Er war ein vorzüglicher Läufer, und noch bevor das Auto zwanzig Meter weit gefahren war, sprang er auf das Trittbrett.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie störe«, sagte er kühl, »aber ich …«

 

Plötzlich brach er ab, denn die junge Dame war niemand anders als Jose Bertram.

 

Ein kleines Paket lag auf ihrem Schoß, von dem sie bereits das Papier entfernt hatte. Es war ein dicker Stoß von Banknoten. Ohne noch ein Wort zu verlieren, öffnete Peter die Tür der Limousine und setzte sich neben sie. Er nahm die Banknoten, ohne daß sie Widerstand leistete, drehte die oberste um und erkannte sofort den Stempel des goldenen Hades.

 

Auch jetzt wurde kein Wort zwischen ihnen gesprochen; Peter schien die Sprache verloren zu haben; Jose schaute geradeaus auf den Rücken des Chauffeurs. Erst als der Wagen an einer Kreuzung von dem Verkehrsschutzmann angehalten wurde, bewegte sie sich und gab dem Chauffeur eine Anweisung. Dieser änderte die Richtung und fuhr jetzt die Fünfte Avenue entlang, bis sie an die Glasscheibe klopfte. Vorher hatte sie die Banknoten in eine der tiefen Seitentaschen im Innern des Autos gelegt, und allem Anschein nach interessierte sie sich nicht weiter dafür, was damit geschah.

 

»Wir wollen in den Park gehen«, sagte sie.

 

Schweigend wanderten sie nebeneinander her.

 

Peter wußte kaum, wie er die Unterhaltung beginnen sollte, und sie befand sich offenbar in der gleichen Lage.

 

»Mr. Corelly«, sagte sie schließlich, »wieviel wissen Sie von der ganzen Angelegenheit?«

 

»Sie meinen von dem goldenen Hades? – Ziemlich viel, Miss Bertram. Aber ich hoffe, daß ich von Ihnen noch mehr erfahren werde.«

 

Sie preßte die Lippen zusammen, als ob sie fürchtete, sie könnte ihm ihr Geheimnis enthüllen.

 

»Ich bin nicht imstande, Ihnen etwas zu sagen. Welchen Zweck hätte es auch? Dieses Geld gehört mir. Es ist doch keine Übertretung des Gesetzes, wenn man eine große Summe bei sich trägt, nicht einmal in New York.«

 

»Aber es ist schon etwas Besonderes, wenn man Banknoten im Besitz hat, die den Stempel des goldenen Hades auf der Rückseite zeigen«, erwiderte Peter streng, »denn Banknoten mit diesem goldenen Stempel stehen im Zusammenhang mit einem furchtbaren Mord.«

 

Sie sah ihn erschreckt an.

 

»Mord!« wiederholte sie mit stockender Stimme. »Aber das ist doch nicht Ihr Ernst!«

 

»Ja, mit Mord und mit vielen schlimmen Dingen. Diese Banknoten haben Beziehung zu dem berüchtigten Higgins-Mord, und sie spielen auch eine Rolle bei der Entführung Mr. Alwins .. «

 

»Aber das verstehe ich alles nicht«, erwiderte sie bestürzt. »Ich wußte wohl, daß das Ganze eine furchtbare Torheit und nicht recht ist, aber daß es sich um einen Mord handelte – nein, davon hatte ich keine Ahnung. Bitte sagen Sie mir doch, daß das nicht wahr ist!«

 

Jose war stehengeblieben und sah ihn verzweifelt an. Er legte die Hand auf ihren Arm, aber sie schrak zurück.

 

»Miss Bertram, warum lassen Sie mich Ihnen nicht helfen? Das ist mein größter Wunsch. Ich helfe gern einem Menschen, aber bei Ihnen ist es noch etwas Besonderes. Ich kann mit Ihnen sprechen wie ein Bruder – warum trauen Sie mir nicht?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das können Sie nicht – Sie können mir nicht helfen«, entgegnete sie hoffnungslos. »Ich bin es auch nicht so sehr, die Hilfe braucht.«

 

»Wer denn?«

 

»Das kann und darf ich Ihnen nicht sagen. Ich wünschte, es wäre mir möglich – ach, es ist zu schrecklich!«

 

Er faßte sie am Arm und führte sie einen einsamen Seitenweg entlang.

 

»Sagen Sie mir wenigstens, seit wann Sie etwas von dem goldenen Hades wissen.«

 

»Seit zwei Tagen.«

 

Er nickte.

 

»Da haben Sie also während des Essens, das Ihr Vater in dem Klub gab, davon erfahren?«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Beantworten Sie bitte meine Frage. War es tatsächlich bei dem Essen?«

 

»Ich wußte es vorher nicht genau, ich hatte nur eine Ahnung – an dem Abend wurde es mir zur Gewißheit.«

 

»Haben Sie damals erfahren, daß Sie heiraten sollen?« fragte er nach kurzem Zögern.

 

Sie nickte. Aber die Frage ihrer Verheiratung schien unwesentlich zu sein im Vergleich mit einer viel ernsteren und größeren Sache.

 

»Ich muß jetzt aber zurückgehen«, sagte sie plötzlich. »Bitte begleiten Sie mich nicht, wir werden beobachtet.«

 

Sie reichte ihm die Hand und wandte sich zum Gehen.

 

»Wenn ich Ihre Hilfe nötig habe, Mr. Corelly, dann telefoniere ich Ihnen – ich habe Ihre Nummer, sie steht auf der Karte.«

 

Ohne ein weiteres Wort ging sie fort, und Peter folgte ihr langsam. Er sah gerade noch, wie ihr Wagen abfuhr, dann kehrte er zu seinem Büro zurück. Ein Brief lag auf seinem Schreibtisch, aber er machte sich nicht die Mühe, ihn zu öffnen. Bequem setzte er sich in seinen Stuhl, legte die Füße auf den Tisch und dachte lange nach. Und je mehr er überlegte, desto mehr wunderte er sich, und schließlich merkte er, daß er sich selbst eine Theorie bildete, obgleich er doch Theorien haßte.

 

Schließlich nahm er den Brief und öffnete ihn.

 

Es war nur eine kurze Mitteilung von Frank Alwin. Er hatte nicht auf die Handschrift geachtet, sonst hätte er den Briefumschlag natürlich sofort geöffnet.

 

Mein lieber Corelly,

 

Eben habe ich dieses Telegramm auf meine Anfrage bekommen. Was halten Sie davon?

 

Mit verbindlichem Gruß

Frank Alwin.

 

Peter entfaltete das Telegramm und las:

 

Der einzige uns bekannte Mann mit dem Spitznamen ›Rosie‹ ist John Cavanagh, gewöhnlich Rosie Cavanagh genannt. Er wurde vor vier Jahren aus dem Zuchthaus entlassen, nachdem er wegen schweren Betruges eine Strafe von zehn Jahren in Portland abgesessen hatte. Das Verbrechen hat er durch spiritistische Sitzungen vorbereitet. Cavanagh hat eine gute Erziehung genossen; er muß jetzt im Alter von etwa fünfundsechzig Jahren stehen. Gestalt klein. Besitzt umfassende Kenntnisse in der griechischen Mythologie, hält sich, soweit hier bekannt, in Spanien auf. Weitere Nachforschungen sind bereits in die Wege geleitet.

 

Peter sah von dem Telegramm zur Decke, dann wieder auf das gelbe Formular. Ein ironisches Lächeln spielte um seinen Mund.

 

Kapitel 1

 

1

 

Frank Alwin hob mühsam die Hände, die mit Handschellen aneinandergefesselt waren, und riß sich den angeklebten Schnurrbart ab. Durch den schweren Vorhang drangen schwach die Klänge des letzten Orchesterstückes, während das Publikum das Theater verließ. Der Requisitenverwalter erschien auf der Bühne.

 

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich, »ich habe nicht gewußt, daß der Vorhang schon heruntergegangen ist. Heute abend ist die Vorstellung eher zu Ende als sonst.«

 

Frank nickte und sah zu, wie der Mann mit einem besonderen Schlüssel die Handschellen aufschloß und in Verwahrung nahm. Noch vor fünf Minuten hatte Frank Alwin die Rolle des verruchten und bösen Grafen Larska gespielt, der bei einem Einbruch in die Bank von Brasilien ertappt und dann von dem tapferen, unbesiegbaren Detektiv verhaftet wird.

 

In Gedanken versunken blieb er stehen, während die Lampen im Bühnenhaus nach und nach ausgedreht wurden und die Arbeiter die Versatzstücke forträumten. Dann ging er zu dem weißgetünchten Vorraum, der zu den einzelnen Garderoberäumen der Schauspieler führte.

 

Ein junges Mädchen im Straßenkleid wartete dort auf ihn. Sie hatte ihre kleine Nebenrolle schon vor einer Stunde beendet. Frank dachte im Augenblick an ganz andere Dinge; immerhin fiel ihm ein, daß er eine gewisse Verpflichtung ihr gegenüber hatte. Im Unterbewußtsein erinnerte er sich daran, daß er den großen Stoß Papiergeld, den er sich im letzten Akt aus dem Geldschrank der Bank angeeignet hatte, dem Requisitenverwalter noch nicht zurückgegeben hatte. Im Gegenteil, er hatte die Scheine in die Tasche gesteckt und mitgenommen. Er lächelte das ängstliche junge Mädchen an, als er auf sie zuging, und drückte ihr etwa sechs Banknoten in die Hand, die er aus der Tasche zog. Er faltete sie noch besonders sorgfältig, bevor er sie ihr übergab.

 

»Das ist für Sie, Marguerite«, sagte er mit einem gewissen Pathos.

 

Er bemerkte, daß sie ihn erstaunt, fast bestürzt ansah, lachte aber nur still vor sich hin und stieg die Treppe zu seinem Ankleideraum hinauf, immer zwei Stufen mit einem Schritt.

 

Als er fast oben angelangt war, fiel ihm etwas ein. Er hatte sich geirrt, fluchte und eilte wieder nach unten, aber die junge Dame war inzwischen fortgegangen.

 

Wilbur Smith, der früher als Offizier beim Militär gedient hatte und jetzt als Detektiv beim Polizeipräsidium in New York tätig war, machte es sich in einem der großen Armsessel bequem. Er saß in der Garderobe des Schauspielers Frank Alwin, und während er auf seinen Freund wartete, rauchte er dauernd und füllte die Luft mit Tabaksqualm. Als Frank Alwin hereinkam, schaute Smith auf.

 

»Hallo, Frank!« rief er. »Was ist denn los? Hat die Vorstellung heute nicht geklappt?«

 

»Ich bin ein dummer Kerl«, erwiderte Alwin und sank in den bequemen Stuhl vor seinem Ankleidetisch.

 

»In mancher Beziehung gebe ich dir vollkommen recht, aber andererseits bist du auch ein sehr tüchtiger Schauspieler. Welche besondere Dummheit hast du denn begangen?«

 

»Es handelt sich um ein Mädchen«, begann Frank.

 

Smith nickte mitleidig.

 

»Verzeihung, ich wollte mich nicht in deine persönlichen Verhältnisse einmischen. Wenn du in der Beziehung Dummheiten gemacht hast, dann spricht das noch nicht besonders gegen dich.«

 

»Ach, rede doch keinen Unsinn«, entgegnete Alwin gereizt. »Um dergleichen handelt es sich doch überhaupt nicht. Es ist ein nettes kleines Mädchen, das zu unserem Ensemble gehört …«

 

Er zögerte einen Augenblick.

 

»Nun gut, ich kann es dir ja auch sagen. Sie heißt Maisie Bishop und hat eine kleine Rolle in dem Stück, das wir jetzt spielen.«

 

Wilbur nickte.

 

»Ich habe sie schon auf der Bühne gesehen. Sie ist wirklich sehr hübsch. Aber was hast du mit ihr?«

 

Frank antwortete nicht gleich und sah den anderen nachdenklich an.

 

»Als ich heute abend auf die Bühne gehen wollte, kam sie zu mir«, erklärte er etwas betreten. »Sie schien sehr besorgt zu sein und sagte mir, daß sie große Schwierigkeiten hätte. Ihre Familie leide bittere Not, und sie bat mich, ihr etwas Geld zu leihen. Ich hatte im Augenblick natürlich keine Zeit, mich mit ihr zu beschäftigen, da jeden Augenblick mein Stichwort fallen mußte. Ich versprach ihr aber, daß ich ihr helfen wollte, und dann habe ich es ganz vergessen.«

 

»Nun, du kannst sie ja noch aufsuchen, sie ist doch sicherlich nicht schwer zu finden.«

 

»Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf. Aber sieh einmal her!« Er steckte die Hand in die Tasche, holte einen Stoß Banknoten heraus und legte sie auf den Tisch. »Das ist natürlich falsches Geld, wie wir es auf der Bühne brauchen. Ich sah, daß sie wieder unten im Vorraum auf mich wartete, aber durch das Theaterspiel hatte ich tatsächlich vergessen, was wir vorher miteinander besprochen hatten. Ich wollte einen Scherz machen und gab ihr ein halbes Dutzend dieser Scheine. Es sollte wirklich nur ein Scherz sein.«

 

Wilbur lachte.

 

»Aber darüber brauchst du dir keine grauen Haare wachsen zu lassen. Wenn sie verhaftet werden sollte, weil sie Falschgeld unter die Leute bringt, werde ich sie und auch dich schon durchbringen. Das verspreche ich dir. Der Schaden ist also nicht so groß.«

 

Er erhob sich, ging zu dem Ankleidetisch hinüber und nahm den Stoß Banknoten in die Hand. Es war ein dickes Bündel und der aufgedruckte Wert der Scheine ziemlich hoch.

 

»Ich wundere mich, daß ihr auf der Bühne derartig gut gedrucktes Geld benützt.«

 

Alwin war gerade dabei, sein Gesicht mit Creme einzureiben und sich abzuschminken. Plötzlich hielt er jetzt mitten in der Bewegung inne.

 

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Es ist jedenfalls nicht das übliche Geld, das wir sonst immer auf der Bühne benützen. Man könnte fast annehmen, daß es sich um echte Scheine handelte.« Er wischte seine Hand an dem Tuch ab, nahm eine der Banknoten und betrachtete sie genau. »Das Wasserzeichen sieht genauso aus, als ob es echt wäre. Ich möchte bloß wissen, wo diese Banknoten herkommen. Noch nie habe ich derartig fabelhaft imitierte Scheine gesehen. Ich fürchte nur, daß die Leute Maisie das Geld als echt abnehmen und daß der Irrtum erst später herauskommt. Wilbur, willst du mir nicht den Gefallen tun, zu ihrer Wohnung zu gehen und mit ihr zu sprechen? Sie wohnt irgendwo im Osten, der Portier am Bühnenausgang wird dir sofort ihre Adresse geben.«

 

»Wirklich merkwürdig«, erwiderte Smith nachdenklich, während er einen der Scheine zwischen den Fingern rieb. »Ich habe auch noch nie so gut gedrucktes Falschgeld gesehen. Aber – um Himmels willen, was ist denn das?«

 

Er hatte die Banknote umgedreht und starrte entsetzt auf die Rückseite.

 

»Was hast du denn?« fragte Alwin erstaunt.

 

Der Detektiv deutete auf ein gelbes Zeichen, das auf die Rückseite des Scheines aufgedruckt war.

 

»Was ist denn das?«

 

»Was glaubst du wohl, daß es sein könnte?« fragte Wilbur. Seine Stimme klang seltsam.

 

»Es sieht fast aus, als ob es die Darstellung eines Götzenbildes wäre.«

 

»Da hast du tatsächlich recht. Es ist das Bild des goldenen Hades.«

 

»Ich habe nicht verstanden. Was soll das sein?«

 

»Der goldene Hades. Hast du niemals von ihm gehört?«

 

»Doch«, erwiderte Frank lächelnd. »Das ist ein Platz, zu dem man die Leute hinbefördert, die einem im Weg stehen!«

 

»Ja, mit anderen Worten – die Unterwelt. Hades kann aber auch der Gott der Unterwelt sein«, erklärte Wilbur Smith grimmig. »Die Römer nannten den alten Herrn Pluto.«

 

»Aber warum nennst du ihn golden? Hat er etwa eine derartige Farbe gehabt?«

 

Sein Freund schüttelte den Kopf.

 

»Das ist das dritte Mal, daß ich Gelegenheit habe, einen derartigen Aufdruck zu sehen. Die anderen Stempel, die ich bisher kennengelernt habe, waren allerdings mehr goldfarben.«

 

Wilbur Smith nahm den Stoß Banknoten vom Tisch auf und zählte ihn sorgfältig durch.

 

»Das sind zusammen sechsundneunzigtausend Dollar!«

 

»Glaubst du tatsächlich, daß es echtes Geld ist?« fragte Frank erstaunt und atemlos.

 

»Daran ist nicht zu zweifeln, es sind echte Scheine«, entgegnete der Detektiv und nickte. »Wo hast du die denn herbekommen?«

 

»Auf die gewöhnliche Weise – vom Requisitenverwalter.«

 

»Den Knaben muß ich sprechen. Kannst du ihn nicht rufen lassen?«

 

»Wenn er noch nicht nach Hause gegangen ist«, erwiderte Frank, ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und rief nach seinem Diener.

 

»Schicken Sie doch bitte Hainz zu mir.«

 

Glücklicherweise konnte der Requisitenverwalter noch angehalten werden, als er gerade das Theater verlassen wollte. Er kam in den Ankleideraum, und zufällig fiel sein Blick sofort auf das Geld, das auf dem Tisch lag. Ungeduldig trat er zu Alwin.

 

»Ich wußte doch, daß ich etwas vergessen hatte, als ich Ihnen die Handschellen abnahm, Mr. Alwin. Ich werde das Geld noch verwahren …«

 

»Warten Sie einen Augenblick«, entgegnete Wilbur Smith. »Sie kennen mich doch, Mr. Hainz?«

 

»Jawohl«, sagte der Mann und grinste über das ganze Gesicht. »Ich habe Sie zwar noch nicht in Ihrer amtlichen Eigenschaft kennengelernt, aber trotzdem weiß ich sehr gut, wer Sie sind.«

 

»Woher haben Sie das Geld?«

 

»Das Geld? Meinen Sie etwa diese Papiere hier?« Er zeigte auf die Scheine, die auf dem Tisch lagen.

 

»Ja.«

 

»Woher ich die habe?« wiederholte Hainz. »Nun, die habe ich in dem Requisitengeschäft gekauft, von dem wir alle Utensilien beziehen. Ich hatte nicht mehr genügend Papiergeld für die Bühne, und so besorgte ich mir wieder einen Stoß. Gleichzeitig wurde bei der Firma übrigens ein Plakat für den Film ›Der verführerische Reichtum‹ zusammengestellt, und ich sah, wie man es mit solchen Scheinen einrahmte. Sie wurden auf den Rand eines großen Bogens geklebt.«

 

»Woher hat sie denn der Händler, von dem Sie sie gekauft haben?«

 

»Ich weiß es nicht – sicher von einer anderen Firma.«

 

»Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

 

Hainz nahm ein großes Notizbuch aus der Tasche und schlug die Adresse auf.

 

»Ein glücklicher Zufall, daß ich seine Adresse habe. Ich beschäftige ihn nämlich auch hier auf der Bühne.«

 

Als der Mann gegangen war, sah Wilbur Smith seinen Freund nachdenklich an.

 

»Schminke dich endlich ab, Frank, damit man sich mit dir auf der Straße zeigen kann«, sagte er dann gutmütig. »Wenn du nichts dagegen hast, werde ich das Geld an mich nehmen. Dann gehen wir in die Stadt und essen zu Abend.«

 

»Zum Teufel, was hat das nur alles zu bedeuten?« »Das erzähle ich dir während des Essens«, entgegnete Wilbur Smith ausweichend.

 

Kapitel 2

 

2

 

Selbst Wilbur Smith wußte nicht sehr viel von den Scheinen mit dem gelben Stempel auf der Rückseite, aber alles, war es wußte, erzählte er, als sie sich nach einer halben Stunde in einem Restaurant gegenübersaßen.

 

»Als ich das erste Mal einen solchen Stempel sah, hatte er tatsächlich Goldfarbe. Er war auf die Rückseite einer Tausenddollarnote gedruckt und mit Goldbronze eingepudert worden. Außerdem stand noch mit grüner Farbe das Wort ›Hades‹ darunter. Übrigens kannst du im Lexikon nachlesen, was dort unter ›Hades‹ steht. Diese Tausenddollarnote kam auf seltsame Weise in meine Hand. Im Osten wohnte eine arme Frau, die als Dienstmädchen in einem der Brooklyn-Hotels arbeitete. Sie erzählte mir eine sonderbare Geschichte. Als sie eines Abends nach Hause zurückkehrte, kam ein Mann hinter ihr her, steckte ihr einen Stoß Banknoten in die Hand und ging weiter. Verblüfft lief sie in ihre Wohnung und machte Licht. Als sie dann die Scheine genauer betrachtete und zählte, stellte sich heraus, daß er ihr die Summe von hunderttausend Dollar in die Hand gedrückt hatte. Sie traute ihren Augen nicht und nahm an, daß sich jemand einen Scherz mit ihr gemacht hätte. Sie glaubte wie du, daß es sich um falsches Geld handelte, legte es unter ihr Kissen und nahm sich vor, am nächsten Morgen jemand danach zu fragen, ob es sich um echte Banknoten handelte. In der Nacht wachte sie aber plötzlich auf, denn sie hörte, daß sich jemand in ihrem Schlafzimmer befand. Sie wollte gerade um Hilfe schreien, als ihr jemand sagte, sie solle sich ruhig verhalten. Dann wurde eine Taschenlampe angeknipst, und die Frau sah, daß nicht nur einer, sondern drei Leute mit schwarzen Masken vor ihrem Bett standen.«

 

Frank sah den Detektiv erstaunt an.

 

»Sag mal, willst du mich zum besten halten?«

 

Wilbur Smith schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich spreche vollkommen ernst. Die Leute fragten, wo sie das Geld hätte. Sie war sprachlos vor Schrecken, als sie die Revolver sah, die auf sie gerichtet waren, und zeigte unter das Kissen. Dann fiel sie in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kam, war das Geld verschwunden bis auf eine Banknote, die die drei Räuber in der Eile übersehen haben mußten. Sie brachte den Schein am nächsten Tag zum Polizeipräsidium und erzählte dort ihre seltsame Geschichte. Mein Chef glaubte, daß sie die Geschichte erfunden und die Banknote aus dem Hotel gestohlen hätte, in dem sie arbeitete. Er nahm an, daß sie später Gewissensbisse bekam und sich dann diese Geschichte ausdachte, um sich herauszureden.«

 

»Und hatte er recht?«

 

»Nein. Ich nahm die Aufklärung des Falles in die Hand und erkundigte mich in dem Hotel. Es fehlte kein Geld, und die Leitung stellte der Frau das beste Zeugnis aus. Sie war absolut ehrlich trotz ihrer Armut. Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihr die Tausenddollarnote zurückzugeben. Damals bekam ich zum erstenmal den Stempel mit dem goldenen Hades zu sehen.

 

Das zweite Mal geschah es unter ähnlich sonderbaren Umständen. Die Banknoten befanden sich im Besitz eines gewissen Henry Laste, eines gewerbsmäßigen Spielers. Einer unserer uniformierten Polizisten hatte ihn in betrunkenem Zustand auf der Straße aufgelesen und zur Polizeistation gebracht. Zufällig kam ich gerade dazu. Als die Taschen des Mannes durchsucht wurden, fand man acht solcher Banknoten zu je tausend Dollar. Wir sorgten dafür, daß er wieder nüchtern wurde, und dann erzählte er uns eine geradezu unglaubliche Geschichte. Seine Frau hätte diese Banknoten zwischen den Blättern eines Buches in einer öffentlichen Bibliothek gefunden. Er machte diese Aussage etwa um acht Uhr morgens, und ich selbst war dabei, als das Protokoll ausgefertigt wurde. Ich ging sofort zu seiner Wohnung, um seine Frau auszufragen. Er wohnte in einem Mietshaus; als wir aber an die Tür klopften, erhielten wir keine Antwort. Ich ahnte, daß etwas Besonderes hinter all diesen merkwürdigen Vorgängen stecken mußte, ging zu dem Verwalter des Hauses und bat ihn, die Tür mit dem Hauptschlüssel zu öffnen.«

 

»War die Frau ausgegangen?«

 

Wilbur schüttelte den Kopf.

 

»Wir fanden sie in der Wohnung, aber sie war tot. Eine Kugel aus einer automatischen Pistole hatte sie mitten ins Herz getroffen. Alle Räume waren durchsucht, die Schubladen umgekehrt, die Kleiderschränke aufgerissen. Die einzelnen Jacken und Hosen lagen auf dem Boden verstreut …«

 

»Ach, das ist der berüchtigte Higgins-Mord«, erwiderte Alwin atemlos.

 

Wilbur nickte ernst.

 

»Ja, der berüchtigte Higgins-Mord.«

 

»Und hast du weitere Banknoten in der Wohnung entdeckt?«

 

»Nein. Wir wollten den Mann unter Anklage stellen, diesen Mord verübt zu haben, aber es fiel ihm nicht schwer, ein Alibi beizubringen. Er war in einer Spielhölle gewesen und hatte dort zuviel getrunken. Um ein Uhr hatte ihn der Polizist auf der Straße gefunden; zehn Minuten nach zwei wurde der Mord verübt. Ausnahmsweise war es möglich, diesen Zeitpunkt so genau festzustellen. Der Schuß, mit dem die arme Frau niedergestreckt wurde, war aus nächster Nähe abgegeben worden und hatte solche Durchschlagskraft gehabt, daß er noch einen Wecker auf dem Nachttisch traf und dadurch zum Stehen brachte. Die Zeiger standen auf zehn Minuten nach zwei.«

 

Die beiden saßen sich eine Weile schweigend gegenüber und sahen sich an. Die Unterhaltung der Gäste und das Klappern von Geschirr klang Frank Alwin in den Ohren, und plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß auch er in Gefahr schwebte.

 

»Ich verstehe«, sagte er langsam. »Alle Leute, die mit diesen gestempelten Banknoten in Berührung kommen, wurden …«

 

»Überfallen«, versetzte der Detektiv. »Und aus diesem Grund werde ich dich heute abend auch nicht aus den Augen lassen, Frank.«

 

Die beiden waren seit vielen Jahren miteinander befreundet. Frank Alwin war Schauspieler im Coliseum-Majestic-Theater, und dem Detektiv Wilbur Smith war es gelungen, mehr Verbrecher zu fassen als irgendein anderer Angestellter des Polizeipräsidiums.

 

Frank Alwin hatte während des Krieges drei Jahre lang im Geheimen Nachrichtendienst gedient, und wenn er nicht ein so glänzender Schauspieler gewesen wäre und ein so großes Vermögen besessen hätte, würde er sich bei der Polizei mindestens ebenso ausgezeichnet haben wie sein Freund.

 

»Mir ist die ganze Sache unheimlich«, sagte Alwin nach einer Weile. »Wer war denn eigentlich dieser Pluto?«

 

»Der Gott der Unterwelt. Ich habe herausgebracht, daß es tatsächlich auch heutzutage noch überspannte Leute gibt, die ihn verehren. Man müßte einmal in einem Lexikon genau nachsehen, welche Rolle er in der antiken Mythologie gespielt hat.«

 

In diesem Augenblick trat ein Kellner an den Tisch.

 

»Mr. Alwin, Sie werden am Telefon verlangt.«

 

Frank erhob sich, und der Detektiv wollte ihm folgen.

 

»Mach dir nur keine unnötigen Sorgen«, lachte Frank. »Die werden mich durchs Telefon nicht erschießen können. Und auf keinen Fall bekommen sie das Geld, da du es ja selbst in der Tasche hast.«

 

Zwei Minuten vergingen, und Frank Alwin kehrte nicht zurück.

 

Nach fünf Minuten wurde Wilbur unruhig und winkte einem Kellner.

 

»Gehen Sie einmal in die Vorhalle und sehen Sie nach, ob Mr. Alwin noch in der Telefonzelle ist.«

 

Der Mann kam kurz darauf wieder zurück.

 

»Mr. Alwin ist nicht dort.«

 

»Zum Teufel, was soll denn das heißen? Er ist nicht dort?«

 

Wilbur Smith sprang auf, stieß hastig den Stuhl zur Seite und lief in die große Halle. Der Portier an der Tür sagte, er hätte nicht beobachtet, daß Mr. Alwin hinausgegangen wäre. In den letzten fünf Minuten war er allerdings nicht auf seinem Posten gewesen. Dagegen hatte er draußen ein Auto gesehen, das vor dem Hoteleingang wartete. Bei seiner Rückkehr war es verschwunden.

 

Wilbur Smith eilte auf die verlassene Straße hinaus, aber obwohl er sich nach allen Seiten umschaute, konnte er doch niemand sehen. Der Hoteleingang wurde von zwei großen Bogenlampen hell erleuchtet. Am Rand des Gehsteigs sah Wilbur etwas liegen, ging darauf zu, bückte sich und hob es auf. Es war Franks Hut, zusammengeballt und feucht. Der Detektiv trug ihn näher ans Licht – ein Blick genügte ihm. Mit einer Hand hatte er das Innere berührt, und als er sie herauszog, war sie rot von Blut.

 

Kapitel 42

 

42

 

Das Sonnenlicht strömte durch das Fenster von Maytree Haus; das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem Tisch, als der Amerikaner mit der Erzählung seiner Geschichte begann.

 

»Mein Name ist, wie Sie, Herr Elk, richtig vermuteten, Saul Morris. Ich bin, vom moralischen Standpunkt betrachtet, ein Verbrecher, wenn ich mir auch seit den letzten zehn Jahren keinerlei kriminelle Vergehen habe zuschulden kommen lassen. Ich bin in Hertford in Connecticut geboren.

 

Ich will Sie nicht beleidigen, indem ich Ihre Sympathie für meinen Beruf erbitte. Ich bin ebenfalls mit leichten Fingern und großer Sehnsucht nach einem Reichtum, den ich nicht selbst verdiente, auf die Welt gekommen. Ich bin weder verdorben noch in Versuchung geführt worden, auch hatte ich keine schlechte Gesellschaft. Tatsächlich war meine Karriere ziemlich unähnlich der von anderen Verbrechern.

 

Ich studierte Bankdiebstähle, wie ein Arzt das Studium der Anatomie betreibt, und erwarb eine erschöpfende Kenntnis der verschiedenen Safekonstruktionen. Als ich mich für meine Laufbahn entschlossen hatte, arbeitete ich fünf Jahre in der Fabrik des größten englischen Safemachers, in Wolverhampton. Ich kehrte im Alter von fünfundzwanzig Jahren nach Amerika zurück und schaffte mir eine Reihe von Einbruchswerkzeugen an, die mich ein paar tausend Dollar kosteten.

 

Mit ihnen erbrach ich, ganz allein, die Safekammer der Neunten Nationalbank, und dieser erste Versuch trug mir dreihunderttausend Dollar ein. Ich will Ihnen keine Liste meiner Einbrüche geben. Einige habe ich schon vergessen, andere sind zu unwichtig und enthalten zu viele Enttäuschungen, um auf Details einzugehen. Es genügt mir, zu sagen, daß außer diesen meinen Worten kein Beweis für meine Urheberschaft an ihnen existiert. Mein Name ist nur mit einem einzigen Raub in Verbindung gebracht worden, dem Einbruch in den Kassenraum der Mantania.

 

Im Jahre 1918 hörte ich, daß die Mantania vierundfünfzig Millionen Francs in Papiergeld nach Frankreich überführte. Das Geld war vorher einem hydraulischen Druck ausgesetzt worden, um den Umfang zu verkleinern, und war in zwei starke Holzkisten verpackt worden. In der einen Truhe befanden sich fünfunddreißig Pakete, in der zweiten zwanzig Pakete, jedes zu tausend Francs.

 

Das Schiff sollte einen französischen Hafen anlaufen, ich glaube, es war Havre, denn die Überseedampfer landeten damals noch nicht in Cherbourg. Zu dieser Zeit war der Diebstahl tatsächlich schon ausgeführt. Ich hatte Ersatzkisten von genau der gleichen Form im Kassenraum zurückgelassen, und alles schien in bester Ordnung, als wir zu meinem höchsten Mißvergnügen, während wir an der Küste von Irland entlangfuhren, ein Schraubenblatt verloren. Der Kapitän der Mantania entschloß sich, in Southampton zu landen, ohne den französischen Hafen zu berühren. Eine nachträgliche Veränderung des Planes wirkt auf einen Mann meines Berufes ebenso verwirrend, wie die Änderung des Schlachtplans mitten im Kampf auf den Offizier. Ich hatte bei dieser Gelegenheit einen Helfershelfer. Es war dies ein Mann, der später an Delirium tremens starb. Dieses Unternehmen war für einen Mann ganz allein doch zu groß angelegt, und ich hatte allen Grund, meinem Gehilfen zu vertrauen.«

 

»Harry Lyme?« fragte Elk.

 

»Joshua Braod« schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Sie irren sich. Ich will seinen Namen nicht verraten, der Mann ist tot und war ein treuer und aufrichtiger Kamerad, obgleich er zum Trunk neigte – eine Schwäche, die ich nie geteilt habe. Die Fahrtänderung bedeutete nun für uns, daß wir einen Vorwand erfinden mußten, um überhaupt in Southamton an Land zu kommen. Und dies womöglich noch, bevor der Diebstahl entdeckt wurde. Aber es schien nicht eben wahrscheinlich, daß uns dies noch gelingen könnte.

 

Glücklicherweise herrschte Nebel, und wir mußten langsam die Küste entlangfahren. Falls Sie sich der Umstände noch erinnern können, so wissen Sie, daß die Mantania mit einem Schlepper, der nach Portsmouth fuhr, zusammenstieß. Und da kam die Möglichkeit für uns. Aus einem offenen Gang auf dem Deck, wo wir mit unserem Gepäck warteten, warf ich die beiden Koffer auf das Deck des Schleppers, und mein Freund und ich sprangen über. Wie ich schon sagte, herrschte dichter Nebel, und die Schiffsmannschaft des Schleppers entdeckte uns erst, als die Mantania sich schon von ihm losgelöst hatte. Obgleich die Geschichte, die wir dem Kapitän erzählten, höchst durchsichtig war, so glaubte er sie doch bereitwillig, als ich ihre Wahrscheinlichkeit durch einen Zwanzig-Dollar-Schein bekräftigte.

 

Wir landeten unter großen Schwierigkeiten spät am Abend in Portsmouth; wo es keine Zollinspektion gab, und bekamen unsere Koffer glücklich an Land. Wir gedachten, die Nacht in Portsmouth zu verbringen. Aber als wir das empfohlene Quartier aufgesucht hatten, gingen mein Freund und ich in ein kleines Gasthaus, um etwas zu trinken, und da erfuhren wir eine Nachricht, die uns Hals über Kopf wieder zu unserem Zimmer zurückkehren ließ. Wir vernahmen, daß der Einbruch schon entdeckt war und daß die Polizei nach zwei Leuten fahndete, die sich auf den Schlepper geflüchtet hatten. Da es der Kapitän des Schleppers selbst war, der uns das Quartier empfohlen hatte, so hatte ich wenig Hoffnung, zu entkommen.

 

Immerhin stürzten wir aus dem Haus, und als wir die Straße bei dem einen Ende verließen, kam die Polizei zu dem anderen Ende herein. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg, und vor Tagesanbruch hatten wir einen Ort namens Eastleigh erreicht. Als wir in Eastleigh ankamen, ging mein Gefährte in die Stadt, um etwas zum Essen zu kaufen, und kam nicht mehr zurück.

 

Als ich mich auf die Suche nach ihm begab, fand ich ihn endlich betrunken auf der Straße liegen. Ich konnte nichts anderes beginnen, als ihn zurückzulassen. Die beiden Koffer waren jedoch viel zu schwer für mich, und ich mußte irgendeinen Ausweg suchen. Da gewahrte ich ein altes Haus, an dem eine Tafel mit der Ankündigung angebracht war, daß es zum Verkauf ausgeboten wurde. Ich kletterte über den Zaun, betrachtete alles auf das genaueste und fand, daß sich am Ende des verfallenen Gartens ein alter Brunnen befand, der mit verfaulten Planken bedeckt war. Ich konnte den leichteren meiner beiden Koffer in den Brunnen hinablassen und ihn mit herumliegendem Gerumpel bedecken. Hätte ich damals beide Truhen vergraben, so wäre mir mancherlei erspart geblieben. Aber es widerstrebte mir, alles, was ich mit solcher Mühe und Kühnheit erworben hatte, zurückzulassen. Ich notierte mir den Namen und die Adresse des Verkäufers, eines Advokaten in Winchester, nahm den zweiten Koffer mit mir, kaufte in Winchester einen neuen Anzug und verbrachte dort einen angenehmen Tag, nachdem ich mit dem Advokaten eine Unterredung gehabt hatte. Ich hatte etwas englisches Geld bei mir, und der Kauf wurde perfekt. Ich gab genaue Weisungen, daß man das Haus auf keinen Fall vermieten dürfe und daß alles in dem Zustand verbleiben solle, in dem es sich befand, bis ich von meiner Australien-Reise zurückgekehrt sein würde. Denn ich spielte einen Australier, der sein Geburtshaus wieder kaufen wollte.

 

Von Winchester aus fuhr ich nach London, ohne Ahnung, in welcher Gefahr ich mich befand. Mein verlassener Freund hatte mir nämlich den Namen eines seiner Bekannten angegeben, eines gewissen Harry Lyme, der, wie er sagte, der beste Safeeinbrecher in Europa war. Er hatte behauptet, daß Lyme mir in jeder Notlage würde helfen können.

 

Und eine solche ereignete sich bald. Der erste Mensch, den ich sah, als ich meinen Fuß auf den Bahnsteig von Waterloo setzte, war der Säckelmeister der Mantania, und der Detektiv des Schiffes war in seiner Gesellschaft. Glücklicherweise gab es einen Vorortzug, der auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig abfuhr, und ich reiste nach Surbiton und kehrte auf einer anderen Strecke nach London zurück. Später erfuhr ich, daß mein Gefährte arretiert worden war und in seinem halbbetrunkenen Zustand alles gestanden hatte, was man nur wollte. Mir blieb nun nichts übrig, als den Rest des Geldes, fünfunddreißig Millionen Francs, zu verstecken. Und da dachte ich an Harry Lyme.

 

Ich las in den Zeitungen, daß eine besondere Polizeimacht aufgebracht worden war, um die Häuser der bekannten Verbrecher zu beobachten, an die ich mich vermutlich wenden würde. Aber ich gedachte, trotzdem sein Haus zu erreichen.

 

Es lag in einer verdächtigen Straße in Camden Town. Der Nebel war dick und gelb, und ich fand mich nur mit Schwierigkeit in der elenden, schmutzigen Straße zurecht. Ein Mann öffnete mir erst nach langem und vorsichtigem Zögern und führte mich in ein kleines Zimmer, das von einer einzigen, kleinen Laterne, die auf dem Tisch stand, erhellt wurde. Auch das Zimmer war von dem dichten Nebel erfüllt; denn das Fenster stand offen, um Lyme Gelegenheit zur Flucht zu geben.

 

›Sie sind der Amerikaner?‹ fragte er. ›Sie sind ja wahnsinnig, daß Sie hierherkommen! Die Polizei beobachtet das Haus seit heute nachmittags.‹

 

Ich sagte ihm kurz, in welcher Schwierigkeit ich mich befände. ›Ich habe hier fünfunddreißig Millionen Francs, das ist eine Million dreihunderttausend Pfund Sterling‹, sagte ich ihm. ›Das reicht für uns beide. Können Sie das irgendwo verstecken, während ich zu fliehen versuche?‹

 

›Ja‹, sagte er sofort. ›Was bekomme ich dafür?‹

 

›Die Hälfte!‹ versprach ich. Er schien zufrieden.

 

Ich war überrascht, ihn mit der Stimme und dem Ton eines gebildeten Mannes reden zu hören. Später erfuhr ich, daß er ein Gestrandeter war, der sich zuerst für einen anderen Beruf vorbereitet und, wie ich, den leichteren Weg gewählt hatte.

 

Es wird Ihnen kaum glaublich scheinen, wenn ich Ihnen sage, daß ich kein sehr deutliches Bild von seinen Gesichtszügen mitnahm.

 

Daran ist die Tatsache schuld, daß ich meine Aufmerksamkeit einzig auf den Frosch konzentriert hatte, der auf sein Handgelenk tätowiert war. Ja, er hat ihn später durch die mit großen Kosten vorgenommene Operation eines spanischen Arztes in Valladolid entfernen lassen.

 

Dieser Frosch war ein wenig schief tätowiert, und Lyme wußte, so gut wie ich, daß er ein Zeichen trug, das mich sicher zu ihm zurückführen würde, wo immer er auch wäre.

 

Unser Übereinkommen lautete dahin, daß ich ihm meine erfolgte Ankunft nach Amerika an eine vereinbarte Adresse telegraphieren würde und daß er mir sodann mittels Einschreibebriefe an das Grand Hotel in Montreal die Hälfte des Geldes zu schicken hätte.

 

Um es kurz zu sagen, meine Flucht gelang. Zur angegebenen Zeit war ich in den Vereinigten Staaten und schickte sofort nach meiner Ankunft das Telegramm an Lyme ab.

 

Das Geld kam nicht.

 

Ich kabelte wieder, diesmal von Montreal, wo ich es erwartete; es kam noch immer nicht. Viele Monate später erst entnahm ich einer Zeitung, daß Lyme auf dem Wege nach Guernsey ertrunken war.

 

In Wirklichkeit war er höchst lebendig. Er übersiedelte in eine Stadt in Mittelengland, wo er sechs Monate als bescheidener Geschäftsmann lebte. In dieser Zeit veränderte er langsam sein Aussehen. Er rasierte seinen Schnurrbart und erzielte künstliche Kahlköpfigkeit, durch die Anwendung chemischer Mittel. Während er in Zurückgezogenheit lebte, fing er nach und nach an, die Brüderschaft der Frösche zu gründen. Der Zweck dieser Gründung war, das Zeichen^an dem ich ihn wiedererkennen mußte, so weit und breit als nur möglich auszustreuen.

 

Zuerst mochte er vielleicht keinen anderen Glauben haben, als eben den. Aber es wollte sich niemand damit einverstanden erklären, die Qualen der Tätowierung umsonst zu erdulden, und so, gründete er einen eigentümlichen Wohlfahrtsfonds. Aus diesen geringen Anfängen erstand die große Froschorganisation. Einer der ersten, mit denen er in Kontakt kam, war ein alter Verbrecher namens Maitland. Ein Mensch, der weder lesen noch schreiben konnte.«

 

Broads Zuhörer fuhren auf.

 

»Natürlich!« sagte Elk, und klopfte ungeduldig auf das Knie, »das ist doch die Erklärung für das Baby!«

 

»Es gab niemals ein Baby«, lächelte Broad. »Das Baby war Maitland selbst, der heimlich schreiben lernte. Das Spielzeug des Kindes, von dem Johnson erzählte, war nur eine Erfindung, um Sie irrezuführen. Als Johnson Maitland gefunden hatte, kam er nach London, und die Vereinigten Maitlands wurden gegründet. Maitland hatte nichts zu tun, als im Büro zu sitzen und unnahbar auszusehen.

 

Sein bescheidenster Beamter, einer der geschicktesten Schauspieler, die ich je getroffen habe, war das wirkliche Haupt des Unternehmens, und er blieb Maitlands Beamter, solange es ihm eben paßte.

 

Als er Verdacht gegen sich anwachsen fühlte, ließ er sich entlassen. Und als er dachte, daß Sie ihn als Frosch erkannt hätten, ließ er einen seiner Leute mit einer leeren Patrone auf sich schießen.

 

In der Zwischenzeit war die Froschorganisation angewachsen, und er begann nachzudenken, wie er die Gesellschaft zu seinem Vorteil auszunützen vermochte. Jeden Tag erschienen neue Rekruten, und sie alle kosteten Geld.

 

Aber was er aus diesem Rest auswählte, waren doch ein oder zwei glänzende Köpfe. Balder war der eine, und Hagn der zweite. Vielleicht gab es noch andere mehr, die wir jetzt nie mehr kennenlernen werden. Als führende Kraft der Vereinigten Maitlands hatte er nicht die geringste Schwierigkeit, über seine Francs zu disponieren. Und wenn seine Spekulationen mißglückten, so fand er den Ausweg, um seine Verluste wieder einzubringen. Bei einer Transaktion in Eisenwerten wäre es ihm einmal fast an den Kragen gegangen. Der Frosch machte darauf James G. Bliss, den einzigen Mann, der ihn hätte ruinieren können, kalt. Wann immer er es angezeigt fand, einen Mann niederzuschlagen, ob er nun ein Militärattache oder ganz einfach ein Kaufmann war, der sich unterfing, in seinen eigenen Aktien zu spekulieren, so zögerte Johnson niemals. Er hat nur einen einzigen großen Fehler begangen. Er ließ Maitland weiterhin wie ein Schwein in dem von ihm gekauften Haus wohnen. Als er erkannte, daß Elk den alten Mann ausspioniert hatte, ließ er ihn nach Berkely Square übersiedeln, ließ ihm neue Kleider anmessen und brachte ihn auch, als dieser es wagte, nach Horsham zu fahren, gelegentlich um. Ich sah, wie der Mörder entkam, denn ich war auf dem Dach, als die Schüsse abgefeuert wurden. Ich bin damals selbst mit knapper Not entkommen.

 

Aber, um Sie weiter mit den Ereignissen meines Lebens bekannt zu machen: nach fünf Jahren besaß ich nichts mehr und beschloß einen weiteren Versuch zu machen, um zu meinem Geld zu gelangen. Es wartete ja auch noch die große Geldsumme in Eastleigh auf mich – immer vorausgesetzt, daß ich nicht als der Mann, der das Haus kaufte, identifiziert wurde. Es brauchte lange Zeit, bevor ich mich versichert hatte, daß man mich nicht kannte, und dann segelte ich, mit dem Kaufvertrag in der Tasche, auf einem Viehtransportschiff nach England und landete, ganz wie Sie es sagten, meine Herren, mit ein paar Dollars in der Tasche, in Southampton. Ich fuhr direkt zu dem Haus, das jetzt in einem schrecklich verwahrlosten Zustand war, und machte es mir dort so bequem, wie ich nur konnte, während ich Nacht für Nacht im Brunnen arbeitete, um die Geldkiste hervorzuholen. Als ich dies vollbracht hatte, fuhr ich nach Paris, und das Ende meiner Geschichte kennen Sie selbst.

 

Ich begann meine Nachforschungen nach dem Frosch. Aber ich mußte bald erkennen, daß diese, falls ich mich nur auf das Tätowierungszeichen verließ, hoffnungslos sein würden. Als ich entdeckt hatte, daß Maitland ein Frosch war, beschränkte ich meine Forschung auf das Büro. Durch ein sehr einfaches Mittel erkannte ich bald, daß Maitland Analphabet war.

 

Eines Tages sprach ich ihn in der Nähe seines Hauses an und zeigte ihm ein Kuvert, auf das ich: ›Sie sind ein Schwindler!‹ geschrieben hatte. Und ich fragte ihn, ob er diese Adresse wüßte. Er wies auf ein Haus, das weiter unten in der Straße lag, und eilte davon. Von diesem Augenblick an wußte ich, daß Johnson der Frosch war.

 

Johnson war ein Genie. Die Art, wie er diese ungeheure Organisation leitete, und zwar hauptsächlich nur in der freien Zeit, außerhalb der Bürostunden, ist eine Offenbarung. Er zog alle in sein Netz, und dennoch kannte ihn niemand.

 

Ich glaube, dies ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe, und nun werde ich Ihnen wohl für alle Zukunft Lebewohl sagen müssen.«

 

Als Joshua Broad nach London zurückgefahren war, begleitete Dick Elk an die Gartentür.

 

»Ich werde jetzt einige Zeit nicht ins Büro kommen«, sagte Dick entschuldigend.

 

»Das habe ich auch nicht erwartet«, sagte Elk schmunzelnd. »Aber sagen Sie mir nur, Hauptmann Gordon, was ist mit diesen beiden Holztruhen geschehen, die gestern abend in der Steinbruchhütte gestanden haben?«

 

»Ich habe gar keine Kisten gesehen«, sagte Dick.

 

»Aber ich!« antwortete Elk nickend. »Sie waren dort, als wir Fräulein Bennett holten. Und als ich mit der Polizei zurückkam, waren sie weg. Joshua Broad ist die ganze Zeit dortgeblieben.«

 

Sie sahen einander an. »Ich glaube, ich werde der Sache nicht allzu sehr auf den Grund gehen«, sagte Dick, »ich schulde Broad viel.«

 

»Ich eigentlich auch!« sagte Elk, und er schämte sich ein bißchen seiner Begeisterung. »Wissen Sie, daß er mich gestern ein Gedicht gelehrt hat? Es hat ungefähr hundertfünfzig Verse, aber ich weiß nur zwei, Es fängt an mit:

 

›Wilhelm der Eroberer, an England rächt sich, Schlachtfeld von Hastings, zehn, Sechsundsechzig.‹

 

Das ist ein großartiger Vers, Hauptmann Gordon, wenn ich den schon vor zehn Jahren gewußt hätte, könnte ich heute Polizeipräsident von London sein!«

 

Elk winkte noch lange zurück, als er die Straße zum Bahnhof hinunterschritt.

 

Die Sonne glitzerte auf den tropfnassen Ranken der Malven, die in den Gärten der Dorfhäuser wuchsen. Da hüpfte aus einer Ecke ein winzig kleines, grünes Geschöpf hervor, und Elk stand still und beobachtete es lange.

 

Das kleine Reptil blickte umher und sah auch den Detektiv mit seinen gewölbten, schwarzen, starren Äuglein an.

 

»Du Frosch!« Inspektor Elk hob warnend seinen Finger. »Sei brav und geh nach Haus – deine Zeit ist vorbei.«

 

Und als ob er verstanden hätte, was der Mann gesagt hatte, hüpfte der Frosch in den Schutz des hohen Grases zurück.

 

Kapitel 6

 

6

 

Die Eldorstraße in Tottenham ist einer der tausend grauen und häßlichen Verkehrswege, die die inneren Vororte Londons durchziehen.

 

Um neun Uhr abends ging Elk im strömenden Regen durch die Eldorstraße, die verödet lag. Die meisten Fronten waren nicht erhellt, denn das Leben der Eldorstraße spielt sich zu dieser Zeit in den auf der Hinterseite der Häuser liegenden Küchen ab. Aber aus den Fenstern des Hauses Nr.193 fiel ein Lichtschein.

 

Am Morgen jenes Tages hatten die Zeitungen eine Mitteilung über die neue Spekulation der Vereinigten Maitlands gebracht, über ein Geschäft, dessen Gewinn weit mehr als eine Million Pfund betragen hatte. Und das Haupt des Konzerns lebte in solch einem Schmutzwinkel! Während Elk vor dem Haus stand, verlöschte plötzlich das Licht, und er hörte den sich nähernden Schall von Tritten drinnen im Hausflur. Er hatte eben noch Zeit, die Dunkelheit der gegenüberliegenden Straßenseite zu gewinnen, als die Tür sich öffnete und zwei Personen heraustraten. Es waren Maitland und die alte Frau, die Elk schon gesehen hatte. Sie trug eine Tasche aus Netzwerk in der Hand, und anscheinend gingen sie aus, um einzukaufen. Es war Samstagabend, und die Hauptstraße, die Elk eben passiert hatte, war noch von den Einkäufern belebt, die erst spät die Läden von Tottenham zu besuchen pflegten, um die Nahrungsmittel vor Geschäftsschluß zu billigeren Preisen zu erstehen.

 

Elk wartete, bis das Paar verschwunden war, ging dann bis zum entgegengesetzten Ende der Straße hinab und wendete sich nach links. Er folgte einer mit Plakaten bedeckten Mauer, bis er einen engen Gang erreichte. Es war ein Weg, der zwischen den teergestrichenen Holzzäunen der Gärten hinlief, ein finsteres, unbeleuchtetes Gäßchen, kaum zwei Meter breit. Er zählte die Gartentore zur Linken mit Hilfe seiner Taschenlampe. Nach einer Weile blieb er stehen und drückte die Klinke des letzten Tores nieder. Die Tür war versperrt, aber nicht verriegelt. Elk grunzte befriedigt und zog aus seiner Tasche ein ledernes Säckchen, dem er einen kleinen hölzernen Handgriff entnahm, in den er einen Stahlhaken einsetzte, den er sorgfältig aus einem Dutzend anderer ausgewählt hatte. Erst nach vielen Versuchen drehte sich das Schloß, und er stieß die Tür leise auf. Die Hinterfront des Hauses lag im Dunkeln, und der Hof war merkwürdigerweise ganz frei von all den Hindernissen, die Elk erwartet hatte. Er überquerte ihn rasch und ging zur Tür, die ins Haus führte. Zu seiner Überraschung war sie nicht verschlossen. Er befand sich in einem kleinen Abstellraum, dann ging er durch eine Tür in einen kahlen Flur und kam in das Zimmer, in dem er das Licht gesehen hatte.

 

Es war ärmlich und schäbig möbliert. Der Lehnstuhl neben dem Kamin hatte gebrochene Federn, in der einen Ecke stand ein unordentlich gemachtes Bett und in der Mitte des Zimmers ein Tisch, den ein fleckiges Tuch bedeckte. Darauf lagen einige Bücher und ein paar Blätter Papier, die mit ungeschickter Kinderschrift bedeckt waren.

 

Elk las neugierig: »Der Mann hat einen Hund. – Der Mann ruft den Hund, und der Hund bellt den Mann an.« Es gab noch mehr Blätter dieser Art. Die Bücher waren Fibeln der ersten Klasse. Elk sah umher und gewahrte ein billiges Grammophon und auf der Kredenz ein halbes Dutzend zerkratzter und beschädigter Platten.

 

Er drehte das Gas auf und zündete es an, nachdem er den Riegel vorgeschoben hatte, um sich gegen Überraschungen zu sichern. Die vom helleren Licht beschienene Armseligkeit des Zimmers erschütterte ihn. Der Teppich war abgetreten und voller Löcher. Es gab kein Möbelstück, das nicht Schäden aufgewiesen hätte. Auf der Kredenz stand die Rechenmaschine eines Kindes, ein mit Drähten bespannter Rahmen, auf dem Perlen aufgereiht waren und woran man die Kleinen zählen lehrt. Ein Papier auf dem Kaminsims erweckte seine Aufmerksamkeit. Es war eine Kopie des Millionenkontraktes, den Maitland heute morgen unterschrieben hatte. Seine klare Unterschrift mit dem charakteristischen Schnörkel stand darunter. Elk legte das Papier zurück und begann die Wohnung zu durchsuchen. In einem Geschirrschrank neben dem Kamin fand er eine Geldbüchse, in der Münzen klapperten. Etwa hundert Briefe lagen dabei, an Ezra Maitland, 193, Eldorstraße, Tottenham, adressiert. Es waren entweder Schreiben von Geschäftsleuten, oder politische Broschüren, mit denen die Kandidaten ihre Wähler überfluteten. Sie waren alle ungeöffnet. Sonst gab es nichts Interessantes im Zimmer. Es war sicher, daß der alte Mann hier schlief, aber wo war das Kind? Elk drehte das Licht ab und ging die Treppe hinauf. Die Tür war versperrt, und hier waren seine Instrumente ohne Nutzen, denn es war ein Patentschloß und erst kürzlich angebracht. Vielleicht ist das Kind hier, dachte er. Ein zweites Zimmer, offensichtlich das der alten Frau, war ebenso ärmlich möbliert wie das Wohnzimmer unten. Elk trat auf den Treppenabsatz hinaus, und just als er die erste Stufe hinabstieg, hörte er einen scharfen Ton. Er horchte, aber alles blieb still.

 

Elk war ein Mann von guter Beobachtung, und er war ganz sicher, daß das Tor offengestanden hatte, als er das Haus betreten hatte. Jetzt war es von innen verriegelt, und der Schlüssel steckte im Schloß. War es das Kind, das, durch seine Anwesenheit erschreckt, das Tor versperrt hatte? Elk war klug genug, seine Forschungen nicht allzu weit auszudehnen. Er ging, so leise er es vermochte, den Gartenweg entlang auf die Straße hinaus. Hier wartete er, indem er einen Posten einnahm, der es ihm ermöglichte, die ganze Länge der Eldorstraße und den kleinen Weg, der sich an der Mauer öffnete, zu überschauen. Bald darauf sah er die Maitlands zurückkehren. Der alte Mann trug das Einkaufsnetz, das jetzt angefüllt war. Elk sah das Grün eines Kohlkopfes, als sie unter der Laterne vorbeigingen. Er beobachtete sie, bis sie in der Finsternis verschwanden, und hörte das Geräusch der sich schließenden Haustür. Fünf Minuten später kam eine dunkle Gestalt den Weg hinter den Häusern hervor. Elk beeilte sich, den Mann zu verfolgen. Er tauchte in ein Labyrinth kleiner Gassen unter, der Detektiv ihm immer auf den Fersen. Er ging schnell, aber nicht zu schnell für Elk, der ein ausgezeichneter Fußgänger war. Der Fremde bog in die Hauptstraße ein; Elk hielt sich ein Dutzend Schritte hinter ihm. Aber er konnte sein Gesicht nicht eher sehen, als bis der Verfolgte die Tür eines wartenden Autos aufmachte und hineinsprang.

 

Es war Joshua Broad, der Mann, der Schlüsselringe in Whitehall feilhielt, in der teuersten Wohnung wohnte und Zeit fand, sich für Ezra Maitland auf das nachdrücklichste zu interessieren.

 

»Kommen Sie nur herein, Elk, es regnet zu stark«, sagte er, und Elk stieg in den Wagen. Das Auto setzte sich in Bewegung, und der Amerikaner wendete ihm sein Raubvogelgesicht zu.

 

»Sagen Sie, Elk, haben Sie das Kind gesehen?«

 

Elk schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er.

 

»So, ich habe es gesehen«, sagte Broad.

 

»Wo war sie denn versteckt?«

 

»Es ist ein Er«, antwortete Broad ruhig. »Und ich hoffe, daß Sie mir die Beantwortung dieser Frage erlassen werden. Ich bin schon eine Stunde lang im Haus gewesen, bevor Sie ankamen. Sie haben mir Angst gemacht. Ich hörte Sie kommen und dachte, es wäre St.Nikolaus mit dem Bart. Nebenbei bemerkt, hatte ich das Tor offengelassen. Also mein Lieber, was denken Sie darüber?«

 

»Über Herrn Maitland?«

 

»Exzentrisch, hm? Wenn Sie erst wüßten, wie exzentrisch!«

 

Als der Wagen von dem Caverley-Haus hielt, fuhr Elk aus seinem langen Sinnen auf. »Was sind Sie, Herr Broad?«

 

»Dreimal dürfen Sie raten!« Der andere lachte fröhlich, als sie aus dem Wagen stiegen.

 

»Geheimagent«, meinte Elk prompt.

 

»Falsch! Ich bin Privatdetektiv, und mein Steckenpferd ist das Studium der Verbrecherkategorien. Wollen Sie heraufkommen und ein Glas Bier trinken?«

 

Elk nahm die Einladung an.

 

Broad wollte den Schlüssel in das Schloß seiner Wohnungstür stecken, als Elk plötzlich die Hand auf dessen Arm legte.

 

»Öffnen Sie die Tür nicht!« sagte er flüsternd. Broad sah ihn überrascht an. Alle Muskeln im Gesicht des Detektivs waren gespannt.

 

»Warum nicht?«

 

»Es ist nur ein Gefühl. Ich bin Schotte von Geburt, und wir haben ein Wort ›fey‹, das Übernatürliches bedeutet.«

 

»Sind Sie abergläubisch? Oder spaßen Sie?« fragte Broad.

 

»Es ist etwas hinter dieser Tür, ich könnte einen Eid darauf leisten.« Elk nahm den Schlüssel aus Broads Hand, stieß ihn ins Schloß und öffnete. Dann riß er mit raschem Stoß die Tür auf, indem er Broad zur Seite in den Schutz der Wand drängte. Eine Sekunde lang geschah nichts. Aber dann sprang Elk zur Treppe.

 

»Laufen Sie, laufen Sie!« rief er. Der Amerikaner sah die erste Wolke grünlichgelben Dunstes aus der offenen Tür quellen und folgte. Der Portier schloß eben seine Kammer für die Nacht, als Elk, ohne Hut und atemlos, ihn zur Seite drängte.

 

»Können Sie in die Wohnungen telefonieren?« fragte er. »Gut! Rufen Sie sofort unterhalb des dritten Stockes an und sagen Sie den Mietern, daß auf keinen Fall die Türen geöffnet werden dürfen. Sagen Sie, daß alle Ritzen mit Papier verschlossen, die Briefkästen verstopft und die Fenster aufgemacht werden müssen. Das Haus ist mit giftigen Gasen angefüllt. Fragen Sie mich nicht, tun Sie, was ich Ihnen sage!«

 

Er selbst telefonierte der Feuerwehr, und wenige Sekunden später erklang draußen das Gebimmel von Glocken, und Männer in Gasmasken stampften die Treppe hinauf. Glücklicherweise hatten alle Mieter außer Broad und seiner Nachbarin für das Wochenende die Stadt verlassen.

 

»Und Fräulein Bassano kommt immer erst in früher Morgenstunde zurück«, sagte der Portier.

 

Die Nacht verging, bevor das Gebäude mit Hilfe von Hochdruckluftpumpen und chemischen Beschleunigungsmitteln gelüftet worden war. Broad hatte keinerlei Schaden erlitten als den, daß sein Silber schwarz verfärbt und jede Fensterscheibe, jeder Spiegel in seiner Wohnung mit einer gelblichen Ablagerung bedeckt war. Trotz der weit offenen Fenster durchzog ein muffiger Geruch die Räume, aber der Morgenwind kam, um die letzten Spuren des Überfalls fortzuwehen. Die beiden Männer begannen gemeinsam die Zimmer zu durchsuchen, um zu entdecken, wo das Gas eingeströmt war.

 

»Durch den offenen Kamin«, sagte Elk.

 

Eine Untersuchung des Daches bestätigte, daß seine Theorie richtig gewesen war. Sie fanden zehn große leere Gaszylinder und ein langes Seil, an dem ein Weidenkörbchen befestigt war.

 

»Der Verbrecher hat sich ins Haus geschlichen, während der Portier beim Aufzug beschäftigt war. Jemand auf der Straße hat die Zylinder in dem Körbchen befestigt, und der Mann hat vom Dach aus eines nach dem andern hinaufgezogen. Sie müssen vorher eine ziemlich sorgfältige Umschau gehalten haben, sonst hätten sie nicht gewußt, welcher Kamin in Ihr Zimmer führt.«

 

Die beiden kehrten in die Wohnung zurück.

 

»Glücklicherweise hat mein Diener Ferien«, sagte Broad, »sonst wäre er jetzt schon im Himmel.«

 

»Hoffentlich!« antwortete Elk fromm. Die Sonne stieg gerade über die Dächer, als er schließlich fortging. Er hörte den Klang lärmender Stimmen, noch ehe er das Vestibül erreicht hatte. Ein großes Auto hielt vor dem Eingang, und am Steuer saß Ray Bennett im Frack. Den Platz neben ihm hatte Lew Brady eingenommen, und auf dem Gehsteig stand Lola in einem strahlenden Abendmantel.

 

Ray Bennett hatte getrunken und war der völligen Berauschtheit nahe. »Ach, das ist ja Elk, der Elch der Elche! Mein Kompliment, alleredelster Diebsfänger. Lola, hier siehst du Elk von Elchsburg, den wahrhaften Sherlock, den Bluthund des Gesetzes…«

 

»Halt’s Maul!« zischte Lew in sein Ohr. Aber Ray war in zu gehobener Stimmung, um so leicht zur Ruhe gebracht werden zu können.

 

»Wo ist dein unschätzbarer Gordon? Sag, Elk! Achte auf Gordon – achte um meinetwillen auf den armen, lieben Gordon! Meine Schwester mag ihn sehr gerne, den Gordon!«

 

»Das ist ein schöner Wagen, Herr Bennett«, sagte Elk und betrachtete nachdenklich das Auto. »Ein Geschenk von Ihrem Vater?«

 

Die Erwähnung von seines Vaters Namen schien den jungen Mann wesentlich zu ernüchtern. »Nein«, schnitt er ab. »Er gehört einem Freund. – Gute Nacht, Lola!« Er ließ den Wagen an.

 

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«

 

Der Wagen sprang an und raste dahin. Elk sah ihm nach, bis er aus seinem Gesichtskreis verschwand.

 

»Ich fürchte, er ist in Gefahr, sich seinen Schädel am Mond zu zerschellen. – Gut, daß Sie nicht früher kamen.«

 

»Wieso?«

 

»Es ist ein Gasüberfall im Caverley-Haus verübt worden«, erklärte er. »Sie werden es vermutlich riechen, wenn Sie die Treppen hinaufgehen.«

 

»Giftgas?« fragte sie.

 

Elk nickte.

 

»Aber wer hat es hierhergebracht?« Elk sah sie mit einem verwunderten Blick an.

 

»Wenn ich das wüßte, würde ich dann hier stehen und mit Ihnen darüber sprechen? – Hören Sie, Lola, was treibt dieser junge Bennett?«

 

»Er hat gerade jetzt einen Haufen Geld verdient, und ich vermute schon, daß er es ein wenig zu toll treibt.«

 

»Wenn ich viel Geld erworben hätte und damit etwas beginnen wollte, hätte ich mir einen besseren Maître de plaisir gewußt, als einen Lumpen von Preisboxer.«

 

Über Lolas schönes Gesicht flutete eine zornige Welle, und der Blick, mit dem sie ihn maß, barg nicht minder tödliches Gift als die Gase, gegen die er eine lange Nacht gekämpft hatte.

 

»Ich glaube, ich werde Nachforschungen im Zentralbüro über seinen weiblichen Bekanntenkreis anstellen müssen«, fuhr Elk erbarmungslos fort. »Ich verstehe ja, aus welchen Gründen Sie das Spiel spielen, natürlicherweise, weil das Geld Sie lockt. Was ich aber gerne erfahren würde, ist, woher das Geld stammt!«

 

»Das wird nicht das einzige bleiben, was Sie gerne erfahren möchten«, zischte Lola und eilte ins Haus.

 

Elk stand, wo sie ihn verlassen hatte, still. Sein Gesicht war melancholisch und ohne Ausdruck. Wohl fünf Minuten lang verharrte er so, dann ging er langsam in der Richtung seines bescheidenen Junggesellenheimes davon. Er wohnte oberhalb eines geschlossenen Zigarrenladens allein in dem Haus.

 

Als er die Gray-Inn-Straße überquerte, blickte er rein zufällig zu den Fenstern seines Zimmers auf und bemerkte, daß sie überraschenderweise alle geschlossen waren. Aber er stellte noch eine andere erstaunliche Tatsache fest.

 

Jede Glasscheibe war von einer gelb opalisierenden Substanz getrübt. Elk sah die stille Straße hinauf und hinunter. In der Nähe hatte man an der Straßenausbesserung gearbeitet. Der Nachtwächter schlummerte vor seinem Feuer und hörte weder Elks Annäherung, noch nahm er sein ungewöhnliches Vorhaben wahr.

 

Der Detektiv suchte aus einem Steinhaufen drei abgeschliffene Kieselsteine heraus und ging mit diesen wieder zu seinem Haus zurück. Mitten auf der Straße stehend, warf er Stein um Stein und traf. Glas klirrte, und die Fenster zerbrachen. Er wartete und sah gelbe Wolken giftigen Dampfes durch die zersplitternden Scheiben strömen.

 

»Das fängt nachgerade an, monoton zu werden«, sagte Elk und ging zur nächsten Feueralarmstelle.

 

Kapitel 7

 

7

 

Es hatte den Anschein, als akzeptiere John Bennett seines Sohnes neues Leben als eine bei einem jungen Mann sehr natürliche Notwendigkeit. Innerlich aber war er unruhig und beängstigt. Ray war sein einziger Sohn, er war der Stolz seines Lebens, obgleich er ihm dies nie gezeigt hatte. Keiner kannte die Gefahren, die einem jungen Menschen in der Großstadt drohen, besser als John Bennett, und keiner kannte Ray so gut wie er. Ella schwieg ihrem Vater gegenüber, aber sie erriet seine innere Unruhe und faßte den Entschluß, etwas zu unternehmen. Am vorhergegangenen Sonntag noch hatte Ray sich über den neuerlichen Gehaltsabzug beklagt. Er war verzweifelt gewesen und hatte wild davon gesprochen, seine Stellung hinzuwerfen und einen neuen Beruf zu suchen. Diese Möglichkeit erfüllte Ella mit Unruhe. Die Familie Bennett lebte kärglich von einem recht beschränkten Einkommen. Das Haus war Bennetts Besitz und die Kosten des Lebensunterhaltes lächerlich gering. Eine Frau aus dem Dorf kam jeden Morgen, die schwere Arbeit zu leisten und einmal in der Woche bei der Wäsche zu helfen. Das war der einzige Luxus, den ihres Vaters mageres Einkommen gestattete. Eines Morgens, als Johnson das marmorne Vestibül von Maitlands Haus durchschritt, sah er eine zarte Gestalt durch die Drehtür kommen und begann fast zu laufen, um sie einzuholen.

 

»Mein liebes Fräulein Bennett, was für eine wunderschöne Überraschung! Ray ist nicht da, aber vielleicht warten Sie ein bißchen.«

 

»Ich bin recht froh, daß er nicht hier ist«, sagte sie sichtlich erleichtert. »Ich möchte mit Herrn Maitland sprechen. Können Sie das möglich machen?«

 

Das strahlende Gesicht des Philosophen bewölkte sich.

 

»Das wird sehr schwer halten«, sagte er. »Der Herr empfängt nie jemanden. Nicht einmal die Finanzgrößen der City. Er haßt Frauen und Fremde, und obgleich ich doch schon lange mit ihm arbeite, bin ich nicht einmal sicher, ob er sich an mich gewöhnt hat. Worum handelt es sich denn?«

 

Ella zögerte. »Um Rays Gehalt«, und dann, als er den Kopf schüttelte, fuhr sie drängend fort: »Es ist so wichtig, Herr Johnson. Ray hat einen so anspruchsvollen Geschmack, und wenn man sein Gehalt noch kürzt, so heißt das – ach, Sie kennen doch Ray genau!«

 

Er nickte. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich da etwas tun kann«, sagte er zweifelnd. »Ich will jedenfalls hinaufgehen und Herrn Maitland fragen. Aber ich könnte wetten, daß er Sie nicht empfangen wird.«

 

Aber als Herr Johnson zurückkam, sah sie ihn schon von weitem lächeln.

 

»Kommen Sie nur rasch, bevor er sich’s überlegt hat«, sagte er und führte sie zum Lift. »Sie müssen allein die Konversation führen, Fräulein Bennett! Er ist exzentrisch und so hart wie Feuerstein.«

 

Er führte sie in einen kleinen, bequem möblierten Salon und wies auf einen Schreibtisch, der mit Papieren bedeckt war.

 

»Das ist mein Zimmer«, erklärte er. Eine Rosenholztür führte zu Herrn Maitlands Büro. Johnson klopfte leise an, und mit schneller pochendem Herzen trat Ella dem seltsamen Mann gegenüber.

 

Der Raum war groß, und der Luxus der Ausstattung verschlug ihr den Atem. Hinter seinem breiten Schreibtisch saß der große Maitland kerzengerade aufrecht und betrachtete sie unter seinen buschigen Augenbrauen. Er sah wie ein Patriarch und doch zugleich abschreckend aus. Und es war etwas Grobes und Gemeines an ihm, das sie verletzte. Es lag nicht in der Nachlässigkeit seines Anzuges oder der Zahl seiner Jahre. Das Alter pflegt sonst Verfeinerung zu bringen. Dieser alte Mann jedoch war nur ganz gemein geworden. Sein forschender Blick ermangelte der Sicherheit, die sie erwartet hatte. Es schien beinahe, als fühle er sich unbehaglich.

 

»Dieses ist Fräulein Bennett. Sie erinnern sich, daß Bennett unser Börsenbeamter ist. Fräulein Bennett bittet darum, daß Sie Ihren Entschluß über die Gehaltskürzung noch einmal prüfen mögen.«

 

»Wir sind nicht sehr wohlhabend«, sagte Ella leise, »und dieser Abzug macht für uns sehr viel aus …«

 

Herr Maitland schüttelte ungeduldig das kahle Haupt. »Das ist mir ganz egal, ob es Sie gutgeht oder nicht gutgeht! Wenn ich Gehaltsabzüge mach, dann mach ich sie. Verstanden?«

 

Sie starrte ihn entgeistert an. Seine Stimme war rauh und gemein. Sprache und Ton entstammten der Gosse.

 

»Wenn er nich mag, so kann er gehn, wohin er will. Und wenn Sie das nich recht is« – er heftete seine trüben Augen auf den unruhig aussehenden Johnson –, »dann könn Sie auch gehn, wohin Sie wolln. Es gibt massenhaft so Lausbuben, die ich kriegn kann. Brauch sie mir nur von der Straße raufzuholen. Millionen davon. Punktum!«

 

Johnson ging auf den Fußspitzen hinaus und schloß die Tür hinter dem Mädchen, das ihm gefolgt war.

 

»Aber das ist ja ein Scheusal!« brachte sie hervor. »Wie können Sie es nur mit ihm aushalten?«

 

Der dicke Mann lächelte gelassen. »Er hat recht. Bei eineinhalb Millionen Arbeitslosen auf den Straßen kann er sich seine Leute aussuchen.«

 

»Ich hatte keine Ahnung«, sagte sie, und legte impulsiv ihre Hand auf seinen Arm, »daß er so arg ist! Das tut mir leid um Ihretwillen! Er ist ja entsetzlich!«

 

»Er ist Selfmademan, aber er ist eigentlich nicht bösartig. Wenn ich nur begreifen könnte, warum er Sie empfangen hat?«

 

»Empfängt er denn sonst niemanden?«

 

Er schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn es nicht absolut notwendig ist. Und das ereignet sich vielleicht zweimal im Jahr. Ich glaube kaum, daß er überhaupt je mit einem Menschen im ganzen Haus gesprochen hat. Nicht einmal mit den Direktoren.«

 

Johnson führte Ella in das Hauptbüro hinunter. Ray war noch nicht gekommen.

 

»Die Wahrheit ist«, gestand Johnson, als sie ihn mit Fragen bedrängte, »daß Ray heute überhaupt noch nicht im Büro war. Er ließ sagen, daß er sich nicht sehr wohl fühlt, und ich habe es so eingerichtet, daß er heute als frei gilt.«

 

»Er ist doch nicht krank?« fragte sie beunruhigt.

 

»Nein, ich habe ihn telefonisch gesprochen. Er hat ein Telefon in seiner neuen Wohnung.«

 

»Ich dachte, es wäre nur ein einfaches Zimmer?« sagte Ella entsetzt. Die gute Hausfrau in ihr empörte sich. »Eine ganze Wohnung? Wo denn?«

 

»In Knightsbridge«, antwortete Johnson ruhig. »Ja, es klingt teuer, aber ich glaube, daß er sie billig bekommen hat. Ein Mann, der ins Ausland ging, hat sie ihm für einen Pappenstiel untervermietet. – Darf ich offen sein, Fräulein Bennett?«

 

»Ist es Rays wegen, so bitte ich darum«, antwortete sie hastig.

 

»Ray beunruhigt mich in letzter Zeit«, sagte Johnson. »Natürlich möchte ich alles, was ich kann, für ihn tun, denn ich habe ihn sehr gern. Jetzt ist es meine einzige Sorge, seine ziemlich häufige Abwesenheit vom Büro zu verschleiern. Sie brauchen ihm das nicht wiederzusagen. Aber es ist eine ziemliche Mühe, denn der alte Herr hat einen unerhörten Instinkt dafür, wenn Angestellte sich vom Dienst drücken. Ray lebt viel großzügiger, als er es sich eigentlich leisten kann. Und ich habe ihn so gekleidet gesehen, als wollte er mit den elegantesten Leuten der Stadt in Konkurrenz treten.«

 

Die unbestimmte. Unruhe in Ellas Seele wuchs zur Panik an.

 

»Es ist doch – nicht etwa im Büro – etwas Unrechtes vorgefallen?« fragte sie ängstlich.

 

»Nein, ich nahm mir die Freiheit, seine Bücher durchzusehen. Sie stimmen. Sein Kassenbuch ist bis auf einen Penny in Ordnung. Mit roher Offenheit gesagt: er stiehlt nicht. – Zum mindesten nicht bei uns. Aber noch ein anderes Detail. Er nennt sich Raymond Laster in Knightsbridge. Ich habe das durch Zufall herausgefunden und habe ihn gefragt, warum er einen andern Namen angenommen hat. Seine Erklärung war ziemlich glaubhaft. Er wollte nicht, daß Ihr Vater hören sollte, daß er auf so großem Fuß lebt. Er hat eine ziemlich einträgliche Nebenbeschäftigung. Aber er will nicht sagen, welcher Art sie ist.«

 

Ella war froh, als Johnson sie verließ. Froh, einen stillen Platz inmitten weiter Parkflächen zu erreichen. Sie mußte nachdenken und sich über ihre künftige Handlungsweise klarwerden. Ray war nicht so geartet, daß er sich von ihr oder von Johnson mit drakonischer Strenge würde behandeln lassen. Auch der Vater durfte nichts erfahren. Sie mußte sich an Ray wenden. Vielleicht entsprach es der Wahrheit, daß er eine einträgliche Nebenbeschäftigung hatte. Eine Menge junger Leute benützten ihre freie Zeit auf solche Weise. Aber Ray war kein Arbeiter.

 

Sie setzte sich auf einen Parkstuhl und war so sehr in ihr Sinnen vertieft, daß sie es nicht gewahrte, als jemand vor ihr stehenblieb.

 

»Das ist ja wunderbar!« sagte eine lachende Stimme, und sie sah in Dick Gordons hübsche blaue Augen auf. Er setzte sich auf den Stuhl neben dem ihren. »Und jetzt werden Sie mir hitte sagen, in was für Schwierigkeiten Sie geraten sind?«

 

»Warum meinen Sie, daß ich in Schwierigkeiten geraten bin?«

 

»Sie machen ein so trauriges Gesicht«, lächelte er. »Vergeben Sie diesen Aufzug. Ich habe einen offiziellen Besuch bei der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten abstatten müssen.«

 

Jetzt erst bemerkte sie, daß er den offiziellen Anzug des Beamten trug, Gehrock, Zylinder und die vorschriftsmäßige Krawatte. Sie fand, daß er sehr gut darin aussah.

 

»Ich glaube beinahe, daß Ihr Bruder Ihnen Sorgen macht? Ich habe ihn vor wenigen Minuten gesehen. Hier ist er wieder!«

 

Sie folgte erstaunt seinem Blick und fuhr von ihrem Stuhl auf.

 

Auf dem mit Lohe bestreuten Reitweg, der mit der Parkstraße parallel lief, kamen ein Herr und eine Dame zu Pferd heran. Der Herr war Ray. Er war sehr elegant gekleidet, und von den Spitzen seiner glänzenden Reitstiefel bis zu seinem grauen, steifen Hut entstammte alles den teuersten Quellen. Das Mädchen neben ihm war jung, schön, zierlich. Die Reiter passierten, ohne daß Ray der interessierten Zuschauer gewahr wurde, und Ella, die vor Staunen erstarrte, vernahm den hellen Klang seines Lachens.

 

»Ich begreife nicht … Kennen Sie die Dame, Herr Gordon?«

 

»Dem Namen nach wohl«, sagte Dick trocken. »Sie heißt Lola Bassano.«

 

»Ist sie eine Dame?«

 

Dicks Augen zwinkerten. »Elk verneint es, aber Elk hat übernommene Vorurteile. Sie besitzt Reichtum, Erziehung und Wissen. Ob diese drei Trümpfe genügen, um eine Lady zu machen, weiß ich nicht.«

 

Ella saß mit wirbelnden Sinnen still.

 

»Ich glaube, Sie brauchen Hilfe für Ihren Bruder?« sagte Dick. »Nicht wahr, er macht Ihnen Angst?«

 

Sie nickte. »Es ist auch mir ein Rätsel. Ich kenne alle Details über ihn, sein Gehalt und seine merkwürdige Maskerade unter einem andern Namen. Das alles würde mir keine Sorgen machen, denn junge Leute haben diese Art von Geheimnissen gern. Nur sind sie unglücklicherweise teure Geheimnisse. Und ich mochte wissen, wie er es sich leisten kann, seine neugewonnene Stellung aufrechtzuerhalten.«

 

Dick erwähnte eine Summe, die bewirkte, daß Ella mit staunend geöffneten Lippen reglos sitzen blieb. »Ja, das kostet es«, sagte Dick. »Elk, der eine Leidenschaft für genaue Einzelheiten hat und der auf den Penny weiß, was zum Beispiel dieser Reitanzug kostet, hat mir diese Angaben geliefert.«

 

Sie unterbrach ihn mit einer so verzweifelten Geste, daß er sich brutal vorkam. »Was kann ich tun? Was kann ich tun?« fragte sie. »Jeder will mir helfen. Sie, Herr Johnson, und ich glaube auch Herr Elk. Aber es ist unmöglich. Es mag Ihnen vielleicht komisch vorkommen, daß ich in solche Aufregung über Rays dumme Streiche gerate, aber es bedeutet für Vater und mich ja so viel.« Als habe sie seine Gedanken erraten, fragte sie plötzlich: »Ist sie eine liebe Person, das Fräulein Bassano? Ich meine, ist sie jemand, mit dem Ray bekannt sein darf?«

 

»Sie ist sehr reizvoll«, antwortete Dick nach einer Pause.

 

Sie bemerkte sein Ausweichen und führte das Gespräch nicht weiter. Sie kam auf ihre Unterredung mit Ezra Maitland zu sprechen, und er hörte ihren Bericht an, ohne Überraschung zu äußern.

 

»Er ist ein ungeschliffener Diamant«, sagte er. »Elk weiß etwas über ihn, aber er will es mir nicht verraten. Elk liebt es, seine Vorgesetzten zu mystifizieren, er tut es beinahe noch lieber, als einen Verbrecher zu entdecken.«

 

»Warum trägt Maitland Handschuhe im Büro?« fragte Ella.

 

»Handschuhe? Das habe ich nie gewußt«, sagte er überrascht.

 

»Als er die Hand hob, um seinen Bart zurückzustreichen, habe ich es gesehen. Und ich habe auch gesehen, daß er auf dem linken Handgelenk eine Tätowierung trägt. Sie kam gerade noch unter dem Rand des Handschuhs hervor. Und es war unverkennbar der Kopf eines Frosches.«

 

»Sind Sie sicher, sich das nicht nur eingebildet zu haben, Fräulein Bennett?« fragte Dick. »Ich fürchte, der Frosch macht uns nervös.«

 

»Aber ich stand nur wenige Schritte von ihm entfernt«, beharrte sie.

 

»Haben Sie mit Johnson darüber gesprochen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Aber ich erinnere mich jetzt, daß auch Ray gesagt hat, Herr Maitland trage Sommer und Winter Handschuhe.«

 

Dick war wie vor den Kopf geschlagen. Es war doch unwahrscheinlich, daß dieser Mann, das Haupt einer großen Finanzgruppe, mit einer Bande von Landstreichern im Bunde sein sollte. »Wann kommt Ihr Bruder nach Horsham?« fragte er ablenkend.

 

»Am Sonntag«, sagte das Mädchen. »Er hat Vater versprochen, mit uns zu essen.«

 

»Vielleicht wäre es dann möglich, mich als vierten zu laden?«

 

»Sie werden der fünfte sein«, lächelte sie. »Herr Johnson kommt auch. Der arme Johnson fürchtet sich vor Vater. Ich glaube, die Angst ist gegenseitig. In dieser Beziehung ähnelt Vater Herrn Maitland, auch er mag Fremde nicht leiden. Aber auf alle Fälle lade ich Sie ein.«

 

Des Abends kam Elk, als Dick gerade im Begriff war, sich fürs Theater umzukleiden. Dick erzählte ihm von Ellas Verdacht. Zu seiner Überraschung nahm Elk die aufregende Theorie recht kühl auf.

 

»Es wäre möglich«, sagte er, »aber es ist auch möglich, daß es gar kein Frosch ist. Der alte Maitland war in seiner Jugend Matrose, wenigstens sagt das die einzige Biographie von ihm, die existiert. Vor zwölf Jahren erschien eine halbe Spalte über ihn, als er Lord Maisters Bauplatz auf dem Embankment kaufte und sein Büro zu vergrößern begann.«

 

In dieser Woche war Dicks Aufmerksamkeit durch einen ungewöhnlichen Vorfall von den Fröschen abgelenkt worden. Am Dienstag hatte der Sekretär des Auswärtigen Amtes nach ihm geschickt, und er war zu seiner Überraschung von dem höchsten Herrn des Departement persönlich empfangen worden.

 

»Hauptmann Gordon«, sagte der Minister, »ich erwarte aus Frankreich die Kopie des Handelsvertrages, der zwischen uns, der französischen und der italienischen Regierung geschlossen werden soll. Es ist sehr wichtig, daß dieses Dokument wohl bewacht wird, weil, wie ich Ihnen im Vertrauen sagen kann, es von einer Revision der Tarifaufstellung handelt. Es ist von höchster Wichtigkeit, daß der Bote des Königs, der den Vertrag überbringt, auf das peinlichste bewacht wird, und ich wünsche, den gewöhnlichen Polizeidienst zu ergänzen, indem ich Sie ihm nach Dover entgegenschicke. Es ist ein bißchen außerhalb Ihrer Pflichten gelegen, aber Ihr Nachrichtendienst während des Krieges mag mir zur Entschuldigung dienen, wenn ich diese Verantwortung auf Ihre Schultern lege. Drei Mitglieder der französischen und der englischen Geheimpolizei werden ihn nach Dover begleiten, während Sie und Ihre Leute den Wachdienst übernehmen werden. Und Sie werden persönlich zugegen sein, bis das Dokument in meinem eigenen Safe deponiert wird.«

 

Wie so viele wichtige Aufgaben, erwies sich auch diese als absolut uninteressant. Der Bote wurde auf dem Kai von Dover abgeholt, in ein Pullmankupee geleitet, das für ihn reserviert worden war, und zwei Leute von Scotland Yard patrouillierten auf dem Lauf gang.

 

Beim Victoriabahnhof empfing ein von einem Polizeichauffeur gesteuertes und von Bewaffneten begleitetes Auto Dick und den Boten und fuhr sie nach Calden Garten. Der Sekretär des Auswärtigen Amtes prüfte sorgfältig die Siegel und legte das Kuvert dann in Gegenwart Dicks und des Detektivinspektors, der die Eskorte befehligt hatte, in den Safe. Der Auswärtige Minister sagte, nachdem alle Besucher außer Dick ihn verlassen hatten, mit einem feinen Lächeln: »Ich glaube kaum, daß unsere lieben Freunde, die Frösche, daran besonderes Interesse nehmen. Und doch waren sie die Veranlassung zu meinen außerordentlichen Vorsichtsmaßregeln. – Es ist wohl noch keine weitere Spur von Genters Mördern gefunden worden?«

 

»Keine, Exzellenz, soweit mir bekannt ist. Einheimische Verbrechen gehören eigentlich nicht in mein Ressort, und es kommt kein Vergehen irgendwelcher Art vor den Staatsanwalt, ehe der Fall gegen einen der Angeklagten nicht fertig vorgelegt werden kann.«

 

»Das bedaure ich«, sagte Lord Farmley. »Mir wäre es lieber, wenn die Froschangelegenheit nicht gänzlich in den Händen von Scotland Yard bliebe. Sie bedeutet eine solche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, daß ich es angebracht fände, wenn eine eigene Abteilung die Nachforschungen führen würde. Mir schwebt bereits ein solcher Plan vor.«

 

Dick hätte gern gesagt, daß ihn diese Kontrolle außerordentlich verlocke, aber er hielt noch an sich.

 

Seine Lordschaft strich bedächtig über seine Stirn. »Ich werde mit dem Premierminister sprechen«, sagte er, »und Sie für diese Stelle vorschlagen.«

 

Zeitig am nächsten Morgen wurde Dick Gordon nach Downingstreet vorgeladen, und es wurde ihm mitgeteilt, daß ein spezielles Ressort geschaffen worden sei, das sich ausschließlich mit jener Gefährdung der Öffentlichkeit beschäftigen sollte.

 

»Sie haben Carte blanche, Hauptmann Gordon. Man mag mich tadeln, weil ich Ihnen diese Stellung gegeben habe, aber ich bin ganz sicher, den richtigen Mann gefunden zu haben«, sagte der Ministerpräsident. »Sie können jeden Offizier von Scotland Yard wählen, den Sie zu verwenden wünschen.«

 

»Ich werde Sergeant Elk nehmen«, sagte Dick sofort, aber der Ministerpräsident sah ihn mit zweifelnden Blicken an.

 

»Das ist gerade kein hoher Rang«, wandte er ein.

 

»Er ist ein Mann mit dreißig Dienstjahren. Lassen Sie ihn mir, Exzellenz, und geben Sie ihm den Rang eines Inspektors.«

 

Der Ministerpräsident lächelte. »Wie Sie wünschen.«

 

Und als Sergeant Elk am gleichen Nachmittag die Beförderungsliste durchsah, begrüßte ihn sein neuer Titel.

 

Kapitel 8

 

8

 

War es nicht Torheit, von dem kommenden Sonntag zu träumen, von dieser Stimme, von diesem Mädchengesicht?

 

Dick hatte Schönere schon bewundert, Stolzere, oder solche, aus denen eine launisch fesselnde Seele sprach. Aber was ihn bewegte, wenn die Erinnerung diese zarten Züge widerspiegelte, war anderes, war mehr. Noch nie hatte er einen Sonntag so ungeduldig herbeigesehnt.

 

Als er mit einem Lächeln der Erwartung das Tor des Gartenzaunes öffnete, sah er die rundliche Gestalt des philosophischen Johnson in einem Gartenstuhl ausgestreckt. Der Sekretär erhob sich, um ihm mit einem Ausdruck unendlichen Wohlwollens die Hand zu reichen.

 

»Ray sagte mir, daß Sie kommen würden, Hauptmann Gordon. Er ist mit Fräulein Bennett im Obstgarten, und wie ich aus einem gelegentlichen Blick entnehmen konnte, bekommt er gerade eine Gardinenpredigt.«

 

»Geht er nicht mehr ins Büro?« fragte Dick.

 

»Ich fürchte, es ist für immer aus.« Johnsons Gesicht wurde traurig. »Ich selbst mußte es ihm sagen. Der Alte hatte es herausgefunden, daß er weggeblieben war, und durch irgendein höchst listiges und unterirdisches Nachrichtensystem hat er erfahren, daß Ray ein unsolides Leben führt. Er ließ einen Buchsachverständigen kommen, um die Bücher nachzusehen, aber die waren, Gott sei Dank, alle in bester Ordnung. Ich bin selber beinahe hinausgeflogen.«

 

»Wissen Sie vielleicht, wo Maitland wohnt?« fragte Dick langsam, »und in welcher Umgebung? Besitzt er ein Haus in der Stadt?«

 

Johnson lächelte. »Ja gewiß«, sagte er sarkastisch. »Erst vor einem Jahr habe ich entdeckt, wo es liegt, und bis jetzt habe ich es noch keiner Seele gesagt. Der alte Maitland wohnt in einer Gegend, die beinahe ein Elendsquartier zu nennen ist. Er wohnt schlecht, ganz so ärmlich wie ein Arbeitsloser. Und dabei besitzt er Millionen. Er lebt mit seiner Schwester. Sie besorgt den Haushalt und hat wohl nicht viel Arbeit damit. Nie habe ich gesehen, daß Maitland auch nur einen Penny für sich ausgab. Er trägt den gleichen Anzug seit dem Tag, an dem ich zu ihm kam. Zu Mittag nimmt er ein Glas Milch und eine Zwei-Pence-Semmel zu sich und versucht manchmal, mich dahin zu bringen, sie für ihn zu bezahlen.«

 

»Sagen Sie mir, Herr Johnson, warum der Alte Handschuhe im Büro trägt?«

 

Johnson schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Früher dachte ich, daß es nur geschieht, um die Narbe auf seinem Handrücken zu verdecken, aber er ist nicht der Mann, der deswegen Handschuhe tragen würde. Seine Arme sind bis zur Schulter hinauf mit Kronen und Ankern und Delphinen tätowiert.«

 

»Vielleicht auch mit Fröschen?« fragte Dick.

 

»Nein, einen Frosch habe ich noch nie an ihm gesehen. Ein Bündel von Schlangen ist auf sein Handgelenk tätowiert, das habe ich gesehen. Mein Gott, Maitland wird doch nicht etwa ein Frosch sein?«

 

»Das möchte ich selber nur zu gerne wissen«, meinte Dick.

 

»Ich würde ihn für gemein genug halten, um sogar ein Frosch oder etwas Ähnliches zu sein«, sagte Johnson.

 

In diesem Augenblick kamen Ray und seine Schwester heran. Ray sah düster drein, und der Anblick Gordons schien ihn nicht heiterer zu stimmen. Ellas Wangen waren gerötet, und sie war sehr erregt.

 

»Hallo, Gordon«, begann Ray ohne Einleitung. »Sie sind es wohl gewesen, der meiner Schwester Geschichten über mich zugetragen hat. Und Sie haben Elk beauftragt, mich auszuspionieren. Ich weiß es, denn ich habe Elk gerade dabei getroffen, wie er …«

 

»Ray, du darfst nicht so zu Hauptmann Gordon sprechen«, unterbrach ihn seine Schwester. »Er hat nie etwas Nachteiliges über dich erzählt. Was ich weiß, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Und dann scheinst du zu vergessen, daß Herr Gordon Papas Gast ist.«

 

»Jedermann macht solches Aufsehen meinetwegen«, brummte Ray. »Sogar der alte Johnson.« Er schlug dem Philosophen auf die Schulter.

 

»Man hat wohl seine Sorgen mit Ihnen, mein Junge«, sagte Philo.

 

Die Situation entspannte sich erst, als John Bannett mit der Kamera auf dem Rücken den roten Gartenweg heraufkam.

 

»Ach, Herr Johnson, ich muß mich vielmals bei Ihnen entschuldigen, weil ich den Tag Ihres Besuches bei uns so oft verschieben mußte. Aber ich freue mich unendlich, Sie hier zu sehen. Wie ist man bei Ihnen im Büro mit Ray zufrieden?«

 

Johnson warf einen hilflosen und ausdrucksvollen Blick auf Gordon. »Oh, so ziemlich, Herr Bennett«, stotterte er.

 

Ein Gefühl des Unbehagens überkam Dick, als er begriff, daß Herr Bennett nichts von dem neuen Beruf seines Sohnes erfahren durfte. Auch Johnson schien diese Tatsache mit Mißvergnügen zu erfüllen, und nach dem in etwas gedrückter Stimmung verbrachten Mittagessen, als die beiden im Garten allein waren, schüttete der ehrenwerte Mann Dick sein Herz aus. »Ich schäme mich, weil ich den alten Bennett betrüge. Ray hätte es ihm sagen müssen.«

 

Dick vermochte ihm nur beizupflichten. Des jungen Mannes zornige Selbstsicherheit irritierte ihn, und es war niederdrückend für ihn, dieser plötzlichen und unverhüllten Feindschaft, die Ellas Bruder ihm entgegenbrachte, zu begegnen.

 

Er entdeckte, was viele verliebte junge Männer entdecken müssen, daß die Gloriole ihrer Liebsten nicht auch Verwandte und Freunde mit gleichem Lichte bestrahlt. Und er entdeckte auch, daß der rundliche Herr Johnson genau wie er selbst von ganzem Herzen in das Mädchen verliebt war. In ihrer Gegenwart war Johnson nervös und zerstreut. Er schien unglücklich, wenn sie fortging und noch viel unglücklicher, als Dick später ihren Arm nahm und sie in den Rosengarten führte, der hinter dem Haus lag.

 

»Ich weiß nicht, was dieser Mensch hier zu suchen hat«, sagte Ray wild, als die beiden verschwunden waren. »Er gehört nicht zu unserer Klasse, und er haßt mich.«

 

»Ich kann mir nicht denken, daß er Sie haßt, Ray«, sagte Johnson und erwachte aus seinem unglücklichen Brüten. »Er ist doch ein liebenswürdiger Mensch.«

 

»Unsinn!« sagte der andere verächtlich. »Er ist ein Snob. Er ist vor allem ein Polizeimann, und ich hasse diese Spitzel. Sie können mir glauben, daß er sich hoch erhaben über das dünkt. Aber ich bin ebensoviel wie er, und ich wette, daß ich viel mehr Geld verdiene als er.«

 

»Geld ist nicht alles«, sagte Johnson mürrisch. »Mit welcher Arbeit sind Sie denn jetzt eigentlich beschäftigt, Ray?«

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Ray geheimnisvoll. »Ich konnte es auch Ella nicht sagen, obgleich sie stundenlange Verhöre mit mir angestellt hat. Es gibt eben Geheimnisse, über die man als Geschäftsmann nicht sprechen kann.«

 

Herr Johnson schwieg. Er dachte an Ella.

 

In der Abgeschlossenheit des Rosengartens erzählte Ella Gordon von ihren Befürchtungen.

 

»Ich fühle, daß Vater alles erraten hat. Er war fast die ganze letzte Nacht aus. Ich blieb wach, bis er zurückkam, und er war entsetzlich blaß. Er hat mir erzählt, daß er die ganze Zeit umhergewandert ist, und nach dem Schmutz auf seinen Stiefeln zu schließen, muß es wohl wahr sein.«

 

»Wenn ich auch nur wenig über Herrn Bennett weiß«, sagte Dick, »so glaube ich doch nicht, daß er der Mann ist, der schweigend dulden würde, wo es sich um Ihren Bruder handelt. Ich könnte mir eher einen höchst unliebsamen Auftritt vorstellen. – Warum ist Ihr Bruder so unfreundlich gegen mich?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ray ist plötzlich ganz verändert. Das neue Leben richtet ihn zugrunde. Warum hat er denn nur einen falschen Namen angenommen, wenn wenn er einem ehrlichen Beruf nachgeht?«

 

Sie hatte aufgehört, ihn mit »Herr Gordon« anzusprechen. Der Kompromiß, ihn nicht bei seinem Namen zu nennen, machte Dick jubeln, denn er erkannte wohl, daß es ein Kompromiß war. Der Tag war warm und der Himmel wolkenlos. Ella servierte den Tee auf dem Rasenplatz, und sie fand in Johnson und Dick zwei eifrige Helfer. Die Haltung des Jungen blieb weiter feindlich, und nach ein paar flüchtigen Versuchen, ihn umzustimmen, gab es Dick auf. Auch die Gegenwart des Vaters, der den Nachmittag hindurch der Gesellschaft ferngeblieben war, brachte nun keine Wendung zum Bessern.

 

»Das Schlimmste an dem Beruf eines Staatsanwaltes ist wohl«, warf er in die mühsame Unterhaltung bei Tisch ein, »daß er diesen Beruf nie abzustreifen vermag. Vermutlich vermerken auch Sie die belanglosesten Gespräche für später in Ihrem Gedächtnis.«

 

Dick legte gemächlich ein dünnes Butterbrot zusammen, bevor er antwortete.

 

»Ich habe sicherlich ein gutes Gedächtnis. Es hilft mir auch, mich in schwierigen und unangenehmen Situationen ruhig zu verhalten.«

 

Plötzlich wendet Ray sich um. »Seht nur«, rief er triumphierend, »dort steht das Oberhaupt seiner Spione. Sein getreuer Elk.« Dick war verblüfft. Er hatte Elk auf einer neuen Froschspur verlassen, der jener nach dem Norden zu folgen im Begriffe war. Und nun stand Elk hier, die Hände um die Stäbe des Gartentores gelegt, das Kinn auf die Brust gesenkt und blickte über seine Augengläser hinweg traurig nach der Gruppe.

 

»Darf ich hereinkommen, Herr Bennett?« fragte er. Bennett nickte.

 

»Ich bin ganz zufällig hier in die Nähe gekommen, und es fiel mir ein, Sie zu besuchen. Guten Abend.«

 

»Gib Sergeant Elk deinen Stuhl«, sagte John Bennett mürrisch zu Ray.

 

»Inspektor!« verbesserte der Detektiv. »Es ist merkwürdig, wie viele Leute sich einbilden, daß ich Sergeant bin. Nein, danke, ich möchte lieber stehenbleiben.«

 

»Ihre Beförderung hat wohl eine ganze Menge von Gaunern in Angst versetzt, Elk?« spottete Ray.

 

»Ach ja, besonders die Amateure«, sagte Elk. »Sonst«, gestand er bescheiden, »hat die Neuigkeit keinerlei Sensation hervorgerufen, denn London ist gerade jetzt so voll wie noch nie von Geschichtenerzählern, die Millionen unter die Armen ausstreuen wollen, wenn man ihnen nur zuerst hundert Pfund leihen wollte, um ihnen sein Vertrauen zu beweisen. Es gibt auch viele lumpige Preisboxer, die von Erpressungen und Räubereien leben, und fast ebenso viele schöne junge Damen gibt es, die Spielsalons und Tanzlokale leiten.«

 

Rays Gesicht wurde tiefrot, und wenn Blicke töten könnten, so würden Inspektor Elks Freunde an diesem Abend wohl nur mehr im Flüsterton von ihm gesprochen haben. Aber Elk wendete seine Aufmerksamkeit nun Dick zu.

 

»Herr Hauptmann, ich hätte gern gewußt, ob ich nächste Woche einen Tag freibekommen könnte? Ich habe eine kleine Familienunannehmlichkeit.«

 

Dick, der nicht gewußt hatte, daß sein Freund überhaupt eine Familie hatte, war überrascht. »Das tut mir leid«, sagte er.

 

Elk seufzte. »Ja, es ist etwas sehr Schweres für mich«, sagte er. »Ich möchte es Ihnen gerne erzählen. Wollen Sie uns für einen Augenblick entschuldigen, Fräulein Bennett?«

 

Dick erhob sich und folgte dem Detektiv an das Tor. Und dann sagte Elk hastig und leise: »Um ein Uhr morgens ist in Lord Farmleys Haus eingebrochen worden, und die Frösche sind mit der Kopie des Vertrages auf und davon gegangen.«

 

Ella beobachtete verstohlen Dicks Gesicht, aber es hatte nicht den Anschein, als habe Elks Geheimnis irgendwelchen Eindruck auf ihn gemacht. Er kam langsam zum Tisch zurück.

 

»Ich fürchte, ich werde nun gehen müssen«, sagte er. »Elks Angelegenheiten erfordern meine Anwesenheit in der Stadt.«

 

Ihn traf ein Blick des Bedauerns aus Ellas Augen, der ihn für den Verlust vieler Stunden entschädigte. Sie beschleunigten Abschied und Abfahrt. Im Auto begann Elk zu erzählen.

 

»Lord Farmley hat das Wochenende in seinem Stadthaus verbracht. Er hat an zwei neuen Klauseln gearbeitet, die auf die privaten Vorstellungen des amerikanischen Gesandten hin eingeschaltet worden waren. Dieser hatte, wie gewöhnlich, eine beobachtende Haltung eingenommen, und es war ihm, gleichfalls wie gewöhnlich, gelungen, sich die für sein Land wünschenswerte Verbesserung einer Klausel zu sichern, die von Schiffstransporten handelte. Lord Farmley hatte das Dokument in den Safe gelegt, der ein ›Cham‹-Fabrikat der letzten Erfindung und in die Wand seines Arbeitszimmers eingebaut ist. Er hat die Stahltüren zweimal versperrt, die Alarmanlage eingeschaltet und ist dann zu Bett gegangen. Erst nach dem Mittagessen hatte er wieder Gelegenheit gehabt, den Safe zu öffnen. Allem Anschein nach waren dessen Türen nicht berührt worden. Der Minister steckte, als er nach dem Essen wieder an dem Vertrag arbeiten wollte, den Schlüssel ins Schloß und entdeckte, während er ihn umdrehte, daß die Schlüsselbärte keinen Widerstand fanden. Er berührte den Handgriff, und dieser ließ sich leicht herausziehen. Der Safe war offen, und der Vertrag fehlte.«

 

»Wie sind sie in das Haus gekommen?«

 

»Durch das Speisekammerfenster. Die Speisekammern der Haushofmeister sind gerade von einem Einbrecherarchitekten erfunden worden«, meinte Elk. »Es war eine saubere Arbeit. Die feinste, die ich seit zwanzig Jahren gesehen habe, und nur zwei Männer auf der ganzen Welt gibt es, die dergleichen machen können. Keine Fingerabdrücke, keine in den Safe gesprengten häßlichen Löcher, alles nett und wunderbar schön gemacht.«

 

»Ich hoffe, daß Lord Farmley ebensoviel Befriedigung über diese Handfertigkeit empfunden hat wie Sie«, antwortete Dick grimmig. Und Elk schnupfte. »Er war nicht zum Lachen aufgelegt«, sagte er. »Wenigstens nicht, als ich wegging.«

 

Seine Lordschaft war auch um nichts heiterer, als Elk zurückkehrte.

 

»Das ist doch schrecklich, schrecklich, Gordon! Wir halten heute abend eine Kabinettssitzung über den Fall ab. Der Ministerpräsident ist nur deshalb in die Stadt zurückgekommen. Es bedeutet ja den politischen Ruin für mich.«

 

»Glauben Sie, daß die Frösche dafür verantwortlich gemacht werden können?« fragte Dick.

 

Lord Farmleys Antwort bestand darin, daß er die Tür des Safes öffnete. Auf der Innenwand war ein weißer Abdruck zu sehen, genau der gleiche Abdruck, den Elk am Türpaneel von Herrn Broads Wohnung gefunden hatte. Es war für einen Nicht-Experten fast unmöglich, zu entdecken, wie der Safe geöffnet worden war. Elk erklärte die Arbeit. Sie hatten zuerst den Handgriff herausgenommen und waren so imstande gewesen, das Schloß durch einen wirksamen Sprengstoff zu zerstören, den niemand im ganzen Haus gehört hatte.

 

»Sie haben einen Schalldämpfer benutzt«, meinte Elk. »Ich sage Ihnen, nur zwei Männer auf der Welt können das gemacht haben.«

 

»Und wer sind die?«

 

»Der junge Harry Lyme ist der eine. Er ist seit Jahren tot. Und Saul Morris ist der andere. Und Saul ist auch tot.«

 

»Da aber die Arbeit offensichtlich nicht von zwei Toten herstammt, so wäre es doch wohl ratsam, an einen Dritten zu denken«, sagte Seine Lordschaft rnit verzeihlicher Erregung. Elk schüttelte langsam den Kopf.

 

»Es muß wohl ein Dritter sein und der Klügste der ganzen Bande«, ließ er seine Gedanken laut werden. »Ich kenne die ganze Kompanie. Wal Cormon, Georg, die Ratte, Billy Harp, Ike Velleco, Pheeny Moore, und ich möchte einen Eid leisten, daß es keiner von ihnen war. Das ist Meisterarbeit, Exzellenz. Die Arbeit eines großen Künstlers, wie wir ihr heutzutage nur selten begegnen.«

 

Lord Farmley, der so geduldig wie möglich dieser Rhapsodie zugehört hatte, schritt aus dem Arbeitszimmer und ließ die beiden Männer allein.

 

»Herr Hauptmann«, sagte Elk, als er die Tür hinter dem Lord geschlossen hatte, »wissen Sie vielleicht, wo der alte Bennett in der letzten Nacht war?« Elks Ton war leicht, aber Dick fühlte die Bedeutung der Frage, die dahinter lag, und im Augenblick wußte er, daß Ella ihm viel teurer geworden war, als er je geahnt hatte.

 

»Er war fast die ganze Nacht hindurch auswärts«, antwortete er. »Fräulein Bennett sagte mir, daß er am Freitag wegging. Und er ist heute morgen bei Tagesgrauen wieder zurückgekehrt. Warum fragen Sie danach?« Dick räusperte sich erwartungsvoll.

 

Elk entnahm seiner Tasche ein Papier, entfaltete es langsam und setzte seine Brille auf. »Ich habe von einem meiner Leute Notizen über Bennetts Abwesenheit von seinem Haus machen lassen«, sagte er. »Es war ein leichtes, denn die Frau, die jeden Morgen hingeht, um im Haushalt zu helfen, hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Er ist im vergangenen Jähr fünfzehnmal ausgeblieben, und jedesmal, sooft er fortblieb, ist irgendwo ein ganz großer Einbruch verübt worden.«

 

Dick atmete tief. »Und was ist Ihre Meinung darüber?« fragte er.

 

»Ich meine«, sagte Elk entschieden, »daß, wenn Bennett für sein Wegbleiben am Samstagabend keine Erklärung findet, ich ihn verhaften lassen werde. Ich habe weder Saul Morris noch den jungen Harry Lyme kennengelernt, sie lebten, bevor ich große Arbeiten zugewiesen bekam. Aber wenn nicht alles trügt, so ist Saul Morris nicht so tot, wie er es von Rechts wegen sein sollte. Ich fahre jetzt zurück, um Bruder Bennett zu besuchen, und vielleicht werden wir ein bißchen Auferstehung spielen.«

 

Kapitel 9

 

9

 

John Bennett arbeitete frühmorgens in seinem Garten, als Elk erschien und sofort auf den wichtigsten Punkt zu sprechen kam. »In der Wohnung Lord Farmleys ist zwischen Samstag nacht und Sonntag morgen ein Einbruch verübt worden, dem Anschein nach zwischen zwölf und drei Uhr. Der Safe war aufgesprengt und ein wichtiges Dokument gestohlen. Ich frage Sie, ob Sie Ihr Ausbleiben von Samstag auf Sonntag rechtfertigen können?«

 

Bennett sah dem Detektiv gerade in die Augen. »Ich kam aus der Stadt. Um zwei Uhr sprach ich mit einem Polizisten in Dorking. Um Mitternacht war ich in Kingsbridge, wo ich wieder mit einem Polizisten sprach. Der Mann in Dorking ist Amateurfotograf wie ich selbst.«

 

Elk überlegte. »Mein Auto ist hier, möchten Sie vielleicht mit mir kommen und mit den beiden sprechen?« schlug er vor. Und zu seiner Überraschung war Bennett sofort damit einverstanden. In Dorking entdeckten sie ihren Mann. Er wollte gerade aus dem Dienst gehen.

 

»Ja freilich, Herr Inspektor, ich erinnere mich genau, mit Herrn Bennett gesprochen zu haben. Wir haben über Tierfotos diskutiert.«

 

»Wissen Sie genau, um welche Zeit es war?«

 

»Absolut genau! Um zwei Uhr visitiert mich der Patrouillensergeant, und er kam gerade herauf, als wir miteinander plauderten.«

 

Der Patrouillensergeant, den Elk aus dem Morgenschlaf weckte, bestätigte die Aussage. Das Resultat der Nachforschung in Kingsbridge war das gleiche. Elk ließ das Auto nach Horsham zurückfahren.

 

»Ich entschuldige mich nicht bei Ihnen, Herr Bennett«, sagte er. »Sie kennen meine Arbeit genug, um meine Stellung zu würdigen.«

 

»Ich beklage mich nicht«, sagte Bennett mürrisch. »Pflicht ist Pflicht. Aber ich habe doch das Recht zu erfahren, warum Sie von allen Menschen in der Welt gerade mich verdächtigen?« Elk brachte das Auto zum Halten.

 

»Gehen wir auf der Straße weiter«, sagte er. »Ich kann so besser reden.«

 

Sie stiegen aus und gingen eine Weile, ohne zu sprechen.

 

»Bennett, Sie stehen aus zwei Gründen unter Verdacht. Sie sind ein geheimnisvoller Mann, denn niemand weiß, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie haben kein eigenes Einkommen. Sie haben keine Beschäftigung, und in ungleichen Zwischenräumen verschwinden Sie vom Hause, und niemand weiß, wohin Sie gehen. Wären Sie ein jüngerer Mann, so würde ich Sie verdächtigen, daß Sie ein Doppelleben im gewöhnlichen Sinn führen. Aber Sie sind nicht von dieser Art. Das ist der verdächtige Umstand Nummer eins. Nummer zwei ist folgendes: Sooft Sie verschwinden, geschieht irgendwo ein großer Einbruch, und ich bin der Meinung, daß es Froscheinbrüche sind. Ich will Ihnen meine Theorie klarlegen. Die Frösche sind doch gewöhnlich letzte Klasse. Es ist nicht genug Hirn in der ganzen Bande, um eine mittelgroße Nuß auszufüllen. Aber ich garantiere Ihnen, höher oben sitzen die Gescheiten. Dazu gehören aber nicht die regulären Kerle, die von Verbrechen leben. Solche Jungen haben keine Zeit für so etwas. Sie machen den Plan und führen ihn aus, oder sie werden erwischt. Wenn sie eine Beute machen, so teilen sie sie. Und sitzen dann in Cafes mit Mädels herum, bis alles zerronnen ist und sie wieder von neuem anfangen müssen. Aber die Frösche unterhalten sicher gern ein paar gute Leute, die außerhalb der Organisation stehen und Extradienste leisten.«

 

»Und Sie meinen, ich wäre einer von diesen guten Leuten?«

 

»Genau das habe ich gemeint. Der Einbruch im Haus des Lord Farmley ist von einem Experten ausgeführt worden. – Es sieht ganz nach Saul Morris aus.«

 

Elks scharfe Augen durchforschten Bennetts Gesicht, aber kein Zucken verriet dessen Gedanken.

 

»Ich erinnere mich an Saul Morris«, sagte Bennett langsam. »Ich habe ihn nie gesehen, aber von ihm gehört. Sah er mir ähnlich?«

 

Elk schürzte die Lippen, und sein Kinn sank auf die Brust herab. »Wenn Sie überhaupt etwas über Saul Morris wissen«, sagte er langsam, »so wissen Sie auch, daß er niemals der Polizei in die Hände geraten ist, daß ihn niemals jemand gesehen hat, außer seiner eigenen Bande, und ihn also niemand je wiedererkennen kann.«

 

Es herrschte ein langes Schweigen. Auf ihrem Weg zum Auto sprach Bennett wieder.

 

»Ich trage Ihnen nichts nach, meine Handlungsweise ist verdächtig. Aber ich habe guten Grund dafür. Was die Einbrüche betrifft, so weiß ich nichts darüber. Das würde ich zwar auf jeden Fall sagen, ob ich es nun wüßte oder nicht. Ich bitte Sie nur, meiner Tochter nichts von dieser Angelegenheit zu sagen.«

 

Ella stand an der Gartentür, als das Auto herankam, und bei Elks Anblick schwand das Lächeln von ihrem Gesicht. Elk fühlte instinktiv, daß der Gedanke an ihren Bruder und die Schwierigkeiten, in die jener geraten sein mochte, den Grund ihrer Befürchtungen bildeten.

 

»Herr Elk ist herübergekommen, um ein paar Fragen wegen des Überfalls auf Herrn Gordon zu stellen«, sagte ihr Vater kurz. Elk dachte, daß er ein schlechter Lügner sei.

 

Sowie sie allein waren, fragte Ella ihn: »Ist etwas nicht in Ordnung, Herr Elk?«

 

»Nicht im geringsten, Fräulein. Ich bin nur hierhergekommen, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Ist Ihr Bruder wieder in der Stadt?«

 

»Er ist gestern abend zurückgefahren«, sagte sie und fügte fast trotzig hinzu: »Er ist jetzt wirklich in einer sehr guten Stellung.«

 

»Das habe ich schon mehrfach gehört«, sagte Elk. »Ich hoffe nur, daß er nicht in demselben Geschäft arbeitet wie die andern, die mit ihm sind; Aber Sie können ganz ruhig sein, ich lasse ihn nicht aus den Augen, Fräulein Bennett«, sagte er.

 

Am Abend gestand der Detektiv Dick in höchster Niedergeschlagenheit seinen Irrtum. »Ich weiß nicht, wieso ich auf Bennett verfiel«, sagte er. »Mir scheint, meine Jugendeseleien beginnen wieder. Ich sehe, daß die Abendzeitungen den Diebstahl schon gebracht haben.«

 

»Aber sie wissen nicht, was gestohlen wurde«, sagte Dick. »Das muß geheimgehalten werden.«

 

Sie befanden sich im inneren Büro, das Dick nur zeitweilig benützte. In seinem nebenanliegenden Arbeitsraum waren zwei Tischler beschäftigt. Sie erneuerten die Wandtäfelung, die bei dem Attentat auf Dick von der durchs Fenster eindringenden Kugel beschädigt worden war. Es war symptomatisch für die Wirkung, die die Frösche auf die Polizeidirektion ausübten, daß beide Männer mechanisch nach einer Tätowierung auf dem linken Arm der Arbeiter ausgespäht hatten. Der Anblick des beschädigten Paneels brachte Elks Gedanken auf einen Vorfall, der ihn schon lange beschäftigte. Trotz der steten Beobachtung, unter der der Landstreicher Carlo gestanden hatte, und trotz aller angewandten Vorsichtsmaßregeln war er verschwunden, und den gemeinsamen Anstrengungen der Polizeidirektion und der Landpolizei war es nicht gelungen, seine Identität festzustellen. Das war Gordons wunder Punkt, wie Elk mit Recht äußerte. Denn Carlo schien die berühmte Nummer Sieben zu sein, nach dem Frosch selbst der wichtigste Mann der Organisation.

 

»Es nützt nicht viel, wenn wir einen anderen Mann hinausschicken, um Genters Rolle weiterzuspielen. Das System funktioniert nicht zweimal. Ob wohl Lola etwas darüber wüßte?«

 

»Ich glaube nicht, daß die Frösche einer Frau trauen«, sagte Dick.

 

Sie verbrachten den Rest des Tages mit fruchtlosen Untersuchungen. In sein Zimmer in der Polizeidirektion zurückgekehrt, saß Elk lange reglos und zusammengekauert in einem Sessel, die Hände in den Hosentaschen vergraben, geistesabwesend auf seinen Schreibblock starrend. Dann rief er seinen Assistenten Balder herein.

 

»Gehen Sie zum statistischen Büro und bringen Sie mir alles über jeden Safeeinbrecher, der im Land bekannt ist. Sie brauchen sich nicht um die französischen oder deutschen zu kümmern, aber es gibt ein oder zwei Schweden, die höchst geschickt mit der Lampe umgehen können. Und dann sind natürlich noch die Amerikaner da.«

 

Nach einer langen Pause kam Balder mit einem beträchtlichen Stoß von Papieren, Fotografien und Fingerabdrücken wieder.

 

»Sie können gehen, Balder. Der Mann, der den Nachtdienst hat, kann das wieder zurücktragen.«

 

Elk machte es sich bei seiner angenehmen Nachtlektüre gemütlich. Er hatte fast den ganzen Stoß durchgeprüft, als er auf das Bild eines jungen Mannes mit herabfallendem Schnurrbart und lockigem Haar stieß. Es war eine jener scharfen Aufnahmen, wie sie die unromantischen Pölizeibeamten aufnehmen, und zeigte jegliche Unebenheit der Haut. Unter der Fotografie war der Name sorgfältig gedruckt: »Henry John Lyme R. V.«

 

»R. V.« war der Gefängniskodex. Jedes Jahr von 1894 bis 1919 war mit einem Großbuchstaben des Alphabets bezeichnet. Dann kamen die Kleinbuchstaben. Das große R bedeutete, daß Henry John Lyme im Jahre 1911 zu Zuchthaus verurteilt worden war, das V, daß er eine weitere Zeit im Jahre 1915 im Gefängnis verbracht hatte. Elk las den schrecklichen und kurzen Bericht.

 

Im Jahre 1893 in Guernsey geboren, war der Mann sechsmal verurteilt worden, bevor er noch sein zwanzigstes Jahr vollendet hatte. Die geringeren Haftjahre werden nicht mit Buchstaben im Kodex bezeichnet. In dem Raum am Fuß des Abschnittes, wo besondere Einzelheiten des Verbrechers angemerkt werden, standen die Worte: »Gefährlich, führt Schießwaffen mit sich.« In einer anderen Schrift und mit roter Tinte, mit der man gewöhnlich die Karriere eines Verbrechers abschließt, stand darunter: »Zur See gestorben, Channel Queen, 1. Februar 1918.« Elk erinnerte sich an den Schiffbruch des Guernsey-Postpaketbootes auf den Black Rocks. Er wendete die Seite um, um Genaueres über die Verbrechen des Toten zu lesen und die Erklärungen derjenigen, die zeitweilig in amtlichem Verkehr mit ihm standen. In diesen Abschnitten war die wahre Biographie zu lesen. »Arbeitet allein«, war die eine Anmerkung. Und dann: »Ist nie mit Frauen gesehen worden.« Eine dritte Anmerkung war schwer zu entziffern, aber als Elk die schlechte Schrift gemeistert hatte, erhob er sich in seiner Aufregung halb vom Sessel: »Zu den körperlichen Kennzeichen im allgemeinen hinzuzufügen: D. C. P. 14 Frosch tätowiert linkes Gelenk, neu I. I. M.«

 

Das Datum, an dem dies geschrieben war, war das der letzten Haft des Verbrechers. Elk drehte das Gedruckte D. C. P. 14 um und fand, daß es ein Formular war, betitelt: »Beschreibung des Häftlings.« Die Zahl war die Klassifikation. Von tätowierten Fröschen war nichts erwähnt. Der Schreiber war nachlässig gewesen. Wort für Wort las er die Beschreibung.

 

»Harry John Lyme, a. Jung Harry, a. Thomas Martin, a. Boy Piece, a. Boy Harry. (Es standen da fünf Zeilen solcher »Alias«.) Einbrecher, gefährlich, trägt Schußwaffen, Höhe fünf Fuß, sechs Zoll, Brustumfang 38. Teint frisch. Augen grau. Zähne gut. Mund regelmäßig. Grübchen im Kinn. Nase gerade. Haare braun, wellig, sehr lang. Gesicht rund. Schnurrbart herabfallend, trägt Koteletten. Hände und Füße normal, am linken Fuß das erste Glied der kleinen Zehe infolge eines Unfalls amputiert, königliches Gefängnis Portland. Spricht gut, schöne Handschrift, keinerlei Steckenpferd. Raucht Zigaretten, gibt sich für einen öffentlichen Beamten aus. Steuereinnehmer, Sanitätsinspektor, Gasmann oder Installateur. Sprich fließend Französisch und Italienisch. Trinkt nie, spielt Karten, ist aber kein Spieler. Lieblingsverstecke Rom oder Mailand. Keine Verurteilungen außer Landes. Keine Verwandten. Ausgezeichneter Organisator. Unmittelbar nach einem Verbrechen suche man ihn in einem guten Hotel in Mittelengland oder auf dem Weg nach Hüll zu holländischen oder skandinavischen Schiffen. Man weiß, daß er Guernsey besucht hat. . .«

 

Hierauf folgten nur noch die genauen Maße und körperlichen Merkmale, denn es war in den Tagen, bevor das Fingerabdrucksystem eingeführt worden war. Des Frosches auf dem linken Handgelenk ward keinerlei Erwähnung mehr getan. Elk tauchte die Feder ein und fügte die fehlenden Daten hinzu. Dann schrieb er: »Dieser Mann mag noch am Leben sein«, und unterzeichnete dies mit seinen Initialen.

 

Kapitel 10

 

10

 

Als Elk dies gerade schrieb, surrte das Telefon. Er beendete jedoch ruhig seine Eintragung und löschte sie ab, bevor er den Hörer aufnahm.

 

»Hauptmann Gordon wünscht, Sie möchten das erste Taxi nehmen, das Sie finden und zu ihm kommen! Die Angelegenheit ist äußerst dringend. Ich spreche von Harley Terrace«, sagte die Stimme.

 

»Es ist gut«, antwortete Elk, nahm Hut und Schirm und ging in den dunklen Hof hinaus. Es gab zwei Ausgänge in Scotland Yard. Der eine führte nach Whitehall und war sicherlich der bessere Weg für ihn, denn in Whitehall stehen Wagen an Wagen. Der andere Ausgang geht nach dem Themse-Embankment, auf eine Durchgangsstraße, und ist der weitaus längere Weg, auf dem er zur vorgerückten Nachtstunde nur wenige Autos zu finden erwarten konnte.

 

Aber Elk war so ganz von seinen Gedanken erfüllt, daß er auf dem Embankment war, bevor er gewahr wurde, welchen Weg er genommen hatte. Er wendete sich gegen das Parlament in der Bridgestraße, fand einen alten Wagen und gab die Adresse an. Der Chaffeur war bejahrt und vermutlich ein wenig angeheitert, denn anstatt vor Nummer 273 stehenzubleiben, überfuhr er die Nummer um etwa ein Dutzend Häuser und hielt erst nach furchtbaren Drohungen seines Fahrgastes an.

 

»Was ist denn mit dir los, Vater Noah? Das ist ja nicht der Berg Ararat?« schalt Elk auf ihn ein. »Du bist ja besoffen, du armer Fisch.«

 

»Ich wollte, ich wär’s«, murmelte der Chauffeur und streckte die Hand hin, um sein Fahrgeld zu empfangen. Elk hätte sicherlich den Fall des breiteren diskutiert, wäre Gordons Aufforderung nicht allzu dringlich gewesen. Er wartete, bis der Chauffeur seine vielen Überröcke aufgeknöpft hatte, um ihm auf die große Geldnote herauszugeben, und blickte indessen gewohnheitsmäßig die Straße entlang. Ein Auto, dessen vordere Lampen so weit als möglich abgeblendet waren, stand vor Dick Gordons Haus. Das wäre nun nicht allzu merkwürdig gewesen. Die zwei Männer, die auf dem Gehsteig warteten, waren es jedoch um so mehr. Sie standen mit dem Rücken gegen das Gitter gelehnt, je einer zu jeder Seite des Tores. Elk trat einen Schritt zurück und faßte den gegenüberliegenden Gehsteig ins Auge. Auch dort standen zwei Männer, die der Nummer 273 gegenüber müßig warteten. Elks eigenes Taxi war vor dem Haus eines Arztes stehengeblieben, und der Detektiv nahm sich nicht lange Zeit, seinen Entschluß zu fassen.

 

»Warten Sie, bis ich wiederkomme!«

 

Glücklicherweise war der Arzt zu Hause, und Elk gab sich ihm zu erkennen. In wenigen Sekunden war er mit der Polizeistation Mary Lane verbunden.

 

»Hier spricht Elk, Zentralamt«, sagt er rasch und gab seine Codenummer an. »Senden Sie jeden Mann, den Sie zur Verfügung haben, nördlich und südlich von Harley Terrace Nummer 273 aus. Lassen Sie alle Wagen in dem Moment, in dem Sie mein Signal – zwei lange und zwei kurze Lichtzeichen – bekommen, stoppen. In welcher Zeit können Ihre Leute hier sein?«

 

»In fünf Minuten, Herr Elk. Die Nachtablösung zieht gerade auf, und ich habe ein paar Lastautos hier. Die Fahrer sind soeben wegen Trunkenheit arretiert worden.«

 

Elk legte den Hörer auf und ging in die Halle zurück.

 

»Es ist doch nichts geschehen?« fragte der aufgeregte Doktor.

 

Elk nahm die Pistole aus dem Futteral und lud sie durch.

 

»Ich hoffe doch«, sagte Elk. »Denn wenn ich die Abteilung nur herauskommandiert habe, weil ein paar unschuldige Lümmel am Gitter von Harley Terrace lehnen, so können sich die größten Unannehmlichkeiten für mich ergeben.«

 

Er wartete fünf Minuten, öffnete das Tor und trat hinaus. Die Männer standen noch immer dort. Im gleichen Augenblick ratterten zwei riesige Lastautos von beiden Seiten in die Straße herein und blieben ihrer ganzen Breitseite nach in der Mitte stehen, Elks Taschenlampe spielte nach links und nach rechts, und er sprang vor. Nun sah er, daß sein Verdacht gerechtfertigt gewesen war. Die Männer vom gegenüberliegenden Gehsteig kamen über die Straße gelaufen und sprangen auf das Trittbrett des Autos mit den abgeblendeten Lichtern, das sich sofort in Bewegung setzte. Gleichzeitig waren auch die Männer, die den Eingang von Nr. 273 bewacht hatten, in ihren Wagen gesprungen. Aber die Flüchtlinge kamen zu spät. Der Wagen wendete, um dem blockierenden Lastauto zu entgehen, gerade als dieses rückwärts fuhr. Es gab einen Krach, ein Klirren von brechendem Glas, und noch ehe Elk herankam, waren die fünf Insassen des Wagens schon in den Händen der uniformierten Polizei, die die Straße hinaufstürmten. Die Gefangenen nahmen ihre Arretierung ohne Widerstand hin. Einem, dem Chauffeur, der unauffällig seinen Revolver fortzuwerfen suchte, wurden Handschellen angelegt. Auf der Polizeistation besah sich Elk seine Gefangenen des näheren. Vier waren schöne Exemplare der Gattung Landstreicher und recht unbeholfen in ihren neuen, fertiggekauften Anzügen. Der fünfte, der einen russischen Namen angab, war ein kleiner Mann mit scharfen Augen.

 

»Zeigt eure Arme her!« kommandierte Elk.

 

»Machen Sie sich keine Mühe, Elk«, sagte der kleine Chauffeur, der sichtlich der Anführer war. »Wir Jungens sind alle gute Frösche.«

 

»Gute Frösche gibt es nicht. Es gibt nur schlechte Frösche, noch schlechtere Frösche und den schlechtesten Frosch. Führen Sie die Leute in ihre Zellen, Sergeant, und halten Sie sie getrennt. Den Litnow nehme ich mit in die Direktion.«

 

Der Chauffeur sah unruhig von Elk auf den Stationssergeanten. »Was soll das Ganze?« fragte er. »Sie dürfen den dritten Grad in England nicht anwenden.«

 

»Das Gesetz ist jüngst geändert worden«, sagte Elk und ließ die Handschellen auf des Mannes Gelenken nochmals einschnappen.

 

Der kleine Russe sprach in der Polizeidirektion den ganzen nächsten Tag mit sich selber, und als er in Elks Büro geführt wurde, war er bereit, seine Aussage zu machen.

 

Elk kehrte nach Harley Terrace zurück und erzählte Dick seine Geschichte.

 

»Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß es ein Komplott war, ehe ich nicht die Burschen entdeckt hatte, die auf mich warteten«, sagte Elk. »Natürlich haben Sie nicht telefoniert. Und die Frösche haben mich angeführt. Es war ein feines Stück Arbeit und ihrer ganz würdig. Sie vermuteten, daß ich die Polizeidirektion beim Whitehall-Ausgang verlassen würde und ließen ein Auto dort auf mich warten, aber für den Fall, daß man mich auf diesem Weg verfehlte, beauftragten sie eine illustre kleine Gesellschaft, mich in Harley Terrace zu empfangen.«

 

»Wer war es, der ihnen den Befehl erteilt hat?«

 

Elk zuckte die Achseln. »Ein Herr Niemand! Litnow bekam seinen Brief durch die Post. Er gab ihm das Rendezvous an und war mit ›7‹ unterzeichnet, und das war alles. Er sagt aus, er hätte nie einen Frosch gesehen, seit er eingeweiht worden ist. Wo er den Eid geleistet hat, weiß er nicht. Das Auto gehört den Fröschen, und er bekommt so und soviel in der Woche, um es in Ordnung zu halten. Für gewöhnlich wird er im Herons-Klub verwendet, wo er ein Lastauto fährt. Er sagt mir, daß noch zwanzig andere solcher Wagen in London versteckt sind, die in den verschiedenen Garagen stehen, jeder mit seinem eigenen Chauffeur, der einmal in der Woche hinkommt, um es zu reinigen.«

 

»Herons-Klub, das ist das Tanzlokal, an dem Lola und Lew Brady beteiligt sind«, sagte Dick gedankenvoll.

 

Elk dachte nach. »Das ist mir noch gar nicht eingefallen. Freilich muß das noch nicht bedeuten, daß die Direktion vom Herons-Klub irgend etwas über Litnows Abendbeschäftigung wissen muß. Ich werde mir das Lokal ansehen.«

 

Die Mühe wurde ihm erspart, denn als er am nächsten Morgen in sein Büro kam, fand er einen Herrn vor, der ihn zu sprechen wünschte.

 

»Mein Name ist Hagn. Ich bin Direktor des Herons-Klubs«, stellte er sich vor. »Wie ich höre, ist einer meiner Leute in Schwierigkeiten geraten.«

 

Hagn war ein großer, hübscher Schwede und sprach ohne die Spur eines fremden Akzents.

 

»Wieso haben Sie das erfahren, Herr Hagn?« fragte Elk, der Verdacht schöpfte. »Der Mann ist seit gestern abend hinter Schloß und Riegel und hatte mit niemandem Verbindung.«

 

Hagn lächelte. »Man kann doch wohl nicht jemand arretieren und ihn in Gewahrsam bringen, ohne daß die Welt hiervon erfährt«, sagte er. »Einer meiner Kellner sah, wie Litnow mit Handschellen nach Mary Lane gebracht wurde, und da sich Litnow heute morgen nicht zur Arbeit gemeldet hat, konnte man nur den einen Schluß ziehen. Was hat er angestellt, Herr Inspektor?«

 

»Ich kann Ihnen leider keine Auskunft über die Sache geben.«

 

»Kann ich ihn sprechen?«

 

»Auch das nicht«, sagte Elk. »Er hat aber gut geschlafen und schickt allen seinen lieben Freunden viele Grüße.«

 

Herr Hagn schien sehr beunruhigt. »Wäre es vielleicht möglich, herauszubekommen, wo er den Kohlenkellerschlüssel hingelegt hat?« drang er weiter. »Das ist nämlich sehr wichtig für mich, denn der Mann hat ihn für.gewöhnlich in Verwahrung.« Der Detektiv zögerte.

 

»Ich kann ihn danach fragen«, sagte er. Er ließ Hagn unter den beobachtenden Augen eines Schreibers zurück und überquerte den Hof, wo die Zellen lagen. Litnow erhob sich von seiner Pritsche, als die Zellentür geöffnet wurde.

 

»Ein Freund von Ihnen hat mich besucht«, sagte Elk. »Er möchte wissen,, wo Sie den Schlüssel des Kohlenkellers hingegeben haben?«

 

Nur ein leises, verständnisvolles Aufblitzen kam in die Augen des kleinen Mannes, aber es entging Elk nicht.

 

»Sagen Sie ihm, daß ich glaube, ihn bei dem Mann in Wandsworth gelassen zu haben«, sagte er.

 

»Mhm!« sagte Elk und ging zu dem wartenden Hagn zurück. »Er sagte, er hätte ihn auf der Petonville-Straße gelassen«, sagte Elk, nicht ganz der Wahrheit entsprechend. Aber Herr Hagn verabschiedete sich höchst befriedigt.

 

Elk ging zu den Zellen zurück und rief den Gefängniswärter. »Hat Sie dieser Mann gefragt, wohin er von hier aus gebracht ¦wird?«

 

»Ja, Herr Inspektor«, sagte der Beamte. »Ich habe ihm gesagt, daß er nach Wandsworth kommt. Wir sagen gewöhnlich den Gefangenen, wohin sie kommen, damit sie ihre Verwandten benachrichtigen können.«

 

Elk war von Triumph geschwellt. Eine Telefonanfrage nach Mary Lane, wo der Rest der Bande gefangengehalten wurde, brachte die merkwürdige Information zutage, daß eine Frau, vermutlich die Frau eines dieser Leute, heute nach dem fehlenden Schlüssel vom Kohlenkeller gefragt hatte. Der Bescheid sei gewesen, daß ihn der Mann in Brixton besitze.

 

»Die Männer müssen nach dem Wormwood-Scrubbs-Gefängnis gebracht werden, und es ist nicht erlaubt, ihnen mitzuteilen, wohin sie gehen«, befahl Elk.

 

Am gleichen Nachmittag fuhr ein Gefangenenwagen von Cannon Row nach Whitehall. Unterwegs stieß ein Lastwagen mit ihm zusammen, zertrümmerte die eine Seite und riß ein Rad ab. Sofort kamen überall Leute von merkwürdigstem Aussehen herbei.

 

Die Tür wurde aufgedrückt und der Gefängniswärter herausgeholt.

 

Bevor ihm aber ein Haar gekrümmt werden konnte, entströmten dem Wagen zwanzig Polizisten, und aus den Seitengassen kam ungefähr ebensoviel berittene Polizei mit Knüppeln in den Händen. Der Kampf währte weniger als drei Minuten. Einige der wild aussehenden Individuen konnten entwischen, aber die Mehrzahl marschierte zu zwei und zwei gefesselt und ziemlich niedergedrückt zwischen ihrer Eskorte ab. Dick Gordon, der stolz auf seine Organisation war, beobachtete die Schlacht vom Dach eines mit Polizisten vollgestopften Omnibusses aus, der den Gefängniswagen flankiert hatte. Er kam zu Elk, nachdem der Rummel vorüber war.

 

»Haben Sie jemand Wichtigen arretiert?« fragte er.

 

»Es ist zu früh, das beurteilen zu können. Sie schauen mir alle zusammen nur nach gewöhnlichen Kaulquappen aus. Litnow ist vermutlich schon in Wandsworth. Ich schickte ihn in einem geschlossenen Polizeiauto fort, lange bevor dieser Wagen abfuhr.«

 

In Scotland Yard angekommen, ließ er die Frösche in Doppelreihen aufmarschieren. Man prüfte einen nach dem anderen, und bei jedem kam die Tätowierung auf dem Handgelenk zum Vorschein.

 

»Einer der Leute möchte mit Ihnen sprechen, Herr Inspektor«, meldete ein Polizist. Elk tauschte einen Blick mit seinem Chef aus.

 

»Sprechen Sie mit ihm«, sagte Dick. »Wir können leider auf keine Information verzichten.«

 

Der Polizist führte den Frosch vor. Ein großer Mann mit einem Bart, der eine Woche alt war, ärmlich gekleidet und rußig. Sein zerbeulter Hut war tief in die Augen gezogen, und aus den Ärmeln seiner Jacke, die einem kleineren Mann gehört haben mochte, sah man seine mächtigen Fäuste hervorkommen.

 

»Nun, Frosch«, sagte Elk, ihn fixierend, »was hast du zu quaken?«

 

»Quaken ist hübsch«, sagte der Mann, und beim Ton der Stimme fuhr Elk auf. »Herr Inspektor, Sie glauben doch nicht, daß Ihr alter Polizeiwagen jemals Wandsworth erreichen wird?«

 

»Wer sind Sie?« fragte Elk und starrte ihn an.

 

»Die Leute wollen den Litnow zurück, sie wollen ihn um die Ecke bringen«, sagte der Frosch. »Und wenn dieser arme Narr glaubt, daß der alte Frosch einzig aus brüderlicher Liebe sich dieser großen Mühe unterzieht, so hat er sich noch nie im Leben so sehr geirrt.«

 

»Broad!«

 

Der Amerikaner befeuchtete seinen Finger und wischte das Froschzeichen vom Handgelenk. »Ich werde es Ihnen später erklären, Herr Elk, aber nehmen Sie jetzt den guten Rat eines Freundes an und rufen Sie Wandsworth an.«

 

Elks Telefon läutete wütend, als er sein Büro erreichte. Die Wandsworth-Station rief ihn an.

 

»Ihr Polizeiauto ist auf der Gemeindewiese aufgehalten worden, zwei Ihrer Leute wurden verwundet, der Gefangene wurde erschossen«, lautete der Bericht.